Schillers Natur: Leben, Denken und literarisches Schaffen 9783787317707, 9783787320219

Schiller firmiert im kulturellen Bewußtsein als derjenige Dichter, der wie kein anderer die Freiheit des Menschen gegenü

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German Pages 286 [288] Year 2005

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Schillers Natur: Leben, Denken und literarisches Schaffen
 9783787317707, 9783787320219

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Schillers Natur Leben, Denken und literarisches Schaffen

Sonderheft 6 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Herausgegeben von georg braungart und bernhard greiner unter Mitarbeit von lutz-henning pietsch

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Nach dem Wechsel zum Meiner Verlag im Jahr 2000 hat die Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (ZÄK) eine sehr erfreuliche Entwicklung genommen. Dies zeigt sich u. a. an dem großen Interesse, das die Sonderhefte erfahren haben, die die regulären Hefte begleiten. Um einen eindeutigeren bibliographischen Nachweis dieser Sonderhefte zu gewährleisten, werden diese ab sofort – auch rückwirkend – numeriert. Die Sonderhefte (1-2 Hefte pro Jahr) werden den Subskribenten auch in Zukunft mit einem Nachlaß von 15% auf den Ladenpreis geliefert. Nachstehend aufgeführte Sonderhefte zur ZÄK sind bislang im Felix Meiner Verlag erschienen und werden nunmehr wie folgt gezählt: 1 2 3 4

· · · ·

Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks (Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären (Jg. 2002) Ursula Franke / Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie (Jg. 2003) Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste (Jg. 2004) 5 · Ursula Franke / A. Gethmann-Siefert (Hg.), Kulturpolitik und Kunstgeschichte ( Jg. 2005)

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.ddb.de › abrufbar.

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 6 · ISBN 3-7873-1770-8 · ISBN 978-3-7873-1770-7 · ISSN 1439-5886 Felix Meiner Verlag 2005. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©

I N H A LT

Einleitung ..................................................................................................

V

de r naturg rund de r ästhetischen, de r ›schönheitsg rund‹ de r naturwissenschaftliche n re flexion Josef Früchtl: Ästhetische Subjektivität und gespaltene Moderne ...................

3

John A. McCarthy: Kopernikus und die bewegliche Schönheit – Schiller und die Gravitationslehre ..............................................................

15

Steffen Schneider: Schillers poetologische Reflexion der Natur im Horizont der Renaissancebukolik .........................................................

39

natur als pe rspektivpunkt der me dizin und anthropolog ie Dietrich von Engelhardt: Schillers Leben mit der Krankheit im Kontext der Pathologie und Therapie um 1800 .............................................................

57

Ludwig Stockinger: »Es ist der Geist, der sich den Körper baut« – Schillers philosophische und medizinische Anfänge im anthropologiegeschichtlichen Kontext ............................................................................

75

Lutz-Henning Pietsch: »Vielleicht, daß der Anblik seinen Genius wieder aufwekt.« – Die ›umschlägliche‹ Figurenpsychologie in Schillers frühen Dramen und die anthropologische Theorie der Aufmerksamkeit .................

87

Barbara Mahlmann-Bauer: Die Psychopathologie des Herrschers – Demetrius, ein Tyrann aus verlorener Selbstachtung ....................................

107

Jörg Robert: Die Kunst der Natur – Schillers Landschaftsästhetik und die anthropologische Revision von Lessings Laokoon ........................................

139

IV

Inhalt

felder ›geistiger‹ be herr schung de r natur : das e rhabene, mag isches naturdenke n Georg Braungart: Die Geologie und das Erhabene ........................................

157

Helmut Koopmann: Schiller – Die Dämonie der Natur und die Kehrseite des aufgeklärten Denkens ...........................................................

177

Bernhard Greiner: Das Theater als Ort der Präsentation ›ganzer‹ Natur (Die Kraniche des Ibycus, Die Jungfrau von Orleans ) ........................................

191

natur als gegenstand und wirkungsfe ld im me nsche n: affe kte und de re n strukturie rung in der lyrik und im drama Günter Oesterle: Exaltationen der Natur – Friedrich Schillers Semele als Poetik tödlicher Ekstase .............................................................................

209

Dorothea von Mücke: Entzauberte Natur und Tod in Schillers Klage der Ceres ..

221

Klaus-Detlef Müller: Natur und Unnatur in Schillers Dramatik .....................

233

Philippe Wellnitz: Die ›weibliche Natur‹ in Maria Stuart – »ein gebrechlich Wesen ist das Weib« ...........................................................

245

Peter André Bloch: Schillers Schauspiel Wilhelm Tell oder Die Begründung eines natürlichen Rechtsstaats als dramaturgisches Experiment ...................

255

Anschriften der Autoren ............................................................................

267

EINLEITUNG

Schiller firmiert in unserem kulturellen Bewußtsein als derjenige Dichter, der wie kein anderer den Anspruch der Freiheit des Menschen gegenüber Zwängen der äußeren wie der inneren Natur zur Grundlage seines Denkens und literarischen Schaffens gemacht hat. Das gibt dem Pathos seiner Figuren ihren unverwechselbaren Schiller-Akzent, disponiert sie zugleich zum Erhabenen. Erscheint hier Natur als Größe, über die der Mensch sich erheben kann und soll, so gibt Schiller doch zugleich dem Physischen im Sinne von Naturkausalität und -determination auf den Feldern der Moral wie der Geschichte eindringlich Raum und Stimme. Zwar bleibt er in der grundsätzlichen Anerkennung der dualistischen Verfassung des Menschen Kantianer, ein zentraler Impuls seiner ästhetischen Theoriebildung wie seiner literarischen Praxis ist aber darin zu erkennen, das Geistige mit dem Sinnlich-Natürlichen, die Welt der Ideen mit der Welt der Erscheinungen nicht bloß symbolisch, sondern faktisch zu verknüpfen – auf dem Sprung gewissermaßen zu Konzeptionen der Vermittlung, die Hegel dann in der Denkfigur der Dialektik systematisieren wird. In diesem ›vor-dialektischen‹ Vermittlungsdenken macht sich besonders der Einfluß der medizinischen Ausbildung bemerkbar, durch die Schiller im Zeichen der neu entstehenden Anthropologie (als integrativer Wissenschaft vom ›ganzen‹ Menschen) mit einem dezidiert erfahrungswissenschaftlichen Blick auf die menschliche Natur konfrontiert wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es reizvoll, Schillers Schaffen von der Natur-Perspektive her neu in den Blick zu nehmen. In solchem Sinne war ›Schillers Natur‹ Gegenstand eines Symposiums, das vom 7. bis 10. April 2005 an der Universität Tübingen stattgefunden hat. Der hier vorliegende Band versammelt die Beiträge zu dieser Konferenz. Mit dem Thema ›Schillers Natur‹ steht zum einen die besondere Weise zur Debatte, in der Natur als Erfahrung und als Gegenstand des Wissens in Schillers eigenem Leben an ihn herangetreten ist: sei es durch seine naturwissenschaftlich-medizinische Ausbildung, die in unterschiedlichen Metamorphosen in seinem Werk fortwirkt, sei es als unabweisbare Konfrontation mit der eigenen Natur durch die Erfahrung der Krankheit. Zum anderen steht mit dem Thema die Natur des Menschen zur Debatte, wie Schiller sie (philosophisch oder literarisch) modelliert: etwa im Hinblick auf die Affekte, ihre Erzeugung und Steuerung – oder auch ihre determinierende Gewalt. Weiter umfaßt das Thema das große Feld der vielfältigen argumentativen Berufung Schillers auf Natur als Totalitätsbegriff, der Ganzheit verbürgt, ob im ästhetisch-anthropologischen Zusammenhang oder auf dem Feld der Geschichts- und Moralphilosophie. Gleichzeitig verlangt das Thema auch, Konzeptionen Schillers neu in den Blick zu nehmen, denen eine ›asymmetrische‹ Relation von Naturgesetzlichkeit und Freiheitsidee zugrunde liegt, z. B. in Theorien des Erhabenen oder im magischen Naturdenken.

VI

Einleitung

Die Beiträge zum so verstandenen Thema ›Schillers Natur‹ lassen sich in vier Themenfelder gliedern: 1. Der Naturgrund der ästhetischen, der ›Schönheitsgrund‹ der naturwissenschaftlichen Reflexion. Die Vorstellung eines Gleichgewichts des Sinnlichen und des Ideellen, die im Zentrum von Schillers anthropologischer wie ästhetischer Reflexion steht, wird immer neu irritiert, sobald Schiller nicht nur phänomenologisch Verwirklichungsformen dieses Gleichgewichts beschreibt oder als Ideal entwirft, sondern auch theoretisch die Bedingung seiner Möglichkeit aufzuweisen oder genetisch abzuleiten sucht. Da erscheint dann das Schöne als »Netz verfeinerter Sinnlichkeit«, die den Geist umstrickt, wogegen das Erhabene aufgeboten werden muß, zu dem aber doch wieder vor allem die Kunst führe, die als erhabene aber zugleich auch wieder zum Schönen zurückführen müsse. Dann wäre man »vollendeter Bürger der Natur, ohne deswegen ihr Sklave zu sein und ohne unser Bürgerrecht in der intelligiblen Welt zu verscherzen« (Über das Erhabene). Offenbar soll mit der Kunst gegen die Kunst und zugleich für die Kunst vorgegangen werden. Leitend für diese selbstwidersprüchliche Bewegung ist die Vorstellung eines ›vollendeten Bürgertums in der Natur‹. So zeigt sich die ästhetische Reflexion, gerade um der Bewahrung der Natur willen, auf der Suche nach Denkfiguren einer Einheit des Widersprüchlichen, die nicht dialektisch entfaltet wird. Naturgebundenheit soll gerade in der Befreiung von ihr anerkannt werden, Vernunftfähigkeit und damit Orientierung an der Idee der Freiheit sollen im Bezug auf Natur akzentuiert werden. Am Anfang des Bandes steht ein weitausgreifender Beitrag von Josef Früchtl, der Schillers Ästhetik und seinen Naturbegriff im Kontext von Moderne und Postmoderne, von neuzeitlicher Subjektivität und Ästhetik diskutiert. Der ›Klassiker‹ Schiller als Protagonist einer ›agonalen‹ Moderne: Dieses in der neueren Forschung – etwa von Carsten Zelle 1 – in der einen oder anderen Variante gezeichnete Profil wird hier weiter ausgearbeitet, indem die Aporien von Schillers Ästhetik namhaft gemacht werden. Sie liegen, so Früchtl, im Kern darin begründet, daß das Schöne in Schillers Konzeption nicht wirklich als Utopie einer versöhnten Gesellschaft und einer harmonisch ausbalancierten Subjektivität angesehen werden kann. Solche zu Topoi der älteren Forschung gehörenden Annahmen sind insofern zu relativieren, als die zugrundeliegenden Versöhnungsfiguren letztlich auf einer ›rhetorischen Subreption‹ beruhen. Eine befriedigende, wenngleich ihrerseits nicht unproblematische philosophische Bestimmung der Identität von Empirischem und Intelligiblem, wie sie für diese Konzeption eigentlich gebraucht würde, kann erst die identitätsphilosophische Richtung des deutschen Idealismus (mit Schelling, aber auch Hölderlin, Friedrich Schlegel und Novalis) bieten. Bei Schiller – und darüber ist er selbst sich, wie es an einigen Stellen seiner ästhetischen Schriften erkennbar wird, durchaus im klaren – sind die ›Freiheit in der Erscheinung‹ und die Koinzidenz von Sinnlichkeit Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne – Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart / Weimar 1995. 1

Einleitung

VII

und Sittlichkeit in der ›schönen Seele‹ bestenfalls Postulate. Schönheit ist bei Schiller der Name für eine Synthese aus der ›pseudo-subjektiven‹ Natur und der Subjektivität des Menschen. Philosophisch wird diese Synthese aber in Schillers Konzeption nicht befriedigend expliziert, da sie die Kantischen Prämissen zwar hinter sich lassen möchte, aber ihre eigene Position nur auf der Basis dieser Prämissen zu formulieren vermag. ›Ästhetisierung‹ ist dabei nur die Schauseite einer durch Sozialisierung erreichten, ja erzwungenen ›Neigung‹ zur Sittlichkeit. Insgesamt zeigt sich hier der enge Konnex von neuzeitlicher Subjektivität und Ästhetik, der nicht nur durch eine historische Koinzidenz im 18. Jahrhundert begründet ist, sondern durch einen inneren systematischen Zusammenhang: Ästhetik ist gedacht als ›Lösung‹ für die Probleme neuzeitlich-dualistischer Subjektivität; und gerade in der Brüchigkeit dieser Lösung zeigt sich Schillers Modernität. Schon Winckelmann wußte, daß die Seele sich nur in einer – idealerweise gebändigten – Bewegung zeigen könne, gerade auch für den Künstler. In dem Beitrag von John A. McCarthy wird daran erinnert, daß für Schillers ethisch-ästhetisches Ideal der Anmut (der ›beweglichen Schönheit‹) die im weitesten Sinne physikalisch verstandene Bewegung als Attribut zentral ist – was im übrigen, wie gezeigt wird, auch in Schillers Diktum von der Schönheit als ›Freiheit in der Erscheinung‹ zum Tragen kommt. Dies wird in dem Beitrag nun in einen weiten philosophie- und vor allem wissenschaftshistorischen Horizont gestellt, von Kopernikus bis zum vorkritischen und nachkritischen Kant: in den Horizont einer dichten Diskussion über die Bewegungs- und Gravitationslehre.Vor dieser Folie werden die bekannten Beispiele aus den Kallias-Briefen – vom Kutschpferd und dem ›leichten Zelter‹ und vor allem vom ›Vogel im Flug‹ – als Möglichkeiten der Darstellung von Freiheit in der Erscheinung sehr deutlich profiliert und zum Sprechen gebracht. – Der Vogel im Flug ist ja insofern das ›Als-ob-Zeichen‹ von Freiheit, als er die Schwerkraft zu überwinden scheint. – McCarthy weist auch auf die charakteristische zeitliche Nähe der Entstehung von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und seiner Kritik der Urteilskraft hin und zeichnet in diesem Zusammenhang auch ein Porträt des Naturdenkers Kant im Umfeld der Kritik der Urteilskraft und in der vorkritischen Phase seiner Philosophie. Für menschliche Subjektivität findet Schiller mit Kant (in der Theorie des Himmels) den Begriff der ›elastischen Kraft‹: Eine Metapher, welche das Subjekt durchaus in die Nähe einer deterministisch agierenden Natur rückt. Zugleich aber werden, wie etwa in der Schlangenlinie (aus Über Anmut und Würde) immer wieder Symbole gewählt, die Freiheit und Autonomie des Subjekts suggerieren. Inhaltlich soll die Synthese aber in der ›schönen Seele‹ geleistet sein; die Formulierung des Problems gelingt Schiller, das zeigt McCarthy deutlich, nur, indem er einen ›innigen Zusammenhang‹ zu Kants Gravitationslehre voraussetzt und realisiert. Schillers ästhetisches Ideal, so die Schlußthese des Beitrags, wird auf der Basis einer naturwissenschaftlichen Diskussion entfaltet, und seine ästhetische Theorie erscheint so beinahe als idealistische Allegorie einer naturwissenschaftlichen Einsicht seiner Zeit.

VIII

Einleitung

Steffen Schneider setzt ein mit dem Befund, daß die nicht selten etwas vernachlässigten literaturkritischen Passagen in der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung zwar im Kontext seiner geschichtsphilosophisch fundierten Gattungstheorie analysiert werden, aber nur selten in einen weiteren literarhistorischen Intertextualitäts-Zusammenhang gerückt werden. Es geht, so ist schon deutlich, natürlich primär um die Idylle, die Schiller, auf die Idyllenproduktion des 18. Jahrhunderts blickend, sehr kritisch sieht. Schneider zieht die Renaissancebukolik – vor allem und ausführlich in Gestalt von Iacopo Sannazaros Arcadia – als Intertext heran und profiliert Schillers Ausführungen vor diesem Hintergrund ganz neu: Es wird deutlich, wie Schillers Kernkonzept des Sentimentalischen in präzise dem von ihm selbst verwendeten Sinne bereits bei Sannazaro in der Gestaltung seiner Hirtenwelt virulent ist. Ohne auf einen expliziten Bezug Schillers auf Sannazaro zu rekurrieren, zeigt Schneider doch, daß es eine ›bukolische Denkfigur‹ gibt, die sich auch Schiller in seiner geschichtsphilosophischen Ästhetik zu eigen macht. 2. Natur als Perspektivpunkt der Medizin und Anthropologie. Schillers Lebensumstände zeigen nicht nur in seinen herkunftsbezogenen Vorgaben (die medizinische und biologische Ausbildung und Berufstätigkeit des Vaters) und der eigenen medizinischen Ausbildung, sondern auch in seiner langwierigen Krankheitsgeschichte, wie sehr er Anlaß hatte, die äußere und innere Natur auch ganz konkret als Perspektive seines Schaffens und als Erfahrungsfeld anzusehen. Über diese persönliche Hinführung hinaus ist dem promovierten Mediziner Schiller medizinisches Denken generell derart selbstverständlich, daß es durch genaue Rekonstruktionsarbeit aus den verschiedenen Diskursen des Autors Schiller allererst wieder ›herauspräpariert‹ werden muß. Zentral sind – wie bei Büchner – hierbei die beiden Denkformen der ›Anatomie‹ einerseits und der ›Therapie‹ andererseits. Es liegt auf der Hand und ist bekannt, daß etwa die Seelenanalyse eines Franz Moor durch das Wissen des Mediziners Schiller bestimmt ist. Große Erschließungskraft für Schillers Werk kommt so der Frage zu, was für Wissensbestände aus der Medizin und der medizinischen Anthropologie Schiller in seinen literarischen (selbstverständlich den dramatischen, ebenso aber auch den lyrischen) wie theoretischen Schriften (in letzteren insbesondere dort, wo sie wirkungsästhetisch argumentieren) verarbeitet hat, nicht als Selbstwert, sondern um die hierbei vermittelte Methode des Denkens und die poetologischen Implikationen dieser Verarbeitung zu klären. Können Schillers literarische Analysen als Variationen medizinischer Fallgeschichten (wie etwa des Krankenberichts über den ›Eleven Grammont‹) interpretiert werden? Kann das anatomische (Heraus-)Präparieren auch als poetologisches Paradigma rekonstruiert werden? Die Medizin ist ein Feld des in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich herausbildenden und für die Wissenschaften Leitfunktion gewinnenden anthropologischen Diskurses (neben Psychologie, Rhetorik, Naturkunde und Philosophie). Schiller hat an all diesen Disziplinen, ausgenommen die Naturkunde, produktiven Anteil. So erscheint es erschließungskräftig, immer neu zu fragen, in welcher Weise diese verschiedenen Wissensfelder jeweils verknüpft werden. In Schillers ästhetischer Refle-

Einleitung

IX

xion insbesondere der nachkantischen Zeit ist weiter dann deutlich ein Impuls des ›Heilens‹ geschichtsphilosophischer und anthropologischer Antagonismen zu erkennen. Kann die Auseinandersetzung mit Kant (die ja nicht auf eine tabula rasa trifft, sondern auf das Denken eines Mediziners, der schon seit je mit den konkreten, therapeutischen Implikationen der Leib-Seele-Wechselwirkung rechnet) auch als Versuch eines ›Therapie‹-Konzepts gelesen werden, das die vorkantischen Modelle mit den nachkantischen konfrontiert und engführt? In diesem Bezugsfeld verortet Dietrich von Engelhardt seine medizinhistorische Analyse von Schillers Umgang mit seinen Krankheiten, welche ihre Pointe insbesondere darin hat, zu zeigen, wie sich der Mediziner als Patient verhält. Scherzhaft und doch auch mit Ernst betrachtet sich Schiller, dessen medizinische Ausbildung in dem Beitrag rekapituliert wird, als jemanden, der von der ›hippokratischen Kunst‹ abgefallen sei, wofür sie ihn zu ihrem Opfer gemacht habe. Im Verlauf seines Beitrags zeigt von Engelhardt dann, wie dieses medizinisch kompetente Opfer der Medizin zu beurteilen sei. Das Fazit der minutiösen Analyse von Selbstzeugnissen und anderen biographischen Quellen ist, daß Schiller, der bei seinen Selbstkommentaren antike wie moderne Medizin heranzieht, im Umgang mit der Krankheit diese zwar akzeptiert, aber zugleich ihre Schwere herunterspielt; daß er im Umgang mit den Medizinern durchaus ›aufgeklärt-kooperativ‹ ist; und schließlich, daß er mit dem durch die Krankheit teilweise auf sehr einschneidende Weise veränderten Leben immer ›kreativ-konstruktiv‹ umgeht. Dieser Beitrag, der auch eine Lanze für neuere Ansätze biographisch-pathographisch-werkgeschichtlicher Analyse brechen möchte, schafft den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext für die beiden dann folgenden Artikel, die wichtige Einzelaspekte aus diesem Zusammenhang genauer weiterverfolgen. Ins Zentrum von Schillers Anthropologie führt Ludwig Stockinger, indem er, anknüpfend an die Studien Wolfgang Riedels, das Verhältnis zu der Theorie des einflußreichen Mediziners Georg Ernst Stahl (1659 –1738) untersucht und damit Schillers medizinische Dissertationen, seine Ästhetik – und auch das berühmte Zitat aus Wallensteins Tod (»Es ist der Geist, der sich den Körper baut«) – in den Zusammenhang einer bereits um etwa 1700 geführten Diskussion in Medizin und Philosophie stellt. Es zeigt sich mit großer Deutlichkeit, daß einzig das Modell des ›interaktionistischen Dualismus‹ bzw. des influxus physicus die entsprechende Problemlösungskapazität aufweist und deshalb in verschiedenen Variationen die Diskussion dominiert. Von Stahls Theorie wird primär die Einsicht eines engen Zusammenhanges zwischen Seele und Körper aufgenommen und weiterentwickelt. Eine gewisse Rolle spielen Vorstellungen einer dritten Substanz zwischen Leib und Seele, die ›Nervengeist‹- oder ›Mittelkraft‹-Theorien, auf die sich auch Schiller in seiner ersten Dissertation bezieht, welche nach Stockinger nicht zufälligerweise abgelehnt wurde, denn sie rekurriert auf ein bereits abgelegtes Theorieparadigma. Unter veränderten geistesgeschichtlichen Bedingungen wird Stahls Position wieder attraktiv, denn an sie können romantisch-organizistische Positionen anknüpfen.

