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German Pages 394 [396] Year 1988
Literarisches Leben in Berlin 1871-1933
Studien
I
Literarisches Leben in Berlin 1871-1933 Herausgegeben von Peter Wruck
Akademie-Verlag Berlin
1987
Gesamt I S B N 3-05-000 452-5 Band 1: I S B N 3-05-000 453-3 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin Leipziger Str. 3 - 4 , D D R - 1086 Berlin © Akademie-Verlag Berlin 1987 L.zenznummer: 202 • 100/126/87 Prinled in llie German Democratic Republic Gesamtherstellung: V K B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhninichen Lektor: Ursula Sehöwe Gesamtgestaltung: Ingo Scheffler L S V : 8021 Bestellnummer: 7 5 4 7 4 4 1 (6995) I / I I 02800
Inhalt
Peter Wruck Einleitung
9 Anmerkungen
20 Peter W r u c k Fontanes Berlin Durchlebte, erfahrene und dargestellte Wirklichkeit 22 Anmerkungen
79 Roland Berbig Paul Lindau — eine Literatenkarriere 88 Anmerkungen
119 Flemming Hansen Georg Brandes in der literarischen Öffentlichkeit Berlins
1877-1883 126
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Anmerkungen 152 Wolfgang Höppner Universitätsgermanistik und zeitgenössische Literatur Wilhelm Scherers Berliner J a h r e 1877-1886 157 Anmerkungen 190 Brigitte Stuhlmacher Berliner Häuser in modernen Dramen Exempel: Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann 204 Anmerkungen 249 Wienczyslaw A. Niemirowski Stanislaw Przybyszewski in Berlin (1889-1898) 254 Anmerkungen 291 Barbara Voigt Der Gewerkschaftsführer, Verleger und Publizist Johann Sassenbach (1866-1940) 299 Anmerkungen 329 Brigitte Schmitz Dichterdenkmäler in Berlin 334 Anmerkungen 362
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Hans-Jürgen Sarfert Berlin und Dresden Skizze der Kommunikationsbeziehungen 1900 bis 1918 367 Anmerkungen 389
Einleitung PETEK WBUCK
1867 kam der Dreehslermeister August Bebel von Leipzig nach Berlin, um für die sächsischen Radikaldemokratcn seinen Sitz im neugeschaffenen Norddeutschen Reichstag einzunehmen. 1911 erinnerte er sich: »Das damalige in nichts o Berlin kann sich mit dem heutigen i? vergleichen. Die schmucklosen Fassaden der Häuser an den langen, geraden Straßen ließen es langweilig und eintönig erscheinen. Die Häuser standen gleichmäßig nebeneinander wie ein Regiment Soldaten, aber ohne anregende Farbe. Der Verkehr war im Vergleich zu heute gering. Ab und zu humpelte ein Omnibus mit zwei müden Gäulen über das Pflaster. Droschken sah man selten, deren Benutzung war dem Berliner jener Zeit zu teuer. Das einzige moderne Verkehrsmittel war die Pferdebahn, die vom Kupfergraben nach Charlottenburg führte. Mit den hygienischen Zuständen war es übel bestellt. Eine Kanalisation war noch nicht vorhanden. In den Rinnsteinen, die längs der Bürgersteige hinliefen, sammelten sich die Abwässer der Häuser und verbreiteten an warmen Tagen mefitische Gerüche. Bedürfnisanstalten auf den Straßen oder Plätzen g a b es nicht. Fremde und namentlich Frauen gerieten in Verzweiflung, bedurften sie einer solchen. In den Häusern selbst waren diese Einrichtungen meist unglaublich primitiv. Eines Abends besuchte ich mit meiner Frau das Königliche Schauspielhaus. Ich war entsetzt, als ich in einem Zwischenakt in den Raum trat, der für die Befriedigung kleiner Bedürfnisse der Männer bestimmt war. Mitten in dem R a u m stand ein Riesenbottich, längs den Wänden standen einige Dutzend
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Pots de Cliambre, von denen man die benutzten höchst eigenhändig in den großen Kommunebottich zu entleeren hatte. Es war recht gemütlich und ganz demokratisch. Berlin als Großstadt ist wirklich erst nach dem J a h r e 1870 aus dem Zustand der Barbarei in den der Zivilisation getreten.-« 1 1922 steigerte sich der Schriftsteller und Kassenarzt Alfred Döblin, niedergelassen in der Frankfurter Allee 340, in das Bekenntnis : »Berlin ist wundervoll. Die Pferdebahnen gingen ein, über die Straßen wurden elektrische Drähte gezogen, die S t a d t lag unter einem schwingenden, geladenen Netz. Dann bohrte man sich in die Erde ein: am Spittelmarkt versoff eine Grube; unter die Spree ging man durch bei Treptow, der Alexanderplatz veränderte sich, der Wittenbergplatz wurde anders; das wuchs, wuchs! Am Leipziger Platz der zauberhafte Wertheimbau, eine Straßenfront, wie belanglos ihr gegenüber das Herrenhaus, das Haus der ertrunkenen, schon längst begrabenen Herren. Am Schiffbauerdamm, in der Brunnenstraße, die AEG: eine L u s t ! und weiter draußen in Tegel Borsig, und in Oberschöneweide noch einmal die AEG. Und das rebelliert, konspiriert, brütet rechts, brütet links, demonstriert, Mieter, Hausbesitzer, Juden, Antisemiten, Arme, Proletarier, Klassenkämpfer, Schieber, abgerissene Intellektuelle, kleine Mädchen, Demimonde, Oberlehrer, Elternbeiräte, Gewerkschaften, zweitausend Organisationen, zehntausend Zeitungen, zwanzigtausend Berichte, fünf Wahrheiten. Es glänzt und spritzt. Ich müßte ein Lügner sein, wenn ich verhehlte: öfter möchte ich auskneifen, das Geld fehlt; aber ebenso oft würde ich zurückkehren. Simson, der nach seinen Haaren verlangt.« 2 Man kann die beiden Zeitalter und die Aggregatzustände städtischen Lebens, zwischen denen sich die hier versammelten Studien bewegen, nicht gegensätzlicher wahrnehmen als Bebel und Döblin und nicht ungleicher wiedergeben. Als Bebel nach Berlin kam, ging die Zeit eben zu Ende, auf die er zurückblickte und" in die der erste Beitrag weit zurückgreift. 1871 war die neue schon eingeläutet, und Berlins Aufschwung und Erhebung zum Zentrum des deutschen Nationalstaats war besiegelte Sache. Die ominösen Umstände richtig zu deuten, verstanden die wenigsten: 10
K a u m h a t t e sich im Herzen Frankreichs u n d im Glanz der W a f f e n der preußische König zum deutschen Kaiser proklamieren lassen, da s t a n d in Paris die K o m m u n e auf und wurde e r b a r m u n g s los niedergemacht. Als sich Döblin in der Vossischen Zeitung f ü r das moderne Berlin ins Zeug legte, war d a s wilhelminische Kaiserreich zusammengebrochen, u n d die deutsche Republik h a t t e noch zehn J a h r e vor sich. In Berlin ausgerufen, war sie aus F u r c h t v o r dem h a u p t städtischen Proletariat in W e i m a r konstituiert worden, im Schatten von Rietschels Klassikerdenkmal, das sich vor d e m Nation a l t h e a t e r erhebt. W e i m a r h a t t e d a m a l s a n n ä h e r n d vierzigtausend E i n w o h n e r ; Berlin stand seinem Areal nach an d r i t t e r u n d mit seiner Bevölkerung von vier Millionen an vierter Stelle u n t e r den S t ä d t e n der Welt. Der traditionsträchtige symbolische Ort f ü r die v o r z u n e h m e n d e staatliche N e u o r d n u n g fehlte auch in den Schaustellungen nicht, m i t denen die Nationalsozialisten die E r r i c h t u n g ihrer terroristischen D i k t a t u r v e r b r ä m t e n . Dem Fackelzug durchs B r a n d e n b u r ger Tor folgte der Reichstagsbrand, dem Reichstagsbrand der »Tag von P o t s d a m « : Hitler H a n d in H a n d mit H i n d e n b u r g v o r der Gruftkirche Friedrichs des Großen. Einen Geist Berlins d e r a r t , d a ß er sich wie der Geist von Weim a r oder P o t s d a m h ä t t e beschwören lassen, g a b es nicht. Der Nimbus, den die S t a d t entwickelte, war mit Andächtigkeit u n d Anachronismus a m wenigsten b e h a f t e t . Berlin faszinierte d u r c h das noch nicht Dagewesene. Diese Faszination, die von den Ausm a ß e n , der D y n a m i k und Widersprüchlichkeit einer Urbanisierung größten Stils ausging, k a m in den siebziger J a h r e n des vorigen J a h r h u n d e r t s auf, als die Einwohnerzahl die Million überstieg, u n d w a r in den zwanziger J a h r e n des jetzigen auf d e m H ö h e p u n k t . Die » F a h r t nach Berlin« — alltägliche F o r m einer Bevölkerungsbewegung, aus der die S t a d t ihr W a c h s t u m bestritt — wurde frühzeitig z u m poetischen Anlaß genommen, u m ihre überwältigende Anziehung und gleichwohl die abgründige Zwiespältigkeit zu bezeugen, in der sie sich darstellte. Mythologische Bilder d r ä n g t e n herauf u n d m a c h t e n Schule:
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Die F e n s t e r a u f ! Dort d r ü b e n liegt Berlin! Dampf wallt e m p o r u n d Qualm, in schwarzen Schleiern H ä n g t tief u n d steif die Wolke d r ü b e r hin, Die bleiche L u f t d r ü c k t schwer u n d liegt wie bleiern . . . Ein Feuerherd d a r u n t e r — ein Vulkan, Von Millionen F e u e r b r ä n d e n lodernd . . . Ein Paradies, ein süßes K a n a a n — Ein Höllenreich u n d S c h a t t e n bleich v e r m o d e r n d . 3 Es war nicht Absicht, aber noch weniger Zufall, d a ß sich u n t e r den Gestalten, denen in den nachfolgenden Untersuchungen auf ihrem Weg d u r c h das literarische Berlin nachgegangen wird, bloß e i n gebürtiger Berliner findet. Mancher ist als Kind m i t den Eltern zugewandert. Die Mehrzahl k a m auf der Suche nach einer Z u k u n f t . Dies war — von der L i t e r a t u r ganz abgesehen — das Übliche u n d k a n n zum Verständnis des Unternehmungsgeistes beitragen, von dem die stadteigene Mentalität d u r c h d r u n g e n wurde, die sich historisch keineswegs gleichblieb u n d starke soziale Schattierungen aufwies. Auch d a s literarische Leben geriet wie an keinem anderen deutschen Ort u n t e r seinen Einfluß. Männer von Geschick u n d Durchsetzungswillen — P a u l Lindau, Oscar B l u m e n t h a l , Julius Rodenberg — demonstrierten vor aller Augen, d a ß sich n u n m e h r die Verwertung schriftstellerischer Talente in Berlin ähnlich gewinnbringend wie in Paris m i t der Kapitalverwertung und P r o d u k t i v k r a f t e n t w i c k l u n g verbinden ließ, die in Presse u n d Verlagswesen, in den Theateru n t e r n e h m u n g e n u n d der U n t e r h a l t u n g s b r a n c h e vor sich ging. Die m a s s e n h a f t e Konzentration von Menschen u n d Mitteln schuf d a f ü r den N ä h r b o d e n . In jenen Geschäftszweigen herrschte scharfe Konkurrenz, u n d es g a b eine zwar ungleichmäßige, doch q u a n t i t a t i v u n d qualitativ hochgradig erweiterte Reproduktion, von der die schriftstellerische Erwerbstätigkeit m i t b e t r o f f e n wurde. Aus Zeitungsgründungen der siebziger, achtziger J a h r e — d u r c h Rudolf Mosse, Leopold Ullstein, August Scherl — gingen m a r k t beherrschende Pressekonzerne hervor, die auf den Buchverlag u n d auch schon auf die Filmwirtschaft übergriffen, n a c h d e m die
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bewegten Bilder ihre Eignung zur Massenbeeinflussung bewiesen h a t t e n . Der N a m e Max R e i n h a r d t stand nicht n u r f ü r das weltb e k a n n t e Thealergenie aus Baden bei Wien, das 1901 f ü r das K a b a r e t t Schall und Rauch U n t e r den Linden sein erstes H a u s eröffnet und 1904 das Deutsche Theater ü b e r n o m m e n h a t t e , sondern zugleich f ü r ein erfolgreiches G r o ß u n t e r n e h m e n ; in Berlin v e r f ü g t e der R e i n h a r d t - K o n z e r n , der auch in Wien u n d Salzburg festen F u ß f a ß t e , schließlich über sechs Bühnen. Die B r ü d e r Rotter, in denen H e r b e r t J h e r i n g , der T h e a t e r k r i t i k e r des Börsen-Courier, »die ewige Macht des Durchschnitts, des Massengesclimacks von New York bis Budapest« 4 a m W e r k e sali, b r a c h t e n während der zwanziger J a h r e auf dem Gebiet der leichten U n t e r h a l t u n g ein ganzes Imperium zusammen. Indes beging Samuel Fischer, der aus Ungarn s t a m m t e und mit der naturalistischen u n d nachnaturalistischen Moderne des In- und Avislands aufgestiegen war, in seiner Grunewaldvilla 1929 den siebzigsten Geburtstag als u n u m s t r i t t e n e r Nestor des literarisch anspruchsvollen Verlagswesens; er h a t t e geschäftsklug u n d sendungsb e w u ß t die repräsentativen bürgerlichen Autoren der Zeil an sich gebunden, d a r u n t e r nicht wenige Moderne von einst. E r n s t Rowohlt war einmal bei ihm in die Lehre gegangen. Das NS-Regime begann 1933 sofort mit der U n t e r w e r f u n g dieser ideologisch sensiblen Bereiche, wo a u ß e r an Kunst u n d Gelderwerb an der Bildung u n d Manipulierung der Meinungen u n d d e r kulturellen A t m o s p h ä r e gearbeitet wurde. F ü r diese Bereiche liegen Darstellungen vor oder sind zu erwarten, deshalb entnehmen ihnen die Studien n u r ausnahmsweise ihren Gegenstand, sind jedoch b e m ü h t , von Fall zu Fall auf sie zurückzugehen. Goebbels u n d Rosenberg f u ß t e n auf einem ausgedehnten Vorfeld. Es erstreckte sich einerseits auf staatspolitisches Gebiet. In der preußischen H a u p t s t a d t , die der Silz der Reichsbehörden u n d des Reichstags war, wurden wiederholt Vorstöße zu einer repressiven Vereinigungs- u n d Veröffenlliehungs-Gesetzgebung u n t e r n o m m e n , es k a m zu provozierenden persönlichen Initiativen Wilhelms II. gegenüber den Künsten und zu polizeilichen und gerichtlichen Zensurentscheidungen, die in der Öffentlichkeit kulturpolitische Kontroversen großen Ausmaßes liervorrie-
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fen. Sie k o n n t e n in den Studien nur gestreift werden. Andererseits handelt es sich um weltanschauliche Bestrebungen, die in den letzten .Jahren des 19. J a h r h u n d e r t s Gestalt a n n a h m e n , als u n t e r den Losungsworten »Heimatkunst« u n d »Los von Berlin« F r o n t gegen die m o d e r n e L i t e r a t u r g e m a c h t u n d der Versuch u n t e r n o m m e n wurde, die nationalstaatliche Zentralisierung des literarischen Lebens so, wie sie sich in der expandierenden Millionenstadt entwickelte, wieder in Frage zu stellen. Dazu wurde die aus der feudalen Zersplitterung hinterbliebene Regionalität der deutschen K u l t u r l a n d s c h a f t , ü b e r deren Wert oder U n w e r t f ü r die Künste u n d Wissenschaften die Meinungen i m m e r geteilt waren, in u n g e k a n n t e r Weise u n d Schärfe ideologisiert. Die Heimatkunst-Bewegung, die nach einem A u f b r u c h zurück ins Bodenständige, Völkische, E l i t e n h a f t e rief, war k a u m aus der Taufe gehoben, als sie auch schon auf ihre Zugehörigkeit zu einer »gewaltige(n) Zeilslrömung-« pochte, verstanden als »Rückschlag auf die verflachenden und schabionisierenden Anschauungen der liberalen Bourgeoisie u n d der leeren Reichssimpelei des deutschen Philistertums wie auch des Internationalismus der Sozialdemokratie« 5 . Der Angriff auf die jüdische Intelligenz, ohne die das geistige o n Berlin nicht zu denken war,- folgte n auf dem Fuße. Sogesehen, erschien die Metropole als B r u t s t ä t t e eines k u l t u rellen Werteverfalls u n d sozialpolitischen Bindungsverlusts, f ü r den die Schuld von konservativer Seite u n d , beiläufig bemerkt, nicht bloß in Deutschland schon länger dem A u f k o m m e n der ögroßen S t ä d t e zugesehrieben wurde. Berlins Schreckbild o ließ sich als ein Kernstück in das verhängnisvolle Denk- u n d A r g u m e n t a t i o n s m u s t e r einfügen, das vor allem m i t d e r » U n h e i m lichkeit« der durchkapitalisierten Produktions-, Kommunikations- u n d Lebensverhältnisse rechnete, die den Leuten überall auf den Leib r ü c k t e n u n d in der H a u p t s t a d t massiert waren. Mit der Selbstbehauptung der a n g e s t a m m t e n regionalen Kulturu n d Literaturzentren sowie ihres Umlands gegen die tonangebende Me tropole und ihre »Asphaltkunst« h a t t e n diese regressiven Mobilisierungsabsichten offensichtlich erst in zweiter Linie etwas zu t u n . Es war nicht der H e i m a t k u n s t zu v e r d a n k e n , d a ß
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neben Berlin vor allem die alten H a u p t s t ä d t e der deutschen Mittels t a a t e n — von Wien u n d Leipzig zu schweigen — kulturell oder literarisch oder im Buch- u n d Zeitschriftenverlag weiter mitzureden h a t t e n . In der A t t r a k t i v i t ä t f ü r angesehene u n d namenlose Autoren begann München u m die J a h r h u n d e r t w e n d e sogar der norddeutschen Rivalin den Rang abzulaufen, h i n t e r der es noch deutlich zurückgeblieben war, als sich in beiden die naturalistische Bewegung profilierte.»Hier genoß m a n e i n e r h e i t e r e n H u m a n i tät«, versicherte der »Wahlmünchner« Thomas Mann, »während die h a r t e L u f t der W e l t s t a d t im Norden einer gewissen Menschenfeindlichkeit nicht entbehrte.« 6 Die Ausblicke, die in den Studien nach München oder Dresden gerichtet werden, lassen jedoch erkennen, daß sich die Austauschbeziehungen mit Berlin rasch fortentwickelten. Es war auch auf literarischem Gebiet nicht bloß Ballungsort, sondern H a u p t k n o t e n p u n k t der K o m m u n i k a t i o n geworden. Selbst in der bayrischen u n d der österreichischen H a u p t s t a d t , die seit langem ein ausgeprägtes literarisches Eigenleben f ü h r t e n , m u ß t e sich dieses j e t z t unweigerlich an dem Berliner Beispiel messen lassen; die Ausprägung von Eigenart erfolgte wesentlich im Unterschied dazu. Andernfalls erlangten, die Abhängigkeiten die Oberhand. I m Werdegang der Schriftsteller-Gruppierungen u n d ihren Auseinandersetzungen sind diese Motive evident. F ü r den Kreis u m H e r m a n n Bahr, der sich nicht umsonst das J u n g e Wien n a n n t e , war die Distanzierung von Berlin k a u m weniger wichtig als die vom Naturalismus. Dies hinderte die n a m h a f t e n Autoren des Kreises wiederum nicht, ihre Werke im Verlag S. Fischer zu veröffentlichen. U n d u m zeitweilig von Wien nach Berlin zu gehen, genügte es dem jungen Stefan Zweig »zu wissen, d a ß die 'neue' L i t e r a t u r sich d o r t aktiver, impulsiver gebärdete als bei uns, d a ß m a n d o r t Dehmel u n d anderen Dichtern der jungen Generation begegnen konnte, d a ß d o r t u n u n t e r b r o c h e n Zeitschriften, K a b a r e t t s , T h e a t e r gegründet wurden, kurzum, d a ß dort, wie m a n auf wienerisch sagte, 'etwas los war'« 7 . Die A v a n t g a r d e n der L i t e r a t u r waren trotz einer beträchtlichen Diaspora noch m e h r als die der bildenden Künste ein Geschöpf der großen S t ä d t e . Wichtige K r ä f t e der naturalistischen Gene-
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ration zogen es nach dem ersten Anlauf allerdings vor, die E r oberung Berlins von Friedrichshagen oder E r k n e r aus fortzusetzen, Orten, die damals auf dem Lande weit vor der S t a d t la gen, zu der viele ein zwiespältiges \ ' e r h ä l t n i s behalten h a t t e n . Von den jungen Leuten hingegen, aus denen sich a m Vorabend des ersten Weltkrieges die expressionistische Bewegung rekrutierte, verlegten viele ihren Stolz in eine groß-, wenn nicht weltstädtische Lebensweise u n d Psychologie, die sie mit g u t e m Grund als Voraussetzungen f ü r ihre Schaffensweise e m p f a n d e n . »In diesem unsicheren Berlin, seiner verbissenen Geldgier und zweifelhaften Lustigkeit, m u ß t e n rebellische Literaten verfahren wie die Urchristen im alten R o m : m a n war gezwungen, kryptcrisch Gott zu opfern. Die Öffentlichkeit lachte oder spottete über sie, meist aber schwieg m a n . Diese Lage, v e r b u n d e n mit einem leicht genialischen Aristokratismus, bewirkte es, d a ß m a n sich in die verrauchten H i n t e r z i m m e r westlicher Cafés oder in m o n d ä n e B u c h h a n d l u n g e n zurückzog, um dort einem kleinen P u b l i k u m vorzulesen. Und doch lag keinem die tolpatscliige Weltstadl m e h r im Blut als uns Zwanzigjährigen. In unserem Innern erbauten wir sie mit steilen R h y t h m e n , tosenden Straßenecken, Abenteuern und Barrikaden. W ä h r e n d an ihren nüchternen Alltagshäusern kein Blick sich entzündete, belebten wir sie phantastisch durch abseitige Gefühle.« 8 Hier deutet sich an, mit welchem Grad von Differenzierung u n t e r den Schriftstellern u n d innerhalb ihrer anwachsenden Publikums- und Trägcrschichten inzwischen zu rechnen war. Die E m a n z i p a t i o n von älteren F o r m e n der Scliriftsteller-Patronage, die F o n t a n e so schwergefallen war, spielte keine Rolle m e h r ; das scharenweise A u f t r e t e n von Literaten und die Konstituierung einer neuen Boheme, in der sich Züge von S u b k u l t u r u n d Gegenöffentlichkeit ausbilden konnten, waren schon vor der J a h r h u n d e r t w e n d e vollzogene Tatsachen, auf die in den Studien W e r l gelegt wird. Auf dem anderen Flügel standen gesellschaftlieh voll integrierte schriftstellerische Existenzen, die durch ihre Auflagen u n d Tantiemen, R e n t e n e i n k ü n f t e oder p o t e n t e n Gönner materiell sichergestellt waren. Sie müssen deshalb nicht gleich dem k o r r u p t e n Klüngel zugezählt werden, der bei Heinrich
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Mann im Schlaraffenland der Börsianer und Pressemachthaber, der Schmocks und literarischen Glücksritter sein Unwesen treibt. Einige Beiträge zeigen, wie Berlin unter diesen Umständen zum entscheidenden Austragungsort der literarischen Überzeugungs- und Verdrängungskämpfe avancierte, von denen die literarischen Gruppenbildungen und, daraus hervorgehend, die großen literarischen Bewegungen der Zeit begleitet wurden. Das war an Einzelfällen vorzuführen, von denen L i c h t auf den Berliner Naturalismus und Expressionismus, auf die revolutionär-avantgardistischen und proletarisch-revolutionären Bewegungen während der Weimarer Republik fällt. Auch ohne selbst eigens zur Darstellung zu gelangen, werden sie von verschiedenen Seiten und manchmal vom Rande her miterfaßt, wobei die in den T e x t e n angelegten Bedeutungsperspektiven für eine Proportionalität im literaturgeschichtlichen Sinne eintreten müssen, die sich im Ergebnis der Aufsatzsammlung weniger wahren ließ als im ursprünglichen Plan. Überhaupt diente dieses Miterfassen als ein darstellungsmethodischer Leitgedanke, der es erlaubte, dem beziehungsreichen Sonderfall den Vorzug vor einer Reproduktion bekannter Bilder zu geben. Sollte hier oder da keine Deckungsgleichheit zwischen den rekonstruierten Vorgängen des literarischen Lebens und den Zusammenhängen entstehen, welche die Literaturgeschichte herzustellen pflegt, so läuft das den Absichten des Unternehmens nicht zuwider. Von Beitrag zu Beitrag ergeben sich — zum Teil wiederkehrende— Korrespondenzen. Als neue historische Gestalt tritt daraus das Berliner Proletariat hervor, wie es sich auf den literarischen Schauplätzen Beachtung und Verbündete verschafft, agieren lernt und schließlich nachhaltig die eigenen Ansprüche zur Geltung bringt. Die Hauptstadt des Reichs war auch seine größte Industriestadt, das Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung; von der Aufhebung des Sozialistengesetzes bis zur faschistischen Beseitigung des parlamentarischen Systems wurde in Berlin mehrheitlich rot gewählt; noch im November 1932 wurden hier die meisten Stimmen fiir die Kommunisten abgegeben. Dieses Terrain begünstigte die weitreichendsten Emanzipations- und Assimilierungsvorgänge zwischen der Arbeiterkultur2
Wruck, Leben, Bd. I
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bewegung, in der die Literatur ein denkbar hohes Prestige besaß, und der herrschenden Kultur. Auf dem erstaunliehen Lebensweg des Sattlergesellen und Gewerkschaftsfunktionärs Johann Sassenbach, bisher kaum beachtet, ist in symptomatischer Verkörperung ein gutes Teil davon wiederzufinden. Natürlich war die Gründung seiner Zeitschrift Neuland nicht mit der Begründung und Spaltung der Freien Volksbühne vergleichbar, in der sich anfangs der neunziger Jahre der ohnehin exponierte, wissenschaftlieh durchgebildete und berufserfahrene Franz Mehring zum ersten Mal als marxistischer Kulturpolitiker hervortat. Dergleichen ist Sassenbach nicht nachzurühmen. Dennoch bleibt er nicht bloß durch den Bildungshunger, den aufklärerischen Impetus, die rastlose Organisationsarbeit bemerkenswert, die in ihren politischen Stärken und Schwächen vor dem ersten Weltkrieg das Profil des klassenbewußten deutschen Proletariats mitbestimmten; Seine frühen verlegerischen Unternehmungen muten wie ein versuchsweises, durchaus zwiespältiges Vortasten auf Gebieten an, deren Besetzung nach den Revolutionen von 1917 und 1918 mit den Kräften der Kommunistischen Partei erneut in Angriff zu nehmen war: die wirtschaftliche Etablierung klasseneigener geistig-kultureller Unternehmen auf dem kapitalistischen Markt und die Heranziehung progressiver Intellektueller an deren Arbeit. Wieland Herzfeldes Malik-Verlag und die Presse- und Filmbetriebe Willi Münzenbergs, die der Internationalen Arbeiterhilfe angegliedert waren, wiesen freilich eine völlig andere Größenordnung, Professionalität und Parteilichkeit auf, und die technischen und organisatorischen Apparate, die sie aus Instrumenten imperialistischer Massenbeeinflussung und Kulturindustrie in solche der revolutionären Propaganda umwandelten, waren nicht mehr dieselben wie vor der Jahrhundertwende. In die praktische und theoretische Umkämpftheit von Film und Funk, den jungen Medien, die sich gleich den hergebrachten vorwiegend in der Hauptstadt konzentrierten und entfalteten, bieten die Studien Einblicke. Denn wenn von den wesentlichsten Fermenten des einzigartigen Literaturlebens die Rede sein soll, dessen Abglanz die Hauptstadt der Weimarer Republik umgibt, dann muß der unablässigO in Gangö gehaltene Medienbetrieb O 18
ebenso E r w ä h n u n g finden wie die Beziehungen der literarischen u n d künstlerischen A v a n t g a r d e zur politischen u n d die Arbeiterkultur, die seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise doppelt nachhaltig auf die Künste zurückwirkte. Mancher Superlativ, mit dem m a n die S t a d t infolgedessen bedacht h a t , ist angebracht. Berlin besaß seinerzeit die b e d e u t e n d ste, freilich, wie gesagt, weitgehend monopolisierte Presse, deren Herz im Zeitungsviertel schlug, wo sich im J a n u a r 1919 die Sparl a k u s k ä m p f e r verschanzt hielten. Es war H a u p t s t a d t des Welttheaters, auf deren B ü h n e n Jessner u n d Piscator mit ihren Inszenierungen R e i n h a r d t rasch den Rang abgelaufen h a t t e n , u n d war der wichtigste Sitz einer Filmindustrie, die künstlerisch erfolgreich mit der amerikanischen konkurrierte, h i n t e r der sie q u a n t i t a t i v an zweiter Stelle lag. Berlin bot ein städtebauliches Experimentierfeld, auf dem es — von den F o r t s c h r i t t e n der Inf r a s t r u k t u r ganz abgesehen — zu architektonischen E r f a h r u n g e n k a m , die richtungweisend f ü r das 20. J a h r h u n d e r t w u r d e n . Als Umschlagsort des internationalen Geisteslebens, das j e t z t als ein E i n f l u ß f a k t o r ersten Ranges anzusprechen war, wetteiferte es m i t P a r i s ; nicht ohne Grund ist gesagt worden, d a ß Berlin zehn J a h r e lang geradezu ein Zentrum der osteuropäischen K u n s t darstellte 9 : Weiße E m i g r a n t e n und Verschreckte in großer Zahl, die vor der S o w j e t m a c h t , u n d Kommunisten, die vor d e m weißen Terror in ihren L ä n d e r n geflohen waren, begegneten hier den kulturellen Emissären des Arbeiter- und B a u e r n s t a a t e s . Der revolutionäre Radikalismus, der dabei, wie sich zeigt, zutage t r e t e n konnte, besagte wenig gegen die Anziehungs- u n d Überzeugungskraft des frühen sowjetischen Theaters, der Filme, Bücher u n d Bilder, die ihren Weg in die westliche Welt vielfach ü b e r Berlin fanden. W ä h r e n d sich dieses Berlin F e u c h t w a n g e r s W o r t e n nach r ü h m t e , »Europas amerikanischste S t a d t zu sein« 10 , formierte sich darin eine proletarisch-revolutionäre SchriftstellerOrganisation, die a u ß e r h a l b der Sowjetunion die größte war. Bei den Stichworten f ü r das Berlin der zwanziger J a h r e finden sich die W e l t m a ß s t ä b e u n d Superlative nicht von u n g e f ä h r ein. Sie werden durch seinen Aufstieg zu einem H a u p t k n o t e n p u n k t des internationalen Literatur- u n d Kunstverkehrs nahegelegt, 2*
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der den im Kaiserreich erzielten S t a n d bei weitem hinter sich ließ, und verweisen auf d a s außergewöhnliche Niveau, d a s die kulturelle Agglomeration inzwischen erreicht hatte. (Deshalb wurde nun nicht etwa die sogenannte Provinz, a u s der die Talente herkamen, die an die Spitze wollten, von der Metropole zur B e d e u tungslosigkeit herabgedrückt. Die wesentlichen Anregungen f ü r den Bühnenspielplan beispielsweise s t a m m t e n zeitweilig aus jener Provinz. Oder u m ein anderes Indiz heranzuziehen — d a s B a u h a u s siedelte erst in letzter Stunde, als es in Dessau schon dem vereinten faschistisch-rechtsbürgerlichen Druck weichen mußte, nach Berlin-Steglitz über.) Letzten E n d e s lagen die internationalen Dimensionen, in die d a s kulturelle Berlin der Weimarer Republik unverzüglich hineinwuchs, aber doch tiefer begründet. In d e m Urbanen Lebensrhythmus, der einem ¿ u s Döblins W o r t k a s k a d e entgegenschlägt, pulsierte der G a n g der Geschichte. Nie zuvor h a t t e sich die S t a d t so auf der Höhe ihrer Zeit bewegt, die ein Muster jener Übergangsepochen war, von denen es heißt, daß sich darin die Menschen des Konflikts zwischen ihren Eigentumsverhältnissen und ihren Prod u k t i v k r ä f t e n bewußt werden und ihn ausfechten 1 1 , so oder so. Die Bedingungen, daß dies vielstimmig und entschieden, offen und öffentlich geschehen konnte, waren günstig wie selten. Politisch umstritten und hinfällig, forderten sie über die Ausschöpfung professionellen Leistungsvermögens hinaus die Anspannung der K r ä f t e zur Verteidigung von H u m a n i s m u s und Demokratie und k a m e n nicht zuletzt einer massenverbundenen und klassenverbundenen L i t e r a t u r zugute. Der künstlerische E r t r a g — nur ausnahmsweise ein Gegenstand dieser Studien, die sich vor allem den U m s t ä n d e n seiner Hervorbringung zuwenden — ist bekannt.
Anmerkungen 1
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August Bebel, Aus meinem Leben. In: Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften. Ilg. von Horst Bartel u. a. Bd. 6, Berlin 1983, S. 286-287. Alfred Düblin, Berlin und die Künstler. In: Dublin, Die Yertrei20
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büng der Gespenster. Autobiographische Schriften. Betrachtungen zur Zeit. Aufsätze zu Kunst und Literatur. Hg. von Manfred Beyer. Berlin 1968, S. 8 2 - 8 3 . Julius Hart, Auf der Fahrt nach Berlin. In: Naturalismus 1885— 1891. Dramen. Lyrik. Prosa. Hg. von Ursula Miinchow. Berlin 1970, S. 3 0 - 3 1 . Herbert Jhering, Die Rotterwelt. In: Jhering, Der Kampf ums Theater und andere Streitschriften 1918 bis 1933. Berlin 1974, S. 356. Adolf Bartels, Heimatkunst. In: Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890—1910. Hg. von Erich Ruprecht u. Dieter Bänsch. Stuttgart 1981, S. 337. Thomas Mann, München als Kulturzentrum. In: Mann, Gesammelte Werke. Bd. 11: Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf J a h r zehnten. Berlin 1955, S. 397. Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Berlin 1981, S. 126. Rudolf Kayser, Literatur in Berlin. In: Das junge Deutschland 1918, S. 41 f. Zitiert nach: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910—1923. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. Vom 8. Mai bis 31. Oktober 1960, S. 22 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums. Katalog Nr. 7). Paris — Berlin. Rapports et contrastes france-allemagne 1900— 1933. Centre national d'art et de culture georges pompidou. Paris. 12 juillet—6 novembre 1978, p. 222. Lion Feuchtwanger, Von den Wirkungen und Besonderheiten des angelsächsischen Schriftstellers. In: Fcuchtwanger, Centum opuscula. Eine Auswahl. Hg. von Wolfgang Berndt. Rudolstadt 1956, S. 431. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort. In: Marx/Engels, Werke. Bd. 13, Berlin 1961, S. 9.
Fontanes Berlin Durchlebte, erfahrene und dargestellte Wirklichkeit P E T E B WRTTCK
Der N a m e »Fontanopolis« 1 , der E r n s t Heilborn eingefallen ist. war als augenzwinkernde Hyperbel f ü r einen G l ü c k s u m s t a n d der jüngsten Literaturgeschichte gedacht. In F o n t a n e s E r z ä h lungen h a t die Metropole des deutschen Kaiserreichs Gestalt angenommen. Dem Paris des neunzehnten J a h r h u n d e r t s h a f t e n die Züge an, die ihm Balzac u n d Zola verliehen haben, dem Berlin Bismarcks u n d Bebels bei aller Differenz zum französischen Beispiel die Züge, die es in F o n t a n e s Werken t r ä g t . Ahnliches k a n n weder von Willibald Alexis gesagt werden, dessen Romane die nähere u n d weitere Vergangenheit der S t a d t zur Darstellung brachten, noch t r i f f t es auf den jungen Wilhelm R a a b e zu, d e r seine Chronik der Sperlingsgasse u n d den R o m a n Die Leute aus dem Walde im Berlin des Vor- u n d N a c h m ä r z ansiedelte. Ganz zu schweigcn von einer Vielzahl minderwertiger P r o d u k t e , die namentlich seit dem Welterfolg, den Eugène Sues Geheimnisse von Paris erzielten, auch die preußische H a u p t s t a d t als T u m m e l platz f ü r ihre abenteuerlichen Erfindungen b e n u t z t e n . F o n t a n e s Meinung nach h a t t e d e r moderne R o m a n die Aufgabe, »ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Widerspiel des Lebens ist, das wir f ü h r e n . Das wird der beste R o m a n sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so d a ß wir in der Erinnerung an eine b e s t i m m t e Lebensepoche nicht m e h r genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie m a n c h e T r ä u m e sich unserer m i t gleicher Gewalt bemächtigen wie die Wirklichkeit.« 2 Über diese Fähigkeit zur
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Stellvertretung ihrer Zeitgenossen verfügen viele Kunstfiguren F o n t a n e s . Sie bewegen sieh, scheint es, auch in demselben Milieu; d a ß es »eine augenscheinliche Absurdität« ist, »aus d e m dargestellten R a u m in den realen sozusagen hineinzuspazieren u n d u m gekehrt«, 3 störte ihn wenig; die »Fontanestadt«, von der Heilborn sprach, läßt sich bis ins einzelne mit ihrem Vorbild identifizieren. D a d u r c h wird sie, das ist richtig, nicht mit ihm identisch. Sie ist auch nicht identisch mit dem Berlin Paul Lindaus, F r i t z Mauthners oder Heinrich Seidels, die sieh in den achtziger J a h r e n gleichfalls beeilten, die S t a d t zum Schauplatz u n d Gegenstand von R o m a n u n d Erzählung zu machen. Sie k a m e n d a m i t E r w a r t u n g e n nach, die nach der Reichseinigung h e r v o r t r a t e n u n d eine h u n d e r t j ä h r i g e D e b a t t e über die B e d e u t u n g nationalstaatlicher Zentren f ü r den F o r t s c h r i t t nationaler L i t e r a t u r e n fortsetzten. Der sogenannte »Berliner Roman« war eine Probe aufs Exempel, er schien am ehesten geeignet, es a n d e r e n Literaturen in der Darstellung des modernen Gesellschaftslebens gleichzutun. F o n t a n e war sich dieser Konstellation bewußt. U m so m e h r e n t t ä u s c h t e n ihn fast ohne Ausnahme die Arbeiten der »jüngeren Kräfte« 4 , mit denen er auf dem Gebiet konkurrierte. Das war der Grund, weshalb er sich ü b e r h a u p t zu der p r o g r a m m a t i s c h e n Äußerung über die Aufgaben veranlaßt sah, die der m o d e r n e R o m a n , das heißt in erster Linie sein eigener, erfüllen sollte. In die diffizilen Überlegungen, die er ü b e r die Ursachen seiner Unzufriedenheit anstellt, b r a u c h t m a n ihm hier nicht zu folgen. Denn zunächst l ä u f t alles auf seine Überzeugung hinaus, d a ß er die Wirklichkeit besser k a n n t e u n d richtiger darzustellen vers t a n d . Ob es womöglich eine andere Wirklichkeit war, zog er, während er sich auf seine E r f a h r u n g e n berief, nicht in B e t r a c h t . 5 Immerhin h a t t e er seinen Mitbewerbern ein Menschenalter u n d m e h r an Lebenszeit voraus, die er zum weitaus g r ö ß t e n Teil in Berlin verbrachte. Was diese S t a d t f ü r ihn bedeutete, k a m unwillkürlich in einer Bemerkung zum Ausdruck, die m i t M a x Kretzer ins Gericht geht, den m a n c h e f ü r den deutschen Zola hielten. Kretzer sorgte ebenfalls mit Berliner R o m a n e n f ü r Aufsehen. Die Geschichte, um die es sich handelte, war seine beste; konventio-
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nell, aber eindrucksvoll erzählt sie die Tragödie eines biederen Drechslermeisters, den Kapital, Industrie und Urbanisierung um seine Familie, um den Besitz und das Leberi bringen. Man schrieb das entscheidungsvolle J a h r 1888, Fontane war 6 8 ; er hielt sich zur Sommerfrische, wo er regelmäßig Zuflucht vor dem verhaßten Hitzedunst der großen S t a d t suchte, im Riesengebirge auf und teilte m i t : »Unter anderm habe ich, aus Schillerstiftungspflichteifer, M a x Kretzers neusten Roman 'Meister Timpe', gegen B a r zahlung von 6 Mark, mit auf die Reise genommen und kann nun in der immer wieder auftauchenden Kretzerfrage mein Gutachten abgeben. E r kommt besser, aber auch schlechter weg, als ich dachte. Das Widerliche, das in seinem Romane 'Drei Weiber' eine so große Rolle spielt, fehlt hier ganz, aber dafür ist dies neue Buch trostlos und langweilig und, was mir das überraschlichste ist, nach m e i n e r Meinung ganz unrealistisch. E r h a t unterm Volk und in der W e r k s t a t t gelebt und kann doch beides nicht schildern. Ich lebe j e t z t 55 J a h r in Berlin und habe n i c h t bloß beim Prinzen Friedrich Karl zu Mittag gegessen; ich habe a u c h Volk kennengelernt und kann nur sagen: m e i n Berliner Volk sieht anders aus. Was er gibt, sind mehr angelesene als erlebte Figuren.« 6 Auch Fontanes »Bankiers-, Geheimrats- und Kunstkreise« 7 sahen anders aus. Wenn er Kretzer entgegentrat, äußerte sich nicht bloß der Gegensatz im Kunstkonzept; ein Grundton gesellschaftlicher und professioneller Superiorität wurde vernehmbar. Fontanes Berlin war der Ort seiner grundlegenden Sozialerfahrungen, die von anderer Art waren als die des Kontrahenten. E s war der Schauplatz eines Werdegangs, der ihn nicht nur im literarischen Leben F u ß fassen ließ, sondern auch in der guten Gesellschaft; nicht zuletzt brachte er ihn mit der vornehmen Welt in Berührung. Vor allem war es der Gegenstand, für den er schriftstellerische Kompetenz beanspruchte und bewies. Auch seine Kompetenz für die preußischen J u n k e r und ihre Lebensweise, die sich damit die Waage hielt, h a t er vorwiegend in der preußischen Haupt- und Residenzstadt erworben. Daß er Berlin zum Zentrum seiner Existenz und zum »Thema seines Lebens« 8 machen würde, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden und blieb lange zweifelhaft. E s kam dazu erst auf einem schwierigen Weg durch 24
den Vor- und Nachmärz, auf dem er einen nicht geringen Teil des sozialen und politischen wie des literarischen Lebens der Stadt durchlief. ; In der Stadt der Bildung und des sozialen Gegensatzes Als Fontane 1833 in Berlin eintraf, kannte er die Orte seiner »Kinderjahre«: die märkische Landstadt Neuruppin, wo er geboren wurde, und den kleinen Ostseehafen Swinemünde, der sich in seiner Erinnerung manchmal wie ein maritimes Seldwyla ausnimmt. Über die anderthalb Jahre, die er zuletzt wieder in Neuruppin auf dem Gymnasium zubrachte, wahrte er beredtes Schweigen ; es wäre ein Wunder, wenn er bei seiner regellosen Vorbildung keine größeren Schwierigkeiten gehabt hätte. Jedenfalls schickte der Apotheker Louis Henri Fontane seinen Altesten anschließend nach Berlin auf einen zweiten Bildungsweg. Die wirklichen Folgen für dessen Leben konnte niemand ahnen. Aber daß damit über seine Zukunft entschieden wurde, unterlag keinem Zweifel. Denn die städtische Gewerbeschule, die nach ihrem Mitbegründer und Direktor, einem namhaften Pädagogen und vielseitigen Gelehrten, die Klödensche genannt wurde, bereitete auf den Beruf, nicht auf die Universität vor. Sie war als Alternative zum humanistischen Gymnasium gedacht; statt der alten Sprachen und der Geschichte wurden die Naturwissenschaften sowie Deutsch, Englisr.h und Französisch gelehrt, um »eine allgemeine und umfassende Ausbildung für denjenigen Beruf im bürgerlichen Leben zu gewähren, welcher zwar einer wissenschaftlichen Grundlage, jedoch keines Studiums der Alterthumswissenschaften in ihren Quellen bedarf, wohin Kunst, höhere Gewerbe, Bau-, Berg- und Forstwesen, Landw i r t s c h a f t , Kriegs- und Handelsstand zu zählen sind« 9 . Der Magistrat hatte sich im Bedarf an qualifizierten Kräften für die praktischen Erwerbszweige, in denen sich der technisch-ökonomische Fortschritt vollzog, und in deren Anziehungskraft nicht getäuscht. 1825 gegründet, zählte die gut ausgestattete kommunale Einrichtung Ostern 1833 in ihren fünf Klassen schon 198 Schüler; Zedlitz' Neuestes Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam widmete ihr mehr Aufmerksamkeit als den altehrwürdi-
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gen Gymnasien — dem Joachimsthalschen und dem zum Grauen Kloster. Fon tanes Vater durfte überzeugt sein, eine sinnvolle, dem Zug der Zeit entsprechende Wahl getroffen und die 15 Reichstaler gut angelegt zu haben, die von einem auswärtigen Schüler fürs Quartal verlangt wurden. Daß sich Fontanes Wirklichkeitssinn und sein unbeirrbares Arbeitsethos auf den Geist und die empirische Metliod'e zurückführen ließen, die an der Gewerbeschule herrschten, muß man allerdings bezweifeln. Sein Memoirenbuch Von Zwanzig bis Dreißig, das die Quelle für diesen Lebensabschnitt ist, spricht fürs Gegenteil. Damals wurde besiegelt, was er lebenslang als seine Bildungsmisere beklagt hat. Nicht genug, daß sich der Gedanke an ein Studium faktisch erledigt hatte — auch der zweite Bildungsweg wurde mit fragmentarischen Kenntnissen zugunsten einer Apothekerlehre nach väterlichem Vorbild vorzeitig abgebrochen. Der junge Mensch, der unter diesen Umständen berufsfremde geistige, historische und literarische Interessen entwickelte, war in der Stadt der Intelligenz, wie Berlin nicht ohne Spott und nicht ohne Grund genannt wurde, von vornherein auf eine Außenseiterstellung verwiesen. Erinnert man sich an den Pfarrerssohn Emanuel Geibel, der, ein Kind der Freien und Hansestadt Lübeck, 1835 von Bonn kommend in Berlin seine Studien fortsetzte, dann läßt sich das Gewicht des Handikaps erahnen, unter dem Fontane seinen Weg antrat. Geibel saß nicht nur in den Kollegs der großen Philologen Boeckh und Laclimann und des Historikers Droysen — der angehende Poet hatte auch wenig Mühe, Zugang zu den in Kunst und Wissenschaft tonangebenden Kreisen zu finden. Seine Biographie nennt unter den Berühmtheiten, mit denen er bekannt wurde, die Namen Hitzig, Chamisso, Gruppe, Kopisch, Alexis, Raupach, Eichendorff, Gaudy, Steffens, Schack, Holtei, Schadow, Gubitz, Kugler und nicht zuletzt Bettina von Arnim, die ihm schließlich auch eine Hauslehrerstelle bei dem Fürsten Katakazy, dem russischen Gesandten in Athen, vermittelte. Fontane hingegen blieb, ob das nun letzten Endes für ihn von Nachteil oder Nutzen war, ein Autodidakt, dem es versagt war, vom Rang der Universität zu profitieren, die jenen Ehrentitel,
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wenn es denn einer war, am ehesten rechtfertigte. Die prägenden Eindrücke der Gewerbeschulzeit entstammten nicht dem Unterricht, die Lebensumstände behielten die Oberhand, und allem Anschein nach hatten sie bleibende soziale Orientierungen zur Folge. Sie hingen mit der windigen Person und den beiden ungleichen, bisher k a u m beachteten Wohnungen seines Onkels August zusammen, der sich — egal auf wessen Kosten — ein angenehmes Leben machte. Fontane wurde zu ihm in Pension gegeben. Er hat das originelle Haus in der Burgstraße 18, wo außer dem Besitzer nur die Fontanes wohnten, eingehend geschildert — nicht ohne (1898) einen Seitenhieb anzubringen auf die »nichtssagenden Patentwohnungen unserer Tage, die wie aus der Schachtel genommenes Fabrikspielzeug wirken« 1 0 . Es handelte sich um eine gute Adresse in der besten Umgebung: »An Sommerabenden lagen wir hier im Fenster und sahen die Spree hinauf und hinunter. Es war mitunter ganz feenhaft, und wer dann von der 'Prosa Berlins', von seiner Trivialität und Häßlichkeit h ä t t e sprechen wollen, der hätt einem leid tun können. In dem leisen Abendnebel stieg nach links hin das Bild des Großen Kurfürsten auf und dahinter das Schleusenwerk des Mühlendamms, gegenüber aber lag das Schloß mit seinem 'Grünen Hut' und seinen hier noch vorhandenen gotischen Giebeln, während in der Spree selbst sich zahllose Lichter spiegelten.« 1 1 Der Umzug in die Große Hamburger Straße Ostern 1835 k a m einem sozialen Absturz gleich; Fontane setzt die Kontraste entsprechend scharf gegeneinander: »Trotzdem alles ganz neu war, war alles auch schon wieder halb verfallen, häßlich und gemein, und wie der Bau, so war auch — ein paar Ausnahmen abgerechnet — die gesamte Bewohnerschaft dieser elenden Mietskaserne. Lauter gescheiterte Leute hatten hier, als Trockenwohner, ein billiges Unterkommen gefunden: arme Künstler, noch ärmere Schriftsteller und bankrotte Kaufleute, namentlich aber Bürgermeister und Justizkommissarien aus kleinen Städten, die sich zur Kassenfrage freier als statthaft gestellt hatten. Eine Gesamtgesellschaft, in die, was mir damals glücklicherweise noch ein Geheimnis war, mein entzückender Onkel August — er war wirklich entzückend — durchaus hineingehörte.« 27
Fontanes Erinnerungen an das Doppelhaus Nr. 30/30a, wo in seinem Zimmer »-das Wasser in langen Rinnen die Wände hinunterlief« 12 , scheinen im ganzen zuzutreffen. Von der Bewohnerschaft gewinnt man allerdings aus dem Adress-Buch für Berlin auch dann ein abweichendes Bild, wenn man die Stichhaltigkeit der Angaben zurückhaltend beurteilt. Das Gros der Gesellschaft, die an Buntheit nichts zu wünschen übrig ließ, bestand demnach 1835 aus Handwerkern und Witwen (Witwenschaft erleichterte die Prostitution, die auch in den Memoiren Erwähnung findet). Die Creme bildeten der Hausbesitzer und drei Leutnants, wovon zwei adlig. Der Beamtenschaft lassen sich mit Sicherheil nur drei Postsekretäre zurechnen, statt der Kaufleute begegnen zwei Viktualienhändler, und Literaten oder Künstler fehlen überhaupt. Der einzige Maler war mit Stuben-, nicht mit Leinwänden befaßt. Anderes, was nahelag, blieb in Fontanes Erinnerungen unerwähnt. In fünf Minuten war man am Hamburger Tor, hinter dem sich zur Rechten das Vogtland erstreckte und zur Linken die Wiesekeschen Familienhäuscr erhoben. Fontane nahm damals immer öfter Gelegenheit, sich vom Schulbesuch zu dispensieren und »halbe Wochen lang in- und außerhalb der Stadt herumzutreiben« 13 . Das Vogtland, das die berüchtigtste Elendsgegend der Stadt und ein Sammelplatz dunkler Existenzen war, kann ihm nicht entgangen sein. E r wird wohl auch nicht erst durch die O
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progressive Publizistik der vierziger Jahre von den Familienhäusern vernommen haben. Diese Massenquartiere, die eine Vorform der eigentlichen Berliner Mietskasernen darstellten, waren ein öffentliches Schreck- und Ärgernis, schon bevor sie durch Gutzkow und Bettina von Arnim zum landesweit bekannten Schulbeispiel für die erbarmungslose Ausbeutung des Pauperismus durch spekulative Unternehmer wurden. 14 Soviel ist gewiß: Der junge Mann war tiefer, als er nachher wahrhaben wollte, in ein Milieu geraten, das durch seine Bewohner und seine Stadtlage zur Übergangs- und Grauzone zwischen den sozialen Sphären gehörte. Man kann davon ausgehen, daß er damals die elementare Erfahrung einer in Arm und Reich, Besitzende und Habenichtse gespaltenen Gesellschaft machte. Der romanschreibende britische Staatsmann Benjamin Disraeli
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brachte diese zeiteigene Erfahrung, die jedem Eindringen in die zugrunde liegenden Klassengegensätze vorgelagert war, 1845 auf das Schlagwort der»-two nations« 1 5 . Die zwei Nationen, die es, wie Lenin nachmals feststellte, in jeder modernen Nation gab 1 6 , waren eine Lebenstatsache vor allem der großen Städte, kein theoretisches Konstrukt. Daß Fontane in dieser Spaltung während seiner Schul- und Lehrjahre — ohne einen Begriff von den modernen Klassenkämpfen in Frankreich und ihren ideologischen Reflexen — den zur Kollision drängenden sozialen Antagonismus wahrgenommen hätte, ist undenkbar. Auf die Tatsache selbst ging er allerdings zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt ein. Ganz unler dem frischen Eindruck sozialistischer Ideen, deren Aneignung in Deutschland gerade in Gang kam, wollte er 1843 den englischen Arbeiterdichter John Prince bekanntmachen. Um dessen Milieu zu veranschaulichen, nimmt der Erzähler seinen Leser beim Arm und geleitet ihn aus einer pfingstlich lachenden Natur, vorüber an den Palästen des Reichtums, in die Not und Finsternis, die in den Arbeitervierteln der Industriestadt Manchester herrschen. 1 7 Daran ist weniger das literarische Klischee bemerkenswert als der Umstand, daß Fontane von einer persönlichen Kenntnis solcher Verhältnisse aus seiner Berliner Nachbarschaft weder jetzt noch später etwas durchblikken ließ. Man gewinnt den — durch andere Beobachtungen bekräftigten — Eindruck, daß es ihm suspekt erschien, in eigener Person mit jener zweiten Nation in Verbindung gebracht zu werden, die sich jenseits des dritten Standes und des Hamburger Tors konzentrierte. Dazu paßt es, daß er dem Spandauer Viertel, wo die Große Hamburger Straße lag, ein für allemal den Rücken kehrte, als er sechzehnjährig die Gewerbeschule verließ; die vier Berliner Apotheken, in denen er gearbeitet und gehaust hat, und die vielen Wohnungen, die er bezog und wieder wechselte, liegen sämtlich in anderen Teilen der S t a d t . 1 8 In Fontanes Memoiren setzt sich das Personal des Mietshauses, wohin er mit seinem Onkel August verschlagen wurde, aus lauter Deklassierten zusammen. So entspricht es zwar nicht den Tatsachen, aber desto mehr der Form, in der er selbst während seiner J u g e n d von den sozialen Gegensätzen betroffen wurde. E r war 29
in Person vom Verlust des gesellschaftlichen S t a t u s b e d r o h t , der ihm nach seiner H e r k u n f t aus einer Honoratiorenfamilie u n d nach seinen höheren geistigen Interessen b e s t i m m t schien, dem jedoch durch seine ungesicherte, kümmerliche u n d zeitweise verzweifelte Einkommenslage der Boden entzogen wurde. Ob er wirklich Gefahr lief, in eine Bohemeexistenz abzugleiten, wie er im Alter meinte, ist u m s t r i t t e n . Daß er in einer subalternen, abhängigen Stellung steckenzubleiben drohte, s t e h t a u ß e r Zweifel; diese Gefahr vermochte er erst in den fünfziger J a h r e n , als sich auch seine materiellen Verhältnisse stabilisierten, endgültig abzuwenden. Bis dahin behalf er sich die längste Zeit mit einem Doppelleben, dessen größeren Teil der Apothekerberuf in Anspruch n a h m . Zu diesem Beruf t r a t er in ein vollkommen e n t f r e m detes Verhältnis, ohne deshalb seine Arbeil saufgaben zu vernachlässigen. Außer dem Broterwerb hielt ihn darin n u r die trügerische Absicht fest, den Sprung in eine gesicherte, selbständige u n d letzten Endes standesgemäße Existenz zu schaffen, die mit dem E r w e r b einer Apotheke v e r b u n d e n war. Aber er h a l t e schon während des v e r b u m m e l t e n letzten Schuljahrs einen Bezirk entdeckt, wo er sich f ü r die tagtägliche E n t w e r t u n g seiner Person u n d seiner Tätigkeit schadlos halten konnte. H a l t e er den Vormittag im Grunewald oder in Tegel zugebracht, was er s p ä t e r im Scherz zum Beginn seiner märkischen W a n d e r u n g e n erklärte, so wurde der N a c h m i t t a g höheren Zwecken gewidmet.
Zugänge zum literarischen Leben im Vormärz »An der Ecke der Schönhauser- u n d Weinmeisterstraße, will also sagen an einer Stelle, wohin Direktor Klöden u n d die gesamte Lehrerschaft nie kojnmcn k o n n t e n , lag die Konditorei meines Freundes Anthieny, der der Stehely jener von der K u l t u r noch u n b e r ü h r t e n Ost-Nord-Ostgegenden war. Da t r a n k ich denn, n a c h d e m ich vorher einen Wall klassisch-zeitgenössischer Lit e r a t u r : den 'Beobachter an der Spree', den ' F r e i m ü t i g e n ' , den 'Gesellschafter' u n d vor allem mein Leib- u n d Magenblatt, den 'Berliner Figaro', u m mich her a u f g e t ü r m t h a t t e , meinen Kaffee. Selige Stunden.-« 19
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Wie es scheint, genoß der jugendliche Kaffeegast a u ß e r seinem G e t r ä n k und den ausliegcnden J o u r n a l e n auch die Respektierung durch seinen »Freund Anthieny«. Welche Stelle derselbe (Münzstraße 23) u n t e r den 98 U n t e r n e h m u n g e n e i n n a h m , die auf die Bezeichnung Konditorei Anspruch m a c h t e n , ist nicht k l a r ; von Stehely am G e n d a r m e n m a r k t , der mit vier oder fünf anderen die Spitze hielt, reichte die Stufenleiter hinab bis zum Kellerloch. Aber aus F o n t a n e s Skizze Cafés von heut und Konditoreien von ehmals, die das pittoreske Erscheinungsbild u n d den kordialen Umgangston bei Fiocati, »einem italienischen Konditor alten Stils und d r i t t e n Ranges« 2 0 , wiedergibt, kann m a n ersehen, was ihm damals akzeptabel erschien. Gleichgültig auf welcher Rangstufe, v e r f ü g t e n diese Lokale, die im Berlin der dreißiger u n d vierziger J a h r e eine I n s t i t u t i o n darstellten, ü b e r zwei c h a r a k teristische Eigenschaften. F ü r ihre Besucher hielten sie. Erzeugnisse der periodischen Presse bereit, u n d der Name wies den Besitzer als einen jener Zuwanderer aus, die — vornehmlich aus der Schweiz oder, wie 1834 Kranzler, aus Österreich k o m m e n d — die Berliner in den Genuß der höheren Back- und N a s c h k ü n s t e brachten, welche sie bis dahin e n t b e h r t h a t t e n . F o n t a n e f a n d hier Zugang zu einer Welt, wo er sich auch u n t e r den dürftigsten U m s t ä n d e n seinen Existenzbedingungen enthoben fühlte u n d sein Selbstwertgefühl nicht verleugnen m u ß t e . Als junger Apotheker ist er in den Konditoreien heimisch gewesen, deren Verkehrsformen sich sehr von denen der Salons unterschieden,, die regelmäßig einen geselligen Kreis u m die D a m e oder den Herrn des Hauses versammelten. Allerdings h a t t e n auch die großen Konditoreien ihr eigenes P u b l i k u m , das den Ton a n g a b u n d es Außenseitern schwer m a c h t e . Die Konditorei Kranzler Ecke F r i e d r i c h s t r a ß e / U n t e r den Linden, die d e r ältere F o n t a n e nicht ungern besuchte, wäre f ü r den jüngeren schon aus diesem Grunde nicht in Frage gekommen, d e n n d o r t verkehrte in Gardeuniform und Zivil die feudale Jeunesse dorée. I h n zog es in die Stehelysche Konditorei »mit ihrer von L i t e r a t u r , Politik u n d Philosophie geschwängerten Atmosphäre« 2 1 . N a t ü r lich war keine Rede von einem Vordringen in den Kreis der S t a m m g ä s t e oder gar ins legendäre »Rote Zimmer«, das seinen
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Ruf den Wortführern der intellektuellen Opposition verdankte, die dort Zutritt hatten. Doch obwohl er am Rande blieb, parti zipierte F o n t a n e an der rudimentären Öffentlichkeit, die von der Lektüre der außerpreußischen Presse zehrte und sich — unter den Augen der Polizeispitzel — bei Stehely am ungeniertesten regte. Das Lokal behauptete auch insofern die Spitze unter den Berliner Konditoreien, von denen der radikale Publizist Friedrich Saß 1846 in seiner sozialanalytischen Stadlbeschreibung eine Typologie gegeben hat. E r sah sie im ganzen mit Skepsis an. »Sie sind eben die einzigen Orte, in denen das blasierte Berlin den Schein eines öffentlichen Lebens zeigt und in denen sich die verwickelten Knäuel der Gesellschaft gruppieren. Jedes Ereignis, sei es von lokaler oder allgemeiner Bedeutung, erschüttert den Resonanzboden der Berliner Konditoreien. Sie sind zwar nur ein trauriger Notbehelf für eine großartigere, tiefer ausgehende Öffentlichkeit, für die Befreiung von der bürokratischen Bevormundung und der egoistischen Absonderung des Klassenwesens; aber solange kein energischer, gewaltiger Umschwung unsere ganze Gesellschaft und namentlich das versauernde Berlinertum durchschüttelt, solange wird eben dieses in dem ausgebildeten System seiner Konditoreien seine volle Befriedigung finden und sich in ihnen auf der höchsten Höhe der Zeitbildung wähnen.«22 Fontane war keine Ausnahme. E r verließ Stehely, wie er sich erinnerte, immer mit dem Gefühl, sich »eine Stunde lang, an einer geweihten S t ä t t e befunden zu haben« 2 3 . Die Absonderung der privaten von der beruflichen Existenz, in die er sich Anfang der vierziger J a h r e hineinlebte, betraf jedoch vor allem den persönlichen Umgang. E r bewegte sich meist unter Studenten, angehenden Literaten und dilettierenden Poeten. Um sich unter ihnen zu behaupten, standen ihm sein gewinnendes, lebhaftes Naturell zu Gebote, seine literarischen Interessen und sein poetisches Talent. Unter diesen Umständen ergriff der seiner Arbeit innerlich entfremdete Apotheker die — wie man es genannt h a t — »Literatur als Alternative« 2 4 . Daß ein halbwegs gebildeter junger Mann Gedichte verfaßte, war in Fontanes Jugend gang und gäbe und wollte für seine Zukunft 32
nichts besagen. Aber für diesen jungen Mann, der seinen Platz hinter dem Rezeptier- und Ladentisch hatte, erwies sich Poesie als das einzige Mittel, um seine »gesellschaftlichen Defizite« 2 5 und die Prosa des Alltags zu kompensieren. E r hatte genügend Anlaß, die Kunst ins Zentrum seiner Anstrengungen und seines anderen, eigentlichen Lebens zu stellen. Die Erinnerungen, die Fontane in Von zwanzig bis dreißig festgehalten hat, beziehen sich zu mehr als der Hälfte auf die literarischen Vereinigungen, an die er seit 1840 Anschluß fand, und auf die Menschen und Schicksale, mit denen er dadurch in Berührung kam. Die Vereinigungen waren sein Zugang zum literarischen Leben. Sie erlangten einen ganz ungewöhnlichen, nur aus seiner besonderen Lage erklärlichen Einfluß auf seine E n t wicklung. Die Bedeutung der Publikationsorgane, bei denen er mehr oder weniger vereinzelt seine Arbeiten unterbrachte, konnte sich damit nicht entfernt vergleichen. Zwanglose »Dichtergesellschaften« 26 waren im Vor- und Nachmärz verbreitet. Sie rekrutierten sich vorwiegend aus den ungezählten »Poetae minores«, aber auch namhafte Autoren waren an ihnen beteiligt. Nicht selten legte man sich einen kuriosen Namen zu — in Wien gab es die Ludlamshöhle, die Franz Grillparzer unter ihren Mitgliedern hatte und, obwohl 1826 polizeilich aufgelöst, andernorts ähnliche Verbindungen nach sich zog; in Bonn versammelte später Gottfried Kinkel seinen Maikäferbund um sich. Selbstironie war eine häufige Begleiterin bei dem vorwiegend geselligen Treiben, ohne daß darum die ernsthaften Absichten leiden mußten. In Berlin, wo die literarischen Gesellschaften Tradition hatten, florierte diese Art der Gruppenbildung, über die in ihrer Erscheinungsbreite zu wenig bekannt ist. So weiß man von einem Platen-Verein und einem Lenau-Verein, die sonst folgenlos blieben, nur aus den Mitteilungen Fontanes, der ihnen 1840 für kurze Zeit angehörte. Dort herrschte das studentische Element; Kneipereien schlössen sich zumindest im Lenau-Verein dem lyrischen Wettstreit an, der auf den wöchentlichen Zusammenkünften ausgetragen wurde. Ob es ganz so harmlos herging, wie Fontane berichtet, ist nicht zu erkennen. Seine Darstellung entspricht dem Bild mangelnder politischer Bewegung und Reife 3
Wruck, Leben, Bd. I
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in einer argwöhnisch überwachten Stadt, das Berlin vor der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. bot. Studentische Vereinigungen dieser Art waren, wie ein Blick nach Breslau oder anderen Universitätsstädten zeigt, nichts Ungewöhnliches; die von den Behörden unterdrückten Bestrebungen zur Organisierung der Studentenschaft und zur Durchsetzung freiheitlicher Forderungen im akademischen und staatlichen Leben fanden in ihnen geeignete Kristallisationsmöglichkeiten vor. Fontane hat verschleiert, daß eine dritte studentische Vereinigung, zu der er während der auf seine Lehrzeit folgenden Wanderjahre in enger Verbindung stand, von derartigen Bestrebungen durchdrungen war. Sie hatte ihren Sitz in Leipzig, wo er 1841 eine Stellung als Apothekengehilfe antrat. Was er — nach dem Leitstern, der soeben am poetisch-politischen Horizont dieser Jugend aufgegangen war — den Leipziger HerweghKlub nannte, ähnelt den beiden Berliner Gruppen nur in seiner späteren Darstellung. In Wahrheit handelte es sich um einen Kreis der illegalen studentischen Progreßbewegung, der sich rasch radikalisierte und schon 1843 zerschlagen wurde. 27 Falls Fontane einen Gegensatz zu Berlin gesucht hatte, dann war die Wahl Leipzigs glücklich. Es wehte da ein liberalerer Geist; die Zensur, die Sache der Universität war, urteilte nachsichtiger; man berichtete als verbürgt, daß der mit ihr beauftragte Professor sie nicht selten in die Hände seiner Tochter legte. ( Oppositionelle Literaten hatten hier Aussicht auf Unterkommen und Betätigung. Darum war der Ort den Führungsmächten der Heiligen Allianz auch bald ein Dorn im Auge. Ein österreichischer Geheimbericht machte für den höchst mißliebigen Zustand der Gegenwartsliteratur geradezu deren Kommerzialisierung verantwortlich und erklärte: »Namentlich trägt der Stapelplatz des deutschen Buchhandels und das Hauptquartier des deutschen Literatenwesens, L e i p z i g , die größte Schuld an diesem Verderben. In dieser Stadt von 50000 Einwohnern befinden sich an 240 Buchhandlungen, eine ganze Legion von Literaten, und erscheint eine Unzahl von Zeitschriften. Hier ist das Proletariat des deutschen Schriftstellertums und das Patriziat des Buchhandels.« 2 8 Es war kein Zufall, daß Fontane in Leipzig in die liberale, demo34
kratische, sozialistische Positionsbildung einbezogen wurde und daß ihm hier zum ersten Male die Kontaktnahme mit dem literarischen Betrieb gelang, wenn auch nicht die Verwirklichung des Gedankens, darin als Redakteur Fuß .zu fassen und seinem Doppelleben so ein Ende zu machen. Am nachhaltigsten hat sich jedoch eine Denkrichtung ausgewirkt, zu der sich der preußische Zuwanderer gedrängt s a h : Er hat seitdem nicht wieder aufgehört, die Heimat in nationalen und interpationalen Perspektiven zu betrachten und das eigene Land, die eigene S t a d t zur Fremde in Vergleich zu setzen. Auf diese Fähigkeit, die zu den wesentlichen Voraussetzungen seiner Entwicklung und seines Realismus zähll, hielt er sich mit Recht etwas zugute. In Sachsens wohlhabendem altem Handels- und Bildungszentrum gingen ihm die Augen auf über »unser gutes Berlin, das mir von allen echten Berlinern immer als der Inbegriff städtischer Schönheit geschildert worden war. Und n u n ! Welcher Zusammenbruch. Es gereicht mir noch in diesem Augenblick zu einer gewissen Eitelkeitsbefriedigung, d a ß mein künstlerisches Gefühl angesichts des Neuen oder richtiger des Alten, was ich da sah, sofort gegen das Dogma vom 'schönen Berlin' revoltierte und instinktiv weghatte, daß Städteschönheit was anderes ist als grade Straßen und breite Plätze mit aus der Schachtel genommenen Häusern und Bäumen. Ein paar Ausnahmehäuser, hinter denen ein ausländischer Meister und ein königlicher Wille steckt, können das Ganze nicht retten.« 2 9 Fontane faßte für immer in Berlin Fuß, als er 1844 zum Militärdienst zurückkehrte. Inzwischen h a t t e er noch in Dresden und bei seinem Vater auf dem Lande als Apotheker gearbeitet. Die Folgen dieser Rückkehr standen denen aus seinem ersten Aufenthalt nicht nach. Er war, als er wiederkam, ein Vormärzdichter, und kein ganz unbedeutender. Dagegen ist er zu keiner Zeit ein Vormärzliterat im vollen Sinne gewesen, so daß man besser auf die Bezeichnung verzichtet, mit der sein Existenzproblem verdunkelt wird. Er hatte allerdings, und darauf ist Wert zu legen, in Leipzig den Weg dahin eingeschlagen. Die Versuche, die er mit einem ersten Roman, mit Korrespondenzen und Übersetzungen unternahm, zeigten ihn um eine marktfähige schrift3-
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stellerische P r o d u k t i o n b e m ü h t , u n d wenngleich die Verwirklichung unterblieb, so t r u g er sich doch e r n s t h a f t m i t der Absicht, den Dienst an der Poesie mit der Arbeit in der Presse zum Brotberuf des Literaten zu verbinden. Diese aussichtsreiche Entwicklung f a n d in Berlin keine F o r t setzung. Die raschen Fortschritte, die der Dichter u n d Übersetzer auf dem Feld der Ballade erzielte, waren durch eine Spezialisierung und ein Poesieverständnis e r k a u f t , die h i n t e r den Leipziger S t a n d a r d z u r ü c k f ü h r t e n . Der»vaterländische Dichter« F o n t a n e — vaterländisch in der B e d e u t u n g des preußisch P a r t i k u l ä ren — setzte sich, wenn auch nicht ohne weiteres, gegen den Vorm ä r z d i c h t e r gleichen Namens d u r c h . Zu diesem Rollenwechsel h a t der Tunnel über der Spree das meiste beigetragen. Der Tunnel gehört einer Literaturgeschichte der großen Bewegungen, N a m e n u n d Schriften bloß wegen dieses biographischen F a k t u m s an. Es wirft Licht auf das literarische Berlin im zweiten Drittel des J a h r h u n d e r t s , d a ß er dennoch d a r a u s nicht wegzudenken ist, obwohl er die Öffentlichkeit lange Zeit geradezu ängstlich gemieden u n d ferngehalten h a t . Soziologisch u n d kommunikationsgeschichtlich war der »Literarische Sonntagsverein« eine Merkwürdigkeit u n d in vielem a n a chronistisch. D a r ü b e r ist m a n a u ß e r durch F o n t a n e s ausführliche Darstellungen durch das umfangreiche, wohlgeordnete Archiv u n t e r r i c h t e t , das der Tunnel 1898 hinterlassen h a t ; allein von d e r H a n d F o n t a n e s finden sich fast h u n d e r t Sitzungsprotokolle. 1843 als Gast eingeführt durch B e r n h a r d von Lepel, einen Platen-Epigonen, der als Offizier bei den Kaiser-Franz-Gardegrenadieren s t a n d u n d sein Vorgesetzter u n d engster F r e u n d wurde, war er u n t e r seinem Vereinsnamen Lafontaine eines der eifrigsten Mitglieder. E r h a t diese Hingabe einleuchtend e r k l ä r t : »Es k o m m t n u n darauf an, d a ß einen das Leben, in Gemäßheit der von einem vertretenen Spezialität, richtig einrangiert. So k a m es, d a ß ich, t r o t z meiner jämmerlichen Lebensgesamtstellung, doch jeden Sonntag n a c h m i t t a g von vier bis sechs richtig u n t e r g e b r a c h t war, nämlich im Tunnel. Dort m a c h t e m a n einen kleinen G o t t aus mir. Und das hielt mich.« 3 0 Wenn m a n aus F o n t a n e s Worten wieder n u r eine »gewisse Eitelkeitsbefriedigung« 3 1 herauslesen
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wollte, wäre er mißverstanden. Denn ebenso ist von seinen Deklassierungsnöten und dem entfremdeten Verhältnis zum Apothekerberuf die Rede, die der Hauptgrund waren, daß die Tunnelmitgliedschaft bis zur Märzrevolution für ihn zum Lebensinhalt werden konnte. Im Verein verkehrte Lafontaine auf gleichem Fuße mit Schenkendorf, Spinoza, Immermann, mit Cook und Cocceji, die im bürgerlichen Dasein v. Lepel, Löwenstein, v. Merckel, Scherenberg und v. Mühler hießen und den Aufgaben eines Offiziers, eines Gerichts- oder Regierungsassessors, Zeitungsmannes oder Dichters nachgingen. Mancher hat es bis zur Exzellenz Dgebracht. O D Die Gleichstellung zwischen den Herren des Sonntagsvereins hob Fontanes Unterprivilegiertheit natürlich nicht auf, aber die Bedingungen des Tunnels erlaubten ihm, sie wettzumachen. E r befand sich zunächst in einer Ausnahmesitualion. Unter den 57 Mitgliedern, die er für seine aktive Zeit, die bis etwa 1860 reichte, als nennenswert betrachtete, findet sich sonst kaum jemand, der nach Herkunft oder Beruf und Bildung im Tunnel nicht von vornherein an seinem Platze gewesen wäre; es sind alles studierte Leute oder Militärs oder — in bezeichnender Unterscheidung — »Dichter, Berufsschriftsteller, Künstler« 32 . Dieser Kreis war den Standesansprüchen und' poetischen Passionen nach, die Fontane mitbrachte, wie für ihn geschaffen. E r ist in seinen Einstellungen dauerhaft davon geprägt worden, daß es ihm gelang, gestützt auf wenig mehr als seine Persönlichkeit und sein Talent, sich rasch die Anerkennung seiner Ebenbürtigkeit zu erwerben. Das war der Grund, weshalb er zum Tunnel in existentielle und partiell unentfremdete Beziehungen treten konnte, obwohl der Verein »an vielen Sonntagen nichts weiter war als ein Rauch- und Kaffeesalon, darin, während Kellner auf und ab gingen, etwas Beliebiges vorgelesen wurde« 33 . Im Tunnel über der Spree organisierte sich mit Eulenspiegel als Schutzheiligem und mit Hilfe eines Statuts von 130 ernsthaften Paragraphen eine interne Öffentlichkeit, die vom Literaturmarkt und den drucktechnischen Medien trotz vieler Querverbindungen unabhängig war. Die Autoren trugen aus dem Manuskript vor, das Auditorium reagierte spontan und schritt sogleich zur Meinungsbildung; jeder war Publikum, und jeder konnte 37
Autor sein. Diese Kommunikationsbeziehungen bewahrten den Vorzug der Unmittelbarkeit, stuften jedoch die Literatur oder besser die Poesie aus einer vorrangig gesellschaftlichen zu einer vorrangig geselligen Angelegenheit zurück. Das leistete dem Dilettantismus und der Lebensferne Vorschub, die sich in den ästhetischen Überzeugungen und den dichterischen Produkten des Vereins breitmachten und ihm schon von den Zeitgenossen zur Last gelegt wurden. Das politisch-ideologische Preußentum der tonangebenden Kräfte war in dem vorherrschenden Konservatismus des Tunnels nur ein Moment neben anderen. Dies vorausgesetzt, kann man zwei kritischen Punkten des Vereinslebens mit historischem Verständnis begegnen. Indem ersieh satzungsgemäß, wenn auch nicht immer streng die religiöse und politische Debatte verbot, sorgte er für seinen B e s t a n d ; ohne diese Enthaltsamkeit, die dem inneren Frieden diente, wären vermutlich die Tunnel-Sonntage auch polizeilicherseits gezählt gewesen. 1848 stand er ohnedies vor dem Zusammenbruch, um im Nachmärz neuen Aufschwung zu nehmen. Und an den vielen Dilettanten bleibt neben dem literarischen »Konventionalismus« 3 4 , den sie in den Tunnel hineintrugen, ein kultureller Standard bemerkenswert, der seitdem nicht allein unter preußischen Ministcrialbeamten und Gardeoffizieren verlorengegangen ist; er schloß mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die produktive und rezeptive, um Sachverstand und Urteilsfähigkeit bemühte Betätigung künstlerischer Neigungen ein. Fontanes Eingliederung in den Tunnel, von dem persönliche Verbindungen zu Regierungsstellen und zum Hofe liefen, versetzte ihn in den Schoß der herrschenden Kultur und in ein gesellschaftlich integriertes literarisches Treiben, das dem literarischen Betrieb, dem er sich in Leipzig genähert hatte, in wesentlichen Zielen und Formen entgegenstand. Im Sonntagsverein erwarb er sich das R e c h t auf »die tief innere Uberzeugung, daß ich einen Vers schreiben kann«, und bekannte sich zugleich zu der Meinung, daß er aus seiner Kunst keinen Beruf machen dürfe: ein Dichter müsse »allemal D i l e t t a n t sein und bleiben; sowie der Fall mit der melkenden Kuh eintritt, ist es mit der Poesie Matthäi am letzten« 3 5 .