X

Einleitung

Auch der Beitrag von Lutz-Henning Pietsch leistet eine philosophiegeschichtliche Konkretisierung – aber zugleich auch eine dramenanalytische Erprobung. Ausgangspunkt ist die Frage nach der Motivation und der psychologischen Fundierung der Handlungs-Umschläge in seinen Dramen. Das philosophische Problem: Wenn man, wie der Mediziner Schiller, im Rahmen des herrschenden Paradigmas von einem neuromechanischen (Assoziations-)Modell ausgeht, das die Logik der Wahrnehmung, Erinnerung und des Gedankens erklärt, dann stellt sich für den Philosophen und Dramatiker Schiller die Frage nach der Freiheit des Willens und des Handelns seines Helden. Der Dualismus zwischen Geist und Materie wird in der präzisen Analyse Pietschs auf einer zweiten systematischen Stufe herausgearbeitet, und zwar innerhalb des Geistig-Seelischen selbst; denn die zeitgenössische Medizin beschreibt die Gedankenmechanik unter Rekurs auf das materiell-neuronale Substrat der ›Ideen‹ bzw. auf die ›materiellen Ideen‹. Wie kann also angesichts dieses ausgefeilten Modells einer Gedankenphysiologie eine – mehr oder weniger – souveräne Steuerung dieser Mechanismen durch eine übergeordnete Instanz ›gerettet‹ werden? Dies geschieht, so kann Pietsch zeigen, unter Rekurs auf eine Theorie der Aufmerksamkeit. Durch Aufmerksamkeitslenkung kann die Seele in gewissen Grenzen (welche die Materie noch läßt) die Auswahl der relevanten ›Empfindungen‹ beeinflussen. Diese Vorstellung findet sich bei Abel, bei Garve, bei Platner – und auch in Schillers erster Dissertation. Pietsch rekonstruiert insbesondere, wie in der zeitgenössischen Anthropologie bei Entscheidungskonflikten durch Aufmerksamkeitssteuerung eine bestimmte Wendung herbeigeführt werden kann: Ein bereits fertiges dramaturgisches Modell etwa für Entscheidungsmonologe. Der zweite Teil des Beitrags zeigt an den drei frühen Dramen Schillers die interpretatorische Fruchtbarkeit des Ansatzes. Das Analysemodell für die Dramen wird also direkt aus der zeitgenössischen anthropologischen Theoriebildung abgeleitet. Während sich der vorangehende Beitrag noch im Bereich des – modern gesprochen – Psychologischen bewegt, greift der Beitrag von Barbara Mahlmann-Bauer auf das Feld der zeitgenössischen Psychopathologie über. Auch sie bezieht sich u. a. auf die Aufmerksamkeits-Debatten. Zugespitzt: Wenn die Aufmerksamkeitslenkung nicht im Dienst der Souveränität des Subjekts steht, sondern zur ›Sklavin der materiellen Ideen‹ wird, dann werden die Prioritäten bzw. die Richtung des influxus ins Gegenteil verkehrt. Das wäre der Fall eines geisteskranken Helden. Indem sie eingehend zeigt, wie Schiller in seinem letzten Dramenprojekt auf psychopathologische Erklärungsmodelle aus seiner ganz frühen medizinischen Zeit zurückgreift, erweist Mahlmann-Bauer bezüglich der anthropologischen Prämissen die problemgeschichtliche Einheit von Schillers Werk. Auch hier zeigt sich, wie präzise die Psychologie der Zeit die Handlungsmodelle zur Verfügung stellt, auf die Schiller in seiner Dramenarbeit zurückgreift. Zu diesen Quellen gehört, worauf schon Riedel hingewiesen hat, auch das Werk des Abel-Lehrers Johann Georg Sulzer mit seiner Theorie der ›intrapsychischen Fremdbestimmung‹, durch welche der Wille entmachtet wird und einen katastrophalen Handlungsgang initiiert. Auch die Verbin-

Einleitung

XI

dungen zur zeitgenössischen ›Klimatheorie‹, welche ein charakterologisches Modell bzw. Nationalstereotypen aus den klimatischen Bedingungen der jeweiligen Landes ableitet (auch etwa von Herder vertreten), sind bei Schiller nachweisbar. Methodologisch wie inhaltlich fügt sich der Beitrag von Jörg Robert gut in diesen Kontext. Wie Pietsch auf die Theorie der Aufmerksamkeit rekurriert, bezieht sich Robert auf die Assoziationspsychologie, wie sie Schiller in der Philosophie der Physiologie rezipiert und repräsentiert und dann in der Matthison-Rezension aus der Zeit der klassischen Ästhetik-Abhandlungen erneut aufnimmt. Auch in diesem Beitrag wird also die innere Einheit von Schillers Denken nicht in der Kant-Lektüre gesehen, sondern in der frühen medizinisch-anthropologischen Prägung. Ästhetikgeschichtlicher Hintergrund ist das Lessingsche Verdikt über die naturlyrische ›Schilderungssucht‹, auf das Schiller mit einer assoziationspsychologisch fundierten Theorie der Naturlyrik reagiert, denn auch diese Rezension Schillers ist zugleich Kritik wie Poetik. Lessings mediensemiotisch begründete Ablehnung der poetischen Malerei wird, das zeigt Robert stringent, von Schiller durch den Nachweis konterkariert, daß die Seele im Rahmen ihrer Assoziationsfolgen selbst schon ›malt‹, indem sie Bilderfolgen generiert. 3. Felder ›geistiger‹ Beherrschung der Natur: das Erhabene, magisches Naturdenken. Das Erhabene, als eine Figur des Umschwungs, gibt der Erfahrung einer aller menschlichen Verfügung sich entziehenden Natur-Macht Raum, um zugleich das Vermögen im Subjekt heraufzurufen und zu affirmieren, sich über solch eine Erfahrung grundlegender Heteronomie zu erheben. Je entschiedener Schiller die Denkfigur des Erhabenen favorisiert, desto nachdrücklicher stellt sich die Frage, wie weit hierbei dieses radikal Andere anerkannt ist und in welchen Formen, weiter, ob die Beherrschung dieser Erfahrung von Heteronomie in der erhabenen Wende nur den ›Sieger‹, d.h. die Vernunft, befriedigt oder ob sie auch von einem Gegen-Impuls durchzogen ist, dem Beherrschten Raum und Stimme zu geben. Wie weit gewinnt Natur dabei – als Erfahrungsfeld des ganz Anderen gerade in ideeller Perspektive – notwendig dämonische Züge? Georg Braungart zeigt in seinem Beitrag, daß die Idee des Erhabenen, die bei Schiller ja überaus prominent ist, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Schnittpunkt zweier Diskurse liegt, wobei sich Schiller, singulär in seinem Umfeld, gegenüber dem einen vollständig verweigert: Die erhabene Wende als Restituierung des Subjekts in seinem Vermögen zur Vernunft verknüpft das Erhabene mit dem anthropologischen, die Bindung an Naturerfahrung verknüpft das Erhabene zugleich mit dem geologischen Diskurs, der sich in dieser Zeit in Absetzung zur tradierten Natur- und Erdgeschichte neu herausbildet. Die Topik des Erhabenen hat von Beginn an eine Vorliebe für diejenigen Naturbilder, die im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zunehmend in den Wissenschaftshorizont der Geologie treten. Sie eröffnet, alternativ zur biblischen Schöpfungsgeschichte, unvorstellbar ausgedehnte Zeiträume der Erdgeschichte, was eine umfassende Relativierung des Menschen und seiner Geschichte einschließt. Zusätzlich zu den zwei Varianten des

XII

Einleitung

Erhabenen, die Kant entworfen hat, ist derart eine eigenständige dritte anzusetzen, das ›Geologisch-Erhabene‹, die Erfahrung der Natur in ihrer unermeßlich sich erstreckenden zeitlichen Dimension, die den Menschen umfassend marginalisiert, was eine ›Fassung‹ des Subjekts und Erhebung über diese Annihilation sehr viel prekärer erscheinen läßt als bei den anderen Varianten des Erhabenen. So wird die Geologie zur großen Herausforderung der Anthropologie als der Leitwissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; entsprechend hat sie, eingebettet in allgemeine Naturgeschichte, viele Autoren fasziniert. Braungart zeigt Schillers völlige Abstinenz gegenüber dieser Wissenschaft wie gegenüber deren subjektphilosophischen Provokationen. Er weist nach, daß die neue Wissenschaft, wenn auch zögerlich und eingeschränkt, auch auf der Hohen Karlsschule rezipiert wurde, daß Schiller dies jedoch entweder nicht mitvollzogen oder aber ignoriert hat, daß er generell verständnislos blieb gegenüber dem ›Reich der Steine‹, auch angesichts von Goethes Faszination für dieses Thema. Ein Geologisch-Erhabenes lag jenseits von Schillers Horizont, was, wie gezeigt wird, auch zu anachronistischen Bildvorstellungen in den Dichtungen Schillers geführt hat. Diese eigenartige Beschränkung des Horizonts, so gibt Braungart zuletzt zu bedenken, läßt sich aber auch positiv interpretieren: als Versuch, eine anthropozentrische Perspektive aufrechtzuerhalten – gerade gegenüber der transhumanen Perspektive, die die zeitgenössische Naturforschung immer gebieterischer und unabweisbarer fordert. Botho Strauß hat in seinem Band Paare, Passanten zur Denkfigur der Dialektik vermerkt: »Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!«2 Kann man diese Formulierung auf Schillers Verweigerung gegenüber der Geologie resp. gegenüber dem Geologisch-Erhabenen übertragen? Helmut Koopmann hebt in seinem Beitrag auf einen tiefgreifenden Wandel der von Schiller entworfenen Bilder der Natur ab. Bis in die späten achtziger Jahre werden Bilder einer schrecklichen, grausamen, zerstörerischen Natur berufen, um, ganz im Sinne von Kants Theorie des Erhabenen, die Autonomie des Menschen zu bezeugen, der gegenüber der offenbaren Naturgewalt seine intelligible Unabhängigkeit behauptet. Diese Rückbindung der Naturerfahrung an die Freiheitsidee erlaubt, am Naturdenken der Aufklärung festzuhalten, dem Natur ein vernunftmäßiges, regelhaft organisiertes, zusammenhängendes Ganzes ist, das in der Form von ›Naturgesetzen‹ in die Universalgeschichte hineinragt und Geschichte als Fortschrittsgeschichte denken läßt. In Schillers Arbeiten seit den neunziger Jahren, markant z.B. in der Schrift Über das Erhabene, vor allem aber in der klassischen Lyrik, finden sich analog und gehäuft wieder Bilder einer zerstörerischen Natur, nun aber nicht mehr als Demonstrationsmittel für die Freiheit des Menschen; sie werden jetzt vielmehr, aufgrund ihres angsterregenden Eigenlebens, zu einem Argument gegen die Aufklärungstheorien. Natur ist nun gewalttätig und zerstörerisch, ohne jegliche Gesetzlichkeit, ihr kann nur mit freier Schickung in das ›Schicksal‹ begegnet wer2

Botho Strauß: Paare, Passanten, München /Wien 1981, 115.

Einleitung

XIII

den. Das zerstörerische Potential der Natur und der Zweifel an der Gültigkeit von Gesetzmäßigkeiten in ihr stehen analog zur Absage an eine Fortschrittsgeschichte des Menschen: Sie ist nun ebenso zerstörerisch und undeutbar, wie es sich in der terreur im Verlauf der Französischen Revolution gezeigt hat. Harmonie von Natur und Geschichte erweisen sich als Lüge. Ist es ein Anliegen Schillers, Natur nicht in einer rigiden Subjekt-Objekt-Relation zu denken (Natur als Objekt des sie erkennenden und bearbeitenden Subjekts), so müssen Vorstellungen einer geistig durchdrungenen Natur attraktiv werden. Sich einem so verstandenen ›Ideellen‹ der Natur, als dieser selbst inhärent, erkennend und handelnd zuzuordnen (während dieses Ideelle bei Kant nur den Status einer regulativen Idee hat: die der Natur unterlegte Zweckmäßigkeit), macht den magischen Naturbezug aus. Schiller macht es in verschiedenen Spielarten zum Thema: in der Astrologie als Orientierung des Handelns (z.B. im Wallenstein), im Scharlatan, der geistige Naturbeherrschung bloß fingiert (Der Geisterseher), in der Verknüpfung von Naturgesetzlichkeit und Zufall in einigen Balladen. Bernhard Greiner geht in seinem Beitrag von dem Gedanken aus, daß eine im Kunstwerk dargestellte Naturgewalt, sie mag noch so furchtbar sein, durch den Akt der Darstellung immer schon menschlicher Bewältigung unterworfen ist und daher eine erhabene Einstellung nicht hervorrufen kann, wie Kant entsprechend auch ein Erhabenes der Kunst nur sehr eingeschränkt zugesteht. Schiller vollzieht diese Einschränkung nicht mit, und so stellt sich ihm die Frage, wie es möglich sei, die Kunst für Natur jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung zu öffnen, was verlangt, die Bewältigung zu unterlaufen, die im künstlerischen Akt schon immer geleistet ist. Als Verfahren Schillers wird ein spezifisches Handhaben der Unterbrechung aufgewiesen. In der Ballade Die Kraniche des Ibycus wird ein Naturvorgang (der Flug der Kraniche) zum moralischen Gedächtnisraum, seine Wiederholung entläßt den in ihm eingelagerten moralischen Gehalt, aber nicht im Aufstieg zu moralischem Handeln, vielmehr, mit dem ungewollten Selbstverrat der Mörder, als Rückbiegung in den Raum des Unwillkürlichen, in diesem Sinne der Natur. Erreicht wird dies für die dargestellten Figuren und evident wird es für den Leser dadurch, daß kulturell verfügbare Strategien der Distanzierung übermächtiger Gewalt (hier die Tragödie als Transformation des kultischen Geschehens, das den Gott in die Gegenwart ruft) aufgegriffen und deren regelhafter Verlauf unterbrochen wird. Das schafft einen Zugang zu der Gewalt, die im Prozeß der Distanzierung gebändigt worden war. In der Ballade wird die Poetik der Unterbrechung an einer erzählten Theaterszene entwikkelt. Wie sie der Dramatiker Schiller einsetzt, wird an der Jungfrau von Orleans gezeigt. Die Unterbrechung fällt hier zusammen mit der dramatischen Peripetie, erscheint mithin als das zentrale dramaturgische Prinzip: die Begegnung mit dem schwarzen Ritter und dann mit Lionel als Aufbrechen des unabänderlich scheinenden Zusammenhangs, daß die Ausführung des theopolitischen Auftrags, die Idee der Freiheit in die Wirklichkeit zu bringen, an die Unterwerfung der Natur (Formierung des Affekts nach außen wie als Unterdrückung der eigenen Natur) gebunden

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ist. Mit der Unterbrechung gelangt die unterdrückte Natur zum Durchbruch, die distanzierte Gewalt der Naturunterdrückung wird aber mit Johannas Selbstnegation (im Verhör des Vaters) restituiert. Gezeigt wird, daß gerade die Szenen der Unterbrechung, in denen die unterdrückte Natur Johannas zum Durchbruch gelangt, durch ein Übermaß an intertextuellen Bezügen (zentral dabei Bezüge zu Tassos Befreitem Jerusalem), die Heldin im Sinne Kants als eine ›ästhetische Idee‹ entwerfen und daß erst die solcherart ›ästhetisierte‹ Natur zum Gegenpart der ideell unterdrückten Natur werden kann. In solchem Entwurf einer ästhetisierten Natur als Gegengewicht der ideell begründeten Naturunterdrückung vergegenwärtigt das Drama ›ganze‹ Natur. Die transzendierende Kraft der ästhetisierten Natur wird aber nicht zum Zeichen der überschießenden Kraft der Vernunftidee im Prozeß ihrer versuchten Verwirklichung, vielmehr zum Indikator der hierfür aufzuwendenden Naturunterdrückung. Sie kann dieses Gewaltverhältnis nicht ausgleichen, sondern überstrahlt es nur als eine Apotheose der Kunst, die Natur als ›ästhetische Idee‹ entfaltet. 4. Natur als Gegenstand und Wirkungsfeld im Menschen: Affekte und deren Strukturierung in der Lyrik und im Drama. Es ist nicht zu übersehen, daß Schiller - gerade als Rhetoriker – eine zentrale Komponente seiner literarischen Arbeit im Bereich der Affektmechanik und des Räderwerks der menschlichen Seele ansiedelt. So sind von der Frage nach dem Naturhaften (über die Kantischen Kategorien hinaus) der ›inneren Bühne‹ von Schillers lyrischen und dramatischen Figurationen aufschlußreiche Hinweise zum Verständnis seiner Gedichte und Dramen zu erwarten. In immer neuen Mischungsverhältnissen wird dabei aus der Tradition der Poetik des movere Überkommenes mit Erkenntnissen und Konzeptbildungen der zeitgenössischen Psychologie bzw. Anthropologie verbunden. Zugleich kann in diesem Horizont verfolgt werden, wie über die ›innere Natur‹ der lyrischen und dramatischen Figurationen die Natur in das Zentrum der Geschichtsphilosophie gerät. Günter Oesterle erinnert in seinem Beitrag daran, daß Die Räuber nur eine Seite des anthropologischen und dramaturgischen Debütprojekts des jungen Schiller gewesen sind, während die andere Seite in der dramatischen Umschrift der SemeleEpisode aus Ovids Metamorphosen greifbar werde. Der medizinisch und philosophisch geschulte Schiller versucht hier, die Doppelnatur des Menschen mit Hilfe verschiedener Grenzziehungsanalysen auszuloten, bei denen er eigentlich inkompatible theoretische Konzepte und Modelle menschlicher Natur im Rahmen eines poetischen Experiments zueinander in Stellung bringt. So wird in Semele mit der Problematisierung der theosophischen Figur des Prozesses der ›Vergötterung‹ zugleich die medizinisch-anthropologische Frage nach der Extremgrenze von Freude und Schmerz und damit nach der Grenze zwischen Götterähnlichkeit und notwendiger Götterunähnlichkeit gestellt. Daß dabei die Freude als Ekstase tödlich sein kann, wird – über die Ovidsche Vorlage hinausweisend – sowohl auf dem Feld von simulatio und dissimulatio verhandelt wie auch in der Gestaltung ›moderner‹ Figuren- und Geschichtskonzeptionen. Poetisch expliziert wird die Inszenierung göttlich-menschlicher Liebe jedoch, indem die Grenzen des poetisch Darstellbaren