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Artikelschreiben und Büchermachen nach 1848 So kam zwar der Enthusiasmus überraschend, mit dem er sich 1848 in die revolutionäre Bewegung stürzte, nachdem er jahrelang zur »Tunnelaristokratie, sowohl der Geburt wie des Geistes-« 36 gehalten hatte und erfolgreich mit seinen Liedern auf den Alten Dessauer, auf Derfflinger, Zieten und andere preußische Feldherren hervorgetreten war. (Das Berliner Theater spielte in seinem Leben zum erstenmal am 18. März eine außergewöhnliche Rolle, als er mit der Menge ins Königstädtische Theater am Alexanderplatz eindrang, sich bewaffnete und hinter die Barrikade trat, die man aus den Kulissen errichtet hatte.) Nicht überraschen konnten hingegen das Zögern und die Halbherzigkeit, mit denen er 1849 zur Pressearbeit überwechselte. Als er sich im entscheidenden Moment an Lepel wandte und vergebens den gewohnten ironischen Ton anschlug, um sich über den verzweifelten Ernst seiner Überlegungen hinwegzuhelfen, erscheint sie als ein untergeordneter Broterwerb wie andere auch: »400 Taler, worauf mit Recht der Spruch erfunden ist: 'Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel', ersehne ich nun schon seit J a h r und Tag, und obschon ich gar nicht wählerisch bin, obschon ich a l l u n d j e d e Subalternstellung, die nicht besondre Fachkenntnis erheischt, mit Freuden annehmen würde, dennoch ist es nicht möglich, auch nur ein solches Minimum zu ergattern. E s gibt mehr denn 2 Dutzend Posten, zu denen ich nicht schlechter wie andre Menschenkinder zu verwenden wäre. Geschäftsführer einer Apotheke, Eisenbahnbeamter, Sekretär, Kalkulator, Registrator, Lehrer in Chemie, Geographie und Geschichte, Konstabier-Wachtmeister, Redakteur einer gesinnungslosen Zeitschrift, ministerieller Zeitungsleser und Berichterstatter, Billeteur eines Theaters, BücherCroupier in der Königl. Bibliothek und noch hundert andre könnt ich so gut werden wie alle die Hinze und Kunze, denen das Glück des Lebens, in Gestalt von 400 Talern, so reichlich zufließt. Sage mir, Lepel, woran liegt es?« 3 7 Fontane begann anschließend, ein radikales Dresdner Blatt mit demokratischen Korrespondenzen aus Berlin zu versorgen. Aber er hatte den »ministerielle(n) Zeitungsleser und Bericht-
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e r s t a t t e r « schon im Auge, der Wirklichkeit wurde, als nach seiner H e i r a t die persönliche Z w a n g s l a g e h o f f n u n g s l o s erschien. Seine revolutionäre W e n d u n g w u r d e z u g u n s t e n eines qualund schamvollen A r r a n g e m e n t s m i t d e m konterrevolutionären S t a a t s a p p a r a t z u r ü c k g e n o m m e n . D a n k d e r P r o t e k t i o n des Tunnelg e f ä h r t e n Wilhelm von Merckel f a n d F o n t a n e 1850 im preußischen Pressedienst V e r w e n d u n g , wo er sich — m i t beträchtlichen Unterbrechungen und n o t d ü r f t i g e n R ü c k g r i f f e n auf a n d e r e E r w e r b s quellen — bis E n d e der fünfziger J a h r e halten u n d t r o t z s t ä n d i g e r Schwierigkeiten hoeharbeiten konnte. Die Niederlage d e r R e v o l u t i o n v o n 1848, die in ungezählten B i o g r a p h i e n einen E i n s c h n i t t , K n i c k oder B r u c h hinterlassen h a t , zog auch in F o n t a n e s F a l l eine p r a k t i s c h e Neuorientierung nach sich, deren A u s w i r k u n g e n früher oder s p ä t e r auf seine ges a m t e L e b e n s t ä t i g k e i t -übergriffen. D a s B ü c h e r m a c h e n u n d Artikelschreiben fing j e t z t an, die Verfertigung poetischer Gebilde zu v e r d r ä n g e n , und die materiellen E x i s t e n z g r u n d l a g e n wurden von nun an vier J a h r z e h n t e lang durch feste journalistische Arbeitsverhältnisse gesichert, die er mit zentralen Macht- u n d Publik a t i o n s o r g a n e n d e r in Preußen herrschenden K l a s s e n einging. U m n u r d a s Wichtigste a n z u f ü h r e n : E r s t neben, d a n n an die Stelle d e r englisch-schottischen B a l l a d e n , auf die e r s i e h im Tunnel verlegt h a t t e , . t r a t e n in den fünfziger J a h r e n die K o r r e s p o n d e n z e n , die d e r P r e s s e a g e n t d e s Ministeriums M a n t e u f f e l a u s L o n d o n schickte, und die Reisebücher, die er d a r a u s herstellte; die »Männer und H e l d e n « der preußischen Geschichte wurden nicht länger besungen, sondern seit 1859 in d e r historischen L a n d s c h a f t d e r Wanderungen durch die Mark Brandenburg aufgesucht; u m f a n g r e i c h e Darstellungen der siegreichen Kriege gegen D ä n e m a r k 1864, Österreich 1866, F r a n k r e i c h 1870/71 n a h m e n bis Mitte d e r siebziger J a h r e die b e s t e A r b e i t s k r a f t in A n s p r u c h . Die F o l g e war, daß sich seine Position innerhalb des literarischen Berlin grundlegend veränderte, während die S t a d t definitiv zum Zentrum seiner bürgerlichen E x i s t e n z wurde. B e i d e V o r g ä n g e gelangten a n der Wende d e r fünfziger J a h r e zu einem vorläufigen Abschluß, d e r zugleich einen Neubeginn darstellte. U b e r den Tunnel,
d e r ihn 1850 zu seinem S e k r e t ä r wählte
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u n d ihm noch 1859, nach der R ü c k k e h r aus England, die W ü r d e des Vorsitzenden, des »Angebeteten Haupts«, ü b e r t r u g , wuchs er in diesem J a h r z e h n t zusehends hinaus. E r fand sich m i t einem Personenkreis zusammen, der nach der Revolution neu in d e n Verein gekommen war, aber nicht recht darin aufging; im H a u s e des Kunsthistorikers F r a n z Kugler u n d seiner F r a u Clara h a t t e er seinen Mittelpunkt. Kugler, ein Gelehrter von Rang, war vort r a g e n d e r R a t im Kultusministerium; er h a t t e eine Tochter Julius Hitzigs geheiratet, des J u r i s t e n u n d Schriftstellers, der einst die literarische Mittwochsgesellschaft gegründet h a t t e u n d ein F r e u n d E. T. A. H o f f m a n n s u n d Adelbert von Chamissos gewesen w a r ; im anspruchsvollen Kreis der Kuglers ist u n t e r der gutbürgerlich familiären Erscheinungsform noch der späte Abkömmling romantischer Salonkultur zu erkennen, die in der S t a d t geblüht h a t t e . W e r hier verkehrte, h a t t e sich meistens nicht bloß d u r c h ein Bändchen Gedichte legitimiert, er h a t t e die Beschäftigung mit den schönen Künsten, den bildenden noch m e h r als der Literatur, zu seinem Beruf g e m a c h t : Friedrich Eggers, der Herausgeber des Kunstblatts, der K u n s t h i s t o r i k e r Wilhelm Lübke, der Architekt Richard Lucae — alles waren Männer, die wie der b e r ü h m t e J a c o b B u r c k h a r d l ü b e r k u r z oder lang zu N a m e n und Einfluß gelangten. F o n t a n e bereitete den Polterabend vor, als der blutjunge, viel b e w u n d e r t e P a u l Heyse, m i t dem er sich damals befreundete, Kuglers schöne T o c h t e r heiratete, und schloß mit Theodor Storm nahe B e k a n n t s c h a f t , der ebenfalls in diesem Kreis A u f n a h m e fand. Von hier k a m e n auch die meisten Teilnehmer am sogenannten Rütli, einem Seitenzweig des Tunnel, den Friedrich Eggers 1852 ins Leben gerufen h a t t e . Es waren die p r o d u k t i v s t e n K r ä f t e , die in der Neugründung, die m e h r einer F r e u n d e s r u n d e glich als einem regelrechten Verein, u n t e r sich sein wollten. Auch Adolph Menzel gehörte zu ihnen. D a ß m a n — im Gegensatz zur Publizitälsscheu des Tunnels — m i t einem J a h r b u c h an die Öffentlichkeit t r a t , k a n n als Signal der Umorientierung verstanden werden. F ü r F o n t a n e , der sich im Rütli noch jahrzehntelang zu H a u s e fühlte, h a t t e d a m i t die allmähliche Ausgliederung aus dem Sonn4:1
tagsverein begonnen. Die Praxis geselliger Hervorbringung, auf deren Vorzüge Fontane sehr ungern verzichtete, blieb im Rütli zunächst erhalten und wurde in höherem Maße produktionsdienlich gemacht. In seiner Londoner Isolierung erinnerte er sich wehmütig daran:-»Von dem Einfluß, den es hat, wenn man an einem Stiftungsfeste vor 120 Menschen ein Gedicht vorliest, das e i n s c h l ä g t , von diesem und ähnlichen Einflüssen, die gewiß ebenso wohltätig wie unbestreitbar sind, will ich nicht sprechen; ich will eine Prosaarbeit herausgreifen und daran meine Bemerkungen knüpfen. Vor ungefähr vier Jähren schrieb ich eine Kritik über Scherenberg. Vorverhandlungen im Rütli. Vorlesung der Kritik; Kritik über die Kritik. Änderungen. Vorlesung der veränderten Arbeit in einer Ellora-Sitzung. Nochmals Rütli-Debatte, Druck. Briefliche (für den Druck bestimmte) Erwiderung Paul Heyses auf einzelne Sätze meiner Kritik etc. Diese W i c h t i g k e i t , mit der die ganze Angelegenheit behandelt wurde, mochte, namentlich in Erwägung der 300 Abonnenten, etwas Lächerliches haben, aber gleichviel, ob lächerlich, ob nicht, der Reiz alles Schreibens liegt nun mal darin, daß sich der Schreiber an bestimmte Persönlichkeiten wendet, d. h. an Eggers oder Merckel oder Lübke denkt, und nicht das gestaltlose Publikum, das nicht lacht, nicht weint, nicht lobt, nicht tadelt, wie eine dicke Wolke vor Augen hat.« 3 8 Das eigentümliche, doch von Fall zu Fall differierende Spannungsverhältnis zum literarischen Markt und seiner anonymen Öffentlichkeit, das für die jeweilige literarische Vereinigung kennzeichnend war, kam hier noch einmal klar zum Ausdruck. Jedoch verhehlte sich Fontane nicht lange, daß das Rütli gerade im entscheidenden Punkt hinter den wachsenden Ansprüchen zurückblieb, die er an diese Gruppe stellte, welche »eine Gesellschaft von Männern und nicht eine literarische Studentenverbindung« 3 9 sein wollte. Das Labile und Anachronistische daran blieb ihm nicht verborgen, so daß er Merckel erklären konnte: »Sie sagen mit Recht, dem gegenwärtigen Rütli fehlt ein Mittelpunkt, man kocht, man trinkt, man spricht, man unterhält sich, aber die Sache hat keinen rechten Zweck. Sie fragen weiter: wie ist dem abzuhelfen? Meine Antwort ist trostlos ge42
n u g ; sie l a u t e t : ich s e h e k e i n e H ü l f e , wenn G o t t n i c h t v o r h a t ( w a s ich bezweifle), i n n e r h a l b u n s r e s K r e i s e s W u n d e r zu t u n . D e n ü b l i c h e n B l a t t g r ü n d u n g s p l a n , w o m i t m a n in s o l c h e n N ö t e n g e m e i n h i n so r a s c h b e i d e r H a n d i s t wie m i t Chinin, w e n n einer d a s F i e b e r h a t , v e r w e r f e ich m i t f e s t e r U b e r z e u g u n g , weil kein B l a t t b e s t e h e n k a n n , d a s auf l i t e r a r i s c h e A m a t e u r s c h a f t a n g e wiesen i s t . « 4 0 F o n t a n e h a t t e es n a t ü r l i c h s c h w e r , sich v o n d e r m a n g e l n d e n P r o d u k t i v i t ä t d e r B e r l i n e r l i t e r a r i s c h e n V e r h ä l t n i s s e zu ü b e r z e u g e n , a u s d e n e n er h e r v o r g e g a n g e n w a r , o d e r zu b e m e r k e n , d a ß d a s Rütli i n s o f e r n w e n i g e r eine A u s n a h m e als v i e l m e h r d e n B e s t a n d t e i l eines u n b e f r i e d i g e n d e n G e s a m t z u s t a n d s b i l d e t e . S e i n a n t i p o d i s c h e r A l t e r s g e n o s s e G o t t f r i e d Keller, d e r in d e r n o r d d e u t s c h e n R e s i d e n z z w i s c h e n 1 8 5 1 u n d 1855 die h ö c h s t e E n t f a l t u n g seiner s c h ö p f e r i s c h e n K r ä f t e e r l e b t e u n d m i t d e m S t ä d t c h e n S e l d w y l a liier seine s c h w e i z e r i s c h s t e E r f i n d u n g m a c h t e , l i t t n i c h t u n t e r solchen B e f a n g e n h e i t e n . E i n v o r ü b e r g e h e n d e r A u f e n t h a l t in B e r l i n , so b e f a n d d e r S o h n d e s freien Zürich, sei auch für »künstlerische und andere Seiltänzernaturen« gut, w ä h r e n d ein d a u e r n d e r z u r I m p o t e n z f ü h r e , u n d d i e s n i c h t bloß wegen der »verfluchtc(n) Hohlheit und Charakterlosigkeit der h i e s i g e n Menschen«. I h m wird d a s A l p e n l a n d v o r A u g e n g e s t a n d e n h a b e n , als er f e s t s t e l l t e : » D i e m ä r k i s c h e L a n d s c h a f t h a t z w a r e t w a s r e c h t E l e g i s c h e s , a b e r i m g a n z e n ist sie d o c h s c h w ä chend für den Geist; u n d d a n n k a n n m a n nicht einmal hinkomm e n , d a m a n j e d e s m a l einen s c h r e c k l i c h e n A n l a u f n e h m e n m u ß , u m in d e n S a n d h i n e i n z u w a t e n . I c h bin f e s t ü b e r z e u g t , d a ß es a n d e r L a n d s c h a f t liegt, d a ß die L e u t e hier u n p r o d u k t i v w e r d e n . I c h s a g t e es schon h u n d e r t m a l zu h i e s i g e n P o e t e n , die sich d o m i ziliert h a b e n , u n d sie s t i m m e n alle ein u n d s c h i m p f e n w o m ö g l i c h noch m e h r als i c h ; a b e r k e i n e r w e i c h t v o m F l e c k , l i e b e r s t e r b e n sie elendiglich a u f d e m P l a t z e , ehe sie v o n d e m v e r f l u c h t e n K l a t s c h nest weggehen.«41 M ä r k i s c h e H e i d e u n d m ä r k i s c h e r S a n d m ü s s e n seit F o n t a n e s Wanderungen n i c h t m e h r in S c h u t z g e n o m m e n w e r d e n . E s l ä ß t sich a u c h a n d e n W e g g a n g d e s a l t e i n g e s e s s e n e n B e r l i n e r s Willib a l d A l e x i s erinnern, d e r 1 8 5 2 n a c h A r n s t a d t ü b e r s i e d e l t e , a n
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Melchior Meyr, der nach langem Aufenthalt im selben J a h r nach Süddeutschland zurückkehrte, oder an Heyse, der 1854 einem Ruf nach München folgte. Aber in der Hauptsache ist Keller schwer zu widersprechen. Das Mißverhältnis zwischen der literarischen Betriebsamkeit und den künstlerischen Ergebnissen blieb auch während der fünfziger Jahre eklatant, und das Wenige, was in der Stadt über den Tag hinaus an Bemerkenswertem hervorgebracht wurde, stammte tatsächlich von Autoren, die sich hier nur zeitweilig aufhielten. Die Literaturgeschichte nennt außer Keller selbst nur den unbekannten Anfänger Wilhelm Raabe, der von seinen beiden Berliner Studienjahren schon nach Wolfenbüttel zurückgekehrt war, als 1856 die Chronik der Sperlingsgasse herauskam. Es vervollständigt nur das Bild, wenn die Stadt unter den lokalen Zentren, zwischen denen die Debatte um den zeitgenössischen Realismus ausgetragen wurde, nicht genannt wird. 42 Auf engem Raum war hier für die Zeitgenossen das »unegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion, z. B. zur künstlerischen« 43 , mit Händen zu greifen und ebenso die Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der verschiedenen Kunstzweige. Karl Gutzkow, der in der Stadt aufgewachsen war, berichtete 1854 nach einem Besuch: »-Die Zunahme Berlins an Straßen, Häusern, Menschen, industriellen Unternehmungen aller Art ist außerordentlich. Auf Stellen, wo ich mich entsinne, mit Gespielen im Grase gelegen und an einer Drachenschnur gebändelt zu haben, sitzt man jetzt mit irgendeiner Dame des Hauses, trinkt Tee und unterhält sich über eine wissenschaftliche Vorlesung von der Singakademie her. Wo sonst die blaue Kornblume im Felde blühte, stehen jetzt großmächtige Häuser mit himmelhohen geschwärzten Schornsteinen. Die Fabrik- und Gewerbstätigkeit Berlins ist unglaublich. Bewunderung erregt es z. B., einen von der Natur und vom Glück begünstigten Kopf, den Maschinenbauer Borsig, eine imponierende, behäbige Gestalt, in seinem runden Quäkerhute in einer kleinen Droschke hin und her fahren zu sehen, um seine drei großen, an entgegengesetzten Enden der Stadt liegenden Etablissements zu gleicher Zeit zu regieren. Borsig beschäftigt 3000 Menschen in drei verschiedenen Anstalten, von denen das große Eisenwalzwerk bei 44
Moabit eine Riesenwerkstatt des Vulkan zu sein scheint. Es k o m m e n dort Walzen von 120 P f e r d e k r a f t vor. Borsig b a u t gegenwärtig a n der f ü n f h u n d e r t s t e n Lokomotive. Man berechnet ein Kapital von sechs Millionen Talern, das allein d u r c h Borsigs L o k o m o t i v e n b a u in U m s a t z gekommen ist. Es m a c h t dem reichen Manne Ehre, d a ß er sich von den glücklichen Erfolgen seiner U n t e r n e h m u n g e n auch zu derjenigen Förderung der Kunst gedrungen g e f ü h l t h a t , die im Geschmack Berlins liegt u n d dem Könige in seinen artistischen U n t e r n e h m u n g e n sekundiert. E r hat sich eine prächtige Villa gebaut und pflegt einen K u n s t g a r t e n , der schon ganz Berlin einladen konnte, die Victoria regia in ihm blühen zu sehen.«. 44 Der G r o ß u n t e r n e h m e r tritt liier nicht bloß als A k t e u r der industriellen Revolution u n d der H o c h k o n j u n k t u r auf, in der sich die Bourgeoisie nach d e r verratenen Märzrevolution f ü r ihre staatspolitische Machtlosigkeit schadlos halten k o n n t e . E r wird von Gutzkow zum Herrscher in seinem neuen Reich stilisiert — kein W u n d e r , d a ß er es dem Monarchen im Repräsentationsbedürfnis u n d in der F ö r d e r u n g der repräsentativsten u n t e r d e n K ü n s t e n n a c h t u t . Bei den Baumeistern, aber auch in den Ateliers der b e k a n n t e n Bildhauer herrschte Hochbetrieb, u n d in der Königlichen Oper begann die zweite Blüte des Balletts, während das Schauspiel — nicht ohne schauspielerischen Glanz zu entfalten — zur Bedeutungslosigkeit absank. Die Gründe, aus denen F o n t a n e 1852 und 1855—1859 nach London ging, wurden ihm nicht durch die Situation der K ü n s t e eingegeben; sie waren — von der schönen L i t e r a t u r ganz abgesehen — d u r c h die Notwendigkeit diktiert, sich, n a c h d e m er geh e i r a t e t h a t t e , eine berufliche Existenz a u f z u b a u e n . Deswegen f a ß t e er zeitweilig sogar den Gedanken, sich in der britischen Metropole niederzulassen. U n d k a u m , d a ß er wieder zurück war, sah m a n ihn in München, u m Maximilian II. aus seinen Balladen vorzulesen. W ä r e es nach dem Wunsch P a u l Heyses gegangen, der ihm helfen u n d ihn in den Dichterkreis nachziehen wollte, d e n der bayrische König u m sich sammelte, d a n n h ä t t e ihm d a r a u f hin eine Stellung in der u n m i t t e l b a r e n Umgebung des Monarchen ü b e r t r a g e n werden sollen. 45 45
Aber bei Licht besehen waren diese alternativen Vorhaben immer schon halb in die L u f t gebaut. Das eine Mal rechneten sie mit tausend Talern, die nicht v o r h a n d e n , das andere Mal mit den P f r ü n d e n eines königlichen Bibliothekars, die in fester H a n d waren. Außerdem h ä t t e n sie F o n t a n e auf die Position des Poeten zurückgebracht, die er gerade h i n t e r sich ließ. E r v e r w a n d t e denn auch auf ihre Realisierung nicht den Bruchteil jener Energie u n d Beharrlichkeit, mit denen er so lange wie möglich f ü r sein Verbleiben im staatlichen Pressedienst sorgte: Das ganze Netz seiner sozialen Beziehungen v e r b a n d ihn m i t Berlin. Hier lebten die F r e u n d e u n d B e k a n n t e n , die ihm seinen S t a t u s gewährleisteten, es war der Sitz der Regierungsstelle, von der er beschäftigt wurde, und der Zeitungen, f ü r die er schrieb. N u r ganz erhebliche Vorteile h ä t t e n ihn, wie er m e h r f a c h zu verstehen gab, dazu bewegen können, diese S t a d t auf die Dauer gegen eine andere einzutauschen. An der S t a b i l i t ä t der sozialen Beziehungen, die F o n t a n e in Berlin festhielten, änderten der Verlust alter F r e u n d e , das E i n t r e t e n in neue Wirkungskreise u n d U n t e r n e h m u n g e n nichts Wesentliches; auch nicht die e x t r e m e n Schwankungen, m i t denen er sie je nach den U m s t ä n d e n beurteilte. Bis zum Beginn der sechziger J a h r e bewegte er sich, während er ü b e r den Tunnel hinauswuchs, noch vorwiegend in dessen Einzugsgebiet. Es gab andere Kreise, wo er nicht anzutreffen war, obwohl sich dort gleichfalls die literarische Intelligenz der S t a d t sammelte. Dabei war er ein ergiebiger, gern gesehener G a s t , der von sich sagen d u r f t e , er sei »frei, unbefangen, ungebeugt u n d in der Gesellschaft meist heiler — kein Mensch sieht's u n d d e n k t dran daß mir m i t u n t e r anders zu Muthe ist und d a ß ich des Lebens Sorge sehr wohl kenne« 4 6 . E r h ä t t e sich an der Kaffeetafel, zu der donnerstags Varnhagen von Ense u n d seine Nichte Ludmilla Assing einluden, oder in den prunkvollen Räumen, wo der Verleger u n d F o r t s c h r i t t s m a n n F r a n z Duncker mit seiner F r a u Lina, einer geborenen Tendering, regelmäßig ihre Gesellschaft versammelten, wahrscheinlich b e q u e m e r zurechtgefunden u n d weniger sonderbar ausgenommen als Gottfried Keller, der dort die besten S t u n d e n zubrachte. Man h a t auch keine Mühe sich vorzustellen, d a ß seine hochgewachsene Gestalt
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Bellevuestraße 13 unter den Besuchern und Freunden Ferdinand Lassalles auftaucht, Seite an Seite mit dem ergrauten Tunnelgefährten Christian Friedrich Scherenberg, der im Nachmärz lokale Erfolge mit seiner historischen Schlachten-Epik erzielte und ganz vergessen wäre, hätte ihm nicht Fontane eine pietätvolle Lebensdarstellung gewidmet. 47 Sich in diesen geistig höchst beweglichen, gesellschaftlich gemischten Kreisen zu behaupten wäre Fontane nicht schwerer gefallen als Ludwig Pietsch, der bei Duncker und Lassalle ein- und ausging (er war später Fontane ein guter Kollege an der Vossischen Zeitung, ein gefeierter Journalist, der vom soziallilerarischen Typus her Julius Rodenberg und Paul Lindau nahestand). Zwischen diesen Zirkeln, zu denen noch die gesuchten Montagabende bei Fanny Lewald und Adolf Stahr hinzukamen, waren die Grenzen offen und der Verkehr fließend. Wie aus Scherenbergs Beispiel zu ersehen ist, der den Beifall hoher Militärs und die Unterstützung des Hofes hatte, verschloß man sich auch heterogenen Erscheinungen nicht. Aber im ganzen bestimmte doch der Geist der Gastgeber den Geist ihrer Zirkel, und" dies war auf den kleinsten Nenner gebracht ein freiheitlich antiabsolutistischer. Daraus erklärt sich unschwer Fontanes Außenbleiben. E r hatte nicht den Vorzug, wie Scherenberg von Franz Duncker umworben zu werden, sondern hatte Mühe, für die Sammelbände eigener und fremder Arbeiten, die er seit 1850 herausbrachte, von Mal zu Mal andere Verleger zu interessieren. E r war erst im Begriff, sich in der Literatur einen Namen zu machen, den seine Feldherrnlieder und Balladen bisher nur den Kennern und Bekannten nahegebracht hatten. Auf dem Pressemann Fontane aber lag der Schatten des Reaktionären, der sich aus seiner Tätigkeit für die restaurative Regierung unvermeidlich ergab und sich ungleich vertiefte, als er nach kurzem Flaggenwechsel 1860 in die Redaktion der Kreuzzeitung eintrat, die das Organ der intransigenten Junkerpartei war. Nicht nur Lepel sah darin einen Übergang auf die politische Gegenseite. Adolf Stahr, der sich für die Feldherrnlieder begeistert hatte, kreidete Fontane schließlich öffentlich an, daß der zweite Band seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg vom Standpunkt der Kreuzzei47
tungspartei geschrieben sei. 48 F o n t a n e s Position, die von diesem Hieb besser getroffen wurde als seine Person u n d sein Buch, h a t t e sich anfangs der sechziger J a h r e abermals tiefgreifend verändert. Als konservativer Literat am Beginn der Konfliktszeit Zur selben Zeit wurde der Verein Berliner Presse g e g r ü n d e t ; zu den ersten Mitgliedern zählte der junge P a u l Lindau. Seine Mitteilungen aus den Anfängen des Vereins lassen sowohl das einigermaßen dubiose journalistische Rollenspiel h e r v o r t r e t e n als auch den grundsätzlichen Polarisierungsvorgang, an denen F o n t a n e teilnahm. »Man lernte sich kennen, m a n lernte sich schätzen. U n d gerade die völlige Verschiedenheit der politischen, religiösen u n d socialen Ueberzeugungen der einzelnen Mitglieder m a c h t e den gegenseitigen Verkehr zu einem artig-höflichen u n d gemütlichen U m gang. Da saß Bernstein m i t seinem S a m m e t k ä p p e h e n , der kurz vorher in einem trefflichen Leitartikel der 'Volkszeitung' sein A n a t h e m a gegen die ü b e r m ü t h i g e J u n k e r w i r t h s c h a f t geschleudert, in traulichem Gespräch mit Beuthner, der u n t e r seiner Brille mißtrauische Blicke auf den Mosel warf und ganz vergessen zu haben schien, d a ß er 'dem jüdischen Leitartikelschreiber der Volkszeitung' in d e r 1 ' K r e u z z e i t u n g ' einige recht wenig verbindliche Redensarten an den Kopf geworfen h a t t e . Am Abend f a n d er diesen Leitartikelschreiber ganz c h a r m a n t u n d die Verschiedenheit der Confessionen schien ihn gar nicht zu schmerzen. U e b e r h a u p t waren die Redacteure der 'Kreuzzeitung' sehr schätzenswerthe Mitglieder des Vereins: der feingebildete, liebenswürdige Theodor F o n t a n e u n d vor Allem George Hesekiel, der sein 'Buch vom Grafen Bismarck' noch nicht geschrieben h a t t e , Hesekiel, der Virgil der Mark, der die poetischen Schönheiten der Sandwüste wie ein wahrer Dichter, der er ist, besungen . . .« 4tl Doch spitzten sich die Gegensätze stärker zu, als diese »Zeitungssolidarität« 5 0 vertragen konnte. »Uhlands Tod (November 1862) brachte den L a n d s m a n n des großen schwäbischen Dichters, 18
Berthold Auerbach, auf den Gedanken, eine Todtenfeier der Berliner Presse für den Verstorbenen anzuregen. Die Redacteure der 'Kreuzzeitung' erhoben Widerspruch. Der Ausspruch Uhlands, daß der deutsche Kaiser mit einem Tropfen demokratischen Oels gesalbt sein müsse, und die ganze politische Thätigkeit des schwäbischen Demokraten wollte ihnen nicht in den Sinn. Sie erklärten, daß sie vor dem Dichter Uhland freilich die größte Achtung empfänden, daß sie mit dem Politiker Uhland aber keineswegs sympathisirten, daß es ihnen ferner unmöglich erschiene, den Dichter zu feiern, ohne gleichzeitig dem Politiker zu huldigen, und daß sie deshalb vor einer Feier warnen müßten, die nach ihrer Auffassung den Statuten, welche jede politische Kundgebung des Vereins untersagten, schnurstracks. zuwiderliefe. Sie drangen mit dieser Ansicht nicht durch. Auerbachs Antrag wurde angenommen, das Fest wurde begangen, und die Redacteure der 'Kreuzzeitung' schieden aus dem Vereine aus.« 51 Fontanes Position hatte sich verändert. Aber auch die öffentliche Szene verwandelte sich, seit darauf die rapide angewachsene nationale Bewegung der ersten sechziger Jahre Platz griff, an der er keinen Anteil hatte. Berlin war der Brennpunkt ihrer Auseinandersetzungen mit der Hohenzollernmonarchie und dem Junkertum, der parlamentarische und publizistische Austragungsort zumal des Konflikts mit dem Ministerium Bismarck. In der preußischen Hauptstadt mußten die deutschen Entscheidungen fallen, dorthin richteten sich die Blicke, und wer in diese Prozesse einzugreifen oder von ihnen zu profitieren gedachte* fand dort die Gelegenheit. Naturgemäß stand die Presse im Vordergrund. Karl Marx, der nach der Amnestie für die Achtundvierziger an Ort und Stelle die Situation sondieren konnte, kam 1861 zu dem Schluß (der sich allerdings nicht realisieren ließ): »Unter diesen Umständen nun wäre es in der Tat ganz zeitgemäß, wenn wir nächstes J a h r eine Zeitung in Berlin herausgeben könnten, so widrig mir persönlich der Platz ist.-«52 1861 gingen Robert Schweichel, der in der Schweiz Zuflucht gefunden hatte, und 1862 Wilhelm Liebknecht, der aus dem Londoner Exil zurückkehrte, zur soeben gegründeten Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, bis sich herausstellte, daß das Blatt Bismarcks Geschäfte be4
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sorgte. Aus London kam übrigens auch Lothar Bucher wieder, gegen dessen einflußreiche englische Korrespondenzen die preußische Regierung vergeblich ihren Presseagenten Fontane aufgeboten hatte. Auch Bucher ging zu Bismarck über. Der Berliner Karl Frenzel (später ein Spezialkollege Fontanes als Theaterkritiker) wurde Redakteur der National-Zeitung-, aus Leipzig erschien Julian Schmidt, um die Leitung der altliberalen Berliner Allgemeinen Zeitung zu übernehmen. Der durch seine »Dorfgeschichten« berühmte Berlhold Auerbach halte seinen Wohnsitz schon 1859 nach Berlin verlegt; Friedrich Spielhagen — nach dem frischen Erfolg der Problematischen Naturen — kam 1862, und im selben J a h r siedelte sich Julius Rodenberg hier an, um mit der Übernahme des Illustrierten Magazins seine Karriere als Zeitschriften-Herausgeber anzutreten. Die Anzahl der Berliner Tageszeitungen belief sich 1866 bereits auf zehn. Auf die widerspruchsvollste Weise legte damals auch Fontane den Grund für seine weitere schriftstellerische Laufbahn. Am Aufschwung des Pressewesens war er insofern beteiligt, als sich durch seine Verbindung mit der Kreuzzeitung endlich seine Stellung als Literat normalisierte und stabilisierte. Damit erlangte er eine weitgehende Unabhängigkeit von persönlicher Protektion und von der Wahrnehmung drückender politischer Nebenfunktionen, die im Staatsdienst seine Hauptaufgabe gewesen war. Hand in Hand mit dieser Normalisierung seiner beruflichen Existenz ging ein ebenso origineller wie ideologisch prekärer literarischer Neubeginn, durch den er unerwartet seinen Anschluß an den kleinmeisterlichen, meist regionalen, oft provinziellen, vielfach historisierenden Realismus in der deutschen Nachmärzliteratur herstellte, obwohl er das KleinmeisterlichProvinzielle gerade vermeiden wollte. Das Grundkonzept brachte er aus London mit. Es zielte auf eine Alternative sowohl zu einer zeit- und weltentrückten poetischen Selbstgenügsamkeit, die er mit den Namen Storm und Roquette bezeichnete, als auch zur unterhaltungs- und gewinnorientierten Tagesliteratur. Das Rütli hatte solch hochgespannten Erwartungen nicht nachzukommen vermocht: »Mitunter dacht ich freilich, aus u n s e r e m Rütli würde sich eine geistige Gesamtheit, ein bestimmtes Prinzip,
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eine c h a r a k t e r g e b e n d e Idee entwickeln, und in dieser B e z i e h u n g sind wir hinter uns selbst und unsrer A u f g a b e z u r ü c k g e b l i e b e n . A b e r es sind wenigstens A n l ä u f e d a z u vorhanden, u n d wenn ich angeben soll, worin sie bestehen, so würd ich s a g e n : in B e k ä m p f u n g d e r hohlen P h r a s e , in H e i l i g h a l t u n g jener ehrlichen R o m a n tik, die allein Poesie ist, und in A n t i - K l a d d e r a d a t s c h t u m . D e n K l a d d e r a d a t s c h als Einzelerscheinung laß ich gelten, a b e r d a s K l a d d e r a d a t s c l i t u m ist doch ein Gift, d a s an u n s r e m g a n z e n Leben zehrt.«53 F o n t a n e s W e n d u n g gegen d a s K l a d d e r a d a t s c l i t u m war m e h r als eine A b s a g e an die volkstümliche, nieist humoristische, oftm a l s tagesaktuell-kri tische lokale L i t e r a t u r , die es zwischen 1830 und 1860 in der S t a d t als einzige R i c h t u n g zu Originalität, kontinuierlicher E n t w i c k l u n g und Wirkung a u f s größere Publik u m b r a c h t e . Der Kladderadatsch m u ß t e nicht zu U n r e c h t f ü r die Bezeichnung h e r h a l t e n ; dieses vielgelesene, m i t Illustrationen versehene politische W i t z b l a t t v e r d a n k t e sein Dasein d e m »tollen J a h r « 1848 und seine G r ü n d u n g D a v i d Kaiisch, d e r u n t e r den Berliner Possenschreibern der erfolgreichste w a r ; im wesentlichen liberal eingestellt, ü b e r s t a n d es alle S t ü r m e der Zeit; f ü r F o n t a n e repräsentierte es in der L i t e r a t u r z u s a m m e n mit d e r L o k a l p o s s e s a m t ihren Couplets und mit den Volksfiguren eines Glaßbrenner e t w a s , d a s er s p ä t e r d a s » m o d e r n e Berlinertum« n a n n t e 5 4 . In den Wanderungen durch die Mark Brandenburg setzte F o n t a n e sein G e g e n k o n z e p t u m . Sie führten, was m a n a u c h s a g e n m a g , v o m modernen Berlin, d a s darin praktisch nicht v o r k o m m t , h i n w e g ins alte Preußen. E r hielt d a s f ü r den Weg, die vermißten Werte wieder aufzufinden. A b e r natürlich d a c h t e er nicht im T r a u m d a r a n , sich deswegen nach Rheinsberg, ins O d e r b r u c h oder auch n u r nach P o t s d a m zurückzuziehen. Denn dessen w a r er sich b e w u ß t : » E s ist m i r im L a u f e der J a h r e , besonders seit m e i n e m A u f e n t h a l t in L o n d o n , B e d ü r f n i s geworden, a n einem großen M i t t e l p u n k t e zu leben, in einem Zentrum, wo entscheid e n d e Dinge geschehn. Wie m a n auch über Berlin s p ö t t e l n m a g , wie gern ich zugebe, d a ß es diesen S p o t t gelegentlich v e r d i e n t , d a s F a k t u m ist doch schließlich nicht wegzuleugnen, daß d a s , was hier geschieht und nicht geschieht, direkt eingreift in die 4*
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großen Weltbegebenheiten. Es ist mir ein Bedürfnis geworden, ein solches Schwungrad in nächster Nähe sausen zu hören, auf die Gefahr hin, daß es gelegentlich zu dem bekannten Mühlrad wird.« 55 Fontanes berufliche, schriftstellerische und politische Wendung zu Beginn der sechziger Jahre war so tiefgreifend, daß eine Zwischenbilanz angebracht ist. Mit Vierzig — so läßt sich resümieren — verfügte er über einen ungewöhnlich ausgedehnten Fundus sozialer Erfahrungen, von denen er zeitlebens zehren konnte. Es liegt nahe, dabei zuerst an England zu erinnern. Er habe London besser gekannt als Berlin, meinte er später; er lernte dort, im Horizont eines Weltreichs und in den Maßstäben einer Weltstadt zu denken, als es noch eine Ironie bedeutete, wenn jemand Berlin diese Bezeichnung beilegte. Aber seine Aneignung der überdimensionalen, fremden Wirklichkeit unterschied sich von den heimischen Erfahrungen; sie brachte es gewöhnlich nicht zu der hochgradigen subjektiven Authentizität, die aus der eigenen unmittelbaren Betroffenheit hervorgeht. In London war er »immer bloß Zaungast« 56 , ein Außenstehender selbst in den Räumen der preußischen Gesandtschaft, dessen Schicksale sich nach wie vor in Berlin entschieden. In Berlin hing er von Jugend an auf Gedeih und Verderb von den Lebensverhältnissen ab, in die er versetzt war. Kein Zweifel, daß ihm die Sensibilität, mit der er auf diese Verhältnisse reagierte, von seiner gesellschaftlichen Zwischenstellung und ungewissen Zukunft eingeschärft wurde. Er durchmaß in Berlin ein soziales Terrain, das sich zwischen dem Vogtland und der Tiergartenvilla, der Grenadierkaserne und dem Ministerium, zwischen dem Bodenverschlag des Apothekergehilfen und dem Ehrenplatz erstreckte, den das »angebetete Haupt« des Tunnels einnahm. Seit er in die Gewerbeschule eingetreten war, lebte er in grundverschiedenen Milieus. In einer Beziehung blieb allerdings seine Lage unter allen Umständen dieselbe. Er ging in diesen Milieus, denen er durch teils massive, teils subtile Abhängigkeitsverhältnisse, vor allem durch Arbeitsverhältnisse integriert war, nicht auf. Im Einklang mit dem Selbstbild, das er von sich, hatte, verstand er sich als Außenseiter, 52
oder er war es durch seine soziale Position. Und er war erfolgreich in seinem Bemühen, sich entsprechende Ausnahmebedingungen zu schaffen. So stand seine Befindlichkeit im Zeichen eines Dilemmas von Integration und Desintegration, das Tag für Tag bewältigt sein wollte. Aus solchen Lagen lassen sich Einsichten erzielen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man hier die Wurzeln des unerschöpflichen Interesses sucht, mit dem er in der kritischen Reflexion und der literarischen Verkörperung immer wieder auf die gleichermaßen typischen und singulären Beziehungen zurückkommt, die sich zwischen den verschiedenen Lebensstellungen und der menschlichen Beschaffenheit desjenigen ergeben, der sie einnimmt. Es sollte ihm noch zustatten kommen, daß seine Erfahrungen auf politischem und literarischem Gebiet den sozialen an Spannweite und vitaler Bedeutung nichts nachgaben. Sein Wirkungs- und sein Bekanntenkreis erstreckten und verlagerten sich im Lauf der Zeit von der äußersten Linken bis zur extremen Rechten. Dies war eine Folge des wiederholten Fronteriwechsels, der ihn in Überzeugungskrisen und Selbstwertzweifel verstrickte. E r hatte nicht umsonst literarisch und praktisch an den revolutionären Kämpfen um die Macht im Staate teilgenommen und sich wenig später an der staatlichen Machtausübung beteiligt gesehen. Das geschah unter miserablen Umständen, war aber mit gehörigen Eindrücken vom Arbeiten des Apparats verbunden. Unter welchen Umständen immer — bei den Umbrüchen, die vom Thronwechsel 1840 zum Heeres- und Verfassungskonflikt der ersten sechziger Jahre führten, hatte er mitgehandelt. Ähnlich intensiv vollzog er die Ablösungsvorgänge mit, die zwischen der Vormärzdichtung und dem nachrevolutionären Realismus stattfanden. Die Antinomie von Poesie und Leben, auf die er sich zurückgezogen hatte,' hielt seinen Wirklichkeitserfahrungen nicht stand; in seinem Verhalten und Denken erlangte das Leben immer größeres Ubergewicht; es entwickelte sich in den fünfziger Jahren zur zentralen Kategorie seines Literaturkonzepts. Nur folgerecht, daß eigene Pläne auftauchten, in denen die Lebensdarstellung — er dachte zuerst ans englische, dann ans preußische Volksleben, schließlich ans vaterländische
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Leben — als erstrebenswerte schriftstellerische Aufgabe erscheint. In einem Brief an Paul Heyse fiel 1861 dann sogar die Andeutung: »Uber unser Berliner Leben, groß und klein, ließen sich selber wieder Bücher schreiben (und werden gewiß geschrieben werden).«57 Die Idee lag nahe, denn Fontane war mit den englischen Beispielen vertraut und schätzte vor allem Thackerays Vanity Fair, den Roman, »mit dem er wie kein zweiter . . . das Londoner Leben vor dem Auge des Lesers erschließt« 58 . Dennoch mußten anderthalb Jahrzehnte ins Land gehen, bevor er sich ernsthaft mit dem Entwurf eines vergleichbaren Berliner Romans befaßte (der Allerlei Glück heißen sollte, aber nicht zustande kam). Daran war nicht seine Option für die Berichtsform schuld, die schon seinen ersten Überlegungen zugrunde lag, denn in bezug auf die Darstellung des Lebens machte er zwischen ihr und der Romanform offensichtlich keinen kategorialen Unterschied. Auch seine Berichte — von den Wanderungen bis zu den Kriegsbüchern — befaßten sich in geradezu demonstrativer Ausschließlichkeit mit Gegenständen, die nichts mit dem modernen Berlin zu tun hatten. Seine Orientierung an den Traditionswerten eines ständisch und monarchisch verfaßten Preußen erlangte vorerst die Oberhand über die Faszination, welche eine Urbanisierung großen Stils auf ihn ausübte. Urbanisierung und Urbanität Dennoch schloß er sich nicht der Auffassung von der Widernatürlichkeit der Verstädterung an, die bei Wilhelm Riehl 1853 in den Sätzen gipfelte: »Europa wird krank an der'Größe seiner Großstädte. Die gesunde Eigenart Altenglands wird in London begraben, Paris ist das ewig eiternde Geschwür Frankreichs.« 59 Er blieb im Gegenteil bei seiner Uberzeugung, daß sich von Hause aus der gesellschaftliche Fortschritt in den großen städtischen Gemeinwesen konzentrierte. In seinem Verhältnis zur Urbanisierung manifestierte sich ein Grundbestand geschichtlicher Anschauungen bürgerlich-liberalen Charakters, der genügend Stabilität besaß, um die politischen Standortwechsel zu überdauern. In der Reiseliteratur war der Vergleich zwischen London und 54
Paris nicht ungewöhnlich, der bei Riehl anklingt; neuere Stadtdarstellungen von Berlin oder Wien suchten sich hier ihre Bezugsgrößen. 6 0 Nicht anders verhielt sich Fontane, als er 1856 von einem Urlaub in Berlin nach England zurückkehrte und in Paris Station machte. E r hatte Mühe, seine Voreingenommenheit gegen die Hauptstadt des zweiten Kaiserreichs zu überwinden; wie so oft schwankten seine Eindrücke und Meinungen, während seine Maßstäbe feststanden. F ü r ihn war London, nicht Paris die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts. »Paris ist ein vergrößertes Berlin; London ist eben London und ist mit gar nichts andrem zu vergleichen. . . . J a , da passier ich halbe Meilen lange Strecken, in denen man gar nichts sieht, aber das schadet auch nichts. In den östlichen Vorstädten wohnen Hunderttausende von armen Leuten; sie sind nichts, sie haben nichts, a b e r w o l l e n a u c h n i c h t s s c h e i n e n . Man nimmt gar keinen Eindruck mit heim, weder einen schlechten noch einen guten; man weiß einfach, man hat eine halbe Stunde lang in einem Armenviertel zugebracht. Nur Schnapskneipen (und das ist allerdings ein Übelstand) hat man bemerkt. Kommt man nun aber nach der City, welche Gediegenheit da in dem ganzen S t a d t teil, der die S t . Pauls-Kirche u m g i b t ! Die Kaufläden strotzen von Warenreichtum.' Und nun im West End, in Oxford Street und Regent S t r e e t ! alles funkelt von Gold und Silber, von Samt und Seide, und es funkelt so, daß man gleich m e r k t : haha, hier ist was dahinter. Kommt man dann in die wahrhaft noblen Quartiere, in das Westend des West Ends, so fällt die B u n t h e i t der Läden fort; aber endlos ziehen sich nun die Wohnungen der reichen Leute hin. Man kann von diesen Wohnungen nicht behaupten, daß sie im einzelnen besonders schön oder imposant seien, aber ihr g e m e i n s c h a f t l i c h e s Auftreten (20, 40, selbst 100 solcher Wohnungen bilden oft ein riesiges Ganze, das nun aussieht wie das Berliner Schloß, nur oft noch mal so groß) erzeugt in dem Vorübergehenden die Vorstellung, daß er eine endlose S t a d t von Palästen passiere. . . . Man stutzt schon, wenn man stundenlang die Quartiere a r m e r Menschen durchwandert, aber daß dies London auch Stadtteile hat, wo man stundenlang an den P a l ä s t e n s t e i n r e i c h e r L e u t e vorüberschreiten muß,
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ist mehr als alles andre angetan, einem eine Vorstellung von der Macht dieser Stadt und Englands überhaupt zu geben. Dergleichen hat Paris nicht. Gediegner Reichtum tritt hier sporadisch auf, etwa wie bei uns. In London ist er, innerhalb gewisser Gesellschaftsschichten, Regel.« 61 Dies waren — vorgegeben durch die soziale Topographie der ¿two nations« — bereits jene Perspektiven und Beobachtungen, die sich nachmals Lenin in London aufdrängten. Nadeshda Krupskaja berichtet von ihm, daß er vom Oberdeck der Omnibusse stundenlang das Leben der gewaltigen Stadt an sich vorbeifluten ließ. In den vornehmen Squares und den Proletariergassen verkehrten freilich keine Busse. »Dorthin gingen wir zu Fuß, und Iljitsch schüttelte häufig, wenn er diese schreienden Kontraste von Reichtum und Armut betrachtete, den Kopf und murmelte: 'Two nations!'« 6 2 Nur daß Fontane die entgegengesetzte Stellung bezog und bereit war, das Zerfallen von Stadt und Bewohnerschaft in Arm und Reich als eine Gegebenheit hinzunehmen. Dabei konnte er scharf mit dem alles durchdringenden Mammonismus des »money-making people« 63 ins Gericht gehen, der ihn abstieß und zu düsteren Prognosen veranlaßte; er kam dann mitunter der Ansicht des jungen Engels nahe, »-daß diese Londoner das beste Teil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Zivilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt« 64 . Auch Fontanes ursprüngliche Hingabe an das überwältigende Phänomen der dahinhastenden, drängenden, gesichtslosen Menschenmasse in den Citystraßen, das keinen Fremden gleichgültig ließ, hielt der wiederholten Bekanntschaft nicht stand. Hatte er zuerst verkündet: »Der Zauber Londons ist — s e i n e M a s s e n h a f t i g k e i t « 6 5 , so traf später auf ihn wie auf Heine, Edgar Allan Poe und den Engels von 1845 die Feststellung zu, daß die Großstadtmenge in denen, die sie als erste ins Auge faßten, Angst, Widerwillen und Grauen weckte. 66 Ein Toast, den er aus London an Franz Kugler richtete, gab davon Nachricht:
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W o h l wenn mich's die Themse h i n a b g e f ü h r t Oder nur hinab auf die Gasse, H a t mich der mächtige Z a u b e r berührt, D e r Z a u b e r der bloßen Masse. W o h l t r a t lebendig v o r mich hin, W a s nur Zahl ist in andern Zonen, W o h l h a b ich geschwelgt mit t r u n k e n e m Sinn In dem Bilde v o n Millionen. W o h l h a b ich geschwelgt — bis doch
zuletzt
E i n G r a u e n mich ü b e r k o m m e n U n d ich m i c h v o r d e r Masse entsetzt, Die einst mich gefangen g e n o m m e n ; D a lag sie, wie v o r dem Vergrößerungsglas E i n S t ü c k infusorischer E r d e , U n d es fehlte jenes unnennbare W a s , D a ß die Masse zur Schönheit werde. Ich forsch' und suche: W a s ist dies W a s ? U n d ich forsche und suche vergebens; E s ist nicht dies, es ist nicht das, Es ist die Fülle des Lebens, Es ist die E n t f a l t u n g , h u n d e r t f a c h Jener Keime, die in uns liegen, Jener himmlischen Keime, die in uns w a c h N u r noch wachsen können und siegen. Gemeint sind Liebe, Ehre, Wissen, K u n s t . 6 7 Trotz
dieses
Einstellungswandels
blieb
Fontane
unbeirrt
bei seiner B e w u n d e r u n g f ü r die Dimensionen, in denen hier ein L a n d seine Machtfülle und seine V e r m ö g e n entfaltete. N i c h t ohne N a i v i t ä t b e j a h t e er in ihren grandiosen Urbanen Erscheinungsformen letzten E n d e s die Folgen kapitalistischer P r o d u k t i v k r a f t Expansion.
Diese
Grundeinstellung
und
das
entsprechende
A r g u m e n t a t i o n s m u s t e r h a b e n sich im A l t e r eher noch verfestigt. E r sah in den großen S t ä d t e n , L o n d o n voran, eine kulturelle 57
E r r u n g e n s c h a f t ersten Ranges u n d war geneigt, die ihnen innewohnenden F r a g w ü r d i g k e i t e n m e h r als eine Unvollkommenheit des einzelnen Gemeinwesens zu b e t r a c h t e n , als sie der Urbanisierung ü b e r h a u p t zur Last zu legen. Urbanisierung spiegelte sich in seinem Denken als ein Fortschrittsprozeß, mit dessen im wesentlichen bürgerlichem Charakter er sich ü b e r J a h r z e h n t e in sonst u n g e w o h n t e m Maße einig zeigte. Obwohl er u m die Darstellung einen Bogen machte, war bei solchen Überlegungen häufig von Berlin entweder auch die Rede, oder es wurde mitgedacht. Darin traf sich die Interessenlage seiner Adressaten d u r c h a u s m i t seiner eigenen, d e n n ihn beschäftigte der historische Ort dieser S t a d t , die er gelegentlich einen P a r v e n u nannte. 6 8 W a s er nach der Reichsgründung öffentlich zum Ausdruck brachte, war ihm schon lange bewußt : d a ß im S p ä t m i t t e l a l t e r »•Kurbrandenburg ein "bloßes Reichsanhängsel war u n d die L e h m katenherrlichkeit unserer S t ä d t e in allem, was R e i c h t u m , Macht u n d K u l t u r anging, neben d e m eigentlichen Deutschland, neben den Reichs- u n d H a n s e s t ä d t e n verschwand« 6 9 . Über die Idealisierung, die Alexis in seinem R o m a n Der Roland von Berlin an der damaligen Bürgerschaft von Berlin u n d Cölln vorgenommen h a t t e , k o n n t e er sich regelrecht ereifern. »Ich persönlich h a b e von dieser Zeit, in all u n d jeder Beziehung, die allerniedrigste Vorstellung u n d segne die Stunde, wo der Schloßbau als 'Zwing-Berlin'fertig ward. Es war . . . eine rohe, tölpisclie, allem Geistesleben seitab stehende Bevölkerung u n d n u r von einem noch weiter e n t f e r n t als von Geist u n d K u l t u r — von wirklicher Freiheit.« 7 0 K u l t u r u n d Freiheit, R e i c h t u m u n d Macht, London u n d die alten Reichs- u n d H a n s e s t ä d t e — vor d e m H i n t e r g r u n d dieser Muster u n d Maßstäbe n i m m t sich das f r a g m e n t a r i s c h e Mosaikbild der Berliner Geschichte nichts weniger als glanzvoll aus, d a s F o n t a n e s verstreute Bemerkungen u n d vereinzelte Zusammenfassungen hergeben. Natürlich war dem H u g e n o t t e n e n k e l der geistige u n d gewerbliche Auftrieb geläufig, den die S t a d t den Réfugiés v e r d a n k t e . Das Ganze behielt in seinen Augen t r o t z d e m den Stempel des d u r c h u n d durch Kümmerlichen, obwohl
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er darin u n t e r Friedrich II. einen eigentümlich-neuartigen Zug h e r v o r t r e t e n sah u n d beides miteinander k o n t r a s t i e r t e : die allgemeine »Armseligkeit der Zustände, die Beschränktheit u n d Unerbittlichkeit der Anschauungen, die gesellschaftliche Steifheit, die soldatische P r ä p o n d e r a n z u n d diesem allem zum Trotz doch ein keckes Sichgeltendmachen des Persönlichen, eine gewisse Freiheitlichkeit, die der Freigeistigkeit noch vorausging« 7 1 . ' Die gewisse Freiheitlichkeit, die mit Aufklärung, nicht mit Demokratie in Verbindung zu bringen war, ging d a n n ein in den G r u n d b e s t a n d des »Berlinertums« als der stadteigenen Mentalität, wie F o n t a n e sie v e r s t a n d u n d beschrieb. Diesem Wesenszug k a m erhebliche B e d e u t u n g zu, weil er in seinen Augeii Berlin m i t den m a ß s t a b s e t z e n d e n bürgerlichen Gemeinwesen wenigstens v e r k n ü p f t e und es — k a u m m i n d e r wichtig — von den anderen Residenzen unterschied, die der Absolutismus in den deutschen Einzelstaaten hinterlassen h a t t e . Ein Besuch der kurhessischen H a u p t s t a d t forderte ihn 1871 zu der Feststellung h e r a u s : »K a s s e 1 gehört u n t e r die P o t s d a m m e der Weltgeschichte. Das Wesen dieser P o t s d a m m e . . . besteht in einer unheilvollen Verquickung oder auch Nichtverquickung von Absolutismus, Militarismus u n d Spießbürgertum. Ein Zug von Unfreiheit, von G e m a c h t e m und Geschraubtem, namentlich auch von künstlich H i n a u f g e s c h r a u b t e m , geht durch das Ganze u n d b e d r ü c k t jede Seele, die m e h r das Bedürfnis h a t , frei a u f z u a t m e n als F r o n t zu m a c h e n . . . . Ein gewisses Drängen h e r r s c h t in diesen der Louis XIV.-Zeit entsprungenen S t ä d t e n vor, in die erste Reihe zu kommen, gesehen, vielleicht gegrüßt zu w e r d e n ; v o r n e h m u n d gering n e h m e n gleichmäßig daran teil u n d bringen sich d a d u r c h , während der H o c h m u t wächst, u m m i t das Beste, was der Mensch h a t : das Gefühl seiner selbst. Es k a n n keinen wärmeren Lobsprecher des richtig aufgefaßten 'Ich dien' geben als m i c h ; es ist ein C h a r a k t e r v o r z u g , gehorchen zu können, u n d ein H q r z e n s v o r z u g , loyal zu sein, aber m a n m u ß zu dienen u n d zu gehorchen wissen in Freiheit. Man h a t von den Berlinern gesagt, sie h ä t t e n alle 'einen kleinen alten Fritz im Leibe' (beiläufig das Schmeichelhafteste, was je über sie gesagt worden ist); so k a n n m a n von vielen Klein-Residenzlfern sagen: sie tragen den
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Hofmarschall v. Kalb irgendwie oder irgendwo mit sich herum. . . . Alles freie, individuelle Schaffen und Gestalten hört auf; die fürstliche Laune, der sich der Hofbaumeister bequemt, läßt überall Straßen für pensionierte Kammerdiener, im günstigsten Falle Schnörkelvillen für alte (oder auch für junge) Hofdamen aus der Erde wachsen, und so entsteht dann jenes steife, parademäßige, mitunter hypersplendide, meist aber kärglich abgeknapste Bauwesen, das langweilt, halb trübselig, halb komisch stimmt und die recht eigentliche Kehrseite bildet von den Giebelhäusern, den 'Rolands', den Gürzenichs, den Werften und Schiffen der freien Städte.« Tröstlich die Aussicht, »daß sich Kassel mehr und mehr in die Bremen und Lübecks hinein und aus den Potsdams herauswachsen wird« 7 2 . F ü r die deutsche Hauptstadt galten andere, europäische Perspektiven. Fontane, der sich ohnedies Sorgen um die Stabilität des Kaiserroic hs machte, war ungewiß, wie Berlin in sie hineinwachsen würde, denn es war seiner Meinung nach für die neue Rolle historisch weder vorbestimmt noch vorbereitet und hielt in der ersten Zeit keinem internationalen Vergleich stand. Die Einwände, die er infolgedessen gegen seine S t a d t erhob, unterschieden sich manchmal wenig von den Argumenten des Schweizer Publizisten Victor Tissot, der ein geschworener Gegner des Bismarckreichs war. Tissot meinte 1875, das Zentrum des neuen Kaiserreichs trage weit weniger den Charakter einer Hauptstadt als Dresden, Frankfurt, S t u t t g a r t oder München; alles, was Berlin seinen Besuchern zeige, sei modern und nagelneu und trage den Stempel dieser Abenteurermonarchie. »Wenn man diese schnurgeraden Straßen durchlaufen h a t , wenn man zehn Stunden lang nichts als Säbel, Helm und Federbusch gesehen hat, dann begreift man, warum Berlin, trotz des Ansehens, das ihm die letzten Ereignisse verliehen haben, niemals eine Hauptstadt sein wird wie Wien, Paris oder London.« 7 3 Man. versteht die Genugtuung, mit der F o n t a n e nach dem ersten J a h r z e h n t einen Teil seiner Zweifel fallen ließ: »-Berlin h a t sich ganz außerordentlich verändert und ist j e t z t eine schöne und vornehme S t a d t . W i r verdanken das allem möglichen, aber doch weitaus am meisten dem Asphalt und den Pferdebahnen . . .
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Alles ist Leben, Frische, Wohlgekleidetheit. Ich freue mich, diese vernobelte Zeit, an die ich k a u m geglaubt, noch erlebt zu haben.« 7 4 Aus der Sicht des Passanten, der sich in den geschäftigen S t r a ß e n u n d g u t e n Gegenden aufhielt, ließ sich — ähnlich wie vordem in London — ein u n g e t r ü b t e s Bild von d e n F o r t s c h r i t t e n u n d Vorzügen der Urbanen Lebensbedingungen entwerfen. In dieser Hinsicht wurden seine E r w a r t u n g e n d u r c h die Wirklichkeit bei weitem übertroffen, der zweifelnden u n d kritischen E i n wände u n g e a c h t e t , die des öfteren wieder in ihm aufstiegen. Was dagegen die Mentalität anging, die in der S t a d t zu Hause war, erwarteten i h n . E n t t ä u s c h u n g e n , mit denen er sich zeitlebens nicht a b f i n d e n k o n n t e . In seinen Reisefeuilletons aus d e m besetzten Frankreich, wo er auf d i e » P o t s d a m m e der Weltgeschichte« zu sprechen k a m , erlaubte er sich bei passender Gelegenheit auch einen E x k u r s nach Berlin, der zu erkennen gibt, welchen Vorstellungen er 1871 nachhing. Die schöne Blüte der U r b a n i t ä t war es, die er sich von der Urbanisierung versprach, ein W a n d e l im Ton u n d in den F o r m e n des Umgangs, den er an einem Orte v o r f a n d , wo m a n n a c h landläufiger Überzeugung darauf nicht g e f a ß t sein konnte. Bei den Berliner Gardeoffizieren, versicherte er, zeichne sich d e r Ton der U n t e r h a l t u n g h e u t z u t a g e d u r c h eine »•gefällige Leichtigkeit« aus. Die Überreste der E m p f i n d u n g s u n d Anschauungsweise, f ü r die sie verrufen waren, seien längst in die kleinstädtischen Garnisonen abgewandert. Aus welchem G r u n d e ? »Das großstädtische Leben ist es, das jeden, auch den Eitelsten, unerbittlich fühlen l ä ß t : ich bin n u r ein S a n d k o r n . Selbstsucht, Dünkel, Vorurteil mögen im einzelnen i m m e r wieder dagegen a n k ä m p f e n , mögen innerlich ihre T r i u m p h e feiern — nach a u ß e n hin müssen sie schweigen. Aus der ständigen Konkurrenz gleichberechtigter K r ä f t e wird die Bescheidenheit geboren, bei dem einen w a h r u n d ganz, bei dem a n d e r n wenigstens äußerlich, den F o r m e n nach. Gleichviel — die feine Sitte, die Möglichkeit freien geistigen Verkehrs ist d a d u r c h gegeben.« 7 5 F o n t a n e bezog seine Zuversicht aus derselben Tendenz zur sozialen Nivellierung, die Wilhelm Riehl an den G r o ß s t ä d t e n beklagte, welche sich bei ihm wesentlich deutlicher als kapitalistische Ballungszentren darstellen: »Hier verschwinderi die natürlichen
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Unterschiede der Gesellschaftsgruppen; und die moderne Ansicht, welche neben reich und arm, gebildet und ungebildet keine 'Stände' mehr kennt, ist hier mehr als Einbildung, sie ist eine von dem großstädtischen Pflaster aufgelesene nackte Wahrheit.« 7 6 Allem Anschein nach neigte Fontane zu eben dieser modernen Ansicht und hieß die zeitgenössische Großstadt als denjenigen Ort gut, wo die feudalständischen Verhältnisse mit ihren angestammten Schranken und Borniertheiten ihre Bedeutung verloren. Dabei kam ihm entgegen, daß seine diesbezüglichen Beobachtungen, auch wo sie auf der Straße lagen, überwiegend dem Lebenskreis der besseren Gesellschaft entnommen und außer einer gewissen Veräußerlichung einer starken Idealisierung unterworfen waren. Die Ernüchterung, die unter solchen Umständen nicht ausbleiben konnte, war Teil der Desillusionierungsprozesse, von denen Fontane in den siebziger Jahren ergriffen wurde. Während sich Berlin modernisierte, blieben die Groß- und Hauptstädter hinter seinem Verständnis der neuen Zeit, in die Preußen mit Deutschland eingetreten war, auf ihre Weise ebenso zurück wie das Staatswesen und das Junkertum auf die ihrige. Die Vorwürfe, die er stets aufs neue an die Adresse der Berliner richtete, das Mißfallen an ihnen, das ihn nicht selten überkam, liefen gewöhnlich darauf hinaus, daß sie es auch in den größeren Verhältnissen der Reichshauptstadt nicht zu jener Urbanität brachten, die sich in ihrer kümmerlichen Stadtgeschichte nur vereinzelt hatte ausbilden können. Der Berliner als Typus und als Publikum In einem wahrscheinlich um die Wende der siebziger Jahre entstandenen Entwurf, der dem unverwechselbaren und in Fontanes Ohren wenig erquicklichen »Berliner Ton« gewidmet ist, brachte er diesen Zusammenhang auch zur Sprache. Dazu reduzierte er das neue Berlin auf wenige Elemente: »Eine Residenz mit einem Hof, einem Reichstag und einem Heuschreckenproletariat. Bürger hatte es nie und hat es noch nicht. Unter dem beständigen Zufluten neuen Rohstoffes, den Behörden überliefert, immer bevormundet, und vor allem in seiner ungeheuren Mehrzahl bis in die 62
'hohen Stände' hinauf Von einer nur an dieser Stelle vorkommenden Bettelarmut, haben sich die Tugenden der Politesse, der Teilnahme, der Menschenfreundlichkeit, des Wohltuns nicht ausbilden können.« 77 Sein Charakterbild des Berliners wird durch eine Eigenschaft beherrscht, die das direkte Gegenteil seiner Vorstellung von Urbanität ist, die das Äußerliche der bloßen Umgangsform inzwischen abgestreift hat. »Der Grundzug ist krasser Egoismus, ein naives, vollkommen aufrichtiges Durchdrungensein von der Überlegenheit und besonderen Berechtigung der eigenen Person und des Orts, an dem die Person das Glück hatte, geboren zu werden.« 78 Es fehlt nicht an Äußerungen, in denen der Mangel an Weltkenntnis, an Selbstkritik und Bereitschaft, sich nüchtern mit den Leuten in Vergleich zu setzen, die jenseits der Müggelberge wohnen, als das wahre Wesen dieses Menschenschlags erscheint. Derlei Reduzierungen auf den kritischen Punkt waren geeignet, das unerfreuliche Image zu bestätigen, das sich »Der Berliner« zu damaliger Zeit im In- und Ausland erwarb. Sie entziehen Fontane der lokalpatriotischen Inanspruchnahme, sind aber natürlich nicht als erschöpfend anzusehen. Sobald er weniger affektiv an den Berliner Typus heranging, entrollte sich dem Blick ein vielseitiges und widerspruchsvolles, historisch gewachsenes Ganzes. Dazu holte er weit aus, als er mit dem Aufsatz Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte, 1889 veröffentlicht, ein zweites Mal zur zusammenhängenden Erörterung des Gegenstands ansetzte. Der eitle Egoismus der Berliner erklärte sich ihm nun als ein Erbe, das sie mit den stammverwandten Bewohnern der Mark Brandenburg teilten. Der Typus bekam, indem er geschichtlich hergeleitet wurde, auch sozial differenzierte Züge. Hof und Adel, Volk und Kleinbürger sowie das gebildete Bürgertum, das zwischen ihnen seinen Platz einnahm, wurden jetzt auf den Beitrag befragt, den jedes von ihnen zu jenem »Berlinertum« geleistet hatte, das gegen 1830 auf dem ersten Höhepunkt war. Fontane widersprach der verbreiteten Ansicht, die es auf die Réfugiés zurückführte. Er schrieb den Löwenanteil am Zustandekommen der »weltbekainnte(n) Anschauungs- und Ausdrucksweise,
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die sich mit dem Begriffe des richtigen Berliners deckt« 7 9 , den Hohenzollern und ihren Soldaten zu. E s ging nicht ohne Gewaltsamkeiten und Verklärungen ab, wenn er die pointierte Denk- und Redeweise aus dem Tabakskollegium Friedrich Wilhelms I. und aus der Tafelrunde herleitete, die sein Sohn in Sanssouci hielt, oder wenn er die entlassenen friderizianischen Grenadiere für das zynische, vor nichts zurückschreckende Räsonieren des Berliner Volks verantwortlich machte. Noch direkter nahm er Lessings Nathan für den »berlinisch-jüdischen Geist« 8 0 in Anspruch. Aus diesen Ursprungsquellen habe sich unter Friedrich Wilhelm I I I . und durch dessen »väterliches Regiment« 8 1 schließlich das alle Schichten vom König bis zum Schusterjungen durchdringende und vereinende Berlinertum gebildet. Das Bemerkenswerte an dem Aufsatz von 1889 ist der Einstellungswandel, der sich darin abzeichnet. In ihm erscheint die Abwendung vom modernen Berlin zurückgenommen, die Fontane in den fünfziger Jahren vollzogen hatte. Gewiß nicht zufällig klingen jetzt auch in der Schilderung des Berlinertums die Erwartungen an, die er an die sozialen Nivellierungstendenzen der Großstadt knüpfte. Die Lokalliteratur und der ortsspezifische Witz, die ihre Schlüsselrolle bei der Konstituierung des Phänomens behalten, zeigen sich in freundlichem Licht, und die anspruchsvolle Literatur, in deren Namen er seinerzeit gegen das »•Kladderadatschtum« Front gemacht hatte, wird nicht mehr dazu in Gegensatz gebracht, sondern erweist sich an der Geschmacks- und Geistesbildung der Berliner beteiligt. Was den Berliner Witz betraf, an den sich Fontane hielt, blieb es ». . . in Berlin im wesentlichen, wenn auch verfeinert, bei dem Typus, den besonders die letzten 50 J a h r e , also die J a h r e seit dem Tode Friedrichs des Großen herangebildet hatten. An die Stelle des Witzes von Angely, Beckmann, Glaßbrenner . . . trat der Heinrich Heinesche Witz, der, gemeinschaftlich mit den Mephistoparlien aus Goethes F a u s t , alle Klassen, bis weit hinunter, zu durchdringen begann, bis abermals einige J a h r e später der politische Witz den literarischen ablöste. Die mit 48 ins Leben tretenden Witzblätter, dazu die das Berliner Leben schildernden Stücke (David Kaiisch voran) und schließlich das wohl 64
oder übel immer mehr in Mode kommende, sich aller Tagesereignisse bemächtigende Coupletwesen schufen das, was wir das moderne Berlinertum nennen, ein eigentümliches Etwas, darin sich Übermut und Selbstironie, Charakter und Schwankendheit, Spottsucht und Gutmütigkeit, vor allem aber Kritik und Sentimentalität die Hand reichen, jenes Etwas, das, wie zur Zeit Friedrich Wilhelms I I I . (nur witziggeschulter und geschmackvoller geworden), auch heute wieder alle Kreise durchdringt, bei hoch und niedrig gleichmäßig zu finden ist und bereits weit über den unmittelbaren Stadtkreis hinaus seine Wirkung äußert.« 82 Fontane überließ es dem Leser, sich zu fragen, welchen Anteil denn die Literatur seiner Tage am Fortgang dieses Prozesses besaß, den sie ihm zufolge früher so weitgehend mitbeistimmt hatte. Ebenso blieb offen, welche Hoffnungen dabei auf das hauptstädtische Publikum zu setzen waren, dessen geschmackliche Läuterung sich j a als eine äußerst einseitige darstellte. Auch dies hatte für Fontane eine vitale Bedeutung, denn seine, gelinde ausgedrückt, beträchtliche Skepsis gegen das Verhältnis der Berliner zur Kunst war alt und saß tief. Eigentlich traute er ihnen nur den Sinn für Unterhaltung zu. Im Entwurf über den »Berliner Ton« vermißte er noch dieselben Eigenschaften, die er ihnen, zwar mit anderen Worten, schon 1860 einmal abgesprochen hatte: das künstlerische »Urteil«, die »Kultivierung des Schönen« und die »Bildung des Herzens« 83 — also kurz gesagt alles, was,im höheren Sinne zum Umgang mit den Künsten befähigte. Man muß wohl ein Zeichen seines grundsätzlichen Umdenkens gegen 1880 darin sehen, daß er um die gleiche Zeit auch auf diametral entgegengesetzten Positionen anzutreffen war, dann nämlich, wenn es sich um den geeigneten Leserkreis für die Romane und Novellen handelte, mit denen er nunmehr auf den Markt trat. Dann hieß es von Paul Lindaus Monatsschrift Nord und Süd, die Grete Minde lad L' Adultera im Vorabdruck veröffentlichte, ihr Publikum sei »berlinisch, residenzlich, großstädtisch, eine Sorte Menschen, die mir wichtiger und sympathischer ist als die marlittgesäugte Strickstrumpfmadam in Sachsen und Thüringen« 84 . Und von der Vossischen Zeitung, (die sich wie andere große Blätter ein ständiges Roman-Feuilleton zulegen wollte g
Wruck, Leben, Bd. I
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und ihren Theaterkritiker, d e r F o n t a n e seit seinem W e g g a n g v o n d e r Kreuzzeitung 1870 war, gern als H a u s n o v e l l i s t e n unter V e r t r a g g e n o m m e n h ä t t e ) b e k a n n t e er, ihr Leserkreis sei f ü r seine Arbeiten »nach S t o f f , A n s c h a u u n g und B e h a n d l u n g wie geschaffen. I c h w e r d e v o n j e d e m m e i n e r L e s e r v e r s t a n d e n , auch v o n d e m b e s c h r ä n k t e n und nur halbgebildeten. Dies ist ein ungeheurer Vorteil, dessen ich z. B . , wenn ich f ü r den süddeutschen H a l l b e r g e r schreibe, g a n z und g a r verlustig g e h e . « 8 5 E r d ü r f t e von dieser E i n s i c h t nicht beirrt, sondern eher b e s t ä r k t worden sein, als er s p ä t e r den in Österreich-Ungarn spielenden R o m a n Graf Petöfy in Hallbergers Uber Land und Meer z u m Vora b d r u c k b r a c h t e (auf den die Autoren angewiesen waren, weil er besser honoriert wurde als die B u c h a u s g a b e , v o n d e r allein sich nicht leben ließ). E r h a t t e gelernt, bei seinen poetischen V o r h a b e n ebensowohl m i t ihrer Verwertbarkeit zu rechnen, die s t a r k v o n d e r P u b l i k u m s r e s o n a n z beeinflußt wurde, wie bei den publizistischen. D a b e i war es v o n Vorteil, d a ß er einem differenzierten Zeitschriften- und Verlagswesen g e g e n ü b e r s t a n d , d a s sich trotz der wachsenden A n z i e h u n g s k r a f t der H a u p t s t a d t überwiegend auf die regionalen Zentren verteilte. Die Leipziger Gartenlaube, die er m i t d e r Kriminalnovelle Unterm Birnbaum belieferte, obwohl m a n d o r t auf die R o m a n e d e r Marlitt abonniert war, h a t t e d a s höhere H o n o r a r und die A u f l a g e n s t ä r k e f ü r sich, die Deutsche Rundschau, in deren P a r n a ß ihn R o d e n b e r g erst s p ä t a u f n a h m , d a s höhere Ansehen. Gegen seine B e v o r z u g u n g des h a u p t s t ä d t i s c h e n P u b l i k u m s wollte d e r überregionale Wirkungskreis, den er sich zunutze m a c h t e , nichts b e s a g e n . Vielleicht waren Reminiszenzen a n die heimische L o k a l l i t e r a t u r im Spiele, wenn er die Berliner f ü r die besten L e s e r zurtiindest seiner Berliner R o m a n e hielt, solange er noch nicht eines anderen belehrt war. E r scheint zwischen sich und ihnen doch eine größere Gleichgestimmtheit in T o n , E m p f i n d u n g u n d A n s c h a u u n g v o r a u s g e s e t z t zu h a b e n , als m a n nach seiner Kritik des B e r l i n e r t u m s v e r m u t e n sollte. Seine V i r t u o s i t ä t in B u m m e l w i t z e n und sein G e s c h m a c k a m K a l a u e r k a m e n nicht von u n g e f ä h r . E i n e der s c h ä r f s t e n Philippiken beginnt m i t d e m G e s t ä n d n i s : » I c h selbst gehöre a u c h m i t d a z u . J e berlinischer
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man ist, je mehr schimpft man oder spöttelt man auf Berlin.« 86 Beiläufig behauptete er sogar, das Berlinische sei ein vollkommener Schriftstellertypus. 87 Aber zur Vergewisserung wäre es der Mühe wert, L'Adultera oder Irrungen, Wirrungen auf die Adressaten hin zu betrachten, auf die sie zugeschnitten wurden und deren Bild in sie eingezeichnet ist. Das Mindeste, was er von seinen Berliner Lesern erwarten durfte, war Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten; was er sich versprach, war ihre Fähigkeit, übers einfache Verständnis hinaus den»berlinischen 'fla vour' der Sache« 88 — die unverwechselbare Atmosphäre — herauszuschmecken. Diese Annahme, die sich auf seine langjährige Kenntnis der Leute stützte, für die er schrieb, war nicht unberechtigt, bewahrte ihn aber nicht vor den ärgerlichsten Enttäuschungen: Nicht genug, daß er mit Irrungen, Wirrungen, dem Glanzstück, das er speziell für die Vossische Zeitung bestimmt und eingerichtet hatte, bei einem Teil der Leser auf ästhetisches und sittliches Unverständnis stieß — die Redaktion gab ihm daraufhin das Beispiel einer Angepaßtheit an die Abonnenten, die sich nicht nennenswert von derjenigen der Familienblätter unterschied, deren Marktführer die Gartenlaube war. Mit der Novelle Stine, dem Gegenstück zu Irrungen, Wirrungen, verfiel er anschließend prompt der Ablehnung; er hatte Mühe, sie überhaupt unterzubringen. Es war, wie sich hier bestätigte, kein berlinisches Publikum schlechthin, an das sich Fontane gewandt, auf das er sich eingestellt und in dessen Vorurteilslosigkeit er sich getäuscht hatte. Die Vossische Zeitung war ein traditionsbewußtes Blatt von erklärtem Freisinn, der aber seinen Inhalt und seine Grenzen von der Groß-, Besitz- und Bildungsbürgerlichkeit empfing,, die es repräsentierte. Im Konfliktfall setzte es sie durch. Fontanes Geschichte mochte noch so behutsam das Dekorum wahren — ihre Desillusionierung der illegitimen Geschlechtsbeziehungen in der Stadt und die Sympathie, die sie einem Mädchen aus dem Volk zuwandte, erwiesen sich als derzeit nicht damit verträglich. Sonst enthielt Irrungen, Wirrungen nichts für diesen Leserkreis Anstößiges. Die fortschreitende Ausprägung des Großstadtcharakters bestimmte das Stadtbild und den Lebensraum der Figuren, aber schuf ihnen keine Probleme. Wer nichts von den ver5*
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heerenden Begleiterscheinungen der kapitalistischen Urbanisierung wußte, die sich in der dargestellten, zwischen der Gründerkrise und dem Sozialistengesetz gelegenen Wirklichkeit häuften, hätte aus Fontanes wohlmeinenden Schilderungen nichts davon erfahren. Das innerstädtische Straßenleben bot erfreuliche Eindrücke, ein biederer Hauswirt verhielt sich menschenfreundlich, eigentliche Mietskasernen verblieben in neutraler Ferne, und die armseligen Vorstadtszenerien trugen pittoreske oder halbexotische Züge, während die Arbeiter eines Industriebetriebs in ein ländliches Idyll versetzt wurden. Man müßte an Opportunitätsrücksichten denken, wenn nicht die anderen Berliner Romane, auch die Bourgeois-Satire Frau. Jenny Treibet, vergleichbare Eigenschaften aufwiesen. Bei einem Autor, der die Presse zu verfolgen gewohnt war und sich oftmals nicht mit der Lektüre der Vossischen oder der Kreuzzeitung begnügte, kann auch keine Desinformiertheit und kein Kenntnismangel solchen Ausmaßes angenommen werden. Außerdem verfügte er aus der allgemeinen Mietsteigerungswelle von 1872 über einschlägige Erfahrungen, deren ökonomischer »Mechanismus auf der Hand lag. Fontanes waren gezwungen, nach neun Jahren ihre Wohnung in der Königgrätzer Straße 25 aufzugeben, weil der spekulierende Besitzer das Haus an Geldleute verkauft hatte und die Mieter nun das Doppelte zahlen sollten. Im Unterschied zu seiner Frau, die sich um passablen Ersatz ängstigte, behielt Fontane recht mit seiner zuversichtlichen Beurteilung des Wohnungsmarkts. Dort herrschte, während die billigen Wohnungen den hochgeschnellten Bedarf in keiner Weise deckten, ein leichtes Überangebot in der gehobenen Preiskategorie, die für seine Familie in Betracht kam. Die Vierzimmerwohnung Potsdamer Straße 134c, die unschwer gefunden und auch nicht wieder gewechselt wurde, kostete mit 70 Talern fürs Quartal übrigens kaum mehr als die vorige. Daß der Vernobelung Berlins, seiner Umgestaltung in eine »•schöne und vornehme Stadt«, welche die städtebaulichen Fortschritte einschloß, das Gründerfieber und eine maßlose Bodenund Bauspekulation vorangegangeh waren, daß sie von Wohnungs- ' not und Massenelend' begleitet wurden, kann ihm nicht gut ver- : 68
borgen gewesen sein. Aber es scheint ihn — der Wahrheit die Ehre — kaum beschäftigt und wenig gestört zu haben. In dem hohen Interesse, das er der Entwicklung des modernen Berlin entgegenbrachte, traten die großen sozialökonomischen Bewegkräfte und Massenprozesse unverhältnismäßig weit hinter die Veränderung der Lebensbedingungen, der Lebensformen und der Mentalität zurück, von denen er meinte: »Die Differenz i zwischen jetzt und damals ist so groß, daß ich . . . jedesmal das Gefühl habe, 'vor fünfzig Jahren' auf einem anderen Planeten gelebt zu haben. Zwei ganz verschiedene Formen des Daseins! Wir sind alle für diese ganz enormen und auf allen Gebieten liegenden Fortschritte . . . lange nicht dankbar genug.« 8 9 Erfahrungen der Wirklichkeit und ihre Darstellung Fontane hatte die kulturgeschichtliche Umwälzung bewußt und kritisch mitvollzogen, und er hatte im Verlauf eine vollkommen veränderte Lebensstellung eingenommen. Diese Vorgänge, die nicht miteinander zusammenfielen, griffen in seine Lebensweise ein und regulierten die Art und Weise seiner Wirklichkeitserfahrung; in den strukturellen Eigentümlichkeiten seines erzählerischen Werks traten die Folgen zutage. Weit ausholend und zu Bekenntnissen aufgelegt, führte er Georg Friedländer, dem vertrauten Partner vieler Briefe und Gespräche, auf dessen Stichwort hin das Problematische der Berliner Künstlerexistenz vor Augen: »Bismarck, der so oft recht hat, hat auch recht in seiner Abneigung gegen die Millionenstädte. Sie schreiben selbst, 'bei weniger »Carrière« hätten wir mehr Wahrheit in der Welt'. Gewiß. Und nicht bloß mehr Wahrheit, auch mehr Einfachheit und Natürlichkeit, mehr Ehre, mehr Menschenliebe, ja auch mehr Wissen, Gründlichkeit, Tüchtigkeit überhaupt. Und was heißt Carrière machen anders als in Berlin leben, und was heißt in Berlin leben anders als Carrière machen. Einige wenige Personen brauchen ihrem Berufe nach die große Stadt, das ist zuzugeben, aber sie sind d o c h verloren, speziell für ihren Beruf verloren, wenn sie nicht die schwere Kunst verstehn, in der großen S t a d t zu leben und auch wiederum n i c h t zu leben. Ad. Menzel
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ist beispielsweise ein Meister in d i e s e r wie in seiner eigentlichen K u n s t . Gewiß war ihm Berlin eine N o t w e n d i g k e i t (Menzel 50 J a h r e lang in Filehne wäre nicht Menzel mehr), a b e r wie h a t er a u c h in Berlin g e l e b t ? V o n ' 9 bis 9 ein Einsiedler in seinem Atelier, u n d d a n n erst, wenn a n d r e zu B e t t e gehn, g e h t er m i t seinem O r d e n s b a n d zu Hof oder m i t seinem K l a p p h u t zu H u t h . E r w a r zeitlebens ein Meister in d e r K u n s t der K o n z e n t r a t i o n u n d h a t d e s h a l b eine Kunst-Carrière g e m a c h t , ohne j e ein Carrièrem a c h e r gewesen zu sein. A b e r d a s alles ist A u s n a h m e f a l l . Als Regel s t e h t es m i r fest, die große S t a d t m a c h t quick, flink, g e w a n d t , a b e r sie v e r f l a c h t u n d n i m m t j e d e m , d e r nicht in Zurückgezogenheit in ihr lebt, j e d e höhere P r o d u k t i o n s f ä h i g k e i t . « 9 0 Von A d o l p h Menzel sprechend, den er in H u t h s Weinlokal P o t s d a m e r S t r a ß e 139 zu treffen pflegte, s p r a c h F o n t a n e natürlich zugleich v o n sich. »Wie lebe ich denn in d e r R e i c h s h a u p t s t a d t ? « erinnerte er seine F r a u . » A r b e i t bis u m drei, M i t t a g b r o t , S c h l a f , K a f f e e , B u c h oder Zeitung, A b e n d s p a z i e r g a n g und Thee. Von 365 T a g e n v e r l a u f e n 300 nach dieser Vorschrift. D u d e n k s t 'ich wünsche es so'. D a s ist a b e r nicht der F a l l ; ich d ü r s t e nach U m g a n g , Verkehr, Menschen, a b e r freilich alles m u ß d a n a c h sein u n d speziell d i e F o r m e n h a b e n , die m i r gefallen, sonst d a n k e ich f ü r O b s t u n d ziehe die E i n s a m k e i t v o r . « 9 1 E i n s a m k e i t war hier Redeweise, keine Wirklichkeit. W a s a n geselligem Verkehr, d e r zeitweise äußerst lebhaft war, m i t den J a h r e n verlorenging, wurde d e m i m m e n s e n Briefwechsel zugelegt. A b e r d a ß sich F o n t a n e , d e r d a s Muster eines Urbanen Menschen war, persönlich s t a r k zurückzog, traf zu. Aller Konzilianz u n g e a c h t e t , o r d n e t e er im A l t e r seinen U m g a n g zunehmend den beruflichen Interessen des freien Schriftstellers, seinen eigenen E r w a r t u n g e n u n d nicht zuletzt seinem S e l b s t w e r t b e w u ß t s e i n unter. E r behielt d a b e i genügend S p i e l r a u m , u m die letzte, aufsehenerregende W e n d u n g seiner a n U m s c h w ü n g e n reichen literarischen K a r r i e r e v o r z u n e h m e n und in enge F ü h l u n g mit einigen K ö p f e n d e r naturalistischen Generation zu treten, die sich u m ihn b e m ü h t e n u n d seine Unters t ü t z u n g f a n d e n ; sein Kritikerkollege Otto B r a h m , d e r z u m Leiter der Freien Bühne wurde, und G e r h a r t H a u p t m a n n , f ü r dessen Genie er sich m i t g a n z e r Person einsetzte, waren die wichtigsten
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u n t e r den jüngeren Literaten, die j e t z t in die P o t s d a m e r S t r a ß e k a m e n u n d die drei Treppen zu ihm hinaufstiegen. An seiner Lebensweise, zu der die ausgedehnten, arbeitsintensiven Sommerreisen gehörten, die ihn an die See, in die Mittelgebirge oder ins Bad f ü h r t e n , ä n d e r t e sich d a d u r c h nichts Grundsätzliches. Man k a n n diese Lebensweise bis in das Kreuzzeitungsjahrzehnt zurückverfolgen, das er als sein glücklichstes in Erinnerung h a t t e . Damals war er ans Ziel gelangt u n d d u r f t e der Mutter versichern, d a ß seine Status-Probleme gelöst, L i t e r a t u r u n d Leben in Ubereinstimmung gebracht w a r e n : »Viele J a h r e lang entschieden ein '.verlorner Posten', h a b e ich j e t z t eine Art bürgerliche u n d gesellschaftliche Stellung, mein a n s t ä n diges Auskommen, einen Beruf der mich erfreut u n d mich befriedigt, gute Kinder u n d eine in h u n d e r t Stücken respektable u n d sehr zu lobende F r a u . « 9 2 (Gegen die er anschließend, sonst wäre er nicht F o n t a n e , zu e r n ü c h t e r n d e n E i n w ä n d e n überging.) E r war seitdem vollständig in die gute Gesellschaft u n d , m e h r als das, in die privilegierte Nation integriert und teilte ihr Dasein. Zwischen der Inszenierung, die dieses Dasein in seinen E r z ä h lungen erfuhr, u n d den F o r m e n , in denen er es erlebte, sind die E n t s p r e c h u n g e n augenfällig. Man wird zur E r k l ä r u n g seines schriftstellerischen Vorgehens deshalb besser zuerst die Wirklichkeit und an zweiter Stelle die L i t e r a t u r , das heißt, das Beispiel u n d die Konventionen des sogenannten »Romans d e r guten Gesellschaft« heranziehen, wie er in England florierte. 9 3 F o n t a n e w a n d t e offensichtlich nicht zu seinem Nachteil die Maxime, wonach der moderne R o m a n ein »Widerspiel d e s Lebens . . ., das wir führen« 9 4 sein sollte, auch auf die konventionalisierten äußeren F o r m e n an, in denen es sich abzuspielen pflegte. Der Brief, die Visite, die Einladung zum Diner im engeren oder weiteren Kreise s a m t den Vorüberlegungen und Nachgesprächen, die L a n d p a r t i e n u n d S o m m e r a u f e n t h a l t e , Wagen- u n d E i s e n b a h n f a h r t e n , die das nachgerade stereotype I n v e n t a r seiner Erzählungen ausmachen, finden sich in seiner Biographie als stehendes I n v e n t a r wieder. Es waren die Gelegenheiten, m i t denen er aufs engste v e r t r a u t war, so d a ß er schriftstellerisch souverän ü b e r sie v e r f ü g e n konnte. 71
Diese B e m e r k u n g verliert ihre Trivialität, wenn m a n bedenkt, auf welche Weise sich f ü r F o n t a n e d a s Feld, a u f ' d e m er authentische Sozialerfahrungen erwerben konnte, zugleich erweitert und beschränkt hatte, seit er in die Kreuzzeitungsredaktion eingetreten war und seine berufliche E x i s t e n z sich normalisiert h a t t e . Die bedeutungsvollsten Folgen ergaben sich a u s den ausgedehnten Beziehungen zur feudalen, bürokratischen, militärischen und intellektuellen Oberschicht, die er j e t z t anbahnte. Bis dahin verkehrte er, was diese Schicht betraf, im wesentlichen mit einzelnen, die gleichfalls künstlerische Interessen verfolgten oder seine Vorgesetzten waren, m a n c h m a l beides. Der Zugang zu den Kreisen, aus denen sie herkamen, öffnete sich erst f ü r den Mitarbeiter des hochkonservativen Parteiblattes und namentlich f ü r den Feuilletonschreiber, der in den Palais, den Herrensitzen und Pfarrhäusern d a s Material seiner Wanderungen durch die recherchierte. D a m i t war jedoch auch der Mark Brandenburg überwiegend sachliche und förmliche Charakter dieser Beziehungen vorgegeben; j e mehr F o n t a n e sich dem freien Schriftsteller näherte, desto mehr t r a t d a s in den Vordergrund. E s g a b wenige Ausnahmen, wie die Familie von Wangenheim und die alte Mathilde von Rohr, mit denen ihn eine gleich v e r t r a u t e und respektvolle F r e u n d s c h a f t verband. A b e r nachdem er sich zurechtgefunden und den Reiz des anderen Milieus verarbeitet h a t t e , d ü r f t e im allgemeinen gelten, was er in einem der ungenierten Berichte niederlegte, die er d e m Fräulein von R o h r v o n Zeit zu Zeit zukommen ließ. E r h a t t e einige T a g e bei Hofprediger Windel in P o t s d a m zugebracht. »An einem Abend . . . waren wir bei Graf Egloffsteins, wo f u r c h t b a r viel Gräflichkeit und Christlichkeit v e r s a m m e l t war. E s ging noch g a n z leidlich a b , u n d eine alte Gräfin Dohna, ferner eine F r a u v. Burgsdorff gefielen mir g a n z g u t , trotz alled e m m a c h e ich dergleichen höchst ungern mit. E s ist eine Zeitvergeudung. Wie's in solchem Zirkel ü b e r h a u p t aussieht, d a s weiß ich, und im b e s o n d e r e n lernt m a n herzlich wenig dazu. F ü h r e n mich b e s t i m m t e literarische Zwecke in .solche Häuser, so nehme ich d a s U n b e q u e m e nicht bloß geduldig mit in den K a u f , so fühl ich es auch g a r nicht; die stündliche Wahrnehmung, 72
daß ich d a s erreiche, was ich erreichen will, erhält mich bei guter Laune. Ich kriege, wie die Berliner sagen, 'meinen Preis heraus'. Fehlen diese Zwecke aber, so krieg ich i h n n i c h t heraus und ärgere mich, meine Zeit so vertan zu haben.« 95 Einige Eigenarten der Verfahrensweise, die der Erzähler Fontane anwandte, lassen sich als zweckdienliche Schritte eines Autors interpretieren, der unter solchen Umständen an die Darstellung des wirklichen Lebens ging. Dabei ist an die konstitutive Bedeutung des fremden Berichts und der eigenen Beobachtung f ü r seine Erzählungen,zu denken sowie an das Detail und den Dialog, die seine bevorzugten Mittel zur Herstellung der imaginären Gebilde waren, in denen die preußische Provinz und inmitten davon das Berlin der Bismarckzeit weiterzuleben scheinen. Der Bericht — der alles sein konnte, eine vertrauliche Mitteilung, ein Memoirenwerk öder ein Artikel der Vossischen Zeitung — machte ihm Hintergründe zugänglich, die unter den Formen gesellschaftlichen Umgangs verborgen lagen, und lieferte ihm die unerhörten Begebenheiten, von denen sie unversehens durchbrochen wurden. »Liebesgeschichten, in ihrer schauderösen Ähnlichkeit, haben was Langweiliges —, aber der Gesellschaftszustand, das Sittenbildliche, das versteckt und gefährlich Politische, das diese Dinge haben, . . . d a s ist es, was mich so sehr daran interessiert.« 96 Deshalb benutzte er sie für seine Fabeln. E r verfuhr auf diese Weise gleich in seinen ersten Erzählungen aus der Berliner Gesellschaft; es machte insofern keinen großen Unterschied, daß die Liebesaffäre des Schach von Wuthenow zu napoleonischer Zeit in die höchsten Regionen des preußischen Ancien régime hineinspielte, während sie sich in U Adultéra in der großen Bourgeoisie der siebziger Jahre zutrug. Die Milieu- und Menschenkunde, um solchen Tatsächlichkeiten Gestalt zu geben, war durchaus empirischer Natur. Sie war, wie die ungünstigen Resultate zeigten, wenn er mit einem Werk den heimischen Boden verließ, nicht zu ersetzen, während auf die unerhörte Begebenheit gegebenenfalls verzichtet werden konnte. Er verdankte sie seiner Fähigkeit, Beobachtungen zu machen, zu vergleichen und seiner Neigung, vom Einzelnen
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aufs Ganze und vom Ganzen wieder aufs Einzelne zu schließen. Anders als durch Beobachtung, Gespräch und Bericht h a t t e er nicht viel Gelegenheit, sich soziale Sphären verfügbar zu machen, in denen er sich bewegte, ohne persönlich näher in sie verwickelt zu sein. Vielleicht ist diese Erfahrungsweise, bei der ganze Bereiche seinem direkten Einblick entzogen waren, in einer Darstellungsweise wiederzuerkennen, die das visuelle Erscheinungsbild und das Sprachgebaren in ungewöhnlichem Maße favorisierte. In der erwähnten Verfügbarkeit sah er das A und 0 seines Metiers. »-Wer einen auf den Hochstelzen des Bürokratismus umherstolzierenden Geheimrat, einen Minister, einen Gymnasialdirektor alten Stils, einen Landbaron, einen Kürassier-Rittmeister in all ihren Eigentümlichkeiten, in ihren guten und schlechten Seiten in aller Wahrheit und Lebendigkeit darzustellen versteht, der kann dies nur, nachdem er sie sich zuvor zu e i g e n gemacht, d . h . , sie geistig sich unterworfen hat, und wer diese Herrschaft geübt und mit den Lebensformen gespielt hat, der verlernt es, diesen Lebensformen einen hohen Wert beizulegen.« 9 7 Fontane folgte bei der Strukturierung seiner epischen Welt in vieler Hinsicht dem Modus seiner Wirklichkeitserfahrung. In der Sphäre der von ihm so genannten Lebensformen, unter denen er die Sozialrollen verstand, in denen sich die gesellschaftlichen Beziehungen verkörperten und ihre Träger sich zurechtzufinden hatten, ergaben sich daraus wohl die schwerwiegendsten Auswirkungen. Im Guten und Bösen, das heißt Satirischen, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die »etablierte(n) Mächte-«, bei denen er sich eingereiht h a t t e : »Geld, Adel, Offizier, Assessor, Professor. Selbst Lyrik (allerdings als eine Art Vaduz und Liechtenstein) kann als Macht auftreten.« 9 8 In der vielbesprochenen Randstellung des »vierten Standes« reproduzierte sich die tatsächliche Trennung der einen Nation von der anderen. Ihre Angehörigen gerieten ins Blickfeld, sobald und soweit sie zu den Vordergrundsfiguren in eines der gewöhnlichen Verhältnisse t r a t e n : ins Arbeits-, Abhängigkeits- oder Liebesverhältnis, das hier sehr wohl an dem Platz rangiert, der ihm zukommt. Dann gewannen sie auch Gesicht, Namen, Individualität. Daß Ausbeutung und Unterdrückung sich erst ganz spät und sporadisch 74
eindrängten, ergänzte die soziale Perspektivik nach der ideologischen Seite und ließ es zu, daß der Eindruck einer im ganzen gesitteten und geordneten Welt erwächst, aus der nicht einmal die bezahlte Liebe herausfällt. Das selbstbewußte Treiben der Witwe Pittelkow steht dem freundlichen Gedankengang des jungen Grafen Haldern nicht im Wege, von dem es heißt: »Er war in der Vorstellung herangewachsen, daß die große Stadt ein Babel sei, darin die Volksvergnügungen, wenn nicht mit Sittenlosigkeit und Roheit, so doch mit Lärm und Gejohle ziemlich gleichbedeutend seien, und mußte nun aus Stines Munde hören, daß dies Babel eine Vorliege für Lagern im Grünen, für Zeck und Anschlag habe.« 99 Fontanopolis war nicht Berlin. Es war Fontanes Berlin, freigehalten von den offenen Klassenkonflikten, ein bißchen nüchtern und nichts weniger als »die Großstadt als phantastisches Eigenwesen auf apokalyptischem Hintergrund« 100 , das man aus Paris und Petersburg kannte; es begann bei Berliner Naturalisten soeben in Erscheinung zu treten. Doch nicht bloß damit verglichen hinterläßt sein Berlin den Eindruck eines gelinden Anachronismus. Schon unter Zeitgenossen fühlte man sich durch den Helden von Irrungen, Wirrungen weniger an einen gegenwärtigen Gardekavallerie-Offizier von altem Adel erinnert als an die Militärs aus Fontanes Tunneljahren. Man wird andere Figuren finden, vor allem aus den Unterschichten, auf die Ahnliches zutrifft; Fontane hat ungewollt auf die Gründe aufmerksam gemacht, als er über seine Eignung zum »Schilderer der Demimondeschaft« bemerkte, »erstlich hat man doch auch in grauer Vergangenheit in dieser Welt rumgeschnüffelt, und zweitens und hauptsächlichst, alles, was wir wissen, wissen wir überhaupt mehr historisch als aus persönlichem Erlebnis« 101 . Auch in den intimsten Fragen sei der Bericht beinah alles. Was hieß das anders, als daß er mit Vorstellungen wirtschaften mußte, deren empirischer Grundbestand — von dem etwas heiklen Milieu ganz abgesehen — nicht der Gegenwart entstammte. Man kann nur staunen, wie Fontane dieses partielle Zurückbleiben hinter der Zeit und den jüngeren Zunftgenossen in jene gegenständliche und atmosphärische Sättigung vor allem seines Berlin mit Geschichte überführte, 75
die ihresgleichen s u c h t u n d einen Großteil seiner Ü b e r l e g e n h e i t a u s m a c h t . B e i i h m b e g e g n e n sich a u f e i n e m G e s p r ä c h s - u n d U m gangsniveau, d a s vollkommen gegenwärtig und, wenn angebracht, a u f d e r H ö h e d e r Zeit ist, D e n k i n h a l t e , R e d e - u n d V e r h a l t e n s weisen d e r v e r s c h i e d e n e n » - L e b e n s f o r m e n « u n d G e n e r a t i o n e n , g e b r o c h e n in d e n M e n s c h e n , die sie sich zu eigen g e m a c h t h a b e n . O f t g e n ü g e n w e n i g e W o r t e ; d a s ist a n d e m winzigen B e g r ü ß u n g s v o r g a n g in Irrungen, Wirrungen eindrucksvoll demonstriert w o r d e n , wo d e r a l t e B a r o n O s t e n v o r Hillers R e s t a u r a n t »-bereits a n d e r G l a s t ü r s t a n d u n d a u s s c h a u t e , d e n n es w a r eine M i n u t e n a c h eins. E r unterließ a b e r j e d e B e n f c r k u n g u n d w a r a u g e n s c h e i n lich e r f r e u t , als B o t h o v o r s t e l l t e : ' L e u t n a n t v o n W e d e l l ' . « 1 0 2 Die altpreußische Pünktlichkeit des Onkels kontrastiert mit der winzigen N a c h l ä s s i g k e i t d e s N e f f e n , d i e v e r m e r k t , a b e r ü b e r g a n g e n wird, die B e g e g n u n g z w i s c h e n zwei A n g e h ö r i g e n a l t e r F a m i l i e n , v e r s c h i e d e n e r G e n e r a t i o n e n , die, wie m a n s c h o n weiß, d e r eine al^tiv, d e r a n d e r e a u ß e r D i e n s t e n , z u m s e l b e n R e g i m e n t g e h ö r e n , erfüllen d e n A u g e n b l i c k m i t d e m F l u ß d e r Zeit. E i n Z w e i t e s k a m h i n z u . F o n t a n e b r a c h t e es i m s e l b e n B r i e f z u r S p r a c h e , m i t d e m er M a t h i l d e v o n R o h r v o n d e r e n t t ä u s c h e n d e n S o i r e e bei G r a f E g l o f f s t e i n s b e r i c h t e t h a t t e . E r b e z e i c h n e t e e s a b s c h w ä c h e n d a l s einen kleinen » N e b e n ä r g e r , d e r , j e ä l t e r ich w e r d e , i m m e r s t ä r k e r w i r d . I n d e r R e g e l v e r l a u f e n d i e D i n g e so, d a ß m a n m i c h z w a r m i t e x q u i s i t e r A r t i g k e i t b e h a n d e l t , d e m G a n z e n a b e r d o c h ein T o n u n d W e s e n g e g e b e n w i r d , a u s d e m m a n die einem zuteil werdende bedeutende gesellschaftliche Auszeichn u n g e r k e n n e n soll. D i e s i s t m i r n u n im h ö c h s t e n G r a d e l a n g w e i l i g u n d ridikül, ich e m p f i n d e n i c h t s v o n einer A u s z e i c h n u n g , bin v i e l m e h r so k o l o s s a l a r r o g a n t , m i r u m g e k e h r t e i n z u b i l d e n , die L e u t e m ü ß t e n f r o h sein, m i c h k e n n e n g e l e r n t zu h a b e n . D e n n erstlich h a b e ich d o c h a u c h so w a s wie einen N a m e n o d e r N ä m c h e n , w a s a b e r viel w i c h t i g e r ist, ich h a b e viel e r l e b t u n d g e s e h e n u n d k a n n d a r ü b e r , w e n n m i r n u r einer z u h ö r e n will, w a s freilich selten d e r F a l l ist, in e i n g e h e n d e r , b i l d e r r e i c h e r u n d e s p r i t v o l l e r Weise sprechen. E s ist nichts Auswendiggelerntes, nichts S c h a b l o n e n h a f t e s in m i r , ich b i n g a n z s e l b s t ä n d i g in L e b e n , A n -
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s c h a u u n g u n d D a r s t e l l u n g s a r t u n d h a l t e mich d e s h a l b f ü r interessant und apart.«103 In g a n z e r S c h ä r f e t r a t hier die R e i b u n g s f l ä c h e z u t a g e , die sich zwischen F o n t a n e und der g u t e n — keineswegs n u r feudalen — G e s e l l s c h a f t herausbildete, m a n k a n n sagen, weil er in sie integriert war. S i e l a g a u c h den K o n f l i k t e n zugrunde, die ihn veranlaßten, 1870 seinen R e d a k t e u r s p o s t e n bei d e r Kreuzzeitung und 1876 d a s A m t eines S e k r e t ä r s d e r Königlichen A k a d e m i e d e r K ü n s t e m i t E k l a t hinzuwerfen, n a c h d e m er es k a u m a n g e t r e t e n h a t t e . Gleichermaßen sensibel und selbstgewiß, wurde er v o n d e r E r f a h r u n g verfolgt, d a ß eine u n g e s c h m ä l e r t e A n e r k e n n u n g j e n e r E b e n b ü r t i g k e i t , j a Überlegenheit, zu der einst d e r P o e t L a f o n t a i n e den a k k l a m i e r e n d e n Tunnel hingerissen h a t t e , d e m Menschen und Schriftsteller F o n t a n e , der sich d e m Zenit seiner L a u f b a h n näherte, vorenthalten blieb. T r o t z des s a n g u i nischen T e m p e r a m e n t s , d a s er sich zuschrieb, lernte er n u r schwer, d a r ü b e r resignierend die Achseln zu zucken, und h a t sich n i e m a l s bereit g e f u n d e n , es hinzunehmen. Dies w a r der Bereich, wo die E r f a h r u n g e n m i t seiner U m g e b u n g auch s u b j e k t i v a u t h e n t i s c h wurden, persönliche B e t r o f f e n h e i t und u n m i t t e l b a r e Mitleidenschaf t nach sich zogen. D e s h a l b v o n Ausgliederung oder, wie f ü r d i e Zeit v o r 1860, von Desintegration zu sprechen, wäre übertrieben. E s h a n d e l t e sich u m eine D i s k r e p a n z , die er zu objektivieren suchte, indem er sie auf die »gesellschaftliche S t e l l u n g des S c h r i f t stellers in D e u t s c h l a n d « ü b e r h a u p t z u r ü c k f ü h r t e , die er eine miserable n a n n t e : » E s gibt keine andere E r k l ä r u n g , als m a n h a t keine rechte A c h t u n g v o r d e m , w a s ein Dichter v e r t r i t t . K u n s t ist Spielerei, ist S e i l t a n z e n . « 1 0 4 Die soziale Z u r ü c k s e t z u n g betraf ihn, wie sich hier b e s t ä t i g t , existenziell. D e s h a l b saß sie ihm wie ein S t a c h e l im Fleisch und trieb ihn an, die eigenen Wertvorstellungen, in die er sich hineingelebt h a t t e , i m m e r radikaler u n d unverhohlener denjenigen entgegenzustellen, die im preußischen D e u t s c h l a n d den T o n a n g a b e n u n d befolgt wurden. In seiner S e n t e n z » D i e N a t u r a d e l t « ist viel d a v o n z u s a m m e n g e f a ß t . U n d sein B e r l i n ? . E r h a t es d e m wirklichen t o p o g r a p h i s c h so g e t r e u nachgebildet, d a ß d e r L e s e r dieselben Wege abschreiten konnte wie die F i g u r e n , u n d w a r doch entsetzt, wenn j e m a n d 77
diese Übereinstimmung mit dem Stadtbild, ohne die er sich beim Schreiben seiner Sache nicht sicher fühlte, bei der Lektüre in den Vordergrund stellte. Auf die Zuverlässigkeit im einzelnen angesprochen, winkte er sowieso a b : »Man m u ß schon zufrieden sein, wenn wenigstens der Totaleindruck der i s t : ' J a , das ist Leben'.« 1 0 5 Dieser Glaubwürdigkeit k a m es zugute, d a ß sich das Berliner Leben m i t s a m t seinen gewohnheitsmäßig arrangierten festlichen Gelegenheiten und vereinzelten K a t a s t r o p h e n bei ihm in den v e r t r a u t e n F o r m e n des Alltags abwickelte. W e n n der Generalstäbler mit dem Bankier bei Tische saß, wenn der Kommerzienrat mit dem Gymnasialprofessor, der Gardeoffizier m i t d e r Näherin, einem Standesgenossen oder der ausgehaltenen Mätresse umging, d a n n verfügten sie mühelos über eingespielte Konventionen des Verhaltens u n d des sprachlichen Ausdrucks, die geeignet waren, selbst in Konfliktsituationen die Vorstellung von normalen u n d geregelten Beziehungen, gewachsenen und dauerh a f t e n Verhältnissen zu bekräftigen. Soweit der Vordergrund. E r fehlt auch nicht bei den kleinen Leuten der Mathilde Möhring, die keine sein wollen, oder bei den Poggenpuhls des letzten Berliner Bomans, einem b l u t a r m e n Militäradel, f ü r dessen E r h a l t schließlich die bürgerlichen Ehef r a u e n das meiste t u n . Indessen w a r das große T h e m a des Autors j e n e r Zeitenwandcl, der auch ihn vom alten P r e u ß e n zum modernen Berlin g e f ü h r t h a t t e . U n t e r m Anschein des Zuständlichen t r a t e n in seinen Erzählungen die Ablösungsvorgänge zutage, die an die Stelle der agrarischen die großstädtischen Verhältnisse setzten, an die Stelle der feudalen die kapitalistischen, der hergebrachten die modernen. Ohne ihr halb schon hinfälliges Standesbewußtsein wären die Poggenpuhls, wo dieser Prozeß a m weitesten gediehen war, in der Großgörschenstraße gar nicht m e h r aufgefallen, in die sie als Trockenwohner Einzug gehalten h a t t e n . Berlin, auf das j e t z t im Gespräch der Figuren schon einmal die Bezeichnung W e l t s t a d t zur A n w e n d u n g k a m , war namentlich neben der Mark B r a n d e n b u r g oder der entlegeneren Provinz, die regelmäßig ins Bild hineingenommen wurden, als der B r e n n p u n k t der sozialen u n d kulturellen Veränderungen zu erkennen, welche die preußische Gesellschaft des späteren neun78
zehnten Jahrhunderts ergriffen hatten. Fontane hielt sich dabei an die sozialen Lebensformen, auf deren Aufstieg und Verfall er aus den Indizien schloß, um ihn durch Anzeichen zu deuten. Ihn beunruhigte die Urfrage nach dem Lebenssinn und dem Lebensglück in einem starren und hierarchischen Gesellschaftsgefüge, das auf jenen in Bewegung geratenen Formen basierte. Die Vision vom Untergang der großen Stadt bedrängte ihn nicht. In dem Wetterleuchten an ihrem Horizont allerdings sah und zeigte er — wie ein Gewitter, das herauf- oder vorüberziehen wird die Zeitenwende, auf die der Zeitenwandel hinauslaufen mochte. Anmerkungen 1
Ernst Heilborn, Fontanopolis. In: Velhagen & Klasings Monatshefte, Jg. 23, (1908/09), H. 2, S. 580. 2 Theodor Fontane, Lindau. Der Zug nach dem Westen. In: Fontane, Sämtliche Werke. Hg. von Edgar Groß, Kurt Schmied, Rainer Bachmann, Charlotte Jolles, J u t t a Neuendorff-Fürstenau. München, Nymphenburger Verlagshandlung 1969—1975 (im folgenden: NFA). Bd. 21,2: Literarische Essays und Studien. Zweiter Teil. S. 653. 3 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. 3., durchgesehene Auflage Tübingen 1965, S. 236. Vgl. Karl Riha, Die Beschreibung der »Großen Stadt«. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750—ca. 1850). Bad Homburg v. d. H./ Berlin/Zürich 1970, S. 20 ff. (Frankfurter Beiträge zur Germanistik Bd. 11). 4 An Georg Friedlacnder, 2. Mai 1890. In: Fontane, Briefe an Georg Friedlaender. Hg. u. erläutert von Kurt Schreinert. Heidelberg 1954, S. 127. 5 Vgl. auch die Rezension von: Julius Rodenberg, Unter den Linden. Bilder aus dem Berliner Leben. In: Fontane, Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Hg. von Hans-Heinrich Reuter. Berlin 1969, S. 116-119. 6 An Moritz Lazarus, 9. August 1888. In: Fontanes Briefe in zwei Bänden. Hg. von Gotthard Erler. Berlin 1968 (im folgenden: Ausgewählte Briefe). Bd. 2, S. 209. 7 Fontane, Lindau. Der Zug nach dem Westen. In: NFA, Bd. 21,2, S. 654.
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Hans-Heinrich Reuter, Fontane. Berlin 1963, Bd. 1, S. 117. Adress-Kalender für die Königl. Haupt- und Residenz-Städte Berlin und Potsdam auf das J a h r 1833. Berlin, bei August Rücker, S. 250. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. In: Fontane, Autobiographische Schriften. Hg. von Gotthard Erler, Peter Goldammer u. Joachim Krueger. Berlin u. Weimar 1982 (im folgenden: Autobiographische Schriften). Bd. 2, S. 112. Ebenda, S. 115. Dazu Hans-Werner Klünner, Theodor Fontanes Wohnstätten in Berlin. In: Fontane-Blätter (Potsdam), Bd. 4, H. 2 (1977), S. 109: » E r irrt zwar, wenn er vom 'Schleusenwerk des Mühlendammes* schreibt, denn damals standen noch die alten im Jahre 1838 abgebrannten Mühlengebäude und die Schleuse gab es erst seit 1893, aber der romantische Zauber der Spreeseite des alten Schlosses berührte auch uns, selbst als es schon Ruine war.« Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. In: Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 116. 1840 haben die Trockenwohner das Doppelhaus bis auf zwei wieder verlassen; die Mieterschaft setzt sich jetzt ganz überwiegend aus Handwerkern zusammen. Vgl. J . W. Boiker's Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Berlin, Charlottenburg und Umgebungen auf das J a h r 1841. Redigirt von dem Königl. Polizei-Rath Winckler. 20. J g . Berlin 1841. T. IV, S. 60. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. In: Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 120. Vgl. J . F. Geist u. K. Kürvers, Das Berliner Mietshaus. Bd. 1. 1740—1862. Eine Dokumentargeschichte der »Wülcknitzschen Familienhäuser« vor dem Hamburger Tor, der Proletarisierung des Nordens und der Stadt im Übergang von der Residenz zur Metropole. München 1980. Benjamin Disraeli, Sybil, or the two nations. London 1845. — Georg Brandes beschließt seine Bemerkungen über den Roman mit dem S a t z : » E s gibt Stellen in diesem Buch, die an Lassalle erinnern.-« Brandes, Lord Beaconsfield (Benjamin Disraeli). Ein Charakterbild. Berlin 1879, S. 222. Die Formel findet sich in gleicher Bedeutung schon früher. Ich »theilte ein die Menschen/ In zwey Nationen, die sich wild bekriegen ;/Nemlich in Satte und in Hungerleider«, heißt es in Heines kleiner Tragödie von 1823 »William Ratcliff«. In: Heinrich Heine, Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hg. von den Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar
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und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin/Paris. Bd. 4: Tragödien und Prosa. Berlin 1981, S. 85, 16 Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage. In: Lenin, Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. Bd. 20, Berlin 1973, S. 17. 17 Fontane, John Prince. In: NFA, Bd. 21,2, S. 278. 18 Klünner, Theodor Fontanes Wohnstätten in Berlin. In: FontaneBlätter Bd. 4, II. 2 (1977). Rechnet man die Sommerwohnung »bei Liesens« vor dem Oranienburger Tor hinzu, wo Fontane mit seinem Onkel August 1835 zeitweilig Aufenthalt nahm, dann kommen 18 verschiedene Wohnungen zusammen. An der später nach Karl August Liesen, dem Besitzer des beliebten Gartenrestaurants, benannten Liesenstraße liegt der Friedhof der Französischen Gemeinde, wo Fontane und seine Frau beigesetzt wurden. 19 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. In: Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 121. 20 Fontane, Cafes von heut und Konditoreien von ehmals. In: Autobiographische Schriften. Bd. 3/1, S. 409. 21 Friedrich Saß, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung 1846. Hg. von Detlef Heikamp. Berlin 1983, S. 56 (Aesop Edition). 22 Ebenda, S. 58-59. 23 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. In: Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 13. 24 Karlheinz Gärtner, Theodor Fontane: Literatur als Alternative. Bonn 1978. 25 Ebenda, S. 67. 26 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. In: Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 28. 27 Vgl. Christa Schultze, Fontanes »Herwegh-Klub« und die studentische Progreßbewegung 1841/42 in Leipzig. In: Fontane-Blätter, Bd. 2 (1971), H. 5, S. 327-339. 28 Karl Glossy, Ein literarischer Geheimbericht aus dem J a h r e 1846. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. Jg. 32 (1933), S. 136. Aus dem Adreßbuch des Deutschen Buchhandels von 0 . A. Schulz ergeben sich wesentlich geringere Zahlen. Danach hatten in den Jahren 1840, 1850 und 1860 Berlin 108, 172 und 229 Buchhandlungen, Leipzig 113, 133 und 188, Wien 52, 52 und 67. Nach: Geschichte des Deutschen Buchhandels. Im Auftrage des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler hg. von der Historischen Kommission desselben. Bd. 4: Johann Goldfriedrich, Ge6
Wruck, Leben, Bd. I
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schichte des Deutschen Buchhandels vom Beginn der Fremdherrschaft bis zur Reform des Börsenvereins im neuen Deutschen Reich. (1805-1889). Leipzig 1913, S. 453. I m J a h r z e h n t 1837 bis 1846 belief sich die Verlagsproduktion in Leipzig auf 16 634 Titel, in Berlin auf 11515, in Wien auf 4984. Ebenda, S. 455. 29 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. I n : Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 70-71. 30 An Georg Friedlaender, 3. Oktober 1893. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 317. 31 Vgl. Anm. 29. 32 Fontane zählt in Von Zwanzig bis Dreißig 22 Assessoren, Professoren, Doktoren, 10 Offiziere, 25 Künstler, Dichter, Berufsschriftsteller auf. (Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 155—158) Vgl. Joachim Kruegers Übersicht über die Berufe der 214 nachweisbaren Mitglieder, von denen ca. 150 bis 1860 eingetreten waren. I n : Autobiographische Schriften, Bd. 3,2, S. 72. Eine andere Zusammenstellung Fontanes findet sich im 4. Kapitel seiner Biographie: Christian Friedrich Scherenberg. I n : Autobiographische Schriften, Bd. 3,1, S. 3 0 - 3 2 . 33 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. I n : Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 209. 3 V Fontane, Christian Friedrich Scherenberg. I n : Autobiographische Schriften. Bd. 3,1, S. 45. 35 An Wilhelm Wolfsohn. 10. November 1847. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 20 u. 21. 36 Fontane, Christian Friedrich Scherenberg. I n : Autobiographische Schriften, Bd. 3,1, S. 37. 37 An Bernhard von Lepel, 5. Oktober 1849. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 33. 38 An Wilhelm von Merckel, 20. September 1858. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 246-247. 39 An Wilhelm von Merckel, 3. J u n i 1858. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 234. 40 Ebenda, S. 234-235. 41 An Hermann Hettner, 15. Oktober 1853. I n : Emil Ermatinger, Gottfried Kellers Leben, Briefe und Tagebücher. Auf G r u n d der Biographie J a k o b Bächtolds dargestellt und herausgegeben. Bd. 2, S t u t t g a r t u. Berlin 1916, S. 319. 42 Vgl. Max Bucher, Voraussetzungen der realistischen Literaturkritik. I n : Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente
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zur deutschen Literatur 1848—1880. Mit einer Einführung in den Problemkreis u. einer Quellenbibliographie hg. von Max Bücher, Werner Hahl, Georg Jäger u. Reinhard Wittmann. Stuttgart 1976. Bd. 1 (. . .), S. 33 (Epochen der deutschen Literatur. Materialienband). . Karl Marx, Einleitung [zur Kritik der politischen Ökonomie], In: Marx/Engels, Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 13, Berlin 1961, S. 640. Karl Gutzkow, Eine Woche in Berlin. In: Gutzkow, Werke. Auswahl in 12 Teilen. Hg. von Reinhold Gensei. Berlin/Leipzig/Wien/ Stuttgart o. J., Bd. 11, S. 264. Zu den Bestrebungen Maximilians II., zum Münchener Dichterkreis und dem zugehörigen Dichterverein Das Krokodil vgl. Helmuth Nürnberger, Der frühe Fontane. Politik. Poesie. Geschichte. 1840—1860. Ungekürzte, in den Anmerkungen durchgesehene, neu eingerichtete Ausgabe. Frankfurt a. Main/Berlin/Wien 1975, S. 285-288 (Ullstein-Buch Nr. 4601). An Bernhard von Lepel, 18. Oktober 1849. In: Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Ein Freundschaftsbriefwechsel. Hg. von Julius Petersen. München 1940, Bd. 1, S. 217. Zum Bild dieses Kreises gehören allerdings auch die Sarkasmen, die Marx darüber ausschüttet. Vgl. die Briefe an Antoinette Philips, 24. März u. 13. April 1861. In: Marx/Engels, Werke. Bd. 30, Berlin 1964, S. 589-591 u. 594-595. Lepel hatte Ende der vierziger Jahre Fanny Lewald erst mit Fontanes Feldherrnliedern, dann mit dem Verfasser persönlich bekannt gemacht. Vgl. Joachim Krueger, Zu den Beziehungen zwischen Theodor Fontane und Fanny Lewald. Mit unbekannten Dokumenten. In: Fontane-Blätter, Bd. 4, H. 7 (1980), S. 615 bis 628. Paul Lindau, Ein Fest der Berliner Presse. In: Lindau, Literarische Rücksichtslosigkeiten. Feuilletonistische und polemische Aufsätze. Leipzig 1871, S. 131. Nicht im Hinblick auf den Verein Berliner Presse, aber auf sein bemerkte Fontane, »daß es — was auch Kreuzzeitungs-Jahrzehnt ein wahres Glück ist — nach meinen Erfahrungen eine gewisse Zeitungssolidarität gibt, die durch die Parteifarbe wenig beeinträchtigt wird«. Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. In: Autobiographische Schriften, Bd. 2, S. 270. Paul Lindau, Ein Fest der Berliner Presse. In: Lindau, Literarische Rücksichtslosigkeiten, S. 133—134. Fontanes Brief an Heinrich 83
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Proehle vom 24. Januar 1863 läßt den Vorgang in etwas anderem Licht erscheinen. Vgl. Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. Abt. I V : Briefe, Bd. 1 - 4 . München. Hanser-Verlag 1976—1982 (im folgenden: Hanser-Briefe). S. 93—94. — An Alfred Friedmann schreibt er am 2. Januar 1883, er zahle seine Beiträge, sei aber noch nie in dem Verein Presse gewesen. Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 89. An Engels. 7. Mai 1861. In: Marx/Engels, Werke, Bd. 30, S. 163. An Wilhelm von Merckel, 25. Oktober 1858. In: Ausgewählte Briefe, Bd. 1: 1833-1860, S. 257. Schon am 18. Februar 1858 hatte er Wilhelm von Merckel erklärt: »Was uns so recht zum Lachen bringt, das ist selten das beste. Kladderadatsch, Äquivoken, llanswurstiaden, die von der Straße genommenen Figuren eines Kaiisch und Glasbrenner — das ist es, was uns zum herzlichsten Lachen fortreißt. Ein feinerer Witz, Ironie, Satire dürfen sich selten so lauter Erfolge rühmen.« In: Hanser-Briefe, Bd. 1, S. 610. An Paul lleyse, 28. Juni 1860. In: Ausgewählte liriefe, Bd. 1, S. 287. An Martha Fontane. In: Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 119. An Paul Heyse, 17. November 1861. In: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse. Hg. von Gotthard Erler. Berlin u. Weimar 1972, S. 101. Fontane, Ein Sommer in London. In: NFA, Bd. 17: Aus England und Schottland. S. 577. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute. Vgl. Riha, Die Beschreibung der »Großen Stadt», insbesondere S. 63. An Louis Henri Fontane, 19. Oktober 1856. In: Ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 187-188. Zitiert nach: Arnold Reisberg, Wladimir Iljitsch Lenin — Dokumente seines Lebens. 1870-1924. Leipzig 1977. Bd. 1, S. 295 (Reclams Universal-Bibliothek Bd. 723). Fontane, Aus den Tagebüchern (1855-1857). In: NFA, Bd. 17, S. 557. Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: Marx/Kngels, Werke. Bd. 2, Berlin 1958, S. 256. Fontane, Ein Sommer in London. In: NFA, Bd. 17, S. 8. Walter Benjamin, Uber einige Motive bei Baudelaire. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno u. Gershom Scliolem hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann
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Schweppenhausen Bd. 1,2 Werkausgabe. Frankfurt a. M. 1980. Bd. 2, S. 629 (édition suhrkamp). Fontane, Werke, Schriften und Briefe. 1 Ig. von Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. Abt. I : Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 6: Balladen, Lieder, Sprüche — Gelegenheitsgedichte — Frühe Gedichte — Versuche und Fragmente. 2. Aufl., München 1978, S. 456-457. Fontane, Modernes Reisen. In: NFA, Bd. 18: Unterwegs und wieder daheim. S. 12. Fontane, Willibald Alexis. In: NFA, Bd. 21,1 : Literarische Essays und Studien. Erster Teil. S. 180. Ebenda, S. 182. Ebenda, S. 191. Fontane, Aus den Tagen der Okkupation. In : NFA, Bd. 16: Kriegsgefangen. Aus den Tagen der Okkupation. S. 196 u. 197. Victor Tissot, Voyage au pays des Milliards. Septième édition. Revue et corrigée. Paris 1875, S. 160—161. An Hermann Wichmann,. 2. Juni 1881. In: Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 36. Fontan'e, A u s t e n Tagen der Okkupation. In: N F A , Bd. 16, S. 212. Riehl, Land und Leute, S. 125. Fontane, Berliner Ton. In: NFA, Bd. 18, S. 464-465. Ebenda, S. 464. Fontane, Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte. In: NFA. Bd. 19: Politik und Geschichte. S. 754. Ebenda, S. 750. Ebenda, S. 752. Ebenda, S. 754-755. Fontane, Vorwort. In: NFA, Bd. 22,3: Causerien über Theater. 3. Teil. Die Londoner Theater. S. 10. An Gustav Karpeles, 30. Juni 1881. In: Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 82. An Hermann Kletke. 3. Dezember 1879. In: Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 14. An Georg Friedlaender, 14. Mai 1894. Fontane fährt fort: » J e berlinischer man ist, je mehr schimpft man oder spöttelt man auf Berlin. Daß dem so ist, liegt aber nicht bloß an dem Schimpfer und Spötter, es liegt leider wirklich auch an dem Gegenstande, also an unsrem guten Berlin selbst. Wie unsre Junker unausrottbar dieselben bleiben, kleine, ganz kleine Leute, die sich für histo-
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rische Figuren halten, so bleibt der Berliner ein egoistischer, enger Kleinstädter. Die Stadt wächst und wächst, die Millionäre verzehnfachen sich, aber eine gewisse Schusterhaftigkeit bleibt, die sich vor allem in dem Glauben ausspricht: 'Mutters Kloß sei der beste.' Dabei gibt es hier — denn man kann doch nicht immer auf Bismarck und Moltke rekurrieren, die nicht mal Berliner waren — überhaupt nichts Bestes; es gibt in Berlin nur Nachahmung, guten Durchschnitt, respektable Mittelmäßigkeit, und das empfinden alle klugen Berliner, sowie sie aus Berlin heraus sind. Das m e n s c h l i c h e Leben draußen (nicht das politische, bei dem's aber auch zutrifft) ist freier, natürlicher, unbefangener, und deshalb wirkt die nicht-berlinische Welt r e i z v o l l e r . Die Menschen draußen sind nicht klüger, nicht besser, auch wohl nicht einmal begabter und talentvoller, sie sind bloß m e n s c h l i c h e r , und weil sie menschlicher sind, wirkt alles besser, i s t auch besser.« I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 3 4 1 - 3 4 2 . 87
Fontane, Die gesellschaftliche Stellung der Schriftstellerin Deutschland. I n : Fontane, Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes. Hg. von Hans-Heinrich Reuter. Berlin u. Weimar 1969, S. 186.
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An Emil Dominik, 14. Juli 1887. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 167. Fontane, Berlin vor fünfzig Jahren. I n : NFA, Bd. 18, S. 639. An Georg Friedlaender, 21. Dezember 1884. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 1 3 3 - 1 3 4 . An Emilie Fontane, 9. August 1884. I n : Hanser-Briefe, Bd. 3 : 1 8 7 9 - 1 8 8 9 , S. 349. An die Mutter Emilie Fontane, 3. März 1864. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 328.
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Peter Demetz, Formen des Realismus. Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. München 1964, S. 115—153 (Literatur als Kunst). Fontane, Lindau. Der Zug nach dem Westen. I n : NFA, Bd. 21,2, S. '653. An Mathilde von Rohr, 6. J u n i 1881. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 3 7 - 3 8 . An Friedrich Stephany, 2. Juli 189.4. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 348. Fontane, Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller in Deutschland. I n : Fontane, Aufzeichnungen zur Literatur, S. 187. An Georg Friedlaender, 3. Oktober 1893. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 317.
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99 Fontane, Stine. I n : Fontane, Romane und Erzählungen in acht Bänden. Hg. von Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz u. Jürgen J a h n . Berlin u. W e i m a r 1969. Bd. 5: Irrungen, Wirrungen. S t i n e . Quitt. S. 217. 100 Robert Minder, Paris in der französischen Literatur (1760—1960). In : M inder, Dichter in der Gesellschaft. Erfahrungen m i t deutscher und französischer Literatur. F r a n k f u r t a. M. 1972, S. 320 ( s u h r k a m p taschenbuch 33). 101 An Friedrich Stephany, 16. Juli 1887. I n : Hanscr-Briefe, Bd. 3, S. 553. 102 Fontane, Irrungen, Wirrungen. I n : Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Bd. 5, S. 41. Dazu Walter Killy, Romane des neunzehnten Jahrhunderts. Wirklichkeit und Kunstcharakter. München 1968, S. 195-198. 103 An Mathilde von Rohr, 6. J u n i 1881. I n : Ausgewählte Briefe, Bd. 2, S. 38. 104 Fontane, Die gesellschaftliche Stellung der SchriftstellerinDeutschland. I n : F o n t a n e : Aufzeichnungen zur Literatur, S. 181. 105 An E m i l Schiff, 15. Februar 1888. I n : Hanser-Briefe, Bd. 3, S. 585.
Paul Lindau — eine Literatenkarriere ROLAND B E K B I G
Nach der Reichsgründung setzte sich im hauptstädtischen Berlin ein Typ des Literaten durch, den Deutschland bis dahin so nicht gekannt hatte. In Paul Lindau fand dieser Typus eine besonders glänzende und einflußreiche Verkörperung. Eine Laufbahn in Literatur, Theater und Gesellschaft, wie man sie nur aus Paris kannte, endete nach zwanzig Jahren in einer öffentlichen Auseinandersetzung, die als der »Fall Lindau« erhebliches Aufsehen erregte. Franz Mehring nahm sie zum Anlaß, den Zusammenhang von » K a p i t a l und Presse« aufzudecken, deren Verflechtung nicht nur in seinen Augen beunruhigende Ausmaße angenommen hatte. Nach dieser folgenreichen Fehde, die auch seine eigene Existenz gefährdete, trat Mehring öffentlich zur deutschen Sozialdemokratie über. Lindaus große Zeit war 1891 zu Ende. Obwohl er danach wieder Fuß fassen konnte, blieb Fontanes auch bedauerndes Resümee: » E s ist schade, daß er so ganz abgewirtschaftet h a t « 1 richtig.
Pariser Lehrjahre eines deutschen Journalisten »Nach seinem Lebenslauf gefragt«, schreibt Victor Klemperer in seiner Lindau-Biographie, »schnurrt der bewegliche, schlanke Mann . . . die Anfänge von der Geburt (in Magdeburg am 3. J u n i 1839) an bis in die Studienzeit hinein mit gelangweijtester Eile herunter. Dann aber — j a dann ändert der Erzähler ganz und gar seinen Ton, und die graublauen Augen hinter den mächtigen Gläsern bekommen einen seligen Ausdruck. Dann k a m der Zwanzig-
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jährige nach P a r i s . . . « 2 Als S o h n einer p r o t e s t a n t i s c h e n F a m i l i e , d e r V a t e r w a r P f a r r e r , durchlief L i n d a u eine G y m n a s i a l a u s b i l d ung, die ihre F o r t s e t z u n g in S t u d i e n in Halle, Leipzig u n d Berlin f a n d . Philosophie iind L i t e r a t u r g e s c h i c h t e hießen die belegten F ä c h e r . Seine wichtigsten S t u d i e n jedoch betrieb er in d e r französischen H a u p t s t a d t des zweiten Kaiserreiches, d a s in den sechziger J a h r e n in vollem Glänze s t a n d . Zwar s a m m e l t e L i n d a u genügend Material, u m bei seiner R ü c k kehr ü b e r Molière zu promovieren, a b e r v o r allem lebte er in der P a r i s e r Kulturszene. »Auf S c h r i t t und T r i t t stieß m a n auf irgendeine Größe des T a g e s , auf irgendeine P e r s ö n l i c h k e i t . « 3 B e w u ß t ließ er P a r i s als Metropole F r a n k r e i c h s a u f sich wirken. K o n t a k t f r e u d i g , a u s g e r ü s t e t m i t einem a n p a s s u n g s f ä h i g e n N a turell, schloß er B e k a n n t s c h a f t e n , deren Zweckdienlichkeit sich s p ä t e r erweisen sollte. W a s R a n g und N a m e n h a t t e innerhalb der j ü n g e r e n französischen L i t e r a t u r und Theaterwelt, lernte er kennen. Die N a m e n von A l e x a n d r e D u m a s fils, Augier, S a r d o u und Scribe können stellvertretend f ü r eine große Zahl v o n K o n t a k ten stehen, die er a n k n ü p f t e . S c h o n früh erwies sich seine F ä h i g keit, T r e n d s , Zeittendenzen zu b e o b a c h t e n und f ü r sich zu nutzen, als ungemein v o r t e i l h a f t . S c h o n vor seinem F r a n k r e i c h - A u f e n t halt h a t t e L i n d a u B e z i e h u n g e n zur deutschen P r e s s e g e s u c h t ; die ersten journalistischen Versuche, die er a u s F r a n k r e i c h schickte, f a n d e n in D e u t s c h l a n d interessierte A b n e h m e r . R o b e r t P r u t z ' Deutsches Museum n a h m seine wohl erste A r b e i t in D r u c k — eine Rezension zu R i c h a r d W a g n e r s TannhäuserA u f f ü h r u n g in P a r i s 1861. W a g n e r s k o m p l e t t e r Mißerfolg b o t d e m j u n g e n L i n d a u reichlich Gelegenheit, seiner B e f ä h i g u n g zur ironisierenden Darstellung freie Zügel zu lassen. Nebenher w i d m e t e er sich wissenschaftlicher Arbeit, die den A b s t e c h e r in die N e u zeit französischer D r a m a t i k nicht scheute. E r ü b e r s e t z t e u n d analysierte die S t ü c k e S a r d o u s u n d anderer Autoren. Mit diesen A n a l y s e n v e r s c h a f f t e er sich eine P l a t t f o r m für seine R ü c k k e h r nach D e u t s c h l a n d — finanziell wie konzeptionell. Z u m H a u p t a b nehmer seiner journalistischen Arbeiten wurde d a s Magazin für die Literatur des Auslands u n t e r der L e i t u n g von J o s e p h L e h m a n n . L e h m a n n w a r es auch, der den f r i s c h g e b a c k e n e n
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Dr. Lindau in der Presse unterbrachte — er vermittelte die Anstellung bei der Düsseldorfer Zeitung. Nun lernte Lindau das Geschäft des Journalisten von der Pike auf. In den nächsten Jahren schrieb er über alles, was ihm berichtenswert erschien. 1865 ging er wieder nach Berlin zum Wölfischen Telegraphenbureau. Hier hatte er init der modernsten Form der Nachrichtenübermittlung umzugehen. Daneben versorgte er die Elberfelder Zeitung mit Artikeln und kleineren Aufsätzen. Der Arbeit im Telegraphenbureau bald überdrüssig, band sich Lindau ganz an die freisinnige Elberfelder im »roten« Wuppertal, wo er sich rasch als Chefredakteur etablierte. »Wenn ich daran denke, was ich in jener Zeit zusammengeschrieben habe, überfällt mich noch jetzt ein gelindes Grauen«, 4 erinnerte sich der 76 jährige. Bemerkenswert ist, wie Lindau trotz der offensichtlichen Arbeitsanspannung Zeit fand, sich über die politische Journalistik hinaus seinen Lieblingsgegenständen zuzuwenden: E r teilte den Lesern regelmäßig seine Meinung zu Fragen von Kunst und Literatur mit und betrat aktiv die Welt des Theaters, für das er in 24 Stunden ein Stück schrieb: Marion — die Geschichte eines gefallenen Mädchens. Der Charakter der Blätter, für die Lindau arbeitete, öffnete seinen Blick auf ein breites politisches Spektrum, bei dem der sozialdemokratische oder zumindest der liberale Bereich bevorzugt wurde. Gewiß war die Bemerkung in Lindaus Erinnerungen nicht frei von Verklärung, wenn er notierte: »Das eindruckvollste Ereignis meines Düsseldorfer Aufenthalts ist mein Verkehr mit Ferdinand Lassalle gewesen.« 5 Aber nicht im schlechtesten Sinne des Wortes war Paul Lindau für alles offen. Obwohl er bald das Feld der politischen Journalistik links liegenließ, bewahrte er sich einen Grundbestand an liberalen Ansichten, die später in das ansonsten parteipolitisch nicht festgelegte Konzept seiner Zeitschrift Die Gegenwart Eingang fanden. Das seinen schriftstellerischen Anlagen entgegenkommende Gegenstandsgebiet vermutete er zu Recht außerhalb der politischen Berichterstattung. Als ihn Julius Rodenberg bat, für die Wiedereröffnung des Salon etwas zu liefern, verfertigte Lindau ab 1865 seine Harmlosen Briefe eines deutschen Kleinstädters. Das waren Plaudereien — stilistisch gewandt und amüsant zu lesen, die ihm den ersten großen
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Publikumserfolg einbrachten. Mit ihnen gewann er sich einen Leserkreis, 'der ihn optimistisch stimmen durfte, und wurde in seinem Entschluß bestätigt, der politischen Berichterstattung den Abschied zu geben. Die sich anbahnende Chance, sein Stück Marion zur Aufführung zu bringen, bewog Lindau, 1869 einem Ruf nach Leipzig zu folgen, wo er erstmals den literarischen Teil eines Blattes redaktionell betreute. Heinrich Laube, damals Theaterdirektor in Leipzig, wurde auf Lindau durch dessen Rezension seines Stückes Demetrius aufmerksam, die mit dem Satz begann: »Wenn Schiller aufhört und Laube anfängt, dann hört alles auf.« 6 Später, in der Rolle des Erinnernden, wird Lindau nicht müde, Laube als einem seiner großen Lehrer zu huldigen. Damals verleitete ihn die Bewunderung Laubes (und wohl auch die Möglichkeit, sein Stück von Laube inszeniert zu sehen), auch öffentlich für diesen Partei zu nehmen. Zwar gelang es ihm nicht, Laubes finanziellen Ruin zu verhindern, aber er verdankte dieser Gelegenheit einen Schlagabtausch mit Rudolf Gottschall, dem seinerzeit bekannten Dramatiker, Rezensenten und späteren Verfasser einer deutschen Literaturgeschichte. Kurz gesagt — er brachte sich ins Gespräch. Ein zweiter Aufsatz, durch den Lindau von sich reden machte, geschrieben wie alles bisher Erwähnte vor 1871, erhellt die wesentlichen Momente, durch die Lindau nach 1872 in Berlin seinen Aufstieg nahm. Gerichtet waren die polemischen Ausführungen gegen einen berühmten Zeitgenossen, der seinen Zenit allerdings überschritten hatte: Julian Schmidt. Schmidt war bereits angeschlagen von der schon Jahre zurückliegenden Attacke Ferdinand Lassalles 7 und stteckte von Lindau nun Hiebe ein, die gleichfalls nicht ohne Wirkung geblieben sein dürften. Schon der Titel des Artikels Deutsche Gründlichkeit und französische Windbeutelei verrät, liest man in ihm die Ironie mit, Lindaus Ansatz. Bescheidenheit vorgebend — wer sei Schmidt und wer Lindau! —, ist der Artikel alles andere als bescheiden. Streckenweise stilistisch brillant, zerpflückt der Kenner des französischen Theaters, Paul Lindau, den Autor einer Arbeit über Alexandre Dumas fils, Julian Schmidt, nach allen Regeln der Kunst. Die Konzentration, mit der Lindau'vorgeht, ist bemerkenswert. Mit wenigen
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Strichen kritisiert er den Zustand der »heimischen Presse« 8 und charakterisiert Schmidt als deren typischen Vertreter. Die Kritik Lindaus liest sich, zieht man seine eigene weitere Entwicklung in Betracht, wie eine vorweggenommene Selbstanalyse — mit ganz ähnlichen Vorwürfen werden Lindaus Gegner später gegen ihn vorgehen. Von Schmidts Aufsatz und seinem Verfasser heißt es nämlich bei L i n d a u : » E s ist ein Artikel, der als ein Muster aller Ihrer Kritiken gelten kann. Dieselbe feuilletonisierende Wissenschaftlichkeit, dasselbe geistreichelnde Halsumdrehen, dieselbe liebenswürdige Frivolität im Talentabschneiden, dasselbe Gemisch von Grazie und Brutalität . . . Sie handhaben das kritische Richtbeil mit einer Jovialität, um die Sie ein Jongleur beneiden könnte. Sie erkiesen Ihr Opfer, spielen mit ihm wie die Katze mit der Maus, machen einen hübschen Witz und b a u t z ! da liegt der Kopf.« 9 Nachdem dem Kritiker Schmidt solchermaßen jegliche Integrität abgesprochen wurde, wird Lindau sachlich. E r deckt Schmidts antifranzösische Vorurteile auf und belegt — in den Einzelbeobachtungen exakt —, wie Schmidt aus dieser politischen Position heraus die Literatur der Franzosen denunziert. Lindau beließ es nicht bei einer Aburteilung der Kritikerpersönlichkeit Schmidt; dessen Fehlurteile waren für den nach Profilierung strebenden Lindau willkommener Anlaß, nunmehr seine Wertschätzung des von Schmidt Verpönten beweiskräftig auszusprechen. An Argumenten mangelte es ihm nicht. Indem Lindau nachweist, daß die modernen französischen Stücke n i c h t für das Theater zurechtgeschnittene Schweinereien sind, sondern Gesellschaftskritisches potentiell bühnenfähig vorführen, setzt er Signale für seinen Einstieg als Theaterkritiker in Berlin. Hier spricht er zum ersten Male unumwunden seine Alternative zum Zustand der deutschen Bühnen um 1870 a u s : das moderne französische Theater. Die Zeit, vom literarischen Ruhm der deutschen Klassik zu zehren, war für Lindau vorbei. Als er an die große T ü r der deutschen Theaterkritik klopfte, glaubte er sich im Besitz einer Antwort. Lindau wurde nach 1871 der entschiedenste Verfechter eines praktischen und bühnenwirksamen Theaters. Damit füllte er eine Lücke, die der Notstand deutscher 92
Bühnenverhältnisse hatte offenbar werden lassen. Alle Arbeiten, die in diesem Umfeld entstanden, bewegten sich um denselben Kernpunkt. Sie glänzten durch engagierte Analysefähigkeit und vorzügliche Formulierungsgabe. Zwei Aufsätze, die einer Sammlung von Kritiken Lindaus aus der Gegenwart beigefügt waren, sind hervorragende Dokumente seiner Konzeption. Beide, geschrieben 1878, tragen Züge eines Resümees. »-Ich will hier ganz absehen von den unberechenbaren Vortheilen, welche schon die Concentration aller gesellschaftlichen und geistigen Interessen in Paris dem französischen Dramatiker darbietet, wie man da gleichsam mit der Pariser Luft einathmet, was ganz Frankreich beschäftigt und bewegt . . . Während der Geist der Decentralisation, der ganz Deutschland beherrscht, die deutschen Dramatiker über das ganze Land versprengt . . .« 10 , heißt es in dem Aufsatz Ueber Bühnendichtung in Deutschland und in Frankreich. Der daraus folgende Hauptmangel bestünde darin, daß die deutschen Autoren von der Bühne getrennt lebten. Der deutsche Theaterdichter schriebe am Pult — und deshalb für's Pult. Wer den ursächlichen Zusammenhang zwischen Bühne und Textvorlage ignorierte, der brauchte sich über einen Durchfall nicht zu wundern. An eine unverzügliche Aufhebung des »Geistes der Decentralisation« war natürlich nicht zu denken. Den Kompromiß, den Lindau für die Verbesserung der Verhältnisse anbot, leitete er aus seiner Analyse der erfolgreichen französischen Stücke ab. Wo lokal bedingte und soziale Zustände nicht ad hoc korrigierbar seien, da sollte durch das Studium des dramaturgischen Handwerks der Mangel überdeckt werden. Die französischen Dichter besäßen schlechterdings »formale Überlegenheit« 11 . Sie »greifen mit kecken Fingern mitten hinein in die Gesellschaft, in der sie leben, sie ergreifen die ernsthaftesten Conflikte, welche Verwirrung und Bestürzung in die Familie und in die grosse Familie, die man Staat nennt, bringen. Diese studieren sie, suchen dieselben durch eine wirksame Handlung auf der Bühne zu veranschaulichen und so unmittelbar auf die Zeitgenossen bestimmend einzuwirken.« 12 Lindau plädiert für das Recht der Bühne, auch pikante Gegenstände zu behandeln, ohne dabei allerdings 93
den guten Geschmack prinzipiell zu verletzen. Theatralische Wirksamkeit, dramaturgische Schlüssigkeit und Lockerheit in der Dialogführung wurden für den Kritiker Lindau verbindliche Maßstäbe. Hinzu kommt als wichtiges Element die notwendige Relevanz gesellschaftlich brisanter Probleme. Die angeführten Zitate kennzeichnen den Leistungsanspruch Lindaus und dessen offenkundige Legitimität. So gesehen, mutet Heinrich Laubes Rat für Lindau: »Sie müssen sich Ihre französischen Einflüsse erst von der Seele herunterschreiben . . .« 1 3 zwar verständlich, aber eben doch zeitfremd an. F a s t überflüssig zu bemerken, daß Lindau wiederum gut daran tat, ihn nicht zu befolgen. Spätestens Ende der sechziger Jahre war sich Lindau seines weiteren Entwicklungsweges bewußt. E r hatte nahezu ein Jahrzehnt seines Lebens aufgewendet, um mit einer beachtenswerten Zielstrebigkeit das Handwerk eines Journalisten zu erlernen, der seine Neigung zu Kunst und Literatur nicht nur verbal bekennt, sondern in praktischen Erfolg ummünzen möchte. Selbst in schwerer durchschaubaren Lebenssituationen vermochte er das für ihn jeweils Günstigste zu erkennen und zu betreiben. Seine Hauptrichtschnur: eine erfolgreiche Laufbahn als Literat. Verantwortlicher Redakteur in der Hauptstadt der Gründer Im Sommer 1871 kam Paul Lindau solchermaßen ausgerüstet nach Berlin, wo er kein Unbekannter war. » E r ist jung und zuversichtlich und unternehmungslustig, er paßt so recht in die junge, zuversichtliche, unternehmungslustige Hauptstadt des ehren- und goldbedeckten neuen Reiches . . .« 1 4 , liest man bei Klemperer. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Lindau brachte eine seltene Vertrautheit mit der fortgeschrittenen Pariser Presseund Kulturszene ein, er verfügte über Erfahrungen aus einem Jahrzehnt intensiver journalistischer Arbeit, während der er sich bereits einen Namen als Feuilletonist, Übersetzer, Dramatiker und Kritiker mit Konzept gemacht hatte. Um seinen Bekanntenkreis beneideten ihn seine Kollegen. Dazu zählten Albert Hoffmann, Mitarbeiter des Kladderadatsch und gleichzeitig Besitzer des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters, Botho Graf von Hül94
sen, langjähriger Leiter der Königlichen Schauspiele, Emil Claar, Leiter des Residenztheaters, Theodor Lebrun, Direktor des Wallnertheaters, David Kaiisch, Begründer des Kladderadatsch, Julius Rodenberg, zu jener Zeit noch Chefredakteur des Salon uncl der beliebten Frauen- und Modezeitschrift Basar, J o s e p h Lehmann und eine stattliche Reihe deutscher und französischer Autoren. Die entscheidenden Männer der Berliner Theater, mit denen die Namensliste beginnt, kannte Lindau beinahe ohne Ausnahme schon vor 1871. Das J a h r 1871 verstärkte freilich nur Entwicklungen des hauptstädtischen Theaterwesens, die bereits in den 50 er und 60 er Jahren in Gang gekommen waren. D a s gilt vornehmlich für die Herausbildung zahlreicher Theater und deren Konkurrenzgebaren. Bereits seit den 30er und 40er Jahren existierte die»Aktienomie« für die Bühne, in deren Folge die Personalunion Theaterleiter und -besitzer aufgegeben wurde. 1869 beseitigte die Einführung der Gewerbefreiheit auch für d a s Theater weitere Schranken. Neue Bühnen schössen wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden, und ihre zuweilen kurzlebige Existenz änderte nichts an den nunmehr eindeutigen Marktverhältnissen, die seitdem für die Kulturszerie entscheidend wurden. Anachronistisch wirkte auf die Verfechter dieser Entwicklung — und sie waren nicht von vornherein in der Mehrheit — die Aufrechterhaltung bestimmter Privilegien für das Königliche Schauspielhaus. Ließ sich über die Bedingung, daß der Intendant von Adel sein mußte, noch schmunzeln, so hörte der Spaß auf, wo er auf Kosten der eigenen materiellen Interessen ging. Das Recht zu Klassikeraufführungen beispielsweise lag allein bei den Königlichen Schauspielen, und ein Lustspiel, das mit Erfolg im würdigen Hause über die Bretter gegangen war, konnte erst 12 Monate später von den anderen Bühnen aufgegriffen werden. Als Lindau nach Berlin kam, fand er also eine sich in Bewegung setzende Kulisse vor, und er beeilte sich mitzuschieben. Die Kluft zwischen den Königlichen Schauspielen mit ihrem tradierten Inszenierungsstil und den Boulevardtheatern war erheblich. Andererseits begann sich der Markt aufzutun, der anfangs nur verschämt wahrgenommen und zögernd bedient wurde. 95
Banales und klassisch Steriles begegnete sich in Belanglosigkeit. Aber mit dem Anspruch, Berlin zur deutschen Metropole zu entwickeln, war der Beginn für eine sprunghafte, aber schwer kontrollierbare Veränderung verbunden. Die Voraussetzungen lagen denkbar günstig. Fünf Milliarden Francs, deren überhastete Verteilung in Industrie- und Kapitalwirtschaft, die Zentralisation politischer Einrichtungen und der Anspruch, mit Berlin international zu renommieren, führten zu Beschleunigungen auf allen Gebieten. In kürzester Zeit wandelte sich die soziale und die Infrastruktur der Hauptstadt. Mietskasernen und Arbeiterquartiere entstanden sowie Villen der Gründerschicht; der Zustrom von auswärts riß nicht ab — Berlin, »wohin alles drängte« 15 , wurde Hauptsitz der Gründeragilität. Paul Lindau, feinfühlig genug, solche Bewegungen zu registrieren, und flexibel, sie auszunutzen, ging das Wagnis, auf seine Weise »Gründer« zu werden, ein. Am 19. Januar 1872 erschien die erste Ausgabe seiner Wochenschrift für Kunst, Literatur und öffentliches Leben Die Gegenwart. Nicht ohne Berechtigung wertet Klemperer diesen Schritt von seinem Erfolg aus: Das war Lindaus »große(r) Wurf«. 16 Mit dieser Zeitschrift schuf sich Lindau das Podium, von dem aus er die Erfahrungen, deren Allgemeingültigkeit ihm feststand, öffentlich verkündigte. Theodor Fontane, einer der besten Kenner des Pressewesens, traf zehn Jahre später, 1882, die Feststellung, daß die Gegenwart neben dem Magazin für die Literatur des In- und Auslandes das angesehenste und vornehmste Blatt wäre, das Deutschland besäße. 17 Anläßlich seines Ausscheidens als Redakteur — Lindau verlagerte das Schwergewicht seiner Tätigkeit auf Bühne und Buch — erinnerte sich der Herausgeber an den Anfang: »Als wir, Georg Stilke und ich, vor nunmehr zehn Jahren den Plan faßten, eine Wochenschrift ins Leben zu rufen, die ohne den Beistand der Illustration und ohne das kräftige Zugmittel der erzählenden Dichtung lediglich der ernsthaften Besprechung der politischen, kirchlichen, nationalökonomischen Tagesfragen, dem wissenschaftlichen Essay, der literarischen und künstlerischen Kritik gewidmet sein sollte, — da erlebten wir zunächst nur bittre Enttäuschungen. Die einsichtigsten und wohlwollend-
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sten unserer Freunde erklärten ein solches Unternehmen in Deutschland für hoffnungslos.« 18 Aber, so fährt Lindau fort, dank der »lebendige(n) Anteilnahme der Schriftsteller« 19 sei es der Gegenwart schon binnen kurzem gelungen, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Liste der Autoren, die der Herausgeber nicht ohne Selbstgefälligkeit präsentierte (immerhin über mehr als zwei Spalten), ist allerdings mit den wichtigsten und renommiertesten Namen der damaligen Zeit" bestückt. Sie reicht von Ferdinand Freiligrath bis Franz Dingelstedt und von Karl Blind über Arnold Rüge bis zu Theodor Fontane. Lindau selbst erinnert daran, daß aus seiner Feder 450 Aufsätze (ca. 2000 Spalten) stammten. Kühn, doch nicht zu Unrecht, schließt der Abschisdsgruß: »Es ist gewiß nicht zu viel behauptet, wenn ich sage, daß ein nicht unwesentlicher Teil der geistigen Unterhaltung in Deutschland während der letzten zehn Jahre in der Gegenwart geführt worden ist.« 2 0 Die Eröffnungsnummer der Gegenwart erlaubt relativ klare Einblicke in die Tendenz des Blattes. Gleich dort wurden Akzente gesetzt, die für den Fortbestand der Zeitschrift nicht ohne Bedeutung waren. In dem ersten Leitartikel — er dürfte mit ziemlicher Sicherheit aus Lindaus Hand kommen — wurde der politische Standort markiert. Interessanterweise geht Lindau dabei bereits von einem relativ gefestigten politischen System und Klima aus. Nun seien die »heißesten Wünsche« 2 1 der deutschen Patrioten erfüllt, und die Phase, in die man getreten, sei bestimmt von »gemeinnützigem Wetteifer« 2 2 . Lindau bekennt sich zu einer »patriotischen und freisinnigen Tendenz« 23 , die seine Zeitschrift auszeichnen soll. Frankreich, doch immerhin das Land, dessen Vorzüge Lindau seit einiger Zeit unermüdlich gepriesen hatte, das nun aber besiegte Macht war, »betrachten wir mit Mitleid, nicht mit Haß . . .«. Frei von enger ideologischer oder politischer Dogmatik, versprach die Zeitschrift ihren Lesern abschließend, über »alle wichtigen Erscheinungen auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens und geistigen Schaffens vom freisinnigen Standpunkt aus« 2 4 zu berichten. Anders als später Rodenberg mit seiner Deutschen Rundschau (1874) vertrat Lindau schon im größten Siegesrausch, der die hemmungslosesten Nationalismen zu ge7
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statten schien, eine liberale Tendenz, die nur sehr verhalten in die nationalistischen Bekenntnisse einstimmte. Fanatismus, das galt für das Blatt wie für den Herausgeber, war ihre Sache nicht. Die Gegenwart — und darin unterschied sie sich besonders anfangs von anderen Blättern — hütete sich auch thematisch vor einer politischen oder sozialen Eingrenzung. Sie zielte auf Breite, wollte ein Organ sein, das alles zur Sprache brachte, was das Publikum beschäftigte. Man suchte ihm entgegenzukommen durch Angemessenheit des Preises, Uberschaubarkeit und Kürze der Beiträge. Bemerkenswert war auch eine Inseratenseite, die sich bald für die Reklame außerliterarischer Produkte öffnete. Nicht zuletzt verhalf die gute Lesbarkeit der Einzelbeiträge, von Lindau sorglich redigiert, der Zeitschrift zügig zum Erfolg. Die Theaterkritik, lange Jahre bevorzugte Spalte des Hauptredakteurs, setzte vom ersten Heft an planmäßig fort, was Jahre zuvor schon als Grundüberlegung vorlag. Lindaus Beobachtung eines Mangels an guten Aufführungen deutscher Stücke und seine Neigung für die neuere französische Dramatik verknüpften sich mit der vorab deklarierten freisinnigen Richtung. Dramatischer Anlaß war Victorien Sardous Stück Fernande im Residenztheater, das nur einen Fehler habe, so vermerkt der Rezensent ironisch, »es ist von einem Franzosen geschrieben«. Denn »(m)it einem solchen Autor machen wir hierzulande nicht viel Federlesens. Ein echter deutscher Mann mag bekanntlich keinen Franzen leiden.« Zwar amüsierte sich das deutsche Publikum im Parkett über die »abscheulichen Zoten, die von drüben importiert werden«, aber im nachhinein wahrte man das »Decorum«. Lindau lobt vorbehaltlos die Konstruktion des Stückes, die den»unausbleiblichen Erfolg« 25 vorausplante. Gleich in der ersten Nummer also der Gegenwart gab Lindau den Ton vor, der ihn ebenso rasch prinzipiellsten Vorwürfen aussetzen sollte. Aber vorerst war Lindaus Kritik ein Plädoyer für Theaterfreiheit, für das zeitgenössische Tendenzstück und für ein Theater, das sich nicht mehr mit dem Anspruch herumplagte, eine »moralische Anstalt« für die bürgerliche Gesellschaft zu sein, sondern sich zum Vergnügungscharakter bekannte.