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überschritten werden und diese ›Elysiumssekunde‹ nur noch als wortlose Bewegung dargestellt werden kann. Dorothea von Mücke zeigt in ihrem Beitrag, wie Schiller in seinem Gedicht Klage der Ceres eine ästhetische Fragestellung innerhalb der Thematik des Todes verhandelt, wobei dieser als Voraussetzung für ein Modell ästhetisch-künstlerischer Produktion aufgewiesen wird. Im Unterschied zum antiken Quellentext, Ovids Fasten, ist hier die zyklische Erneuerung der Natur nicht Zeichen für eine Hoffnung auf die Wiederkehr des Lebens, gerade aufgrund der Endgültigkeit des Todes zeigt sie sich vielmehr als eine entzauberte und gleichgültige Natur. Entwickelt die CeresFigur zu Beginn des Gedichts noch Strategien einer Leugnung des Todes durch imaginäre Inszenierungen, Projektionen auf die Natur und Wunschphantasien, so erweisen sich diese bald schon als vergeblich aufgrund der Dimension der Zeit als eines naturgesetzlichen Realitätsprinzips, welches das gleichzeitige Bestehen von Tod und Leben, von Tag und Nacht, von Ober- und Unterwelt unmöglich macht. Erst nach der Akzeptanz dieser radikalen Trennung im Raum der Naturgesetzlichkeit kann Ceres eine Synthese der beiden Sphären auf dem Feld der Kunst suchen. Mit ihrer Semiotisierung wird die Kunst des Ackerbaus zu einer Technik der Verzeitlichung, die nun aber die Gegensätze in kontinuierliche, einander bedingende Phasen transformiert und prozessualisiert – und damit die beiden Reiche vermischt. Die daraus hervorgehende verzauberte Natur ist folglich ein reines Kunstprodukt. Indem die Trauerarbeit so durch ein Sprachverständnis beendet wird, das in künstlerischer Verausgabung aufgeht, eröffnet sich die mythopoetische Dimension der Natur, die keine Remythologisierung meint, sondern eine durch Künste kultivierte Natur als Alternative zu Naturgesetzlichkeit und Wunschphantasien. Trauer im Sinne eines ursprünglichen Verlustes bzw. Trauerarbeit wird so zum Modell für die Produktion von Kunst. Klaus-Detlef Müller fragt nach dem das literarische Werk Schillers bestimmenden Naturbegriff, für den er eine physische (physiologische), eine moralische und eine geschichtsphilosophische Dimension herausarbeitet. Physisch ist der Mensch determiniert, zugleich jedoch frei, sich zu seiner Naturbestimmtheit zu verhalten (so stilisiert sich der von der Natur benachteiligte Franz Moor zum Rächer an der Natur). Die moralische Dimension des Naturbegriffs (die ethische Bestimmung der Menschennatur) ist in den Dramen Schillers ständig im Spiel: ›Natur‹ als Maßstab für die gestörte soziale Ordnung, generell für die ›Unnatur‹ der geschichtlichen Welt. Die gestörte Vaterordnung als Unnatur zu fassen, zielt dabei nicht auf ein positives Sozialmodell im Zeichen der Trias von Familienvater, Landesvater und Gottvater, vielmehr darauf, die ethische Bestimmung der Menschennatur als Maßstab für die Beurteilung des menschlichen Handelns zu etablieren. Geschichtsphilosophisch erlaubt der Maßstab ›reine Natur‹ den unvollkommenen oder schlechten Gebrauch, den die Menschen von Vernunft und Willensfreiheit gemacht haben, zu objektivieren und zu kritisieren. Die dramaturgische Produktivität dieser Perspektive wird an der Jungfrau von Orleans dargelegt, als dem Drama Schillers, das wie kein

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anderes von der Geschichtsphilosophie bestimmt ist (mündend in das Paradox, daß die Aufhebung der Fremdbestimmung durch die historische Sendung für Johanna in Selbstentfremdung endet als der Unnatur, die die Welt bestimmt). Diese Problemkonstellation wird abgegrenzt von der des Wilhelm Tell, wo die Mängel der geschichtlichen Welt nicht die zwangsläufigen Wunden der Kultur selbst sind, sondern ein konkreter historischer Fall von verweigertem Recht. Tells Handeln motiviert das Drama naturrechtlich und ›adelt‹ es durch die Verbindung mit dem ebenso natur- und weiter menschenrechtlich begründeten Kampf der Urkantone um ihre Freiheitsgarantien, gleichwohl bleibt Tell von seiner Mordtat gezeichnet. Das erweist noch einmal, daß in Schillers Dramen Natur ein ethisches Konzept ist: Reine Natur bedeutet Übereinstimmung mit der philosophisch und theologisch begründeten Vorstellung der menschlichen Bestimmung und der göttlichen Ordnung. Philippe Wellnitz fragt nach dem Entwurf und der Reflexion weiblicher Natur am Beispiel der Maria Stuart. Er zeigt zum einen, daß die für das 18. Jahrhundert und speziell auch von Schiller erwartbaren Klischees patriarchalisch männlicher Imagination von Weiblichkeit sowohl positiv als auch negativ durchbrochen werden; letzteres darin, daß Schiller hier die Anmut, die die theoretischen Schriften geschlechtertypologisch als weiblich entwerfen, beiden weiblichen Hauptfiguren versagt. Zum anderen wird herausgearbeitet, daß das Drama durchgehend die weibliche Natur als heteronom bestimmt: Weder auf dem Feld des Sinnlichen noch auf dem des politisch-ethisch motivierten Handelns ist ein Ausbrechen aus der Geschlechtsrolle möglich. In der reflektierenden Distanzierung dieser Heteronomie gewinnt die scheinbar naturhafte Festlegung durch das Geschlecht jedoch den Spielraum einer Geschlechts-Rolle, als Feld, die anderen Dimensionen des Schillerschen Naturbegriffs ins Spiel zu bringen. Peter André Bloch ruft in seinem Beitrag zum Wilhelm Tell, gegen die herrschende Tendenz, das Drama nur noch parodistisch oder folkloristisch auf die Bühne zu bringen, die emanzipatorische Kraft der Grundaussage des Stücks in Erinnerung. Ihre Schwäche haben Inszenierungen in der Regel darin, daß sie – unreflektiert – von einem Verständnis von Freiheit geleitet werden, das diese auf Betreiben des eigenen Vorteils eingrenzt. Die entscheidende Dimension aller an der Neubegründung der Gemeinschaft positiv beteiligten Figuren des Stücks bleibt damit außerhalb des Blicks, d. i. die Ausbildung von Selbstverantwortung im Horizont einer Staatsvision, in der sich alle Bürger in gleicher Weise aufgehoben sehen, mit Rechten und Pflichten, die ihren Möglichkeiten entsprechen. Begründung und Garant dieser Gemeinschaftsbildung ist eine Natur, die rousseauistisch verstanden ist als Inbegriff göttlicher Lebenskraft, in deutlichem Gegenentwurf zur Neubegründung politischer Gemeinschaft in der Französischen Revolution im Namen der Vernunft. Ihre Beschränkung hat dieser Entwurf im reduzierten Bild der Gegenseite als nur verwerflich. Das lenkt das Drama in einen ahistorischen Raum oder schränkt seine Problemkonstellation auf einen Sonderfall ein, was Schiller mit der natur-religiösen Begründung der historischen Handlung ebenso vollzieht wie zu überstrahlen sucht.

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Das Symposion ›Schillers Natur‹, dessen Beiträge hier vorgelegt werden, wurde von der Fritz Thyssen Stiftung finanziert, der wir für ihre Unterstützung danken. Den Herausgebern der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft danken wir für die Zusage, die Konferenzbeiträge als Sonderheft dieser Zeitschrift noch im Schiller-Jubiläumsjahr zu veröffentlichen. An der Redaktion der Beiträge hat LutzHenning Pietsch entscheidend mitgewirkt, assistiert von Margarete Fuchs und Stefan Kleie. Ihnen sei unser herzlicher Dank für ihre fachkundige, zuverlässige und unermüdliche Arbeit ausgesprochen.

Tübingen, im August 2005

Georg Braungart und Bernhard Greiner

der naturg rund der ästhetische n, de r ›schönheitsg rund‹ de r naturwisse nschaftliche n re f lexion

Ästhetische Subjektivität und gespaltene Moderne Von Josef Früchtl

Daß die Konzepte von Subjektivität und Moderne einen inneren Zusammenhang bilden, ist schon lange keine originelle Behauptung mehr. Die Philosophie des deutschen Idealismus hat sie in den ebenso weitläufigen wie engmaschigen, in jedem Fall aber kulturprägenden Diskussionskontext eingeführt, den wir heute häufig ›Diskurs‹ nennen. Es ist namentlich Hegel, der seine Epoche ausdrücklich als moderne Zeit beschreibt und die Aufgabe der Philosophie, der aufs Generelle spezialisierten, aufs Ganze gehenden Theorie, darin sieht, diese Zeit in Gedanken zu erfassen. Und indem sie das tut, erkennt sie Subjektivität als das Prinzip der Moderne, jenes abstrakte Ich, das als reine Selbstbeziehung, als Subjekt, das sich selbst zum Objekt machen kann, Erkenntnisgrund für jegliche Beziehung auf das ist, was nicht Ich, bloßes Objekt ist. Descartes verhilft dieser erkenntnistheoretischen Umpolung und dem damit einhergehenden, folgenreichen Paradigmenwechsel zum Durchbruch, Kant etabliert ihn systematisch, in umfassender wie intern hergeleiteter Form, und Hegel verknüpft ihn mit dem zeitdiagnostischen, modernitätstheoretischen Anspruch der allgemeinen Theorie namens Philosophie. Daß Subjektivität das Prinzip der Moderne ausmacht, heißt dann nicht mehr und nicht weniger, als daß es für eine moderne Gesellschaft bzw. Kultur nichts mehr geben kann, keinen Sachverhalt aus den Bereichen der Wissenschaft, der Moral, der Politik, der Erziehung etc., der nicht durch die Prüfung des begründeten Ja- oder Nein-Sagens hindurchgegangen ist. Alles, was den Anspruch erhebt, gültig zu sein, kann als gültig nur durch die betroffenen Subjekte anerkannt werden. In diesem Sinne ist Subjektivität bis heute die Basis einer modernen Gesellschaft bzw. Kultur, die basale Struktur eines modernen Diskurses, der eben deshalb als kollektive ›Selbstverständigung‹ bezeichnet werden kann. So unbestritten also der Zusammenhang zwischen dem Konzept der Subjektivität und der Moderne ist, so uneindeutig stellt sich der zwischen Moderne und ästhetischer Subjektivität dar. Zwar wird diesbezüglich allgemein die Querelle des Anciens et des Modernes vom Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts anerkennend angeführt, da seither die sogenannten Modernen die ästhetische Vorbildlichkeit der Antike ablehnen und deren er- und verklärte zeitenthobene Schönheit zugunsten einer zeitspezifischen und insofern modernen Schönheit zurückweisen. Aber dann scheiden sich auch schon die Geister. Während für die einen Subjektivität in ihrer spezifisch ästhetischen Gestalt nur einen marginalen Stellenwert im Rahmen einer Theorie der Moderne einnimmt, ist sie für die anderen von privilegierter und paradigmatischer Gültigkeit. Dies vor allem deshalb, weil sie immer wieder, und vor allem am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Instanz angesehen wird, die ausdrücklich eine Lösung der basalen Probleme einer modernen Gesellschaft verspricht.

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Schiller ist bekanntlich einer der prominentesten Verfechter dieser zweiten Position. Nun ist es aus heutiger, ernüchtert pluralistischer Sicht gewiß übertrieben, der ästhetischen Subjektivität einen privilegierten Status zuzuschreiben, nicht aber einen paradigmatischen. An ihm bin ich interessiert. An der Subjektivität in ihrer ästhetischen Gestalt zeigen sich demnach, so die Hintergrundthese meiner Ausführungen, die mit dem Prinzip der Moderne, der Subjektivität als solcher, aufbrechenden inneren Widersprüche in besonderer Deutlichkeit. Schiller bietet sich dafür, wie soeben bereits angedeutet, als eine Kristallisationsfigur an, und dies um so klarer, je mehr man sich dabei auf dessen angestrengte Versuche konzentriert, Freiheit und Natur zusammenzudenken. Innerhalb eines differenzierten Konzepts von Moderne, so lautet die anschließende spezifische These, gehört Schiller zwar eindeutig zum klassischen Konzept, hat es aber bereits mit jener fundamentalen Widersprüchlichkeit zu tun, die das agonale Konzept von Moderne kennzeichnet. Als klassischer Moderner baut er auf das Prinzip der Subjektivität und sucht Synthesen, als agonaler Moderner aber sieht er sich mit der Unmöglichkeit von Synthesen konfrontiert. I. Eine differenzierte Moderne Die geistes- und kulturwissenschaftliche Diskussion um den Begriff der Postmoderne hat in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren verständlicherweise dazu geführt, in einem Abgrenzungsakt erneut den Begriff der Moderne zu klären. Der vertrauten binären Logik folgend wird aus der Abgrenzung eine Entgegensetzung, und aus den einander entgegengesetzten werden definitorisch bestimmte Einheiten: ›die‹ Postmoderne und ›die‹ Moderne. Daß auch dieser bestimmte Artikel Unbestimmtheiten verdeckt, ist der Diskussion zwar nicht entgangen, je länger sie dauerte, desto weniger, aber es ist ihr dennoch nicht gelungen, die mittlerweile geläufige Rede von der Moderne und der Postmoderne von innen heraus wieder aufzulösen und aus der Welt zu schaffen. Die Vorstellung, Moderne und Postmoderne seien in ihrem unterschiedlichen Gebrauch innerhalb der Philosophie, der Literaturwissenschaft, der Architekturtheorie und der Soziologie auf die Einheit eines Begriffs und damit auf ein ebenso umgreifendes wie eindeutiges Verständnis zu bringen, erweist sich damit diskursiv als ebenso renitent wie sachlich als unhaltbar. Hinsichtlich des Begriffs der Postmoderne besteht diesbezüglich inzwischen weitgehend Einigkeit. In der Philosophie vertritt ihn, mit Ausnahme von JeanFrançois Lyotard, der ihn Ende der 1970er Jahre eingeführt hat, ohnehin keiner der Wortführer vorbehaltlos.1 Bezüglich des Begriffs der Moderne gibt es demgegenVgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung?, in: Ethos der Moderne – Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. von Eva Erdmann u.a., Frankfurt a. M. 1990, 35-54; zu Jacques Derrida vgl. Wolfgang Welsch: Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frank1

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über die Strategien, den ›Diskurs‹ der Moderne, etwa bei Jürgen Habermas, so umfassend anzusetzen, daß er den postmodernistisch aktualisierten Gegendiskurs immer schon mit umfaßt und historisch, in einem Nachhall des Hegelianismus, bei der jüngsten Gestalt dieses Diskurses, nämlich derjenigen der Habermasschen Theorie, endet. Es gibt die Strategie, das Konzept der Moderne auf der Zeitachse zu verlängern und, wie bei Ulrich Beck und Heinrich Klotz, von einer ›reflexiven‹ oder iterativ von einer ›zweiten Moderne‹ zu sprechen, die in der einen Lesart wiederum hegelianisch konnotiert ist – die Moderne trifft heute auf sich selbst in ihren Prämissen – und in der anderen schlicht bis zur x-ten Moderne fortgesetzt werden könnte. Schließlich gibt es auch die Strategie, den Begriff der Moderne prädikativ zu spezifizieren und, wie bei Wolfgang Welsch, von ›unserer postmodernen Moderne‹ zu reden.2 In meinem Buch Das unverschämte Ich – Eine Heldengeschichte der Moderne unterbreite ich dagegen den von der jüngeren französisch-philosophischen Diskussion inspirierten Vorschlag, von der Zeit- auf die Raumachse zu wechseln und die Moderne gewissermaßen archäologisch als ein Schichtungsphänomen zu betrachten. Die Moderne erweist sich dann als ein Kampf, ein Widerstreit des Ich mit sich selbst – die agonale Ebene –, der notwendig auf der Grundlegung des Ich als Prinzip der Moderne selber aufbaut – die klassische Ebene – und im frei oder auch wild kombinierenden Spiel mit den eigenen Elementen seine jüngste Ausformung findet – die hybride Ebene. Jede Ebene hat ihre paradigmatischen Theoretiker: die klassische vor nehmlich Hegel und zuletzt Habermas, die agonale die Romantiker in ihrer tragischen und ironischen Gestalt und die hybride vor allem Nietzsche und seine sogenannten postmodernen Nachfolger. Den Begriff der Moderne in bedeutungstragende Schichten zu zerlegen, verhindert, ihn als eine monolithische, einfach-eindeutige Einheit zu konzipieren und mit einem vereinfachten, aufgeblasenen Begriff der Postmoderne oder einem schwachen, sozusagen asthmatischen Begriff der ›zweiten Moderne‹ zu kontrastieren. Überlagerungen, Durchdringungen und wechselnde Gewichtungen der einzelnen Bedeutungsschichten lassen sich so besser begreifen. Sie stehen in einem Verhältnis des Gegen-, Neben- und Miteinanfurt a. M. 1995, 247 ff.; zu Richard Rorty vgl. Der Mensch ist ein tolerantes und schöpferisches Tier – Ein Gespräch mit Richard Rorty, in: Welten im Kopf: Profile der Gegenwartsphilosophie – England/ USA, hg. von Ingeborg Breuer u.a., Berlin 1996, 133; vgl. allgemein Merkur 52 (1998), Heft 9/10 (Sonderheft Postmoderne – Eine Bilanz); Thomas Assheuer: Der Schnee von gestern, in: DIE ZEIT Nr. 34, 13. August 1998. 2 Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne – Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985; Ulrich Beck: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986; Heinrich Klotz: Die Zweite Moderne – Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München 1996; Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1988; allzu einfach macht es sich Welsch freilich, wenn er eine Unterscheidung zwischen drei großen Epochen vornimmt – Metaphysik, Moderne, Postmoderne –, die Moderne als Ästhetisierungsepoche bestimmt und Schiller als ihren prominentesten Vertreter benennt (vgl. Wolfgang Welsch: Ästhetik und Anästhetik, in: Ders.: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 9-40, hier 28).