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Vordergründig schillerten Lindaus Kritiken vor allem durch ihre Saloppheit, ihren Esprit. Offensiv, witzig, geistvoll ohne Kopflastigkeit, gebildet ohne zähe Gelehrsamkeit — das traf offenbar die Erwartung und den Anspruch eines in der Gründerzeit sich neu formierenden Bürgertums. Unter dem sich schnell einstellenden Erwartungszwang erhöhte Lindau die Schreibfrequenz — und er bediente sich einer rasch in den Manierismus verfallenden stereotypen Rezensionstechnik. Doch t a t das dem Erfolg keinen Abbruch. Man wartete auf Lindaus Kritik. Er kam in den Ruf, die erste Kritikerstimme Berlins zu sein. Das hauptstädtische Publikum fcliien des zuweilen trockenen Tones eines Karl Frenzel in der Nationalzeitung satt zu sein. Das in Permanenz verteilte Lob für die französischen Dramen lief parallel mit dem Verriß eigentlich jedes neuen Stükkes eines deutschen Autors. Laube wird später — in einem Brief an Lindau — von »Hinrichtungen« sprechen, die man allerdings mit Vergnügen gelesen habe. 2 6 So konnte beispielsweise der Abonnent der Gegenwart in der Nr. 3 der Zeitschrift anläßlich einer Besprechung von Vater Brahm (H. Schaufert) folgende Bemerkungen lesen: »Die ernstesten und bedeutendsten Männer treten an diese gewaltige Frage (gemeint war die soziale Frage, der sich das Stück widmete — R. B.) mit einer Scheu heran, welche sich durch den Inhalt derselben genügend erklärt. Und da fällt es Herrn Hippolyt Schaufert eines Tages ein, auch ein bischen sociale Frage zu lösen!« 27 Oder — und dieses Zitat weist bereits auf Auseinandersetzungen der nächsten Jahre hin — bei einer Besprechung von Victor Hugos Gedichten plauderte Lindau in folgenden Sätzen über den Lyriker: »Jedem Leser muß zuerst die eigenthümliche Vorliebe des Dichters für die Mißgestalt — für die physische oder moralische Verbildung — in's Auge fallen. . . . Die Kröte ist sein Lieblingsthier.« Banalität und Langeweile wurden von Lindau gleichermaßen zügellos bloßgestellt wie poetische Produkte, die in seinen Augen »Versündigung gegen den guten Geschmack« 28 waren. Und bald hatte er eine zahlreiche Leserschaft hinter sich, die mit seinen Augen zu sehen bereit war und sich seinen Geschmack zum eigenen gemacht hatte. Selbst als er 1874 in Julius Rodenbergs Deutscher 7*
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Rundschau
ein sehr anspruchsvolles Konkurrenzblatt gegenübergestellt bekam 29, vermochte das seine Position nicht wesentlich zu schwächen. Der Markt war mittlerweile weit genug, um mühelos eine derartige Konkurrenz zu verkraften. Die Autoren brauchten die Zeitschriften; F ü r sie waren diese Blätter Existenzgrundlage, die sie allerdings auch zwang, künstlerische Kompromisse einzugehen. Andererseits erhöhten sich die Chancen zweitklassiger Autoren, mit flinker Feder die Marktlücken entschlossen zu füllen. Journalist und Schriftsteller mußten eine Allianz eingehen — und nicht in jedem Fall gereichte das den Autoren zum Nachteil. Lindau selbst beutete in schöner Regelmäßigkeit und hemmungslos seine dramatische Begabung aus. Die alljährlich veröffentlichten Texte sollten das demonstrieren, was der Kritiker Lindau proklamierte: wirkungsvolle, dialogisch brillante, szenisch genaue Arbeiten fürs Theater. Den Stücken — Marion, In diplomatischer Sendung, Maria und Magdalena, Diana, Ein Erfolg, Tante Therese, Der Zankapfel, Gräfin Lea und Verschämte Arbeit, um nur einige zu nennen, die zwischen 1870 und 1881 entstanden — war ähnliches beschieden wie den Kritiken: Sie standen unter günstigen Sternen, und über Jahre hinweg galten Lindaus Lustspiele als Garanten für Erfolg. Sie wurden aufgenommen als eine »•frische Brise eines poetischen Stromes« 30 , die Kritiker begannen früh, ihre bühnenwirksame Machart zu goutieren. Freilich: Paul Lindau unternahm auch einiges, um seine dramatischen und literarischen Arbeiten in das rechte Licht zu rücken. Anläßlich der Wiener Aufführung seines Stückes Maria und Magdalena scheute er sich nicht, den befreundeten Josef Oppenheim, einen Rezensenten der Deutschen Zeitung in Wien, als Theaterkritiker für die Gegenwart zu gewinnen. 31 Bei scheinbarer publizistischer Integrität war somit für eine wohlmeinende Rezension und wirkungsvolle Selbstreklame gesorgt. Geschickte Manipulation führte dazu, daß Lindau »Mode« wurde. Doch indem er das deutsche Pendant des französischen Konversationsstücks realisierte, bereitete er auch den Boden für seine später schärfsten und berechtigtsten Gegner — die Naturalisten. Der Stückt y p und sein Verfasser gehörten einem Ubergangsstadium voller Widersprüchlichkeit und bezeichnender Ambivalenz an. Leistung
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und Verlust standen nebeneinander — das eine jedoch jeweils das andere zu diesem Zeitpunkt bedingend. Seine Dramen trugen bei aller individuellen Bissonderheit, die seine Lustspiele ein wenig besser als die der anderen ausfallen ließ 32 , wesentlich zur Ausprägung eines Stücktyps bei, der Schule machte. Bald stand neben Lindau eine Gilde gleich orientierter Dramatiker, für die Berlin idealer Wirkungsort zu werden versprach. 1878 baute Lindau seine Macht aus — er gründete eine weitere Zeitschrift: Nord und Süd, die nun auch R a u m für Belletristik bot. Obwohl ihm dieser Schritt als nicht recht lauter vorgehalten wurde, setzte sich diese Monatsschrift — wenn auch weniger schwungvoll — durch. Von Lindau selbst wurde sie, wie Zeitgenossen vermerkten, nur leichthin redigiert, aber sie lief in seinem Geiste.
Erste Angriffe auf den »Scribenten des eleganten Plebs« Lindau hatte sich in seinem Erfolg noch nicht recht behaglich eingerichtet, als die ersten Attacken gegen ihn einsetzten. Sie leiteten eine nicht enden wollende Kette von Angriffen ein. Der geschwinde Verlaufseiner Karriere, sein öffentliches Auftreten und das sich nach und nach ändernde Öffentlichkeitsklima riefen Stimmen aus allen möglichen politischen und kunstästhetischen Richtungen hervor, die dem Treiben des Günstlings der Stunde- ein Ende bereiten wollten. Vorwürfe, die fünfzehn J a h r e später seinen Sturz unvermeidbar machten, erklangen bereits Mitte der siebziger Jahre, erste Anzeichen tauchten sogar schon 1872 auf. 3 3 Was Lindau auch unternahm, es spaltete das Publikum in zwei Lager. In den siebziger J a h r e n hatten seine Parteigänger das Übergewicht — später sollte sich dies Machtverhältnis erheblich verschieben. Schon der Charakter der ersten öffentlichen Anklagen muß aufhorchen lassen. Albert Hahn, Redakteur der Tonkunst, legte sich keinerlei Zwang bei der Formulierung seiner Vorwürfe auf. Ein »so frivoler Fuchs, wie Lindau« 3 4 hätte sich zum mächtigen Vertreter der Partei gemacht, die die Zote und die Phrase im Wappen führte. 3 5 Hahn trieb die Dinge auf die Spitze, als
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er Lindaus Kritikerpraxis Korruptheit unterstellte. E r brachte Lindau mit einer Schicht in Zusammenhang, die seines Erachtens ohne Kultur und Bildung sei — Lindau als der »Scribent des eleganten Plebs« 3 6 —, die aber offensichtlich eine ^Richtung der Zeit bestimme. Albert Hahn traf wesentliche Aspekte Lindauscher Kritikerpraxis, aber er unterschätzte die Zugkraft der Richtung, die Lindau erstklassig vertrat. Nicht viel anders J . Fisahn, der ebenfalls Lindaus Rolle als Spitzenkritiker analysierte. Sein Wirken hätte unvermeidlich eine Flut miserabler Stücke zur Folge, da sich die Autoren an der Kritik orientierten. Es ist das Bild von der Katze, die sich in den Schwanz beißt. Indem Fisahn den »-Großmogul«37 Lindau unter die Lupe nahm, rief er gleichzeitig zum Kampf auf. Es gälte, die »wohlorganisierten Lärmkolonnen zu brechen, ein festgeschlossenes Cliquenwesen zu sprengen . . .«38 Lindaus Rezensentenstrategie, die Fisahn charakterisierte, sei die »Vertheidigung einer dichterischen Apotheose der viehischen Brunst« 3 9 . Mitte der siebziger Jahre mehrten sich Veröffentlichungen gegen beziehungsweise für den »-Matador«40. Gotthilf Weisstein publizierte anonym eine Broschüre mit dem Titel Paul Lindau. Eine Charakteristik, die er mit dem Anspruch verbreitete, ein »objeetives Urtheil zu ermöglichen« 41 . Zwar konnte Weisstein nicht umhin, Berechtigtes in den Attacken der Angreifer zu bestätigen, aber seine Broschüre war ohne Zweifel aus Sympathie heraus geschrieben. Konkreter Anlaß war der Durchfall von Lindaus Stück Ein Erfolg gewesen, in dem Lindau unbekümmert Sonderheiten seiner Berliner Kritikerkollegen theatralisch ausgestellt hatte! Das waren Späße, wie sie Lindau liebte. Weisstein, dessen versuchtes Milderungsmanöver nicht ohne Inkonsequenz durchzufechten war, hatte mit seiner Verteidigung Lindaus als einer Erscheinungsform des »modernen Menschen« 42 besonders die aufkommende antisemitische Bewegung verärgert. Diese glaubte nach 1871 eine Tendenz in der Kritik (und damit auch der Presse) als gefährlich denunzieren zu müssen: das »unscheinbar reformatorische Auftreten des Judenthums in der Kritik« 43 . Lindau und Weisstein (der vielleicht deshalb Anonymität wahren wollte?) zählte sie zu den Vertretern dieser Strömung — 102
ü b e r ihre Zugehörigkeit zum »vaterlandslosen S t a m m « 4 4 hegte m a n keine Zweifel. Andererseits h a t t e E. 0 . K o n r a d beispielsweise recht, sich ü b e r Lindaus a n m a ß e n d e s Verhalten anläßlich des Mißerfolgs seines Stückes Ein Erfolg zu mokieren. Lindau h a t t e in der Gegenwart — m i t h i n s e h r öffentlich — seinen Kritikern gedroht, d a ß vielleicht auch einmal wieder der Fall eintreten könnte, wo s i e zu rezensieren wären. Der Ruf Konrads wie anderer, Lindau sollte doch die Koffer pakken u n d gehen, verhallte vorerst fast folgenlos. Nicht verhallten Einzeläußerungen, die die Q u a l i t ä t Lindauscher K u n s t - u n d S p r a c h p r o d u k t e anzweifelten. Diese Einwände f a n d e n in den achtziger J a h r e n eine Neuauflage. Inzwischen n a h m sich auch die Wissenschaft P a u l Lindaus an. Die Vielzahl seiner Buchpublikationen rechtfertigte das. F ü r Wilhelm Goldschmidt, Literaturwissenschaftler in Petersburg, war dies der A u s g a n g s p u n k t : »Die Zeit scheint m i r gekommen, P a u l Lindau, einen Autor, d e r überall, wo deutsche Sprache gilt, g e r ü h m t wird, als wissenschaftliches Objekt zu n e h m e n u n d , da seine öffentliche B e d e u t u n g ausser Zweifel steht, seine innerliche B e d e u t u n g zu untersuchen.« 4 5 Zusammen mit d e m Verlust an Lesefähigkeit, so Goldschmidt, sänke die Kunst des Schreibens zu einem bloßen H a n d w e r k herab. Lindau galt ihm als ein P a r a digma dieses Vorgangs. Stilistisch d u r c h a u s begabt, bediene Lind a u das oberflächliche (Großstadt-)Publikum, obwohl seine F ä higkeiten d a r ü b e r hinauswiesen. Seine Kritik sei eine »Persiflage der Kritik«, »ihm fehlt . . . der echt h u m a n e Sinn, welcher selbstlos seine F r e u d e an dem Schaffen Anderer empfindet«, und das Gefährlichste sei, d a ß er ausschließlich persönlich argumentiere. 4 0 Goldschmidt, in seinen Beobachtungen zutreffend u n d genau, sah in Lindau den V e r t r e t e r einer L i t e r a t u r , die den allgemeinen Niveauverlust des deutschen Publikums (nach dessen Gründen er im übrigen nicht fragte) geschäftsmäßig forciere. Unfähig, ein K u n s t p r o d u k t auf seinen Gesamtwert hin zu erwägen u n d zu beurteilen, »macht er sich dem Ungeschmack des Publicums, der an seiner Methode enthusiastischen Gefallen findet, d i e n s t b a r u n d liefert . . . bestellte Waare« 4 7 . Der Kalauer ersetze das eigentliche Urteil u n d beschleunige den Niveauver-
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lust. Und Goldschmidt zitierte auch, um das Behauptete zu belegen. Natürlich verdrängte der Witz die Sache, wenn Lindau anläßlich einer Richard-Wagner-Inszenierung mokant geplaudert h a t t e : »'Rheingold' ist in München aufgeführt worden: es scheint mir weniger Rheingold, als das reine Blech zu sein.« 48 Auf der anderen Seite dachte Goldschmidt in Kategorien einer »Kunstperiode«, die den Dichter als edlen Menschen mit bedeutenden Gaben ausgestattet wissen wollte, und war so über Lindaus Wirksamkeit im Kontrast zur eigentlichen Befähigung erstaunt. »Wie der Gott Irdisches zu sich in seine Glanzsphäre zieht, so versucht Lindau Hohes zu seiner Sphäre herabzuziehen.« 49 Die Schuld am gegenwärtigen Zustand deutscher Literatur teilten sich laut Goldschmidt das »ideallose klatsch- und scandalsüchtige Curspublikum« 50 und Lindau, der fast diabolische Züge eBhielt. Lindau avancierte zum Diener des »Gemeinen« 51 . Die Angriffe gegen ihn belegen eins: Seine Popularität in der Presse und auf der Bühne lud zur Auseinandersetzung ein. Theodor Fontane, als Theaterkritiker der Vossischen Zeitung Kollege Lindaus, h a t dieser Periode Lindauscher Vormacht die Bezeichnung »Werdestadium« 5 2 zugewiesen. Dieses erst später, nach Gerhart Hauptmanns spektakulärem Bühnenerfolg, getroffene Urteil erhellt Lindaus Situation auf dem Gipfel seiner Anerkennung. Der von ihm bevorzugte Stücktyp hatte sich auf dem Theater durchgesetzt, ohne die allgemeine Misere der dramatischen Kunst zu beseitigen. Indem Lindau jedoch, weiter witzig und aggressiv, diesen Typ protegierte und dabei alle Register seiner Macht zog, war die Kollision mit darüber hinausreichenden Ansprüchen vorprogrammiert. E r muß die noch verhalten einsetzende Zuspitzung gespürt haben: Seine Rücksichtslosigkeit in der Kritik bekam hemmungslosere Züge, und seine Unternehmungslust verlor an Orientierung. Selbst sein Bekanntenkreis vereinte in den nächsten Jähren so viele Gesichter, daß er Gefahr lief, gesichtslos zu werden. Die erste Phase öffentlicher Auseinandersetzung um Paul Lindau erhielt zusätzliches Kolorit durch den spöttisch-ironischen Umgang mit seiner Karriere. Der den Witz popularisierte, wurde selbst zum Gegenstand von Witzeleien. Eine symptoma-
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tische Weise des ironischen Spiels mit seiner Person und seiner öffentlichen Selbstdarstellung lag im Vergleich mit Lessing. Johannes Plerr z. B . veröffentlichte 1880 eine Satire mit dem beziehungsreichen Titel Herr Doctor Paul Lindau der umgekehrte Lessing53. Plerr nahm den Theaterreformer Lindau und wog ihn gegen den »-klassischen« Lessing auf. Der hätte dereinst die Franzosen von der deutschen Bühne vertrieben, die nun Lindau durch die Hintertür und doch sehr öffentlich wieder hineinließe. Die von Lindau betriebene Französierung der deutschen. Dramatik machte ihn in den Augen Plerrs — und man darf gewiß sein, nicht nur in seinen — zum kulturellen Verräter. In welchem Maße Person und Bewegung in allen sozialen Bereichen verwechselt wurden, belegt der Anklagepunkt, der behauptete, »daß die Entwicklung deutscher Poesie/Du stets zu hindern strebtest ohne Wanken . . Aber er beweist auch, inwieweit man Lindau mit dieser voll Unbehagen beobachteten Entwicklung identifizierte. Spottverse, die ebenfalls den Lessing-Vergleich als Grundmuster bemühten, hatte E. 0 . Konrad in seiner Broschüre überliefert. Durch die kalkulierte Wirkung des Schnaderhüpferl wird Lindau ebenso ironisiert wie durch die wenig rätselhaften Initialen: J a , der L' und der L " , oh! die sind sich ganz gleich, Nur der L', der war arm, und der L " , der wird reich. Und der L', der war Dichter und glaubt's nicht zu sein. Aber der L " , der ist keiner, doch bild' er sich's ein. Und der L', der stritt offen, doch der L " hinterrücks, Und der L', der wüßt' Alles, doch der L " , der weiß nix. Und der L' war ein Mann, doch der L " ist ein Fant. Und der L ' that bescheiden, doch der L " arrogant, Und der L' hat mit Götzen, dem Pfaffen, 'ne Hetz, Doch der L " ist Literaturpfaff und selber ein Götz, Und der L ' ist ein Stern, der am Himmel bleibt stehn, Und der L " ist und bleibt ein Tischruckphänomen. 55 Für die Zeitgenossen bestand kein Zweifel, wer L ' und wer L " war — doch wird das Koordinatensystem, in das man den Gegen-
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waris-Redakteur einzuordnen suchte, so manchen verwundert haben. Die Einwände kamen zwar aus unterschiedlichen Richtungen, verweisen aber auf einen Polarisierungsprozeß innerhalb des literarischen Lebens, der bereits Mitte der 70 er Jahre einsetzte. Ob die gegen Lindau gerichtete Kritik aus der unmittelbaren Theaterpraxis erwuchs oder sich eines wissenschaftlichen Apparates bediente — im Mittelpunkt stand die »moderne Gesellschaft«, die man statt in einer neuen nationalen Blüte in ihrem kommerzialisierten profanen Zustand erlebte. In Lindau glaubte man diesen Zustand personalisiert. Als Literaturkritikerund Dramatiker hatte er seinen Zenit erreicht. Daß er al'es andere als ein hinwegzuspöttelnder Scharlatan war, wird im weiteren deutlich, wenn die Gruppe der Kritiker zur Sprache gebracht wird, die nicht allein ihren Unwillen gegen den »-Matador« aussprach, sondern konzeptionelle Angebote zur Behebung der Misere entwickelte: die Naturalisten und Theaterpraktiker in deren Umkreis. Formierung der naturalistischen Kritik Zu Beginn der achtziger Jahre verengte sich der bislang mögliche Spielraum öffentlicher Kunstpraxis. Im Sog der Gründerjahre hatte sich eine Kulturszene entwickelt, die deutlich von kommerziellen Spuren gezeichnet war. Mit dem augenfälligen Umschwenken Bismarcks in das Lager des Junkertums und der Schwerindustrie änderte sich auch der ideologische und kunstpolitische Reflex auf die Verhältnisse. Dem Taumel des großen Aufbruchs und Selbstwertgefühls folgte eine Ernüchterung, die das kritische Bewußtsein schärfte. Relative ökonomische Sicherheit begünstigte die intensivierte Uberprüfung des Anspruches, mit dem man glaubte, angetreten zu sein. Der Zustand allerdings, der auf dem nichtökonomischen Feld konstatieit wurde, führte zu schwerwiegender und weitreichender Kritik. Die Verschärfung klassenpolitischer Auseinandersetzung einschließlich der Einführung des Sozialistengesetzes schuf ein Klima, in dem sich auch die kunsttheoretische und • -praktische Diskussion verstärkt in das Kraftfeld politischer 106
Gegensätze begab. Das T h e a t e r , ehemals als Podest bürgerlicher Selbsterfahrung u n d Selbstdarstellung apostrophiert, geriet dabei ins Kreuzfeuer der Kritik. Hier schienen sich die Anlässe allgemeiner Unzufriedenheit mit dem K u l t u r z u s t a n d der d e u t schen N a t i o n gebündelt u n d exemplarisch der Analyse anzubieten. Ob es die als B e d r o h u n g e m p f u n d e n e Kommerzialisierung des Kunstbetriebs war oder das Verflachen u n d die Trivialisierung einst heilig gehaltener Ideale: das T h e a t e r lieferte Beispiele, die plastisch den Verfall vor Augen f ü h r t e n . In P a u l Lindau sah m a n n u n den R e p r ä s e n t a n t e n eben jener Verhältnisse, die einer k u l t u r - u n d kunstkritischen Revision u n t e r w o r f e n wurden. Es ist bemerkenswert, d a ß sich die Kritiker dieser Angriffsstrategie n u r so lange bedienten, bis das allgemeine Interesse an der Diskussion erwacht war. Bereits nach dem zweiten Kritischen Waffengang der Brüder H a r t verlagerte sich die A u f m e r k s a m k e i t von der Person weg auf die B ü h n e n v e r hältnisse selbst. In den achtziger J a h r e n vollzog sich der Prozeß, der Lindaus exponierte Stellung u n t e r g r u b . Wichen die Kritiker der siebziger J a h r e im wesentlichen noch auf ein regressives Muster aus, das sie der Vergangenheit entlehnten (etwa der deutschen Klassik), so v e r f ü g t e n die Unzufriedenen der achtziger J a h r e über Neuangebote. »Daß P a u l Lindau u n d Gerhart H a u p t m a n n Gegensätze sind, würde m a n wissen, auch wenn nicht der ältere A u t o r sich kritisch ü b e r d e n jüngeren geäußert hätte«, schrieb O t t o B r a h m 1889 in der Nation. »Zwischen dem Gesellschaftsd r a m a des einen u n d dem sozialen D r a m a des a n d e r e n gibt es keine Versöhnung . . .« 56 Vorher h a t t e n schon Karl Henckell u n d H e r m a n n Conradi in den Einleitungen zu den Modernen Dichtercharakteren (1885) das Bild eines neuen Dichterideals entworfen — u n d zwar im K o n t r a s t zu P a u l L i n d a u : »Daß ein Dichter begeistern, hinreißen, mit ein p a a r herrlichen aus den u n e r g r ü n d lichen Tiefen einer geistes- u n d ideentrunkenen Seele h e r v o r s t r ö m e n d e n W o r t e n d i c h machtvoll zu erhabener Ansicht zwingen u n d dir s ü ß m a h n e n d gebieten soll, dich zu beugen vor der U r k r a f t , die in ihm wirkt und schafft, wer in aller Welt h a t dich jemals darauf a u f m e r k s a m g e m a c h t ? Der Berliner J o u r n a l i s t 107
Paul Lindau jedenfalls nicht, und auf diesen Mann der Gegenwart schwörst du doch in Nord und Süd unseres theuren deutschen Vaterlandes?« 57 Was bis 1880 noch mit distanziertem Verständnis (wenn schon kein Wohlwollen mehr vorhanden war) beobachtet würde, erschien vielen wenige Jahre später unerträglich. Schlag auf Sclila'g organisierte sich eine Bewegung, die sich mit Hilfe zahlreicher — wenn auch meist kurzlebiger — Zeitschriftenprojekte öffentliches Gehör zu verschaffen suchte. Den Schritt zum Naturalismus, in Deutschland eingeleitet durch eine umfängliche und differenzierte Zola-Rezeption, vermochte der Kritiker Nr. 1 in Berlin nicht mitzugehen, obwohl er doch — paradoxerweise — zu den ersten gehörte, die Emile Zola in der deutschen Presse erwähnten. Kenner der französischen Gegenwartsliteratur, hörte seine Sympathie auf, wo Zola anfing. Den spektakulären Erfolg, der Nana in kürzester Zeit beschieden war, konnte Lindau nicht übersehen — und so widmete er dem Verfasser und dessen Werk mehrere Spalten in der Gegenwart. Ohne einen Zweifel über seine Meinung aufkommen zu lassen, war sieh der Rezensent darüber im klaren, daß Erfolg im eigentlichen Sinne nicht widerlegbar ist. Die Gefahr einer »Mitschuld« auf sich nehmend — an die läuternde Wirkung von Kritik glaubte Lindau nicht, und um ihre Reklamefunktion wußte er nur zu genau—, unterteilte er seine Kritik in zwei große Teile, von denen vornehmlich der erste interessiert. Dort lieferte der ansonsten sehr auf Freizügigkeit im künstlerischen Schaffen orientierte Lindau einen nachgerade klassischen Verriß des naturalistischen Kunstprinzips, dessen Verfechtern er unumwunden eine »Vorliebe für das Ekelhafte und Zotige« 58 vorwarf. Sie sprächen das aus, was an und für sich schon widerlich genug wäre — aber das könnte schließlich jedes Fischweib auf dem Markte oder jeder Trunkenbold. Lindau gab die Argumente vor, deren sich wenige Jahre später nahezu alle Kritiker des Naturalismus bedienten. Indem er Zola Genuß an den Grenzüberschreitungen »des Schicklichen« 59 unterstellte, denunzierte er den Autor, ohne den Wahrheitsgehalt des Textes überprüfen zu wollen. »Die naturalistische Muse wälzt sich im Dünger, und es ist ihr dabei
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'so k a n n i b a l i s c h wohl als wie f ü n f h u n d e r t S ä u e n ' . « 6 0 F r i v o l i t ä t war d i e s e m Rezensenten d e r Nana nicht mehr n a c h z u s a g e n , d e r sich nun — u n d L i n d a u s auf Moral b e d a c h t e P o s e ist nicht ohne unfreiwillige K o m i k — als T u g e n d wächter a u s p r o b i e r t e , d e r v o r dieser » k r a n k h a f t e ( n ) A u s s c h r e i t u n g , Verwilderung und Verwirrung der L i t e r a t u r « 6 1 warnte. Doch L i n d a u s K u n s t s i n n ging zweifelsfrei weit genug, zwischen der naturalistischen S c h u l e (die er nicht weiter namentlich auswies) und d e m A u t o r der Nana zu unterscheiden. D e m bescheinigte er nämlich, wohl nicht ohne K r i t i k e r - S c h ü t t e l f r o s t , ein »außergewöhnliche(s) und m ä c h l i g e ( s ) Talent«62. E n d e der siebziger J a h r e v e r w u n d e r t L i n d a u s B e s p r e c h u n g wenig. D a s s p e k t a k u l ä r e N e u e stieß auf breiten W i d e r s t a n d , d e m er sein W o r t lieh. Als er j e d o c h 1882 nicht zögerte, seinen Z o l a - E s s a y z u s a m m e n m i t der Nana-Rezension erneut zu publizieren 6 3 , t r a t e n ihm bereits die Wegbereiter eines d e u t s c h e n N a t u r a l i s m u s entgegen. Widerspruchsvoll in sich, h a t t e dieser doch g e r a u m e Zeit einen g e m e i n s a m e n B e z u g , und d a s w a r — E m i l e Zola. Zum H e m m n i s wurde P a u l L i n d a u nicht, weil er diese a b l e h n e n d e Meinung v e r t r a t — sie war die g e l ä u f i g e : J u lius R o d e n b e r g s E m p ö r u n g beispielsweise fiel noch weitaus gewichtiger a u s —, sondern weil seine Position diese Ansieht zur Verbindlichkeit erhob. Die P r i v a t m e i n u n g a b e r z u m öffentlichen u n d eingängigen P o s t u l a t erhoben, zog die Angriffe auf den, d e r sie äußerte. Man a t t a c k i e r t e P a u l L i n d a u , die » I n s t i t u t i o n « . Die erste Wortm e l d u n g der sich formierenden naturalistischen B e w e g u n g g e g e n L i n d a u erfolgte durch die B r ü d e r Heinrich u n d J u l i u s H a r t in den Kritischen Waffengängen (1882). Die H a r t s setzten g e n a u d a m i t ihrer K r i t i k ein, wo L i n d a u als ernst zu n e h m e n d e r M a c h t f a k t o r im sozialen G e f ü g e der R e i c h s h a u p t s t a d t Berlin a u f t r a t . Seine, » F ü h r e r s t e l l e in unserer L i t e r a t u r « 6 4 (10) wurde nach ihrer gesellschaftlichen K a u s a l i t ä t b e f r a g t . Der G e s e l l s c h a f t s z u s t a n d nach 1871 v e r k n ü p f t e sich so m i t seiner T ä t i g k e i t und W i r k s a m keit. » D i e Zeit, in welcher er erschien«, hieß es gleich a m A n f a n g , » k a m ihm entgegen, sie war wie eine Dirne, die sich in j e d e n verliebt, der, ihr Genuß, wenn a u c h nur flüchtigen, v e r s p r i c h t .
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Berauscht von Siegen und Triumphen war ein großer Theil unseres Volkes . . . einem Taumel verfallen, der alles verschmähen ließ, was nicht die Sinne kitzelte . . .« (10). Die Harts konzentrierten sich auf Lindaus öffentliche Rolle, die sie aus der Bedeutung der von ihm »geschickt« (12) redigierten Gegenwart ableiteten. »Sein Geist hat beinahe unsere gesamte Kritik durchsetzt, direkt und indirekt beeinflußt-« (42). Das wurde als Verhängnis gesehen, verhängnisvoll für die Entwicklung und das Niveau des deutschen Theaters, verhängnisvoll für die deutsche Kultur und damit verhängnisvoll für das deutsche Volk. »Literarische Halbbildung«, »nichts wissende Salonbildung« (38) waren die Erscheinungen, gegen die sich die Polemik der Harts richtete. In ihrer Absicht, das Theater und die Theaterkritik wieder zu Organen nationaler Kultur zu verwandeln, gingen sie von hohen Ansprüchen aus. »Es ist an der Zeit«, schlössen die Harts diesen Waffengang, »daß sich die Besseren unter uns aufraffen gegenüber den Männern, die n u r schreiben, um zu schreiben, nur kritteln um zu verdienen, denen die Literaturentwicklung unseres Volkes kein Heiliges ist, für das man Gunst und Genuß aufopfert, für das man Angriffe beliebichster Art und alle Wuth der Coterie getrost erleidet, sondern denen nichts höher steht, als ihr erbärmliches Ich, mag äuch das Piedestal ein Kehrichthaufen sein« (43). Unmittelbar im Zusammenhang mit der Attacke gegen Lindau veröffentlichten die Harts im ersten Teil des zweiten Waffenganges einen offenen Brief an den Fürsten Bismarck, in dem sie ihr Angebot zur Aufhebung der miserablen Zustände unterbreiteten. Die bislang von der Literaturwissenschaft widerspruchslos akzeptierte Wertschätzung der Leistung der Brüder Hart in den Waffengängen ist zu relativieren, überprüft man sie am vorliegenden Fall. Wo die Harts Lindau kritisierten, gingen sie nicht über bereits Vorgeworfenes hinaus. Unberücksichtigt ließen sie dessen kontroverse und wegwerfende Kritik am französischen Naturalismus und Emile Zola und wiederholten den Kanon bekannter Anklagen. Im Versuch, konstruktiv zu werden — so im Brief an Bismarck —, verfehlten sie aus ihrem regressiven Kunstkonzept heraus die Entwicklungsnotwendigkeiten eines auf Kapital gegründeten 110
bürgerlichen Theaters. Das zeigte sich besonders deutlich in ihrer Ablehnung der Gewerbefreiheit für den Betrieb von Thealern als auch in ihrer an den Reichskanzler gerichteten Forderung nach geordneter Staatshilfe und der Gründung eines dafür zuständigen Reichsamtes. Nicht die forciert zu betreibende Herausbildung moderner, flexibler Theaterverhältnisse war ihr Ziel, sondern die offizielle Einrichtung einer national-staatlichen Theaterinstitution. Mit diesem eher konservativen Ideal ließ sich den neuen Bedingungen der achtziger Jahre kaum noch begegnen. Jedoch das Bewußtsein, in einer Theaterkrise zu stecken, setzte sich durch. Im Gegensatz zu den Brüdern H a r t versuchte Paul Schienther wenige Jahre später das Augenmerk auf einen anderen Zusammenhang zu lenken. Bemühten die Harts ein Ideal, das vor der Realität der Verhältnisse nicht bestand, so suchte Schienther den Weg zu den möglichen Quellen des Theaters: »Die Schaubühne als volkstümliche Anstalt betrachtet«. Indem er die Bedingungen Berlins auf geschichtliche und traditionelle Voraussetzungen zurückführte — vom Fischerkietz zur Weltstadt —, sprach er sich für die Wiederbelebung des Volkstheaters aus, dessen Wurzeln er auch im Possenspiel und im Schwank sah. Für ihn legitimierte sich der Rückgriff auf französische Lustspiele, um aus ihnen zu lernen, durch den Nutzen — von»teutonische(m) Wehgeheul-«65 wollte er sich dabei nicht aufhalten lassen. Obwohl die Rede von »Machwerke(n)« ist und »von einer geburtshelferischen Kritik« 66 , die nichts Lieberes tue, als die Harmlosigkeit der Stücke zu bescheinigen, fällt der Name Lindaus nicht. Aus der gewählten Sicht auf die Situation verlieren Person und Stellung Lindaus ihren repräsentativen Charakter. Mit ihnen läßt sich für Schienther offensichtlich nicht mehr der Zustand hinlänglich beschreiben, für dessen Beseitigung er ohnedies Vorschläge unterbreitet, die denen des frühen Lindau nicht konträr gegenüberstehen. Das Publikum und die konkreten Theaterstadtbedingungen in die Überlegungen einzubeziehen, d. h. den Chancenreichtum theatralischer Unternehmungen zu testen — das war ein Programm, für das Lindau Vorarbeiten geleistet hatte. Ebenfalls die Zurücknahme antifranzösischei Akzentuierungen, in denen man Momente eines politischen Konzepts erblicken kann,
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mochten Schienther bewogen haben, seinen Situationsbericht ohne die geläufige Anti-Lindau-Wendung zu verfassen. Aber auch Paul Lindaus Verhalten selbst gab der direkt auf ihn bezogenen Kritik nicht mehr so viel Nahrung. 1881 war er aus der Redaktion und der Autorenliste der Gegenwart ausgeschieden. Für die Gegenwart, obwohl man ihn weit in die achtziger Jahre hinein mit dieser Zeitschrift identifizierte, schrieb er keine Zeile mehr. Nach einer kurzzeitigen Verantwortlichkeit für das Kunstreferat der Kölnischen Zeitung übernahm er die Theaterkritik im Berliner Tageblatt. Trotz def ungewöhnlich hohen Auflage (60—70000; zum Vergleich Franz Mehrings Volks-Zeitung 22000) signalisierte dieser Schritt einen Wechsel vom großen auf das kleine Podium. Gleichzeitig knüpfte Lindau an die Mode der Berlin-Romane an und bediente den für ihn offenstehenden Markt mit Novellen. Ohne die Vorteile seiner zehnjährigen exponierten Stellung aufzugeben, entzog er sich doch dem Rampenlicht. Offensichtlich nahm er den schärfsten Kritikern den Wind aus den Segeln, indem er den Anspruch, d a s theatralische Rezept in der Tasche zu haben, fallenließ. So verlor er Mitte der achtziger J a h r e an Repräsentativität, ohne als »-Inbegriff« der Epoche zwischen 1871 und 1880 aus dem öffentlichen Bewußtsein gelöscht zu werden. Die Entwicklung des Theaters freilich, mit dem Lindau auf unerlaubte Weise als Dramaturg (bei gleichzeitigem Wahrnehmen des Kritikeramtes!) verbunden blieb, war an ihm vorbeigegangen. Die von Maximilian Harden publizierte Schrift Berlin als Theaterhauptstadt67 bestätigte dann 1888 den interessierten Zeitgenossen, was der kritische Beobachter des Bühnenwesens seit beinahe einem Jahrzehnt wußte: Das Theater war zu einem kommerziellen Unternehmen geworden, mit dem sich gut spekulieren ließ — u n d : Berlin lag nach wie vor hinter Paris im Kampf um den Anspruch, Theaterhauptstadt zu sein. Von einem — wie Harden es verstand — zeitgemäßen, d. h. sich an den mit der Reichsgründung von 1871 verbundenen nationalen Erwartungen orientierenden Theater konnte immer noch nicht die Rede sein. Auch daß die Königlichen Schauspiele mit ihren unangemessenen Privilegien weit davon entfernt waren, ein Nationaltheater zu repräsentieren, 112
fand mittlerweile kaum noch ernsthaften Widerspruch. Seit dem Diskussionsauftakt Ende des vorangegangenen Jahrzehnts hatte sich nichts Wesentliches geändert. »Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen!« 68 Paul Lindau hatte sich einmal gerühmt, in Amerika spräche man nur von zwei Personen — von Bismarck und ihm. 69 Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, daß beide für einen bestimmten Abschnitt reichsdeutscher Entwicklung stehende Berühmtheiten nun auch kurz hintereinander den Abschied nehmen mußten. Die Lebensführung Lindaus hatte die Boulevardpresse schon früher gelegentlich beschäftigt. Otto Brahm fand das Wort vom •»fröhlichen Weltkind-«70. Ausgerechnet eine seiner Affären sollte den Ausschlag geben f ü r seinen Weggang aus Berlin, jener Stadt, der er alles verdankte. Für das Gesamtverständnis des Falls ist die Vorgeschichte notwendig: Im Herbst 1888 kommt die junge Schauspielerin Elsa von Schabelsky, gebürtige Russin, nach Berlin, um ein Engagement am Residenztheater unter Direktor Lautenberg anzutreten. Sie schließt Bekanntschaft mit Paul Lindau, und die beiden gehen ein Verhältnis ein. Nach einem J a h r löst die Schauspielerin die Verbindung mit der Begründung, daß es ihr nicht reiche, nur die Geliebte zu spielen. Nicht ohne emanzipatorisches Engagement strebt sie nach künstlerischem Ruhm und Erfolg. Daraufhin schreibt ihr Lindau einen Brief, in dem er sie auffordert, umgehend Berlin zu verlassen. Ihm sei es unmöglich, ihre Vorstellungen zu besuchen und sich den kompromittierenden Blicken der Zuschauer auszusetzen. Verbunden wird die Aufforderung mit dem Versprechen, sie in einem nicht-hauptstädtischen Theater unterzubringen, was für ihn keine Schwierigkeit sei. Schabelsky lehnt ab. Wenig später wird ihr von Ludwig Barnay, dem Direktor des Berliner Theaters, gekündigt. Die versprochene- Hauptrolle in Lindaus Gräfin Lea wird ihr entzogen. Ihre Weigerung trägt die ersten bitteren Früchte. Ein Stück* das sie in der Zwischenzeit schreibt — Ein berühmter Mann11 —, wird von den Theaterdirektoren Oskar Blumenthal und Ludwig Barnay mit der 8
Wruck, Leben, Bd. I
113
Begründung abgelehnt, daß die persönlichen Anspielungen auf Lindau zu weit gingen. Die Bekanntschaft mit Maximilian Harden ausnutzend, sucht Elsa von Schabelsky den Weg in die Öffentlichkeit. Harden wendet sich an den seines Erachtens hervorragend geeigneten Chefredakteur der Volks-Zeitung, die während der Zeit der Sozialistengesetze eine oppositionelle Tendenz umsichtig wahrzunehmen verstand: Franz Mehring. Ein kleiner Artikel im Sommer 1890 bleibt folgenlos. Erst die auszugsweise Veröffentlichung von Privatbriefen löst einen Skandal aus. Mehring konzentriert sich auf die entscheidenden Stellen. Gezielte Aufmerksamkeit widmet er Lindaus Versuch, die mißliebige Schauspielerin aus Berlin zu verdrängen, den Mehring in Verbindung mit Bismarcks Ausweisungspraxis während der Zeit der Sozialistengesetze bringt. Er attackiert das Beziehungsgeflecht, in das er Schauspieler, Theaterdirektoren und Kritiker verstrickt sieht, und die Inanspruchnahme der Presse für die Erfüllung persönlicher Wünsche und Absichten. Mehring läßt seinen Zeitungsartikeln auf schnellstem Wege eine Broschüre mit dem Titel Der Fall Lindau72 folgen. Der Versuch Lindaus und seiner Freunde, die Veröffentlichung zu verhindern, mißlingt. Der Fall liegt gedruckt und geheftet vor und verlangt nach Stellungnahme. Elsa von Schabelsky reagierte, wie gesagt, mit einem gegen Lindau gerichteten Theaterstück. Dienlich waren ihr dabei privateste Kenntnisse des »-Menschen« Lindau, und sie zögerte nicht, sich dieser weidlich zu bedienen. Die Kulissen in Lindaus Leben wurden zu Kulissen der Bühne; was ein Stück werden sollte, wurde ein Pasquill. Zentrale Figur im Stück ist ein Berliner Dichter auf dem Gipfel seines Ruhmes, der keine andere Funktion hat, als die Verwerflichkeit seiner Eigenschaften auszustellen: Eitelkeit, Gefallsucht, Maßlosigkeit, Intriganz und Arroganz. Der Künstler ist zum Verwalter seiner Macht geworden und zaudert nicht lange, alles und jeden vor seinen Karren zu spannen. Die Dreiecksgeschichte, in die seine Frau gerät, bemüht ein traditionelles Sujet, um die Zurschaustellung verwerflicher Gebaren wenigstens behelfsmäßig in ein dramaturgisches Konzept einzubetten. Eingeflochten in die Dialoge zwischen den
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Ehepartnern wird das Thema Literatur und dabei besonders die Diskussion um die »neue Richtung«: den Naturalismus. Er — dagegen, sie — dafür. Elsa von Schabelsky brachte hier eigene S y m pathien zum Ausdruck, ohne daß sie je als Autorin einer ganzen Reihe dramatischer T e x t e naturalistische Kunstprinzipien bewußt angestrebt hätte. Die gefühlsmäßige Neigung zu sozialdemokratischen Tendenzen schlug sich in einem anderen Stück nieder, das 1894 öffentliches Ärgernis erregte und unter polizeiliches Verdikt fiel. Nothwehr — so der Titel — nahm sich der Zustände im preußischen Militär an und tat dies in Form eines Volksstückes. Obwohl das Muster klassisch und das Ende harmonisierend war — durch Machtmißbrauch versuclit ein preußischer Unteroffizier seinem Rekruten die Braut auszuspannen und wird daraufhin von jenem in einem A n f a l l von Tollheit umgebracht; ein hoher Offizier, als Deus exmachina, rettet ihn voi dem Strang —, witterte die preußische Zensur genügend Zündstoff. Eine öffentliche A u f f ü h r u n g 7 3 schien ihr darin nur recht zu geben. Paul Lindau unternahm, nachdem sein »Fall-« publik geworden war, einige Schritte, den möglichen Wirkungen zuvorzukommen. Seine weitreichenden
Verbindungen
kamen diesem
Bemühen
entgegen. Ludwig Barnay hatte Elsa von Schabelsky im März 1890 gekündigt. In einer öffentlichen Erklärung bestritt er jeglichen Zusammenhang zwischen dieser Kündigung und dem Fall. Mit dieser Erklärung ging Lindau zum Verein Berliner
Presse74,
und dessen Ehrengericht sprach ihn am 2. September 1890 frei. Dieser Vorgang war nicht mehr als eine Farce, wie Mehring nachwies, da die Vermögensbestände des Vereins und damit seine existentielle Grundlage»zu einem erheblichen Theile aus den Gefälligkeiten von Theaterdirektoren, Schauspielern usw. herrühren«. 75 Dieser Freispruch war der erste Veisuch Lindaus, den
Kelch
von sich abzuwenden. Von einem weiteren wußte Mehring in der Abendausgabe der Kreuzzeitung(l) Ein Mann des Berliner
v o m 14. Oktober zu berichten.
Börsen-Courier,
Freund und Vertrauter
Lindaus, natte ihn, Menrmg, atligesucnt, um ihn von der
Ver-
öffentlichung seiner Broschüre gegen Lindau abzuhalten.
Ein
zweiter Besucher — diesmal ein Korrespondent der Zeitung
8*
Frankfurter
— versuchte, Lindaus Machenschaften in ein günstigeres 115
Licht zu rücken. Auf diesem Wege engagierte sich die Berliner Presse für Lindau. Wenn Mehring vom »Lindau-Ring« 76 sprach, dann galt das auch in diesem Zusammenhang. Lindau brauchte sich gar nicht in vorderster Front für die Wahrung seiner Interessen einzusetzen. Das Nest, in das Mehring gestochen hatte, war aufgescheucht genug, Lindaus Fall als den eigenen zu verteidigen. Die Frontenbildung verlief nicht ohne Überraschung. In der Diskussion setzte sich der Ton durch, den Otto Brahm in einem seiner zu diesem Skandal verfaßten Artikel in der Freien Bühne anschlug. • Bei ihm fand eine ausgesprochene Relativierung des Falls statt. Daß Presse und Theater derartig verknüpft seien, könnte nicht als Neuigkeit bezeichnet werden, denn »schlimmere Dinge, wir wissen es wohl alle, bringt jeder Tag, und es ist die pure Heuchelei, nun Einen als Sündenbock zu nehmen, der zufällig das Pech gehabt hat, vertrauensselige Briefe an eine gefährdete Adresse zu schreiben« 77 . Daß Lindau, wie der vom Fach kommende Fritz Mauthner schrieb, »im Grunde ein guter Kerl« 78 sei, fand in der liberal gestimmten Gruppe seiner Zeitgenossen (und nicht nur dort) Zustimmung. Trotz dieser Fürsprache von verschiedener Seite zog Lindau die Konsequenzen. Er verließ Berlin. Nachdem er kurz in Dresden Station gemacht hatte, trat er eine Orientreise an, der fast ohne Unterbrechung ein längerer Amerikaaufenthalt folgte. Dort hatte ihn eine große Eisenbahn-Gesellschaft als Reklame-Novellisten engagiert. Erst Jahre später kehrte er nach Berlin zurück, um noch einmal — und diesmal als Theaterdirektor erst des Berliner, dann des Deutschen Theaters — Bühnenabsichten zu realisieren. Ohne Erfolg. Mit dem Durchbruch Max Reinhardts gehörte Paul Lindau, obwohl noch in Berlin tätig, endgültig einer vergangenen Epoche an. Die Dimension, in der dieser Fall zu sehen ist, wird deutlich, zieht man Mehrings Argumentation zu Hilfe. Mehring war in diesem Polemikfeld derjenige, der mit dem Theatermilieu im engeren und weiteren Sinne nichts zu tun hatte. Seine erste Schrift zu dem Fall entstand aus dem ausgesprochenen Wunsch, einen Mißstand aufzudecken, an dessen mögliche Beseitigung er glaubte. Für ihn handelte es sich um eine soziale Angelegenheit, 116
die politische Tragweite-besaß. Mehrings Sorge war, daß Kunst und Presse in einen Prozeß der Kapitalisierung gerieten, den er als Ausverkauf bürgerlichen Demokratieanspruches deutete. Aus diesem Blickwinkel heraus verstand er Lindau als Repräsentationsfigur dieses Vorgangs und beurteilte ihn nicht als Persönlichkeit, sondern als Machtfaktor, der in verhaßter Bismarckscher Manier eine andere Form von Ausweisungspolitik praktizierte. Soweit waren die liberalen Blätter wie z. B. die Dansiger Zeitung, die Freisinnige Zeitung und auch die Frankfurter Zeitung bereit, ihm zu folgen. Die Mißstände — Manipulation an den Theatern, Herrschaft einzelner Theaterdirektoren und Presseleute, Gagen- und Engagementpolitik u. ä. —, auf die Mehring ja nicht als erster hinwies, erregten noch keine Beunruhigung. Erst als Mehring die soziale Komponente betonte, als er Elsa von Schabelsky als »sozialen Typus« beschrieb, als er den Mißstand mit der Gesellschafts- und Staatsordnung in einen kausalen Zusammenhang brachte, scherten diese Zeitungen aus. Mehring saß nach der Veröffentlichung der Broschüre zwischen zwei Stühlen, denn soweit seine Kritik auch ging — sie vermied es doch, ausdrücklich sozialdemokratische Positionen zu beziehen. Noch vertraute er der Wirksamkeit journalistischer Aktionen unter bürgerlich-demokratischem Vorzeichen. Eindeutig liest sich die Haltung der Sozialdemokratie sowohl zu den Zuständen als auch zum Fall Paul Lindau in einem mit K. K. gezeichnet e n Artikel der Neuen Zeit.19 Hier wurden die Theaterdirektoren als Großkapitalisten bezeichnet und die Schauspieler »in ihrer großen Mehrheit als Lohnempfänger« gesehen. Die Schauspielerinnen-Frage wurde begriffen als »ein Stück Frauenfrage« 8 0 . Der Verfasser bezog gesellschaftspolitische Feststellungen auf die Bühne und fand sich durch die Fakten bestätigt. »-Für die Mehrzahl der Kritiker, wie der Journalisten überhaupt, ist ihr Beruf ein Geschäft, wie jedes andere. Sie handeln mit 'öffentlicher Meinung' und 'Überzeugung', wie Andre mit Schnaps oder Wolle.« 81 Logischerweise liegt in dieser Argumentation die Lösung des Übels auf rein politischem Gebiet — im Klassenkampf. Lindau wurde somit zu einer Spielfigur, die zu beseitigen nur durch grundlegende Änderung des »Spiels« selbst möglich würde. 117
Daß die Mißstände in den Verhältnissen lagen, daß sie somit auch Systemcharakter hatten i^nd nicht allein Begleiterscheinung einer ansonsten funktionierenden Gesellschaft waren, mußte Mehring am eigenen Leibe erfahren. Die Versuche der bürgerlichen Presse, aus dem Fall Lindau einen Fall Mehring zu machen, schienen Früchte zu tragen. Die Absicht war, seine materielle Existenz zu erschüttern und die Integrität seiner Person in Zweifel zu ziehen. Wenige Monate nach Veröffentlichung der Lindau-Broschüre ließ Mehring infolgedessen eine zweite, das »Nachspiel zum Fall Lindau« 82 schildernde Schrift erscheinen. Erklärter Ausgangspunkt war noch immer die Hoffnung, über die Parteiengrenzen hinweg der Kapitalisierung des Pressewesens zu begegnen. Aber die Annäherung an sozialdemokratische Positionen war unverkennbar. Es war dem Lindau-Ring — und aus heutiger Sicht kann das nicht überraschen — tatsächlich gelungen, Mehring in eine auf den ersten Blick fast aussichtslose Zwangslage zu versetzen. Ein Räderwerk objektiver und subjektiver Faktoren, politischer und ökonomischer Interessen, persönlicher Beziehungen und publizistischer Intrigen griff ineinander und drohte Mehrings journalistische Existenz zu vernichten. Man hielt ihm öffentlich — wie er berichtet — politische Labilität und latenten Antisemitismus vor. Der Besitzer der Volks-Zeitung suchte ohnedies nach Handhaben, um sich von seinem exponierten Chefredakteur zu trennen. Denn nach Aufhebung des Sozialistengesetzes, die der Sozialdemokratie wieder eine legale Parteipresse erlaubte, mußte die Volks-Zeitung eine politische Neuprofilierung vornehmen. Das Verbleiben Mehrings in der Redaktion wurde unmöglich. Aus dem Fall Lindau war ein Fall Mehring geworden. Konsequenzen für die eigene Person blieben nicht aus. Mehring hatte unversehens ein soziales Experiment in Gang gesetzt, aus dessen Analyse er den entscheidenden Anstoß zum offenen Bekenntnis für das revolutionäre, Proletariat und zum praktischen Anschluß an die deutsche Sozialdemokratie erhielt. Auch wer in diese Auseinandersetzung nicht verwickelt und nicht zu Konsequenzen gezwungen war, sah sich vor der Notwendigkeit, Schlüsse zu ziehen. Wer nicht bereit oder nicht in der Lage war, das Bezie-
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hungsfeld, in dem sich Lindau bewegt, das er bestimmt hatte und von dem er geprägt war, in dem weitreichenden Maße bloßzulegen, wie es Mehring tat, der lief Gefahr, Lindau mit dem Prozeß der Kapitalisierung zu verwechseln. Davor war beispielsweise Georg Hartwich nicht gefeit, wenn er gegen Lindau zwar polemisch, aber unscharf schlußfolgerte: »Herrn Lindau gebührt nun ohne Zweifel das Verdienst, das Cliquenwesen in der Berliner Journalistik entwickelt und auf seine jetzige Stufe gebracht zu haben.« 83 Den Kapitalisierungsprozeß als Produkt einer »unheimlichen Macht« 84 zu begreifen hieß auch, ihn zu dämonisieren oder gar zu mystifizieren. Verbreitet war die Neigung, sich mehr oder weniger resignierend dem Gang der Dinge zu beugen. Otto Brahm und Fontane, der die Artikel Brahms in der Freien Bühne begrüßt hatte, sind hier an erster Stelle zu nennen. Sie wandten sich gegen die moralisierende Kritik an der Person Lindaus, die sie wohl als heuchlerisch empfanden. »Noch einmal-«, heißt es in Fontanes Brief an Georg Friedlaender, in dem er sich ausführlich zum Fall Lindau äußerte, »vom lebemännischen Standpunkt aus angesehen, ist es gar nichts, aber journalistisch-moralisch angesehen . . . empfängt man allerdings einen schmerzlichen Eindruck und sieht an einem wahren Musterbeispiel demonstriert, daß alles Schwindel, Clique, Mache ist. . . . Diesen Zustand finde ich«, so schloß der Schreiber, »nicht schön, aber es ist ü b e r a l l dasselbe Prinzip: Ausbeutung.« 85
Anmerkungen 1
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Theodor Fontane an Karl Zöllner, Januar 1894. In: Fontane, Briefe- in vier Bänden. Hg. von Kurt Schreinert. Bd. 4, Berlin 1972, S. 120. Victor Klemperer, Paul Lindau. Berlin 1909, S. 10. Paul Lindau, Nur Erinnerungen. Bd. I, Stuttgart und Berlin 1917, S. 95. Ebenda, S. 288. Ebenda, S. 169. Zitiert nach: Klemperer, Paul Lindau, S. 18. Vgl. hierzu: Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte
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der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981, S. 78 ff. (besonders S. 99f.). Paul Lindau, Literarische Rücksichtslosigkeiten. Feuilletonistische und polemische Aufsätze. Leipzig 1871, S. 146. — Die meisten dieser Aufsätze stammten aus der Leipziger Zeit Lindaus und seiner Tätigkeit am dortigen Neuen Blatt. Die Buchausgabe trug in nicht geringem Maße zu Lindaus Erfolg vor 1872 bei. Ebenda, S. 147. Paul Lindau, Dramaturgische Blätter neue Folge (1875-1878). Bd. II, Breslau 1878, S. 3. Ebenda, S. 194. Ebenda, S. 201. Paul Lindau, Nur Erinnerungen. Bd. II, Berlin 1918, S. 205. Klemperer, Paul Lindau, S. 19. Lindau, Nur Erinnerungen, Bd. I, S. 277. Klemperer, Paul Lindau, S. 19. Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler. 2., verbesserte Auflage, Berlin und Weimar 1980 (im folgenden: Fontane Briefe), Bd. II, S. 73. Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Bd. 19 (1881), Nr. 39. Ebenda. Ebenda. Die Gegenwart, Bd. 1 (1872), Nr. 1. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Lindau veröffentlichte diesen Brief Laubes in seinem zweiten Erinnerungsband, S. 244. Die Gegenwart, Bd. 2 (1872), Nr. 3. Ebenda, Nr. 33. In der Eröffnungsnummer der Deutschen Rundschau, herausgegeben von Julius Rodenberg, hieß es beispielsweise: »Die 'Deutsche Rundschau' ist aus der allgemein getheilten Erkenntniß, daß es der G e s a m t h e i t der deutschen Culturbestrebungen an einem repräsentativen Organ fehle, . . . hervorgegangen; demgemäß unternimmt sie . . . den Versuch, nicht etwa nur eine Specialität unseres geistigen Lebens zu behandeln, sondern dieses in seinen charakteristischen und maßgebenden Bestrebungen und Resul120
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31 32
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taten als ein einheitliches Ganzes darzustellen.« Zitiert n a c h : Harry Pross, Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870. Freiburg i. B. 1963, S. 149. In seinen K o m m e n t a r e n zu den Zeitschriften vernachlässigt Pross jedoch den sich aus dem historischen Kontext ergebenden Stellenwert der einzelnen Herausgeber und ihrer Blätter, so daß teilweise ein unscharfes Bild entsteht. Lindau und seine Gegenwart beispielsweise verkennt er in deren wirklicher Bedeutung völlig. Theodor Fontane, Maria und Magdalena von P. Lindau (Rez.). I n : Fontane, Sämtliche Werke. Hg. von Edgar Groß, K u r t S c h m i e d , Rainer Bachmann, Charlotte Jolles, J u t t a Neuendorff-Fürstenau. München, Nymphenburger Verlagshandlung 1969—1975 (im folgenden: NFA), Bd. 22,1, S. 211.— Später wird Fontane, die Folgen der Mode und Ausschließlichkeit des Stücktyps vor Augen, den Verlust an »Wahrheit« als schärfste Kritik formulieren. Anläßlich einer Kritik an Lubliners Aus der Großstadt holte der Rezensent der Vossischen Zeitung zu einem Resümee aus und schrieb: »Es (das Stück — R.B.) prickelt, es unterhält, und damit gut. Das Stück beherrscht nicht mehr die Szene, sondern die Szene beherrscht das Stück . . . (D)aß die dementsprechende P r o d u k t i o n als nichts anderes angesehen werden darf wie als erste E t a p p e zu j e n e m ' D r a m a der Z u k u n f t ' hin, daß, das N e u e pflegend und weiterbildend, zugleich das F u n d a m e n t aller wahren K u n s t : die Wahrheit (die jetzt absolut abhanden gekommen ist) zurückerobert wird.« I n : NFA, Bd. 22,2, S. 230. Die Gegenwart, Bd. 2 (1872), Nr. 41. Fontanes Bemerkungen dazu anläßlich einer Betrachtungzu Lindaus Stück Tante Therese bekräftigen diese Feststellung: »Im ganzen genommen ist er (Lindau — R. B.) seinen Mitbewerbern . . . um einen Pas voraus . . . nicht, weil er witzig, schlagfertig und voll guter Einfälle ist, sondern vielmehr deshalb, weil er über zwei Eigenschaften verfügt, die namentlich in ihrer Vereinigung keineswegs häufig angetroffen werden: gute ästhetische Schulung und b o n s e n s . « I n : NFA, Bd. 22,1, S. 482. So etwa in der Nr. 6 der Gegenwart 1872, in der sich Lindau mit einer Zeitschrift auseinandersetzte, die den Vorwurf erhoben h a t t e , daß es keine Kritik mehr gäbe. »So wird in einem Artikel 'CliquenKritik' als einfaches ausnahmsloses F a c t u m behauptet, daß unsere literarische Kritik zu existiren aufgehört habe, daß sie identisch ist mit der Freundesreclame und der Buchhändleranzeige.« Natür-
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lieh wehrte der Redakteur der Gegenwart derartige Vorwürfe als ungerechtfertigt und unbegründet ab. 34 Albert Hahn, Ein Mann unserer Zeit. Paul Lindau. Berlin o. J . (vermutlich 1874/75), S. 4. 35 Ebenda. 36 Ebenda, S. 18. 37 J . Fisahn, Paul Lindau als Kritiker und das Theater. Liegnitz 1876, S. 3. 38 Ebenda, S. 9. 39 Ebenda, S. 35. Die Theaterdirektoren würden durch den Erfolg der Stücke natürlich dann auch dieser Richtung nachgeben. »Daß die Theaterdirectoren nach materiellem Gewinn streben, ist natürlich; denn sie sind Geschäftsleute und wollen Geschäfte machen.« Ebenda, S. 41. Mit der Kritik an dieser Art Stücke verband Fisahn den gegen die Person Lindau gerichteten Vorwurf der Frivolität. 40 Dieser Ausdruck findet sich sowohl bei Hahn (S. 3) als auch bei Fisahn (S. 15). 41 Gotthilf Weisstein, Paul Lindau. Eine Charakteristik. Berlin 1875 o. S. Die anonyme Verfasserschaft deckte Klemperer auf: Klemperer, Paul Lindau, S. 19. 42 Weisstein, Paul Lindau, S. 31. 43 E. O. Konrad, Paul Lindau. Eine Charakteristik. Leipzig 1875, S. 1. 44 Ebenda, S. 13. — Sicher dachte Konrad dabei auch an Oskar Blumenthal, Hugo Lubliner oder Julius Stettenheim, den Redakteur der satirischen Zeitschrift Berliner Wespen, für die Lindau in der Gegenwart regelmäßig die Reklametrommel schlug. Zu den Lindau-Kontrahenten, die sich vornehmlich auf dessen jüdischer Herkunft ihr Argumentationsgerüst bauten, gehört auch Adolf Stoecker, von 1874 bis 1890 Hof- und Domprediger in Berlin, der von der Kanzel zu einer Anti-Lindau-Kampagne aufrief. Vgl. Klemperer, Paul Lindau, S. 20: »'Gräfin Lea' hatte die Ehre, eines der ersten Angriffsobjekte Adolf Stöckers zu werden. Gegen die Verjüdelung des Schauspielhauses durch Lea donnerten seine frühsten Berliner politischen Reden.« 45 Wilhelm Goldschmidt, Notizen zu, Schriften von Paul Lindau. Berlin 1878, Vorbemerkung (o. S.). 46 Ebenda, S. 4. 47 Ebenda, S. 11. 48 Ebenda, S. 18. Über Lindaus Verhältnis zu Richard Wagner
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ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben. Allerdings war die Praxis des öffentlichen Unmöglichmachens (beabsichtigt oder nicht) besonders verhängnisvoll. Lindaus Wort z. B. zum Naturalismus, daß da, wo die Seife aufhöre, die Sonne des Naturalismus aufginge (gemeint w a r H a u p t m a n n s Vor Sonnenaufgang), wurde nicht zuletzt deshalb, von der naturalistischen Bewegung so empört aufgenommen, weil es zum »geflügelten Wort« wurde. Lindaus beste Verrisse schienen auf den ersten Blick schlagend und einleuchtend. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 52. Die versteckte Anspielung auf die Börse scheint beabsichtigt. Ebenda, S. 82. Wörtlich heißt es in der bereits erwähnten Lubliner- K r i t i k : ». . . wir sind offenbar erst in einem Werdestadium, in welchem . . . der ganze Schwerpunkt des Schaffens einseitig in das Finden oder Erfinden neuer Situationen gelegt wird.« Im gleichen Zusammenhang gebraucht Fontane auch das Wort vom »Übergangsstadium«. I n : NFA, Bd. 22,2, S. 229 und 230. Breslau 1880. Ebenda, S. 46. E. O. Konrad, Paul Lindau, S. 46. Otto B r a h m , Theater, Dramatiker, Schauspieler. Berlin 1961, S. 46. Karl Henckell, Die neue L y r i k . I n : Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892. Hg. von Erich Ruprecht. S t u t t g a r t 1962, S. 48. Paul Lindau, Der neuste naturalistische Roman. Nana. I n : Lindau, Aus dem literarischen Frankreich. Breslau 1882, S. 324. Ebenda, S. 331. Ebenda, S. 328. Ebenda, S. 333. Ebenda, S. 337. Gemeint ist die Aufsatzsammlung, aus der hier zitiert wird. Doch zusätzlich äußerte sich Lindau noch einmal zum Zola-Roman anläßlich des Erscheinens der deutschsprachigen Übersetzung von Armin Franz. Sich zum Maß der Streichungen durch den Übersetzer äußernd, schrieb L i n d a u : »Man könnte ihm (dem Übersetzer — R. B.) . . . vielmehr vorwerfen, daß er in dieser Richt u n g nicht radical genug zu Werke gegangen ist.-« Und er fuhr fort: » H ä t t e er wirklich Rücksicht auf seine Leser genommen, so würde er mit dem Striche.auf der ersten Seite angefangen und auf der letzten aufgehört haben.« Im gleichen Artikel nannte
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Lindau Zolas Roman nochmals ein» Schmutz werk« voller»Unflath« und warnte vor der Möglichkeit, dieses Buch »in unsere Leihbibliothek« einzuschmuggeln. In: Die Gegenwart, Bd. 19 (1882), Nr. 37. Heinrich und Julius Hart, Kritische Waffengänge. H. 2, Leipzig 1882, S. 10 (weitere Seitenangaben im laufenden Text). Paul Schienther, Die Schaubühne als volkstümliche Anstalt betrachtet. In: Schienther, Theater im 19. Jahrhundert. Ausgewählte theatergeschichtliche Aufsätze. Hg. von H. Knudsen. Berlin 1930, S. 19. Ebenda. Maximilian Harden, Berlin als Theaterhauptstadt. Berlin '1888, S. 4. Mit diesem in Anführungszeichen gesetzten Titel feierte Georg Hartwich den Ausgang des Falls Lindau. Sein Resümee lautet: »Mit Paul Lindau stürzt die stärkste Säule einer unheimlichen Macht.« — Georg Hartwich, Paul Lindau's Glück und Ende oder »Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen!« Berlin 1890, S. 30. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 2. März 1886. In: Fontane, Briefe an Georg Friedlaender. Hg. und erläutert von Kurt Schreinert. Heidelberg 1954, S. 30. Otto Brahm, Rezension zu B. Björnsons Ein Handschuh in der Freien Bühne. J n : Brahm, Theater, Dramatiker, Schauspieler, S. 351. Elsa von Schabelsky, Ein berühmter Mann. Lustspiel in vier Akten. Berlin 1895. In: Berliner Theaterbibliothek, Nr. 3. Franz Mehring, Der Fall Lindau. Dargestellt und erläutert. Berlin 1890. — Thomas Höhle schilderte den Fall Lindau detailliert aus der Sicht der Entwicklung Franz Mehrings in: Höhle, Franz Mehring. Sein Weg zum Marxismus. 1869—1891. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Berlin 1958, S. 267—284. Elsa von Schabelsky, Nothwehr. Volksstück in vier Akten. Berlin 1894. Vgl. dazu auch: Manfred Brauneck. Literatur und Öffent lichkeit im 19. Jahrhundert. Studien zur Rezeption des naturali stischen Theaters in Deutschland. Stuttgart 1974, S. 71 f. und S. 221. Berliner Presse: gegründet 1862, Vereinigung von 200 Journalisten und Schriftstellern, keine offizielle Vertretung der Berliner Zeitungen; konservative, sozialdemokratische und ultramontane Blätter waren kaum in ihr vertreten. Vgl. Mehring, Der Fall Lindau, S. 40. — Hartwich charakterisiert den Verein in seiner
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Broschüre folgendermaßen: »Der Verein 'Berliner Presse' ist nichts weiter als ein geselliger Verein einzelner Journalisten mit der einen oder anderen Unterstützungskasse.« Hartwich, Paul Lindau's Glück und Ende, S. 17. — Paul Lindau gehörte dem Verein seit dessen Gründung an. Mehring, Der Fall Lindau, S. 40. Das Wort fällt sowohl in Mehrings Der Fall Lindau als auch in seiner Broschüre Kapital und Presse. Ein Nachspiel zum Fall Lindau, Berlin 1891, mehrfach. Zitiert nach: Mehring, Der Fall Lindau, S. 53. — Otto Brahm stellte sich in einigen Artikeln in der Freien Biiline auf Lindaus Seite und lehnte Mehrings Attacke als übertrieben und unangemessen ab. Zitiert nach: Mehring, Der Fall Lindau, S. 55. Wie weit verbreitet dieser Eindruck war, belegt nicht zuletzt der wörtliche Gebrauch dieser Wendung im Brief Heinrich Manns an Ludwig Ewers vom 21. November 1890. In: Heinrich Mann an Ludwig Ewers 1889— 1913. Berlin u. Weimar 1980, S. 194. K. K. (Karl Kautsky), Das Proletariat der Biihne. In: Die neue Zeit. 9. J g . (1890/91), Bd. 1. Ebenda, S. 45 und 46. Ebenda, S. 48. Mehring, Kapital und Presse. Hartwich, Paul Lindau's Glück und Ende, S. 28. Ebenda, S. 30. Fontane an Friedlaender, 25. Okt. 1890. In: Fontane, Briefe an Georg Friedlaender, S. 137.
Georg Brandes in der literarischen Öffentlichkeit Berlins 1877—1883 FLEMMING
HANSEN
Um zu verstehen, weshalb der dänische Literaturhistoriker Georg Brandes (1842—1927) fünf entscheidende J a h r e seines Lebens (1877—1883) in Berlin verbrachte, muß man sich seine Lage in Dänemark vergegenwärtigen. Im November 1871 hat Brandes an der Kopenhagener Universität seine Vorlesungsreihe über Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts begonnen. In seiner Auffassung der sogenannten »Hauptströmungen« zeigt er sich noch stark hegelianisch geprägt: In seinen Augen nehmen sie den Charakter eines weltgeschichtlichen Dramas, eines dauernden dialektischen Wechselspiels von Beaktion und Fortschritt als Triebkraft der Geschichte 1 an. Dem Dialektiker ist weder das Prinzip des Fortschritts das an sich positive, noch die Reaktion das an sich negative: Beide müssen sich vollständig entfalten, um sich dann in ihrem Wechselspiel gegenseitig zu korrigieren und damit Synthesen bilden zu können 2 . Aus diesem Wechselspiel entstehen die »Hauptströmungen« als die Geschichte vom »Sieg des Freiheitsgedankens«. Der Beitrag der Persönlichkeit zu diesem Fortschritt kommt in Schlagwörtern zum Ausdruck, die den Liberalismus und Individualismus von Brandes deutlich zur Sprache bringen, so etwa wenn er sich zum »Recht der freien Forschung und zum endlichen Sieg des freien Gedankens« 3 bekennt oder wenn lebendige Literatur definiert wird als eine, die »Probleme zur Debatte stellt» 4 . Die wissenschaftliche Methode, die Brandes schon hier skizziert, wird in fast allen deutschen Rezensionen seiner Arbeiten hervorgehoben. Sie hat den Charakter einer Literaturpsychologie.
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Wenn Brandes die literarischen Zeugnisse eines Volkes als »-Aktenstücke-« bezeichnet, die »die ganze Geschichte seiner Anschauungen und E m p f i n d u n g e n « 5 wiedergeben, scheint er das positivistische Interesse für die Determination durch Rasse und Milieu mit einer geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise verbinden zu wollen. Diese Bestimmung seiner Methode kommt in der zentralen Rolle zum Ausdruck, die die große Persönlichkeit im Denken von Georg Brandes spielt. Hier ist der Punkt, wo sich Positivismus und Hegelianismus mit dem Individualismus und Fortschrittsoptimismus des liberalen Denkens verbinden; in der Individualpsychologie der großen Persönlichkeit manifestieren sich die Strömungen des Zeitgeistes. So wird Byron als derjenige dargestellt, »-der allein den Umschlag im großen Drama hervorbringt« 6 , und aus Byrons individueller Psyche und Biographie liest Brandes die Gedanken und Gefühle eines vom Freiheitsund Fortschrittsgedanken erfaßten Zeitalters. Von dieser Warte aus ü b t Brandes eine vernichtende Kritik an den zeitgenössischen dänischen Verhältnissen. Dänemark wurde kaum je von den europäischen Hauptströmungen ergriffen, hier herrscht nur ein wirklichkeitsferner Idealismus, hier gibt es keine Literatur, die Probleme zur Debatte stellt — Probleme des modernen Lebens wie die Ehe, die Religion, die Eigentumsverhältnisse 7 . Mit diesen Auffassungen wird Brandes im Laufe des Winters 1871—1872 eine persona non grata in der Kopenhagener Öffentlichkeit. Er wird stark isoliert, und in f a s t allen Tageszeitungen erscheinen ganze Artikelserien, die ihn wegen Atheismus, Unsittlichkeit, Sozialismus, Gesellschaftsauflösung angreifen. Unter dem Eindruck der reaktionären Stimmung in Dänemark und seiner finanziellen Notlage — von einer Anstellung an der Universität ist keine Rede mehr — teilt Brandes seinem Bruder Ernst schon am 31. März mit, daß er nach Deutschland gehen will, um seine Möglichkeiten dort zu sondieren 8 . Im Juli 1874 schreibt er dem Bruder aus Berlin, daß er sich auf Grund der entstandenen Kontakte — vor allem zu der geplanten Deutschen Rundschau —. entschließt, den Winter in Berlin zu verbringen: »Das ist außerdem eine Art Notwendigkeit f ü r mich in meinem Verhältnis zur 127
Deutschen R e v u e , des Deutschschreibens wegen und u m meinen Ruf hier zu festigen . . . d a ich es als gegeben betrachte, daß ich in Z u k u n f t bestrebt sein werde, meinen Lebensunterhalt dadurch zu verdienen, daß ich deutsch schreibe.« 9 In einem Brief vom 3. A u g u s t 1875 f r a g t er P a u l Heyse nach den Möglichkeiten, in Deutschland eine Universitätsstellung zu finden 1 0 , und ein halbes J a h r d a n a c h teilt er ihm mit, daß er beschlossen habe, D ä n e m a r k auf mehrere J a h r e zu verlassen, u m sich »in Deutschland eine B a h n zu brechen« 1 1 . B r a n d e s berichtet, daß er einer Mitteilung des Berliner Völkerpsychologen Moritz L a z a r u s zufolge keine Aussichten hat, in Deutschland an eine Hochschule berufen zu werden. Heyse gegenüber d r ü c k t er die H o f f n u n g aus, allein durch die Arbeit f ü r deutsche Zeitungen und Zeitschriften seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können; dabei ist vor allem an die Deutsche Rundschau gedacht, bei der er durch den direkten K o n t a k t mehr zu verdienen h o f f t 1 2 . In seinem Antwortbrief erwägt Heyse die beiden Möglichkeiten, die für B r a n d e s in F r a g e k o m m e n — Berlin und Wien — und schreibt: »Ich würde aber entschieden zu Berlin rathen, gegen Wien.« 1 3 Heyse warnt vor d e m oberflächlichen literarischen und gesellschaftlichen Leben Wiens, d a s bald den wissenschaftlichen Charakter der Arbeit von B r a n d e s verderben und ihn zum J o u r nalisten degradieren könnte. E r ist der Meinung, d a ß B r a n d e s nur in Berlin jene Art seriöser, wissenschaftlich g e p r ä g t e r Zeitschriften findet, die er braucht, u m seine K r ä f t e i n t a k t zu erhalten : » U n d dann, so wenig es Dich anziehen m a g , ist es doch einm a l der Mittelpunkt der deutschen Arbeit in j e d e m Sinne. Von dort aus würden sich Dir auch äußerlich die fruchtbarsten Verbindungen nach allen Seiten eröffnen, und Wien bliebe j a nicht ausgeschlossen — als A b s a t z g e b i e t . « 1 4 Die endgültige Entscheidung h a t sich aber noch längere Zeit verzögert. E r s t nachdem die Möglichkeit einer B e r u f u n g an die Universität gescheitert ist, faßt B r a n d e s den Entschluß, nach Berlin überzusiedeln. 1 5 Im Oktober 1877 trifft er in der S t a d t ein. Eine wesentliche Einnahmequelle während des Berliner Aufenthaltes waren die Aufsätze, die B r a n d e s über deutsche und Ber128
liner Verhältnisse für die skandinavische Presse schrieb. Diese Artikel erschienen 1885 gesammelt unter dem Titel Berlin som tysk Rigshovedstad (Berlin als deutsche Reichshauptstadt). Dem Buch könnte man auch den Titel Ein Achtundvierziger in Bismarcks Berlin geben; eines seiner Grundanliegen ist der Versuch aufzuspüren, was aus den Traditionen der Märzrevolution geworden ist. Eine Reihe markanter Persönlichkeiten, die porträtiert werden, sind als Teilnehmer der Revolution gekennzeichnet — Männer wie Loewe 16 , Kapp und Bamberger 17 , Hettner 18 und Hillebrand 19 . Einen Aufsatz vom 18. März 1878 beginnt Brandes damit, daß er die Gefühle schildert, die ihn an diesem Tage, dem dreißigsten Jahrestag der Berliner Revolution, bewegen. Aber bald geht er dazu über, Vergleiche zwischen der jungen Generation von 1848 und der von 1878 anzustellen. Nur bei den Alteren findet Brandes noch die demokratischen Ideale erhalten, während die jüngere eine Generation von Pragmatikern und Positivisten ohne politisches Interesse ist: »Will man das Allgemeinmenschliche repräsentiert sehen, dann muß man zur älteren Generation gehen. . . . Es ist bedauerlich, den Konservatismus in der Form politischer Indifferenz und Ziellosigkeit bei so vielen Jungen zu sehen.«20 In Bismarcks Berlin scheinen die Traditionen von 1848 fast völlig vernichtet, die Männer von damals sind gleichsam heimatlos, gehören nicht mehr in die Zeit, in der sie leben, oder führen eine Schattenexistenz als machtlose Opposition, sie schweigen oder werden totgeschwiegen. 21 Den konstatierten Verfall faßt Brandes in der Feststellung zusammen, daß man Freiheitsliebe im englischen Sinne des Wortes zur Zeit nur bei jener Generation findet, die in zehn Jahren ausgestorben sein wird. 22 Dieser Verfall kommt vor allem in der Einführung des Sozialistengesetzes zum Ausdruck. Empört berichtet Brandes über die; Zustände unter »dem weißen Terror eines nicht erklärten Belagerungszustandes« 23 ; er hat einen scharfen Blick dafür, daß das Heranwachsen des Sozialismus den »Citoyen« von 1848 als den »Bourgeois« von 1878 demaskiert hat; schon vor dem Sozialistengesetz prophezeit Brandes, daß bald eine Lage entstehen wird, wo die sogenannte »liberale« Bourgeoisie die Regierung anflehen wird, 9
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allé verfassungsmäßigen Rechte aufzuheben, wenn man sich bloß damit die Sozialisten vom Halse schafft — eine Tatsache, durch die er den Satz bewiesen sieht, daß »es ke'ine so wilde Bestie gibt wie einen Bourgois, der Angst bekommen hat, sein Geld zu verlieren« 24 . Hatte Brandes gehofft, bei der Übersiedelung nach Berlin größere und freiere Verhältnisse vorzufinden, so meldet sich bald die Enttäuschung darüber, daß er auch in Berlin von der Reaktion eingeholt wird: »Aber ist es nicht ein Unstern f ü r mich, daß da ich Dänemark der Reaction willen verlasse und nach Deutschland übersiedele, die Reaction in Deutschland eben gleich nach meiner Ankunft signalisirt wird? 2 5 . . . Sehr viele Leute hier sind außerdem arg chauvinistisch, und mit denen kann ich gar nicht sprechen, d. h. nicht offen sprechen, und ein Republikaner und halber Socialist, wie ich, ist noch dazu in dieser politisch conservativen und monarchischen Gesellschaft sehr vereinzelt.« 26 Auch auf dem Gebiet, der literarisch j kulturellen Öffentlichkeit betrachtet Brandes die Zustände mit Skepsis. Paradoxerweise versucht er auch unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes die optimistische Perspektive festzuhalten,, er glaubt Zeichen zu sehen, daß der nächste dialektische Umschlag von der Reaktion zürn Fortschritt sich vorbereitet: »Es gibt keine Stadt in Europa', wo kühner, vorurteilsloser, vollständiger gedacht wird als von den hellsten und kenntnisreichsten Köpfen in Berlin. . . . Versprengt in jener Menge, die die junge Garde der Wissenschaft ausmacht, gibt es Männer (einen aus zehn oder aus zwanzig, aber doch eine ansehnliche Zahl), welche in Klarheit, reinem Enthusiasmus und felsenfester Überzeugung den französischen, englischen und deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts nahekommen, und welche fest entschlossen sind, deren Arbeit wieder aufzunehmen. Sie betrachten den jetzigen Zustand als nur die letzten Wellenringe, die von der großen romantischen Reaktion geworfen werden, sie glauben fest, daß eine neue große Bewegung ähnlich der des achtzehnten Jahrhunderts . . . angefangen hat, in mächtigem Anwachsen begriffen ist und noch zu Lebzeiten der jetzigen Generation Siege auf allen Gebieten und in allen Ländern aufzuweisen haben wird.« 27
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Das scheint aber nur für die Wissenschaft zu gelten, denn in demselben Zusammenhang sagt Brandes von der schönen Literatur, daß sie zur Zeit »-ziemlich ausgestorben oder jedenfalls leer« 28 sei. Im Dezember 1878 schreibt er von der zeitgenössischen deutschen Literatur, ihr Kennzeichen sei »Servilität«, sie enthalte nichts als »Chauvinismus und Kaiseranbetung und Bismarckanbetung« 2 9 . Eine wirkliche Literatur, eine Debattenliteratur finde man nicht; entweder huldige man bedingungslos den herrschenden Zuständen, oder man schweigt; als Beispiele erwähnt Brandes Vischers Auch Einer, Julius Rodenbergs Die Grandidiers und Heyse, bei dem Brandes Eskapismus und Verinnerlichung kritisiert, es sei, als ob der Dichter sich allem verschlossen habe, was um ihn passiert: »Lauter kleijne Liebesgeschichten, deutsche und italienische, aber alle aus demselben Guß, zehntausend Meilen von jenem Deutschland entfernt, wo sowohl er als auch der Leser lebt. Es wird nicht mehr laut gedacht in Deutschland.« 3 0 Die Servilität, die »Korporalsanschauung«, wie er es nennt, findet Brandes vor allem in der Behandlung der 1848er Revolution durch die zeitgenössische Literatur, wo Personen, die an der Revolution teilgenommen hatten, konsequent als Verräter oder Sonderlinge geschildert werden; bei allen »nachspielhagenschen Romanschriftstellern« werden die demokratischen Traditionen von 1848 verleugnet. 31 Im ganzen ist bemerkenswert, wie zögernd und zurückhaltend Brandes in seiner Besprechung und Wertung der zeitgenössischen Berliner Literaten verfährt; so wird Paul Lindau lediglich als Gründer der angesehenen Zeitschrift Die Gegenwart erwähnt und außerdem als eine gewinnende Persönlichkeit bezeichnet. 32 Dieser nicht eben aussagekräftigen Charakteristik fügt er in den Memoiren folgendes lapidare Urteil über Lindaus literarische Qualitäten bei: »Als Dramatiker und Romanschriftsteller war er ohne Tiefe; nicht ohne Menschenkenntnisse und gewandte Technik.« 33 Auerbach und Spielhagen finden im Berlin-Buch gelegentlich Erwähnung. Auerbach wird freundlich und eher nachsichtig behandelt als ein Schriftsteller, der nicht mehr auf der Höhe 9*
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seiner Popularität und künstlerischen Kraft steht. 3 4 Dagegen scheint Spielhagen Brandes ein gewisses Interesse abzunötigen. Von Brandes' Positionen aus gesehen ist- es außerordentlich lobend gemeint, wenn er feststellt, daß Spielhagen noch das Gepräge der älteren Generation hat, ein Pathos und einen Idealismus, die deutlich auf den »blutroten Radikalismus der vierziger Jahre« 3 5 verweisen. Nach einem kritischen Überblick über die deutsche Literatur, die ihm generell zu volkstümlicher Unterhaltung ohne künstlerischen Wert herabgesunken scheint, werden Spielhagen und Heyse dann auch als die beiden derzeit größten Schriftsteller Deutschlands hervorgehoben. 36 Man mag es als bemerkenswert empfinden, daß Brandes im Berlin-Buch Fontane überhaupt nicht erwähnt; Brandes hat Fontane gekannt und getroffen, was aus der wohlwollenden, aber kurzen und ziemlich nichtssagenden Charakteristik in den Erinnerungen hervorgeht: »Ein hervorragendes Talent als Dichter und Journalist war Theodor Fontane, bekannt als Kriegskorrespondent, als ein Lyriker, der den Soldatenton zu treffen wußte, und als originaler Prosaist. Seine Novelle 'L Adultera' wurde sehr bewundert. Als ein feiner Essayist fand er mit Recht, daß mein Aufsatz über Paul Heyse den Mann nicht richtig gezeichnet hatte.« 3 7 Auch den Berliner Theaterverhältnissen steht Brandes kritisch gegenüber. Von dem führenden Theater, dem Königlichen Schauspielhaus, heißt es, daß es unter der Leitung Herrn von Hülsens in einen so traurigen alten Guckkasten entartet sei, wie man es sonst nur in ehrbaren Provinzstädten finde. 38 Brandes verweist hier wiederum auf die »Servilität« als die wesentliche Ursache der Misere, auf den vollkommenen Mangel an kritischer Öffentlichkeit — das Schauspielhaus stand nämlich, wie Brandes hervorhebt, unter einer derart talentlosen Leitung, daß sie in keinem Lande mit einer entwickelten Öffentlichkeit lange im Amt geblieben wäre, während sie hier die Protektion des Kaisers genießt. 39 Das Schauspielhaus wird von Brandes als ein »Hoftheater« schlimmster Art bezeichnet, welches auf äußerst konventionelle Weise das kulturelle Erbe verwaltet und konserviert; Brandes bemerkt zwar eine Reihe von Talenten unter den Schauspielern, muß aber konstatieren: »Neben und vor den
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Talenten breitet sich in der Regel die gedankenvolle Talentlosigkeit aus, ein Pathos, das hohl ist, eine Affektiertheit, die solide ist, und die bloße weibliche Anmut, deren Routine nicht genügt. 40 . . . Kurz gesagt, eine Aufführung im Schauspielhaus bereichert den Zuschauei so gut wie nie mit neuen Gesichtspunkten.« 41 Ein Gegenstück zur Geistlosigkeit und Routine des Schauspielhauses bilden die Kassenstücke des Residenz-Theaters, das ebenso wenig wie das Schauspielhaus Tendenz, Tiefe oder wirkliche Erneuerung bietet: Hier dominiert die oberflächliche, aber effektvolle und technisch gewandte französische Salonkomödie von Sardou. 42 Was die literarischen Marktverhältnisse betrifft, bemerkt Brandes, daß die literarischen Journale und Zeitschriften einen dominierenden Einfluß erlangt haben, der in hohem Grade auch auf Umfang undQualität der Buchproduktion einwirkt. Die eigentliche Buchproduktion und damit die Größe der Schriftstellerhonorare erscheinen ihm als äußerst gering: die Erstveröffentlichung von Romanen und Novellen findet meistens in den Zeitungen und Zeitschriften statt. Sie verfügen, wie er schreibt, über Tausende von Abonnenten, welche es den Schriftstellern ermöglichen zu leben 43 . Diese Marktverhältnisse begünstigen kurze Prosaformen wie die Novelle, und zwar eine trivialliterarische Verwässerung dieses Genres: Fräulein Marlitt kann in der Gartenlaube mit einem Honorar von 1000 Mark pro Bogen rechnen, wogegen ein führender Novellist in den seriösen Zeitschriften mit 500 Mark pro Bogen honoriert wird und ein Feuilleton für die Tageszeitungen 120 Mark einbringt; einen eigentlichen Erfolg gemessen an den verkauften Büchern hat nur ein Schriftsteller wie Gustav Frey tag, der mit einer Erstauflage von 30000 rechnen kann. Dasselbe gilt für Georg Ebers, wogegen bedeutende Schriftsteller wie Auerbach, Heyse und Spielhagen dahinter weit zurückbleiben. 44 Etwas mißmutig bemerkt Brandes, daß die Verfallserscheinungen der literarischen Öffentlichkeit auch auf renommierte Schriftsteller übergreifen, so etwa wenn es über Spielhagen heißt, daß auch er sich den Gesetzen des Marktes anzupassen versucht — er gleiche den jüngeren Schriftstellern
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darin, daß er »wie jene von der neuen Zeit vor allem den ruhelosen Fleiß des 'Penny-a-liner's' und seine Nutzung aller Lebenseindrücke übernommen hat« 4 5 . Den Stillstand und die Geistlosigkeit im literarischen Leben leitet Brandes aus zwei Verhältnissen ab: aus der Militarisierung und Gleichschaltung des Daseins und aus den literarischen Marktverhältnissen ; beide Faktoren töten dasjenige ab, was Brandes als grundlegend für die künstlerische Schöpferfähigkeit erscheint: die Individualität. Brandes stellt fest, daß der gewaltige militärische und politische Aufschwung Deutschlands den geistigen Überschuß des Landes erschöpft h a t : Das wuchernde Militär und die staatliche Bürokratie verzehren alle Kräfte, die darin gewonnenen Karrieiemöglichkeiten sind »-erkauft mit großen Opfern an Individualität« 4 6 . Dieser Verlust von Individualität wird verstärkt durch die Marktverhältnisse, unter denen jetzt nach Brandes' Meinung die Verleger durch die Schriftsteller produzieren, nicht umgekehrt. 4 7 Die Individualität wird vor allem abgetötet durch die literarischen Zeitschriften und Journale, die sich um jeden Preis dem jeweils auf dem Markt herrschenden Geschmack anpassen wollen. Schon die vielen Zeitschriften wirken durch die überwältigende Massenproduktion, die sie hervorrufen — jede von ihnen hat in jedem Heft eine Novelle — und durch ihre vollständige Ideenund Tendenzlosigkeit, die teils eine Folge der Furcht ist, Abonnenten zu erschrecken, teils in der Menge der Mitarbeiter begründet ist, äußerst verderblich auf die Literatur. Eine starke Selbständigkeit paßt nicht zu einer Zeitschrift ohne Farbe. 4 8 Die Klage über den Widerspruch zwischen politisch-militä i rischem Aufschwung und literarischem Stillstand, über den Mangel an Tendenz und künstlerischer Größe, hält während des ganzen Berliner Aufenthaltes an; schon am 24. Februar 1878 erklärt Brandes J . P. Jacobsen die fehlende Resonanz von Frau Marie Grubbe in Deutschland dadurch, daß »-die Deutschen absolut keinen Kunstsinn haben« 4 9 ; in dem Brief an den Bruder Edvard vom 15. November 1881 wird Brandes' Wunsch, Berlin zu verlassen, direkt mit der Stagnation und der Langeweile in der literarischen Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. »Denn nichts 134
interessiert mich hier. . . . Rein literarisch ist der Zustand ja elend; niemals wird ja ein Buch geschrieben, das man zu lesen Lust hätte und das Publikum ist vollkommen illitterär.« 50 Gegen Ende seines Aufenthaltes fällt Brandes ein vernichtendes Urteil über das literarische Leben Deutschlands im allgemeinen und Berlins im besonderen — ein Urteil, in dem noch einmal zusammenfließt, was er über die Haltungslosigkeit und Servilität, den Mangel an echter Tendenz und die Verwandlung der Literatur in Marktware festgestellt hatte: »-In Deutschland kommt aber die schöne Literatur nicht vom Flecke, weil es absolut an Muth und Initiative fehlt. Niemand wagt dem Volk schonungslose Wahrheiten zu sagen von der Bühne herab oder im Roman. . . . In Deutschland gehen die Kräfte jetzt zersplittert zu Grunde oder verlieren sich in purer Industrie. Hier in Berlin ist die meiste Production reipe Geldmacherei.« 51 In seinen Memoiren erwähnt Brandes, daß er schon bei seinem Besuch Berlins im Oktober 1872 eine ziemlich bekannte Persönlichkeit in der literarischen Öffentlichkeit der Stadt war 5 2 . In Verbindung mit den frühen Phasen der Rezeption Brandes' in Berlin und Deutschland muß man den Namen Adolf Strodtmann erwähnen. Strodtmann war der autorisierte Übersetzer der Hauptströmungen, deren erster Band, Die Emigrantenliteratur, bei Franz Duncker in Berlin im September 1872 erschien. Während seines Besuches in Berlin wohnte Brandes längere Zeit bei Strodtmann in Steglitz und half ihm, sein Buch über Das geistige Leben Dänemarks zu schreiben; Bertil Nolin weist nach, daß Brandes das Buch sehr stark geprägt hat 5 3 , und glaubt andererseits nachweisen zu können, daß es für die Rezeption Brandes' in Deutschland entscheidende Bedeutung hatte 5 4 ; tatsächlich wird in Strodtmanns Buch Brandes charakterisiert als »einer der scharfsinnigsten und einsichtsvollsten Kritiker, welche seit den Tagen Lessings die Gesetze der Kunst zu bestimmen und zu entwickeln gesucht haben« 5 5 ; in gedrungener Form wiederholt Strodtmann die Darstellung der aufsehenerregenden Kopenhagener Vorlesungen, die er schon im Vorwort zur Emigrantenliteratur gab, und außerdem wird als Musterbeispiel der zeit-
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genössischen d ä n i s c h e n K r i t i k B r a n d e s ' A u f s a t z H. C. Andersen als Märchendichter abgedruckt.56 Auf diesem Hintergrund wird verständlich, d a ß B r a n d e s ' erste R e z e n s e n t e n ziemlich g u t ü b e r seine Verhältnisse in Dänem a r k informiert waren. Z. B . w i d m e t e Friedrich K r e y s s i g im den ersten Teilen der ersten B a n d d e r Deutschen Rundschau Hauptströmungen eine überschwengliche B e s p r e c h u n g , die m e h r den C h a r a k t e r einer F a n f a r e z u m E m p f a n g des neuen Mitarbeiters h a t . Die Hauptströmungen seien » m e h r als. ein geistreiches, g u t geschriebenes B u c h . Sie sind eine T h a t des D ä n e n 5 7 . « K r e y s s i g bespricht d a n n die wissenschaftliche Methode d e r Vorlesungen, die er als »-durchaus original in A n l a g e und A u s f ü h r u n g « 5 8 bezeichnet, und b e t o n t , d a ß d a s Dürre und S c h e m a t i s c h e der idealistischen Ästhetik v o n B r a n d e s vollständig ü b e i w u n d e n s e i 5 9 ; hier sei eine v o l l k o m m e n den materiellen T a t s a c h e n z u g e w a n d t e und von psychologischer E i n f ü h l u n g g e t r a g e n e positivistische B e t r a c h t u n g s w e i s e entwickelt. » E r gibt s o z u s a g e n nicht L i t e r a t u r b e s c h r e i b u n g , nicht L i t e r a t u r a n a t o m i e , sondern die Physiologie der L i t e r a t u r . S o werden ihm diese ersten drei B ä n d e zu einer pathologischen P s y c h o l o g i e der d e u t s c h e n und d e r französischen Gesellschaft . . . A u f f a s s u n g u n d S p r a c h e ist i m m e r concret, b e s t i m m t , in d e r frischen F a r b e d e s L e b e n s glühend. Man fühlt überall, d a ß der G e d a n k e , die Schlußfolgerung. a u s lebendiger A n s c h a u u n g , a u s innigster Vertiefung in die E r s c h e i n u n g h e r v o r w ä c h s t . « 6 0 K r e y s s i g h e b t hervor, d a ß diese Methode geeignet ist, «in d e m passiven Zuschauer unserer Culturarbeit z u n ä c h s t den B e o b a c h t e r , d a n n den Mitarbeiter zu wecken« 6 1 und bringt B r a n d e s interessanRundschau terweise m i t den liberalen Zielsetzungen der Deutschen in V e r b i n d u n g ; er wird in A n s p r u c h g e n o m m e n f ü r » d a s . . . una u f h a l t s a m vordringende wissenschaftliche B e w u ß t s e i n der N e u zeit« 6 2 , d a s in s c h a r f e m G e g e n s a t z zur R o m a n t i k stehe. Die H y m n e auf B r a n d e s schließt m i t d e r B e m e r k u n g , so lasse sich » d e r Zorn der Zionswächter wohl begreifen, a b e r auch unsere freudige Z u s t i m m u n g . Wir sehen den noch a u s s t e h e n d e n drei B ä n d e n m i t Verlangen entgegen. . . . S o ist uns für deri E r f o l g des Werkes in D e u t s c h l a n d nicht b a n g e . 6 3
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Auch Wilhelm Dilthey rühmt an Brandes »Lebhaftigkeit-« und »Glanz seiner Darstellung« 64 und sieht die Vorlesungen als eine Art Fortsetzung der Literaturgeschichte Hermann Hettners; er betont stark, daß Brandes von einer deutschen Tradition ausgehe und daß gerade die Verarbeitung deutscher Ideen der Darstellung ihren Reiz gebe. 65 Zehn Jahre später rezensiert Dilthey die Neuausgabe der Emigrantenliteratur in einer ganz kurzen Besprechung, die aber eine bedeutende Würdigung sowohl der Rolle von Brandes als auch seiner Methode enthält: »Das Werk selbst hat sich seinen Platz in unserer Literatur erobert — es hat diese Literatur von neuen Gesichtspunkten erfaßt und dargestellt, es ist der erste Versuch einer literatui psychologischen Auffassung unserer geistigen Entwicklung.« 66 Zwei Rezensionen im Band 21 der Deutschen Rundschau zeugen von dem Ansehen, das sich Brandes schon Ende der siebziger Jahre in der Berliner Öffentlichkeit erworben hatte; in beiden Rezensionen wird er schon als berühmter Mitarbeiter der Deutschen Rundschau behandelt. Gleich am Anfang der Rezension seines Buches über Sören Kierkegaard heißt es: »Über die glänzende literaturhistorische Begabung von Georg Brandes bedarf es den Lesern der' Rundschau' gegenüber keines rühmenden Wortes« 67 , und abgeschlossen wird mit der Feststellung: »So sehen wir Georg Brandes mit den allgemeinen Strömungen der europäischen Literatur ohne Einseitigkeit so wohl vertraut, wie es sich mancher Deutsche wünschen möchte und vergeblich wünscht.« 68 Brandes' Lord Beaconsfield, jenes Buch, das in kurzer Zeit ein europäischer Bestseller wurde und ihn vor allem international berühmt machte 6 ?, erhält eine Besprechung von 4 Seiten; auch hier wird von der »ihm eigenen Kunst literarisch-psychologischer Analyse« 70 gesprochen, und die Schlußworte geben der Erwartung Ausdruck: »Die schöne Stellung, welche Brandes in deutschen literarischen Kreisen so schnell erobert hat, wird durch diese seine neueste Arbeit befestigt werden.« 71 Im Band 30 der Deutschen Rundschau rezensiert der junge Otto Brahm 1882 die Neuausgabe der Hauptströmungen und die Aufsatzsammlung Moderne Geister und gelangt ebenfalls zu dem 137
Befund, die Hauptströmungen seien »als eines der hervorragendsten literarhistorischen Werke von zahlreichen Lesern gewürdigt worden« 72 ; das Werk habe »seinem Autor zu einem ersten Platze auch in Deutschland verholten« 73 . Auch an dem neuen Buch lobt Brahm »Weite des Blickes« und »Feinheit des Nachempfindens« 74 , und an dem Aufsatz über Tegner wird hervorgehoben, was er auch für viele andere Aufsätze des Bandes geltend macht: »Er ist mit der ganzen fortreißenden Lebendigkeit geschrieben, mit all der Klarheit und Prägnanz geschrieben, welche Brandes wie wenigen zu eigen ist. Kein Schriftsteller seines Faches weiß . . . mehr für seinen Gegenstand zu interessieren, als Brandes; und er erreicht dieses Interesse . . . einzig durch die Macht seines Naturells, in dem neben dem ausgezeichneten Essayisten ein gutes Theil von einem Poeten steckt.« 7 5 Als die Hauptströmungen 1890 mit der Veröffentlichung des Buches über das Junge Deutschland beendet werden, widmet ihm Wilhelm Bölsche eine ausführliche Besprechung in der Freien Bühne, wo es als »eine definitive Urtheilserklärung« 76 in der Heine-Debatte bezeichnet wird; es ist »das unbedingt beste Buch, welches wir über die betreffende Literaturperiode besitzen« 77 . Bölsche ist der Meinung, daß der Rang Brandes' als Literaturhistoriker vor allem seiner psychologischen Einfühlungsgabe entspringt, seiner Fähigkeit, sowohl seinen eigenen Charakter wie den der behandelten Persönlichkeit auszudrücken: »Wenn irgendwo, so steht Brandes mit diesem Buch auf der Höhe. Auch stilistisch ist es eine Leistung ersten Ranges . . . eine echte Literaturgeschichte, die nicht bloß über, sondern auch aus den Dichtern schreibt, athmet doch jede Zeile die individuelle Gedankengröße eines Mannes, einer Persönlichkeit, die selber der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts als ein starker Steuermann, wenigstens in ihren letzten Strömungen, angehört.« 78 Betrachtet man die Entwicklung von Brandes' Rolle in der literarischen Öffentlichkeit, dann liegt auf der Hand, daß er am Anfang diese Rolle nicht sehr optimistisch einschätzt. Er hat Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, die ihn zu der Erklärung veranlassen: »Ich bin ja als deutscher Schriftsteller ein sehr spät anfangender.« Er will sich zufrieden geben, wenn
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er sich »nur ein kleines ehrenhaftes Plätzchen als Essayist hier in Deutschland« 79 erkämpfen kann. In dem Brief an Heyse vom 11. Oktober 1878 hat er seine »Illusionen darüber aufgegeben, in Deutschland durchzudringen« 80 , er ist, meint er, »weder gekannt noch gelesen noch gekauft-«81. Brandes scheint sich offenbar zum Teil dafür verantwortlich zu fühlen, daß sein Berliner Verleger Franz Duncker soeben Bankrott gemacht hat, was natürlich Brandes' Aussichten nicht verbessert: »Nicht mal der Band von 1872 ist ausverkauft und der Verleger hat 3300 Mark an meinem Werken verloren, obwohl ich fast gar kein Honorar bekommen habe. . . . mein Verleger hat Fallit gemacht und der Verlag ist zu seinem ganz unfähigen Sohn übergegangen, der nicht mal ein Avertissement jemals veröffentlicht.« 82 Noch in dem Brief an den Bruder Edvard vom 15. November 1881 beklagt er sich über seine »allzu große Einsamkeit und Isoliertheit« 83 , aber zu diesem Zeitpunkt scheint diese Auffassung kaum gerechtfertigt; wie aus anderen Briefen hervorgeht, ist Brandes' Ruhm jedenfalls seit Anfang der achtziger Jahre in stetigem Wachsen — man vergleiche, was er am 27. Juni 1880 J . P. Jacobsen mitteilt: »Ich bin mit meinem Aufenthalt hier in Berlin weiterhin sehr zufrieden; ich werde immer mehr in deutschen Verhältnissen heimisch, werde immer bekannter und bin von den Verlegern äußerst stark gesucht. Kaum eine Woche vergeht, ohne daß mich ein neuer bittet, ihm irgend etwas zu geben — was ja ein gutes Zeichen ist.« 84 Im Februar 1882 schreibt er dem Bruder aus Berlin, daß seine Bücher sehr viel Erfolg hätten bei denen, die sie kennen. E r müsse nur gegen seine geringe, aber im Wachsen begriffene Bekannlheit ankämpfen, jedoch gegen keine Feindschaft. »All die Deutschen, denen gegenüber ich den Gedanken, erwähnt habe, zurückzukehren, waren ganz verblüfft darüber, fanden mich ganz unvernünftig, fast verrückt, da ich absolut als ein deutscher Schriftsteller betrachtet werde, und ich darf ohne Übertreibung sagen als einer der ersten, von den meisten Unparteiischen als der erste Kritiker Deutschlands.« 85 Als bezeichnend für den Ruhm, den Brandes Anfang der achtziger Jahre in Berlin genoß, erwähnen seine Memoiren die Gründung
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eines literarischen Klubs im Jahre 1880; mit finanzieller Unterstützung reicher junger Kaufleute sollte eine Einrichtung geschaffen werden, wo sich die Schriftsteller mit Künstlern, Politikern, Universitätslehrern und wohlhabenden Kaufleuten treffen konnten. Die Initiative ging von Hänel und Spielhagen aus, die zur Stiftung des Klubs 60 führende Berliner Persönlichkeiten einluden — Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Kaufleute, Politiker, Schauspieler. Darunter war, was er mit großer Zufriedenheit vermerkt, auch Georg Brandes. 8 6 Den entscheidenden Durchbruch in der literarischen Öffentlichkeit Berlins brachten aber ohne Zweifel die Vorlesungen, mit denen Brandes Anfang 1880 und Anfang 1881 auftrat. 8 7 Am 26. Januar 1880 hielt er seinen ersten Vortrag in deutscher Sprache in Berlin, und zwar in der sogenannten Humboldt-Akademie; es war dies der Auftakt zu einer Reihe von sechs Vorträgen über moderne französische Literatur, die am 23. Februar abgeschlossen und im einzelnen vor allem von der National-Zeitung sehr positiv besprochen wurde — der Einleitungsvortrag wurde am 27. "Januar von dieser Zeitung — wie Brandes erwähnt — als »geistreich, formvollendet, stellenweise hinreißend warm« geschildert. 88 Noch bezeichnender für den Ruhm, den sich Brandes in Berlin erwarb, war es, daß er im November 1880 von Heinrich Rudolf von Gneist und Hermann von Helmholtz eingeladen wurde, im Wissenschaftlichen Verein in der Singakademie aufzutreten. Brandes erwähnt, daß die Vorlesungen in der Singakademie durch die Initiative der Kaiserin Augusta zustande gekommen waren, und daß im Rahmen dieser Veranstaltung jedes J a h r 12 führende Wissenschaftler eingeladen wurden, einen Vortrag zu halten. Die Bedeutung dieser Einladung kommt in der Reaktion Auerbachs zum Ausdruck, der Brandes mit folgenden Worten beglückwünschte : »Die Singakademie — das ist der literarische Geheimrathstitel, von größter Bedeutung für Ihre städtische Position.« 8 9 Bei dem Vortrag, den Brandes am 12. Februar 1881 in Anwesenheit der Kaiserin hielt, ging es wieder um französische Literatur des 19. Jahrhunderts, und zwar um die »Generation
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von 1830«, also u m jene Periode, die B r a n d e s im fünften, 1882 veröffentlichten B a n d der Hauptströmungen behandelt. A l s direktes Ergebnis dieses Vortrages, der a m folgenden T a g e in sehr lobend besprochen einem A u f s a t z in der Nationalzeitung wird 9 0 , erhält B r a n d e s eine Einladung zum Hofball, und obwohl er sich als » R e p u b l i k a n e r und halber Sozialist« versteht, schildert er ausführlich und mit unverkennbarem Selbstgenuß, wie er von allen Seiten mit Beifall bedacht wird und daß der Kaiser und vor allem die Kaiserin sich mit ihm unterhalten und seinen Vortrag loben. 9 1 Die zentrale Rolle, die sich B r a n d e s beim Abschluß seines Aufenthaltes in der Berliner Öffentlichkeit erobert hatte, geht mit aller Deutlichkeit a u s dem Bericht über d a s Abschiedsfest a m 1. F e b r u a r 1883 hervor. Die T a t s a c h e , daß sich im Kaiserhof eine »auserlesene V e r s a m m l u n g von mehr als hundert Personen, Gelehrte, Schriftsteller, Politiker, Künstler, Herren und D a m e n von der Gesellschaft« eingefunden hatte, nimmt der Berichters t a t t e r als Beweis d a f ü r , »welche große Anerkennung in den vornehmsten Kreisen unserer S t a d t der Schriftsteller B r a n d e s . . . sich erworben« 9 2 . An jenem Abend scharten sich u m ihn hervorragende Vertreter des bürgerlichen Liberalismus: die Universitätsprofessoren Gneist, Scherer, L a z a r u s , Steinthal, Geiger, Bernstein, Politiker wie K a p p und Löwe-Bochum, Schriftsteller wie P a u l Heyse und die B r ü d e r L i n d a u , Vertreter der Deutschen Rundschau wie Frenzel und Rodenberg. 9 3 Wenn m a n in B e t r a c h t zieht, daß B r a n d e s unter solcher Teilnahme der Öffentlichkeit Berlin verlassen h a t und daß Scherer in seiner F e s t r e d e B r a n d e s ' R a n g als Literaturhistoriker, vor allem als Goethe-Kenner, sehr hoch einschätzt, scheint eher die B e h a u p t u n g zuzutreffen, daß B r a n d e s »ein deutscher Schriftsteller« wurde, und nicht die etwas rhetorische Bescheidenheit, mit der er selbst bei dieser Gelegenheit seine Rolle in Berlin einschätzt. Dagegen kann m a n es gelten lassen, wenn er hervorhebt, d a ß sein eigentliches Arbeitsfeld S k a n d i n a v i e n geblieben i s t : »Ich habe fünf J a h r e in einer S t a d t gelebt als ein stiller P r i v a t m a n n , ich habe nicht eingegriffen in d a s öffentliche Leben und mein Scheiden läßt keine L ü c k e zurück. U n d so haben Sie zugleich den Grund, weshalb ich fort 141
muß: hier braucht man mich nicht, aber meine Freunde im Norden verlangen nach mir, sie brauchen mich.« 94 W a s Brandes' Lebensverhältnisse in Berlin betrifft, kann man feststellen, daß er trotz seiner engen Beziehungen zu führenden Vertretern der Berliner Universität nie eine feste Anstellung besessen oder sich um eine solche beworben hat; wie er dem Bruder- Edvard schreibt, waren für ihn feste Bindungen an Berlin nicht von Interesse, er würde eine Anstellung auch dann nicht annehmen, wenn er sie haben könnte. 95 Auch in dem Brief an Jacobsen vom 27. Juni 1880 hofft er auf einen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller ohne die Zwänge einer Beamtenexistenz. 96 Diese Haltung hängt sicherlich zusammen mit seiner Feststellung in einem Zeitungsaufsatz vom 16. Januar 1879, daß auch die Universitäten unter dem Druck des Sozialistengesetzes gleichgeschaltet worden sind: »Man wird bald sehen, daß ein großer Teil des Unterrichts an den deutschen Universitäten . . . für das herrschende Klasseninteresse in Sold genommen worden ist. Obwohl es nicht laut gesagt wird, wird es als die Aufgabe des Professors aufgefaßt, zu empfehlen und zu warnen, erst in zweiter Reihe nach der Wahrheit zu forschen und sie darzustellen. Dieselben Professoren der Jurisprudenz, die vor 15 Jahren in ihren Vorträgen die Ungerechtigkeit von Notstandsgesetzen behaupteten, halten jetzt ganze Vorlesungen, um deren Berechtigung,, ja Notwendigkeit zu beweisen.« 97 Als »-freier Schriftsteller« war Brandes zur Arbeitsweise eines Journalisten gezwungen, die natürlich die Qualität seiner Arbeiten prägte — er war geplagt von der Unmöglichkeit, über etwas zu schreiben, was sich nicht bezahlt machte, wenn es ihn auch interessierte. 98 Während des ganzen Aufenthaltes war er in Sorge wegen seiner unsicheren Geldeinnahmen. Wie er es in den Memoiren darstellt, lebte er in Berlin von einem Tag auf den anderen, in dauernder Geldknappheit und in der Hoffnung auf eine Honorarzahlung. 99 Dauernd mußte er dafür sorgen, irgendwelche kleinen Arbeiten bereit zu haben, um nicht in Verlegenheit zu geraten. 100 Das versetzte ihn in ein peinliches Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Redakteuren und Verlegern, die — wie er behauptet — keinesfalls so pünktlich zahlten wie er lieferte. 101 142
Ein Musterbeispiel seiner »durch Geldmangel erzwungenen Oberflächlichkeit« 1 0 2 ist das kurz nach dem Berliner Kongreß eritstandene Buch über Lord Beaconsfield (Benjamin Disraeli) ; hier sieht man den Bestsellerfabrikanten »-für das Leben, für das B r o t « 1 0 3 arbeiten: Das Manuskript wurde von Ende Oktober 1878 bis zum 6. Dezember geschrieben, und am 13. Dezember erschien d a s Buch in Kopenhagen; unter dem Zeitdruck hatte Brandes einen Arbeitstag, der morgens um 6 Uhr anfing und bis 23 Uhr 30 dauerte; dann schrieb er wieder von halb eins bis zwei und schlief dann wieder 4 Stunden. 1 0 4 Von entscheidender. Bedeutung für Brandes' Stellung in der literarischen Öffentlichkeit war sein Verhältnis zu Julius Rodenberg und zur Deutschen Rundschau. Schon im J u n i 1874 hatte Paul Heyse Brandes als Mitarbeiter der Rundschau vorgeschlagen, wofür ihm Rodenberg in einem Brief vom 20. J u n i 1874 herzlich dankt. Durch Heyse wird Brandes angeboten, daß er in Berlin vom 1. Oktober bis zum 1. April auf Kosten seiner Verleger, der Gebrüder Paetel, leben kann — sie bezahlen im voraus 600 Taler für 6 Bogen, die Brandes im L a u f e des Winters schreiben soll. Brandes wird sogar eine feste Mitarbeiterschaft in Aussicht gestellt: »-Später, sobald wir für die D. R. mehr von seiner K r a f t und Zeit in Anspruch zu nehmen wünschen und überhaupt in ein direktes Verhältnis mit ihm kommen, würden wir auch sein Einkommen verhältnismäßig erhöhen . . . Wir würden ihm hier höchstwahrscheinlich eine gute Stellung sichern können und ich würde glücklich sein, einen solchen Mann in Berlin und bei der Deutschen Revue zu haben.« 1 0 5 Am Anfang scheint sich Rodenberg sehr um den neuen Mitarbeiter bemüht zu haben — Brandes erwähnt z. B., daß Rodenberg ihm das Programm der Rundschau übersandt und auf seinen Vorschlag hin Änderungen vorgenommen hat. 1 0 6 Bald gibt es aber Schwierigkeiten: Brandes hat, wie er im März 1875 an Rodenberg schreibt, »Malheur« mit der Rundschau: Seine Aufsätze über Lassalle und' Heyse sind zu lang, kommen zu spät oder werden zurückgehalten, 1 0 7 worauf Rodenberg erwidert, daß er immer noch großen Wert auf die Zusammenarbeit legt.
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Brandes solle doch Nachsicht üben, »da die D R ihm eine Verbreitung, ein europäisches Publicum und Vortheile bietet, wie außer ihr nur noch die 'Revue des deux Mondes'« 108 . Im Brief vom 14. Juni 1875 bestreitet Rodenberg, daß der Verlag-'irgendwelche Verpflichtung hätte, Brandes' Arbeiten abzunehmen — er verweist darauf, daß es im Gegenteil Brandes ist, der die vertragliche Verpflichtung, für den Winter in Berlin zu bleiben, gebrochen hat. 1 0 9 Besonders in Verbindung mit den Lassalle-Aufsätzen muß sich Brandes Maßregelungen von seilen Rodenbergs gefallen lassen; am 12. Mai 1875 wird er gebeten, »in unserem beiderseitigen Interesse, das mittlere Maß von 20 Seiten jedesmal innezuhalten« 110 ; am 15. März 1875 verlangt Rodenberg, daß einige Stellen in dem Aufsatz Ferdinand Lassalle vor der Agitation gestrichen werden sollen, »da dieselben in der Deutschen Rundschau nicht erscheinen können« 111 . Am 9. September 1875 teilt Rodenberg die Ablehnung des ganzen zweiten Aufsatzes über Lassalle mit. Mit seiner durchaus positiven Einschätzung Lassalles hat Brandes die Toleranzgrenzen eines liberalen Publikums überschritten, um welches Rodenberg als Chefredakteur der Deutschen Rundschau sehr besorgt ist: »Ich für meinen Teil würde im Stande sein, einen Aufsatz, der, wie der anliegende, meinen Ansichten und selbst Sympathien diametral entgegengeht, als literarisches Wunderwerk zu betrachten und zu genießen; allein ich darf eine solche Objektivität der Mehrzahl unserer Leser nicht zutrauen, und würde, in Folge davon Mißdeutung, wenn nicht Schlimmeres zu befürchten haben.« 112 Die Art und Weise, wie der erste Lassalle-Aufsatz in der deutschen Übersetzung veröffentlicht wurde, veranlaßt Brandes dazu, seinem Widerwillen gerade diesem liberalen Publikum gegenüber Ausdruck zu geben: »Je fettere Ausdrücke je besser für den deutschen Spießbürger.« 113 Im Fall Paul Heyse wird Brandes auf ziemlich demütigende Weise als eine Art Handelsagent für den Lieblingsschriftsteller dieses Publikums eingesetzt; am 15. Dezember 1874 teilt Brandes Heyse mit, daß Rodenberg seinen Ausatz über ihn »ad acta« gelegt hat 1 1 4 ; am 14. Juni 1875 erfährt er von Rodenberg, daß 144
der Verlag die Zurückhaltung und Umarbeitung des Manuskripts verlangt; Brandes soll den neuen Roman von Heyse in das Manuskript einarbeiten, und der Aufsatz kann dann nach der Veröffentlichung des Romans erscheinen. Wert und Bedeutung seiner Arbeit werden ziemlich unverhohlen mit dem Marktwert und nicht mit dem ästhetischen und wissenschaftlichen Rang identifiziert: »Sobald ein neuer Roman von Heyse die Aufmerksamkeit auf ihn wieder gelenkt, wird ein Aufsatz, der den Dichter und sein neuestes Werk im Zusammenhäng mit seinen früheren beschreibt, sofort den Platz in der D R finden, den er wegen seiner erhaltenen Bedeutung beanspruchen darf.« 1 1 5 Seinem Arger über diese Zumutung gibt Brandes Heyse gegenüber Ausdruck in den Worten, »von den Herrn von der Rundschau hab ich so ziemlich genug« 116 , und in einem Brief an Heyse vom 11. Februar 1876 bezeichnet er es als eine Unmöglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, »wenn die Sachen da bisweilen 1^2 J a h r liegen ehe sie zur Aufnahme gelangen« 117 . Noch Anfang 1879 beklagt er sich, daß Rodenberg ihn wie einen Mann ohne Rang und Namen behandelt und ihn zu umfassenden Kürzungen eines Aufsatzes zwingt. Aber andererseits scheint er sich bewußt zu sein, daß die Mitarbeiterschaft an der Deutschen Rundschau der Weg zum Ruhm ist: »Harte Conditionen! aber da ich noch nicht in Deutschland durchgedrungen bin, füge ich mich ohne Murren.« 118 Auch an anderen Stellen in dem Briefwechsel mit Heyse wird Rodenberg kritisiert — er bezahlt nicht 1 1 9 , und seine ästhetische Urteilskraft findet Brandes weit geringer als den Kaufmannsgeist, mit dem er zugkräftige Autoren um sich versammelt; »er geht nach Namen, und selbständiges Urtheilen ist sein Fach nicht« 120. Anfang des Jahres 1877 nimmt Rodenberg nach einer fast anderthalbjährigen Unterbrechung des Briefwechsels den Kontakt zu Brandes wieder auf und bittet um eine Erneuerung der Mitarbeiterschaft; er schlägt ihm u. a. vor, einen Aufsatz über Hippolyte Taine zu schreiben. Rodenberg betont, daß er Brandes als einen bedeutenden Mitarbeiter betrachtet, und versichert, daß »Sie bei den Lesern der Rundschau fortwährend im besten 10
Wruck, Leben, Bd. I
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Andenken stehen, und daß es dem Herausgeber eine Ehre und Freude sein würde, Sie auch fernerhin sieh an derselben betheiligen zu sehen« 121 , und als Brandes seine Zustimmung gibt und vorschlägt, Aufsätze sowohl über Taine als auch üb^r Stuart Mill zu schreiben, erklärt Rodenberg in bezug auf die früheren Unstimmigkeiten, daß ihm daran liegt, »-beim Wiederbeginn unserer lit. Beziehungen, Alles zu vermeiden, was geeignet ist, einen Schatten auf dieselben zu werfen« 122 . Der eigentliche deutsche und europäische Ruhm beginnt für Brandes mit dem Disraeli-Buch, das schon Anfang 1879 Rodenberg als eine Folge von Aufsätzen angeboten wird; wie aus den nach diesem Zeitpunkt gewechselten Briefen zu ersehen ist, avanciert Brandes mit dieser Arbeit zum »Star-Autor« der Deutschen Rundschau. Als Privatmann und als Geschäftsmann weiß Rodenberg die Arbeit zu schätzen; sie »gehört . . . zu den bedeutendsten, welche zu publizieren die Rundschau bisher das Glück gehabt hat«; mehr noch: Bei dieser Arbeit hat Rodenberg keine politischen Vorbehalte; indem ersieh selbst in die Rolle des durchschnittlichen Lesers seiner Zeitschrift versetzt, sieht er nun den Erfolg beim Publikum voraus: »Außer dem Dank, welchen ich Ihnen als Leser schulde, bringe ich Ihnen auch den des Herausgebers dar.« 123 Gleich am nächsten Tag kann Rodenberg Brandes mitteilen, daß er die Brüder Paetel überredet habe, die deutsche Übersetzung des Disraeli-Buches zu übernehmen 124 ; am 11. März verweist er auf »das allgemeinste Aufsehen« 125 , welches das Buch forldauernd in Deutschland und Berlin erweckt. Die Lobeshymnen Rodenbergs erreichen ihren Höhepunkt in dem Brief vom 13. Oktober 1879, wo Brandes förmlich mit Lorbeeren überschüttet wird; deutlich beeindruckt erwähnt Rodenberg die glänzende Beurteilung des Z)tsraeZt-Buches in Frankreich und England, wo es in den führenden Zeitschriften mehrfach lobend besprochen wird, und auch andere mittelbare Bemühungen der Deutschen Rundschau zur Verbreitung von Brandes' Ruf werden erwähnt: ein Aufsatz des dänischen Ministers Raasloff Der dänische National• charakter und Dänemarks Verhältnis zu Deutschland im Septemberheft und Scherers Besprechung des Kierkegaard-Buches im Okto146
berheft. Hiermit scheint die Souveränität erklärt, die Brandes offenbar Rodenberg gegenüber gewonnen hat, wenn dieser ihn jetzt bittet anzugeben, »welche Wünsche und Absichten Sie haben, damit ich Ihnen sogleich den erforderlichen Raum reservieren kann« 126 . Mit diesem Brief öffnet Julius Rodenberg die Deutsche Rundschau für den zentralen Teil von Brandes' Aufsätzen; in seinem Brief vom 17. Oktober schildert er seine Schwierigkeiten, den fünften Band der Hauptströmungen zu vollenden und bietet Rodenberg Abschnitte aus diesem Band, der die französische Literatur zwischen 1830 und 1848 behandelt, als Aufsätze an; für die Zukunft hat Brandes auch andere interessante Offerten — und zwar mit der Bedingung, daß man ihm bei der Behandlung des vorgeschlagenen Gebietes eine Monopolstellung einräumt. Er will in der Deutschen Rundschau über den französischen Naturalismus schreiben und beansprucht dafür das Monopol, weil er in Deutschland der führende Kenner dieser Richtung ist : »Ich möchte mir die Behandlung der neuesten französischen Romanverfasser Flaubert, Goncourt, Zola vorbehalten. Sie finden Niemand in Deutschland, der diese Leute genauer studiert hat wie ich . . . Ich bitte nur, mir von keinem Andern diesen Stoff wegnehmen zu lassen.-«127 Voll Begeisterung für Brandes' Vorschlag verspricht Rodenberg Platz für einen Aufsatz über Mérimée und fügt hinzu, daß »kein Anderer als Sie über die 'Naturalisten' Flaubert, Goncourt und besonders Zola in der 'Rundschau' schreiben soll« 128 . Rodenberg begründet dies Entgegenkommen — und zwar besonders in bezug auf Zola; der ihn besonders zu interessieren scheint — damit, daß Brandes' Vorschlag unerwartet Rodenbergs eigenen Wünschen entgegenkommt; aber die Tatsache, daß Rodenberg in dieser Frage Brandes vollkommen freie Hand gibt, zeugt von einem Ansehen, das keine kleinlichen Korrekturen oder Zensuren mehr erlaubt, hier wird einer absoluten Prominenz ein Angebot gemacht: »Sie sind der Mann, auf den ich gewartet und den ich vorher angekündigt habe, als ich in meiner Notiz über Zola (im Septemberheft der Rundschau) sagte, daß ich einer eingehenden Arbeit über diesen merkwürdigen Mann und sein Werk nicht 10*
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vorgreifen wolle. Verfügen Sie daher ganz über meine Zeitschrift; sie steht Ihnen offen (sobald Sie mir sagen, daß Sie den Aufsatz schreiben wollen — j e eher, desto besser!).« 1 2 9 Damit verfügt Brandes 10 J a h r e vor dem eigentlichen Durchbruch des Naturalismus in Deutschland für diese Richtung über eine Plattform, die an und für sich kaum zu deren Verbreitung geeignet scheint. Über die Aufsätze, welche Brandes in der Deutschen Rundschau über den französischen Naturalismus und Realismus veröffentlichte 1 3 0 , urteilen Bengt Algot Serensen 1 3 1 und Walter B a u m g a r t n e r 1 3 2 übereinstimmend, daß Brandes sich in der Auffassung dieser Richtungen allerdings den ästhetischen Normen der Rundschau und ihres Pu blikums dermaßen unterwarf, daß Baumgartner diese Aufsätze geradezu als eine »-Abwehr des Naturalismus« und als symptomatisch dafür ansieht, wie die Verbindung zur Rundschau das ursprüngliche radikale Engagement von Brandes in die passive Hinnahme der Normen jener großbürgerlichen Zeitschrift verwandelte, die ihm Geltung verschaffte: »Brandes hat sich in Deutschland mit dem literari-" sehen und akademischen Establishment in so enger Weise verbunden, daß ihm keine Möglichkeit blieb, eine neudenkende, radikale literarische Bewegung in Deutschland zu unterstützen oder von ihr als Fürsprecher akzeptiert zu werden. Als diese Bewegung endlich k a m . . . stand Brandes ganz im Lager der arrivierten bürgerlichen Realisten und Epigonen der Klassik.« 1 3 3 Baumgartner ist der Meinung, daß Brandes dem Naturalismus gegenüber den Geschmack des immer mehr zum Großbürgerlichen tendierenden Publikums der Rundschau teilte und daß er von dieser Stellung in der Öffentlichkeit aus bewußt oder unbewußt den Naturalismus umdeutete; er wurde, wie Baumgartner meint, »•das radikale liberale Alibi der deutschen Naturalismusabwehr«. 1 3 4 Wie Sarensen nachweist 1 3 5 , geschieht diese Anpassung vor allem durch eine »Entrealisierung« des Realismus und Naturalism u s ; es erfolgt eine starke Hervorhebung des wirklichkeitumbildehden Formwillens und subjektiven »-Temperaments« des Künstlers, eine Hervorhebung der Bedeutung der literarischkünstlerischen Tradition, der mythologischen und symbolischen Elemente. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Zola-Aufsatz,
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dessen B e d e u t u n g darin zum Ausdruck k o m m t , d a ß er 1889 als S e p a r a t d r u c k erschien, u n d die Tatsache, d a ß er gleichermaßen zwei so verschiedene Persönlichkeiten wie Arno Holz ¡und Rodenberg als eine maßgebliche Leistung beeindrucken k o n n t e . Rodenberg lobt überschwenglich die Art, wie Brandes ihm, d e m traditionsbewußten, klassisch gebildeten Bürger, die rohe Wirklichkeitsdarstellung Zolas s c h m a c k h a f t gemacht h a t : »So begierig war ich, Ihre Arbeit kennen zu lernen, d a ß ich mich,nicht darin u n t e r b r e c h e n wollte, u n d Ihnen j e t z t erst schreibe, n a c h d e m ich sie mit E n t z ü c k e n zu E n d e gelesen habe. Nicht, d a ß ich selber ein unbedingter Anhänger von Zola wäre; aber I h r Verfahren ist ein w u n d e r b a r e s : . . . so gewaltig, mächtig und sprechend h a b e ich ihn nie behandelt, niemals die classischen u n d romantischen Züge seines Naturalismus . . . so exact nachgewiesen gesehn. Geradezu f r a p p a n t in dieser Hinsicht sind Ihre A n k n ü p f u n g e n an Homer, das griechische Idyll u n d Ovid, an die Bibel, Klopstock, Milton u n d nicht am Wenigsten die Parall'elstellen aus Novalis. Mit solcher Beherrschung der W e l t l i t e r a t u r aus der Tiefe herausgeholt h a t noch Niemand den Zola, wie Sie es hier gethan.« 1 3 6 Obwohl B a u m g a r t n e r von »Verkennung« oder »Abwehr« des Naturalismus sprechen zu müssen glaubt, b e r u f t sich Arno Holz in seinem Aufsatz Zola als Theoretiker m e h r f a c h z u s t i m m e n d auf den » u n b e k a n n t e n Essay ü b e r den Dichter« 1 3 7 von Brandes u n d ü b e r n i m m t von ihm W e r t u n g e n sowie z. B. die Auffassung, d a ß Zola von Taine u n d Balzac ausgeht. 1 3 8 »Der P r a k t i k e r Zola b e d e u t e t e einen F o r t s c h r i t t , der Theoretiker Zola einen Stillstand.« 1 3 9 F ü r die These, d a ß sich Brandes im Laufe der J a h r e d u r c h seine Verbindung zur Deutschen Rundschau i m m e r mehr d e m Geschmack u n d Weltbild von deren großbürgerlichem P u b l i k u m u n t e r w a r f , l ä ß t sich auch folgendes a n f ü h r e n : N a c h d e m B r a n d e s im L a u f e des J a h r e s 1879 zu einem der angesehensten Mitarbeiter der Rundschau geworden ist, gibt es in seinem Briefwechsel keine Klagen m e h r ü b e r Rodenberg oder über die Zeitschrift; die i m m e r besseren Beziehungen k o m m e n auch in der E i n s c h ä t z u n g des Berlin-Buches aus dem J a h r e 1881 zum Ausdruck, wo B r a n d e s s c h r e i b t , die »'Deutsche R u n d s c h a u ' h a t das v o r n e h m s t e Publi-
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kum, und in literarischer Hinsicht nimmt sie unbedingt den ersten Rang ein. . . . Mit ca. 9000 Abonnenten (ist sie) wissenschaftlicher und fordert mehr Voraussetzungen bei ihren Lesern.« 1 4 0 Auch als feststeht, daß Brandes nach Dänemark zurückkehren wird, verabschiedet Rodenberg sich im besten Einverständnis von ihm und verspricht ihm, daß die Rundschau immer Wert darauf legen wird, die »-Vermittlerin zwischen Ihnen und Ihren zahlreichen Freunden und Verehrern in Deutschland zu sein« 1 4 1 . Trotzdem ist es bemerkenswert, daß Brandes zwischen 1882 und 1888 dort keine einzige Arbeit publiziert und daß nach dem Nietzsche-Aufsatz von 1890 die Verbindung 11 J a h r e unterbrochen bleibt, bis er 1901 zum letzten Mal einen Beitrag (über H. C. Andersen) in der Rundschau veröffentlicht. Ohne daß es mit einer stärkeren, für die Rundschau nicht akzeptablen Annäherung an den Naturalismus zu tun haben müßte, scheint die allgemeine Fremdheit zwischen Rodenberg und der Rundschau einerseits, Brandes andererseits klar zutage zu treten. Brandes scheintdie Rundschau vorallem als ein Instrument benutzt zu haben, um in Deutschland berühmt zu werden; nach der Rückkehr in die Heimat lösen sich die Verbindungen ziemlich schnell — zumal er sich zu diesem Zeitpunkt unabhängig von der Rundschau auf dem deutschen Markt durchsetzen konnte. Als Rodenberg ihn nach sechsjähriger Unterbrechung des Briefwechsels nach den Gründen für die Entfremdung f r a g t , 1 4 2 antwortet Brandes, daß die Rundschau 1890 die Veröffentlichung des Heine-Abschnittes aus dem sechsten Teil der Hauptströmungen, dem Buch über Das junge Deutschland, abgelehnt hatte und daß seitdem weder dieses, noch irgend ein anderes Buch von Brandes in der Rundschau besprochen worden ist 1 4 3 . Rodenbergs Entschuldigung, die von einer verblüffenden »Vergeßlichkeit« — besonders einem früheren Mitarbeiter von europäischer Berühmtheit gegenüber — zeugt, kann man kaum gelten lassen (»die Herren, welche die Bücher anzeigen, suchen sich diese nach ihrer eignen Wahl aus und solche Recensenten, die Alles besprechen würden, was ich Ihnen [sie!] eben zuschicke, passen wiederum nicht für die 'Rundschau'. Kurz, es ist auch nicht hier Unfreundlichkeit gewesen, die Ihre Bücher einfach ignoriert hätte« 1 4 4 ). Eher gibt die
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Tatsache, daß das Buch über Heine und das junge Deutschland in der Freien Bühne — wie oben erwähnt — sehr lobend besprochen wurde, wogegen es weder für Aufsätze, noch für eine Rezension in der Rundschau einen Platz gab, die richtige Erklärung. Brandes hatte ein Bild des Vormärzlers und radikalen Umstürzlers Heine entworfen, das der jetzt vollends staatserhaltenden Zeitschrift nicht'ins Konzept passen konnte; aus den Bindungen zur Deutschen Rundschau gelöst, war Brandes — jetzt aber ohne einen allgemeinen Fortschrittsoptimismus — zu jener gesellschaftskritischen Radikalität zurückgekehrt, die den Verfasser der LassalleAufsätze charakterisiert hatte. E s läßt sich feststellen, daß Brandes während seines Aufenthaltes 1877—1883 eine zentrale Position in der literarischen Öffentlichkeit Berlins eroberte und daß er während dieses Aufenthaltes die Grundlagen für seinen deutschen und europäischen Ruhm legte. Brandes lebte in Berlin zu einer Zeit, als ihm das literarische Leben generell servil, leer und frei von sozialen Debatten schien. Trotzdem oder gerade dadurch hat diese Periode Brandes' Entwicklung entschieden geprägt. Der literarische, politische und kulturpolitische Stillstand im Schatten der politischen Reaktion übte einen starken Einfluß auf den radikalen bürgerlichen Demokraten aus. Einerseits mußte er sich, um durchzudringen, den herrschenden literarischen Marktverhältnissen unterwerfen und damit der Reaktion zeitweilig Zugeständnisse machen. Andererseits prägten die Berliner Erlebnisse nachhaltig die Lebenshaltung des reifen Brandes, seinen — wie er von Nietzsche sagte — »aristokratischen Radikalismus«; beeindruckt durch den Sieg der Reaktion, verliert Brandes die allgemeine Fortschrittsperspektive, die er noch bei der Ankunft in Berlin hatte. Nach Berlin gibt es für Brandes keinen allgemeinen Fortschritt mehr, keinen Fortschritt der Massen. Die radikale Gesellschaftskritik und die Entwicklungsperspektive, die er beibehält, sind jetzt allein an den geistigen Aristokraten, den »großen Menschen« geknüpft. \
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Georg Brandes, Hovedstromninger i det 19. ârhundredes litteratur. Kebenhavn 1966, Bd. î, S. 14-15. Ebenda, S. 16. — Alle dänischen Zitate vom Verfasser übersetzt. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 20. ' Ebenda, S. 14—15. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 18. Edvard og Georg Brandes, Brevveksling 1866—1877. Kebenhavn 1972, S. 64. Ebenda, S. 91. Georg Brandes, Correspondance. Lettres choisies et annotées par Paul Krüger. Bd. III: L'Allemagne. Kobenhavn 1966, S. 118-119. Correspondance III, S. 150. Ebenda. Ebenda, S. 153. Ebenda, S. 154. Georg Brandes, Levned. Bd. II, Kobenhavn 1907, S. 234. Georg Brandes, Berlin som tysk Bigshovedstad. Kebenhavn 1885, S. 18. Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 515. Ebenda, S. 526. Ebenda, S. 109. Ebenda, S. 253. Ebenda, S. 432. Ebenda, S. 160. Ebenda, S. 167-168. Brief an Heyse, 11. 10. 1878. Correspondance III, S. 192. Brief an Heyse, 29. 2. 1879. Ebenda, S. 193. Berlin som tysk Bigshovedstad, S. 233. Ebendâ, S. 233. Ebenda, S. 238. Ebenda. Ebenda, S. 253. Ebenda, S. 250. Levned II, S. 308. ' Berlin som tysk Bigshovedstad, S. 262. Ebenda, S. 111.
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Ebenda, S. 268-269. Levned II, S. 306. Berlin som tysk Rigshovedstacl, S. 50. Ebenda, S. 51-52. Ebenda, S. 51. Ebenda. Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 267. Ebenda. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 436. Ebenda, S. 442. Ebenda. Edvard og Georg Brandes's Brevveksling med nordiske Forfattere og Videnskabsmsend. Kabenhavn 1939-1942. Bd. III, S. 136. Edvard og Georg Brandes's Brevveksling II, S. 106. Brief an Fitger, 22. Mai 1882. Correspondance III, S. 330-331. Levned II, S. 115. Bertil Nolin, Den gode europén. Studier i Georg Brandes Ideutveckling 1871-1893. Uppsala 1965, S. 17-18. Ebenda, S. 19-20. Adolf Strodtmann, Das Geistige Leben Dänemarks. Berlin 1873, S. 126. Ebenda, S. 269-339. Deutsche Rundschau, B d . 1, 1874, S. 139. Ebenda, S. 140. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 141. Ebenda. Westermanns Monatshefte 34 (1873). Hier zitiert nach: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. X V I I . Göttingen 1974, S. 304. Ebenda. Westermanns Monatshefte 53 (1883). Hier zitiert nach: Dilthey, Gesammelte Schriften X V I I , S. 459. Deutsche Rundschau Bd. 21 (1879) S. 163. Ebenda, S. 164. Nolin, Den gode europén, S. 45—46. Deutsche Rundschau Bd. 21, 1879, S. 330. Ebenda, S. 333.
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Deutsche Rundschau Bd. 30, 1882, S. 145. Ebenda. Ebenda, S. 146. Ebenda. Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890), S. 1178. Ebenda. Ebenda, S. 1181. Brief an Hevse, 29. Mai 1878. Correspondance III, S. 182-183. Correspondance III, S. 190. Ebenda, S. 191. Ebenda, S. 190f. Georg og Edvard Brandes' Brevveksling II, S. 106. Ebenda, III, S. 152. Ebenda, II, S. 114. Levned II, S. 373. Levned II, S. 357. Siehe auch Nolin, S. 51-52. Levned II, S. 357. Ebenda, S. 374. Ebenda, S. 375. Ebenda, S. 376-80. Vossische Zeitung, 3. Februar 1883. Ebenda. Ebenda. Brief vom 15. November 1881. Georg og Edvard Brandes' Brevveksling II, S. 106. Georg og Edvard Brandes's Brevveksling IV, S. 152. Berlin som tysk Rigshovedstad, S. 273. Levned II, S. 323. Ebenda, S. 322, 372. Ebenda, S. 322. Ebenda. Ebenda, S. 320. Ebenda, S. 321. Ebenda. Klaus Bohnen (Hg.), Brandes und die »Deutsche Rundschau«. Unveröffentlichter Briefwechsel zwischen Georg Brandes und Julius Rodenberg. Kopenhagen u. München 1980, S. 31. Brief an Brachner, 31. August 1874. — Georg og Edvard Brandes's Brevveksling I, S. 207. Bohnen, Brandes und die » Deutsche Rundschau «, S. 34. Ebenda, S. 35.
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109 E b e n d a , S . 37. — B r a n d e s ' R ü c k k e h r nach K o p e n h a g e n scheint nicht e t w a mit Mißerfolgen in Berlin zu tun zu haben — es handelte sich um rein persönliche und familiäre Beweggründe, die ihn nach K o p e n h a g e n zurückzogen. 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128
E b e n d a , S. 36. Ebenda. E b e n d a , S. 39. Brief an Heyse, 10. Februar 1875. Correspondance I I I , S. 91. Correspondance I I I , S. 83. Bohnen, B r a n d e s und die » D e u t s c h e R u n d s c h a u « , S. 37. Brief an l l e y s e , 1. J u l i 1875. Correspondance I I I , S. 114. E b e n d a , S. 151. Brief an Heyse, 29. F e b r u a r 1879. Correspondance I I I . S . 195. Brief an Heyse, 12. N o v e m b e r 1874. Correspondance I I I , S. 77. Brief an Heyse, 10. F e b r u a r 1875. Correspondance I I I , S. 92. Brief Rodenberg an B r a n d e s , 19. März 1877. Bohnen, B r a n d e s und die » D e u t s c h e R u n d s c h a u « , S. 42. Brief R o d e n b e r g an B r a n d e s , 21. April 1877. E b e n d a , S. 43. Brief R o d e n b e r g an Brandes, 17. J a n u a r 1879. E b e n d a , S. 48. Brief R o d e n b e r g an B r a n d e s , 18. J a n u a r 1879. E b e n d a . Brief Rodenberg an Brandes, 11. März 1879. E b e n d a , S. 49. Brief Rodenberg an Brandes, 13. Oktober 1879. E b e n d a , S. 51. Brief an Rodenberg, 17. Oktober 1879. E b e n d a , S. 5 2 - 5 3 . E s scheint eine mündliche Vereinbarung gegeben, zu haben, die nicht in dem Briefwechsel zwischen B r a n d e s und R o d e n b e r g erw ä h n t wird, aber im Brief an S c h a n d o r p h v o m 27. Dezember 1879 schreibt B r a n d e s , daß die Deutsche Rundschau, »diese sonst so verwöhnte Zeitschrift«, ihm nach dem E r f o l g seines Disraeli-Buches angeboten habe, den ganzen fünften B a n d der llauptströmungeii als Teil- oder Vorabdrucke in der Zeitschrift erscheinen zu lassen. — Georg og E d v a r d Brandes, Brevveksling IV, S. 182.
129 Brief R o d e n b e r g an B r a n d e s , 21. Oktober 1879. Bohnen, B r a n d e s und die » Deutsche R u n d s c h a u «, S. 53—54. 130 E s handelt sich u m »Prosper Mérimée«, Deutsche R u n d s c h a u B d . 22 (1880), S. 3 5 5 - 3 7 1 , Deutsche R u n d s c h a u B d . 23 (1880), S. 65—80, »Moderne französische Romanschriftsteller I — Honoré de Balzac«, Deutsche R u n d s c h a u B d . 26 (1881), S. 5 5 - 8 7 , »Moderne französische Romanschriftsteller I I — G u s t a v e F l a u b e r t « , Deutsche R u n d s c h a u B d . 27 (1881), S. 3 9 0 - 4 1 7 , »Moderne französische Rom a n s c h r i f t s t e l l e r i n — E d m o n d und J u l e s de Goncourt«, Deut-
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sehe Rundschau Bd. 31 (1882), S. 60-78, »Emile Zola«, Deutsche Rundschau Bd. 54 (1888), S. 27-44. Bengt Algot Sorensen, Georg Brandes als »deutscher« Schriftsteller. In: Hans Hertel og Svend Moller Kristensen (Hg.), The Activist Critic. A symposium on the political ideas, literary methods and international reception of Georg Brandes. Munksgärd/Kabenhavn 1980, S. 137-138. Walter Baumgartner, Georg Brandes' Zola-Aufsatz in der »Deutschen Rundschau« 1888 als Beitrag zur Verkennung und Abwehr des Naturalismus. In: The Activist Critic, S. 163ff. Ebenda, S. 162-163. Ebenda, S. 163. Algot Sorensen, Georg Brandes als » deutscher Schriftsteller«, S. 137-138. Brief Rodenberg an Brandes. Bohnen, Brandes unddie » Deutsche Rundschau «, S. 67. Freie Bühne 1890, S. 103. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 102. Berlin som tysk Rigshovedstad, S. 419. — Brandes vergleicht hier mit den von Spielhagen -herausgegebenen Westermanns Monatsheften. Brief Rodenberg an Brandes, 29. Juli 1882. Bohnen, Brandes und die » Deutsche Rundschau «, S. 62. Brief Rodenberg an Brandes, 21. August 1896. Ebenda, S. 70-71. Brief an Rodenberg, 26. August 1896. Ebenda, S. 72. Brief Rodenberg an Brandes, 29. August 1896. Ebenda, S. 73.