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der. Die Moderne ist nichts anderes als die wechselnde Ausgestaltung dieses Verhältnisses. Es gibt Abschnitte, in denen die eine Schicht dominant ist, und Abschnitte, in denen eine andere dominiert. Die Schichten reiben sich aneinander bis zum Widerspruch, durchdringen sich aber auch, manchmal mehr, manchmal weniger, und bilden so ein sich intern verschiebendes Ganzes: ›die‹ Moderne.

II. Subjektivität und Ästhetik Welchen Stellenwert nimmt Schiller innerhalb dieses in sich differenzierten Konzepts von Moderne ein? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst nötig, einen Blick auf das Prinzip der Moderne, Subjektivität, in ihrer Korrelation zur Ästhetik zu werfen. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die Ästhetik generell und speziell diejenige Schillers für die Moderne zum Anziehungspunkt widersprüchlicher und hochfahrender Ambitionen zu werden vermag. Historisch ist zunächst bemerkenswert, daß das moderne Subjekt und die Ästhetik als Konzeptionen der Philosophie die annähernd gleiche Entstehungszeit im 18. Jahrhundert aufweisen.3 Zwar nennt man Descartes gerne als den Schöpfer des modernen Subjektbegriffs, doch gehört dieser Begriff weitaus mehr dem späten 18. als dem frühen 17. Jahrhundert an. Subjektivität ist, mit Kant gesprochen, die Bezeichnung für ein Wesen, dessen Bezug auf anderes – Objekte und andere Subjekte – durch einen Bezug auf sich selbst ›begleitet‹ wird. Selbstbeziehung ist für dieses Wesen konstitutiv. Damit zugleich auch Selbstzuschreibung. Es ist nicht mehr ein subiectum, dem als ›Unterworfenem‹, politisch gesprochen als Untertan, etwas zugeschrieben oder auferlegt werden kann. In dieser Analyse stimmen unter anderem auch jene beiden Theoretiker überein, die in jüngster Zeit wieder eine Theorie der Moderne auf ihre Fahnen geschrieben haben, Jürgen Habermas und Michel Foucault. Für beide ist Kant der Philosoph, der Subjektivität als Prinzip der Moderne wenigstens implizit formuliert, ›den Menschen‹ zur neuen ›Episteme‹, zum unbewußt leitenden Forschungsprinzip erhoben hat, auch wenn der eine, Habermas, die Ausformulierung, das heißt die Darstellung des Prinzips sowohl in expliziter Weise als auch in seinen nicht nur positiven, nämlich dialektischen Folgen Hegel zuerkennt, während der andere, Foucault, jenen Kant, der die schlichte, aber weitreichende Frage: »Was ist Aufklärung?« zu beantworten sucht, bereits als Philosophen würdigt, der Aktualität, die Ausrichtung auf die jeweilige Gegenwart, ins Zentrum der Philosoph gerückt habe.4 Der Begriff des Subjekts und der der Ästhetik, so darf man in einer zweiten 3 Ich folge hier, mit leichten Korrekturen, der Darstellung von Christoph Menke: Subjektivität, in: Ästhetische Grundbegriffe V, hg. von Karlheinz Barck u.a., Stuttgart/Weimar 2003, 734-786. 4 Vgl. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne [Anm. 2], 26 (vgl. auch ebd., 14, 16 f.); Foucault: Was ist Aufklärung? [Anm. 1], 37, 41.

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Betrachtung hinzusetzen, erläutern sich im 18. Jahrhundert aber wechselseitig.5 Und damit treten beide Begriffe nicht nur in ein historisches, sondern in ein systematisches Verhältnis. Über das Schöne und die Künste nachzudenken, heißt dementsprechend, sie in Relation zum (produzierenden und rezipierenden) Subjekt zu betrachten; die Ästhetik des 18. Jahrhunderts ist in diesem allgemeinen Sinne subjektivistisch. Und umgekehrt wird die Ästhetik zu einem, am Ende sogar zu dem zentralen Medium der Selbstreflexion des Subjekts, zu jenem Medium, mit dessen Hilfe sich bestimmen läßt, was Subjektivität (eigentlich) ist. Gibt man der Geschichte der ästhetischen Subjektivität im 18. Jahrhundert mit Foucault einen leichten politischen Dreh, so tritt die gedoppelte bis ambivalente Struktur dieser Subjektivität deutlich hervor.6 Foucaults zweiter Versuch zu einer Theorie der Moderne, die nicht mehr ›archäologisch‹, sondern ›geneaologisch‹ arbeitet, nicht mehr epistemische Tiefenstrukturen, sondern soziale Praktiken untersucht, formuliert als Generalthese in der Tradition Max Webers und auch Norbert Elias’, daß Subjektivierung in der Moderne sich als Disziplinierung bzw. umgekehrt Disziplinierung sich als Subjektivierung vollzieht. Die neue Form von Herrschaft ist demnach diejenige, die die Beherrschten systematisch durch Beherrschung, nämlich durch Selbstbeherrschung, erst zu Subjekten macht. Die Subjekte erweisen sich als gefügig, das heißt, dem neuen Paradigma entsprechend: als funktional nützlich, weil sie zugleich zur Selbstbestimmung fähig sind. Da auch die Kunst nun, historisch gesehen, mit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert als Medium der Produktion und Reproduktion von Subjektivität in Erscheinung tritt, scheint auch sie ganz in das Zusammenwirken der sublimen Disziplinierungsmechanismen eingefügt und einem monolithischen Gefüge von Macht unterstellt. Die Ideale von Vollkommenheit und Versöhnung, die die Ästhetik scheinbar kritisch dagegen aufbietet, wären dann, mit Marx, nicht mehr und, mit Gehlen, nicht weniger als Kompensation und Ideologie. Eine solche Lesart widerspräche aber der Ästhetik des 18. Jahrhunderts zumindest in einem wesentlichen Element, und sie deutete zudem Foucaults Machttheorie vereinfachend monistisch. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts läßt sich nämlich durchgehend als (zum Teil immanente) Kritik des cartesianischen Rationalismus verstehen, vor allem als Kritik an der strikten Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Für Alexander Gottlieb Baumgarten, den Begründer der Ästhetik als einer philosophischen ›Disziplin‹, steht die Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitivae) zu derjenigen der nicht-sinnlichen, kognitiven Erkenntnis in ›Analogie‹. Das analogisierende Element ist dabei dasjenige der Aktivität. Nicht nur die Ratio, sondern auch die Sinnlichkeit ist nämlich für Baumgarten ein aktives Vermögen. Und eben diese Analogisierung »macht deutlich, weshalb die Ästhetik, nicht die rationalistische Philosophie, der eigentliche Ich folge wiederum Menke: Subjektivität [Anm. 3], 735. Vgl. auch dazu Christoph Menke: Die Disziplin der Ästhetik – Eine Lektüre von ›Überwachen und Strafen‹, in: Kunst als Strafe – Zur Ästhetik der Disziplinierung, hg. von Gertrud Koch u.a., München 2003, 109-122. 5 6

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Geburtsort des neuzeitlichen Subjekts ist. Descartes’ Reformprojekt, ›auf einem Boden zu bauen, der ganz mir gehört‹, findet seine Einlösung erst, wenn seine rationalistische Halbierung und Begrenzung auf den Bezirk des Verstandes aufgegeben«7 wird. Das neuzeitliche wie moderne philosophische und, soziologisch gesehen, bürgerliche Projekt, nichts mehr gelten zu lassen, was sich nicht der Eigenleistung des Subjekts verdankt, führt zwangsläufig zur Ausweitung seiner Ansprüche, auch innerhalb des Konzepts der Subjektivität selber. Epistemologisch wird ihm sekundiert von der These, daß nur ein Subjekt, das sowohl logisch streng als auch schön, das heißt bei Baumgarten vor allem: nach rhetorischen Maßgaben denken kann, der ›ganzen‹ Wahrheit fähig sei, Wahrheit also auch außerhalb des Bereichs der mathematisch angeleiteten Erkenntnis einen Platz habe. Und doch stößt auch die postrationalistische Ausdehnung der Wahrheitsansprüche auf das ganze Subjekt an eine neue, interne Grenze. Zwar steht nicht mehr die gesamte Sinnlichkeit als ›dunkler und verworrener‹ Bereich dem der ›klar und deutlich‹ agierenden Ratio gegenüber, aber ein dunkler Rest bleibt, und er hört in dieser Tradition auf die Bezeichnung ›Kraft‹. Die epistemologischen Kompetenzen, die in der Sprache des 18. Jahrhunderts ›Einbildungskraft‹ und ›Urteilskraft‹ heißen, machen inmitten des rationalistischen Denkens ein antirationales, das heißt nicht vollständig begreifbares und verfügbares Element namhaft. Verfügbar ist es nur in dem Maße, in dem es geübt, also durch Praxis ausgebildet wird. Eben dies, die Übung, beschreibt Foucault aber als einen der Disziplinierungsmechanismen, die im 17. und 18. Jahrhundert zur Erfindung des Konzepts der Subjektivität, ›des Menschen‹, führen. Die Doppeldeutigkeit des historischen Subjektivierungsprozesses, an der Foucault interessiert ist, hat daher selber zwei Seiten. Die eine präpariert Foucault, in der Intention Horkheimer und Adorno verwandt, klar heraus: Der Prozeß der Aufklärung und der Herausbildung der subjektiven Autonomie hat seine dunkle Kehrseite in der Unterwerfung, der das Subjekt, um (autonomes) Subjekt zu sein, sich unterziehen muß; das Subjekt bleibt subiectum. Die andere Seite aber übersieht Foucault: In der ›Kraft‹ des Subjekts trifft die – im genitivus subiectivus wie obiectivus – Macht der Subjektivierung auf etwas, was sich nicht vollständig unterwerfen läßt. Denn die Kraft ist dasjenige Element, das einerseits daran mitwirkt, das Subjekt zu dem zu machen, was es ist, eine Macht nämlich, im Deutschen wörtlich als etwas selbst – durch das Selbst – Gemachtes zu verstehen, das sich andererseits aber einer restlosen Bemächtigung entzieht. Im Sinne nicht des Genealogen, sondern des Archäologen Foucault gesprochen heißt das, daß sich in der kunsttheoretisch-philosophischen Diskussion des späteren 18. Jahrhunderts eine Neu- und Umakzentuierung der Episteme der Subjektivität herausbildet, die sich eben erst etabliert. In der Dimension der Kreativität wird Subjektivität erst zu dem, was sie von Anfang an zu sein beansprucht, nämlich Grund7

Menke: Subjektivität [Anm. 3], 751.

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lage des Wissens und der neuen Epoche, zugleich aber auch zu einem immer auch unverfügbaren Grund. Weil die Episteme ›Mensch‹ sich expansiv zu der des schöpferischen Menschen wandelt, erweist sich Foucaults berühmte, von Nietzsche inspirierte Prognose als voreilig. Der Mensch verschwindet nicht »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«;8 er gibt sich vielmehr ein neues, selber kreativ wandelbares Gesicht.9 III. Freiheit in der Erscheinung Aus dieser epistemischen und genealogischen Perspektive zeigt sich der Diskurs der Ästhetik des 18. Jahrhunderts (und, wie auszuführen wäre, nicht nur dieses Jahrhunderts) als höchst zweischneidig, die Strukturen sozialer Herrschaft ebenso stabilisierend wie gefährdend.10 Kreativität selber, also ein zentrales Element künstlerischer Produktivität, aber auch ästhetischer Rezeptivität, erweist sich als etwas Unberechenbares, der Ratio sich Entziehendes. Die Diskussion über das Verhältnis von Regelzwang und ungezwungener Kreativität, die man in Deutschland anschließend an Lessings Geniedefinition (17. Literaturbrief, 1759) führt, ist vor diesem Hintergrund nicht nur ästhetisch von Belang. In Schillers Texten zur Ästhetik kommt diese Zweischneidigkeit wie bei keinem zweiten Theoretiker jener Zeit zum Ausdruck. Genau das macht ihn so eminent modern. Er will sich nicht mit dem Subjektivismus der Geschmacksästhetik des 18. Jahrhunderts einschließlich Kants zufrieden geben, denn das hieße aus seiner Sicht, den Eigenwert des Schönen und vornehmlich der Kunst zu mißachten. Er verfügt aber auch noch nicht über das identitätsphilosophische Rüstzeug des nachkantischen Idealismus, das es ihm erlaubte, die Einheit von Subjekt und Objekt zu denken. An der Zentralformel der Kallias-Briefe, Schönheit sei Freiheit in der Erscheinung, läßt sich das in unserem Zusammenhang, in dem die Naturkonzeption thematisch leitend ist, am besten kurz demonstrieren. Schiller gewinnt diese Formel aus den Vorgaben Kants zunächst insofern, als er aus seinem Studium der Kritik der Urteilskraft gelernt hat, Schönheit als Erscheinung bzw. als Schein zu fassen. Das Schöne erscheint, als ob es einen Zweck in sich trage, Kunst, als ob sie nach Regeln gemacht sei. Daß es sich dabei um eine Erscheinung der Freiheit handelt, läßt sich mit Hinweisen und Analogien Kants zwar durchaus Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften [frz. 1966], Frankfurt a. M. 1974, 462. 9 Vgl. dazu Josef Früchtl: Das unverschämte Ich – Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 2004, 378 ff.; bei Nietzsche heißt es prominent: »Wir sind des Menschen müde« (Zur Genealogie der Moral, in: Sämtliche Werke – Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden V, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 21988, 245-412, hier 278); für Heidegger ist einschlägig sein Brief über den Humanismus. 10 Aus der Perspektive des Ideologiebegriffs Althussers zeigt sich dies auch bei Terry Eagleton: Ästhetik – Die Geschichte ihrer Ideologie [engl. 1990], Stuttgart/Weimar 1994, bes. 3, 9, 31. 8

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aufweisen, ist aber doch ein forcierter Schritt über das philosophische Vorbild hinaus. Der Grundgedanke Schillers ist simpel: Da Urteile über das Schöne und die Kunst erstens nicht unter die ›Rubrik‹ der theoretischen Vernunft fallen (weil ihr Gegenstand unausdeutbar, nicht ›auf den Begriff zu bringen‹ ist),11 da sie zweitens als Urteile, als Begründungsformen, zur ›Familie der Vernunft‹ gehören (über Geschmack, so die Prämisse, läßt sich streiten),12 und da es drittens, nun kommt eine weitere Kantische Prämisse hinzu, außer der theoretischen Vernunft keine andere als die praktische gibt, muß man, so die Schlußfolgerung, das Schöne und die Kunst unter dieser Rubrik suchen.13 Wo und wann immer wir ein ästhetisch affirmatives Ur teil fällen und sagen: ›Das, was ich soeben sinnlich wahrnehme oder wahrgenommen habe, ist schön‹, erscheint uns das, was wir wahrnehmen, als selbstbestimmt, frei. Schönheit ist die Bezeichnung für eine wahrgenommene scheinbare Freiheit. Sie ist insofern eine contradictio in adiecto, denn Freiheit, das weiß ein Kantianer nur allzu gut, kann es nur im Bereich des Nicht-Sinnlichen geben. Also ist im strengen Sinne Freiheit nur als erscheinende bzw. als scheinbare vorstellbar. Gegenstände der Sinnenwelt erscheinen uns nur als frei, wenn wir sie als schön wahrnehmen, sie sind es nicht wirklich. Sie erscheinen uns demnach als Subjekte, denn Freiheit bzw. Selbstbestimmung ist für Schiller, wie für Fichte, die Grundbestimmung des Subjekts. Die Rede von einer erscheinenden Freiheit bzw. Subjektivität muß sich also, wie bei Kant selber, einer Analogisierung bedienen. Und gleichwohl will sie mehr, denn ansonsten käme Schiller nicht über den Kantischen Subjektivismus hinaus, ästhetische Subjektivität wäre nichts als (bloß) subjektiv. Da ihm für seine weiterreichende Absicht aber die philosophischen Mittel fehlen, er also mehr Kantianer bleibt, als er sein möchte, kann er lediglich durch rhetorische Subreption sein Ziel erreichen. Er erschleicht sein Beweisziel durch rhetorische Meisterschaft, während philosophisch erst Schelling und Hölderlin, aber auch Friedrich Schlegel und Novalis eine neue konzeptuelle Ebene ermöglichen.14 Soll nämlich die Empirie, das Reich der Erscheinung im Kantischen Sinn, tatsächlich zugleich Erscheinung der Freiheit im Sinne Schillers sein, Bestimmung der Empirie aus sich selbst, bedürfte es des Nachweises einer Identität von Empirischem und Intelligiblem. Dieser aber kann, wenn überhaupt, erst gelingen, wenn man, beginnend mit Schelling, Selbstbewußtsein, das Ich = Ich, als jene besondere Form von Identität begreift, die die Vgl. z.B. §§ 35, 49, 57 in Kants Kritik der Urteilskraft. Vgl. § 56 in Kants Kritik der Urteilskraft. 13 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. (im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische Ziffer gibt die Seitenzahl an). Hier: NA XXVI, 181 (Kallias-Brief an Körner vom 8. Februar 1793). 14 Vgl. dazu Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik – Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1989, bes. 119 f., 131. 11 12

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Einheit der beiden durch die Gleichung ebenso verbundenen wie getrennten Relate entsprechend ebenso als unmittelbar wie vermittelt beschreibt, denn als unmittelbare, nicht getrennte Einheit ist das Selbstbewußtsein zwar ein Selbst, hat aber kein Bewußtsein seiner selbst, als vermittelte, getrennte dagegen ist es zwar Bewußtsein, aber nicht seiner selbst. Und diese höhere Einheit (von unterschiedsloser Einheit und Differenz) läßt sich weder unmittelbar noch vermittelt, weder durch empirische Anschauung noch durch den Begriff verstehen, sondern, jedenfalls nach Schelling, durch das transzendentale, notwendigerweise zu unterstellende Konstrukt einer nicht-empirischen ›intellektualen Anschauung‹, deren objektives, das heißt empirisches und wahrheitsverbürgendes Korrelat die Kunst ist.

IV. Konzepte von Freiheit und Natur Schiller steht an der Grenze zur idealistischen Identitätsphilosophie, überschreitet sie nicht. Seine identitätsphilosophische Intention kann er versuchsweise nur einlösen, indem er mit begrifflichen Äquivokationen arbeitet. Das wird hier sowohl am Begriff der Freiheit als auch dem der Erscheinung deutlich. Und Entsprechendes gilt für den Begriff der Natur. Wenn Schiller also erstens von Freiheit in der Erscheinung spricht, meint er Freiheit im, wie man sagen kann, ›synthetischen‹15 oder kontingenzdeterminierten Sinn, Freiheit als das glückliche Zufallsprodukt einer Übereinstimmung von Vernunft und Sinnlichkeit. ›Natur‹ meint in diesem Kontext den Inbegriff alles Seienden unter dem Schein der Selbstbestimmung. Natur erscheint hier als Subjekt. Sie tut gleichsam von selbst, was die (theoretische und praktische) Vernunft von ihr verlangt, und eben dieses außergewöhnliche, fast unbegreifliche Ereignis nennen wir Schönheit. Schönheit ist der Name für die Synthese von Subjektivität und pseudosubjektiver Natur. Schiller ist mit sich aber gänzlich uneins bezüglich des Status der Schönheit und der ihr entsprechenden kontingenten Freiheit sowie der pseudo-subjektiven Natur. Das zeigt sich zum einen an der Dimension der Gewalt, die hier thematisch ist. Auch sie hat bei Schiller zwei Seiten. Indem er der Natur den Charakter eines Subjekts verleiht, stellt er sich zunächst gegen ein Grundprinzip der neuzeitlichen Naturwissenschaft, demgemäß die Natur nicht mehr aristotelisch-teleologisch als etwas zu denken sei, das von sich aus etwas anstrebe, und dem man daher auch keine Gewalt antun könne. Schiller urteilt hier kantianisch bedingungslos: Freiheit ist für den Menschen »das Höchste«, und das heißt, daß wir »nirgends Zwang sehen« wollen, auch nicht, wie Schiller bedeutsam hinzufügt, »wenn die Vernunft selbst ihn ausübt«.16 Eben dies ist für den Kantianer aber unvermeidlich der Fall, 15 16

Vgl. Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik [Anm. 14], 119. NA XXVI, 198 (Kallias-Brief an Körner vom 18. Februar 1793).

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wenn es um die moralisch-praktische Vernunft und die ihr korrespondierende innere Natur, die menschlichen Neigungen und Triebe, geht. Moralisch handeln heißt, das eigene Handeln for mal dem Imperativ der Verallgemeinerbarkeit, material dem der Nicht-Instrumentalisierung (des Menschen) zu unterstellen. Eine Lösung beschreibt Schiller in der Konzeption der ›schönen Seele‹, welche die moralische dadurch überragt, daß sie ihre Pflicht mit scheinbarer »Leichtigkeit« erfüllt, als ob sie bloß ihrem »Instinkt« folgen würde, als ob Moral also eine »Wirkung« der biologischen und triebpsychologischen »Natur« sei.17 Tatsächlich freilich ist die ästhetisch überbietende Moral eine Wirkung dessen, was wir ›zweite Natur‹ nennen, ein Sozialisationsprodukt, ein habitualisierter Imperativ, ein zum ›Ich will‹ gewordenes ›Du sollst‹. Sie konnte dazu aber nicht ohne Gewalt werden. Auch das Schöne kann von ihr nicht freigesprochen werden. Vielmehr erfüllt es in diesem Kontext die essentielle Funktion der Ästhetisierung. In manchen Passagen seiner theoretischen Schriften gibt Schiller dies unumwunden zu. Das Programm der ästhetischen Erziehung besteht darin, die beiden einander opponierenden Seiten des Menschen, die der abendländischen Kultur beginnend mit Platon und verstärkt durch das Christentum zur anthropologischen Gewißheit geworden sind, so zu versöhnen, daß, da die eine Seite, die moralisch-vernünftige, in ihrem Anspruch in nichts nachgibt, nur die andere, die sinnlich-natürliche, nachgeben muß. Da offene Gewalt gegenüber der biologisch-triebpsychologischen Natur sich aber verbietet, kann sie nur in gemilderter Form zum Einsatz kommen, durch ein Medium, das dem Sinnlichen wie dem Moralisch-Vernünftigen gleichermaßen ein Recht widerfahren läßt: das Schöne. Der Mensch muß also, wie Schiller an den Adressaten der Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt, »wenn Sie mir den Ausdruck verstatten wollen, den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen«.18 Die Materie, Natur als äußere wie als innere, ist also hier nicht als pseudo-subjektive und Korrelat kontingenter Freiheit konzipiert, sondern – eine zweite grundlegende Bedeutung19 – als Gegenpol, als terminus a quo der Freiheit, als ein »furchtbare[r] Feind«,20 den man nie im offenen Kampf, sondern Ebd. NA XX, 388 (23. Brief). 19 Es sei angemerkt, daß Schiller mit mindestens zwei weiteren Bedeutungen arbeitet, mit Natur im genialisch-dämonischen und im holistischen Sinn. Beide Bedeutungen fügen sich in den Gegensatz von Natur und Geschichte bzw. Natur und Kultur, meinen also Natur im transtemporalen Sinn. Um der »Verderbniß der Geschlechter und Zeiten« zu entgehen, muß der Künstler sich demnach zum einen auf eine Instanz »jenseits aller Zeit« beziehen: »Hier aus dem reinen Aether seiner dämonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab« (ebd., 333). Diese Instanz ist allerdings zu einer bestimmten, »edleren« Zeit, nämlich in der Epoche des antiken Griechenlands, auch empirisch bereits einmal gegenwärtig gewesen. Und auf diese Zeit bezieht sich auch die holistische Naturbedeutung. Während nämlich in der Antike »die alles vereinende Natur« formgebende Instanz ist, ist dies »bey uns Neueren«, in der Moderne, »der alles trennende Verstand« (ebd., 322). 20 Ebd., 388. 17 18

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nur in der Maske des Schönen besiegen und damit zum Element kontingenter Freiheit machen kann. Erziehung ist Schein von Zwangfreiheit, in gewisser Weise zwangloser Zwang. Insofern erfüllt Schillers Programm einer ästhetischen Erziehung unverhüllt jene Funktion der Disziplinierung, die Foucault für das 18. Jahrhundert und die mit ihm anbrechende Moderne analysiert hat. Die Uneinigkeit Schillers bezüglich der Schönheit zeigt sich zum anderen an seinem Zweifel gegenüber deren herausgehobenem Stellenwert. Denn ein Gefühl für Schönheit zu haben reicht zwar aus, um »bis auf einen gewissen Grad von der Natur als einer Macht«, als Gegenpol der Freiheit, »unabhängig zu machen«, da Schönheit mehr durch Form als durch den Stoff rührt und, mit Kant, ein interesseloses, »freyes Wohlgefallen« voraussetzt, das nicht auf das Begehren und den Besitz des schönen Objekts fixiert ist und sich mit dessen »Erscheinungsweise« vollauf zufrieden gibt. »Aber«, und nun führt Schiller ein bemerkenswertes Argument an, »endlich will doch auch der Schein einen Körper haben, an welchem er sich zeigt«.21 Der Körper, der qua trieb-biologische Natur von Schiller im Kantischen Geist prinzipiell als »etwas Auswärtiges und Fremdes«,22 dem Intelligiblen und damit der Freiheit Entgegengesetztes betrachtet wird, erfüllt an dieser Stelle eine materialistische Korrektivfunktion, der ästhetisch die Konzeption des Erhabenen korrespondiert. Da das Schöne, wenn auch negativ, an das natürliche Begehren gebunden bleibt, braucht es ein Kor rektiv im Erhabenen. Erst dieses verschafft Unabhängigkeit von der Macht der Natur. Freilich tritt damit wieder ein Problem auf, das durch die Konzeption des Schönen gerade gelöst werden sollte, das Problem der anthropologischen Spaltung. Denn über die (Macht der) Natur erhaben zu sein, bedeutet, sich als Vernunftwesen über die eigene Sinnlichkeit zu erheben. Ich mag physisch gegenüber einem Phänomen (einem Gebirge, einem Schicksalsschlag, einem politischen Herrscher) klein und machtlos sein, mental vermag ich mich dennoch über es zu erheben, indem ich die Erfahrung mache, daß ich es kognitiv begreifen und moralisch distanzieren kann. Deshalb muß Schiller für diese anthropologische und die damit einhergehende ästhetische Spaltung (von Schönem und Erhabenem, parallel dazu in den Briefen über die ästhetische Erziehung von »schmelzender« und »energischer« Schönheit) erneut eine Lösung avisieren, und er tut dies, indem er als höchste Synthese das »Ideal-Schöne« in Aussicht stellt, das dem »Ideal-Menschen« entspricht.23 Für das Ideal-Schöne aber gilt, was bereits für das Schöne gilt: Das »Gleichgewicht« der entgegengesetzten Elemente bleibt, kantianisch gesprochen, »immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann«.24 In der Wirklichkeit bleibt es bei den fundamentalen Doppelungen. Schillers Versuche einer Synthese schei21 22 23 24

Über das Erhabene, NA XXI, 40. Vom Erhabenen, NA XX, 184. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ebd., 361-363 (16. Brief). Ebd., 360.

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tern. Er darf deshalb exemplarischer Repräsentant der »doppelten Ästhetik« genannt werden, die die Moderne seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnet oder besser auszeichnet.25 V. Einheit und Widerspruch Schillers Schriften zur Ästhetik erweisen sich aus heutiger modernitätstheoretischer Sicht als Texte, in denen der Widerspruch gegen die Intention der Einheit von vornherein eingebaut ist. Sie wirken zwar daran mit, eine ästhetische Ideologie aufzubauen, die behauptet, in der und vor allem durch die ästhetische Sphäre ließen sich die Widersprüche einer Gesellschaft oder einer Kultur auflösen, denn nur in dieser Sphäre vollende und begründe sich daher erst eigentlich die Einheit des Subjekts als Prinzip der Moderne.26 Schiller wirkt dieser Ideologie aber nolens volens auch wieder entgegen. Denn der Versuch, Subjektivität (wahrhaft) zu begründen, indem man sie vollendet, bleibt unvollendet und muß aufgrund der (Kantischen, nicht-identitätsphilosophischen) Prämissen unvollendet bleiben. Schillers Versagen ist daher kein subjektives, sondern im Rahmen der als gültig unterstellten anthropologischen und Kantischen Theorie zwingend. Daß er heroisch, unermüdlich kämpfend und zwanghaft scheiternd, diesen Rahmen zu sprengen versucht, macht seine geistige Charakteristik aus. Und nur um ein beliebtes Mißverständnis zu vermeiden, sei zugleich bemerkt, daß selbstverständlich auch die deutsch-idealistische, identitätsphilosophische Lösung des Problems ihrerseits mit neuen Problemen konfrontiert wird. Bei Schiller treten – und das ist aus heutiger Sicht zu begrüßen – die internen Widersprüche (des Prinzips) der Moderne kraß hervor und veranlassen dazu, den Begriff dieser Epoche zu erweitern, indem man der klassischen eine agonale Bedeutungsdimension hinzufügt. Der Umstand, daß keiner der deutschen literarischen Klassiker »so umstritten« scheint wie Schiller, keiner »mit derart pathetischen Formeln bejubelt«, keiner aber auch »so entschieden verworfen« worden ist wie er,27 erklärt sich aus dieser Perspektive als Streit um die Moderne selber, ja als Streit der Moderne mit sich selber, der aus ihrem Prinzip, der Subjektivität, aufbricht. In Schiller, dem Dramatiker wie Theoretiker, hohles Pathos und theatralische Peinlichkeit wahrzunehmen, zugleich aber auch erschütternde Zerrissenheit und existentielles Scheitern, ist, so gesehen, gleichermaßen adäquat. Er repräsentiert eine im mehrfachen Sinn ungeheure – riesige, kühne, gewaltige, vermessene, ans Wunderbare und Unheimliche grenzende – Modernität.

25 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne – Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995, bes. 175 f. 26 Vgl. Menke: Subjektivität [Anm. 3], 762, mit Paul de Man. 27 Peter-André Alt: Schiller: Leben – Werk – Zeit I, München 2000, 11.

Kopernikus und die bewegliche Schönheit Schiller und die Gravitationslehre Von John A. McCarthy

2005 ist nicht nur das »Schiller-Jahr«; es ist auch das Jahr Albert Einsteins. 1905 hatte Einstein nämlich u.a. seine Theorie des Lichts als Partikel und Welle formuliert sowie auch seine Relativitätstheorie, die der Gravitation eine entscheidende Rolle zuerkennt in unserer Zeit- und Raumrechnung, indem Lichtstrahlungen durch den Einfluß der Schwerkraft gebogen werden.1 Mein Beitrag zum Thema »Schillers Natur« darf man im Doppelsinn des Gedenkjahres 2005 verstehen. Ich beginne mit einem anderen innovativen Denker, der vor 250 Jahren anfing, provokative Theorien zu formulieren: Immanuel Kant.

I. Kants Bewegungslehre A. Der Kopernikus der Philosophie In der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Kants Kritik der reinen Vernunft (1787) findet sich die Analogie, die in der Kantforschung zur apodiktischen Bezeichnung des Königsberger Philosophen als »des Kopernikus der Philosophie« geführt hat, wenn Kant von einer eigenen Kopernikanischen Wende auch selber nirgendwo ausdrücklich gesprochen hat. Bezeichnet Hans Blumenberg in seiner monumentalen Studie Genesis der kopernikanischen Welt die Vorstellung einer kopernikanischen Wende im Falle Kants als übertrieben, ja als mißdeutet, so ist die Betonung der Kinetik in jener Analogie für meine Zwecke zweifelsohne berechtigt.2 Kants Absicht

Vgl. u.a. Bruce R. Wheaton: The Tiger and the Shark – Empirical Roots of Wave-Particle Dualism [11983], Cambridge u.a. 1991, 105-109. 2 Vgl. Hans Blumenberg: The Genesis of the Copernican World, transl. by Robert M. Wallace, Cambridge (Mass.) 1987 [dt. 1975], bes. 595-614 (Kapitel »What is ›Copernican‹ in Kant’s Turning«). Primär für Blumenberg ist die ambige Natur dieser Wende. Kant scheint Kopernikus als Analogie sowohl für die Beziehung zwischen Hypothese und empirischem Beweis als auch für den revolutionären Standpunktwechsel von den beobachteten Himmelskörpern zum betrachtenden Zuschauer heranzuziehen (vgl. ebd., 603). Blumenberg meint, daß Kopernikus nur das Modell, jedoch nicht die Methode für die Behandlung von Modellen gewechselt habe: »That is why Copernicus is not, for Kant, one of those real transformers of science« (ebd., 600). In erster Linie scheint Blumenberg von den unüberzeugenden Argumenten der Kantforscher motiviert zu sein, die stets von Kants selbst proklamierter kopernikanischer Wende reden. Unter anderem mehr setzt sich Blumenberg mit nachstehenden Studien auseinander: Norwood R. Hanson: Copernicus’s 1

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in der zweiten Vorrede war es, zu erklären, daß seine Kritik nicht als »System der Wissenschaft selbst«, sondern als »ein Traktat von der [philosophischen] Methode« zu betrachten sei.3 Es ging ihm um eine neue Art zu philosophieren, die eventuell Anspruch auf eine systematische Disziplin erheben dürfe. Er wandte den Blick auf das Denkvermögen selbst, das er analog zum Verfahren der Naturforscher und Mathematiker wertete. (Vorauseilend kann man sagen, daß es Schiller ähnlicherweise um eine grundsätzlich neue Fundierung seiner Disziplin der Ästhetik ging.) Kants anvisierte Methode hat nämlich Vorgänger in der Mathematik und den Naturwissenschaften. Kant gedenkt der »Revolution der Denkart«, durch die der Philosoph Thales von Miletus am Beispiel des »gleichseitigen Triangel[s]« zur Einsicht in die Richtigkeit von a-priori-Erkenntnissen gelangte (so nach Diogenes dem Laertier).4 Er fand, daß er ein Konstrukt hervorbringen könne, das empirisch nicht nachweisbar, aber den Vernunftgesetzen nach richtig sei.5 Langsamer fand diese Revolution der Denkart in der Physik statt. Kopernikus (heliozentrisches Weltbild), Galileo (praktischer Erweis der Schwere), Torricelli (Gedanke an die unsichtbare Masse der Atmosphäre) und Baco von Verulam (Belebung der Gravitationslehre zur Erklärung der Bewegungen von den Himmelskörpern) führten zur fundamentalen Einsicht in die Wichtigkeit der Hypothese für die richtige Erkennung von Naturphänomenen. Der Forscher müsse sich nicht von der Natur gängeln lassen; er könne auch als Richter handeln, meint Kant.6 Warum solle die Metaphysik nicht analog der Mathematik und Physik vorgehen können, die sich als echte Wissenschaften haben entwickeln können? Warum solle es nicht möglich sein, daß die Natur mit unseren Spekulationen übereinstimme, anstatt daß wir allein von den Naturgesetzen abhängen? Es wäre eines Versuches wert, dieser Frage nach der konstitutiven Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens nachzugehen, schlußfolgert er. Dann kommt die epochemachende Formulierung, auf die ich in meinen Vortragstitel anspiele7: »Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.« Role in Kant’s Revolution, in: Journal of the History of Ideas 20 (1959), 274-281; Walter Bröcker: Kant über Metaphysik und Erfahrung, Frankfurt a. M. 1970; Friedrich Kaulbach: Die Copernikanische Denkfigur bei Kant, in: Kant-Studien 64 (1973), 30-48; S. Morris Engel: Kant’s Copernican Analogy – A Re-Examination, in: Kant-Studien 54 (1963), 243-51. 3 Kants Werke werden zitiert nach: Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe, Darmstadt 1983 [im folgenden: WA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Hier: WA III, 28. 4 Ebd., 22. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. ebd., 23. 7 Ebd., 25.

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Wenige Seiten später in einer Anmerkung behauptet Kant noch entschiedener8: »So verschafften die Zentralgesetze der Bewegungen der Himmelskörper dem, was Kopernikus anfänglich nur als Hypothese annahm, ausgemachte Gewißheit, und bewiesen zugleich die unsichtbare den Weltbau verbindende Kraft (der Newtonischen Anziehung), welche auf immer unentdeckt geblieben wäre, wenn der erstere es nicht gewagt hätte, auf eine widersinnische, aber doch wahre Art, die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenständen des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen.« Die zwei Welten – diejenige der spekulativen Vernunft und jene der empirischen Welt – bilden also eine Einheit, indem das denkende Subjekt nichts a priori in die Gegenstände hineinlege, was nicht von den konkreten Operationen bestätigt werden könne. Die bindende Kraft der Gravitation wäre unsichtbar geblieben, wenn die Revolutionen der äußeren Welt nicht in den menschlichen Betrachter selbst hineingedacht worden wären. Zumindest metaphorisch gesprochen. Kants Formulierungen über die Kinetik der Himmelskörper lassen sich als Erklärungsbasis für Schillers Konzeption von der beweglichen Schönheit verwenden. Allerdings sind noch einige Zwischenstufen zu durchschreiten, ehe ich auf Schiller selbst kommen kann. B. Gedankliche Zwischenstufen Die von Kant konstatierte »für sich bestehende Einheit« erinnert sogar an eine Definition des gelungenen Kunstwerks, in dem »ein jedes Glied, wie in einem organisierten Körper, um aller anderen und alle um eines willen dasind [sic], und kein Prinzip mit Sicherheit in einer Beziehung genommen werden kann, ohne es zugleich in der durchgängigen Beziehung zum ganzen reinen Vernunftgebrauch untersucht zu haben«.9 Kant selbst hebt »einer Beziehung« und »durchgängige Beziehung« hervor. Ferner sei die Integration jedes Mitgliedes in »einem organisierten Körper« besonders zu beachten, denn die vielfältigen, aufeinander abgestimmten Mitglieder des durchkomponierten Körpers seien als ein Fingerzeig auf die harmonisierten Bewegungen der Himmelkörper zu verstehen. Hinter den mannigfachen Interaktionen der Himmelskörper stehe die ungesehene Schwerkraft; die gesamte Dynamik werde letztendlich durch die Anziehungs- und Abstoßungskräfte bewirkt. Der Zuschauer werde durch die »unermeßliche Größe«, »unendliche Mannigfaltigkeit und Schönheit« des Weltgebäudes »in ein stilles Erstaunen« versetzt.10 Diese ästhetische Wirkung definiert der reife Kant im zweiten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft als »architektonische Einheit«, da sie »nur zur Folge einer Idee entspringt (wo die Vernunft die Zwecke a priori aufgibt, und nicht empirisch erwartet)« und »von 8 9 10

Ebd., 28. Ebd., 29. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, WA I, 326 (meine Hervorhebung).