Universitätsgermanistik und zeitgenössische Literatur Wilhelm Scherers Berliner Jahre 1877-1886 WOLFGANG HÖPPJNER
Als die Königliehe Akademie der Wissenschaften zu Berlin Wilhelm Scherer 1884 zu ihrem ordentlichen Mitglied ernannte, war er der erste Universitätsprofessor für neuere deutsche Literaturgeschichte, dem eine solche Würdigung zuteil wurde. Damit fand gleichsam die jahrzehntelange Auseinandersetzung um Gegenstand und Zielprogrammatik der Universitätsgermanistik einen relativen Abschluß: Die neuere deutsche Literaturgeschichte hatte sich vornehmlich unter Scherers Wirken als eine anerkannte Wissenschaftsdisziplin etabliert. Im Prozeß dieser Neuorientierung gewann die verstärkte Hinwendung von Vertretern der germanischen Philologie zur zeitgenössischen Literatur einen hohen wissenschaftsgeschichtlichen Stellenwert. Wenn Scherer in seiner Antrittsrede in der Akademie u. a. formulierte, daß die Germanistik das Recht, ja die Pflicht habe, »der Litteratur der Gegenwart ihren sympathischen Antheil zu schenken« 1 , so war dies eine deutliche Absage an jene Vertreter seines Faches, für die eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Literatur der Gegenwart undenkbar war. »Die alte Generation sah Scherer mit Kopfschütteln an, als er die neuere Literaturgeschichte philologisch zu unterbauen suchte. Die von der Sprachwissenschaft kommenden Vertreter der alten Germanistik suchten zum Teil noch die Beschäftigung mit der neueren Literatur als unwissenschaftlichen Dilettantismus zu diskreditieren.« 2 Diese Aussagen vermitteln eine Vorstellung von der Tragweite der. Bemühungen Scherers um die zeitgenössische Literatur, die 157
vor allem in seiner Berliner Schaffensphase von 1877 bis zu seinem Tode 1886 produktiv und folgenreich gewesen sind. Scherers Interessen und Neigungen für die literarische Entwicklung der Gegenwart haben sich frühzeitig herausgebildet. In seiner Wiener und Berliner Studienzeit von 1858 bis 1862 eröffneten sich für ihn bereits erste Kontakte zum literarischen und kulturellen Leben. Er gehörte zu denjenigen, die Fanny Lewald und Adolf Stahr in ihren literarischen Salon einluden, 3 so daß er schon als Student Zugang zu jenem »fein gestimmte(n) Kreis« 4 gefunden hatte, der dort verkehrte. Folgenreicher für seine weitere Entwicklung war jedoch das Verhältnis des jungen Scherer zum Hause des Berliner Verlegers Franz Duncker, das in der Studentenzeit seinen Anfang nahm und danach von beiden Seiten gepflegt wurde. So schrieb Scherer an Karl Müllenhoff am 24. September 1864 aus Wien, daß er mit Franz Duncker zusammengetroffen sei. 5 Wilhelm Dilthey berichtete 1865 in einem Brief an seine Mutter: «Es ist mir recht in die Seele gegangen, als gestern Frau Duncker von meinem" Freunde Scherer erzählte, der in Wien Privatdocent ist und den sie dort bei seinen Eltern besuchte.« 6 Später war es u. a. Friedrich Spielhagen, der den Kontakt zwischen Scherer in Wien und den Dunckers mitunter brieflich vermittelte. 7 Und nachdem Scherer seine Professur an der Berliner Universität angetreten hatte, hielt er den persönlichen Kontakt zu Lina Duncker aufrecht. 8 Die Bedeutung dieser Beziehung bestand für ihn nicht nur darin, daß Franz Duncker einer der ersten Verleger seiner wissenschaftlichen Schriften wurde, wie das z. B. die Veröffentlichung der Geschichte der deutschen Sprache 1868 und anderer Werke zeigt, sondern ebenso in der Tatsache, daß die Dunckers zu den Buchhändlerfamilien Berlins gehörten, die das literarische Leben vor und nach der Reichsgründung mitgestaltet haben. Im Kreis um Franz Duncker, der bis 1877 Mitglied des preußischen Landtages und Deutschen Reichstages war, traf »sich das liberale Berlin noch einmal in einem Salon. . . . (D)ie Gespräche kreis(t)en um Volksbildung, um Möglichkeiten der geistigen Aktivierung der Handwerker- und Arbeiterbevölkerung«. 9 Diese 158
Debatten entsprachen voll und ganz den Intentionen Scherers, der zur gleichen Zeit in Wien im Gefolge Anton Mengers ein wachsendes Interesse für die Arbeiterschaft entwickelt und sich gemeinsam mit seinem Freund Theodor Gomperz um die Gründung von Arbeiterbildungsvereinen, Konsumvereinen und Produktivgenossenschaften verdient gemacht hatte. 10 Dunckers Engagement auf dem Gebiet der Berliner Gewerkvereine ist auch insofern von Belang gewesen, als Scherers erste Arbeit zur neueren deutschen Literatur ein Vortrag über Achim von Arnim war, den er am 12. Dezember 1867 sicher nicht zufällig im Berliner Handwerkerverein gehalten hat. Diese Berührungspunkte Scherers mit dem literarischen Leben in Berlin sind in seiner weiteren Entwicklung nicht ohne Wirkung geblieben. In den folgenden Jahren wurde die Hinwendung zur zeitgenössischen Literatur ein fester Bestandteil seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, und die Beziehungen zu Schriftstellern seiner Zeit wurden vielgestaltiger. Bereits in der Wiener Schaffenspha'se (1864—1872) stand er in freundschaftlicher Verbindung mit Gustav Frey tag. 1 1 Gemeinsam mit Eduard von Bauernfeld und Adolf Wilbrandt verkehrte er in der Villa Wertheimstein in Döbling bei Wien, die ein Pendant zu den Berliner Salons darstellte. 12 Bei gelegentlichen Aufenthalten in Berlin stattete Scherer auch Hans Hopfen Besuche ab, 1 3 mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband. 1872 wurde Wilhelm Scherer an die neu gegründete ReichsUniversität Straßburg berufen. Damit vollzog sich zugleich eine deutliche Wendung in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit von der Sprachgeschichte und Textkritik zur intensiveren Forschung auf dem Gebiet der Literaturgeschichte. Noch im selben Jahr gründete er ein germanisches Seminar, wo er zwei Übungskurse zur altdeutschen und neueren Literatur hielt. Die im Zusammenhang mit dem Seminar ins Leben gerufene »Germanistenkneipe« etablierte sich schon bald zu einer sogenannten»• Kellergemeinde« 14 , in der die neuesten literarischen Werke Gottfried Kellers gelesen und besprochen wurden. In diesen Jahren erschienen auch die ersten Literaturkritiken Scherers vornehmlich zu Werken von Gustav Frey tag, Gottfried Keller und Otto Ludwig. 15
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Die Straßburger Zeit brachte aber auch einen entscheidenden Verlust mit sich, nämlich den der unmittelbaren Anteilnahme am literarischen Leben in den Zentren Deutschlands und Österreichs. Scherer selbst hat diesen Zustand nie öffentlich beklagt, zumal er als überzeugter Anhänger Bismarcks in dem Bewußtsein arbeitete, auch eine politische Mission im Elsaß ausfüllen zu müssen. 16 Trotz dieser Einsicht war die Übersiedlung nach Berlin doch das ersehnte Ziel seiner Wünsche. Das geht unzweideutig aus einem Schreiben des Königlichen Staatsministers und Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten Adalbert Falk vom 2. Mai 1877 hervor, das er im Zusammenhang mit Scherers Berufung nach Berlin an den Königlichen Staatsund Finanzminister Otto Camphausen sandte. Hier heißt es u. a . : »-Er (Scherer — W. H.) erkennt die Berliner Universität als den für ihn geeignetsten Platz und wünscht lebhaft die hiesige Professur gewissermaßen als den natürlichen Zielpunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn.« 1 7 Überdies bedeutete die Reichshauptstadt eben auch ein verändertes, bisher nicht gekanntes Wirkungsfeld für Scherer unter Schriftstellern und innerhalb der literarischen Verhältnisse in der Metropole. Wilhelm Scherer wurde am 13. August 1877 an die FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin berufen und nahm mit Beginn des Wintersemesters seine Tätigkeit als Ordinarius auf. Sein Berufungsvorgang macht kenntlich, daß er zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Höhe seiner Karriere stand. Nach Auffassung des Reichskanzlers Bismarck galt Scherer als »der namhafteste Vertreter allgemeiner humaner Bildung« 18 , der in Straßburg als einziger »•ein Auditorium von 200 Zuhörern zusammengebracht hat« 1 9 und deshalb maßgeblich zum Ansehen dieser Universität beitrug. Mit ähnlichen Argumenten hatte die Philosophische Fakultät in Berlin jahrelang energisch dafür gekämpft, daß Scherer an die hauptstädtische Universität berufen wurde, und sich mit Erfolg geweigert, einen anderen Fachvertreter vorzuschlagen. In einem der zahlreichen Schreiben an den Kultusminister vom 5. November 1875 heißt es dazu: »Die unterzeichnete Fakultät würde daher auch jetzt noch, so sehr sie, wie gesagt, das Bedürfniß anerkennt, in Verlegenheit sein, Ew. Excellenz
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eine demselben wirklich genügende Persönlichkeit zu bezeichnen, wenn foicht — und wir müssen das als eine besonders glückliche Fügung bezeichnen — erst in den letzten J a h r e n der Professor Schercr an der Universität Strassburg an die hier besprochene Aufgabe mit seltener wissenschaftlicher Bildung und Begabung herangetreten wäre. Die wissenschaftliche Methode, die umfassende Gelehrsamkeit und der didaktische Tact, mit der dieser Gelehrte dort die Schwierigkeiten und Gefahren dieser neueren deutschen Philologie zu überwinden und der lange vernachlässigten Disciplin ihre richtige Stellung zu geben wußte, lassen uns keinen Zweifel, daß er die entsprechende Lehrkraft, aber freilich auch die einzige sei, die wir Ew. Excellenz für die Besetzung der betreffenden Professur zu empfehlen wußten.« 2 0 Gemäß dieser Wertschätzung, die Scherer in Berlin zuteil wurde, entwickelte sich auch seine materielle Lebenssituation. Sein Gehalt belief sich auf jährlich 9600,— Mark zuzüglich eines Wohngeldzuschusses von 900,— Mark pro J a h r . Das waren immerhin 1200,— Mark mehr, als der Maximalbesoldungssalz der Berliner ordentlichen Professoren vorsah. Mit Erlaß vom 20. J a nuar 1879 erhielt Scherer dann eine jährliche Gehaltszulage von 2400,— Mark. 2 1 E r bezog zunächst eine Wohnung in der v. d. Heydtstraße l a (Berlin W.) und siedelte nach einigen J a h r e n in die Lessingstraße 5 6 in Berlin N. W., dem Renommierviertel am Tiergarten, um. Diese Wohnung war alles andere als bescheiden. Sie besaß Boudoir, Erker, Herrenzimmer, Salon, Speisezimmer, Vestibüle, Kinderspielzimmer, Bibliothek, Schlafzimmer, Kinderschlafzimmer, Fremdenzimmer, Küche, Balkon und Portierzimmer. 2 2 Schließlich sollte noch Erwähnung finden, daß Scherer nunmehr auch die Zeit für gekommen hielt, zu heiraten und eine Familie zu gründen, was wohl nicht zuletzt mit seiner gesicherten materiellen Existenz zusammenhing. In einem Brief an Karl Müllenhoff vom 8. J a n u a r 1872 hatte Scherer in ziemlicher Verbitterung aus Wien geschrieben: »Sie spotten ein wenig über mein Cölibat. Aber werden Sie es nicht ganz begreiflich finden, wenn ich Ihnen sage, daß ich bei einer Gesammteinnahme von nahezu 5 0 0 0 Gulden mich jetzL in Verlegenheit befinde meine Buchhändler Rechnung zu bezahlen? Wie sollte ich wol Frau und Kinder U
Wrack, Leben, Bd. I
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ernähren und erhalten?« 23 Demgegenüber waren die Verhältnisse in Berlin gänzlich andere. So gab er am 16. Oktober 1878 seine Verlobung mit Marie Leeder, einer Wiener Konzertsängerin, bekannt. 24 Sie gehörte schon seit langem zum Bekanntenkreis der elterlichen Familie Scherers. Erstmals wieder traf er mit ihr in Straßburg zusammen, »wo sie an der Oper als Sängerin wirkte« 25 . Nach seiner Ubersiedlung nach Berlin war sie noch einige Zeit »in Hamburg am Stadttheater tätig« 26 , wo er sie hin und wieder auf seinen Reisen nach Helgoland besuchte. Die Hochzeit fand dann am 12. März 1879 statt. 2 7 Wilhelm Scherers Tätigkeit als Hochschullehrer in Berlin war durch eine außerordentliche Intensität und Breite gekennzeichnet. Seine Forschungsarbeit konzentrierte sich neben einer Fülle von wissenschaftlichen Aufsätzen vor allem auf die Vollendung der Geschichte der deutschen Literatur, die 1883 veröffentlicht wurde. In den letzten Lebensjahren befaßte er sich verstärkt mit einer Vorlesungsreihe zur Poetik, die nach seinem Tode von Richard M. Meyer 1888 herausgegeben wurde. Daneben nahm die Weiterarbeit an Müllenhoffs Altertumskunde viel Zeit und Aufwand in Anspruch. Ebenso weitgefächert gestaltete sich seine Lehrtätigkeit. Er las vornehmlich zu ausgewählten Kapiteln der Geschichte der deutschen Literatur wie auch zur deutschen Grammatik und Wortbildung und hielt regelmäßig Übungen auf dem Gebiet der deutschen Philologie. 28 Die Art und Weise, wie Scherer seine Vorlesungen durchführte, hat Otto Brahm sehr plastisch charakterisiert, als er schrieb: »Wenn Scherer auf das Katheder getreten war und seine wohlbekannten grünen Blätter hervorzog, auf denen in Kurzem der Gedankengang des Kollegs skizziert, aber niemals das einzelne fixiert war, so richtete sich alles in Spannung auf ihn hin, gewärtig der frischeste», unmittelbar fortreißenden Eindrücke. Er begann langsam zu sprechen, in freier, ungenierter Stellung stand er auf seinem Katheder, die Hand ruhte gern in den Taschen des hellen Beinkleides, der Rock war zurückgeschlagen und ließ die blendend weiße Wäsche sehen; er suchte zuerst nach den Worten, indem er nervös an den großen Brillengläsern rückte, und nur allmählich kam die Stimmung über ihn; aber 162
mit einem Male war er d a n n m i t t e n in der Sache drin, u n d seine W ä r m e teilte sich sogleich den Hörern mit. Selbst entlegene Gegenstände, ein verschollenes D r a m a des sechzehnten J a h r h u n d e r t s , minimale grammatische F r a g e n w u ß t e er dann so l e b h a f t zu erfassen, d a ß sich u n g e a h n t e Blicke in das Ganze der W i s s e n s c h a f t e r ö f f n e t e n ; m a n fühlte sich in eine höhere geistige A t m o s p h ä r e gehoben, m a n war gebannt, elektrisiert.« 2 9 Ferner h a t B r a h m kenntlich gcmacht, d a ß Scherer zu den Hochschullehrern zählte, die zu ihren S t u d e n t e n ein hilfreiches u n d aufgeschlossenes Verhältnis entwickelt haben- »Mit R a t und T a t und Unterweisung h a t t e er alle gefördert, seine Anregung h a t ihren ersten zögernden Schritten den Weg geebnet, u n d o f t f a n d sich der Vielbeschäftigte bereit, so eifrig er auch sonst m i t seiner Zeit zu sparen u n d zu rechnen wußte, die eigene Arbeit zu unterbrechen u n d m i t Ausk u n f t , Hilfe, gelehrtem Nachweis den Fragenden zu erfreuen . . . Das ist die Art des deutschen Professors sonst nicht, so nahe die Hörer an sich heranzuziehen, u n d es k o n n t e nicht fehlen, d a ß Scherer, so völlig unbefangen auch der Verkehr m i t seinen Schülern aus der eigensten I n d i v i d u a l i t ä t des Mannes e n t s p r a n g , eben um dieses Verkehrs willen angefeindet und b e k ä m p f t wurde.« 3 0 Diese Art des unkonventionellen Umgangs h a t Scherer auch a u ß e r h a l b des akademischen R a h m e n s zu pflegen gesucht. Dafür ist die sogenannte »Germanistenkneipe-« ein Beleg, die er ähnlich wie in S t r a ß b u r g auch in Berlin ins Leben rief. E i n m a l wöchentlich versammelte er zu den Germanistenabenden im »Dessauer Garten« seine v e r t r a u t e s t e n Schüler um sich, aber auch Persönlichkeiten des literarischen Lebens der H a u p t s t a d t , wie z. B. H a n s Reimer, den I n h a b e r der Weidmannschen Buchhandlung, der hier des öfteren Gast war. 3 1 Wie B r a h m berichtete, bewegten sich an diesen Abenden die Diskussionen in ungezwungenen Formen, u n d »bei einem guten T r u n k , in angeregter Gesellschaft, besprach m a n heiter die Fragen des F a c h s u n d des Tages« 3 2 . Uber den R a h m e n seiner Lehr- und Forschungsaufgaben hinaus h a t t e Scherer ein gehöriges P e n s u m an wissenschaftsorganisatorischen u n d gesellschaftlichen Verpflichtungen zu bewältigen. Mit Vehemenz leistete er eine umfangreiche Arbeit in Vorberei11*
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tung auf die Gründung eines germanischen Seminars einschließlich der dazugehörigen Bibliothek. Diese Bemühungen zogen sich über J a h r e hin, so daß die Eröffnung des Seminars erst nach seinem Tode erfolgen konnte. F ü r das Studienjahr 1885/86 wurde er zum Dekan der Philosophischen F a k u l t ä t gewählt 3 3 und übernahm damit eine Funktion, die ihn mehr als gewünscht in Anspruch nahm. Aus mehreren Briefen an Erich Schmidt geht hervor, daß dieses Amt nach und nach seine Kräfte überstieg. Das »Dekanat ist eine wahre Tortur« 3 4 , schrieb er am 9. November 1885, zu einem Zeitpunkt, wo seine Gesundheit bereits stark angegriffen war. Des weiteren wurde Scherer mit Wirkung vom 1. April 1884 für ein J a h r zum »ordentlichen Mitglied der hiesigen Königlichen Wissenschaftlichen Prüfungs-Kommission für das F a c h der deutschen Sprache und LiUeratur und zwarspeciell zur Prüfung derjenigen Kandidaten, welche die Lehrbefähigung im Deutschen für alle Klassen einer höheren Schule nachsuchen . . . , ernannt«. 3 5 Ferner macht ein Schreiben Scherers an das preußische Kultusministerium vom 1. J a n u a r 1885 kenntlich, daß er auch Verpflichtungen als Geschworener wahrzunehmen. h a t t e . 3 6 Und schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, daß er mitunter auch Aufgaben übernahm, die nicht direkt mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zusammenhingen. So ist z. B . aus einem Brief von Adolph Menzel ersichtlich, daß ihn Schcrer im Auftrage der »Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger« um Unterstützung für dieses humanitäre Unternehmen gebeten hatte. Menzel teilte ihm daraufhin am 20. J a n u a r 1881 m i t : »Geehrter Herr Ich bin gern bereit, für den . . . Zweck Ihres Unternehmens für die Schicksale 'Der Schiffbrüchigen' nach Möglichkeit eine künstl(erische) Beisteuer zu liefern.« 3 7 Diese Beispiele geben einen kursorischen Einblick in die Vielfalt der Verpflichtungen, die Scherer in seinen Berliner Schaffensjahren wahrzunehmen hatte, und in die Rolle, die er im gesellschaftlichen Leben der Reichshauptstadt spielte. Dafür konnte er auch der Anerkennung und Wertschätzung von Seiten des preußischen Staates gewiß sein: Seine Majestät der Kaiser und König verlieh ihm mittels Patents vom 18. November 1885 den Titel »Geheimer Regierungs-Rath«, der Scherers höchste öffentliche 164
Auszeichnung darsLellle und deutlich m a c h t , wie sehr sich sein E n g a g e m e n t mit den Interessen der Hohenzollernmonarchie deckte. In der U r k u n d e zur Verleihung des Titels heißt es d e n n auch beziehungsreich: »Es ist dies in dem Vertrauen geschehen, d a ß derselbe Uns u n d Unserm Königlichen Hause in u n v e r b r ü c h licher Treue ergeben bleiben u n d seine Amtspflichten m i t stets regem Eifer erfüllen werde, wogegen derselbe sich Unsers allerhöchsten Schutzes bei den mit seinem gegenwärtigen C h a r a k t e r v e r b u n d e n e n Rechten zu erfreuen haben soll.« 38 Was das neu gewonnene Wirkungsfeld im Bereich der zeitgenössischen literarischen Verhältnisse betrifft, so war sieh Scherer der Rolle der Metropole f ü r die Literaturentwicklung d u r c h a u s bewußt. Berlin wurde f ü r ihn der »Mittelpunct der großen Welt« 3 9 , u n d in der Geschichte der deutschen Literatur, in die zweifellos die Berliner E r f a h r u n g e n eingegangen sind, k a m er m e h r f a c h auf die F u n k t i o n des H a u p t s t ä d t i s c h e n zu sprechen. So, wenn er z. B. den Niedergang des deutschen D r a m a s im 17. J a h r h u n d e r t aus dem »Mangel einer H a u p t s t a d t mit einem kunstsinnigen P u b l i k u m , dessen ästhetische Bedürfnisse jedes Talent angezogen . . . hätten« 4 0 , zu erklären suchte. Diese Einsicht in die B e d e u t u n g der Metropole b e s t i m m t e sein Wirken als Hochschullehrer mit, u n d Scherer n u t z t e auch ganz b e w u ß t die günstigen Möglichkeilen einer regen Anteilnahme a m literarischen Leben, die ihm Berlin bot. Einen wichtigen Platz im Wirkungsfeld Scherers n a h m e n die Entwicklung u n d der Ausbau von persönlichen u n d gegenseitig f r u c h t b a r e n Beziehungen zu Berliner Schriftstellern ein. An erster Stelle ist hierbei Friedrich Spielhagen zu nennen, zu dem Scherer ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis h a t t e . Es gründete sich nicht nur auf persönliche Begegnungen zwischen beiden Familien, sondern vornehmlich auf das gegenseitige Interesse a m Schaffen des anderen. Spielhagen ü b e r g a b m e h r f a c h seine literarischen Werke an Scherer zur kritischen B e g u t a c h t u n g u n d n a h m selbst regen Anteil z. B. bei der Erarbeitung von Scherers literaturgeschichtlichen Studien. I m H a u s Spielhagens fanden gesellige Abende statt, zu denen neben Scherers u. a. auch die Familien Adolf W i l b r a n d t s u n d Julius
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Rodenbergs geladen wurden. Von der Art des U m g a n g s geben f o l g e n d e E i n l a d u n g e n einen E i n d r u c k : A m 6. April 1880 ü b e r m i t t e l t e z. B . S p i e l h a g e n : » V e r e h r t e r F r e u n d W ü r d e n S i e u n d Ihre F r a u G e m a h l i n uns die F r e u d e m a c h e n k ö n n e n , F r e i t a g A b e n d (den 9 t e n ) d e n T h e e bei u n s zu t r i n k e n in einer mitütelgroßcn G e s e l l s c h a f t , a n d e r n a c h d e m T h e a t e r a u c h Wilbr'andts theil n e h m e n ? B i t t e , s a g e n S i e J a — w o m ö g l i c h s o f o r t d u r c h Überbringerin. S c h ö n s t e G r ü ß e v o n I h r e m e r g e b e n s t e n F r i e d r i c h S p i e l h a g e n u n d F r a u . « 4 1 U n d in einem Brief (ohne D a t u m ) ist zu l e s e n : » H o c h v e r e h r t e r ! B e i R o d e n b e r g s a n f r a g e n d , o b sie m i t I h n e n a m F r e i t a g A b e n d bei u n s sein m ö c h t e n , e r h a l t e n wir die A n t w o r t , d a ß S i e u n s bereits z u v o r g e k o m m e n sind u n d R o d e n b e r g s i n v i l i r t h a b e n . Wir e r l a u b e n u n s n u n die e r g e b e n s t e A n f r a g e , ob S i e — v o r a u s g e s e t z t , d a ß S i e nicht bereits a n d e r e E i n l a d u n g e n h a b e n ergchen lassen — u n s nicht den A b e n d a b t r e t e n u n d so die F r e u d e m a c h e n wollen, S i e endlich e i n m a l bei u n s zu sehen — i m allerkleinsten Kreise. Ich b e m e r k e , d a ß R o d e n b e r g s v o n dieser u n s e r e r B i t t e a n S i e u n t e r r i c h t e t sind u n d a u c h weiter v o n d e m (hoffentlich g ü n s t i g e n ) R e s u l t a t sollen u n t e r r i c h t e t werden, also S i e weiter keine U m s t ä n d e n a c h dieser S e i t e h ä t t e n . — W ä r e es Ihnen nicht m ö g l i c h , u n s e r e r B i t t e zu willfahren, g e n ü g t ein e i n f a c h e s m ü n d l i c h e s , d e r Ü b e r b r i n g e r i n m i t z u g e b e n d e s Nein. In der H o f f n u n g eines J a m i t b e s t e n G r ü ß e n Ihre e r g e b e n s t e n F r i e d r i c h S p i e l h a g e n u n d F r a u . « 4 2 Ü b e r d i e s v e r m i t t e l t e Spielh a g e n a u c h P u b l i k a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n f ü r S c h e r e r z. B . bei W e s t e r m a n n oder i m Athenäum,43 E i n e ähnliche B e z i e h u n g entwickelte sich zwischen S c h e r e r u n d R u d o l p h L i n d a u , f ü r d e n die B e s p r e c h u n g seiner E r z ä h l w e r k e d u r c h S c h e r e r o f f e n s i c h t l i c h v o n B e d e u t u n g w a r . In einem Brief v o m 7. M ä r z 1882 heißt es d a z u : » L i e b e r H e r r P r o f e s s o r u n d v e r e h r t e r F r e u n d , E s h a t m i r große F r e u d e g e m a c h t , a u s Ihrer B e s p r e c h u n g der ' K l e i n e n W e l t ' zu ersehen, d a ß Ihnen die E r z ä h l u n g gefallen h a t , u n d ich d a n k e Ihnen, Ihr Urtheil ü b e r m e i n e A r b e i t , d a s f ü r m i c h so e r m u t h i g e n d ist, öffentlich a u s g e s p r o c h e n zu h a b e n . Ich bin mir wohl b e w u ß t , d a ß mir vieles fehlt, u m ein p o p u l ä r e r S c h r i f t s t e l l e r zu w e r d e n ; a b e r die zahlreichen N a c h t h e i l e , d i e m i r a u s m e i n e n Fehlern erw a c h s e n erscheinen m i r g e r i n g f ü g i g i m Vergleich zu d e m Vortheile
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von einem Manne wie Sie in liebenswürdiger und wohlwollender Weise ausgezeichnet zu werden. Ich sage nur, daß es eine große Anzahl sehr populärer Schriftsteller giebt, denen eine solche Ehre nimmer zu Theil werden wird — und ich möchte nicht mit ihnen tauschen.« 4 4 Beide verbrachten mehrmals den Urlaub auf Helgoland gemeinsam mit Hans Hopfen, der ebenfalls zum engeren Freundeskreis Scherers gehörte. Das belegen einige Briefe von Rudolph Lindau an Scherer. So schrieb er z. B. am 28. J u n i 1 8 7 9 : - I c h gehe im September nach Helgoland und freue mich bereits in Gedanken darauf, dort wieder mit Ihnen zusammenzutreffen.« 4 5 In einem weiteren (undatierten) Brief ist u. a. die Rede von dem »gemeinschaftliehe(n) helgoländer Freund- Hans Hopfen« 46 . Diese Reisen waren übrigens nicht zufälliger Natur. Wie Ulrich Pretzel vermerkte, liebte es Scherer seit seiner Berliner Studienzeit, »in den Ferien ebenso wie Müllenhoff an der Nordsee Erholung zu suchen« 4 7 . Auf einer dieser Reisen hatte er auch Klaus Groth einen Besuch abgestattet: »Am 7. Oktober landete das Schiff in H a m b u r g ; am nächsten Vormittag . . . führte ihn H e r r A b r a h a m s o n (Otto Brahm) in Hamburg herum; dann fuhr er nach Lübeck, und am Tage darauf nach Kiel. Am 9. Oktober 1878 hat die erste und wahrscheinlich einzige Begegnung zwischen Klaus Groth und Wilhelm Scherer am Schwanenweg stattgefunden.« 4 8 Dies war der Beginn einer J a h r e währenden freundschaftlichen Verbindung, die in den Briefen Groths an Scherer dokumentiert ist. 4 9 Weniger freundschaftlich scheint dagegen Scherers Verhältnis zu Rudolph Lindaus Bruder Paul gewesen zu sein. Daß es zwischen beiden gewisse Spannungen gegeben hat, deren Ursachen an späterer Stelle noch erörtert werden sollen, zeigt ein Brief vom 24. März 1880, in dem Paul Lindau folgendes zu schreiben genötigt w a r : »Verehrter Herr Professor! Zu meiner peinlichsten Überraschung theilt mir mein Bruder soeben mit, daß ich Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin gegenüber mich sonderbar, und sogar nicht correkt benommen haben soll. Ich stehe vor einem unlösbaren Räthsel. Vom genauen Hergange im Schaupielhause weiß ich auch nicht das Mindeste! Ich habe keine Ahnung davon, daß ich Sie dort gesehen und mit Ihnen gesprochen habe. Ich
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muß vollkommen abwesend gewesen sein. Es ist möglich, daß ich mich gerade in dem Augenblicke, in dem Sie mit mir sprachen, um meinen Gast, füi; den ich zu sorgen hatte, gekümmert habe — ich (weiß) es nicht. Ich weiß n i c h t s von der ganzen Sache, und da ich in den letzten Tagen die Irrenhäuser besucht habe, wird mir die Sache ganz unheimlich. Auf alle Fälle bitte ich Sie meine unbewußten Ungehörigkeiten gütigst zu entschuldigen und mich Ihrer Frau Gemahlin (angelegentlich) zu empfehlen. Ihr . . . Paul Lindau.« 5 0 Der Briefschreiber hatte offenbar allen Grund, nicht die Gunsl des Berliner 1 Professors zu verlieren. Das zeigt sich auch darin, daß er Schefer (auf dessen Anfrage hin) seine Dienste bei der Vermittlung von Schriftstellerkontakten anbot, was aus folgender Mitteilung ersichtlich ist: »Hochgeehrter Herr Professor! Martin Greif wohnt im 'Gasthof zum Grünen B a u m ' , in der Kloslerstrasse glaub' ich. Heut Abend trinkt er sein Bier in der Leipziger Strasse nahe dem Dönhoffsplatz (Münchener Hofbräu). Wenn ich es ermöglichen kann, (komm) ich auch noch hin. Aber es ist fraglich. Mit besten Grüßen Ihr ganz ergebener Paul Lindau.« 5 1 Allerdings ist nicht feststellbar, ob Scherer diese Offerte angenommen hat. Berthold Auerbach gehörte ebenfalls zu den Schriftstellern, mit denen Scherer öfters persönlich zusammengetroffen ist. 5 2 Schließlich darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß E r n s t von Wildenbruchs Bemühungen um die persönliche Bekanntschaft mit Scherer alsbald auf fruchtbaren Boden fielen. Nach der erfolgreichen Lesung seines Harold in einer Berliner Gesellschaft, auf der Scherer und seine F r a u anwesend waren, entwickelte sich die angestrebte Beziehung. Darüber schrieb Wildenbruch am 29. November 1880 an Berthold L i t z m a n n : »Ich dachte an Dich, bevor ich anfing, denn Du weißt, wie ich mich Dir gegenüber manchmal beklagt habe, daß Scherer von mir nichts wissen wolle — ich dachte an Dich als ich geendet hatte, als Scherer auf mich zukam und ich aus seinem Händedruck, aus seinem Blick und seinen Worten ersah, und erfuhr, daß wir uns seit heute Abend g a n z anders gegenüberstehen als bisher . . . Und nun sollst Du mir sagen, wo dieser Mann mit dem empfänglichen Herzen, dieser Scherer wohnt, denn ich will ihn aufsuchen.« 5 3
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Scherers Wirkungskreis blieb jedoch nicht nur auf die Berliner Autoren beschränkt. Auf Reisen durch Deutschland u n d nach Österreich traf er verschiedentlich mit Schriftstellern zusammen, oder er korrespondierte mit ihnen von Berlin aus. Das betraf Gottfried Keller, E m a n u e l Geibe], G u s t a v F r e y t a g , P a u l Heyse u. a. — Aus den bisher zitierten Beispielen läßt sich bereits eine wichtige allgemeine Schlußfolgerung ziehen, die f ü r die Beurteilung von Wilhelm Scherers Wirken in Berlin von grundsätzlicher B e d e u t u n g ist. Zum einen k a n n m a n davon ausgehen, d a ß Scherer nicht n u r ein rezeptives Verhältnis zur Berliner literarischen Szene h a t t e . E r n a h m nicht nur, was ihm die Metropole an Wirkungsmöglichkeiten bot. Die K o n t a k t e zu Schriftstellern b e r u h t e n auf Gegenseitigkeit der Interessen und W e r t s c h ä t z u n g . Die Diktion ihrer Briefe m a c h t kenntlich,7 daß ihre Beziehung o zu dem Berliner Germanistikprofessor nicht zuletzt auch eine Frage des eigenen sozialen Prestiges war. Scherer war in Berlin nicht nur ein Anteilnehmender, schlechthin, er entwickelte sich zunehmend zu einem F a k t o r im literarischen Leben der Reichsh a u p t s t a d t , so n ü c h t e r n m a n seine tatsächliche W i r k u n g sicherlich beurteilen m u ß . Diese Einschätzung läßt sich auch d a m i t belegen, d a ß Scherer ebenso f ü r kulturpolitische I n s t a n z e n ein unerläßlicher P a r t n e r w a r : 1882 wurdi! er in die Kommission f ü r die »Verleihung des' Preises f ü r deutsche dramatische Dichtkunst« b e r u f e n 5 4 ; ein J a h r später gehörte er mit zu den Kommissionsmitgliedern, die über die Vergabe des »Grillparzer-Preises« 1884 zu entscheiden h a t t e n . 5 5 Ein weiteres Feld öffentlicher Wirksamkeit bildete die lileraturkritische Arbeit Scherers, die sich in den Berliner J a h r e n s p ü r b a r e n t f a l t e t h a t . Dies mag auch d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n , d a ß er in der H a u p t s t a d t jene Publikationsorgane v o r f a n d , die ihm eine breite Resonanz garantierten. Scherer veröffentlichte hier vornehmlich in der Deutschen Rundschau u n d der Deutschen Litteraturzeitung Rezensionen, aber auch Kurzkritiken u n d Ankündigungen von Büchern, teilweise sogar a n o n y m . Der U m s t a n d , d a ß er mit den jeweiligen Zeitschriftenherausgebern persönlich b e k a n n t war, wirkte sich natürlich förderlich auf sein Anliegen aus. Max Roediger, der Herausgeber der Deutschen LiUeralur-
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zeitung, war Privatdozent an der Universität Berlin und Scherers Fachkollege.^Mit Julius Rodenberg verband ihn eine freundschaftliche Beziehung, die ihren Anfang bereits in der Berliner Studentenzeit genommen hatte. 5 7 Scherer gehörte zu den hauseigenen Rezensenten, denen Rodenberg im Einvernehmen mit einzelnen Schriftstellern Aufträge zu Literaturkritiken zukommen ließ. Das war z. B. der Fall bei Scherers Rezension zu Gottfried Kellers Züricher Novellen58 wie auch bei der geplanten Besprechung des Grünen Heinrich, anläßlich deren Keller an Rodenberg schrieb: »•Wenn Herr Professor Scherer sich wirklich mit demselben noch abgeben will, so bin ich gespannt, was er davon sagen wird.« 5 9 Und daß auch ein Mann wie Hans Hopfen von Scherers Beziehungen profitierte, zeigt folgend^ briefliche Mitteilung: »Julius Rodenberg versichert mir, daß er Sie aufgefordert, meinen Roman: 'Verfehlte Liebe' in der deutschen Rundschau zu besprechen. Ich brauche Ihnen wol kaum zu sagen, wie sehr mich dieß freuen würde.« 60 — Im Zusammenhang, mit Scherers Tätigkeit für die Deutsche Rundschau kann man davon ausgehen, daß das Profil dieser Zeitschrift voll und ganz mit den Schererschen Intentionen übereinstimmte. Nicht nur die nationalliberale Gesinnung ihres Herausgebers kam Scherer entgegen, sondern auch ihr gesellschaftliches Renommee, das ihm die beabsichtigte Breitenwirkung im deutschen Bildungsbürgertum mit zu verschaffen half. Dies mag auch ein Grund dafür gewesen sein, daß Scherer wiederholt die Angebote von Paul Lindau, an der Zeitschrift Gegenwart mitzuarbeiten, abgelehnt hat. Dieser Vorgang ist bezeichnend für Scherers Haltung und soll deshalb etwas eingehender beleuchtet werden. Die Bemühungen Lindaus um Scherer gehen bis ins Jahr 1872 zurück. In einem Brief vom 22. Juni d. J . teilte er folgendes mit: »Mein Freund Hans Hopfen ermuthigt mich zu diesem Schreiben. Würden Sie mir nicht die Freude bereiten und die Ehre erweisen, für die 'Gegenwart', die sich schnell und gut entwickelt hat, einen Aufsatz zu schreiben? Sic würden mir durch eine Zusage einen wahrhaften Dienst erweisen, besonders, wenn Sie mir recht b a l d einen, wenn auch nur kurzen Beitrag geben könnten. Beim Wechsel des Quartals werden vom Verleger immer besondere 170
A n s t r e n g u n g e n g e m a c h t und deshalb lasse ich in den ersten N u m m e r n gern die E l i t e t r u p p e n paradieren.-« 6 1 D a Scherer o f f e n b a r nicht zur Zufriedenheit L i n d a u s reagiert hatte, erneuerte die R e d a k t i o n s p ä t e r ihr A n g e b o t . 6 2 Einige J a h r e d a n a c h wartete L i n d a u m i t einem neuen Proj e k t a u f , bei d e m es sich wahrscheinlich u m Nord und Süd h a n d e l t e . W i e d e r u m wurde H a n s H o p f e n als Vermittler t ä t i g . A m 23. J a n u a r 1877 schrieb er an S c h e r e r : »Mein lieber F r e u n d , ich richte diese Zeilen auf B i t t e n P a u l L i n d a u s an Sie. Derselbe h a t Ihnen sein P r o j e c t einer neuen Monatsschrift, die an Inhalt, A u s s t a t t u n g u. H o n o r a r alles bisher derartig in D e u t s c h l a n d d a g e w e s e n e ü b e r t r e f f e n soll, bereits mitgeteilt. E r h o f f t , wenn ich, seiner Aufforderung die meine beigeselle, daß dieser doppelte S t r i c k besser geeignet sein möchte, Sie e i n z u f a n g e n . « 6 3 E i n e Woche d a r a u f erhielt Scherer von L i n d a u ein R u n d s c h r e i b e n , d a s sicherlich a u c h a n zahlreiche andere Gelehrte verschickt wurde und in d e m d a s neue P r o j e k t angezeigt und erläutert war, sowie die d a z u h a n d schriftlich a n g e f ü g t e B i t t e u m die Zusendung eines B e i t r a g e s f ü r d a s erste H e f t . 6 4 Da Scherer auch hier eine a b s c h l ä g i g e Antwort erteilte, schrieb L i n d ä u ein letztes Mal a m 7. F e b r u a r 1877 und legte seinen prinzipiellen S t a n d p u n k t zur P o s i t i o n Scherers dar, die sich a u s L i n d a u s Argumenten indirekt ablesen läßt. 6 "' D a n a c h b e f ü r c h t e t e Scherer, daß die v o n L i n d a u gep l a n t e n Monatsblätter ein Konkurrenzunternehmen zur Deutschen Rundschau darstellten, und er selbst war o f f e n b a r nicht gewillt, in diesem K o n k u r r e n z k a m p f die L i n d a u s c h e Partei zu s t ä r k e n , d a er zuliefst von der »Gediegenheit und d e m N u t z e n « d e r R o d e n bergschen Monatsschrift ü b e r z e u g t war. L i n d a u wiederum d e u t e t e an, daß er seine Friedfertigkeit gegenüber R o d e n b e r g a u f z u g e b e n g e d a c h t e , hielt a b e r weiterhin an der H o f f n u n g f e s t , d a ß Scherer ihm nicht die Mitarbeit v e r s a g e . Dieser V o r g a n g m a c h t z u m einen sichtbar, welch hohen R a n g Scherer der Deutschen Rundschau e i n r ä u m t e und wie s t a r k seine weltanschauliche u n d wissenschaftliche H a l t u n g m i t K o n z e p t i o n und Wirkungsrichtung dieser Zeitschrift ü b e r e i n s t i m m t e . Außerd e m h a t t e Scherer in den P u b l i k a t i o n s o r g a n e n Berlins, D e u t s c h l a n d s u n d Österreichs eine solch g e f e s t i g t e Position, d a ß die
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Mitarbeit an Lindaus Projekt für sein öffentliches Ansehen nicht mehr von Belang war. In seiner Berliner Zeit hat er weiterhin und regelmäßig in der Wiener Neuen Freien Presse zahlreiche Studien und Aufsätze veröffentlicht, gehörte also zu deren Stammautoren. Des weiteren ist aus Scherers Nachlaß ersichtlich, daß er außer von Paul Lindau noch eine Reihe anderer Angebote zur Mitarbeit in Zeitungen und Zeitschriften erhalten hat, wie z. B. von Karl Frenzel für die National-Zeitung, von Karl Emil Franzos für die Neue Illustrierte Zeitung und die Deutsche Dichtung sowie von Hermann Tischler für die Gartenlaube, auf die er teilweise eingegangen ist. 66 Inwiefern Scherers Absagen an Lindau auch aus Vorbehalten gegenüber Stil und Praxis des modernen bürgerlichen Literaturbetriebs erklärbar sind und sich daraus schon Züge einer konservativen Denkhaltung bei Scherer ableiten lassen, kann nur vermutet, nicht aber mit Sicherheit nachgewiesen werden. Zum anderen verdeutlicht das Verhalten Lindaus einmal mehr, daß Wilhelm Seherer als Persönlichkeit im literarischen Leben ernst genommen werden mußte und daß sein Wirken sowie sein gesellschaftlicher Status dem Zeitsehriftenwesen durchaus zu Ansehen und Ertrag verhelfen konnten. Betrachtet man nun die Gegenstände von Scherers Literaturkritiken sowie die Wahl seiner Schriftstellerbeziehungen, so sind sie einem generellen Prinzip unterstellt. Scherers Bemühungen kulminierten in dem Anliegen, alles zu fördern, was nach seiner Auffassung zur »literarischen Blüte« hinführte. Die Vorstellungen und Erwartungen davon, welche Literatur den kulturellen Aufschwung ausmachen sollte, waren jedoch genauso widersprüchlich wie die Gegenstände seiner literaturkritischen Tätigkeit. Ihr eklektisch anmutendes Nebeneinander entspricht aber dennoch einer Konzeption, die sich insbesondere in seiner Berliner Phase durchgesetzt hat. Zunächst ist festzuhalten, daß Scherer vornehmlich an jene Schriftsteller Anschluß suchte bzw. deren Werke besprach, die zu den Autoren von Rang zählten, wie Keller, Spielhagen und Auerbach, Freytag und Wilbrandt, ungeachtet der zum Teil erheblichen Unterschiede in den weltanschaulichen und ästlie172
tischen Positionen, die zwischen ihnen existierten. Diese Differenzen ließen sich zunächst einmal dadurch überbrücken, daß Scherers Beziehungen zu den »literarischen Berühmtheiten« seiner Zeit dem sozialen Status als Berliner Literaturprofessor entsprachen. Dies ist aber nur ein äußerliches Kennzeichen. Letztlich geht es um die Maßstäbe und Wertkriterien, die Scherer an die Repräsentanten des literarischen Aufschwungs anlegte. In dieser Hinsicht war sein Verhältnis zum literarischen Werk Gustav Freytags von richtungweisender Bedeutung. Anläßlich von Freytags 70. Geburtstag veröffentlichte Scherer 1886 in der Deutschen Zeitung einen Brief 67 , der wichtige Aufschlüsse über seine literarischen Wertmaßstäbe enthält. Seiner Auffassung nach waren es vorrangig das »Gefühl aufblühender und voranschreitender nationaler Tüchtigkeit« und die »Freude, als Deutscher zu leben« 68 , die als Wirkungsfaktoren die literarischen Werke Freytags auszeichneten und deshalb maßstabsetzend für die Entwicklung der Literatur nach 1848 geworden waren. Vordem Hintergrund dieser Einschätzung ist es nicht verwunderlich, daß Scherer den Romanzyklus Die Ahnen als »charakteristischste Leistung der gegenwärtigen Phase der Literatur in Deutschland« 6 9 würdigte, nachdem er nach Erscheinen des ersten Bandes bereits erklärt hatte: »Deutsches Sein und Werden durch die Folge der Zeiten kann man nirgends anschaulicher erkennen.« 70 Diese Urteile belegen, daß hinter dem kulturhistorischen Interesse an Frey tags Romanen sehr klar die nationalliberale Gesinnung Scherers durchscheint, die ein wesentlicher Ausgangspunkt für die kritische Bewertung der zeitgenössischen Literatur überhaupt wurde. Von daher erklären sich relativ leicht die schon erwähnte Beziehung Scherers zu Adolf Wilbrandt 71 wie auch die Bemühungen Ernst von Wildenbruchs um die Gunst des Berliner Professors. Ein übergreifender Bezugspunkt literaturkritischer Auswahl und Wertung bei Scherer war demzufolge das Verhältnis der Schriftsteller zur nationalen Frage nach der Reichsgründung 1871 und der Beitrag ihrer Werke zur Entwicklung des Nationalbewußtseins der Deutschen im Einklang mit der preußischen Innen- und Außenpolitik. 72 Damit wird zugleich sichtbar, wie Scherers Programmatik einer Germanistik im Dienste der herr173
sehenden Klassen Deutschlands mit seinem Selbstverständnis als L i t e r a t u r k r i t i k e r in Ubereinstimmung s t a n d . Die b e n a n n t e n Kriterien u n d Maßstäbe galten n u n f ü r Scherer auch bei Schriftstellern u n d ihren Werken, wo sie eigentlich nicht d o m i n a n t waren. Das wird besonders deutlich in seiner Besprechung von Gottfried Kellers Züricher Novellen von 1878, die zu den ersten Literaturkritiken gehörte, die er in seiner Berliner Schaffensphase v e r f a ß t h a t . Scherer b e t r a c h t e t e zunächst den Novellenzyklus als Ganzes u n d stellte fest, d a ß die kompositionelle A n o r d n u n g der Stoffe eine T o t a l i t ä t der geschichtlichen Entwicklung der Schweiz, beginnend bei der Reformationszeit (Ursula) u n d endend in der Gegenwart (Das Fähnlein der 7 Aufrechten), o f f e n b a r t . Diese Beobachtung bot ihm den Ansatz d a f ü r , Kellers Novellenzyklus mit F r e y t a g s Ahnen zu vergleichen, obwohl er einräumte, d a ß der kulturhistorische Aspekt bei Keller sekundärer N a t u r ist. Trotzdem k a m Scherer zu dem Schluß, d a ß Keller f ü r die Schweiz das geleistet habe, was F r e y t a g f ü r Deutschland leistete 7 3 , n ä m lich die künstlerische Aufarbeitung historischer E r f a h r u n g e n des Volkes als Kraftquell f ü r die Beförderung des Nationalbewußtseins in der Gegenwart. Ein solches Urteil, das einen Teilaspekt zum Wesentlichen hochstilisierte, ging natürlich an den wirklichen Leistungen Kellers vorbei und markierte d a m i t auch die Grenze von Scherers literaturkritischen B e m ü h u n g e n . Sie lag vornehmlich dort, wo er versuchte, Autoren unterschiedlicher weltanschaulich-ästhetischer Position in ein übergreifendes nationalliberales Konzept einzubinden u n d sie auf diese Weise dem deutschen Bildungsbürgertum anzuempfehlen. Von diesem S t a n d p u n k t aus ergab sich f ü r Scherer anscheinend problemlos eine direkte oder vermeintliche Ubereinstimmung mit der weltanschaulich-politischen G r u n d h a l t u n g der jeweiligen Schriftsteller u n d ihrer Werke, was ihn letztlich auch von der Pflicht e n t b a n d , sich als Kritiker mit zeitgeschichtlichen politischen u n d sozialen Lebensproblemen, die zumindest bei den bürgerlich-progressiven Autoren in ihren Werken Eingang fanden, auseinandersetzen zu müssen. Insofern ist es folgerichtig, d a ß Scherers Rezensionen vielfach auf die B e t r a c h t u n g der ästhetisch-künstlerischen 174
Gestaltqualität reduziert waren, wie z. B. in bezug auf Spielhagen, an dessen Romanen und Erzählungen ihn eigentlich kaum mehr als die Umsetzung der Theorie des objektiven Erzählens interessierte, der er allerdings kritisch gegenüberstand. 74 Scherer beschränkte sich auch hier in seiner Polemik auf das Formalästhetische und vermied es bewußt, Einwände gegenüber der weltanschaulichen Sichtweise Spielhagens als Linksliberaler zu formulieren, was sich durchaus angeboten hätte. Dieses Verhalten zeugt nicht nur von der Halbherzigkeit, mit der Scherer zu Werke ging, sondern auch davon, daß ihm die Stellung und die Verbindungen Spielhagens in den Berliner literarischen Verhältnissen als Schriftsteller, Vorsitzender des Litterarischen Klubs und Herausgeber von Westermanns Monatsheften offenbar wichtiger und dienlicher waren als dessen Gesinnung. Wilhelm Scherers literaturkritische Ambitionen waren trotz ihrer problematischen Seiten alles andere als bloße Bücherschau, sondern immanenter Bestandteil eines Gesamtkonzepts zur Einflußnahme auf das literarische Leben seiner Zeit. Die Beziehungen zu Schriftstellern und Verlegern namentlich in Berlin sowie die Rezensionen und Buchbesprechungen hatten immer auch einen funktionalen Aspekt, über den sich Scherer im klaren war. In dem Aufsatz Goethe-Philologie kam dies deutlich zum Ausdruck, als er schrieb: »Wir können nicht mit Absicht Dichter erziehen; aber wir können unseren vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Dichtern ein Publicum erziehen, Und wir können unserem Volke jene gleichmäßige Ausbildung der Geisteskräfte durch pädagogische Arbeit zuführen, zu der es so wenig ursprüngliches Talent besitzt.-«75 Dieser Gedanke benennt nicht nur die Hauptadressaten von Scherers Intentionen, sondern auch ihre Zielrichtung. Die Absicht, an der »Ausbildung der Geisteskräfte« der Leser mitzuwirken, folgte einer Prämisse, die in sichtbarer Korrespondenz zu der in den literarhistorischen Studien entwickelten Theorie der Blüteepochen stand. Folglich bewegte ihn immer auch die Frage, inwiefern die politische Entwicklung Deutschlands nach 1871 einherzugehen vermochte mit der Entfaltung des von ihm erhofften kulturellen Reichtums der Nation. Daß Scherers 175
Beziehungen zu Schriftstellern im Z u s a m m e n h a n g mit dieser P r o blematik zu sehen sind, k o n n t e bereits sichtbar gemacht werden. Auf der anderen Seite beinhaltet Scherers Konzept aber auch den Versuch, an klassische Traditionen u n d Leitbilder von der geisti" gen und ästhetischen Erziehung a n z u k n ü p f e n . Denn überzeugt von der Macht der Poesie, sah Scherer gerade in und mit ihr eine Chane«', an der Veränderung der Verhältnisse mitzuwirken. In diesem Sinne schrieb er 1876: » U n d d i e E r k e n n t n i s wird sich wohl endlich B a h n brechen, d a ß auf einer möglichst f r ü h e n und möglichst intensiven ä s t h e t i s c h e n E r z i e h u n g der heranwAchsenden Generation ein großer Theil unserer nationalen Z u k u n f t b e r u h t . « 7 0 Dieser naive Glaube an die Allmacht von Kunst und K u l t u r entsprach in hohem Maße den Auffassungen von Teilen des liberalen Bildungsbürgertums, als dessen Anhänger Scherer gelten konnte. Zumindest zeigt dies die schon b e k a n n t e geistige V e r w a n d t s c h a f t mit Julius Rodenberg, der an die B e a n t w o r t u n g der Frage nach den Veränderungsmöglichkeiten der nationalen Zustände von ähnlichen Voraussetzungen ausging wie Scherer. In seinen Bildern aus dem Berliner Leben k a m Rodenberg auf diese P r o b l e m a l i k zu sprechen. A u s g a n g s p u n k t seiner Überlegungen war ein Vergleich zwischen den deutschen u n d englischen Arbeitern. W ä h r e n d sich nach seiner Meinung der englische Arbeiter in einer besseren materiellen Lebenslage befände, stehe der d e u t s c h e dennoch höher, weil er gebildeter sei. Und mit Bezug auf statistische Daten über die Z u n a h m e der staatlichen Ausgaben f ü r das Schulwesen und die A b n a h m e der Kosten f ü r das Armenwesen in Berlin zog er d a n n das F a z i t : »• Diese Zahlen sagen, d a ß mit der Zunahme der Bildung eine A b n a h m e der A r m u t h verbunden ist; sie sagen, daß, wie W ä r m e sich in K r a f t , so Bildung sich in W o h l s t a n d u m s e t z t ; sie sagen, was wir f ü r den Arbeiter t h u n , und was wir f ü r ihn nicht t h u n k ö n n e n ; und sie sagen endlich, d a ß in der Vermehrung seines geistigen und sittlichen Vermögens die'einzige Lösung des Problems d e r socialen Frage liegt.« 7 7 Dieses v o m S t a n d p u n k t des liberalen Bildungsbürgers vorgetragene Lösungsangebot s t i m m t e mit Scherers Denkhaltung im wesentlichen üb.erein. Was f ü r den einen Bildung, war f ü r den anderen die ästhetische Erziehung als G a r a n t nationaler F o r t 176
ent wicklung. Daß dies untaugliche Versuche darstellten, die gesellschaftlichen Probleme der Zeit zu bewältigen, m u ß nicht n ä h e r begründet werden. Wohl aber bleibt festzuhalten, d a ß die liberale Gesinnung Scherers u n d Rodenbergs immerhin noch den Blick f ü r die Veränderungsbedürftigkeit der Zustände frei ließ, was innerhalb des bürgerlichen Lagers jener Zeit nicht gerade zu den ideologischen Gemeinplätzen gehörte. Das Bestreben, im Sinne des kulturellen Aufschwungs in Deutschland wirksam zu werden, bezog sich bei Scherer d e m n a c h nicht nur auf den Literaturprozeß, sondern ebenso auf die Sphäre seiner Vermittlung u n d Aneignung in der literarischen Rezeption. D a ß sich Scherer diesem Problem stellte, ist an sich schon bemerkenswert. Wie er es t a t u n d welchen Anteil d a r a n insbesondere seine E r f a h r u n g e n in Berlin h a t t e n , soll im folgenden erörtert werden. Noch 1875 ging er u n t e r dem E i n d r u c k der E n t w i c k l u n g nach der Reichsgründung voller Zuversicht u n d Optimismus d a v o n aus, d a ß die Blütephase der deutschen Klassik nach wie vor ihre W i r k u n g besäße. E r konstatierte mit ziemlicher Selbstsicherheit: »So fühlen auch wir h e u t e m e h r den Gegensatz als die Einheit, wenn wir unsere Erlebnisse u n d unsere Umgebung m i t den Tagen Goethes u n d Schillers vergleichen: u n d t r o t z d e m d a u e r t ungebrochen die H e r r s c h a f t ihres Geistes, von J a h r zu J a h r dringen ihre Schriften tiefer ins Volk.« 7 8 In den J a h r e n d a n a c h k ü n d i g t e n sich jedoch erste Zweifel an jiieser These an. In der Rezension zu H a n s Hopfens Streitfragen und Erinnerungen beklagte Scherer, d a ß die ästhetische K u l t u r im deutschen P u b l i k u m auf niedriger Stufe s t ü n d e 7 9 , u n d in der Besprechung von Berthold Auerbachs Landolin von Reutershöfen m u ß t e er feststellen, d a ß das deutsche P u b l i k u m einen billigen Geschmack habe, weil es schlechte Dichter lobte und a n e r k a n n t e Autoren gern kritisierte. 8 0 Schließlich steht a m E n d e seiner Überlegungen das prinzipielle Urteil, das er 1884 so formuliert h a t : »Die Deutschen, denen die E h r e zu Theil wurde, den größten Dichter des modernen E u r o p a ' s (Goethe — W. H.) den ihrigen nennen zu dürfen, h a b e n es schnell verlernt, der Poesie einen enthusiastischen Cultus zu widmen.« 8 ' U n d mit Bezug auf die Voraussage von Gervinus, d a ß nach Goethe u n d Schiller die Zeit der D i c h t u n g zu E n d e sei u n d die Zeit 12
Wruck, Leben, Bd. I
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der Politik anbräche, resümierte Scherer: „Sein strenges Wort war eine schmerzliche Prophezeiung. Die Zahl derer, die noch warm für Poesie empfinden, wird von J a h r zu J a h r geringer: Männer auf der Höhe des Lebens rechnen die Poesie nicht mehr zu den ernsthaften Angelegenheiten der Nation; selbst die Jugend, sobald sie der Schule entwachsen ist, wendet sich leichtherzig ab von den lebendigen Quellen unserer Dichtkunst; und nur die Frauen bleiben den alten Lieblingen getreu.« 8 2 Vergleicht man diese Äußerungen mit der optimistischen Zuversicht von 1875, so läßt sich in Scherers Denken eine deutliche Tendenz der Desillusionierung in bezug auf die Einschätzung der inzwischen erzielten kulturellen Leistungen erkennen. Diese Lagebeurteilung hat sich offenkundig und nicht zuletzt durch seine Erfahrungen mit dem literarischen Leben Berlins verstärkt, denn gerade hier stellte sich bei ihm mehr und mehr die bittere Erkenntnis ein, daß die Nation aus den Idealen der Goethe-Zeit herauszuwachsen drohe und anfange, »übermateriell-« zu werden. 83 Der »Pomp und falsche Glanz hat uns wieder umstrickt« 8 4 , schrieb er 1878, und ein J a h r später sprach er im Zusammenhang mit einer Studie zu Goethes Pandora die Mahnung aus: »Damals schärfte der große Dichter, Denker und Prophet seinen Deutschen ein, und wir dürfen es als ein Vermächtnis nehmen für alle Zeit: das Menschliche ist nicht in prometheisch äußerer Kraft und Tüchtigkeit beschlossen, nicht in Arbeit, Gewerbfleiß, Reichthum, kriegerischer Machtentfaltung. Ein Höheres, Geistigeres muß hinzukommen, die Güter, nach denen der beschauliche Mensch verlangt, die ewige, sittliche Schönheit, womit Kunst und Wissenschaft das Leben schmücken.« 85 Scherer begriff also immer deutlicher den für ihn unauflöslichen Widerspruch zwischen politischer und ökonomischer Machtentfaltung einerseits und dem gemäß seiner Blütetheorie erhofften kulturellen Aufstieg PreußenDeutschlands andererseits. Sein Mißmut gegenüber einzelnen Erscheinungen des zeitgenössischen Gesellschaftsprozesses war letztlich nichts anderes als der Reflex auf die neu entstandenen kapitalistischen Reproduktionsbedingungen nach den ersten Gründerjahren mit ihren Folgen für die Entwicklung der bürgerlichen Kultur, die er mit Besorgnis wahrnahm. 178
Es stellt sich nunmehr die Frage nach den Lösungen, die Scherer anbot, um zu einer »Korrektur« der Literaturverhältnisse seiner Zeit zu gelangen. Hinsichtlich dessen kommt der von ihm 1884 verfaßten Studie Emanuel Geibel ßedeutung zu, die auf der Grundlage seiner Rede anläßlich der Gedenkfeier zum Tode des Dichters entstand, die der Verein Berliner Presse am 25. Mai d. J. veranstaltete. Die Anregung dazu kam von Hans Hopfen, der Scherer in einem Brief vöm 13. April 1884 erstmals die Bitte übermittelte, diese Festrede zu halten. 86 Da Scherer sich dazu offenbar nicht recht entschließen konnte, schrieb Hopfen am 26. April nochmals und eindringlicher: »Werden Sie sich nicht ärgern, wenn Curtius od. Frenzel od. Spielliagen die Rede halten wird. Darf der Schatten des . . . kunstreichen Sängers, der Sie lieb gehabt hat, nicht erwarten, daß Sie die leichte Mühe . . . übernehmen? Na also, halten Sie sich nicht für zu gut, ein schönes W o r t . . . an den alten Mann zu wenden !« 87 Scherer sagte schließlich zu, diese Aufgabe zu übernehmen, woraufhin Robert Schweichel als Erster Vorsitzender des Vereins Berliner Presse ihm am 17. Mai herzliche Dankesworte brieflich übersandte. 88 Wie Otto Brahm berichtet hat, fand die feierliche Sitzung »•an einem schönen Sommervormittage . . . auf der anderen Seite der 'Linden' . . . statt, . . . und andächtig lauschte die auserlesene Versammlung den Worten des Festredners. Er sprach große, begeisternde Worte: von dem Werte der Poesie, von dem Glanz unserer Sprache, von dem Heiligtum der Kunst; und die priesterliche Gestalt Emanuel Geibels stellte er vor die Hörer hin aus der Fülle literarischer Anschauung.« 89 Somit wurde Scherers Rede zu einer öffentlichen Angelegenheit im literarischen Leben Berlins, und das, was er zu sagen hatte, war auch ganz bewußt auf die breite Resonanz seiner Worte berechnet. Denn seine Ausführungen beschränkten sich nicht nur auf die Würdigung des verstorbenen Dichters, sondern enthielten ebenso eine Reihe programmatischer Orientierungen im Hinblick auf seine eigenen Vorstellungen künftiger literarisch-kultureller Entwicklung in Deutschland und können deshalb auch als eine Art Credo aufgefaßt werden. Was Scherer als Leistungen Geibels hervorhob, waren für ihn gleichzeitig Maßstäbe von allgemeiner Gültigkeit. Das betraf in 12-
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erster Linie die nationalistische Gesinnung des Schriftstellers, gepaart mit klassischer Bildung u n d Formenstrenge in seinem Werk, sowie die Favorisierung der sittlichen F u n k t i o n der Lit e r a t u r . Als Träger des Kulturfortschritts wurde von ihm das B ü n d n i s der gebildeten Kreise des Adels u n d des B ü r g e r t u m s sehnsuchtsvoll heraufbeschworen. 9 0 Der hier entwickelte Gedankengang zeigt sehr deutlich die Unfähigkeit Scherers, ein produktives Konzept f ü r die Entwicklung der zeitgenössischen L i t e r a t u r zu formulieren. W a s ihm d a h e r blieb, waren Utopievorstellungen u n d die F l u c h t in den Konservatismus, die vornehmlich in seiner S p ä t p h a s e offensichtlicher zutage t r a t e n u n d in der Endkonsequenz auch ein Ausdruck fehlgeschlagener B e m ü h u n g e n waren, die germanistische Literaturwissenschaft mit Effizienz in den Dienst eines vermeintlichen nationalen Aufschwunges zu stellen. Dies ist aber n u r die eine Seite von Scherers Denkhaltung. In der Studie über Geibel finden sich auch Akzentuierungen, die von B e d e u t u n g sind u n d sichtbar werden lassen, d a ß sich Scherer t r o t z einer streng konservativen Position gegenüber der modernen Literaturentwicklung offenhielt f ü r Bündnisse m i t Schriftstellern, die seiner klassizistischen W e n d u n g nicht folgen k o n n t e n . So h o b er nachdrücklich hervor, d a ß Geibel die Interessen der Menschheit nie aus d e m Auge verloren h a b e : »Und die völkerverbindende Menschlichkeit h a t Geibel selbst als Dichter praktisch bewährt. Auch er ist ein Zögling jenes litterarischen Universalismus, den wir seit Herder als einen Vorzug der Deutschen ansehen dürfen u n d der sich in Uebersetzungen wie in stilistischen u n d formalen Nachbildungen bethätigt.« 9 1 Als Beleg d a f ü r galt ihm, d a ß sich Geibel die französische Lyrik angeeignet u n d Byron, spanische Romanzen u n d Lieder sowie die Poesie der Antike übersetzt h a t t e . 9 2 H i n t e r dieser Würdigung verbirgt sich eine G r u n d h a l t u n g , die Scherer nicht preiszugeben gedachte, nämlich das Bestehen auf der Bewahrung u n d Pflege kultureller Leistungen der Menschheit u n d des Zusammenhangs von national- und weltliterarischer Entwicklung im Sinne des Ilerderschen Universalismus. Dabei ist gleichermaßen von Belang, d a ß er mehrfach das Beispiel
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Frankreich zitierte, das in bezug auf die ästhetisch-kulturelle Entwicklung nach seiner Uberzeugung auch eine Art Vorbildwirkung für Deutschland hatte. 9 3 Diese Grundsätze zeugen davon, daß aus Scherers utopisch-konservativer Weltsicht durchaus produktive Impulse hervorgehen konnten, und zwar im Sinne eines Erbeangebots für die gegenwärtige Literaturentwicklung und ihr Publikum, das an bestimmten humanistischen Traditionen und Werten der bürgerlichen Klasse mit Zähigkeit festhielt. Ihr Wesen läßt sich auf folgendes zurückführen: Bereits 1867 hatte Scherer in seinem Vortrag zu Achim von Arnim im Berliner Handwerkerverein als Fernziel nationaler kultureller Entwicklung das »Hineinwachsen in Goethe und Schiller« 94 benannt. In den folgenden Jahren hat er diese Idee zu einer Programmatik ausgebaut, deren Kern darin bestand, die zeitgenössischen Schriftsteller und ihre Leser konsequent auf die humanistischen Traditionen der deutschen Klassik und der klassischen Antike zu orientieren. Diesen Gedanken lag das Bestreben Scherers und zahlreichen seiner Germanistenkollegen zugrunde, zwischen Berlin und Weimar im Sinne der Idee des kulturellen Aufstiegs in Deutschland zu vermitteln, d. h., die Aura klassischer Größe aus dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in die Zeit nach der Reichsgründung hinüberzuretten. Im Kontext dieser Bemühungen gestaltete sich z. B. auch die Enthüllung des Goethe-Denkmals in Berlin zu einem symbolischen Akt, anläßlich dessen Otto Bralim 1880 eine Festschrift unter dem Titel Goethe und Berlin verfaßte und deren Kerngedanke der war: »Berlin hat Goethes Weltstellung entdeckt, Berlin zuerst hat nach der Wendung des Dichters zum Klassicismus hin ihm die -Anerkennung grösserer Massen eingebracht.*«95 Scherer hat dieses Postulat nachdrücklich unterstützt. In seiner Rezension zu Brahms Festschrift schrieb er dann auch: »Goethe hat in der That ein Verhältniß zu Berlin, und Berlin hat entschiedene Verdienste um die Anerkennung Goethe's. Und wenn gleich der erste Versuch, jene Beziehungen zusammenzustellen und diese Verdienste zu präcisiren, auf Widerspruch stößt, wenn von Süd- und Mitteldeutschland aus Protest erhoben wird, weil man Berlin die Ehre nicht gönnen will, be181
sondere Ansprüche auf Goethe zu haben: so ist das nur ein neuer Beweis jenes engherzigen und neidischen Particularismus, welcher in unserem geistigen Leben sich so gerne als ein höheres Princip der Freiheit aufspielt.« 96 In der Endkonsequenz waren die von Scherer hervorgehobenen besonderen Ansprüche der Reichshauptstadt auf Goethe einem einzigen kulturpolitischen Zweck unterstellt, der zum ersten ]\lal in Herman Grimms Vorlesungen über Goethe an der Berliner Universität 1874/75 offenkundig wurde. Karl Robert Mandelkow hat ihn folgendermaßen charakterisiert: »Berlin, die neue Reichshauptstadt, der Ort, an dem Grimm diese Sätze gesprochen hat, und Weimar, die bisherige heimliche Hauptstadt des geistig-literarischen Deutschland, sind endlich vereinigt, die nationale Geschichte der Deutschen, verkörpert in höchster Potenz von Goethe und Schiller, und die politische Geschichte der Deutschen sind durch die Reichsgründung von 1871 endlich versöhnt.« 97 Scherers Konzept der Orientierung an den Maßstäben der Klassik resultierte jedoch nicht nur aus diesen Erwägungen, sondern wurde auch entwickelt mit Blick auf bestimmte politische Zeittendenzen, die er insbesondere in Berlin mit wachsendem Unmut wahrnahm. Das betrifft in erster Linie seine Reaktion auf die sich verstärkenden nationalchauvinistischen Züge, die sich auch im literarischen Leben der Reichshauptstadt offenbarten. Scherers kritische Distanz gegenüber dieser Entwicklung läßt sich zum einen an den Rezensionen zu Felix Dahn ablesen: Den historischen Roman Ein Kampf um Rom wies er vor allem wegen der vom Autor praktizierten Verzeichnung der Geschichte zurück 98 , und die Besprechung der Gesammelten kleinen Schriften von 1882 kommt einem Verriß gleich, indem Scherer dem Verfasser schlichtweg Trivialität vorwarf. 99 In einem ähnlichen Kontext ist sein Verhältnis zu den Bühnenwerken Richard Wagners zu sehen, den er als »unsympathische Gestalt« 100 rücksichtslos ablehnte. Scherer selbst hat sich selten öffentlich zu Wagner geäußert, doch wenn er es tat, dann um so deutlicher. So z. B. in der Deutschen Rundschau 1876, wo er zu der Berliner Aufführung von Tristan und Isolde Stellung bezog.