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einem einigen obersten und inneren Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht«, verursacht wird.11 Hatte er im ersten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft die These vertreten, daß die Phänomene der Welt »als Erscheinungen nicht sich selbst, sondern nur in uns existieren können«, das heißt, durch unsere Anschauungsakte als Einheit konstituiert werden,12 so erläutert er in seiner Spätschrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), daß der Mensch »sein eigener letzter Zweck« sei.13 Dieser Selbstzweck der Menschheit ist ein transzendentales Prinzip in jenem Sinne, den Kant der Zweckmäßigkeit der Natur zuschreibt; nämlich, daß ihre Bewegungen eine innere und nicht bloß eine äußere Ursache haben. Was nur einen äußeren Beweggrund hat, nennt Kant metaphysisch. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze ist also transzendental.14 All dies ist in der Forschung – auch in der Schiller-Forschung – wohlbekannt. Nun geht es jedoch um das Bewegungsprinzip selbst, ohne welches die bewegliche Schönheit nicht zustande kommen kann. Seine Grundposition hatte der junge Kant in seiner 200seitigen vorkritischen Abhandlung Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747) skizziert, in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) weiter präzisiert und sogar mitten in seiner kritischen Zeit in dem langen Beitrag Metayphysiche Anfangründe der Naturwissenschaft (1786) erneut eigens behandelt. Hatte Kant – im vollen Bewußtsein seines Status als Neuling auf dem Gebiet – mit den großen Naturphilosophen seiner Epoche in den Gedanken und in der Allgemeinen Naturgeschichte in die grundlegende naturwissenschaftliche Streitfrage der Zeit eingegriffen, so trat er Mitte der 1780er Jahre als derjenige Naturphilosoph auf, der Leibniz als dominanten Gedankenführer abgelöst hat.15 So erweist sich Kants ununterbrochenes Interesse an der Bewegungslehre von Anfang bis Ende. Mit seiner unablässigen Heranziehung der Bewegungs- und Gravitationslehre hat sich Kant das Epitheton »Kopernikus der Philosophie« wohl verdient. 1747 hatte Kant Leibniz als denjenigen hoch eingestuft, der zuerst lehrte, »daß dem Körper eine wesentliche Kraft beiwohne, die ihm so gar noch vor der Ausdehnung zukommt. Est aliquid prater extensionem imo extensione prius; dieses sind seine Worte.«16 Durch diese neue These einer innewohnenden Kraft habe Leibniz Descartes vom Felde verdrängt. Allerdings meinte Kant, daß Leibniz diese Kraft der Körper irrtümlicherweise für »die würkende Kraft« gehalten habe.17 Wirkend heiße WA IV, 696. WA III, 87 (meine Hervorhebung). 13 WA X, 399. 14 Vgl. Kritik der Urteilskraft, WA VIII, 254. 15 Vgl. Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte, WA I, 15, 19, 25. Kant nennt mit Namen neben Leibniz auch Bernoulli, Christian Wolff, Hermann, Bülfinger, Poleni, s’Gravesande und van Musschenbroek. 16 Ebd., 26. 17 Ebd., 27. 11 12

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jedoch an sich, daß eine Bewegung von außerhalb veranlaßt wird, etwa durch einen Stoß. Diese Art von Bewegung nennt Kant »tote Kraft«.18 Um das Leibnizsche Kräftemaß zu verbessern – eben das Neue im System Leibnizens Descartes gegenüber –, führt Kant sehr früh eine Teilung aller Bewegungen in zwei Hauptteile ein. Er schreibt19: »Die eine hat die Eigenschaft, daß sie sich in dem Körper dem sie mitgeteilet worden selber erhält, und ins Unendliche fortdauret, wenn keine Hindernis sich entgegen setzet. Die andere ist eine immerwährende Würkung einer stets antreibenden Kraft, bei der nicht einmal ein Widerstand notig ist, sie zu vernichten, sondern die nur auf die äußerliche Kraft beruhet, und eben so bald verschwindet, als diese aufhöret, sie zu erhalten.« Als Beispiel des ersten Falls nennt er eine geschossene Kugel, als Beispiel des zweiten eine Kugel, »die von der Hand sachte fortgeschoben wird«.20 Vor dem Auftreten von Leibniz herrscht die These des Descartes, daß »die Kräfte der bewegten Körper nach den Geschwindigkeiten schlechthin« zu schätzen seien, während Leibniz »das Quadrat ihrer Geschwindigkeit« zu ihrem Maße setzte.21 Die Quadratberechnung bedeutete einen deutlichen Fortschritt gegenüber dem Standpunkt von Descartes (und sie kehrt in den späten Schriften Kants wieder). Kant geht nun einen Schritt weiter als Leibniz, wenn er das Leibnizsche Gesetz einer »würkliche[n] Bewegung« als »Kennzeichen der lebendigen Kraft« durch eine zweite »freie Bewegung« ergänzt, denn »wenn die Bewegung nicht frei ist, so hat der Körper niemals eine lebendige Kraft«.22 Eine lebendige Kraft (vis activa) kommt nur von innerhalb der Materie, während die tote Kraft (vis mortua) die äußeren Kräfte von Wirkung und Gegenwirkung bezeichnet. Somit schlägt Kant folgende Umformulierung des Leibnizschen Satzes vor23: »Ein Körper, der sich in würklicher und freier Bewegung befindet, hat eine Kraft, die dem Quadrat [seiner Geschwindigkeit entspricht]«. In seinem weiteren Argument ist Kant bemüht zu zeigen, wie die Berechnung eines bewegten Körpers durch die Diagonallinie oder die Bewegung eines Körpers in einer Zirkellinie Kräftefelder voraussetzt, welches das Leibnizsche Kräftemaß nicht berücksichtigt.24 Acht Jahre später in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) hatte Kant die mechanischen Ursprünge des ganzen Universums zu erklären versucht. Aus dem ursprünglichen Chaos des Weltalls habe die Welt durch kinetische Gesetze der Selbstregulierung (Autopoiesis) ein geordnetes System gebildet. »Die Elemente haben wesentliche Kräfte«, schreibt er, »einander in Bewegung zu 18 19 20 21 22 23 24

Ebd., 174. Ebd., 39. Ebd. Ebd., 44. Ebd., 45. Ebd. Vgl. ebd., 99, 107.

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setzen, und sind sich selber eine Quelle des Lebens. Die Materie ist sofort in Bestrebung, sich zu bilden«.25 Die Vorstellung, daß die wesentlichen Kräfte der Natur selber eine Quelle des Lebens sind, setzt voraus, daß die Ursachen der Bewegungen von Himmelskörpern sowohl eine innere als auch eine äußere Ursache haben. Sie haben – und das muß ich sehr vorsichtig formulieren – einen »Bildungstrieb«, obwohl diese Bezeichnung erst durch Blumenbach in Umlauf gekommen ist. Aber daran ist zu erinnern, daß Kant von Leibniz ausgegangen ist, der ja eine organische Vorstellung des Weltalls vertrat. Im Soge Newtons spekuliert Kant, daß der Grundstoff elementarischer Partikeln und die sie zusammenbindende Gravitation im ganzen Weltall ausgebreitet sei. Die agonale, komplexe Zusammenwirkung von Anziehungs- und Abstoßungskräften habe die Organisation des Universums in Sonnensysteme, Milchstraße sowie Planeten und Monde bewirkt. Bedenkt man ferner, daß Kant das Universum als unendlich kreativ gedeutet hat, neigt man dazu, seine Gravitations- und Dispersionslehre in die Nähe zeitgenössischer Kosmologie zu rücken. Obwohl Kant an die sogenannten »wrinkles of time« nicht gedacht hatte, erkannte er mit seinem Weitblick die Komplexitätstufen der Natur.26 Aufschlußreich ist freilich die zentrale Stellung, die er der Schwerkraft zuerkennt, womit er einen entscheidenden Schritt zur Selbstorganisation des Planetensystems tut27: »Die Anziehung ist ohne Zweifel eine eben so weit ausgedehnte Eigenschaft der Materie, als die Koexistenz, welche den Raum macht, indem sie die Substanzen durch gegenseitige Abhängigkeiten verbindet, oder, eigentlicher zu reden, die Anziehung ist eben diese allgemeine Beziehung, welche die Teile der Natur in einem Raume vereinigt: sie erstreckt sich also auf die ganze Ausdehnung desselben, bis in alle Weiten ihrer Unendlichkeit.« Von Anfang an habe dieses Attribut im ganzen Umfang des Universums geherrscht, und es war »ohne Absicht auf ein System«.28 Heute reden Elementarphysiker von Muonen, die Energie zwischen den Elementarpartikeln befördern und sie dadurch zu Molekülen bilden/binden. Obwohl Kant nicht so weit ging – und damals nicht so weit gehen konnte –, ist seine Einsicht festzuhalten, daß die der Materie inhärente Energie, die Bewegung verursache, selbst »eine Quelle des Lebens« sei.29 Das Phänomen emergence ist laut Kant kontinuierlich, ohne Ende in Zeit und Raum.30 Periodische Zentren (wie wir sie heute bezeichnen) wurden gebildet und Ebd., 276. Vgl. ferner ebd., 232, 277-279, 328. Vgl. George Smoot/Keay Davidson: Wrinkles in Time, New York 1993; Stephen Hawking: Black Holes and Baby Universes and Other Essays, New York 1993. Bernulf Kanitscheider (Von der mechanischen Welt zum kreativen Universum – Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur, Darmstadt 1993) hebt Kants fortschrittliches Denken hervor (vgl. ebd., 20-22, 166-167). 27 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, WA I, 328. 28 Ebd., 275. 29 Ebd., 276. 30 Vgl. ebd., 335. 25 26

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aufgelöst durch Attraktion und Abstoßung in einer komplexen spannungsreichen Interaktion von Ordnung und Chaos.31 Der Ansporn zu dieser evolutionären Aktivität habe selbst im chaotischen Zustand existiert, noch ehe die Tendenz des Kosmos zur Selbstorganisation sichtbar geworden sei: »Der Antrieb selber, der die Vereinigung der Massen zuwege brachte, die Kraft der Anziehung, welche der Materie wesentlich beiwohnet, und sich daher, bei der ersten Regung der Natur, zur ersten Ursache der Bewegung so wohl schikket, war die Quelle derselben.«32 Die senkrechte Bewegung (zentrifugal), veranlaßt durch die Anziehungskraft eines schweren Körpers, habe sich in eine Seitenbewegung (zentripetal) durch die mannigfaltigen Attraktionspunkte und durch die sich durchkreuzenden Richtungslinien derselben verwandelt.33 Die Abstimmung der Himmelskörper (auch der Elementarpartikel) aufeinander hänge von ihrer jeweiligen Masse, Geschwindigkeit und Entfernung vom zentralen Anziehungspunkt ab. Diese komplexe Interaktion sorge dafür, daß jeder Körper sich so wenig wie möglich in seiner Bahn ändere.34 Nur so konnte Kant, wie Leibniz vor ihm, das kreative Universum ohne Rückgriff auf einen Gott vorstellen, der immer wieder in die Naturprozesse eingreift. Nicht ein Seitenstoß von außen durch göttliche Hand habe die Zentripetal- und Zentrifugalkraft hervorgerufen, sondern die dynamische Materiekonstruktion selbst sei die Erklärung. Der Bewegungsgrund sei in der Materie selbst angelegt. Zweifelsohne hielt sich Kant an ein teleologisches Prinzip, d.h. an den Gedanken Gottes als Schöpfers des Chaos aus dem Nichts.35 Der Urknall bzw. die Entstehung von etwas aus dem Nichts war ihm noch unvorstellbar. Die Wirkung der Gravitation in einem komplexen System ist auch das Thema von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786). Dort analysiert er die dynamische Konstruktion der Materie. Diese Schrift liegt Schillers Beschäftigung mit der Kinetik auch zeitlich näher. Festzuhalten ist das Urteil von Otto Closs in seiner Studie Kepler und Newton und das Problem der Gravitation (1908)36: »Was nun aber das eigentliche Anliegen Kants in dieser seiner Theorie ist, so ist es dies: die beiden Kräfte der Attraktion oder Zentripetal- und der Zentrifugalkraft sollen als der Materie selbst wesentlich, also als notwendig, nicht aber als von außen und Vgl. ebd., 341 f. Ebd., 365. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd.; vgl. auch 98-118, wo Kant sich mit den verschiedenen Bewegungserklärungen seiner Zeit gründlich auseinandersetzt. 35 Vgl. ebd., 275, 337. 36 Otto Closs: Kepler und Newton und das Problem der Gravitation in der Kantischen, Schellingschen und Hegelschen Naturphilosophie, Heidelberg 1908, 20. Closs bespricht die mathematische Berechnung der Descarteschen Bestimmung nach dem Produkt von Masse und Geschwindigkeit (mv) für die tote und die Kalkulation der Leibnizschen Bestimmung nach dem Produkt von Masse und Quadrat der Geschwindigkeit (mv2) für die lebendige Kraft (vgl. ebd., 16-18). Zur Bedeutung Keplers im Übergang zum neuen Weltbild vgl. Ernst [August Wilhelm] Goldbeck: Keplers Lehre von der Gravitation, Halle a. S., 1896 [Repr. Hildesheim 1980]. 31 32

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zufällig an sie kommend betrachtet werden«. Diese grundlegende Einsicht erklärt die »dynamische Konstruktion der Materie«,37 das eigentliche Thema von Kants Metaphysischen Anfangsgründen. Diese kritisch-analytische Abhandlung über die Bewegungslehre beginnt mit einer Definition von ›Natur‹, die für unsere gegenwärtigen Zwecke – Schillers Natur – besonders geeignet ist. Gemeint ist nicht »das erste innere Prinzip alles dessen […], was zum Dasein eines Dinges gehört«, sondern »das Ganze aller Erscheinungen, d.i., die Sinnenwelt, mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objekte«.38 Verstanden in diesem Sinne läßt sich die Lehre der ›Natur‹ in zwei Hauptteile trennen, in die Körperlehre und in die Seelenlehre. Die erste hat es mit den Gegenständen der äußeren Sinne, die zweite mit dem Gegenstand des inneren Sinnes zu tun.39 Mit anderen Worten beschäftigt sich die Körperlehre mit der ausgedehnten Natur, während es bei der Seelenlehre um die denkende Natur geht. Im folgenden teilt Kant das Studium der Natur weiterhin dialektisch in historische Naturlehre (Naturbeschreibung, d.h. Klassensystem, und Naturgeschichte, Darstellung nach Veränderung von Zeit und Ort) und Naturwissenschaft (nach Prinzipien a priori und a posteriori) ein. Somit ruhe die Körperlehre sowohl auf reinen oder rationalen wie auf angewandten oder empirischen Gründen.40 Basis der metaphysischen Anfangsgründe ist der apodiktische Satz: »Materie ist das Bewegliche im Raume.« Selbst dieser Raum ist beweglich, ist also materieller oder, wie Kant hinzusetzt, relativer Raum. Als Raum, in dem alle Bewegungen zu denken sind, steht dieser materielle Raum im Gegensatz zum absoluten reinen Raum, der »selbst schlechterdings unbeweglich ist«.41 Bewegung ist also Hauptgegenstand dieser wichtigen Abhandlung. Weil die Beweglichkeit eines Körpers im Raum nur durch empirische Erfahrung festgestellt werden kann, merkt Kant an, hat er das Prinzip Bewegung in seiner Kritik der reinen Vernunft nicht untersucht. Dort seien nur a-priori-Prinzipien am Platz.42 Kant unterscheidet vier Kategorien der Bewegung43; sie kann betrachtet werden a) b) c) d)

als ein reines Quantum, Phoronomie genannt; als Qualität des Beweglichen, Dynamik genannt; in Relation mit anderen Bewegungen, Mechanik genannt; und als Modalität, d.h. in Beziehung auf die Vorstellungsart, Phänomenologie genannt.

37 38 39 40 41 42

Closs: Kepler und Newton [Anm. 36], 21. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, WA VIII, 11. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 12. Ebd., 25. Vgl. ebd., 27.

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Alle vier Dimensionen der Bewegung kehren in Schillers Schönheitskinetik wieder, freilich unterschiedlich akzentuiert; dem Dichter sind Dynamik und Phänomenologie näherliegend. »Die Materie erfüllt einen Raum«, so erklärt Kant die Sache, »nicht durch ihre bloße Existenz, sondern durch eine besondere bewegende Kraft«.44 Diese physische Erklärung ist die Voraussetzung für Schillers ästhetische Theorie des Schönen, der Anmut und der Würde. Die Bewegungen können drehend oder fortschreitend sein, d. h. entweder in sich zurückkehrend (ohne den gleichen Raum zu verlassen) oder nicht in sich zurückkehrend (den Raum durchschreitend oder erweiternd). In sich zurückkehrende Bewegungen können ferner kreisartig oder schwankend (zirkulierend oder oszillierend) sein.45 Das schwankende Pendulum ist ein Beispiel für die oszillierende Art. Und dies meint Schiller wohl, wenn er vom toten Schlag der Pendeluhr in seiner Elegie Die Götter Griechenlandes (1788) spricht. Tot, weil sie – die gleichen Bewegungen mechanisch seelenlos wiederholend – »knechtisch dem Gesetz der Schwere« dient.46 Veränderungen in der Bewegungsrichtung werden durch die Anziehungskraft (ziehend) und Zurückstoßungskraft (treibend) bewirkt.47 So entstehen Ellipsis, Wellenlinien und Nicht-Linearität. Somit ist alle Materie elastisch.48 Diese Elastizität – oder Springkraft, die entweder expansiv oder attraktiv sein könne – »ist das Vermögen einer Materie, ihre durch eine andere bewegende Kraft veränderte Größe oder Gestalt bei Nachlassung derselben wiederum anzunehmen«.49 Die Elastizität sei also eine Grundeigenschaft der einzelnen Körper. Die bewirkende Anziehungskraft erstrecke sich ins Unendliche. Kant folgert aus diesem Gravitationsprinzip50: »Die Wirkung von der allgemeinen Anziehung, die alle Materie auf alle in allen Entfernungen unmittelbar ausübt, heißt die Gravitation; die Bestrebung, in der Richtung der größeren Gravitation sich zu bewegen, ist die Schwere. Die Wirkung von der durchgängigen repulsiven Kraft der Teile jeder gegebenen Materie heißt dieser ihre ursprüngliche Elastizität. Diese also und die Schwere machen die einzigen a priori einzusehenden allgemeinen Charaktere der Materie, jene innerlich, diese im äußeren Verhältnisse aus.« Der Zusammenhang – das ist, die Anziehung wirksam in der Berührung – gehört nicht zur Möglichkeit der Materie a priori, sondern ist physisch oder a posteriori zu Vgl. ebd., 22. Ebd., 48. 45 Vgl. ebd., 28 f. 46 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Hier: NA I, 194. 47 Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, WA VIII, 49 f. 48 Vgl. ebd., 51. 49 Ebd., 91. 50 Ebd., 75 f. (Hervorhebung im Original). 43 44

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verstehen. Kant hält diese allgemeine Eigenschaft der Materie für keine »Grundkraft«, da sie disjunktiv (nicht kollektiv) verstanden werden müsse. Denn jeder Körper reagiere auf die Anziehungskraft anderer Körper nur, insofern er mit ihnen in Berührung kommt. Diese Art von Anziehung sei eine bloße »Flächenkraft«, da sie nicht »durchdringend« und begrenzt sei auf die Reichweite eines Systems.51 Das Gesetz des Antagonismus gelte »in aller Gemeinschaft der Materie durch Bewegung«.52 Kant gedenkt nicht nur der Sonnensysteme und Wassermoleküle, sondern des Atoms selbst als des »erste[n] Körperchen[s]«,53 des unteilbaren kleinsten Bauteiles der Materie. Die bindende Gravitation der Atome in der Materie bleibe unempfindlich jeder bewegenden Kraft in der Natur gegenüber.54 Zwischen diesen Systemen und organisierten Körpern finden sich weite leere Zwischenräume. In phoronomischer Hinsicht ist dieser absolute Raum eigentlich nicht leer, denn er ist nur die Idee von einem Raum, der bloß zur Bestimmung der Begriffe gehört. In dynamischer Hinsicht ist der leere Raum derjenige, der »nicht erfüllet ist, d.i. worin dem Eindringen des Beweglichen nichts anderes Bewegliches widersteht«.55 Im gegenwärtigen Kontext ist hervorzuheben, daß Kants Metaphysische Anfangsgründe mit ihrer »dynamische[n] Erklärung des Begriffs der Materie«56 unmittelbar vor der Kritik der Urteilskraft entstanden sind. Gegenstand der Kritik der Urteilskraft ist bekanntlich das Phänomen des Schönen, das Kant als »Symbol des Sittlichguten« versteht.57 Schon das Wort »sittlich-gut« verweist uns auf den Menschen selbst als Hauptgegenstand des Schönen in der Erscheinung. Das Ideal des Schönen setzt Kant in nächste Nähe zu der Idee der Zweckmäßigkeit, genauer: zu der Vorstellung der Selbstzweckmäßigkeit. Nur der Mensch kann Gegenstand des Idealschönen sein, denn der Mensch besteht aus Körper und Seele. Nur das, was »den Zweck seiner Existenz in sich hat«, ist allein fähig, unter allen Gegenständen in der Welt, Ebd., 86 f. Ebd., 133. 53 Ebd., 96. 54 Vgl. ebd. Um die gleiche Zeit entwickelte der Mathematiker und Physiker Ruggiero Giuseppi Boscovich (1711-1787) eine dynamische Atomlehre, die das Bewegungsprinzip in das Innere des Atoms selbst verlegte, so daß es keine festen Substanzen für ihn gab. Man könnte also von einer kopernikanischen Wende bis ins Kleinste reden. Eben das tat Friedrich Nietzsche einhundert Jahre nach Kants Formulierung, als er proklamierte: »Dank vorerst jenem Polen [eigentlich: Kroatier] Boscovich, der, mitsamt dem Polen Kopernicus, bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde ›feststand‹, abschwören, dem Glauben an den ›Stoff‹, an die ›Materie‹, an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom: es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist« (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse [1886], in: Ders.: Sämtliche Werke – Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden V, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 21988, 26). 55 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, WA VIII, 133. 56 Ebd., 47. 57 Kritik der Urteilskraft, ebd., 461. 51 52

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das »Ideal der Vollkommenheit« darzustellen.58 Durch die Vernunft – und der Mensch ist berufen, Vernunftwesen zu werden – kann der Mensch »seine Zwecke selbst bestimmen«.59 Somit unterscheidet Kant zwischen der Normalidee des schönen Mannes, die a posteriori nach der Richtigkeit und Zweckmäßigkeit des Körpers entsteht, und der Vernunftidee eines schönen Menschen.60 Der schöne Körperbau, nach Naturgesetzen geformt, wäre als technisch schön zu bezeichnen, während die Vernunftidee des vollkommenen Menschen als architektonisch schön zu charakterisieren wäre. Was sittlich im Inneren des Menschen vorgehe, sei ja nur empirisch wahrnehmbar. Unsere Vernunft verbinde gewisse Qualitäten »mit dem Sittlich-Guten in der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit«, nämlich »die Seelengüte«, »Reinigkeit«, »Stärke« oder »Ruhe« »als Wirkung des Inneren«.61 Damit wird das Fundament für Schillers ästhetisches Projekt gelegt.

II. Schillers Bewegungslehre Schillers Hinwendung zur Ästhetik und anschließend zum Kantstudium setzte bekanntlich 1790 ein, als er an der Universität Jena eine Vorlesung über die Ästhetik der Tragödie hielt. Freilich erst Ende 1791/Anfang 1792, wohl auch unter Anregung von Christian Gottfried Körner, hat er intensiv – und begeistert! – Kants Kritik der Urteilskraft studiert. Die Philosophie Kants schien dem Dichter »aus einem Stück« zu sein, die sich »eben ihrer großen Consequenz wegen, weniger als jede andere fragmentarisch studieren« läßt, wie er später Ludwig Ferdinand Huber schrieb.62 Allerdings empfahl er dem Freund Huber, gleich mit der Kritik der reinen Vernunft anzufangen.63 Die ersten Ergebnisse des Kantstudiums sind die Kallias-Briefe (1793), der Essay Über Anmut und Würde (1793) und die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Im gegenwärtigen Kontext ist vor allem Schillers Urteil zu betonen, daß die Kantische Philosophie »aus einem Stück« sei. Damit will ich die Annäherung von der Willenslehre und der Bewegungslehre unterstreichen. Vor dem Wiedererwachen seiner philosophischen Ader haben den Dichter Geschichte und Naturwissenschaft im Allgemeinen interessiert. Sein eigenes »Talent zur Begeisterung«64 bot er als Ausgleich zum krassen Materialismus der Zeit. In einem Brief an Körner vom 7. Mai 1785 formuliert er seine Grundüberzeugung über das Verhältnis von Körper und Geist, die er dichterisch in den Räubern (1781)

58 59 60 61 62 63 64

Ebd., 315. Ebd. Vgl. ebd., 315-317. Ebd., 318. NA XXVII, 143 (Brief vom 19. Februar 1795). Vgl. ebd. NA XXIV, 6 (Brief an Körner vom 7. Mai 1785).

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bereits ausgedrückt hatte65: »Das Leben von tausend Menschen ist meistens nur Zirkulation der Säfte, Einsaugung durch die Wurzel, Distillazion durch die Röhren und Ausdünstung durch die Blätter; das ist heute wie gestern,beginnt in einem wärmeren Apriltage und ist mit dem nämlichen Oktober zu Ende. Ich weine über die organische Regelmäßigkeit des grösesten Theils in der denkenden Schöpfung, und den preiße ich selig, dem es gegeben ward, der Mechanik seiner Natur nach Gefallen mitzuspielen, und das Uhrwerk empfinden zu laßen, daß ein freier Geist seine Räder treibt. Man sagt von Newton, daß bei Gelegenheit eines fallenden Apfels das ungeheure System der Attraction in seinem Gehirne aufdämmerte – Durch wieviel tausend Labirinthe von Schlüßen würde sich ein gewönlicher Geist biß zu dieser Entdekung haben durchkriechen müßen, wo das verwegene Genie durch einen Riesensprung sich am Ziele sah. Sehen Sie, bester Freund – unsre Seele ist für etwas höheres da, als bloß den uniformen Takt der Maschine zu halten. Tausend Menschen gehen wie Taschenuhren, die die Materie aufzieht, oder, wenn Sie wollen, ihre Empfindungen und Ideen tröpfeln hidrostatisch wie das Blut durch seine Venen und Arterien, der Körper usurpiert sich eine traurige Diktatur über die Seele, aber sie kann ihre Rechte reclamieren, und das sind dann die Momente des Genius und der Begeisterung.« Absicht Schillers war es, seine Begeisterungsfähigkeit als nützlich und gut zu verteidigen. Doch die Anspielungen auf neuere Thesen in mehreren Wissenszweigen wie Botanik, Blutkreislauf, menschlicher Anatomie und Gravitationslehre lassen erkennen, wie gut der ausgebildete Mediziner Schiller informiert war.66 Gleichzeitig enthält dieser Passus mit seiner deutlichen Klage über die »traurige Diktatur« des Körpers über die Seele noch keine Spur von der Kantischen Anerkennung der »lebendigen Kräfte«, die allenthalben wirken. Angesichts des Publikationsjahres von den Metaphysischen Anfangsgründen ein Jahr nach diesem Brief an Körner sollte dies nicht überraschen. Deshalb ist die klare Dialektik zwischen der Negativität toter Uhrenmechanik und dem exzessiven Enthusiasmus typisch für Schillers Schriften der 1780er Jahre. Hier denke man etwa an die fragmentarisch gebliebenen Philosophischen Briefe (mit deren Kernstück »Theosophie des Julius«, 1786/87), an das philosophische Gedicht Die Götter Griechenlandes (1788) und an das »Philosophische Gespräch« aus dem Geisterseher (1789). Alle sind zwischen 1786 und 1789 entstanden. Der Usurpierung der Macht durch die Masse und die reine Körperlichkeit hält Schiller die innere Begeisterungs- und Bewunderungsfähigkeit des Menschen entgegen. Letzteres Talent bezeichnet er als »vorausgenoßene[n] Paroxysmus unsrer künftigen Größe«.67 »Alles in mir und außer mir ist nur Hieroglyphe einer Kraft, die mir ähnlich ist«, Ebd. Zu Schillers gründlicher naturwissenschaftlicher Ausbildung an der Karlsschule siehe Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985. 67 NA XXIV, 5 (Brief an Körner vom 7. Mai 1785). 65 66

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behauptet Julius in den Philosophischen Briefen (»Theosophie des Julius«). Bekanntlich ist Julius das Sprachrohr des jungen Schiller, dem der kühlere Raphael (Körner) gegenübersteht. Die Naturgesetze seien Chiffren, das Alphabet eines höheren Wesens, mit dem die Menschen wesensverwandt sind. Für Julius ist das Universum »der Gedanke Gottes« (wie es das auch für Gottfried Wilhelm Leibniz war). Aufgabe des forschenden Betrachters ist es, diese Zeichen auszulegen und sie als Basis der Kommunikation mit anderen vernünftigen empfindenden Kreaturen anzuwenden. Die Natur erscheint dem begeisterten Julius als Instrument der Offenbarung, als ein Kunstwerk, das der Seele des großen göttlichen Künstlers entspringt. Die Verbindung mit Fortschritten in den Naturwissenschaften geht deutlich aus seiner Schlußfolgerung hervor68: »Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravitation, der entdekte Umlauf des Blutes, das Natursystem des Linnäus, heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike« verheißen hat, nämlich »neue Bekanntschaft mit einem mir ähnlichen Wesen«. Die neuen Naturerkenntnisse werden anfangs im physiko-theologischen Sinn verstanden. Die Ordnung des Universums, ja des menschlichen Körpers fungiert als Sinnbild des Göttlichen. In diesem Text wird auch bereits eine Brücke zur ästhetischen Erfahrung geschlagen, denn »Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit,Vortreflichkeit« bereiten dem Betrachter eine Freude, eben weil sie ihn »in den thätigen Zustand ihres Erfinders, ihres Besitzers versezen«.69 Diese Hervorhebung des Subjekts im Erkennen von Naturgesetzen weist deutliche Parallelen zu Kants Vernunftglauben auf.70 Noch emphatischer als Kant, wohl durch eine intensivere Indentifikation mit Leibniz, bekundet der junge Dichter in diesem »Glaubensbekenntniß [s]einer Vernunft«71 die Ansicht, daß Gott in den Naturprozessen selbst zu erkennen sei (»die Natur ist ein unendlich getheilter Gott«).72 So bezieht Schiller einen Standpunkt, der über denjenigen der Physikotheologen hinausgeht.73 Auf die Gravitationslehre greift Julius/Schiller zurück, um das Fundament seiner Theosophie zu erklären, das ist, die Rolle der Liebe zu rechtfertigen. Der Liebe in der moralischen Welt schreibt er die gleiche Zentralfunktion zu, die die Anziehungskraft in der Natur innehat. Dann gebraucht er die Leibnizsche Idee von der Verwandtschaft denkender Geister unter sich, um die Wirkung der Liebe analog der Gravitation zu erklären74: »Die NA XX, 116 (vorhergehende Zitate 115 f.). Ebd., 116. 70 Den 22. Brief in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen widmet der Dichter der Frage nach der »ausübenden Kunst und ihrer Wirkung«. Dort analysiert Schiller den Rezeptionsakt ausführlicher, wobei das Gemüt – bzw. die »republikanische Freiheit« – des Zuschauers bzw. des Zuhörers völlig frei und unverletzt bleibe (ebd., 382). 71 Philosophische Briefe, ebd., 126. 72 Ebd., 124. 73 Zur Physiko-Theologie vgl. Uwe K. Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung: Poesie als Sprache der Versöhnung – alter Universalismus und neues Weltbild, Stuttgart 1974. 74 NA XX, 124. 68 69

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Anziehung der Elemente brachte die körperliche Form der Natur zustande. Die Anziehung der Geister, in’s Unendliche vervielfältigt und fortgesetzt, müßte endlich zur Aufhebung jener Trennung führen, oder […] Gott hervorbringen. Eine solche Anziehung ist die Liebe.«75 Noch vor seinem Kantstudium erkennt Schiller, daß unsere Begriffe keineswegs »Bilder der Dinge sind«, sondern bloß »coexistirende Zeichen«.76 Das Ding an sich erkenne man nicht. Der innere Antrieb, »die Kraft der Seele«77 sei jedoch eigentümlich und notwendig. Die Denkkraft strahle Licht in das All hinaus und erzeuge Wahrheit durch »die Übereinstimmung dieses Begriffs mit den Gesetzen der Denkkraft«.78 Auf ähnliche Weise ziehe die Liebe – »der allmächtige Magnet in der Geisterwelt«, »der Widerschein dieser einzigen Urkraft«79 – Verwandtes, was mit ihr übereinstimme, in ihren Bann. Die Liebe vereinige das gebrochene Licht der Sonne, das Farbenspiel der Welt, wieder in dem »einfachen göttlichen Stral«.80 In einem letzten analogischen Schritt setzt Julius die vier Elemente in der Natur (Luft, Feuer, Erde, Wasser) mit vier Grundelementen der moralischen Welt in Verbindung: Ich, die Natur, Gott und die Zukunft.81 Somit hat der junge Schiller ein System entworfen, das viele Ähnlichkeiten mit der Vorstellungsart der Naturwissenschaftler aufweist. Ist Bewegung in der physischen Welt das erste Prinzip, so fungiert das Denken in der moralischen Welt als primum mobile, als die sogenannte »Regel in der Maschine«.82 In der Geisterwelt übernimmt die Liebe dann die Rolle, die die Schwerkraft in der Welt der Materie spielt. 75 In seiner ›kritischen Zeit‹ – in Über Anmut und Würde – charakterisiert Schiller die Liebe wiederholt als »de[n] Gesetzgeber selbst, de[n] Gott in uns« (ebd., 303). 76 Philosophische Briefe, ebd., 126 f. Schiller läßt Raphael gegen Ende der »Theosophie« sagen: »Ich bin arm an Begriffen, ein Fremdling in manchen Kenntnissen, die man bei Untersuchungen dieser Art als unentbehrlich voraussetzt. Ich habe keine philosophische Schule gehört und wenig gedrukte Schriften gelesen« (ebd., 128). In einem Brief an Körner vom 15. April 1788 bestätigt Schiller diesen Standpunkt, wenn er schreibt: »Daß sich mein Julius gleich mit dem Universum eingelaßen, ist bey mir wohl individuell; nehmlich, weil ich selbst fast keine andre Philosophie gelesen habe und zufällig mit keiner andern bekannt worden bin« (NA XXV, 40). Wenige Zeilen später erklärt er noch deutlicher, daß er mit Kant wenig anfangen kann (den Körner ihm empfohlen hat): »In der That glaube ich daß Du sehr recht hast; aber mit mir will es noch nicht so recht fort, in dieses Fach hinein zu gehen« (ebd.). 77 NA XX, 127. 78 Ebd. 79 Ebd., 119. 80 Ebd., 124. 81 Vgl. ebd., 129. 82 Ebd. In dem »Philosophischen Gespräch« aus dem Geisterseher versteht Schiller die Termini Gedanke und Bewegung als synonym. Susan Manning verweist in ihrer Studie zur Vernunft und Sympathie im achtzehnten Jahrhundert auf diese bindende Funktion der Liebe in der moralischen Welt als analog zur Gravitationslehre in der materiellen Sphäre, wenn sie schreibt: «As gravity holds together the Newtonian physical universe, so the ties of association and sympathy bind the universe of human experience. This has profound implications for both literature and literary criticism in the eighteenth century” (Susan Manning: Literature and Philosophy, in: The

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In den Göttern Griechenlandes steht wiederum die verlorene Einheit von menschlichem Geist und Naturalphabet im Vordergrund. Die Elegie ist eine Art von Intermezzo im Drang Schillers zur Einheitsidee, die in den Ästhetischen Briefen kulminieren wird. Analogien und Bilder aus der Welt der Naturwissenschaft begegnen dem Leser immer wieder. Wo bei den alten Griechen der Sonnengott Apollo seinen Wagen »in stiller Majestät« gelenkt habe, drehe sich jetzt »seelenlos ein Feuerball«, wie die modernen Naturforscher sagen.83 Die schöne, allenthalben belebte Welt, das »holde Blütenalter der Natur« habe eine Welt der reinen Mechanik verdrängt. Der Dichter beklagt den breiten Einfluß der Gravitationslehre, welche die Menschen unempfindlich für die Herrlichkeit der Welt gemacht habe. Darin impliziert er eine Parallele zur Wirkung von Jesus Christus im religiösen Bereich, der das ganze Heer heidnischer Götter und Halbgötter vom Felde geschlagen hat. Es blieben nur Schatten und leblose Materie zurück84: Unbewußt der Freuden, die sie schenket, Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit, Nie gewahr des Geistes, der sie lenket, Selger nie durch meine Seligkeit, Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre, Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr, Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere, Die entgötterte Natur!

Die Götter kehrten heim, der modernen materialistischen Weltbetrachtung unnütz, denn die moderne Welt könne »sich durch eignes Schweben« ohne äußeren Einfluß halten.85 Hoffnung für die Zukunft gebe es dennoch, weil die Kunst die schöne Welt jederzeit neu beleben, die Götter von den Höhen des Pindus wieder herunter holen könne. Einer Welt ohne lebendige Kräfte wird die Begeisterungsfähigkeit des Naturbetrachters (»unbewußt der Freuden«, »nie entzückt«, »selger nie«) – und implizit jene des Künstlers – entgegengehalten. Das ist allerdings das Thema der anderen großen Elegie der Zeit, Die Künstler. Wichtig in meinem Zusammenhang ist freilich das moderne Weltbild, das dem Gesetzt der Schwere gehorcht. Die Brücke zwischen der Gravitation in der Natur und ihrer metaphorischen Verwendung in der Seelenlehre schlägt Schiller noch eindeutiger im »Philosophischen Gespräch« aus dem Geisterseher, wenn er konstatiert, man könne die WirkunCambridge History of Literary Criticism IV, ed. by Hugh B. Nisbet and Claude Rawson, Cambridge u.a. 1997, 587-613, hier 592). Analog zu meiner Untersuchung sind folgende Studien, die ebenfalls den Einfluß physischer Theorien auf Philosophie und Ästhetik thematisieren: Norman Hampson: The Enlightenment, Middlesex 1968; Robert J. Richards: The Romantic Conception of Life – Science and Philosophy in the Age of Goethe, Chicago 2002. 83 NA I, 190. 84 Ebd., 194. 85 Ebd., 195.