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Scherer bekannte, daß die Teilnahme an dem »BühnenfestspielUngeheuer« für ihn Würdigung und Verurteilung zugleich gewesen war, und stellte zufrieden fest, daß es Gott sei Dank noch Leute gäbe, die nicht zur »Bayreuther Religion« gehörten (wie Bauernfeld, Hopfen und Spielhagen), eben weil sie mit Lessing »nach der Begrenzung der Künste statt nach ihrer Vermischung« strebten, Sinn und Verstand in der Poesie bewahrten und die Sprache von Lessing und Goethe nicht zum »Lallen und Blöken« nähmen. 101 Was hinter dieser (natürlich einseitigen) Kritik steht, ist Scherers Mißbehagen an den sich ankündigenden Tendenzen des Nalionalchauvinismus, die er in seiner Zeit vor allem in der Glorifizierung des Germanentums sah. Das war für ihn gleichbedeutend mit der Zurückdrängung der bürgerlich-humanistischen Ideale der Klassik und Antike. 102 Deshalb hatte er schon 1876 mit Nachdruck darauf verwiesen: »Die Deutschen, die es mit der ästhetischen Bildung ihres Volkes gut meinen, sind aus der Schule der Griechen. In Athen ist ihre geistige Heimat, nicht in der trüben Tiefe des Rheins.« 1 0 3 Wenn auch Scherers Haltung in bezug auf das aufgezeigte Problemfeld Beachtung verdient, darf natürlich nicht übersehen werden, daß sein Beharren auf den klassischen Traditionen nicht nur eine Verteidigung gegenüber dem zur Blüte treibenden Nationalchauvinismus darstellte, sondern genauso gegenüber dem Kulturkonzept der Sozialdemokratie innerhalb der Arbeiterbewegung. Darauf verweist recht eindeutig die Abhandlung über Ludwig Spach, in der es u. a. heißt: »Die Wahl zwischen dem Frankreich der Commune und dem Vaterland Schillers und Goethes konnte für Herrn Spach nicht zweifelhaft sein. . . . Der neue Zustand mußte ihn auf Seite der freieren und menschlicheren Bildung finden.« 104 Ausgehend vön dem bisher Dargelegten soll abschließend der Frage nachgegangen werden, worin generell die tatsächlichen Leistungen Wilhelm Scherers zu sehen sind. An erster Stelle ist hervorzuheben, daß unter Scherers maßgeblichem Einfluß die von den Germanisten betriebene Literaturkritik spürbar aus dem Kreis einer rein akademischen Angelegenheit heraus-
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trat. Indem die Universitätsgermanistik die Literaturkritik zu einem ihrer Arbeitsfelder machte, öffnete sie zugleich den Weg der Gelehrten zur zeitgenössischen Literatur und zu ihren Repräsentanten. Diesen nicht nur für die Geschichte der Germanistik bedeutsamen Umschwung hat Friedrich Spielhagen am klarsten benannt, als er am 26. Dezember 1876 an Scherer schrieb: »Wie lieb es mir gewesen wäre, gerade von Ihnen besprochen zu werden, wissen Sie. Unser Einer muß so viel des oberflächlichsten, nichtsnutzigen, ja offenbar schädlichen u. schädigenden Geschwätzes über sich ergehen lassen, daß die Sehnsucht nach. dem Urtheil u. der Beurtheilung eines wahrhaft Kundigen wohl berechtigt ist. Und diese Sehnsucht entspringt nicht einer rein egoistischen Quelle; ich denke dabei viel mehr an das Gemeinwohl als an mich. Die immer tiefer werdende Kluft zwischen der Gelehrten- und Literaten-Welt ist ein Unglück für beide.« 105 Im Kern geht es darum, daß die insbesondere nach 1848 immer tiefer gewordene »Kluft zwischen der Gelehrten- und LiteratenWelt« mit Scherers Wirken für eine Erneuerung der Germanistik hinsichtlich Gegenstand und Funktion erstmals wieder und für längere Zeit aufgehoben werden konnte. Gewiß: Die preußischdeutsche Bildungselite sicherte sich natürlich auch mit Hilfe der Universitätsgermanistik einen wichtigen Einfluß auf die Entwicklung der zeitgenössischen Literatur. Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Weit bedeutsamer ist, daß unter Scherer der Aktionsradius der germanistischen Literaturwissenschaft merklich erweitert wurde, was in der Endkonsequenz (verglichen mit der Phase der philologischen Textkritik) einen enormen Zuwachs an öffentlicher Wirksamkeit bedeutele. Scherers persönliche Ausstrahlungskraft trug dazu nicht wenig bei. Nach Einschätzung von Erich Schmidt war er eben »kein Mann der Studirstube, ohne zünftige -Verachtung des 'Literaten', vielmehr gern in Fühlung mit nichtakademischen Kreisen und dem Ruhm eines deutschen Schriftstellers allmälig stärker nachtrachtend als dem eines deutschen Gelehrten«. 106 Schmidt charakterisierte damit nicht nur persönliche Eigenheiten seines Lehrers, sondern zugleich einen neuen Typus von Gelehrten, 184
der sich n u n m e h r auch an der Berliner Universität herausgebildet h a t t e . Ein m a r k a n t e r Ausdruck f ü r die Beurteilung dieser E n t w i c k lung war die Beziehung Gottfried Kellers zu Scherer u n d der sogenannten Scherer-Schule. Grundsätzlich k a n n m a n davon ausgehen, d a ß Keller ein d u r c h a u s wohlwollendes u n d auf A c h t u n g beruhendes Verhältnis zu Scherer h a t t e , was z. B. a u s einem u n b e k a n n t e n Brief vom 6. F e b r u a r 1885 an Scherer in Berlin hervorgeht, auch wenn m a n in Rechnung stellen m u ß , d a ß der hier verwendete Stil in erster Linie den Konventionen im schriftlichen Verkehr unterstellt war. Keller schrieb: »Hochverehrter H e r r ! Sie versammeln so viele Schuld auf mein H a u p t , d a ß ich beginnen m u ß , wenigstens mit W o r t e n etwas a b z u t r a g e n , u n d d a n k Ihnen also herzlichst sowohl f ü r die Geibelstudie, als f ü r die soeben eingetroffene prächtige Grimmsache vom 2. J a n u a r . Möge Ihnen alles das Gute u n d Lebensgetreue zum besten gedeihen und b e k o m m e n ! So wünscht, u n t e r höflichster E m p f e h lung an die F r a u Gemahlin, m i t besten Grüßen Ihr ergebener G o t t f r . Keller.« 107 Aufschlußreich sind auch die Reaktionen des Schweizer Schriftstellers auf Scherers L i t e r a t u r k r i t i k e n , so z. B. auf die Besprechung der Züricher Novellen, ü b e r die er am 18. März 1878 an Julius Rodenberg schrieb: »Die Rezension des Herrn Professor Scherer gewärtige ich m i t beklemmtem Herzen, da er n a m e n t l i c h ü b e r den ' H a d l a u b ' als F a c h m a n n den Bakel schwingen wird, wegen Verbreitung falscher Behauptungen.« 1 0 8 S p ä t e r v e r s t ä r k t e n sich bei Keller die kritischen Urteile über die Scherersche Wissenschaftsmethode des nahezu direkten Vergleichs zwischen W e r k g e s t a l t u n d Erlebniswelt des Autors im R a h m e n philologischer Kritik. Das betraf jedoch weniger Scherer selbst als vielm e h r seine Schüler (vornehmlich Otto Brahm 1 0 9 ). W a s aber Keller an Scherer u n d seiner Schule dennoch schätzte, war die neue A r t des Umgangs der Universitätsgelehrten mit der zeitgenössischen L i t e r a t u r u n d ihren Schriftstellern. In dieser Überzeugung schrieb er an Theodor Storni am 22. September 1882: »Ihr Erich S c h m i d t ist ein geistiger u n d liebenswürdiger Gesell. E r gehört zwar zu der Schererschen Germanistenschule, welche auch
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bei den Lebenden das Gras wachsen hört und besser wissen will, woher und wie sie leben und schaffen, als diese selbst. Allein die gleichen Leute haben ein frisches, parteiisches und doch wohlwollendes Wesen; sie sagen ihr Sprüchlein, ohne sich im mindesten um Dank und Gegendienste zu kümmern und am Ende haben sie wenigstens einen sicheren Standpunkt und eine Methode, welche besser ist als g a r n i c h t s , was bei den meisten Rezensenten der Fall ist.« 110 Ähnliche Wertschätzung erfuhr Scherer auch von zahlreichen anderen Schriftstellern seiner Zeit. Sie belegt, daß sich der Berliner Germanist zu einer angesehenen Persönlichkeit im literarischen Leben des deutschen Kaiserreiches entwickelt hatte. Das bezeugen viele persönlich gehaltene Bekenntnisse und Würdigungen, die Scherer brieflich übermittelt bekam. So äußerte z. B. Friedrich Spielhagen: »Sie wissen, welchen hohen Wert ich auf Ihr Urtheil lege. Sehe ich doch in Ihnen den Mann, von dem eine neue Aera in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung datiren wird!« 111 Berthold Auerbach bekannte: »-Ich möchte Ihnen ein Zeichen geben, lieber Professor Scherer, wie tief anmuthend unser letztes Zusammensein in mir nachtönt.« 1 1 2 Und Paul Heyse versicherte: »In mancher guten Stunde nehme ich Ihr Buch zur Hand (gemeint ist offenbar Scherers Geschichte der deutschen Literatur — W. II.) und gewinne stets daraus das beste, was der Geschichtsschreiber dem Schaffenden geben kann: Maßstäbe und frischen • Muth.« 113 In die Reihe dieser Beispiele gehört jedoch ebenso, daß es Ernst von Wildenbruch war, der für die Gedenkfeier anläßlich des Todes von Wilhelm Scherer einen Prolog verfaßte 1 1 4 , der zeigt, daß Scherer auch dem Ansehen einer Literatur dienlich sein konnte, die vielfach ganz direkt im Geiste des preußischen Militarismus und Nationalismus gewirkt hat. Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, daß sich Scherer in seinen letzten Lebensjahren wiederholt mit der Idee der Gründung einer Dichterakademie beschäftigt hat. In der Geibel-Studie z. B. reklamierte er: »Wir haben mehrere deutsche Akademien, welche Künstler und Gelehrte in ihrem Schöße versammeln: wir haben keine ' D e u t s c h e A k a d e m i e ' um diejenigen aufzu-
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nehmen, welche der kunstmäßigen Ausbildung der deutschen Poesie und Prosa eine ruhmvolle Lebensarbeit widmen.« 1 1 5 Ein zweiter wichtiger Faktor der bleibenden Leistungen Scherers betrifft dessen Wirkung auf seine Schüler, aus deren Kreis Germanisten hervorgegangen sind, die einen mehr oder weniger prägenden Einfluß auf die Literaturentwicklung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus ausgeübt haben. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war, daß mit Scherers Berufung nach Berlin neuere deutsche Literaturgeschichte auch an der Universität der Reichshauptstadt durch einen Germanisten vertreten wurde. Bis zu Scherers Amtsantritt hatte der Professor für Kunstgeschichte Herman Grimm Vorlesungen über Goethe gehalten. 116 Diese Aufgabe übernahm nun Scherer, der neuere Literaturgeschichte allerdings auch nur bis Goethes Tod las. Unter seiner Leitung wurden aber schrittweise Lehrveranstaltungen zur Literatur des 19. Jahrhunderts eingeführt, die zunächst Ludwig Geiger und später vornehmlich Erich Schmidt in ihre Verantwortung nahmen. 117 Die oben benannte Öffnung der akademischen Wissenschaft zu den zeitgenössischen Literaturverhältnissen und Schriftstellern, an der Scherer maßgeblichen Anteil hatte, wurde von zahlreichen seiner Schüler produktiv fortgesetzt und vertieft. Das betrifft zum einen Erich Schmidt, der nicht nur vom Katheder über das literarische Schaffen von Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller oder Otto Ludwig sprach, sondern auch regen Kontakt zu Keller, aber vor allem zu Theodor Storm pflegte, den er 1877 im Hause seiner Verlobten in Würzburg kennengelernt hatte. 118 In den Jahren danach entwickelte sich zwischen beiden eine freundschaftliche Beziehung, die sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß Schmidt ähnlich wie Scherer den Typ eines Universitätsgelehrten verkörperte, d^r nicht unbedingt in die Vorstellungswelt der akademischen Gepflogenheiten paßte. Dies mag auch Storm im Blick gehabt haben, als er am 27. November 1882 an Keller schrieb: »Was Sie von Erich Schmidt sagen, hat mich auch gefreut; er ist im Leben wie in derWissenschaft ein tüchtiger und durch und durch wahrhaftiger Mensch, dabei sieht er frisch und teilnehmend aus 187
seinem S t u d i e r s t u b e n f e n s t e r in die flutende W e l t h i n a u s ; er wirft sich auch selber m i t in den großen S t r o m . D a s alles ist schon etwas.«119 T h e o d o r F o n t a n e gehörte ebenfalls in den Kreis von S c h r i f t stellern, zu denen S c h m i d t enge Beziehungen a u f n a h m . Seiner F ü r s p r a c h e h a t t e F o n t a n e z. B . die Verleihung d e r E h r e n d o k t o r würde d e r Berliner U n i v e r s i t ä t 1894 zu v e r d a n k e n . S c h m i d t wiederum w a r a u s der S i c h t F o n t a n e s einer der wenigen L i t e r a r historiker seiner Zeit, die er a n e r k a n n t e . 1 2 0 Ü b e r den R a h m e n u n m i t t e l b a r e r K o n t a k t e zu Schriftstellern h i n a u s n a h m S c h m i d t regen Anteil a m literarischen L e b e n d e r Metropole. K u r z nach seiner B e r u f u n g von W e i m a r nach Berlin 1887 g a l t er bereits als ständiger G a s t im literarischen S a l o n d e r H e d w i g v o n Olfers in der M a r g a r e t h e n s t r a ß e ( N ä h e Tiergarten), wo er als mitreißender R e z i t a t o r a u f t r a t u n d ü b e r h a u p t die G e s p r ä c h e a m Teetisch nach Meinung d e r H a u s h e r r i n i m m e r b e l e b t e . 1 2 1 Natürlich war zu d i e s e m Z e i t p u n k t d e r » R u h m « des gelben Olfersschen S a a l e s in d e r C a n t i a n s t r a ß e 1 2 2 schon l ä n g s t verblichen, wo sich noch bis zur R e i c h s g r ü n d u n g nach A u f f a s s u n g E r n s t von Wildenbruchs » d e r g e s a m m t e G l a n z v o n Berlin, Häupter der Wissenschaft, Spitzen der Kunst, Würdenträger, Männer u n d F r a u e n aller K r e i s e « 1 2 3 z u s a m m e n g e f u n d e n h a t t e n . Übriggeblieben w a r ein kleiner Zirkel k o n s e r v a t i v e r Intellektueller, d e m neben S c h m i d t u. a . a u c h H e r m a n G r i m m , J u l i u s R o d e n b e r g u n d E r n s t von Wildenbruch angehörten. Weit b e d e u t s a m e r g e s t a l t e t e n sich E r i c h S c h m i d t s Beziehungen zu den Berliner B ü h n e n . Ü b e r Otto B r a h m f a n d er Z u g a n g z u m naturalistischen T h e a t e r , von d e m er sich a b e r b a l d a b w a n d t e . Als M a x R e i n h a r d t a m Deutschen Theater zu inszenieren b e g a n n , zählte a u c h S c h m i d t zu denjenigen, bei denen er R a t u n d Unters t ü t z u n g suchte. D a s belegt ein offener Brief E r i c h S c h m i d t s , a u s d e m hervorgeht, d a ß R e i n h a r d t ihn u m ein Urteil ü b e r die Inszenierung klassischer D r a m e n gebeten h a t t e . S c h m i d t g a b zu erkennen, daß er die Intentionen R e i n h a r d t s teile, und äußerte f e r n e r : » ( D ) e n n ich fühle mich Ihnen f ü r reiche G e n ü s s e u n d Anregungen, sei es zu u n e i n g e s c h r ä n k t e m Beifall, sei es zu zweifelnder B e w u n d e r u n g und b e w u n d e r n d e m Zweifel, tief verpflichtet.« 1 2 4
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Erich S c h m i d t setzte übrigens auch die Tradition der von Scherer begründeten »-Germanisten-Kneipe« in Berlin fort. U n t e r Schmidts Leitung fanden sich jeden Montagabend im »Großen Kurfürsten« an der P o t s d a m e r Brücke Wissenschaftler, Künstler u n d Journalisten zu einer geselligen Gesprächsrunde zusammen. 1 2 5 Einen weit größeren Einfluß auf die literarische E n t w i c k l u n g h a t t e n jedoch Otto B r a h m u n d P a u l Schienther. Beide waren u n t e r der Schülerschaft Scherers i n s o f e r n eine A u s n a h m e , als sie nach ihrer Universitätsausbildung nicht die akademische Laufb a h n einschlugen, sondern den Weg zur Theaterpraxis gingen. Begonnen h a t t e ihre Karriere als Literaturkritiker in Berlin. Scherer selbst e m p f a h l B r a h m als Gehilfen f ü r F o n t a n e in der Vossischen Zeitung, wo er später als Rezensent tätig war. Sein Nachfolger wurde Sclilenther, der sich ebenfalls auf d e m Gebiet der L i t e r a t u r k r i t i k profilierte. Beide begründeten d a n n 1889 die Freie Bühne u n d galten als einflußreiche Förderer der n a t u r a listischen Bewegung. D a r ü b e r hinaus erwarben sich B r a h m u n d Schienther bei zahlreichen anderen Schriftstellern Achtung u n d Anerkennung. Ein Beleg d a f ü r ist das Urteil von Theodor F o n t a n e . Ähnlich wie Gottfried Keller h a t t e auch er starke Vorbehalte gegenüber »-dem Allesbesserwissen der Schererschen Schule« 1 2 0 . Dennoch k a m er nicht u m h i n festzustellen: »Zu gleicher Zeit aber leb ich u n d sterb ich der Uberzeugung, d a ß wir in B r a h m — Schienther die besten N u m m e r n der jungen Schule g e h a b t haben und respektive noch h a b e n . Von N a t u r gescheit, gut geschult u n d gebildet, fleißig, klar u n d gute Stilisten u n d in ihren besten Momenten auch m i t Witz ausgestattet, sind sie all den anderen, die ich kenne, literarisch, ganz gewiß aber in den landesüblichen Umgangsformen überlegen. Sie sind frei von dem R ü p e l t u m , d e m Knotismus, die sich j e t z t überall so breitmachen.« 1 2 7 Otto B r a h m gehörte schließlich zu den Mitbegründern der Freien Volksbühne. In späteren J a h r e n ü b e r n a h m er die Leitung des Deutschen Theaters (1892) sowie des Lessingtheaters (1904) in Berlin. P a u l Schienther wurde f ü r kurze Zeit Direktor des Wiener Burgtheaters. 1 2 8 Der Entwicklungsweg zumindest von Schmidt, B r a h m u n d Schienther m a c h t sinnfällig, d a ß die Wirkungen des Berliner
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Germanisten Wilhelm Scherer über die Jahre seines Schaffens hinaus reichten. Die Spuren, die er und seine Schüler bis ins 20. Jahrhundert hinein hinterlassen haben, hat Franz Mehring, der ansonsten ein erbitterter Gegner der Scherer-Schule war, am treffendsten zusammengefaßt, als er in der Vorrede zur 2. Auflage der Lessing-Legende ausführte: »Sie hat viel in ästhetischphilologischer Kleinarbeit geleistet und versteht sich trefflich auf die kritische Analyse von Dichtwerken, soweit es sich um ästhetisch-philologische Gesichtspunkte handelt. Sie hat in siegreicher und gewiß auch dankenswerter Weise wenigstens den intelligenteren Schichten der deutschen Bourgeoisie beizubringen verstanden, daß Anzengruber, Ibsen, Hauptmann Poeten von ganz anderem Wurfe sind als Blumenthal oder Lindau. Insofern haben ihre Arbeiten die bürgerliche Ästhetik und Kritik ungemein erfrischt, die ebenso verkommen war wie die bürgerliche Poesie.-«129 Anmerkungen Es werden folgende Abkürzungen verwendet: Nachlaß Scherer = Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR. Nachlaß Wilhelm Sclierer. Briefnachlaß Schercr= Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR. Briefnachlaß Wilhelm Scherer. UA der HUB = Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin. ZStAm = Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg. Kl. Sehr. I bzw. II = Wilhelm Scherer: Kleine Schriften. 11g. von Konrad Burdach und Erich Schmidt. Bd. I/II, Berlin 1893. B W Möllenhoff = Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einführung von Edward Schröder. Berlin und Leipzig 1837. B W Schmidt = Wilhelm Schcrer/Erich Schmidt: Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von
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Brahm
Ermatinger
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Erich Schmidt hg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert. Berlin (West) 1963. = Otto Brahm: Kritische Schriften. Zweiter Band: Literarische Persönlichkeiten aus dem neunzehnten Jahrhundert. Hg. von Paul Schlenther. Berlin 1915. =Emil Ermatinger (Hg.): Gottfried Kellers Leben, Briefe und Tagebücher. Bd. III: Gottfried Kellers Briefe 1861-1890. Stuttgart und Berlin 1925.
Kl. Sehr. I, S. 211. BW Schmidt, S. 21. In Scherers Nachlaß befindet sich folgendes Billett von Fanny Lewald: »Professor Adolf Stahr und Frau ersuchen Herrn Scherer, morgen, Montag den 19^, um 8 Uhr in kleinem Kreise der Ihre bei ihnen zu (sein). Mathäi — Kirchstraße 18/d. 18 l November 60.-« ßriefnachlaß Scherer 389. Heinrich Spiero. Das poetische Berlin. Neu-Berlin. München 1912, S. 55. Vgl. BW Müllenhoff, S. 66. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852—1870. Zusammengestellt von Clara Misch geb. Dilthey. Leipzig u. Berlin 1933, S. 204. Vgl. Brief von Friedrich Spielhagen an Wilhelm Scherer vom 6. Mai 1866. In: Briefnachlaß Scherer 601. In einem Brief an Friedrich Spielhagen an Wilhelm Scherer vom 27. Juli 1878 heißt es: »mein erster Ausgang, wenn Sie unerbittlich sind, würde übermorgen (ich hoffe: übermorgen!) zu Ihnen und zu Frau Duncker sein, der ich mich, falls Sie sie sehen, bestens zu empfehlen bitte«. In: Ebenda. Ingeborg Drewitz, Berliner Salons, Gesellschaft und Literatur zwischen Aufklärung und Industriezeitalter. Berlin (West) 1965, S. 100. Vgl. Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920, S. 204. Vgl. Brief von Gustav Freytag an Wilhelm Scherer vom 5. Dezember 1866. In: Briefnachlaß Scherer 183. Vgl. auch: BW Müllenhoff, S. 12. Vgl. Brief von Eduard von Bauernfeld an Wilhelm Scherer vom 191
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26. J u n i 1872 und von Adolf Wilbrandt an Wilhelm Scherer (ohne D a t u m ) . I n : Briefnachlaß Scherer 30 und 753. Vgl. a u c h : Adolf Wilbrandt, Erinnerungen. S t u t t g a r t u. Berlin 1905, S. 183 ff. Vgl. Brief von H a n s Hopfen an Wilhelm Scherer v o m 16. April 1870. I n : Briefnachlaß Scherer 291. E d w a r d Schröder schreibt d a z u : » d a e n t p u p p t e sich die 'philologische Schule des Professors Scherer' als eine Kellergemeinde, über die sich der Dichter (persönlich und in seinen Briefen) bald b r u m m i g gereizt, bald d a n k b a r v e r g n ü g t geäußert hat. Die eben erschienene neue A u s g a b e der ' L e u t e von S e l d w y l a ' machten wir uns gegenseitig zum Weihnachtsgeschenk, das k o s t b a r e E x e m p l a r des 'Grünen Heinrich' in Rudolf Hennigs Besitz wanderte eifrig begehrt reihum, und J o s e p h Seemüller brachte a u s Zürich das erste Bild und obendrein den Bericht über einen B e s u c h bei Gottfried Keller mit.« I n : B W Müllenhoff, S. X I X .
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In diesen J a h r e n verfaßte Scherer u. a. Rezensionen z u : Otto" Ludwigs S h a k e s p e a r e s t u d i e n (Deutsche Zeitung, 5. April 1872, Nr. 93), Gottfried Kellers Sieben Legenden (Die Presse, 16. Mai 1872, Nr. 134), G u s t a v F r e y t a g s Ahnen B d . II u. I I I (Preußische J a h r b ü c h e r 1875, H e f t 35).
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In einem Schreiben vom Reichskanzler-Amt an den Königlichen S t a a t s m i n i s t e r und Minister der geistlichen, Unterichts- und Medicinal-Angelegenheiten A d a l b e r t F a l k v o m 18. J u n i 1875 gibt der Unterzeichnende (Delbrück) die A u f f a s s u n g des Reichskanzlers B i s m a r c k zur vorzeitigen A b b e r u f u n g Scherers von Straßburg nachBerlin wieder, a u s der hervorgeht, d a ß B i s m a r c k wünschte, daß Scherer noch etwa zwei bis drei J a h r e in S t r a ß b u r g bleiben sollte, da seine Tätigkeit der annexionistischen Politik Preußens gegenüber Elsaß-Lothringen auf kulturellem Gebiet dienlich war. E s heißt: »Diesen Gründen tritt noch der U m s t a n d hinzu, daß Scherer in Elsaß-Lothringen auch über die Kreise der Universität und der S t a d t S t r a ß b u r g hinaus durch S c h r i f t und Wort anregend deutsche Sprache und deutsche A r t fördert und ich auf diese Wirkungen seiner Arbeit im Reichslandc auch v o m politischen S t a n d p u n k t e besonderen Werth legen muß.« I n : Z S t A m . A c t a bet r e f f e n d : die Anstellung und B e s o l d u n g der außerordentlichen und ordentlichen Professoren in der philosophischen F a k u l t ä t der Universität Berlin. R e p 76 V a , S e k t . 2, Tit. IV, Nr. 47, B d . 15 (April 1875—April 1877), B l a t t 90.
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E b e n d a , B d . 16 (Mai 1 8 7 7 - J u l i 1879), B l a t t 9.
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Ebenda, Bd. 15 (April 1875-April 1877), Blatt 89. Ebenda, Blatt 90. Ebenda, Blatt 192 f. Vgl. ebenda, Bd. 16 (Mai 1877-Juli 1879), Blatt 75 und 230. Diese Wohnverhältnisse lassen sich rekapitulieren aus zwei Rechnungen von Tapezierer und Dekorateur über Leistungen und Transport in Scherers Wohnung (Lessingstr. 56) vom 31. Dezember 1885 und 2. Juli 1886. Vgl. Nachlaß Scherer 55. 23 BW Müllenhoff, S. 456. 24 Die Bekanntgabe erfolgte u. a. in einem Brief an Erich Schmidt vom 16. Oktober 1878. Scherer kommentierte hierin seine Verlobung folgendermaßen: »Zugreifen und Festhalten das Beste, das Schönste, soviel wir vermögen, das ist allgemeines Menschenrecht. Wer will mich schelten, daß ich mich dessen bedeute und auf eine zweite Jugend zu hoffen wage, die auch schon eingezogen ist mit klingendem Spiel in Kopf und Herz.-« BW Schmidt, S. 111. 25 Briefe Klaus Groths an Wilhelm Scherer. Mitgeteilt von Ulrich Pretzel. In: Festgruß für Hans Pyritz zum 15. 9. 1955. Aus dem Kreise der Hamburger Kollegen und Mitarbeiter. Sonderheft Euphorion 1955. Heidelberg 1955, S. 56. 26 Ebenda. 27 Vgl. dazu: UA der HUB. Universitätskurator in Berlin, Sch 53 (Personalakte), Bd. II Blatt 4. — Scherer hatte zwei Kinder. Sein Sohn Hermann wurde am 27. Februar 1880 geboren und studierte vergleichende Sprachwissenschaft und Phonetik. Im Juni 1900 kam er durch einen Unglücksfall beim Bergsteigen ums Leben. Die Tochter Maria wurde 1884 geboren und starb als Krankenschwester in einem Lazarett 1916 an Cholera. Marie Scherer hat von 1855 bis 1939 gelebt. — Vgl. Wieland Schmidt, Scherers Goetheausgabe. Aus der geheimen Geschichte der Berliner Germanistik. In: Festgabe für Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. von Werner Simon, Wolfgang Bachofer, Wolfgang Dittmann. Berlin (West) 1963, S. 411, 422 u. 424. 28 Vgl. UA der HUB. Verzeichnis der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten werden (Sommer-Semester 1878 bis Sommer-Semester 1886). 29 Brahm, S. 301. 30 Ebenda, S. 297. 31 Vgl. Konrad Burdach, Wissenschaftsgeschichtliche Eindrücke eines alten Germanisten, Berlin 1930, S. 6 f. 13 Wruck, Leben, Bd. I
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Brahm, S. 302. Vgl. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Bd. 3, Halle a. d. S. 1910, S. 518. 34 BW Schmidt, S. 217. 35 Nachlaß Scherer 120. 36 Vgl. ZStAM. Nachlaß Althoff: Korrespondenz Scherer. Rep 92, Abt. C, Nr. 19, Bd. 2, Blatt 117. 37 Briefnachlaß Scherer 439. — Scherers Bemühungen waren insofern erfolgreich, als Adolph Menzel für ein Selbstschriften-Album der »Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger« eine Skizze unter dem Titel Rast zur Verfügung stellte. Dieses Album erbrachte einen Reingewinn von 23.000.— Mark für die Gesellschaft. Vgl. (Autograph) Aus Sturm und Noth. Selbstschriften-Album des Deutschen Reiches. Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, hg. von der Verlagshandlung von Scherers Familienblatt zu Berlin. Berlin 1881, S. 17. 38 Nachlaß Scherer 120.— Aus Scherers Personalakte geht hervor, daß er auch »Ritter der deutschen Artusrunde IV. Klasse« war. Vgl. L'A der HUB. Universitätskurator in Berlin. Sch 53, Bd. I, Blatt 3. 39 Wilhelm Scherer, Karl Müllenhoff. Ein Lebensbild. Berlin 1896, S. 107. 40 Wilhelm Scherer, Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1929, S. 350. 41 Brief von Friedrich Spielhagen an Wilhelm Scherer vom 6. April 1880. In: Briefnachlaß Scherer 601. 42 Brief von Friedrich Spielhagen an Wilhelm Scherer (ohne Datum). In: Ebenda. 43 Vgl. Briefe von Friedrich Spielhagen an Wilhelm Scherer vom 1. Februar 1879, 11. Juni 1879 und 17. Juli 1880 (2 Briefe). In: Ebenda. 44 Brief von Rudolph Lindau an Wilhelm Scherer vom 7. März 1882. In: Briefnachlaß Scherer 397. 45 Brief von Rudolph Lindau an Wilhelm Scherer vom 28. Juni 1879. In: Ebenda. 46 Brief von Rudolph Lindau an Wilhelm Scherer (ohne Datum). In: Ebenda. 47 Briefe Klaus Groths an Wilhelm Scherer. Mitgeteilt von Ulrich Pretzel, S. 56. 48 Ebenda.
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Vgl. Briefe K l a u s Groths an Wilhelm Scherer. I n : Briefnachlaß Scherer 226. — Nicht uninteressant für die Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Scherer und Groth ist folgende E p i sode : Groth sandte a m 19. J a n u a r 1884 die Abschrift eines Gedichts mit dem Titel Einem jungen Paar, das von ihm wahrscheinlich aus Anlaß von Scherers Verlobung, die kurz nach dessen Besuch in Kiel s t a t t f a n d , entstanden ist. Groth b a t Scherer, dieses Gedicht an die Redaktion der Leipziger Zeitschrift Sphinx zu schicken und » d a m i t um einen'goldenen Lorbeerkranz'für mich zu werben«. Diese Bitte bezog sich auf einen von der Sphinx ausgeschriebenen Lyrik-Wettbewerb, im Ergebnis dessen Ehrenpreise für drei der besten Gedichte, die bis zum 15. März 1884 eingesandt wurden, gestiftet werden sollten. Dies waren: ein goldener Lorbeerkranz für das beste lyrische Gedicht, ein silberner B l a t t k r a n z für die beste Ballade (Romanze, erzählendes Gedicht) und ein Eichenkranz von Bronze für das beste vaterländische Gedicht (Heldenlied etc.). Die Jurymitglieder sollten nicht (wie sonst) Autoritäten v o m F a c h sein, sondern 10 D a m e n aus dem Abonnentenkreis, den Mitarbeiterinnen und Leserinnen. Ob Scherer dieser Bitte von Groth nachgekommen ist, ist aus den zitierten Briefen nicht ersichtlich. — Vgl. ebenda.
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Brief von Paul Lindau an Wilhelm Scherer v o m 24. März 1880. I n : Briefnachlaß Scherer 397. Brief von Paul Lindau an Wilhelm Scherer (ohne Datum). I n : Ebenda. ^ Vgl. Briefe von Berthold Auerbach an Wilhelm Scherer v o m 2. Mai 1880 und 21. J u n i 1881. I n : Briefnachlaß Scherer 14. Briefe von E r n s t von Wildenbruch aus den J a h r e n 1878—80. Hg. von Berthold Litzmann. Dortmund (ohne J a h r ) . Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn untör Vorsitz von Professor Berthold Litzmann, S. 161 f. — Vgl. a u c h : Briefe von E r n s t von Wildenbruch aus den Jahren 1881 und 1882. Mitgeteilt von Berthold Litzmann (ohne Ort und Jahr), S. 193 f.
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Vgl. Nachlaß Scherer 120 und 155. Vgl. Berthold Litzmann, E r n s t von Wildenbruch. B d . 1: 1845— 1885. Berlin 1913, S. 337. Den »Grillparzer-Preis« erhielt Wildenbruch für den Harold. M a x Roediger wurde a m 10. J u l i 1880 Privatdozent und a m 13. J u n i 1883 a. o. Professor für Germanistik an der Universität Berlin. Vgl. J o h a n n e s Asen, Gesamtverzeichnis d e s - L e h r 195
körpers der Universität Berlin. Bd. 1: 1810—1945. Leipzig 1955, S. 261. 57 Vgl. Julius Rodenberg, Bilder aus dem Berliner Leben. Berlin 1891, S. 273. 58 Vgl. Brief von Gottfried Keller an Julius Rodenberg vom 18. März 1877. I n : Ermatinger, S. 252f. 59 Ebenda, S. 343. 60 Brief von Hans Hopfen an Wilhelm Scherer vom 26. Mai 1876. I n : Briefnachlaß Scherer 291. 61 Brief von Paul Lindau an Wilhelm Scherer vom 22. J u n i 1872. I n : Briefnachlaß Scherer 195. 62 Vgl. Brief der Redaktion Gegenwart an Wilhelm Scherer vom 5. J a n u a r 1876. I n : Ebenda. — Scherer h a t in Lindaus Zeitschrift n u r einen Aufsatz veröffentlicht, und zwar Die orthographische Guillotine im H e f t I X des Jahres 1876. 63 Brief von Hans Hopfen an Wilhelm Schcrer vom 23. J a n u a r 1877. I n : Briefnachlaß Scherer 291. 64 Das als »Vertrauliche Drucksache« gekennzeichnete Rundschreiben enthält Informationen über die ab Mitte März d. J . zu gründende Monatsschrift, deren Titel noch nicht feststeht. Es wird verwiesen auf eine elegante" A u s s t a t t u n g (starkes, gutes P a p i e r ; geschmackvoller D r u c k ; fester Deckel), höchste Honorarsätze und reiche Mittel, die zur Verfügung stehen. Sie soll beinhalten Novellen und Erzählungen, wissenschaftliche Aufsätze, Essays aus verschiedenen Gebieten der K u n s t und Literatur sowie Charakteristiken, Skizzen etc. »Die Behandlung der tagespolitischen Fragen ist grundsätzlich ausgeschlossen; ebenso die Kritik, welche unmittelbar an ein schriftstellerisches oder künstlerisches Ereignis des Tages a n k n ü p f t . . . . Das Blatt wird also die politischkritische Wochenschrift 'Die Gegenwart' nach der dichterischen und wissenschaftlichen Richtung hin ergänzen.-« In dem beigefügten Brief von Paul Lindau an Wilhelm Scherer vom 30. J a n u a r 1877 heißt es: »Hochgeehrter Herr Professor. E s war eigentlich meine Absicht, Sie in Straßburg aufzusuchen und meine Bitte persönlich bei Ihnen zu befürworten, so großen W e r t h lege ich darauf Sie zu gewinnen und bald, wenn möglich gleich zu gewinnen. Aber leider m u ß ich diesen Reiseplan aussetzen und mich n u n darauf beschränken Sie brieflich u m Ihre Unterstützung zu ersuchen. Ich würde Ihnen w a h r h a f t d a n k b a r sein, wenn Sie in der Lage wären, meinen Wunsch zu erfüllen. Ich darf Sie versichern, daß die Monatsschrift Ihres Interesses nicht unwürdig sein wird.
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Ich habe feste Zusagen von fast allen den deutschen Schriftstellergestalten, die einer solchen Zeitschrift zu nützen vermögen; Sie würden sich wie in einem Freundeskreis und hoffentlich behaglich fühlen, — ganz besonders lieb wäre es mir, wenn ich von Ihnen schon in dem ersten Hefte einen Beitrag veröffentlichen könnte; aber die Zeit ist nun freilich so knapp bemessen — ich muß das erste Heft in drei Wochen schließen — daß ich dieser Hoffnung kaum Raum geben darf. Aber Sie haben gewiß die Güte, mir Ihren Bescheid, dem ich mit großer Spannung entgegensehe, recht bald zu geben. Ich bemerke noch geschäftlich, daß wir pro Bogen (16 unsrer Seiten = 14 Rundschau-Seiten . . .) mit 300 R-Mark honorieren. In aufrichtiger Hochachtung Ihr ergebenster Paul Lindau.« In: Briefnachlaß Scherer 195. Der Brief hat folgenden Wortlaut: »-Hochgeehrter Herr Professor. Mit aufrichtigem Bedauern habe ich von Ihrer Mittheilung Kenntniss genommen. Ich respectiere die Gründe Ihrer Ablehnung vollkommen. Daß ich nicht ganz auf Ihrem Standpunkt stehe, beweist meine Anfrage; ich halte die Concurrenz, die ich der 'Rundschau' machen werde, für nicht erheblicher als die, welche die 'Rundschau' der 'Gegenwart' gemacht hat. Ich theile vollkommen Ihre Ansicht über die Gediegenheit und den Nutzen der Rodenbergschen Monatsschrift, aber ich kann mich nicht mit dem Gedanken vertraift machen, daß die gesamte geistige Production Deutschlands soweit sie von Belang ist, von Rodenberg, dessen treffliche Qualitäten ich sehr hoch schätze, in Pacht genommen werden müsse und daß das deutsche Lesepublikum keine andern Götter haben solle neben ihm. Sie werden sich aus den 'Monatsheften' hoffentlich überzeugen, daß ich meine Aufgabe gerade so ernst auffasse, wie Rodenberg die seine, daß ich den Inhalt ebenso gewissenhaft pflegen werde wie er und mich doch in vielen Punkten wesentlich von ihm unterscheide. Viele Aufsätze, welche die 'Rundschau' gebracht hat, würde ich wenn ich sie umsonst haben könnte, nicht bringen, obwohl ich deren Verdienstlichkeit damit durchaus nicht herabsetzen will. Alle die langen historischen Essais 'Über die Begründung des Königreichs Belgien', über den amerikanischen Krieg pp. sind nach meiner redactionellen Auffassung zum Abdruck in einer Monatsschrift, die mit ihrem Raum so haushälterisch umgehen muß, nicht ganz geeignet. Eine Nummer wie die letzte, die ja viel Interessantes enthält, würde ich niemals zusammenstellen, weil thatsächlich
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in der ganzen Nummer der 'Deutschen Rundschau' nur vom Auslande die Rede i s t ; sogar die Novelle ist nicht einmal deutsch im politischen Sinne des Wortes. Aber (nun) lasse ich mich auf Kritiken ein, die Sie garnicht verlangt haben und die ich gar nicht üben will. Ich schreibe Ihnen dies nur, um Ihnen zu sagen, daß mir nichts ferner gelegen hat mit meiner Aufforderung, als der 'Rundschau' einen verdienstlichen und vorzüglichen Mitarbeiter abzujagen; ich habe mir gedacht, daß Sie das Eine thun könnten und das Andere nicht zu lassen brauchten, wie ich überzeugt bin, daß sich die beiden Monatsschriften neben einander auf einer anständigen Höhe halten werden — hoffentlich friedlich, wenngleich mir dieses friedliche Verhalten, wie ich zu meinem aufrichtigen Bedauern und zu meinem großen Befremden erfahren habe, durch gewisse Vernehmungen von Rodenberg recht schwer werden wird. Jedenfalls hoffe ich, daß Sie der 'Gegenwart' Mitarbeiter bleiben werden. Sie haben leider sehr wenig geschrieben und ich kann mir denken, daß Ihre Zeit sehr in Anspruch war, gleichwohl wage ich doch noch die besondere B i t t e auszusprechen, mir für die Wochenschrift recht bald einen Aufsatz zu geben. Mit aufrichtiger Hochachtung verbleibe ich Ihr ganz ergebenster Paul Lindau.« I n : Ebenda. 66
Vgl. dazu: Briefe von Karl Frenzel an Wilhelm Scherer vom 18. November 1880 und 29. November 1880. I n : Briefnachlaß Scherer 179/Briefe von Karl Emil Franzos an Wilhelm Scherer vom 20. Dezember 1884, 26. J u n i 1886 und 22. Juli 1886. I n : • Briefnachlaß Scherer 178/Brief von Hermann Tischler an Wilhelm Scherer vom 27. September 1884. I n : Briefnachlaß Scherer 682.
67 Vgl. Kl. Sehr. II, S. 36ff. 68 Vgl. ebenda, S. 39. 69 Ebenda, S. 36. 70 . Ebenda, S. 4. 71 Scherer verfaßte die Laudatio anläßlich der Verleihung des »Schiller-Preises« 1878, den u. a. Wilbrandt für sein Drama Kriemhild erhalten hatte. (Vgl. Kl. Sehr. II, S. 137 ff.) Über eine Berliner Aufführung dieses Stückes schrieb Ernst von Wildenbruch am 18. J a n u a r 1882 an Berthold Litzmann: »Mit Scherer traf ich neulich in Wilbrandts Kriemhild zusammen. . . . Scherer war in Begeisterung und gefiel mir in seiner Begeisterung sehr gut.« Briefe von Ernst von Wildenbruch aus den J a h r e n 1881 u. 1882, S. 193.
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Diese Grundhaltung wird noch offensichtlicher bei der Betrachtung von Scherers Literaturkritiken zu Autoren wie Karl Egon Ritter von E b e r t oder Franz Keim. An Eberts poetischen Werken kritisierte er z. B . : »Was uns am meisten fesseln würde, eine scharf nationale Haltung gegen die Czechen, das kommt bei E b e r t nicht zum Ausdruck; es soll ihm hier durchaus kein politischer Vorwurf gemacht werden, wir betonen nur die poetische Fruchtbarkeit des nationalpatriotischen Enthusiasmus ; für Uhland war der Parteigeist eine freigebige Masse, deren Gcschenke E b e r t entbehren muß.« I n : Kl. Sehr. I I , S. 259.
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Vgl. ebenda, S. 153 f. Vgl. ebenda, S. 159 ff. — Noch entschiedener fiel Scherers Kritik an Spielhagens Erzählweise in der Poetik aus. Vgl. Wilhelm Scherer, Poetik. Berlin 1888, S. 249. Wilhelm Scherer, Aufsätze über Goethe. Hg. von Erich Schmidt. Berlin 1886, S. 9 f. Kl. Sehr. II, S. 52. Julius Rodenberg, Bilder aus dem Berliner Leben. Berlin 1891, S. 154. Wilhelm Schcrer, Geschichte der deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert. Strassburg/London 1875, S. 9. Vgl. Kl. Sehr. II, S. 268. Vgl. ebenda, S. 148 f. Wilhelm Scherer, Emanuel Geibel. Berlin 1884, S. 8. Ebenda. Vgl. Jürgen Sternsdorff, Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Frankfurt am Main/Bern/Cirencester U. K. 1979, S. 222 f. Kl. Sehr. I, S. 53. Scherer, Aufsätze über Goethe, S. 268. Vgl. Brief von Hans Hopfen an Wilhelm Scherer vom 13. April 1884. I n : Briefnachlaß Scherer 291. Brief von Hans Hopfen an Wilhelm Scherer vom 26. April 1884. I n : Ebenda. Das Dankschreiben hat folgenden Wortlaut: »Hochgeehrter Herr Professor! Gestatten Sie mir, Ihnen mit diesen Zeilen im Namen des Vereins Berliner Presse den wärmsten Dank auszusprechen für die liebenswürdige Güte, mit der Sie sich bereit erklärt haben, bei der Todtenfeier zu Ehren Geibels am 25. d. M. die Festrede
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halten zu wollen. Seien Sie überzeugt, daß der Verein die Ehre, die Sie ihm dadurch erweisen, auf's höchste zu schätzen weiß und sich Ihnen tief verpflichtet fühlt. Zugleich bitte ich, mir gütigst die Zahl der Eintrittskarten mitzutheilen, über die Sie für die Feier zu verfügen wünschen! Dieselbe wird Ihnen umgehend zugestellt werden. Mit der Versicherung der vorzüglichsten Hochachtung zeichnet im Namen des Vereins Robert Schweichel Erster Vorsitzender.» — Brief von Robert Schweichel an Wilhelm Scherer vom 17. Mai 1884. In: Briefnachlaß Scherer 655. Brahm, S. 284. Vgl. Scherer, Emanuel Geibel, S. 10-13, S. 19, S. 26f. Ebenda, S. 24. Vgl. ebenda. In bezüg auf die Problematik des Zusammenhangs von politischem und künstlerischem Ruhm in der nationalen Entwicklung verwies Scherer z. B. auf die Geschichte Frankreichs seit dem 17.-Jahrhundert und hob hervor, daß trotz zahlreicher politischer Wandlungen die »Oberherrschaft des Geschmackes in Europa«, selten unterbrochen, behauptet werden konnte. Vgl. Scherer, Aufsätze über Goethe, S. 9. — Wiederholt stellte Scherer auch die Vorbildwirkung der französischen Literaturkritik im Figaro oder in der Pariser Revue critique heraus. Vgl. ebenda, S. 24 und Wilhelm Scherer, Deutsche Bildnisse. Dichter- und Gelehrtenporträts. Hg. u. eingeleitet von Alexander Eggers. Berlin 1919, S. 170. Kl. Sehr. II, S. 113. Zitiert nach: Bernhard Suphan, (Rez.) 0 . Brahm, Goethe und Berlin. In: Deutsche Litteraturzeitung 1881, Nr. 7, Sp. 241. Wilhelm Scherer, (Rez.) O. Brahm, Goethe und Berlin. In: Deutsche Rundschau 1880, Bd. 24, S. 485. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1: 1773-1918, München 1980, S. 207. Vgl. Kl. Sehr. II, S. 39 ff. Vgl. Kl. Sehr. I, S. 222 f. Richard M. Meyer, Die Deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. 2. Teil, Berlin 1910, S. 128. Vgl. Kl. Sehr. II, S. 269. Vgl. Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848—1880. Hg. von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann. Bd. 1, Stuttgart 1976. S. 152. — Auch in diesem Punkt stimmte Scherers Überzeu200
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gung als Nationalliberaler mit der von Julius Rodenberg überein, der sich ebenso gegen die »teutonisierenden, deutschthümelnden« Übertreibungen wandte und statt dessen z. B. auf die »französische Sprache, die französische Literatur als ein unentbehrliches Culturelement« orientierte. Vgl. Rodenberg, Bilder aus dem Berliner Leben, S. 250. Kl. Sehr. II, S. 250. — Ähnliche Äußerungen Scherers finden sich auch in: Scherer, Deutsche Bildnisse, S. 166 f. sowie in«: Kl. Sehr. I, S. 47. Wilhelm Scherer, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin 1874, S. 417. Brief von Friedrich Spielhagen an Wilhelm Scherer vom 26. Dezember 1876. In: Briefnachlaß Scherer 601. Erich Schmidt, Wilhelm Scherer. In: Goethe-Jahrbuch. Bd. 9, Frankfurt am Main 1888, S. 251. Brief von Gottfried Keller an Wilhelm Schcrer vom 6. Februar 1885. In: Briefnachlaß Scherer 322. Ermatinger, S. 253. — In der Tat hatte Scherer in seiner Rezension Kritik an der mangelhaften Charakterisierung der HadlaubFigur geäußert. Vgl. Kl. Sehr. II, S. 152 ff. Nach Veröffentlichung der Kritik schrieb Keller an Justine Rodenberg am 14. November 1878: »Herr Professor Scherer hat mich auch herrlich einbalsamiert und vor der Welt geehrt; wenn er nur überall so recht hätte, wie bei dem 'Hadlaub', dessen Unfertigkeit mir leider schon lange bekannt ist. Ich verspreche aber dem freundlichen Gönner und Gelehrten, zunächst nicht so bald wieder eine Schulstudie vorzunehmen, über welche die Hauptsache verdunstet.« Vgl. Ermatinger, S. 282 f. Otto Brahms Besprechung des Grünen Heinrich in der Deutschen Rundschau vom Dezember 1880 kommentierte Gottfried Keller in einem Brief an Paul Heyse vom 30. Dezember d. J. folgendermaßen: »Allein die Schülerkritik gewisser Schulmeister, die sich immer mehr mausig macht, führt einen auf dergleichen Ketzereien. So hat mir die neue philologische Schule Wilhelm Scherers jetzt methodisch durch Vergleichung und Textkritik von 'Ausgabe A und Ausgabe B' nachgewiesen, daß ich den eigenen 'Grünen Heinrich' verballhornt habe. Das hat nun nichts auf sich, aber es beweist, däß man den Leuten wieder einmal die alten Baculos ein wenig aus den Händen nehmen sollte.-« Ebenda, S. 367 f.
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110 Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller. Hg. von Peter Goldammer. Berlin u. Weimar 1967, S. 105. 111 Brief von Friedrich Spielhagen an Wilhelm Scherer vom 21. Mai 1880. I n : Briefwechsel Scherer 601. 112 Brief von Berthold Auerbach an Wilhelm Scherer vom 2. Mai 1880. In: Briefnachlaß Scherer 14. 113 Brief von Paul Heyse an Wilhelm Scherer vom 20. Dezember 1885..In: Briefnachlaß Scherer 271. 114 Vgl. Ernst von Wildenbruch, Gesammelte Werke, Bd. 15, Berlin 1924, S. 542 ff. 115 Scherer, Emanuel Geibel, S. 9. — Erich Schmidt bemerkte dazu, daß ein Lieblingsgedanke von Scherer in den letzten zehn Jahren »die Gründung einer 'Repräsentantenkammer deutscher Schriftsteiler'-« war, deren Organisation er mehrfach zu Papier gebracht habe. Vgl. Schmidt, Wilhelm Scherer, S. 254. 116 Vgl. Adalbert von Hanstein, Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebte Literaturgeschichte. Leipzig 1901, S. 22. 117 Vgl. UA der H U B . Verzeichnis der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten werden (Sommer-Semester 1878 bis Sommer-Semester 1886). Vgl. auch: Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, S. 227. 118 Vgl. Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller S. 249. 119 Ebenda, S. 110. 120 Vgl. Theodor Fontane, Schriften zur Literatur. Berlin 1960, S. 426 und 579. 121 Vgl. Hedwig von Olfers, geb. von Staegemann. Aus Briefen zusammengestellt von Hedwig Abeken. 2. B a n d : 1816—1891. Berlin 1914, S. 591 und 623. 122 Vgl. Hedwig von Olfers, geb. von Staegemann, Gedichte. Nebst Nachrufen von Herman Grimm, Erich Schmidt und Ernst von Wildenbruch. Berlin 1892, S. X X V I I I . 123 Ebenda, S. X X I X . 124 Erich Schmidt, Offener Brief an Professor Max Reinhardt. In: König Heinrich der Vierte von William Shakespeare mit Bildern nach Aufführungen des deutschen Theaters. Berlin 1913, S. 5. 125 Vgl. Das Germanische Seminar der Universität Berlin. Festschrift zu seinem 50 jährigen Bestehen. Berlin und Leipzig 1937, S. 14. 126 Fontane, Schriften zur Literatur, S. 360.
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127 Ebenda. 128 Vgl. ebenda, S. 547. Vgl. auch: von Hanstein, Das jüngste Deutschland, S. 180ff., S. 282, S. 289 und S. 309 sowie Spiero, Das poetische Berlin. Neu-Berlin, S. 108. 129 Franz Mehring, Gesammelte Schriften. Bd. 9 : Die LessingLegende. Berlin 1963, S. 8.
Berliner Häuser in modernen Dramen Exempel: Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann B R I G I T T E STUHLMACHER
Eine Berliner Mielskaserne ist der ausschließliche Schauplatz des programmatischen, »konsequent naturalistischen« Dramas Die Familie Selicke (1890). Für dieses soziale Drama benutzen seine Autoren Arno Holz und Johannes Schlaf die ärmliche, überbelegte Wohnung in Berlin N. als den modernen, sozial- und zeittypischen Ort einer Familientragödie. Sie stellen sie damit bewußt und auch provokant gegen die hohe und die epigonale Tradition der Gattung direkt in die sozialen Bedingungen ihrer Zeit, bzw. sie lassen die Tragödie aus diesen Bedingungen erwachsen. Das Beispiel zeigt, wie sich aus der Bestandsaufnahme modernster Lebensverhältnisse ein Beilin-Sujet für die Dramatik' entwickelt. Holz und Schlaf verarbeiten Sozialerfahrungen ihrer Zeit und ihre eigenen Lebenserfahrungen mit Berlin, mit der Armut, mit den Widersprüchen einer sich stürmisch entwickelnden Gesellschaft und einer hochkapitalistisch werdenden Sozialordnung. Ebenso arbeitet Hermann Sudermann. Sein etwa zur gleichen Zeit entstandenes Drama Die Ehre (1889) zeigt einen ähnlichen sozialanalytischen Ansatz und benutzt das BerlinSujet, um ein breites Sittenbild aus der modernsten deutschen Großstadt zu entwerfen. Deren Antagonismen erfaßt Sudermann in dem Doppelmotiv von Vorderhaus und Hinterhaus, und dank seiner geschickten Technik entfaltet sich das Berliner Haus als ein Dramenschauplatz mit weitreichenden Möglichkeiten. Das Nebeneinander und die Kontraste des großstädtischen Lebens können in ihm eingefangen werden. Beide Dramen wirken traditionsstiftend für die Motive und
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Strukturen, die sich auf den Begriff der Berliner Häuser in modernen Dramen bringen lassen. Denn der genaue Blick auf die Details der Lebensweise, des Alltags, die Konzentration auf das Soziale geht in die Formengeschichte der Dramatik ebenso ein wie das Arbeiten mit den Gegensätzen, Kontrasten, Widersprüchen des gesellschaftlichen Lebens und der Fülle seiner Erscheinungen. Zurück zu den Berliner Häusern. Als Schauplätze von Dramen gibt es sie schon lange, jedenfalls seit Berlin eine lebendige Theaterstadt ist. Berühmt ist eines — das' Wirtshaus in Lessings Minna von-Barnhelm. Dieses Haus ist ein bezeichnender Ort f ü r eine Zeitgeschichtskomödie, so steht es mit am Anfang einer Motivkette. Aber neu seit den naturalistischen Dramen ist, daß diese Schauplätze, diese Häuser, als Teil des Milieus, des sozialen Lebensraums aufgefaßt, von einer stücktragenden Wichtigkeit sind. Die Berliner Häuser erscheinen in den Stücken von Holz und Schlaf, bei Sudermann, später bei Gerhart Hauptmann tatsächlich als besondere Teile der Dramenstruktur. In ihnen treffen konkrete Stoffelemente, dramaturgische Raumbetonung und motivisch verkürzte Zusammenhänge von sozialen Verhältnissen und Schicksalen zusammen und verschmelzen. Diese Struktur ist sowohl fest wie auch variabel. So kann sie lange verwendet werden, Tradilionsreihen bilden (wie sie auch ihrerseits schon in welchen steht) und lebendig sein, d. h. zu Er-. neuerungen fähig und zur Diskussion. Ihre Hauptbezugspunkte sind die sich wandelnden Literatur- und Dramenauffassungen und die Wandlungen Berlins als sozialer Lebensraum. Aus der Reihe der Stücke werden zwei Beispiele einer genaueren Betrachtung unterzogen: Die Ehre von Hermann Sudermann, weil er so besonders erfolgreich in seiner Zeit war und so deutlich auch in ihr begrenzt blieb; Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten, weil sie wohl das schönste Berlin-Stück mit einer überzeitlichen poetischen Wirkung ist.
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»•Die Ehre« Der Erfolgsautor des Jahres 1889 ist Hermann Sudermann (1857—1928). Sein Stück Die Ehre hat am Berliner LessingTheater unter Oscar Blumenthal am 27. November Premiere, und riesige Aufführungsserien schließen sich an. 1 Skandale bei Sodoms Ende (1891) und Sensationserfolge mit Heimat (1893), seinen nächsten Stücken, machen Hermann Sudermann in kurzer Zeit zum meistgespielten deutschen Bühnenautor, seine Stücke sind aber auch Welterfolge, erobern Paris und Amerika, die besten Schauspieler reißen sich um seine Rollen, und die großen Tragödinnen der Zeit, Eleonora Duse und Sarah Bernhardt, feiern in seinen Stücken internationale Triumphe. Trotzdem scheint es schwierig, Hermann Sudermanns Platz in der Literaturgeschichte genauer zu bestimmen. Er ist Zeit- und Generationsgenosse der Naturalisten, aber sind diese nicht doch extrem gegenpolige Erscheinungen? Was verbindet schon die Familie Selicke, ein Stück von asketischer Strenge, Rationalität und avantgardistisch-tjieoretiseher Bewußtheit, mit der Ehre, einem Drama, das für das bürgerliche Theater der Zeit gemacht ist und das vielleicht der Trivialliteratur zugehört oder der Unterhaltungsliteratur? Im Zeitbewußtsein von 1889/90 korrespondieren die verschiedenartigen Erscheinungen miteinander. Das Theaterdebüt Gerhart Hauptmanns mit Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 durch die Freie Bühne und die kurz danach folgende erste Sudermann-Premiere stehen am Anfang einer denkwürdigen Berliner Theatersaison, an deren Ende Familie Selicke aufgeführt wird und in deren Ergebnis sich die deutsche Theaterlandschaft verändert zeigt. Das Nebeneinander der Ereignisse fordert schon damals vergleichende und differenzierende Urteile heraus, mobilisiert die Kritik, die Theaterleute, die Literaten und ihre Freunde und zeigt in der Auseinandersetzung das ganze Spektrum der Berliner Kulturszene. Sudermann kann sich 1889 durchaus neben Hauptmann sehen. E r gehört nicht zum Kreis der Naturalisten, spielt in ihren Gruppenbildungen keine Rolle, aber er steht doch keineswegs auf einer Gegenposition. Man bestätigt sein großes Talent und sieht in ihm
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eine Hoffnung der Literatur. E r hat Erfolg, weil er die moderne soziale Dramatik mit durchzusetzen hilft. Wie sich dann herausstellt, bezeichnet sein Erfolg den Moment, wo die Literaturrevolution der Naturalisten die Breite des literarischen Lebens erreicht hat, wo der Neuansatz der Avantgardisten zum Massenbesitz werden kann, wo die Unterhaltungsliteratur sich der neuen Form bemächtigt, nicht ohne sie zu verflachen. Daß eine so gerichtete Betrachtung aber einseitig ist, beweist gerade Sudermanns Werk, von dem j a auch neue Impulse ausgehen, in dem neues Material zündend bewegt wird und dem neue Motive und Techniken genauso entspringen wie dem hochliterarischen Werk seiner Konkurrenten. Das Problem der Konkurrenz bewältigt Sudermann tatsächlich schwer. E r spricht zwar mit Achtung von den Werken Gerhart Hauptmanns — mehr beeindruckt ihn allerdings M a x Halbes Jugend'i—, aber er vermag doch niemals die allgemeine »HauptmannSuggestion«^ zu begreifen und betrachtet sie als Quelle eigener »Verkennung und Unterschätzung-« 4 . E r leidet unter dem Bündnis Otto B r a h m — Gerhart Hauptmann, er leidet unter Alfred Kerrs Unterstützung für Hauptmann, die jener auch immer mit scharfen und bösartigen Abgrenzungen gegenüber Sudermann verbindet. Übrigens litt auch Arno Holz dauernd unter der Zurücksetzung hinter Hauptmann und begriff dessen finanzielle Sicherheit als unverdienten, aber für die Entfaltung des Genies unbedingt notwendigen Glücksumstand, der ihm selbst nie zuteil wurde. Not kennt Sudermann nach seinen Theatererfolgen, die sich auszahlen, und dem Autorenvertrag mit dem Verlag Cotta seit 1895 nicht mehr. E r erwirbt im Laufe der Zeit das Schloß Blankensee bei Trebbin als Sommersitz und ein Grunewald-Haus in der Bettinastraße als Berliner Wohnsitz und etabliert sieh als eine feste Größe im Berliner literarischen Leben. Als Mitinitiator und Vorsitzender des Goethe-Bundes gegen Zensur und die Anwendung der » L e x Heinze« auf die Literatur stellt er sich 1900 an die Spitze einer antiwilhelminischen Künstlerbewegung. Dieses Engagement in der Öffentlichkeit, politisches Interesse und kulturpolitische Aktivität bezeugend, kam nicht von unge-
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fähr. Sudermann war 1877 mittellos aus dem ostpreußisch-litauischen Grenzland des Reiches nach Berlin gekommen und h a t t e nach studentischen Hungerjahren als Korrespondent und Redakteur für die liberale Parteipresse angefangen und sich dabei in Presseprobleme und Literatur, in Politik und Öffentlichkeit Berlins gleichermaßen eingearbeitet. Diese Anfänge charakterisieren den von Sudermann repräsentierten Schriftstellertyp durchaus. Er steht im öffentlichen Leben, er steht im Geschäft, er ist über Theater und Presse 5 mit kulturellen Institutionen verbunden und nimmt Interessen wahr. In einem Fall ergibt das ein katastrophales Ergebnis: Sein Pamphlet Verrohung in der Theaterkritik6, 1902 im Berliner Tageblatt als Folge veröffentlicht, viel zu sehr im eigenen, verdeckten Interesse geschrieben und trotz vieler richtiger Bemerkungen zur Kommerzialisierung im Theaterbetrieb in der Polemik ungenau, macht ihn noch mehr zur Zielscheibe verächtlicher Kritik und höhnischer Betrachtungen als vorher. Maximilian Harden fühlt sich herausgefordert zu einem Gegenpamphlet — Kampfgenosse Sudermann7 —, das vernichtend wirkt. Dazu kommen die unvermindert heftigen Attacken Kerrs, der seinen Hohn sogar in einem längeren Gedicht ausspricht, wo es heißt: Du hast die Zeit (o Mann der Mache) Zwar nie verstanden, doch genutzt; Das ewig-Gestrige, das Flache Rasch mit »Modernem« aufgeputzt. Das Drama ward bei dir zum Reißer, Das Kunstwerk ward bei dir zum Coup. Du tust empört? . . . Knallerbsenschmeißer . . . Kotzebueü . . Kotzebue! ! 8 Solche Beschimpfungen haben Sudermann das Leben schwergemacht, und das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ist sicher seine schwächste Zeit. Trotzdem sind die Aufführungszahlen seiner Stücke bis 1913 hoch, gelingt ihm 1909 als Autor der Übergang ins Königliche Schaupielhaus, was immerhin offi208
ziell ein Erfolg ist, und seine Dramenproduktion (insgesamt 35 Stücke) läßt nicht nach. Von literarischem Belang aber ist erst wieder seine Arbeit an Erzählungen. Wenn man sagen kann, daß Sudermann im 20. Jahrhundert mit seinen Litauischen Geschichten (1917) für die Prosaentwicklung noch einen wesentlichen Beitrag leistet, so ist Vergleichbares von seiner späten Dramatik nicht zu behaupten. Bedeutung als Dramatiker hatte Sudermann, als er die naturalistische Opposition und Provokation gegen die etablierte Kultur des Kaiserreiches in eine publikumswirksame und publikumsgetragene Form umsetzte. E r bediente das Theater nach seinen neuen Bedürfnissen, und er lebte in seinen Traditionen. Das Theatralische war ihm kein Greuel. Seine Vorliebe für die französischen Gesellschaftsstücke, für Augier, Sardou, Dumas-Sohn, ließ ihn dramaturgisch oft altmodisch arbeiten (mit Intrigen und Räsoneuren), aber die Rollen, die er schrieb, entsprachen dem Geschmack der Zeit. Andererseits verlieren sich in Sudermanns dramatischem Werk nie die vom Naturalismus ausgegangenen Impulse für ein zeitund gesellschaftskritisches, chronistenhaftes Theater. Ein bemerkenswertes Potential von Zeitfra'gen wird in seinen Stücken, auch in den schlechten, verkitschten oder trivialen, bis in die 20er Jahre hinein und in den Inszenierungen noch darüber hinaus 9 öffentlich zur Diskussion gestellt und findet breite Publikumsresonanz. Hat Sudermann als Zeitchronist der Vorkriegswelt auf dem Theater auch nicht entfernt den Rang Wedekinds oder Sternheims, so liegt doch in der Kontinuität seines Schaffens und Wirkens ein nicht geringer Beitrag dafür, das Theater in einem lebendigen Zeitbezug zu halten und gerade für das Unterhaltungstheater Formen zu entwickeln, die aktuellem Interesse und zeitkritischem Anspruch genügen. Urteile, die in solche Richtung gehen, finden sich schon in der erhitzten Atmosphäre von 1889 — in Äußerungen Hardens, Brahms, Fontanes etwa. Sie begründen sich aus dem ersten Drama und Theatererfolg Sudermanns genauso, wie sie sich danach durch sein Gesamtwerk bestätigen. Sudermanns dramatischer Erstling Die Ehre ist ein Berliner Gegenwartsstück, das auf dem Einfall beruht, zwei Lebenssphären 14
Wruck, Leben, Bd. I
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der Stadt einerseits in ihrer Isoliertheit voneinander und andererseits in ihren Beziehungen zueinander darzustellen. Es sind beides Lebensbereiche, die Hermann Sudermann gut kennt: Das Milieu der Berliner armen Leute erlebte er während seiner Studentenzeit, als er in einer Mansarde der Auguststraße 36 bei Schneidermeister Achtenhagen wohnte. 10 Das Milieu der reichen Bürger war ihm vertraut von seiner Anstellung her als Hauslehrer bei dem Bankier Neumann und aus dem Leben in dessen Villa in der Potsdamer Straße. 1 1 Konstitutiv für das Stück, das Berlin-Bild und das Gesellschaftsbild der Zeit, das es entwirft, ist die Erfahrung der Uneinheitlichkeit in den Lebensbereichen und in der Lebensweise der verschiedenen sozialen Schichten, des Widerspruchs in den Interessen und des Antagonismus der Klassen überhaupt. Dementsprechend baut Sudermann sein Stück auf zwei Ebenen auf, markiert deutlich zwei Welten, betont dramaturgisch die Grenzlinien und die Unterschiede. F ü r diese sehr sinnvolle Struktur benutzt er zum Teil ganz äußerlich wirkende Mittel, so beispielsweise bei der Gliederung der Akte. Die vier Akte des Stückes sind gleichmäßig aufgeteilt: Zwei Akte beherrschen Kommerzienrats, und zwei Akte spielen bei dem Proleten Heinecke, hier in der kleinbürgerlich ausstaffierten Wohn- und Arbeitsstube — dort im Salon mit reicher Ausstattung. 1 2 Für die beiden Milieus wird das Schlagwort von Vorderhaus und Hinterhaus benutzt. Das stellt sie dicht nebeneinander und in den Gegensatz, um den es geht. Vorderhaus/Hinterhaus — die Begriffe kommen aus der konkreten Berliner Wirklichkeit. Es ist die Zeit des Mietskasernenbauens, und die Wohnungsprobleme sind ein sehr wesentlicher Bestandteil der ungelösten sozialen Frage. In Berlin waren die Wohnbereiche von arm und reich nicht konsequent nach Stadtgegenden geschieden, und die Stadtneubebauung seit den Gründerjahren war deutlich darauf aus, in den Vorderhäusern der Mietskasernen »bessere« Mieter unterzubringen, in Quergebäuden und Hinterhäusern aber eine Vielzahl billiger Wohnungen zu vermieten, um die räumliche Konzentration der Klassen zu vermeiden. In Auswirkung dieser Politik gab es in Berlin tatsächlich keine »Slums«, und es gab Hinterhäuser auch in den vornehmeren 210
Stadtteilen. Denn die Ausprägung solcher Gebiete ließ sich natürlich doch nicht vermeiden und nahm im 20. Jahrhundert noch zu. Mit dem Wachsen der Stadt setzte sich auch in Berlin der Trend der Auseinanderentwicklung durch. Gegen den proletarisch werdenden Norden, Osten und Südosten stachen der alte und der neue Westen, die Villen- und Gartenstädte der reichen Bürger bald kraß ab. Wenn Sudermann also den Gegensatz von Vorderhaus und Hinterhaus dramaturgisch und motivisch anspricht, so handelt es sich nicht nur um ein genaues Detail der Berliner Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern auch um das allgemeine Problem der Entwicklung sozialer Strukturen der Großx stadt unter kapitalistischen Bedingungen. Sudermann wählt für sein Stück einen Sonderfall von Lebensbedingungen, und die Schauplätze der Handlung sind auch nicht eigentlich Vorder- und Hinterhaus, sondern Gebäude auf einem Fabriketablissement. Diese Fabrik befindet sich in Charlottenburg, also gar nicht direkt in Berlin, denn Charlottenburg, das sich damals tatsächlich rasch industriell entwickelte, war noch nicht eingemeindet. Man kann aber sehen, daß die Berliner Sozialerfahrung einer modernen Klassendifferenzierung zwischen Bourgeoisie und Proletariat eine Basis für Sudermanns Aufnahme des Häuser-Motivs ist, dessen Assoziationskraft sich aus einem überaus reichen Anschauungsmaterial sozialer Verhältnisse speist, ( das der Großraum Berlin zur Verfügung stellt. Sudermann braucht da nur zu zitieren und kann im übrigen sein Stück ohne genauere sozialanalytische Bemühungen aufbauen. Schließlich hat er eine besondere Geschichte zu erzählen. Die Ehre hat eine Story. Man kann die Fabel des Stückes als Liebesgeschichte auffassen. Robert Heinecke kommt von jahrelangem Auslandsaufenthalt nach Hause. Er liebt die Tochter seines Chefs Mühlingk, für dessen Geschäft er in Indien erfolgreich arbeitete. Er findet bei Lenore auch Anerkennung und Liebe, während er sich sonst weder mit seiner eigenen Familie im Hinterhaus noch mit der BourgeoisFamilie im Vorderhaus, noch mit der Berliner Gesellschaft überhaupt recht verständigen kann. Zu sehr hat sich der junge Heinecke den heimischen Milieus und ihren Verhaltensnormen entfremdet. Besonders verdeutlicht wird das an seinem hochkultivierten 14*
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Ehrenstandpunkt, der ihn zu allen Verhältnissen in Widerspruch setzt. Hier demonstriert das Stück eine These: Ehre sei ebenso unterschiedlich wie die soziale Lage und als ethischer Begriff keine autonome Kategorie. Heinecke aber versucht, nach einem absoluten Ehrbegriff zu handeln. Das lumpenproletarische Verhalten seiner Familie ist ihm verächtlich. Daß er seinerseits von den Bourgeois, die in ihm den Proletarier sehen, mit Verachtung behandelt wird, empört ihn. Und zur Raserei bringt es ihn, daß er den Verführer seiner Schwester Alma nicht wirklich zur Verantwortung ziehen kann. So ist seine Geschichte bewußt gegen den sozialanalytischen Befund von der Geteiltheit der Gesellschaft komponiert. Die dramatische Handlung verbindet die beiden sozialen Welten, zeigt ihr Verhältnis zueinander, konfrontiert den Helden mit beiden gesellschaftlichen Sphären. Am E n d e steht seine Erhebung über beide und eine allerdings hochkapitalistische Emanzipation von den Zwängen der Milieus an der Seite eines kosmopolitischen Grafen und Kaffee-Millionärs. Die These von der Freiheit des einzelnen, in die das Stück mündet, unterlegt Sudermann mit bürgerlich-liberalen Vorstellungen, wonach sich im Geschäftsleben Tatkraft, Leistungsvermögen, Intelligenz gegen ständische Begrenzungen und Klassenschranken durchsetzen können. In der außerordentlichen Geschichte seines Helden Robert Heinecke gibt er ein Beispiel solcher Entwicklung — aber eben doch nur ein exotisches. Interessant ist überdies, daß die ursprüngliche Fassung des Stückes einen tragischen Ausgang hatte. Ansprüche und Klassengrenzen überschreitendes Verhalten des Helden verwickelten ihn in Schuld und Katastrophe, trieben ihn in den Tod. Auf Veranlassung des Theaterdirektors Blumenthal änderte Sudermann den Schluß des Stückes, um dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikums entgegenzukommen. Die ironische Abfuhr für den Bourgeois und die Kaffee-Millionen-Perspektive für den Selfmademan sind eine Berliner Theaterlösung, keine Berliner Lebenswirklichkeit. Um so mehr entspricht dieser Wirklichkeit die Gestaltung der heimischen Milieus mit ihren Abhängigkeiten, Verpflichtungen, Konventionen und den in ihnen begrenzten Entwicklungen. Sie fällt so schlüssig und konkret aus, daß das
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soziale Beziehungsgeflecht zum eigentlichen, d. h. interessanten und verdienstlichen Gegenstand des Dramas wird. Für die Darstellung der Berliner Welt der Kommerzienräte benutzt Sudermann nur wenige, kaum originelle Charakteristika: selbstverständlich Reichtum und allgemeines Geschäftsinteresse, sonst viele Attribute des Leeren — Langeweile, nichtigen Stolz, konventionelle Erwartungen der Eltern gegenüber den Kindern —, kontrastierend dazu ein verdeckt lasterhaftes Leben des Sohnes und ein aufrührerisches Temperament der Tochter, deren menschlicher Anstand sie dann auch von der Familie trennt. Wichtig sind zwei P u n k t e : Das Geschäftsgebaren des Hauses Mühlingk, dem Reichtum, Erfolg und Internationalität bescheinigt sind, ist nicht besonders überzeugend. Es gibt hier kein Bild bürgerlicher Tüchtigkeit. Die einzige vorgewiesene Klugheit ist die raffinierte und demagogische Ausnutzung fremder Arbeitskraft. Das Haus Mühlingk saniert sich durch die Tüchtigkeit des Angestellten Heinecke und kalkuliert dessen Abhängigkeit kaltblütig ein: »Wenn man gelegentlich zu diesen Leuten herabsteigt, kettet man sie mit ihrem Gemütsleben an die Interessen der Firma. — So etwas bringt oft Tausende ein . . ,« 13 Zweitens charakterisiert Sudermann diese Bürger in ihrer doppelten Moral. Offiziell einem genauen Ehrenkodex verpflichtet, Standesbewußtsein, formalem Anstand, sind sie doch in jeder Weise käuflich und rücksichtslos egoistisch in der Durchsetzung ihrer Interessen. Erstaunlich ist, wie sehr diese Moralkritik auf das Verhältnis der Klassen bezogen wird. Es werden Herrschaftsmechanismen bloßgelegt. Gegen die materiell Ausgebeuteten richtet sich ein ganzes System von deklassierender Behandlung, Mißachtung und Diffamierung, von Unterdrückung, gekoppelt mit jeder Art irgend erreichbarer Ausnutzung (im Stück der sexuellen). Die BourgeoisFamilie selbst begreift sich als Träger von Herrschaft und ungebrochener Macht und reflektiert in keiner Weise die Bedrohung ihres Platzes. Eine solche kommt auch nicht etwa direkt aus dem Hinterhaus. Sudermann stellt den zweiten sozialen Bereich — Hinterhaus, proletarisches Milieu, die Familie des Arbeiters — kaum als Alternative, vielmehr als Kehrseite des bürgerlichen Lebens dar. 213
Das Parasitäre, Dekadente, moralisch Verdorbene als eine Folgeerscheinung von Ausbeutung und Unterdrückung findet sich auch hier. Eine Reaktion auf bürgerliche Machtstrukturen sind lumpenproletarische Haltung, Gesinnung und Entwicklung. Vorderhaus und Hinterhaus bilden trotz allen Gegensatzes eine Einheit. Sie funktionieren zusammen als ein kapitalistisches System im kleinen, das aber Verfallssymptome zeigt. Sudermann spricht dem System jede Produktivität ab und unterwirft es damit einem vernichtenden Urteil, an dem ein Gemisch sozialistischer und bürgerlich-liberaler Vorstellungen über die weitere gesellschaftliche Entwicklung beteiligt ist. Diese Perspektivfragen sind für das Stück aber nicht besonders wichtig. Es lebt vielmehr von der genauen Balance im Zuständlichen, von den Beziehungen der beiden Milieus, von dem Geflecht der Einschätzungen, Meinungen und Urteile, die zwischen Vorderhaus und Hinterhaus, damit auch zwischen oben und unten, zwischen reich und arm hin und her gehen und zu einer ins Grundsätzliche gesteigerten scharfen Abgrenzung und Kündigung jeden Verpflichtungsverhältnisses gegeneinander führen. In diesem Abgrenzungsprozeß erweist sich die proletarische Seite als viel vitaler und beweglicher. Sudermann stattet die Figuren mit einer Fülle von Haltungen aus: Natürlichkeit und Sentimentalität, Pose und echtes Gefühl, Anstand und Ehrlichkeit, Raffgier und Habsucht, Vergnügungssucht und Familienbindung, Ausnutzung des Vorderhauses und Verachtung dagegen, sogar Haß trotz zeitweiliger Dankesverpflichtung. Alles steht bunt nebeneinander, letztlich regiert von der Kraft, in schlechten Bedingungen nicht unterzugehen, sich durchzuschlagen, das Beste aus jeder Situation zu machen und sich dem Druck von Ausbeutung möglichst zu entziehen. In diesen Haltungen gibt es keinen Funken von revolutionärem Geist und nichts an moralischer Überlegenheit, aber mehr Tatkraft, Selbst- und Situationsbewußtsein, als jemals in der Formel »arm, aber ehrlich« unterzubringen wäre. Etwa diese Formel möchte der heimkehrende Sohn gern von seiner Familie gelebt sehen, sie wäre auch zur Stabilisierung bürgerlicher Verhältnisse die bequemste. Aber alle Illusionen solcher Art werden radikal zerstört. 214
Die Musterfigur dafür ist die schöne jüngste Schwester — Alma Heinecke. An ihr entwickelt Sudermann eine Sozialstudie, die aus dem proletarischen Milieu herausführt und die Berliner Ver* hältnisse noch von einer anderen Seite zeigt. Almas Schicksal ist einerseits durch die Vorder-/Hinterhaus-Motivik festgelegt. Sie ist durchaus ein arpies und verführtes Opfer des Sohnes von vorn, den sie gleichzeitig ausnutzt, die Chance ergreifend, ihre Lage zu verbessern. Zugleich stellt Sudermann in ihr ein typisches Großstadtgeschöpf dar. Sie gehört schon ganz zum Amüsierbetrieb, verbringt ihre Zeit auf Bällen, Kostümfesteh und in mondänen Cafés und hat ein hochelegantes Absteigequartier. Der junge Herr finanziert das. Alma bewegt sich mit französischen Vokabeln und Gesangsstudien in der Berliner Halbwelt und entzückt dort als eine Figur kindlichster Verdorbenheit oder unschuldigsten Lasters. Sudermann verbindet in ihr literarisierte Züge der mondänen Dirne, eigentlich nach Pariser Modell, mit den genauen Herkunftszeichen aus dem halbproletarischen Berliner Milieu, und er zeigt, was die Voraussetzung solcher Entwicklung ist — das Weltstadt werdende Berlin. ALMA. Jeden Tag gibt's was Neues! — Und Berlin ist so schön! . . . Weißt du — so die Linden! Und das elektrische Licht! Fabelh a f t ! . . . Da hab ich einen Kronleuchter gesehen, weißt du, in dem neuen Café auf dem Dönhoffplatz — der war eine große Blumengirlande, und in jeder Blume saß eine Flamme drin. Wir sind überhaupt sehr weit in der Kultur. — Einer hat mir erzählt, daß es hier schon fast so schön ist wie in Paris. 14 Ganz hart ist das Bild dieses Berlins v gegen das andere gesetzt. ALMA. Kein' Sonn', kein Mond scheint 'rin in so 'nen Hof. — Und rings um einen klatschen se und schimpfen! . . . Und keiner versteht was von Bildung . . . Und Vater schimpft und Mutter schimpft. . . Und man näht sich die Finger blutig! . . . Und kriegt fünfzig Pfennig pro Tag . . . Das reicht noch nich 'mal zu's Petroleum . . . [. . .] Und wegen's Heiraten! Ach, du lieber Gott, wen denn? — So einen Plebejer, wie sie da hinten in de Fabrik arbeiten, will ich 215
j a r nich . . . Der v e r s ä u f t doch bloß den Lohn u n d schlägt einen. . . [. . .] Und ich will raus hier. 1 5 ' So wie hier zwischen den beschriebenen Lebensbereichen keine Vermittlung möglich scheint, ist das S t ü c k als Ganzes von kontrastierenden Bildern geprägt. Die Beziehungen zwischen oben u n d u n t e n erweisen sich als rein gegensätzlich, die Verbindungen familiärer u n d patriarchalischer Art zerreißen oder waren überh a u p t n u r vorgetäuscht, moralisch-ethische Verbindlichkeiten f ü r alle gibt es nicht. Das S t ü c k wird ein Schauplatz offen sichtbarer Antagonismen u n d K ä m p f e . Kapital gegen Arbeit, Vord e r h a u s gegen H i n t e r h a u s , Bourgeois gegen Proletarier — so liegen die F r o n t e n . Die große Anklagerede, in die S u d e r m a n n s Stück m ü n d e t , verbindet die Abrechnung ü b e r diesen Zustand m i t der Schuldzuweisung an die Bourgeoisie. Es ist eine pathetische Rede des Helden, aber sie ä n d e r t nichts, sie stellt nicht einmal die F o r d e r u n g oder wenigstens die Frage nach Veränderung. Auch die Anklage bestätigt noch das u n v e r m i t t e l t e Nebeneinander aller Positionen, den schreiend offenen Widerspruch. ROBERT. Gut. Dies ist der Tag der Abrechnung. Machen wir also das Konto klar . . . Das Konto zwischen den Vorder- u n d den Hinterhäusern. W i r arbeiten f ü r euch . . . wir geben unsern Schweiß u n d unser H e r z b l u t f ü r euch hin . . . Derweilen v e r f ü h r t ihr unsre Schwestern u n d unsre Töchter u n d bezahlt uns ihre Schande m i t dem Gelde, das wir euch verdient h a b e n . . . Das n e n n t ihr W o h l t a t e n erweisen! — Ich habe mir Nägeln u n d Zähnen u m euern Gewinst gerungen u n d nach keinem Lohn gefragt. — [. . .] U n d was t a t e t ihr? — Ihr stahlt mir die E h r e meines Hauses, d e n n ehrlich war es, wenn's auch euer H i n t e r h a u s war. [ . . . ] — ihr s t a h l t mir den H e i m a t s b o d e n ^ ihr stahlt m i r die Liebe zu den Menschen u n d das Vertrauen zu Gott — ihr s t a h l t mir Frieden, Schamgefühl u n d gutes Gewissen — die Sonne v o m Himmel h a b t ihr mir herabgestohlen — ihr seid die Diebe — i h r ! 1 6 S u d e r m a n n s S t ü c k zeichnet sich durch eine D r a m a t u r g i e aus, die dem Nebeneinander der Erscheinungen des. sozialen Lebens,
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den Kontrasten, den Widersprüchen ihren Platz einräumt. Bei aller sonstigen Trivialität (besonders die ideale Liebesgeschiehte ist kaum zu ertragen) hat das Stück hierin einen wirklich bedeutenden und produktiven Zug. Es entwickelt seine Form, wenn auch nicht konsequent, aus zutreffend analysierten Elementen der sozialen Situation, aus Zeitumständen und aus berlinspezifischen Problemen der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Kombination ermöglichte Sudermann einen dramentechnischen Vorstoß, und auf ähnlichen Wegen ließen sich später noch große poetische Entdeckungen machen, Formen des sozialen Dramas aktualisieren und Zeitstücke entwickeln. Die deutsche Dramatik der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts liefert genügend Beispiele. In den Reihen solcher Stücke tauchen dann auch die Berliner Häuser als Schauplätze oder zusammenhaltende strukturelle Elemente wieder auf. Bei Hauptmann, Georg Kaiser oder Ferdinand Bruckner sind die Häuser ganz besonders reichhaltig mit den unterschiedlichsten Existenzen angefüllt. Es sind Pensionen etwa oder große Mietshäuser im Querschnitt. So ein Großstadthaus kann dem Drama eine sozial aussagekräftige, fast immer das Motiv des »Nebeneinander« hervorkehrende Form leihen. Oder es ist ein Modell der räumlichen Zusammenfassung vielfältigsten Lebens. Die notwendige Zeitgenauigkeit kann man, wie es schon Sudermann tat, durch die Einordnung in die konkrete Stadtgeschichte erreichen, wobei die Großstadtprobleme ebenso wie die spezifischen Berlinprobleme ins Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung des 19. und des 20. Jahrhunderts führen. Die traditionsstiftende Rolle des Sudermannschen Stückes wird nicht dadurch geschmälert, daß der Autor selbst auf Vorbilder zurückgreifen konnte. Versuche mit der Simultantechnik gab es in der Dramengeschichte schon früher, besonders auf Johann Nestroy und sein Stück Zu ebener Erde und erster Stock muß hingewiesen werden. Diese Wiener Lokalposse von 1835 benutzt auf die direkteste Weise das Haus als Lebensmodell. Es ist zunächst der Rahmen, in dem die sonst getrennten Stände, deren einzelne Vertreter anonym nebeneinander leben und zwischen denen es kaum persönliche Beziehungen gibt, gemeinsam dargestellt werden können. 217
D a n n fällt auf, d a ß d a s H a u s als stellvertretender Teil d e r g a n z e n S t a d t w i r k l i c h k e i t , s o g a r der beginnenden Großstadtwirklichkeit erscheint. Dieser B e d e u t u n g entsprechend beherrscht d a s H a u s die B ü h n e n t e c h n i k ü n d den D r a m e n a u f b a u . Auf horizontal geteilter B ü h n e stellen u n t e n u n d oben, »zu ebener E r d e und erster S t o c k « , in k o n s e q u e n t e r S i m u l t a n e i t ä t die gegensätzlichen Leb e n s f o r m e n v o n a r m u n d reich d a r . D a d u r c h wird der soziale H a u p t a n t a g o n i s m u s der s t ä n d i s c h gegliederten Gesellschaft z u m Greifen deutlich u n d d a s S t ü c k b e k o m m t im G a n z e n einen sozialkritischen C h a r a k t e r . E s ist s o n s t b e s t i m m t durch d a s Motiv des Glückswechsels (Untertitel Die Launen des Glücks 17) u n d ein geniales theatralisches Spiel m i t der Verkehrung aller Positionen. Die A r m e n werden reich u n d k o m m e n hoch, wenn sie Glück h a b e n , und die Reichen werden a r m u n d l a n d e n u n t e n , wenn sie U n g l ü c k h a b e n , u n d die E i n h e i t des L e b e n s wie die E i n h e i t des H a u s e s umschließt sie beide. Ü b r i g e n s erscheint dieses Wiener H a u s u n d die G r o ß s t a d t Wien viel leicher als späterhin Berlin, in dessen literarischen H ä u s e r n es m e h r u m A r m u t g e h t als u m Glück und R e i c h t u m . S u d e r m a n n ist wohl nicht inspiriert v o n N e s t r o y s Spiel m i t S c h i c k s a l u n d Zufall, a b e r der glänzend g e f ü h r t e satirische Dialog auf verschiedenen sozialen E b e n e n , d e r entlarvend wirkende Blickwechsel der S i m u l t a n t e c h n i k sind wesentliche E l e m e n t e des S t ü c k s , die er nutzen k a n n . Hinzu k o m m t , daß N e s t r o y s S t ü c k einem g a n z engen u n d lebendigen Verhältnis des Dichters u n d Schaupielers z u m T h e a t e r , z u m Wiener V o l k s t h e a t e r e n t s p r i n g t . D e r Anschluß a n dieses E r b e ist f ü r S u d e r m a n n nicht weniger wichtig als der a n die französischen gesellschaftskritischen S a l o n s t ü c k e der Zeit. T h e a t r a l i s c h gegenwärtig sind beide Traditionen, denn N e s t r o y s - Werke, die nach seinem T o d e 1862 wenig gespielt wurden, e n t d e c k t e m a n nach 1880 neu, u n d sie gingen d a m a l s in den unvergänglichen B e s t a n d der T h e a t e r l i t e r a t ü r ein. S u d e r m a n n füllt die ü b e r k o m m e n e n F o r m e n m i t den neuen d e u t s c h e n E r f a h r u n g e n u n d d e n viel zugespitzteren sozialen u n d politischen Widersprüchen a m B e g i n n der E p o c h e des I m perialismus an. Seine S t ü c k e sind m o d e r n , so weit sie dieses Material a u s der gesellschaftlichen Wirklichkeit d o m i n a n t einsetzen.
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S p ä t e r , wenn er es nur noch als aktuelles Füllraaterial des theatergerecht g e b a u t e n S t ü c k e s a n sich b e n u t z t , fällt S u d e r m a n n rett u n g s l o s ins 19. J a h r h u n d e r t zurück. D a s B e r l i n - S t ü c k Die Ehre g e h ö r t z u m ersten T y p u n d zeigt g e r a d e bei der Verwendung der von N e s t r o y k o m m e n d e n »-Haus«S t r u k t u r die N e u a r t i g k e i t des A n s a t z e s : soziale Wirklichkeit im A u s s c h n i t t zu erfassen, a u s ihr die sozialökonomischen Determin a n t e n f ü r F i g u r e n v e r h a l t e n u n d S c h i c k s a l e abzuleiten, in den F i g u r e n e n t w i c k l u n g c n Sozialstudien anzulegen, die m i t g e n a u e r Zeit- u n d L o k a l k e n n t n i s g e a r b e i t e t sind und I n f o r m a t i o n s w e r t h a b e n . D a s F a b r i k e t a b l i s s e m e n t Mühlingks in C h a r l o t t e n b u r g 1890, d a s Vorder- u n d H i n t e r h a u s a u s der Ehre, ist nicht n u r d e r sozial definierte S c h a u p l a t z des S t ü c k e s , es b e s t i m m t u n d c h a r a k terisiert weitgehend die D r a m e n w e l t , die sich dort e n t f a l t e t . D a s heißt, es h a t K o n s e q u e n z e n : Die v o m S c h a u p l a t z u n d d e r Modernität d e r in ihm gebündelten Entwicklungen, des sozialen L e b e n s ( G e s c h ä f t , Industrie, H a n d e l , S t a d t , K l a s s e n k a m p f ) ausgehenden F o r m i m p u l s e sind s t ä r k e r als die Idee der pièce bien f a i l e , die T y p e n des H i n t e r h a u s e s überspielen die Salon- und K o n v e r sationselemente u n d d e u t e n e t w a s von einem V o l k s s t ü c k an. Man k ö n n t e in S u d e r m a n n s Ehre ein S t ü c k sehen, d a s unentschlossen auf der Schwelle steht — zwischen d e m 19. und d e m 20. J a h r h u n d e r t , zwischen den Salon- und K o n v e r s a t i o n s s t ü c k e n und der m o d e r n e n Gesellschaftskomödie, zwischen V o l k s s t ü c k e n alter und neuer A r t . Solche Schwellensituation g i b t es u m 1890 sicher o b j e k t i v . D a ß S u d e r m a n n letztlich nicht m i t ihr fertig wird, ist auch ein P r o b l e m seines individuellen künstlerischen Vermögens. H e r m a n n S u d e r m a n n s zweites S t ü c k Sodoms Ende (1891) h a t g e g e n ü b e r der Ehre einen begrenzteren sozialen Horizont. E s stellt sich deutlich als ein B e r l i n - S t ü c k d a r und n i m m t die bürgerliche Gesellschaft v o n Berlin W als r e p r ä s e n t a t i v e K l a s s e d e r H a u p t - u n d G r o ß s t a d t . Proletarische, k l a s s e n a n t a g o n i s t i s c h e , A r m u t zeigende E l e m e n t e sind im Bild nicht v o r h a n d e n . E s fehlen die d a m i t v e r b u n d e n e K o n f l i k t s p a n n u n g , D y n a m i k und a u c h A m b i v a l e n z . Sodoms Ende ist viel eindeutiger, klarer in der Wert u n g , entschiedener im Ausspielen des S t o f f e s u n d kritischer u n d
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anklägerischer in seiner Analyse bürgerlicher Verhältnisse. Aber es handelt sich eben nur um die Verhältnisse der reichen Leute, ihres Kunstbetriebes und -geschäftes, der Salons und der bei ihnen verkehrenden Künstler und Genies. Bourgeois und Künstler — auf diesen Gegensatz baut das Stück. Natürlich bietet es Raum für die eigenen Lebenserfahrungen Sudermanns, Raum auch f ü r ein kräftiges Engagement des Autors gegen den Sog des bürgerlichen Luxuslebens, als dessen Ausdruck »Sodom« und als dessen Perspektive ein »Ende« gesetzt ist. Heinrich Manns späteres Schlaraffenland hat sehr viel mit dieser Art Berlin-Bild zu tun. Aber im Unterschied zu Andreas Zumsee, dem Romanhelden Manns, ist Willy Janikow bei Sudermann als ein begnadeter Künstler aufgefaßt, den Luxus, Laster, Betrieb und eigene Labilität zerstören und vernichten. Sodoms Ende ist ein frühes Beispiel radikaler Auseinandersetzung mit der Position des Künstlers in der bourgeoisen Gesellschaft; und mit seiner Bloßstellung des Kunstbetriebes in Berlin W besitzt es zeitpolitisches Interesse. Franz Mehring schätzt deshalb dieses Stück höher als Die Ehre. »Den Untergang der Kunst am Kapitalismus« habe Sudermann ehrlich gestaltet, und »das gibt seinem Schauspiele eine hohe soziale Bedeutung«. 18 »Die Gestalten, die uns Sudermann aus Berlin W. vorführt, sind von unheimlicher Lebenswahrheit, wie kraß er mitunter die Farben aufgetragen zu haben scheint. So gänzlich entnervt, eine sa schlappe Masse, der alle Knochen verfault sind, ist dieser Millionärs-Mob tatsächlich.« 1 9 Zur Beglaubigung seines Urteils über Sodoms Ende und der Auffassung Sudermanns führt Mehring das tragische Schicksal des Künstlers Stauffer-Bern an, zu dem er schon 1892 Stellung genommen hatte. 2 0 Dessen Briefe und Tagebücher h a t t e Otto Brahm herausgegeben, nach Meinung Mehrings sentimentalisiert und sozial entschärft durch den Hinweis darauf, daß Luxus und Kunst sich gegenseitig stützten. In Stauffers Leben — sieben Jahre Bildnismaler für Berlin W —, in den Selbstzeugnissen, in seinem Wahnsinn und in seinem Selbstmord fand Mehring dagegen den Beleg dafür, wie die Käuflichkeit die Kunst zerstört und wie der Künstler im Sumpf der Bourgeoisie untergeht. 2 1 Einem solchen Zerstörungsprozeß hat Sudermann in seinem 220
S t ü c k tatsächlich überzeugenden Ausdruck gegeben. Die Bürgersatire fällt scharf aus. Aber das S t ü c k h a t auch P a r t i e n von • beträchtlicher Kitschigkeit. Die scharfen Kontraste, die von S u d e r m a n n mit Vorliebe verwendet werden, um seine Stoffe d r a m a t u r g i s c h klar zu gliedern, sind hier besonders moralisch eingefärbt u n d auch überstrapaziert. Wie in der Ehre werden zwei Milieus gegeneinander gestellt, wieder sind die Bereiche H a u s — W o h n u n g — Familie — Lebensweise in sich geschlossene S t r u k t u r e n . »Der Salon im Hause Barczinowskis« ist Schauplatz des I. u n d IV. Aktes, »in l a u n e n h a f t verschwenderischem Stil gehalten« 2 2 , ist er der Ort von L u x u s u n d Laster, von Vergnügen, Gesellschaft u n d menschlicher Leere. Eine kleinbürgerliche Gegenwelt sammelt sich in Akt II u n d I I I in der »Berliner S t u b e in der W o h n u n g Janiliows« 2 3 , die mit allen A t t r i b u t e n der W o h n lichkeit u n d Freundlichkeit (einschließlich Nachmittags- u n d Abendsonne) a u s g e s t a t t e t ist u n d wo Anstand u n d Menschlichkeit zu Hause sind. Diese Idylle h ä l t aber der bourgeoisen Aggressiv i t ä t n i c h t stand, u n d sie wird durch den aus ihr h e r a u s d r ä n g e n d e n Künstler selbst endgültig zerstört. Den Ort der K a t a s t r o p h e des V. Aktes hat S u d e r m a n n m i t B r a v o u r gewählt — das von der Bankiersgattin f ü r ihren Liebh a b e r eingerichtete »Atelier Willy Janikows. Raubtierfelle, orientalische Teppiche, vergoldete Palmenwedel, k o s t b a r e Möbel; — Durch die geöffneten Vorhänge sieht m a n das prunkvolle Schlafzimmer . . ,« 24 Im Spiel der Motive u m Haus, Herd, Herdfeuer, Heim, Heimat, die keine ist, aus der m a n fliehen m u ß , u m d e m G r a b u n d d e m Schwindel zu entgehen, wird die vollkommene Verlorenheit des Künstlers verdeutlicht. E n t w u r z e l t , k o r r u m p i e r t , sieht J a n i k o w eine letzte Alternative im a b s t r a k t e n Begriff d e r Arbeit u n d in einer F l u c h t übers Meer. Davor aber holt ihn seine Schuld ein — er h a t ein Mädchen der Familie in den Tod getrieben — neben der Leiche bricht er zusammen. Die P r o p h e t i e des Untergangs ist erfüllt. Aber es ist doch nicht»die u n t e r g e h e n d e S t a d t — die S t r a ß e da — schon lichterloh . . . Männer, Weiber — nackt u n d h a l b b e t r u n k e n , wie sie gerad' aus ihren Orgien taumeln« 2 5 . Sondern es sind n u r der Künstler in seiner bourgeoisen Absteige u n d sein Genie u n d die Unschuld u n d die Schönheit. 221
Trotzdem gilt die Metapher von Sodoms Ende dem ganzen Berlin W und der Großstadt überhaupt. Berlin als Sündenbabel ist ein Begriff der Zeit — er faßt die bourgeoise Gesellschaft der Millionenstadt und den von ihr getragenen Vergnügungsbetrieb mit der Kunstszene, wo sie kapitalisiert ist, zusammen. Aus einem so verschobenen Berlin-Bild verschwindet die soziale Frage als Frage nach sozialer Gerechtigkeit für die arbeitende Klasse. Sie bleibt jedoch erhalten als Frage nach Abhängigkeiten, Zerstörungen und Vernichtungen in einem komplizierten und die Gesellschaftsordnung mit bestimmenden System von bourgeoisem Parasitismus und Ausbeutertum. Insofern hat Mehring recht mit seinem Hinweis auf die soziale Bedeutsamkeit des Stoffes von Sodoms Ende — er markiert eine moderne Form der sozialen Frage, die in der Epoche des Imperialismus sehr wesentlich wird. Wesentlich wie das Künstlerthema, zu dem Sudermann mit dem berühmtesten seiner frühen Stücke, Heimat, noch einen weiteren, die Berlin-Szene streifenden Beitrag liefert. Heimat spielt in der ostpreußischen Provinz, wo Sudermann herkam. Die Unvergleichlichkeit der Existenzbedingungen dort und in der modernen Großstadt, d. h. in Berlin, gibt den starken Kontrast her, auf dem auch dieses Stück beruht. Die Sängerin Maddalena dall'Orto, ein Weltstar, ist als Magda Schwartze die verlorene und verstoßene Tochter aus der guten Familie, mit der sie sich nach zwölf Jahren Verschollenheit arrangieren möchte. Der Versuch scheitert an deren provinzieller Spießigkeit, reaktionärster Borniertheit und gräßlich engen Moral- und Autoritätsauffassungen und endet katastrophal. Die Künstlerin, ein großer Charakter, eine voll entfaltete Persönlichkeit, durchaus mit Ubermenschen-Zügen im Nietzscheschen Sinne ausgestattet, bekommt von Sudermann eine ihre Entwicklung begründende Biographie: Mit 17 ging sie rebellisch aus dem Haus, verließ Familie und Provinz und kam nach Berlin. Nach Dachstubenexistenz dort und Armut und einer Liebschaft von einem halben J a h r bekam sie ein uneheliches Kind. Das alles prägte ihr Wesen. »Liebe und Haß und Rachedurst und Ehrgeiz und Not, Not, Not, — dreimal Not — und das Höchste, das Heißeste, das Heiligste von allem — die Mutterliebe.« 26 Für das Kind 222
mußte sich die N^utter durchschlagen und hatte Erfolg. Stolz auf die eigene Arbeitsleistung, Stolz auf das Kind und Liebe zu ihm sind Teil ihres neuen hohen Selbstbewußtseins, ihrer Emanzipation als Frau und als Künstlerin. Aber in der bürgerlichen Gesellschaft hat sie keinen ordentlichen Platz. Was in Berlin, in der großen Welt, in der Kunst-Szene unter Umständen möglich ist — die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Emanzipation —, erscheint in der festen bürgerlichen Ordnung der Provinz als todeswürdige Normenverletzung. Doch sieht sich diese Gesellschaft schon in eine Verteidigungsposition gedrängt — gegen den »Geist des sittlichen Aufruhrs-«, der durch die Welt geht, gegen den »Geist der Empörung« 27 , der die Machtverhältnisse bedroht. Aufruhr und Empörung als Zeichen des Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse sehen die Provinzbürger in der emanzipierten Frau, in der erfolgreichen Künstlerin, in ihrer Berlin-Geschichte und in ihrer Weltkarriere verkörpert. Magda ist der Typ einer neuen Zeit, für den die Provinz noch keinen Platz hat. Ihr kurzes Erscheinen dort aber stellt die alten Verhältnisse sofort in ihrer Häßlichkeit und Starre, in der Totalität ihres Machtanspruchs und doch auch als anachronistisch und hinfällig bloß. Mit dieser Relation gibt Sudermann seinem Drama Heimat einen bedeutenden Berlin-Aspekt. Der hebt es von gleichzeitig entstehender Heimatdichtung ab und rückt es dicht neben Ehre und Sodoms Ende. Von diesen Stücken her führen zu Heimat viele Verbindungslinien, nicht nur allgemeine, das Motiv des Heimkehrens etwa oder das Konfliktverhältnis Bürger/Künstler, sondern auch solche, in denen genaue Auseinandersetzungen mit dem Berliner Leben aufgenommen sind. Ehre bildet mit der Feststellung grundsätzlicher, die Zeit bestimmender Klassenantagonismen eine Basis für die spezielleren folgenden Analysen sowohl des Zustands der herrschenden Klasse wie auch der mit ihr verbundenen Künstlerschicht. Dabei gibt Berlin als Brennpunkt moderner Zeit extreme Schauplätze und extreme Bezugspunkte für überaus divergierende Entwicklungen und Urteile ab: Was einmal »Sodom« ist, ist ein andermal ein Ort der Freiheit, der Arbeit, der Perspektive.
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Auch Sudermanns nächstes Stück (Schmetterlingsschlacht 1894) ordnet sich noch in die Gruppe der zeitanalytischen Dramen ein, es hat auch einen Berlin-Stoff, allerdings mit deutlich schwächerem Zugriff auf die soziale Wirklichkeit, obgleich das Bemühen um sie noch spürbar ist. Dann läßt das Interesse daran nach. Auch Sudermann wendet sich neuromantischen Themen -zu. Zwischen Historischem und Märchenhaftem kommen aber auch immer wieder Zeitstücke. Von denen verdient Es lebe das Leben (1902) einige Aufmerksamkeit, weil es ein politisches Stück ist, in dem Wahlkämpfe zum Reichstag, Parteiprogramme, Kämpfe zwischen Konservativen und Progressiven eine große Rolle spielen. Berlin als Ort der hohen Politik erscheint im Blickfeld, bekommt aber keine festen Konturen. Das gilt auch für die dramatischen Zeilbilderreihen, die Sudermann nach 1914 als seine Auseinandersetzung mit Weltkrieg, Revolution und nationaler deutscher Entwicklung schreibt und unter den Titeln Die entgötterte Welt und Das deutsche Schicksal zusammengefaßt veröffentlicht. Eine Ausnahmestellung hat in der erstgenannten Dramenreihe die Tragikomödie Die gutgeschnittene Ecke, aufgeführt 1916 am Berliner Lessing-Theater. Denn dieses Vorkriegsstück spielt in der genau gekannten und gezeichneten politischen und kulturellen Szene Berlins. Es nimmt die Motive der frühen Erfolgsstücke wieder auf, breitet ein Zeitbild aus und bezieht seine Aktualität aus einem städtebaulichen und stadtgeschichtlichen Ereignis. Es handelt sich um den Ausbau des Kurfürstendamms, der zweiten City für Berlin, eines neuen Kunst- und Vergnügungszentrums, das ein Geschäfts- und Spekulationsobjekt ersten Ranges und von einer Bedeutung war, die einerseits zwar ganz im Lokalen bleibt, andererseits aber Berlins Platz unter den Weltstädten befestigt. »Die gutgeschnittene Ecke« ist ein Terrain, auf dem gebaut werden könnte, vorausgesetzt, Baukapital wäre da. Die Vorzüge des Baugeländes klingen im Geschäftsjargon so: »Hier dichtebei der Untergrundbahnhof. Hier gehen vier elektrische Linien, Stadtbahn auch nicht weit. Zufahrt — Ausfahrt — Ladenmiete — alles da — nich wie bei arme Leut.« 28 An dieser Stelle möchte der 224
Stadtverordnete und liberale Politiker Brandstätter ein Theater errichten. E r plant es mit kommunalen Garantien, wird aber auf den freien Kapitalmarkt verwiesen und findet sich nun, trotz seiner kommunalpolitischen Erfahrungen und Verdienste, ziemlich hilflos und viel zu anständig inmitten des großen, rücksichtslosen Geschäfts. Skrupellos wird er ausgebootet, sein Ruf vernichtet, seine politische Arbeit ruiniert. Aber auch die Konkurrenten um die »gutgeschnittene Ecke« beeinträchtigen sich gegenseitig derart, daß zuletzt weder das ursprtinglich beabsichtigte Volkstheater noch das kommerzielle Startheater auf die Ecke kommt, sondern ein Amüsierbetrieb mit Kokotten. Ein Theater gibt es dann schließlich auch noch, drei Jahre später wird es auf einem anderen Platz errichtet. »Alle diese Dinge haben eine Art Clownshumor in sich. Sind nischt wie Spielzeug. Wer Geld hat und Macht hat, der läßt sie spielen. Die ganze Zeit spielt.« 29 Dieser Auffassung eines Protagonisten der Handlung stehen andere entgegen: einerseits das ernsthafte Bemühen, Ideale im Vertrauen auf allgemeines gesundes Wachstum in Wirklichkeit zu verwandeln; andererseits — und durch die kapitalistische Wirklichkeit eher bestätigt — die Herrschaft von Kapital und ProfitintereSsen nicht als Spiel, sondern als Kampf unter Einbeziehung aller Lebenssphären, die ebenso unter die Herrschaft des Kapitals geraten wie Städtebau und Kultur. Sudermann nimmt mit diesem Stück das Häuserthema anders, aber nicht weniger zeitspezifisch als in den frühen Dramen auf. Man kann es aus der fortgeschrittenen Erfahrung mit der Profitorientiertheit im Berliner Stadtbaugeschehen erklären, man kann es in Verbindung mit der durchgesetzten hochkapitalistischen Entwicklung in Deutschland sehen. Tatsache ist,, daß die Verknüpfung von Haus als sozialem und Haus als kapitalistischem Objekt für die Motivgeschichte wesentlich ist. Dafür gibt es ein berühmtes Beispiel. 1892 erzielt George Bernard Shaw in London seinen Durchbruch als Dramatiker, als Zeitkritiker und als Vertreter einer naturalistischen Poetik mit der Komödie Die Häuser des Herrn Sartorius. Auch hier sind die modernste Großstadtwirklichkeit, die soziale 15
Wrack, Leben, Bd. I
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Frage als Frage nach den Lebensumständen der ausgebeuteten Klasse, das Geschäftsgebaren der Kapitalisten und die Spekulation und Profitgier der Hausbesitzer Kern eines Zeitbildes, das die anbrechende Epoche des Großkapitals und der Monopolprofite charakterisiert. Im Verhältnis zu den deutschen Stücken von 1890 fällt auf, daß Shaw nicht die Lebensumstände der Armen direkt auf die Bühne bringt, sondern über sie sprechen läßt. Damit fehlt ihm eine soziale Sphäre der Darstellung und eine proletarische oder halbproletarische Figurenwelt. Er schreibt ein Bürgerstück, ein Konversationsstück, aber von einer unvergleichlichen satirischen Schärfe und sachgerechten Aggressivität. Das System von Kapital, Profit und Ausbeutung wird am Geschäft mit den Slums radikal enthüllt und mit einer zugespitzten Moralkritik verbunden. Der Kapitalist baut sein eigenes Haus auf Kies, weil die Sterbestatistik da günstig ist, 30 er bewirtschaftet Elendsquartiere, weil sie Höchstprofite bringen, er spekuliert auf Abriß und Neubau ohne ein anderes Interesse als den Profit, und der moralisch empfindende, menschlich denkende gute Bürger lebt von den Zinsen des Kapitals, das in diesem Geschäft steckt. Mit dieser systematischen Kapitalismuskritik ist Shaw seinen naturalistischen Zeitgenossen überlegen, und die deutschen Komödien zeigen solche Qualität tatsächlich erst zwanzig Jahre später. Erstaunlich, daß auch in dem zunächst nüchtern ökonomisch scheinenden Zusammenhang mit der Spekulation das Häuserthema sich als theatergerecht, anschaulich, Emotionen erweckend erweist. Es ist als Gesprächsthema bei Shaw so lebendig und erregt so allgemeines Interesse wie bei den deutschen Dramatikern, ob sie es nun als realen Bereich des sozialen Lebens oder der öffentlichen Angelegenheiten vorführen. Poetische und theatralische Möglichkeiten von Stoff, Thema und Struktur sind damit aber noch keineswegs erschöpft. Gerhart Hauptmann setzt in seinem 1911 aufgeführten Stück Die Ratten das Berliner Mietshaus als Weltmodell ein. Frank Wedekind macht in dem faustischen modernen Mysterium Franziska ein Berliner Kaffeehaus zur ersten Station einer Welterkundung. Der Treffpunkt der Boheme, der Künstler und Dirnen (2. Bild. Berlin. Weinstube Clara. Mit dem Donnerwetter-Lied über die 226
Dirne und mit der Schriftsteller-Hymne Der Schriftsteller geht dem Broterwerb nach/mit ausgefransten Hosen 3 i ) wird zum zeichenhaft gesetzten Ort von Weltoffenheit, Dekadenz und Todesgefahr. Das ist auch 1911. Eines der großen frühexpressionistischen Dramen, Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts (entstanden 1912), füllt den Stationen- und Leidensweg seines Helden mit symbolhaft verkürzten Berlin-Szenerien aus: der Berliner Sportpalast, das Nachtleben, das Lokal der Heilsarmee — große Stationen der großen Welt, ihrer Krise, ihrer Erlösungshoffnung, ihrer Todesverfallenheit. Auch bei Kaiser ist Berlin im Drama eine Welt. Doch nur bei Hauptmann verbindet sich das dramatische Weltbild in dieser Zeit noch konkret mit einem reichen sozialen Inhalt. Das Erbe des Naturalismus ist in ihm lebendig, und die eigenen sozialen Erfahrungen sind für Hauptmann immer eine direkte Quelle des poetischen Schaffens geblieben. Dennoch steht das Stück Die Ratten auch in seinem Werk in gewisser Weise einzeln, während es auffallend stark mit den zeitgleich entstandenen Werken anderer Künstler (übrigens nicht nur im Bereich der Dramatik) übereinstimmt. In den genannten Dramen ist Berlin als ein Symbol der Krise der Vorkriegsgesellschaft gesetzt. In ihnen allen wird aus der Kritik moderner Lebensformen, aus der Auseinandersetzung mit dei Gioßstadtwirklichkeit und mit der politischen Repräsentanz der Reichshauptstadt ein allgemeines Zeitbild und ein Urteil über die Epoche entwickelt.
»Die Ratten« Hauptmann schreibt die Berliner Tragikomödie Die Ratten 1909 und 1910. Sie wird am 31. 1. 1911 uraufgeführt. 32 Das Stück hat einen deutlichen Rückbezug auf Hauptmanns naturalistische Periode und auf sein damaliges Leben in Berlin und Erkner. Autobiographisches Material ist eingearbeitet, ebenso ein früher Prosa-Entwurf von 1887. 3 3 Die Zeit der Handlung läßt sich auf 1885 datieren. Entgegen dem Anschein ist das Stück aber nicht primär der Erinnerung verpflichtet, es ist keine bloße Reminiszenz auf die Vergangenheit, sondern Zeitauseinandersetzung großen 227
Stils. Die ganze Epoche zwischen 1885 und 1910 wird in ihm als Gegenwart zusammengefaßt, und in dieser historischen Qualität unterscheiden sich Die Ratten grundsätzlich von Hauptmanns frühen naturalistischen Dramen. Aber auch als ausgewiesenes Berlin-Stück hebt sich die Tragikomödie von den frühenDramen ab. Hauptmanns naturalistische Dramen haben in Berlin Theatergeschichte gemacht — am meisten Vor Sonnenaufgang (1889). In Stoff und Milieu ist dieses soziale Drama ganz und gar schlesisch, aber als Kunstwerk gehört es natürlich zu Berlin, denn es wurde unter Berliner Literaturverhältnissen vollendet, diskutiert und in die Öffentlichkeit gebracht. Das gilt auch für die folgenden Stücke, die aber Berlin-nähere Milieus zeigen. Dem Friedensfest (1890) hat Gerhart Hauptmann einen Schauplatz mit Zügen seines Wohnsitzes in Erkner gegeben 34 , Einsame Menschen (1891) spielt in Friedrichshagen und bringt den Müggelsee in die Literatur. Den direktesten Bezug auf Hauptmanns Erlebnisse in Erkner hat Der Biberpelz (1893). Das hat alles sehr viel mit Berlin zu tun. Friedrichshagen wie Erkner sind Berliner Randgebiet (Stadtbahnanschluß seit 1882). Hauptmann zog 1885 nach Erkner, als er seine Gesundheit in Berlin ruiniert sah, und Landluft, Kiefernwald, Natur waren für ihn alternative Lebensbedingungen zum Großstadtmilieu. Andererseits bot ihm Erkner jede Möglichkeit, trotzdem zur Berliner Literatur zu gehören. 35 Als nach 1889 eine Gruppe der Berliner Naturalisten nach Friedrichshagen zog, waren die Beweggründe ähnlich- Man lebte alternativ, aber nicht entfernt und außerdem billig. Aber diese Gruppe verabschiedete sich vom Großstadt-Naturalismus. Nicht so Hauptmann, der übrigens 1889 wieder nach Berlin übersiedelte. E r gestaltet mit Hilfe des Erknerschen Milieus moderne und Zeitsujets und benutzt die Großstadt am Horizont als Zeichen der Zeit, ausstrahlend, determinierend, verwirrend und ausgestattet mit einem Zug bedrohlicher Asozialität. »Ich lebte damals in einer durch die Nähe Berlins mit bedingten, tragischgroßen Phantasmagorie. Trat ich des Abends vor das Haus, so sah ich im Westen bei klarer Luft den Widerschein der Riesin blutrot am Himmel. Das wimmelnde Leben der Welt228
Stadt, das ich ja aus vielen Vigilien kannte, lebte in mir. Mit einer Hellsicht, die vielleicht der eines Fiebernden glich, sah ich die wilden schmerzlichen Verknäulungen ihres Innern. Was wurde nicht alles aus der drei deutsche Meilen entfernten Stadt an Elend und J a m m e r ans Ufer gespült! Kein Sommer verging, allein hier in Erkner, ohne daß ein von Fliegen umsummter, behoster und bekleideter Leichnam, meist der eines Selbstmörders, im Forst gefunden wurde. Das ungeheure Lebewesen und Sterbewesen Berlin, wie gesagt, war mir alpartig gegenwärtig.« 36 Individuelle Lebenserfahrung am Rande der Metropole, zwischen Holzdieben und' Schmugglern — Hauptmann nimmt diese Erlebnisse in seiner Autobiographie sehr ernst — sowie Berliner Boheme-Sehweisen treten hier früh zusammen zu einer Art Symbolstruktur: Berlin steht für eine durch Asozialität und Todesnähe problematisierte gesellschaftliche Modernität. Mit seiner realen und mit seiner symbolischen Ausstrahlung reicht es in die ländlichen Milieus der Stücke, und die direkte Auseinandersetzung mit dem modernen Leben verläuft dann über die Charaktere, Schicksale und Fabeln. Hauptmanns naturalistischen Dramen fehlt also ein BerlinBezug nicht, sie weisen das Großstadt-Erlebnis des Dichters indirekt aus. Sie sind aber keine Berlin-Stücke im eigentlichen Sinne, und sie lassen auch eigentlich keine erwarten. Das Thema ist angeschlagen, scheint aber nicht dringend. Später geht Hauptmann überhaupt nach Schlesien zurück, und auf die naturalistische Phase seines Dichtens folgt eine deutlich neuromantische. Bemerkenswert ist da, daß 1901 zwischen vielen anderen Arbeiten Der rote Hahn erscheint, eine Tragikomödie und Fortsetzung des Biberpelzes von 1893. Auch Der rote Hahn ist »Irgendwo um Berlin« angesiedelt und mit der Zeitangabe »-Kampf um die Lex Heinze, Jahrhundertwende« 3 7 auf unmittelbarste Gegenwartsdarstellung festgelegt. Das modern Zeitgemäße der Darstellung des Konfliktgeschehens und der Ausprägung der Intellektuellenprobleme, die zugespitzte Gesellschaftskritik und der scharfe Angriff auf das wilhelminische System zeigen H a u p t m a n n ganz auf der Höhe der historischen Situation. Mit dieser ersten Tragikomödie unter seinen Werken gelingt ihm ein Drama in einer den 229
neuen gesellschaftlichen Bedingungen entsprechenden F o r m , die die naturalistische Tradition nicht verleugnet, deren Kontinuität betont und Wandlungsfähigkeit demonstriert. I m Ganzen verkörpert es einen neuen T y p der Zeitdramatik. E r s t zehn J a h r e später n i m m t H a u p t m a n n diese F o r m wieder auf. S o wirkt d a s Erscheinen der Berliner Tragikomödie Die Ratten sehr unvermittelt. 1911 ist der direkte Rückgriff auf Zeit und Tradition des Naturalismus ungewöhnlich und die Gestaltung eines ausgesprochenen Berlin-Sujets durch H a u p t m a n n überraschend. Freilich sieht m a n jetzt, daß dieses S u j e t f ü r H a u p t m a n n von weit her k o m m t , daß die frühen S t ü c k e sich ihm nähern u n d Vorarbeiten leisten, daß ein Erlebnisstau j e t z t endlich abgearbeitet wird, daß neue Zeitprobleme des 20. J a h r h u n d e r t s sich mit historischen verbinden. Sicher sind Die Ratten eine Art B i l a n z des nun fünfzigjährigen Autors über die ganze Zeit seiner Dichterexistenz, und ebenso sind sie eine ü b e r a u s aktuelle d r a m a tische Arbeit, die die Modernität des G r o ß s t a d t - S t o f f e s bewußt einsetzt, u m Krisenerfahrungen zu artikulieren. Solches Zusammenlaufen von Bedeutungen u n d Herkünften, von Vorgaben und Innovationen erklärt, w a r u m d a s S t ü c k trotz seiner Einzelstellung von H a u p t m a n n als besonders wichtig und zentral angesehen wird. U n d es erklärt etwas von der Poetizität des S t ü c k e s , v o n seiner alle anderen Berlin-Stücke überragenden Dichtigkeit der A t m o s p h ä r e , seiner Intensität in Milieu, S y m b o l i k und Figurenwelt. In diesen Z u s a m m e n h a n g gehört die Veränderung des S u j e t s seit seiner naturalistischen E n t s t e h u n g s p h a s e . Die naturalistischen Berlin-Stücke verstehen sich als Ausschnittgestaltung, bezogen auf die Wirklichkeit des gegenwärtigen sozialen Geschehens. In den Ratten gewinnt d a s Berlin-Sujet E p o c h e n c h a r a k t e r und vermittelt ein Weltbild. D a s bedeutet eine andere Ästhetik -als die des naturalistischen D r a m a s , aber es bedeutet auch eine quasi neue Verarbeitungsstufe für dessen Materialien, Motive, S t r u k t u r e n und Ergebnisse, die als Bauelemente aufgehoben und verwendet werden können. Dominant erscheint dieser S a c h v e r h a l t in der Art, wie H a u p t mann d a s Motiv und die S t r u k t u r des Berliner H a u s e s zum Grundmuster seines D r a m a s Die Ratten macht. In d e m S t ü c k finden
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sich überdies Anklänge an Sudermanns Simultantechnik und an dessen Spiel mit den sozial unterschiedlichen Blickwinkeln, Formen der Milieudarstellung und Beschreibung der Lebensweise der arbeitenden Menschen wie bei Holz und Schlaf und w'ie bei den eigenen frühen Stücken. Es wiederholt bekannte Räsonnements über Berlin als Sündenbabel. Es benutzt auch die Künstlerund Kunstfragen, um die soziale Frage zu kontrastieren. Diese Formen mit ihren aus der Entwicklung Berlins genommenen Inhalten halten das Stück in der Wirklichkeit der Zeit fest. Sie verhindern, daß das Modell abstrakt wird. Denn das Wichtige und künstlerisch Bedeutende ist j a nicht die Rückkehr zu einer »weltdarstellenden« Dramatik an sich, sondern die Verwendung des modernen Berlin und der in ihm gefundenen Zeitcharakteristika als Material solchen Weltmodells. Hauptmanns schon früh problematisiertes Berlin-Bild ordnet sich hier ein. E r bezieht sich nun neu auf die Widersprüche einer voll entfalteten, Gesellschaftsordnung, auf die Entwicklung Deutschlands in der Epoche des Imperialismus, und erfaßt diese in einem Zentrum. Hauptmann benutzt in den Ratten Symbole und Metaphern, die die Welt als eine Untergangswelt kennzeichnen und über eine mythisch-prophetische Ausdruckskraft für kommende Schrecken verfügen. Mit dem Versuch der Fortsetzung des ganzen Rattenweltmodells in dem Drama Herbert Engelmann kommt Gerhart Hauptmann 1924 wieder darauf zurück. Dieses Stück ist Hauptmanns wichtigster zeitdramatischer Entwurf zur Auseinandersetzung mit dem ersten Weltkrieg, und die historische Betrachtung der jüngsten Vergangenheit bestätigt 1924 den 1911 erarbeiteten gesellschaftsanalytischen Befund einschließlich der Katastrophenprophetie. Hauptmanns Beschäftigung mit beiden Stücken 1941/42 38 zeigt ihn immer noch im Banne des Rattenmilieus »-mit seiner halb unterweltlichen Atmosphäre« 39 — Krieg und Katastrophe, Unterweltmilieu und Verbrechen haben als Gesellschaftssymptome eine neue Aktualität gefunden, sie bestätigen zum letzten Male die historische Brisanz der Zeitanalyse von 1911. Neben dem historischen Interesse ist bei Hauptmann das an der Berlin-Gestaltung auch weiterhin lebendig geblieben. Noch
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1943 beklagte er sich wieder darüber, daß es keinen deutschen Balzac oder Dickens gäbe und daß wir nichts hätten, was so wie dessen Londoner Skizzenbuch eine ganze Stadt überliefert: »-In den ' R a t t e n ' habe ich einmal etwas dergleichen versucht. Aber ich war und bin ja zu wenig Stadtmensch.« 4 0 Dem langen Nachhall der Rattenj der Berlin-Sujets, des Herbert Engelmann als Antikriegsstück im Denken Gerhart Hauptmanns entspricht etwa auch die Rezeptionsgeschichte der Werke. 41 1911 auf viel Unverständnis stoßend, entfalteten die Ratten sich in ihrer Symbolik und Kraft überhaupt erst mit den vertieften Krisenerfahrungen in der deutschen Gesellschaft seit 1916. 42 Nach 1922 43 werden sie ein Repertoire-Stück der deutschen Theater. Seit damals wird die Modernität ihrer Form bewundert und macht auch in der Zeitdramatik der 20 er J a h r e Schule. Nicht nur Herbert Engelmann als Seitenstück zu den Ratten schließt sich an, die Nähe des Berliner Volksstücks Nebeneinander von Georg Kaiser ist frappierend, und dieses Stück markiert 1923 eine wichtige nachexpressionistische Wendung des Dichters. Von direktem Einfluß zeugt Ferdinand Bruckners Zeitstück Die Verbrecher (1928), das in der Gestalt der Köchin Christine Hauptmanns tragische Mittelpunktsfigur Frau John nachbildet und wie die anderen genannten Stücke das Haus-Motiv strukturell aufnimmt und noch weiterführt. Überhaupt sind Bruckners Verbrecher ein Stück konsequentester Häuserdramaturgie mit voll entfalteter Montage- und Simültantechnik. Die Berliher Theater spielen es immer als ein Berlin-Stück 4 4 , Bruckner verweist aber auf Wien. Jedenfalls vereinigt sein Verbrecher-Haus Berliner und Wiener literarische Traditionen in sich, und es zeigt als letztes großes Beispiel zugleich die dramatischen Möglichkeiten des Häuser-Modells, der Großstadt-Darstellung und der Sozialanalyse. Das Berliner Haus, das für Gerhart Hauptmanns Ratten Modell gestanden hat, ist ganz eindeutig belegt. Es befand sich in der Alexanderstraße, trug die Nummer 10, Ecke Voltairestraße, sogar Fotografien sind vorhanden. 4 5 Ursprünglich wirklich eine Kaserne, wurde es dann als Mietshaus genutzt. Hauptmann
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kannte es genau, hierhin ging er zum Schauspielunterricht bei Alexander Heßler. »•Alexander Heßler, weiland Direktor des Straßburger Königlichen Theaters, hatte aus einem Zusammenbruch seiner Vermögensumstände zahllose Kisten mit Kostümen und Requisiten, einen Fundus also, gerettet und auf dem Boden einer alten Kaserne untergebracht. Dahin ging ich von Erkner aus regelmäßig zum Schauspielunterricht. Ich brauche davon nicht mehr zu sagen; eines meiner späteren Werke, D i e ' R a t t e n ' , ist auf den Eindrücken dieses Milieus aufgebaut.« 46 Zur Nachweisbarkeit des Hauses kommt eine gewisse Authentizität von Handlungselementen, z. B. der Schauspielunterricht, die erkennbare Porträtähnlichkeit einzelner Figuren, z. B. Alexander JHeßler in der Figur des Theaterdirektors Hassenreuther, das autobiografische Interesse, das Hauptmann diesem Lebensabschnitt unmittelbar vor seinem Eintritt in die große Öffentlichkeit der Berliner Literaturszene zuwendet, was besonders in der Figur des jungen Spitta durchschlägt. Solche Anhäufung von Fakten nötigt dazu, die Frage nach der ästhetischen Dominanz zu stellen. Das Spannungsverhältnis zwischen der .Gestaltung temporärster Wirklichkeit und allgemeinster Weltbedeutung ist tatsächlich sehr hoch. Es ist auch nicht voll aufgelöst, sondern gehört zu den vielen Uneinheitlichkeiten des Stückes, die selbst schon wieder ästhetische Mittel sind. Das sich Widersprechende ist hier ein bewußt eingesetztes Stilelement der Tragikomödie. Andererseits ist das authentische Material auch eingefärbt, es ist stilisiert und zum Teil ironisiert in das Stückganze eingearbeitet, so daß die Symbolisierungen leicht werden — das morsche Haus, der finanzielle Zusammenbruch und soziale Abstieg des Theaterdirektors etc. — Aber es geht hier nicht nur um Symbolisierung, sondern auch um Reflexion. Dais Verhältnis von Material und Sujet, von individueller Erfahrung und poetischer Welt wird im Stück auch diskutiert. Die Debatte ästhetischer Probleme nimmt viel Platz ein, sie wird mit Witz und Intelligenz, mit Engagement und sehr kontrovers geführt. Sie ist montagehaft in die Handlung verklammert, die dabei aber eben auch kommentiert und ästhetisch-theoretisch durchleuchtet wird.
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Dazu kommt noch das Spiel. Es ist ein ausdrucksvoll eingesetztes Kunstmittel in den Ratten. Der zentrale dritte Akt lebt ganz von der Fiktion, hier seien Theaterspielerei und konkrete Wirklichkeit montiert. Im Text sind es Passagen aus der Braut von Messina, die von der Notwendigkeit »realer« Verbrechensaufklärung oder -Verhinderung immer unterbrochen werden. Und die turbulente Handlung, in der nun allerdings die Prostituierte Knobbe wie ein Star auftritt und ihre Lebensgeschichte »vorführt«, fegt endlich die klassizistische Unnatur von der Bühne und triumphiert mit der Fülle des Lebens über veraltete Konzeptionen und moderne, aber blasse Kunstprogramme. Durch solche Spielelemente wird das ganze Stück beweglich, alles in ihm scheint wie in ein experimentelles Feld gestellt. Diese Methoden dienen Hauptmann dazu, das Stoffliche in eine Distanz zu rücken und seinem besonderen historischen und künstlerischen Zugriff eine ästhetische Struktur abzugewinnen. Aber er benutzt auch die im Stoff liegenden strukturellen Möglichkeiten, bzw. er organisiert sie, indem er das Berliner Haus als Modell der sozialen Welt in ihren natürlichen Zusammenhängen verwendet. »Die Idee des Dramas bestand aus dem Gegensatz zweier Welten und hatte diese beiden Welten zum Ausgangsgrund. Nach meinen Begriffen gibt es eine errechnete Handlung nicht, also gibt es nur eine natürliche. Eine so natürliche Handlung entwickelt sich aus einem Komplex von Personen, die die Notdurft gesellschaftlichen Lebens zueinander bringt und die auch nur natürlich ist. In meinem Falle bestand die Voraussetzung der Tragikomödie in der Existenz des Theaterdirektors Hassenreuter, der seinen Fundus im Dachgeschoß einer alten Reiterkaserne unterbringen mußte und der ein Reinemacheweib, Henriette John, dafür anzustellen genötigt war. Sobald die sukzessive Bewegung dramatischen Lebens beginnt, bewegt sich Hassenreuter ideell und real im Kreise seiner Familie nach seinem ideellen und praktischen Interessenziel, Frau John ideell und real in der ihrigen und ebenfalls nach ihrem praktischen sowie ideellen Interessenziel.« 47 Den Gegensatz zweier Welten und den Zusammenhang zweier
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Handlungen fängt Hauptmann in einem Haus ein. Das vielfältige Leben in ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt, das SichKreuzen der Schicksale seiner Bewohner ist die einzige Einheit, die es gibt. Konkret stellt sie sich dar als ein Nebeneinander mit wenigen Schnittpunkten. Hassenreuters Geschichte ist verhältnismäßig harmlos. Sein Theater hat Bankrott gemacht, und nach langen Jahren des Wartens und der Gefahr des sozialen Abgleitens setzt die Handlung für ihn mit einer glückhaften Wendung ein. Er soll wieder Direktor werden und kann sich und seine Familie in gesicherte Verhältnisse bringen. Zu dieser Familie gehört dann auch der gewesene Theolöge Spitta, der als Hauslehrer der Kinder Hassenreuters am Anfang des Stückes, dann als Schauspielschüler und Literaturenthusiast auftritt, den sein Sinnes- und Berufswandel fast ins Elend führt und der in der Verbindung mit Hassenreuters Tochter Walburga sein Glück findet. Des jungen Spitta Weg durch das Stück ist charakterisiert durch temperamentvolle Streitgespräche mit Hassenreuter, sein bekenntnishaftes Engagement in der sozialen Frage, durch innere Kämpfe, Entscheidungen und ganz verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten. Anders das Schicksal der Frau John. Es läuft mit unerbittlicher Tragik ab und führt unausweichlich in den Untergang. Als Reinemachefrau in den Staub von Hassenreuters Magazin verbannt, als Ehefrau von dem auswärts arbeitenden Mann eigentlich fast verlassen, als Mutter eines verstorbenen Kindes voller Trauer und Sehnsucht, wünscht sie leidenschaftlich wieder ein Kind, um in dem ein neues Leben zu finden. Ihr Entschluß, das uneheliche Kind des polnischen Dienstmädchens Pauline Piperkarcka dieser unglücklichen Mutter abzuhandeln, ja abzujagen, es dann als eigenes auszugeben und gegen jedermann zu behaupten, stürzt sie in furchtbare Verwicklungen und macht sie mitschuldig an der Ermordung der Piperkarcka. Von der Polizei und ihrem eigenen Gewissen gehetzt, von allen Menschen verlassen, den sicheren Verlust des so schwer erkämpften Kindes vor Augen, flieht Frau John in den Tod. Neben den groß durchgeführten Schicksalen der Hauptfigu235
ren werden auch Lebensgeschichten anderer Bewohner des Hauses eingeblendet. Aber auch wenn diese alle noch aufgezählt würden, ergäbe sich durch die Reihung noch kein richtiges Bild von Hauptmanns Stück, weil eben das Geflecht von Schicksalen und Lebensformen, ihr Miteinander und ihr Gegeneinander dargestellt und selbst zu einem Thema des Dramas erhoben wird. Dafür ist das Haus der gegebene Spiel- und Lebensraum. Der Kriminalfall um Frau John mobilisiert alle Bewohner und teilt ihnen Rollen zu: als Mitbeteiligte oder Mitbetroffene oder Mitverantwortliche, als Zuschauer oder Zeugen, als Menschen, die um ihr Urteil gebeten werden oder die helfen möchten. Am Ende sind sie alle ihrer mitmenschlichen Verantwortung nicht gerecht geworden, in gewisser Weise schuldig, obwohl sie kaum Chancen zu einem wirklichen Eingreifen in das Verhängnis hatten. Zu tief ist das in den Gesamtlebensbedingungen verwurzelt. Das alles wenigstens zu verstehen, mitzufühlen und zu Ende zu denken ist wohl der Impuls, den Hauptmann angesichts dieses Dilemmas mitteilen möchte und dem das Drama in seinem Aufbau von Anfang an verpflichtet ist. Hauptmann erklärt das Zusammentreffen zweier Welten in der lokalen Einheit eines Hauses für die Ausgangsidee seines Werkes. Das erinnert deutlich an Sudermanns Ehre und daran, wie dort aus dem Antagonismus von Vorder- und Hinterhaus ein Zeit- und Berlin-Bild sich entwickelte. Der sozialanalytische Ansatz Hauptmanns folgt dieser Tradition und modifiziert sie auf neue soziale Phänomene hin. Wenn Hauptmanns zwei Welten auch auf die Hauptklassen der modernen Gesellschaft, Bourgeoisie und Proletariat, orientiert sind, so wird doch an dieser Stelle ein Unterschied merklich. Nicht nur fehlt bei Hauptmann die klassenkämpferische Akzentuierung des Antagonismus, er vermeidet es überhaupt, die soziale Typik betont auszuspielen. Gerade noch das Dienstverhältnis bezeichnet die Stellung zueinander exakt. Sonst ist der Theaterdirektor als Künstler nur ein fragwürdiger Bürger, und seine schlechte materielle Lage bringt ihn erst in die Nachbarschaft der armen Leute. Seine Reinemachefrau Henriette John repräsentiert die Berliner Unterschicht in mehr als sozialer Weise; ihr Mann, der Maurerpolier John,
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ist ein sehr gut verdienender Arbeiter und gänzlich unabhängig von Hassenreuter. Er wäre sogar in der Lage, das Haus nach Belieben zu verlassen und in einer besseren Gegend zu leben. Das ist nicht unwichtig. Denn dieses Haus, das sie alle verbindet, liegt nicht nur in einer »-verfluchten Gegend« 48 — es ist selbst auch ein Sammelort unglücklicher und verkrachter, krimineller, lichtscheuer, abrutschender Existenzen. Es ist ein Ort der Unterschicht und des Abstiegs, es verlassen zu können eine Lebensfrage. Das ist zunächst nur ein Hinweis darauf, wie H a u p t m a n n das beengend Statische vermeidet, das das Haus-Motiv ja als gegebener fester, determinierender Lebensraum auch hat. Selbst das ganz verdorbene Leben in diesem Haus hat noch Bewegung und Richtung, und es gibt auch einen Bewegungsfluß hinaus und hinein. In diesem Fließen verwischen sich Grenzen, bewegen sich Individuen, Familien, Schicksale. Es entsteht der Eindruck des offenen Nebeneinanders vieler Lebensformen und Lebensweisen, eines vielfältigen, wirbelnden Lebensstroms. Der behauptet sich neben der strukturell klaren Zweiteilung der Welt, in der es oben und unten, reich und arm gibt, bürgerliche und plebejischproletarische, sozial integrierte und asoziale Existenzweisen. Nur daß sie eben alle nicht so ganz scharfe Konturen haben. Dafür aber harte Kontraste. Trotz des »natürlich« vermittelten Miteinanderlebens in einem Haus fallen die Besonderheiten kraß aus. Das staubige Arbeitsleben der Frau John kontrastiert aufs schärfste mit dem bunten Theaterfundus, der phantastischen Welt der Kostüme und Masken und dem mobilen Leben des Theaterdirektors und Schauspielers Hassenreuter. Der Schauspielunterricht für die drei Schüler, vorgeführt mit dem Chor der Braut von Messina, steht hart neben der Darstellung der verwahrlosten Kinder einer Prostituierten. Die aber redet von realen Prinzen und Rittmeistern vor dem Theaterdirektor und dem Schutzmann, dem schmierigen Hausverwalter, dem ehrlichen Maurer, dem jungen Spitta, der Pastor werden sollte und nun lieber eine Hungerexistenz riskiert, weil die Großstadt und die Kunst ihm eine neue Weltanschauung gegeben haben und Mitgefühl für die Leidenden. Kontraste und Gegeneinandersetzungen bestimmen das Bild 237
v o m Zusammenleben der Menschen aus verschiedenen Klassen u n d Schichten. Brutale K ä m p f e gibt es innerhalb d e r sozialen Gruppen, gegen die Hierarchie wird nicht g e k ä m p f t . Der A n t agonismus im gesellschaftlichen System wird deutlich, aber k a u m , d a ß aus i h m eine Alternative erwachsen k ö n n t e . Es geht auch nicht u m Wertsetzungen im S p e k t r u m , sondern u m dessen lebendige Breite u n d bewegliche Vielfalt. In der so ausgerichteten B e s t a n d s a u f n a h m e großstädtischen, Berliner sozialen Lebens scheint gerade ein Spezifikum des Stückes zu liegen. W e n n m a n m i t Holz/Schlafs Familie Selicke vergleicht, wo alles Konzentration auf den einen, aber hoch charakteristischen sozialen Fall ist, d a n n stellt sich das viel spätere -Ratten-Stück m i t seinen eng b e n a c h b a r t e n sozialen Inhalten als dramatisches E x p e r i m e n t m i t vielen V a r i a n t e n dar, wodurch allerdings das m o d e r n Spezifische des Großstadtlebens, die relative Mobilität u n d das ineinander verschobene Nebeneinander der Existenzweisen u n d der H a l t u n g e n u n d der Reaktionen einen neuen u n d sehr überzeugenden Ausdruck gewinnt. H a u p t m a n n s Darstellung der Lebensweise der H a u s b e w o h n e r bildet ein solches reiches S p e k t r u m : Es erstreckt sich von der Lebensweise des guten Arbeiters aus einem Spitzenberuf m i t gesichertem Arbeitsplatz ü b e r die des Hausverwalters der Mietskaserne, der selbst halb kriminell scheint u n d a u ß e r d e m ein Spitzel u n d Zuträger der Polizei ist, bis zu der des Verbrechers Bruno, der die völlige Unmöglichkeit, eine sichere E x i s t e n z (er h a t auch keine Wohnung) f ü r sich zu finden, selbstverständlich aus den gegebenen gesellschaftlichen Realitäten ableiten k a n n . In seinem Elend bezeugt er die I n h u m a n i t ä t des S y s t e m s genauso wie die Prostituierte, die an Drogen zugrunde g e h t , oder die lungenkranke Näherin, die a m F e n s t e r des d r i t t e n Stocks sitzt. Aus den Schicksalen der F r a u e n b a u t H a u p t m a n n ein anderes S p e k t r u m auf. In ihnen, die noch abhängiger u n d zerstörbarer sind, zeigt er die geradezu prädestinierten Opfer einer unmenschlichen Gesellschaftsverfassung. Die Kette dieser Schicksale — der F r a u J o h n , Piperkarcka, Sidonie Knobbe, Selma Knobbe, Spittas Schwester, Alice R ü t t e r b u s c h , Walburga Hassenreuter —
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geht quer durch die Klassen, und da diese Frauen und Mädchen fast alle untergehen, sammelt sich hier ein massives Anklagepotential gegen die Gesellschaftsordnung. Die Anklage richtet sich auch direkt gegen die Verteidiger bürgerlicher Ordnung im Stück, gegen den Theaterdirektor Hassenreuter, der ein Verehrer der neuen Reichsherrlichkeit und Bismarcks ist, und gegen den Pastor Spitta, der die reaktionärste und dogmatischste Variante orthodoxen Christentums und moralisch drapierten Machtanspruchs vertritt. Der hat seine Tochter in den Tod getrieben, er verstößt den Sohn, er verachtet die Theaterleute als Gesindel, und Berlin ist für ihn die klassische Stätte des Verderbens, »das ist einfach Weltuntergang« 49 . Von dieser äußersten Position reaktionär konservativer bürgerlicher Lebenshaltung muß man Hassenreuter und seine Familie allerdings entschieden absetzen. Hier werden eher liberale Positionen sichtbar und überhaupt schwankende. Es gibt ganz menschliche .Reaktionen und viel Vernunft, daneben Kleinlichkeit und Heuchelei und Anpassung an Konventionen und dann vor allem die durch Hassenreuter brillant vertretene Mentalität des Schauspielers — Temperament, Spielfreude, Verwandlungskunststücke, Posen, Tiraden und verblüffende Wechsel. Hassenreuter selbst vertritt schon ein ganzes Spektrum von Haltungen. Er agiert als Charmeur und als Hausvater, als Schmierenkomödiant, als Gesellschaftsmensch, als Bildungsbürger, als Persönlichkeit mit Lebenserfahrung und als komische Figur. Mit diesem Charakter schafft sich Hauptmann ein lebendiges Zentrum seiner Figurenwelt und ein Muster für die vielfältige Fülle von Erscheinungen des sozialen Lebens. Im Zentrum des Hauses aber steht Frau John. Ihre große und tragische Geschichte ist der prägende Gegenstand des Dramas, in ihrem Schicksal modelliert sich das Leben der Frauen dieser Zeit. Noch mehr als zeitbestimmt aber ist es raumbestimmt. Frau Johns Leben ist in das Haus gebannt. Sie ist eine durch dessen Milieu geprägte Figur und wird gleichsam mit ihm identisch. Die enge, luftlose, gedrückte und erniedrigte Lebensweise der Frau aus dem Volk, aus der arbeitenden Masse der Berliner Bevölkerung, bildet den Konzentrationspunkt für die Betrach239
tung des sozialen Systems der Gesellschaft, wie es sich in dem Berliner Mietshaus spiegelt, das in der ärmsten und verrufensten Gegend der sonst doch auch reichen und glänzenden Reichshauptstadt steht. Hauptmann benutzt zwei Räume des Hauses in der Alexanderstraße als wechselnde Schauplätze für die Tragikomödie: das Dachgeschoß mit Hassenreuters Fundus, Büro und Bibliothek, und den Wohnungsraum der Frau John, ein großes Zimmer mit abgeteilten Ecken zum Schlafen und Kochen. Es sind eigentlich selbstverständliche Räume in einem solchen Mietshaus, die Ein-Zimmer-Wohnung mit Kasernenraumtradition und der Gewerbe- und Lagerraum auf dem Boden. An sich ist auch das Haus von normaler Alltäglichkeit, wenn man den asozial-kriminellen Einschlag als in dieser Gegend üblich gewesen ansieht. Der tristen sozialen Wirklichkeit sind von Hauptmann aber besondere, atmosphärisch geladene, sogar phantastische Räume abgerungen worden, voller dramatischer Spannung und theatralischer Möglichkeiten. Auffallend und anschaulich ist das gleich bei dem Boden- und Fundusraum, dessen Phantastik durch Masken und Theaterkostüme, dessen Unheimlichkeit durch Unabgegrenztheit, Unübersichtlichkeit und ungewisses Licht 5 0 gestützt ist. Mit seinen Nebengelassen und Versteckund Geheimnisgelegenheiten eröffnet er däs Drama als ein Verwirrspiel zwischen vielen Personen und Geschichten. Im dritten Akt ist der gleiche Raum der passende Schauplatz für die höchste Steigerung des Nebeneinanders von Spiel und Ernst, von Debatten und zugespitzten Handlungen, Aufklärung des Kriminalfalles und Verwicklungen um das untergeschobene Kind der Frau John. Theater und Katastrophe aus dem sozialen Leben, Spiel und Reflexion in völliger Verschränkung der Sphären — alles nimmt dieser Raum in sich auf, Widersprüchliches vereinigend, ohne es aufzulösen, es nur verklammernd als Gesamtbestand des Lebens. Gewöhnlicher scheint der zweite Raumdes Dramas—das Zimmer der Frau John. Aber eigentümlich geht es auch hier zu: Die Wohnung ist nicht recht bewohnt, es gibt die Familie gar nicht, der sie dienen könnte. Familienraum ist das Zimmer nur momentweise, sogar nur täuschungsweise (im zweiten Akt), sonst er240
scheint es eher zweckentfremdet als ein D u r c h g a n g s r a u m f ü r die Personen der H a n d l u n g , viel zu eng f ü r die sich abspielenden Verwicklungen. Der A u f e n t h a l t hier h a t schnell etwas Gezwungenes. H a u p t m a n n steigert das im f ü n f t e n A k t bis zum Motiv der Gefangenschaft. Auch in diesem R a u m k a n n m a n Angst b e k o m m e n , hysterisch werden. Wie der Boden ist es ein unheimlicher Ort, wie das ganze H a u s keine wahre Behausung ist, nichts von d e n normalen positiven A t t r i b u t e n der Geborgenheit aufweist, sondern sich deutlich als ein Ort deformierten sozialen Lebens darstellt. Das t r i f f t insbesondere den I n t i m - u n d P r i v a t b e r e i c h der Menschen, f ü r den es keinen Platz gibt. Auffallend, wie H a u p t m a n n die Lebensweise in diesem H a u s m i t Zeichen einer Quasi-Offentlichkeit a u s s t a t t e t . Beide R ä u m e sind T r e f f p u n k t von aller Welt. Das ganze H a u s scheint von Leben zu wimmeln. F ü r alles gibt es Zuschauer, Zeugen, eingemischte Personen, K o m m e n t a r e , P u b l i k u m . Auch diese Lebendigkeit h a t einen Zug ins Beängstigende. Sie wirkt d e m Anspruch der Persönlichkeit auf eigenen R a u m u n d Besinnung, Selbstfindung u n d I n t e g r i t ä t zerstörerisch entgegen. In das H a u s ist die großstädtische Massenhaftigkeit des Lebens eingezeichnet. Zum Teil ist es die Massenhaftigkeit des Elends. H a s s e n r e u t e r beschreibt d a s so: »Ja, siehst d u : d a r a n gewöhnt m a n sich; was so hier in diesem alten Kasten mit schmutzigen Unterröcken die Treppe fegt u n d ü b e r h a u p t schleicht, kriecht, ächzt, seufzt, schwitzt, schreit, flucht, lallt, h ä m m e r t , hobelt, stichelt, stiehlt, treppauf t r e p p a b allerhand dunkle Gewerbe treibt, was hier an lichtscheuem Volke nistet, Zither klimpert, H a r m o n i k a spielt — was hier an Not, Elend, H u n g e r existiert u n d a n lasterhaftem Lebenswandel geleistet wird, das ist auf keine K u h h a u t zu schreiben.« 5 1 Dies ist zunächst ein Reflex auf das besondere städtische Milieu in den nördlichen Randzonen des Berliner Zentrums. Man k a n n das vergleichen mit H a u p t m a n n s Erinnerung an das Leben u m den Rosenthaler Platz h e r u m , seinem ersten Berliner W o h n o r t . Diese Rückerinnerung e n t h ä l t einen Hinweis auf H a u p t m a n n s Verhältnis zum Leben der Volksmassen u n d das d a m i t v e r b u n d e n e Perspektiveproblem, das im Ratten-Stück verarbeitet u n d bewältigt ist. 16
Wruck, Leben, Bd. I
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» U m d a s Rosenthaler. T o r sah ich Berlin aus der Froschperspektive. Dort wurde m a n mit den S t r ö m u n g e n der Massen hin u n d her bewegt, jederzeit in Gefahr darin zu versinken. Wie o f t beim Scheine des nächtlichen Gaslichts h a b e ich mich von ihnen drängen und schieben lassen, von der unendlich bunten Fülle menschlicher T y p e n in B a n n gehalten. . . . Man war beinah kein einzelner mehr, sondern war in den Volkskörper, in die Volksseele einbezögen. Man erlebte hier weniger sich als d a s Volk und war mit ihm ein Puls, ein u n d dasselbe Schicksal geworden.« 5 2 In der Massenhaftigkeit spiegelt sich auch die Offenheit des städtischen Lebens, in d e m alles gleichzeitig d a ist und ebenso einzeln existiert, wie es in einem ungeheuren Verschmelzungsprozeß bewegt wird. Theaterwelt und Mietskaserne stehen d a f ü r exemplarisch. Alfred Kerrs Kritik zu ' D i e Ratten'. Am Morgen nach der Aufführung (15. J a n u a r 1911) bekundet den starken Eindruck, den diese Gestaltungsweise des Lebens — Gewimmel im Mietshaus/ Massenhaftigkeit des S t a d t l e b e n s — als ein Grundzug des D r a m a s auf ihn g e m a c h t h a t : »•Aber m a n d e n k t an einen ungeheuren Radierzyklus mit Hochhäusern, Hofhäusern, S t a d t s t r a ß e n , Stiegen, Küchen, B e t t e n , abgehobenen Dächern. Mit dem T r a c h t e n der Zusammengesperrten, ihrem Hin- und Herrennen nach d e m Unterhalt, nach einer S p u r von Wohlsein (mit einer erbärmlichen F a m i l i a r i t ä t , Wärmnähe, Kaffeelorke); m i t Geliebe, Pech u n d etwas Glück und S c h m u t z und Zank u n d Idealismus und Trieb und Schwindelei und Verbrechen.« 5 3 Man muß vielleicht noch einmal betonen, daß es eine ungewöhnliche Kunstleistung ist, im D r a m a mit zwei R ä u m e n eines H a u s e s Lebensbedingungen und Lebensformen der modernen G r o ß s t a d t zu modellieren. H a u p t m a n n gelingt d a s durch gestaltete Bewegung. E s gibt in seinem S t ü c k ein s o g h a f t e s Hineinziehen des städtischen Lebens in die geschlossenen R ä u m e des H a u s e s . Die werden d a d u r c h allerdings ebenso problematisch offen, wie d a s offene Leben etwas unheimlich Verkrochenes b e k o m m t , sobald es sich in diesem H a u s e abspielt. B e i d e Lebens242
formen geraten dabei unter Kritik. Wirkt das Haus so einerseits als ein Zentrum aller Handlungen und allen wesentlichen Geschehens, so ist es andererseits doch auch eingebaut in einen großen Raum, erscheint als einzeln enger Teil in einem betont breiten Berlin-Panorama. So werden in geradezu penetranter Weise Berliner Gegenden zitiert. Allein im ersten Akt schon: Schlachtensee und Halensee, Normaluhr am Alex und Markthalle, Tiergarten, Grunewald. Wasserkunst Kreuzberg, Rinnstein in der Dragonerstraße, schwedische Gardinen in der Barnimstraße, Bahnhof Zoo. Alles um den Eindruck zu festigen, daß dieses eine Haus Teil einer riesigen und vielgliedrigen Stadt, Großstadt, Weltstadt, Reichshauptstadt ist und das Leben in ihr vielgestaltig. In ebenso auffallendem Maße zitieren die Personen der Handlung das Bevölkerungsspektrum der Stadt — angefangen von Majestät, über Durchlauchten, Exzellenzen, Offiziere, Hofschauspieler und den Polizeipräsidenten Madäi bis hinunter in die Kreise der schweren Jungs und Dirnen. Das hat -Fülle und Mobilität. Man kommt nach Berlin aus Polen, aus der Provinz oder aus Schwoiz in der Uckermark. Man verkehrt in der feinsten Gesellschaft von Berlin oder von Potsdam oder in den armen Vororten, in Rüdersdorf odei; in Hangelsberg. Man braucht Berlin, um im Zentrum des Reiches seihe Niederlage zu überstehen, wenn man ein verkrachter Theaterdirektor ist und seinen neuen Aufstieg vorbereiten muß, der einen dann wieder bis an die Grenzen des Reiches, bis nach Straßburg führen kann. Hauptmann baut aus solchen Zitaten Ordnungssysteme auf. Eine Ordnung, in der Berlin-den Spitzenplatz erhält, was Macht, Kultur, Anziehungskraft, Tempo, Modernität und Vielseitigkeit betrifft. Er benutzt diese Charakteristik, Berlins, um dann festzuhalten, daß es ein Ort menschlicher Krisensituationen ist, wo schwerwiegende Lebensentscheidungen stattfinden. Alle Entwicklungen bekommen hier ein schnelles Tempo. Sie geschehen plötzlich und mit chaotischen Wirkungen. Die Bedeutung des Tempos unterstreicht eine Bemerkung H a u p t m a n n s zu einer 7?aiten-Inszenierung, dort habe man, a n s t a t t im T e x t zu streichen, einfach alles sehr schnell gesprochen, das sei sehr gut gewesen. 54 Die 16-
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Dynamik des großstädtischen Lebens, wie Hauptmann sie aus vielen Einzelzügen zusammenbaut und als Bewegungsprinzip des Dramas versteht, gründet sich ja nicht nur auf Schnellebigkeit und Fülle an sich, sondern modelliert einen gesellschaftlichen Wachstums- und Zentrierungsprozeß. Das Haus in der Alexanderstraße ist ein genau lokalisierter Teil der Stadt Berlin und nimmt an ihrer magischen Anziehungskraft teil, es ist ein Ort modernen gesellschaftlichen Lebens und sein Modell. Hauptmann nennt es ein »Ratten«-Haus. Dieses Negativurteil, das sich äußerlich auf Ungeziefer, morsche Wände und allgemeine Verfallenheit bezieht, wird in der Motivik und Symbolik des Stückes mit zugeordneten Deutungen und Bedeutungen und angedeuteten Wertungen zum sinntragenden Attribut für das ganze aufgebaute Weltmodell gesteigert. Morsch und zerfressen, dem Verfall überantwortet wie das Haus erscheinen auch weiträumigere gesellschaftliche Verhältnisse, das großstädtische Leben, die städtische Zivilisation, die moderne Lebensweise der Menschen und ihr individuelles Verhalten. Jedenfalls soweit es sich in diesem Haus abspielt oder sich von ihm einfangen und prägen läßt. Das Dämonische steigert die Bedeutung des Sozialen. Die Motive der Bewegung, Sog und Strudel, bekommen einen Drall nach unten. Der Mobilitätsrausch der neuen Urbanisierungswelle zeigt seine Nähe zu Verelendungsprozessen. Von dem »Ratten«-Hause aus sieht man alles verengt, verdumpft, verdunkelt. Die eigentlich kontrastiv entwickelten Bilder von der Fülle der Lebenserscheinungen, den natürlichen Zusammenhängen des sozialen Lebens, geraten unter die Dominanz der Lebenserfahrung mit Armut und Elend. Hauptmann selbst weist auf diese Qualität des Ratten-Motivs hin. Er verbindet den Hinweis auf die Lebensbedingungen im Berliner Osten mit einer'Erinnerung an die literaturrevolutionäre Boheme der 80er Jahre, die im gleichen Milieu zu Hause war und aus ihm sozialdemokratische Impulse und Ideen bezog. 55 Die Verfallssymptome eines gesellschaftlichen Systems und die solche Zustände unterminierenden Zukunftskräfte geraten hier merkwürdig verbunden gleichzeitig in das Ratten-
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Symbol. Es erinnert an Heine, zeigt aber doch auch die besondere Art, mit der Hauptmann Motive und Symbole einsetzt, die viel mehr atmosphärische Dichte und allgemein gesteigerte Bedeutsamkeit produzieren, als etwa logische Eindeutigkeit der Bezüge. Der Berliner Osten, die Armen, die Boheme, Asoziales und Antibürgerliches fallen zusammen in einen Unterweltsbegriff, der für das »Ratten«-Haus und sein Weltmodell immer wieder bemüht wird. Unterwelt, Subura Berlin, meint das Milieu der ärmsten Gegenden mit ihrer Kriminalitätskonzentration. Es meint auch ein Bild der Welt als verkehrtes, als Negativbild. Im Bild der verkehrten Welt, der Unterwelt, erscheint die andere, obere, offizielle Welt richtig beurteilt. Natürlich vom Standpunkt der Unteren aus. Unterwelt ist Welt der sozial Unterdrückten, in der aber auch alles sonst Unterdrückte, die Lebenskeime der Zukunft z. B., aber auch Psychisches, Triebe, das Unbewußte, virulent ist. Hauptmanns Unterweltbegriff schließt Verbrechen, Unkultur und Barbarei als Kehrseite von Kultur und Zivilisation ein, die, auf Macht- und Ausbeutungssystemen basierend, nicht für alle da sind und sich als Teilerrungenschaften fragwürdig, instabil, katastrophenbedroht darstellen. So ist die Unterwelt auch eine sehr problematische Zukunftswelt. Den Lebenskeimen darin stehen stärkere Krisen- und Todeszeichen gegenüber. Das »Ratten«-Haus bietet ein Bild des Chaos, den Beweis fehlender Integrierungskraft der Gesellschaft. Das in ihm ebenfalls magisch verdichtete Kräftepotential der »Unteren« zerstört nicht nur den angemaßten äußeren Glanz der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern produziert mit Mord und Totschlag auch systemimmanent Formen der Barbarei. So ist das »-Ratten«-Haus als Teil der Unterwelt zugleich auch Drohung. Seine Gespenster sind nicht nur die um ihr Leben betrogenen Opfer eines inhumanen Systems, sie sind auch geprägt von dieser Inhumanität, deformiert, zerstört und zerstörerisch. Der tote Soldat aus der Kasernenzeit des Hauses ist ebenso ein Symbol der Schrecken des Ortes wie Frau John, in welche die Gespenstigkeit der Räume, in denen das Leben zu dunkel und zu schwer ist, um menschlich gelebt zu werden, eingegangen ist. 245
Dem Reinemacheweib des Theaterdirektors eignet die gleiche Repräsentanz von unten im Figuren- wie deni »Ratten«-Haus im Stadtensemble. Aber nicht nur funktional wird hier identifiziert. H a u p t m a n n versieht dieses hochstilisierte Bild einer Frau aus dem Volke auch mit mythischen Dimensionen. Besonders das Motiv -des Lebens ohne Sonne, sozial genau eingesetzt und Frau Johns Arbeit in Boden und Lager beschreibend, h a t einen breiten Bedeutungsspielraum. Es ist nicht nur Zeichen menschlich unwürdiger Existenzbedingungen, sondern eben auch einer Existenz im Unterirdischen, im Unterweltlichen, im Hades. Solch antikes Mythologem taucht hier fast selbstverständlich auf. Das Stück wird zum Teil in der Sonne von Sestri Levante und gleichzeitig mit dem Antike-Stück Der Bogen des Odysseus gearbeitet. Moderne Unterwelt gegen antikes Lebensgefühl, nördliches Mietshaus gegen südliche Sonnen-Natur -- es ist bewundernswert, daß für das Bild einer Herrscherin im Hades nichts von der sozialen Wirklichkeit der Frau John verloren geht. Frau John beherrscht ihr Reich, das sie verkörpert. Sie verbreitet Angst und Grauen und ist doch selbst von Angst, Sorge, Furcht und Schrecken gehetzt. Nicht um-, sonst werden die Wirkungsweisen des Tragischen b e m ü h t : Frau John ist eine tragische Figur; als Opfer sozialer Unrechtsverhältnisse ebensowohl wie als Inkarnation der Unterwelt. Auf den Spielebenen des Stückes diskutiert H a u p t m a n n ihre Rolle als »tragische Muse« 56 und als Figur des modernen Theaters 5 7 . Ins Zentrum der Figur aber stellt er das Motiv der Mutterliebe. In Hauptmanns Weltbild besitzt die Frau ein natürliches Recht auf das Kind, in dem ihr auch eine Selbstverwirklichungschance gegeben ist. Frau Johns Kind ist gestorben. In diesem Motiv findet sich viel Biographisches aus Hauptmanns Ehe mit Margarete Marschalk, die ihren zweiten Sohn, Erasmus Gerhart, 1910 kurz nach der Geburt verlor. 58 Eine mystische Beziehung zwischen Mutter und totem Kind und das Weiterleben des Kindes in der Empfindung der Mutter sind Probleme der weiblichen Psyche, die Hauptmann stark beschäftigt haben. Sie gehen in die Figur der Frau John ein. Die kämpft, von ihrem Muttertrieb beherrscht, um ein Stück Leben, um ein fremdes
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Kind, um die Wiedergeburt des eigenen Kindes, und wir