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gen der physischen Natur überall bis in den Menschen hinein denken. In der moralischen Welt müssen Wesen vorhanden sein, meint er, welche Pflanzen, Tieren, Menschen und anderen Lebewesen ihre besondere Eigenschaft verleihen. Wie im Fall von Luft und Äther, Mineral und Pflanze müsse es ein inneres Prinzip geben, das im moralischen Wesen den äußeren Beweggründen Widerstand leiste und die eigene ursprüngliche Form der moralischen Kreatur wiederherstelle, sobald der äußere Druck nachlasse, und das so etwas wie Schmerz- und Glücksempfindungen auslöse.86 Schiller beschreibt diese Wirkung als Folge »eine[r] elastische[n] Kraft«.87 »In jedem moralischen Wesen«, setzt er hinzu, »legt sie [die innere Bewegung] ein neues Zentrum an, einen Staat im Staate, gleichsam als hätte sie ihren allgemeinen Zweck ganz aus den Augen verloren. Gegen dieses Zentrum müssen sich alle Tätigkeiten dieses Wesens mit einem Zwange neigen, wie sie ihn in der physischen Welt durch die Schwerkraft ausübt. Dieses Wesen ist auf die Art in sich selbst gegründet, ein wahres und wirkliches Ganze, durch diesen Fall zu seinem Zentrum dazu gebildet, ebenso wie der Planet der Erde durch die Schwerkraft zur Kugel ward, und als Kugel fortdauret.«88 Augenfällig ist die Anwendung der Gravitationslehre auf die moralische Beschaffenheit eines Menschen. In einem »denkend-empfindende[n] Wesen«89 übernehmen Schmerz und Vergnügen die Rolle der Mechanik in einem bloß organischen Wesen. Auffallend außer der Anziehungskraft als organisatorischem Prinzip ist die Formulierung »elastische Kraft«, die in Kants Theorie des Himmels eine zentrale Funktion hat. Wie eine elastische Kugel könne »der Mensch nicht aus seinem Mittelpunkte weichen«.90 Doch wie die Sonne als Mittelpunkt eines Planetensystems wirkt, solle der Mensch als Zentrum eines größeren Kreises agieren. Warum? Weil »kein moralisches […] Wesen in einer Wüste [ist], wo es lebet und webet, berührt es ein umgrenzendes All«.91 Der tätige Mensch sei der bessere Mensch, und seine Seele handele »als die Bürgerin einer ganz andern Welt«. Das innere motivierende Prinzip sei nichts anderes als der innewohnende Trieb, »alle seine Kräfte zum Wirken zu bringen« – oder, anders gesagt, »zur höchsten Kundmachung seiner Existenz zu gelangen«.92 So gesehen sei der letzte Zweck des Menschen nicht in ihm, sondern außer ihm.93 Der auf seine Umgebung fein abgestimmte Mensch sei wie eine vollkommene Uhr, deren Teile miteinander harmonieren, oder wie ein musikalisches Instrument, das die höchste harmonierende Wirkung habe.94 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. NA XVI, 164. Ebd., 162, vgl. auch 165. Ebd., 164. Ebd. Ebd., 166. Ebd., 181. Ebd., 173. Vgl. ebd., 168. Vgl. ebd., 173 f.

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Was in diesem Argument mit seiner Metaphorik auffällt, ist »das sprechende Beispiel der physischen Natur«,95 wie Schiller es formuliert. Gemeint ist nicht das frühere zitierte Paradigma des Sonnensystems und der Elastizität, sondern die Kräftespende in der Zeitlichkeit. Wie viele Keime und Embryonen gehen auf und bereichern das Leben? Und wie viele Keime und Embryonen gedeihen nicht, sondern kehren unaufgelöst in das Elementarreich zurück?96 Zwar arbeiten »alle Kräfte, alle Bestrebungen des Menschen nur für seinen Einfluß in dieser Zeitlichkeit«.97 Aber die Natur zeige uns, wie viele Samen erst lange nach der Spende Frucht tragen. Erst der Sohn oder das Enkelkind realisiere die Hoffnung des Vaters und Großvaters. Erst spätere günstigere Epochen lassen den Gedanken empirisch-historisch Fuß fassen. Hier findet man nicht nur ein Echo von Leibnizens Monadenlehre, sondern auch von Marquis Posas Plädoyer für Gedankenfreiheit und der Forderung: »Er lege Hand an.«98 Wie der Künstler mit seinem Meißel lasse der nach außenhin denkend-wirkende Mensch aus dem Rohstoff, aus dem unbehauenen Stein die innere Form entstehen.99 Die Betonung des inneren Triebes im moralischen Wesen, der gleichzeitig wie eine elastische Kraft fungiert und auch als Schwerkraft, die einen größeren Menschenkreis in ihren Bann ziehen kann, ist eine frühe Formulierung der Grundidee in Schillers späteren Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, insbesondere der These von der »thätige[n] Kraft« jeder Persönlichkeit und der Vorstellung des ästhetischen Staates als eines Endergebnisses der »Energie des Verstandes«,100 »weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht«.101 Ohne die vorhergehende Erörterung von Kants Gravitations- und Bewegungslehre wären Schillers Entlehnungen aus der Bildersprache der Naturwissenschaften weniger augenfällig und rhetorisch wirksam.102 In den Kallias-Briefen findet man direkte Entlehnungen aus der Bewegungslehre der Zeit. Die Zentralstelle betrifft Schillers These, daß »frey seyn und durch sich selbst bestimmt seyn, von innen heraus bestimmt seyn, […] eins« sei.103 In seinem Versuch, jene Eigenschaft des »Nichtvonaußenbestimmtseyns«104 näher zu definieren, widmet er der Bewegungslehre besondere Aufmerksamkeit. Eine Bewegung, die durch das Gesetz der Schwere bestimmt wird, liege außerhalb der Natur eines Ebd., 181. Vgl. ebd., 182. 97 Ebd., 181. 98 Dom Karlos, NA VI, 269 (IV,24). 99 Vgl. ebd., 177 (III,9), 181 (III,10). 100 NA XX, 349 (13. Brief). 101 NA XX, 410 (27. Brief). 102 Wolfgang Bethge untersucht den Energie-Begriff Schillers, den er von der Leibniz-WolffSchule ableitet. Auf die Bewegungslehre der Zeit geht Bethge nicht ein. Vgl. Wolfgang Bethge: Das energische Prinzip – Ein Schlüsselbegriff im Denken Friedrich Schillers, 2 Bände, Heidelberg 1995, bes. II, 827-841. 103 NA XXVI, 200 (Brief an Körner vom 23. Februar 1793). 104 Ebd., 201. 95 96

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Dinges, konstatiert er. Er spricht sogar von der »Oeconomie«105 eines Dinges. Genannte Beispiele sind: eine Vase (ohne Dynamik), ein schweres Wagenpferd und ein leichter Zelter (spanisches Rennpferd). Während das Kutschpferd mit »bleyschweren«106 Füßen laufe, tanze der Zelter leicht über die Erdfläche. Je umfangreicher also die »Maße« eines Tiers (z. B. bei Elephant, Bär, Stier), desto abhängiger sei es von der Anziehungskraft der Erde. Die Schwerkraft verhalte sich »gegen die eigene Natur des organischen Körpers als eine fremde Potenz«.107 Daran schließt Schiller seine erste Behauptung vom Wesen der Schönheit an, die mit der eigenen Natur eines Dings bzw. eines Tiers zusammenhängt108: »Dagegen nehmen wir überall Schönheit wahr, wo die Maße von der Form und (im Tier- und Pflanzenbereich) von den lebendigen Kräften (in die ich die Autonomie des Organischen setze) völlig beherrscht wird«. Die Schönheit sei also eine Frage des Verhältnisses zwischen der inneren lebendigen Kraft eines Wesens und der fremden Wirkung der Schwerkraft. Wenn die innere Kraft Herr über den Stoff werde, entstehe der Eindruck von Schönheit. Der beste Beleg für seine These, so behauptet Schiller, seien die Vögel109: »Ein Vogel im Flug ist die glücklichste Darstellung des durch die Form bezwungenen Stoffs, der durch die Kraft überwundenen Schwere. […] Offenbar ist die Schwerkraft eine Feßel für jedes Organische, und ein Sieg über dieselbe gibt daher kein unschickliches Sinnbild der Freiheit ab. Nun gibt es aber keine treffendere Darstellung der besiegten Schwere, als ein geflügeltes Thier, das sich aus innerem Leben (Autonomie des Organischen) der Schwerkraft directe entgegen bestimmt. Die Schwerkraft verhält sich ohngefehr eben so gegen die lebendige Kraft des Vogels, wie sich – bei reinen Willensbestimmungen – die Neigung zu der gesetzgebenden Vernunft verhält.« Demzufolge – insbesondere in Anlehnung an den weiterführenden Verweis auf die reinen Willensbestimmungen, also das Menschliche – fühlt sich Schiller zu den schlichten Behauptungen berechtigt »Schönheit also ist nichts anders als Freiheit in der Erscheinung«110 und »Schönheit ist durch sich selbst gebändigte Kraft«.111 Diese Feststellung macht er zum Kerngedanken seines Arguments in Über Anmut und Würde. Dort ruft diese »durch sich selbst gebändigte Kraft«112 eine ästhetische Resonanz im Betrachter hervor.113 Wenn er auch die Schönheit als eine Kraft bezeichnet, scheint er sie noch nicht als Variation der Schwerkraft zu verstehen, zumindest ver105 106 107 108 109 110 111 112 113

tritt.

Ebd., 204. Ebd. Ebd., 205. Ebd. Ebd. Ebd., 183 (Brief an Körner vom 8. Februar 1793). Ebd., 213 (Brief an Körner vom 23. Februar 1793). Ebd. Vgl. Über Anmut und Würde, NA XX, 303, wo die Liebe an die Stelle der bewegenden Kraft

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weist er nicht explizit auf die Bewegungslehre, die hinter der Formulierung »Freiheit in der Erscheinung« steckt. Auch seine berühmte Schlangenlinie (am Ende des bereits zitierten Passus)114 wird nicht durch die »Selbsthandlung«115 des sich bewegenden Körpers untermauert, die wie der Vogel im Flug der Schwerkraft der Erde entgegenwirkt und sich quasi befreit. Schiller begnügt sich mit einem Hinweis auf die unmerkliche stufenweise Veränderung der Linienrichtung als Erklärung ihrer Form. Freilich liegt eine genauere und tiefergehende Erläuterung des Phänomens durch den Kampf des selbstgesteuerten Menschen gegen die äußere Kraft der Schwere auf der Hand. Eben dies führt er in Über Anmut und Würde mit seiner genaueren Bestimmung der Anmut aus.116 Der Gürtel der Venus fungiert hier als »das Symbol der beweglichen Schönheit«.117 Im Zentrum seiner Betrachtungen steht selbstverständlich die menschliche Schönheit. Gemeint ist nicht jene »architektonische Schönheit«, welche »nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist«.118 (Hier wird man übrigens an Kants Definition des architektonisch Schönen erinnert.) Nein, er stellt sich ja die bewegliche Schönheit als Ausdruck des inneren Willens, des eigenen Kraftzentrums, der eigenen sittlichen Bestimmung vor.119 Dabei handelt es sich um »die Idee seiner Menschheit« selbst.120 Diese Idee der Menschheit kann man sinnlich nur dann wahrnehmen, wenn sie mit einer Bewegung verbunden ist. Mit anderen Worten: Die Regungen des Gemüts müssen durch Veränderungen der Körperstellung zum Augenschein kommen.121 Und der Mensch war für Schiller, wie wir wissen, zugleich Vernunft- und Naturwesen.122 Nur wenn der Mensch aus beiden Kompetenzen heraus handelt und wo »die Seele das bewegende Princip« ist,123 könne die Schlangenlinie entstehen, könne die Überwindung der materiellen Schwere durch das handelnde Subjekt selbst als Ursache erkannt werden. Dies meint Schiller, wenn er behauptet: »Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.«124 An sich hätte er schreiben müssen, »nicht nur Vgl. NA XXVI, 215 f. Ebd., 229 (Brief an Körner vom 1. März 1793, Beilage). 116 Dort erwähnt er die Schlangenlinie erst gegen Ende seiner Abhandlung im direkten Anschluß an das Beispiel eines ungraziösen Tänzers, der sich bewegt, »als ob er ein Mühlrad zu ziehen hätte« und »als ob er den Fußboden fürchtete« (NA XX, 307). Der Hinweis findet sich allerdings mitten in einer Reihe von negativen Beispielen der falschen Anmut. Hat seine negative Einstellung in jenem Zusammenhang Schiller für die Kooperation des menschlichen Willens mit der natürlichen Schwerkraft, die an sich auf der Hand liegt, blind gemacht? 117 NA XX, 252. 118 Ebd., 256; Hervorhebung im Original. 119 Vgl. ebd., 254 f. 120 Ebd., 257. 121 Vgl. ebd., 263 f. 122 Vgl. Kallias-Briefe, NA XXVI, 182. 123 Über Anmut und Würde, NA XX, 255. 124 Ebd. 114 115

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von der Natur gegeben« und »sondern auch vom Subjekt hervorgebracht«, denn, wie er später deutlicher schreibt, die Schönheit »empfängt ihre Existenz in der sinnlichen Natur und erlangt in der Vernunftwelt Bürgerrecht«.125 Durch die Dazwischenkunft des Menschen werde der Natur die Alleinherrschaft entzogen, und das Gebiet des Geistes erstrecke sich auf die ganze lebendige Natur »und endigt nicht eher, als wo das organische Leben sich in die formlose Masse verliert und die animalischen Kräfte aufhören«.126 Da Schiller den Menschen im Visier hat, sind die sonstigen anziehenden und abstoßenden Kräfte der nicht organischen Natur (nach Kant und Leibniz auch »lebendige« Natur) von keinem Interesse. Festzuhalten ist dennoch seine Erkenntnis, daß »alle bewegenden Kräfte im Menschen unter einander zusammenhängen«.127 Diese Einheit der mannigfaltigen, oft agonalen moralischen, physischen und chemischen Wirkungen ist Schiller ein Beleg dafür, daß das Moralische – das heißt, die Idee der Menschheit – durch das ganze lebendige System der Natur wirken kann und soll, denn die menschliche Natur sei mit dem Ganzen der Wirklichkeit verbunden.128 Frei kann der Mensch nur im moralischen Sinne des Wortes sein, weil er als Instanz der Materie den Gesetzen der physisch wirkenden Natur stets ausgeliefert ist. Die moralische Gleichstimmung in mehreren sich selbst bewegenden Personen, die durch Handlungen und Taten bewirkt wird,129 heißt denn auch sympathetische Bewegung.130 Das Ziel des Menschen, einzeln und in Gruppen, sei es, »Selbsturheber seines Zustandes« zu sein.131 Kraftzentrum dieser idealischen Gruppenbildung ist die schöne Seele, der höchste Ausdruck des Sittlich-Sinnlich-Schönen. In ihr herrscht das sittliche Gefühl über alle menschlichen Empfindungen, so daß der Gesamtaffekt des herrschenden Willens durchaus als naturgetrieben erscheint. Die schöne Seele ist einfach, weiß nicht von ihrer Schönheit, denn in ihr harmonieren Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung ganz.132 Alle ihre Handlungen geschehen aus einem Spieltrieb. So kompakt und fest ist die ›Materie‹ der schönen Seele, daß sie die Ausstrahlungskraft einer Sonne hat und also fähig ist, andere Körper in ihre Flächenkraft einzubeziehen und einzubinden. Die schöne Seele also als Kraftzentrum, als immenser dicht geformter ideeller Mittelpunkt einer ganzen Reihe von mittelmäßigen materiellen ›Klümpchen‹, welche diesen moralischen Mittelpunkt in elliptischen Bahnen um125 Ebd., 260. Eben diese Doppelspektive ist Objekt seiner Untersuchung in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (13. Brief). Dort lehnt Schiller die »gewaltige Usurpation der Denkkraft« ab, ähnlich wie er früher die Ursurpation durch den Körper moniert hatte. Kooperation von Sensualität und Geistigkeit wird verlangt (vgl. NA XXVI, 348 f.). 126 Über Anmut und Würde, NA XX, 262. 127 Ebd. 128 Vgl. ebd., 286. Das Szenarium solcher Komplexität hatte Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (§ 80) konzipiert (vgl. WA VIII, 537 f.). 129 Vgl. Über Anmut und Würde, NA XX, 272. 130 Vgl. ebd., 266 f. 131 Ebd., 277. 132 Vgl. ebd., 287.

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kreisen. Sie ist also Ausdruck dessen, was Schiller im Kallias-Brief vom 25. Januar 1793 an Körner als »nur Form einer Form« bezeichnet hat, da die Vollkommenheit »die Form eines Stoffes« ist, während »die Schönheit hingegen […] die Form dieser Vollkommenheit« ist.133 Somit konstituiert die schöne Seele das Fundament der vierten Kategorie der ästhetischen Schönheit, des sinnlich-objektiven Schönen.134 Es existiere essentiell als Idee, als erstrebenswertes Ziel.135 Wenn das Ideal der schönen Seele in der empirischen Welt auch nie ganz realisiert werden könne, so strahle es dennoch eine starke Anziehungskraft aus, welche die menschliche Gesellschaft in einen ästhetischen Staat umorganisieren könnte. »Die Gesetzgebung der Natur hat Bestand bis zum Willen, wo sie sich endigt und die vernünftige anfängt«, erklärt Schiller mit Überzeugung.136 In einer erhabenen Seele handele es sich um ein anderes Temperament, in dem wir die selbstbestimmende moralische Kraft des Willens über die sinnlichen Triebe spüren. Diese Geistesfreiheit nehme als Würde in der Erscheinung Gestalt an.137 Auch die erhabene Seele habe eine Ausstrahlungskraft, eine repulsive Kraft, die jener Schwerkraft der materiell bedingten Triebe entgegenwirke und die Selbstbestimmung des Individuums willentlich behauptet. Weil Würde und Anmut verschiedene Erscheinungsbereiche haben, können sie in der gleichen Person vorkommen, sogar in demselben Zustand. Sie seien ja miteinander verwandt, denn die Anmut verleihe der Würde ihre innige Bestätigung, die Würde ermögliche der Anmut ihren moralischen Wert.138 Im höchsten Grad wirke die Anmut bezaubernd, die Würde dagegen majestätisch.139 Beide Eigenschaften bezeichnen diejenigen Personen, die in ihren jeweiligen Bereichen des Sinnlich-Kulturellen und des Moralisch-Politischen durch ihre besonders starke Wirkung auf menschliche Empfindungen herrschen. Im Fall der bezaubernden Anmut »verlieren wir uns gleichsam selbst und fließen hinüber in den Gegenstand«. Beim Anblick der majestätischen, ja heiligen Würde werden wir genötigt, »in uns selbst zu schauen«, und »empfinden nichts als die schwere Bürde unsers eigenen Daseyns«. Vor dem erhabenen Menschen falle »unser Geist« auf die Kniee nieder.140 So oder so sind wir – analog zur Wirkung der Gravitationskraft im physischen Bereich – im Bann einer moralischen Schwerkraft. Es handelt sich um ein neues Gesetz im Bereich der Ideen, das dem Gesetz der Schwerkraft in der Welt der Materie entspricht. In diesem Sinn kann NA XXVI, 176. Die anderen drei Theorien des Schönen werden charakterisiert als sinnlich-subjektiv (Burke), sinnlich-rational (Kant) und rational-objektiv (Baumgarten, Mendelssohn). Vgl. ebd., 175 f. 135 Vgl. Über Anmut und Würde, NA XX, 289. 136 Ebd., 291. 137 Vgl. ebd., 294. 138 Vgl. ebd., 300. 139 Vgl. ebd., 306. 140 Ebd. 133 134

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man die Schlußfolgerung Schillers verstehen, nach der der Affekt von Anmut und Würde zusammen mit der architektonischen Schönheit derselben als eine Gesetzgebung zu verstehen ist141: »Sind Anmut und Würde, jene noch durch architektonische Schönheit, diese durch Kraft unterstützt, in derselben Person vereinigt, so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet, und sie steht da, gerechtfertigt in der Geisterwelt und freygesprochen in der Erscheinung. Beyde Gesetzgebungen berühren einander hier so nahe, daß ihre Grenzen zusammenfließen.« Dieser summierende Gedanke schließt die Kluft zwischen der Welt der Materie und der Welt des Geistes. In seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen entwickelt Schiller diese Gedanken weiter. Aber der gegenwärtige Rahmen erlaubt mir nicht, dem Weitergang zu folgen. Ist die These eines innigen Zusammenhangs zwischen der Gravitationslehre Kants und der Ästhetik Schillers, zwischen der Schwer- und Denkkraft überspannt? An Schillers eigenes Bekenntnis seinem Freund Körner gegenüber zur Zeit der Julius-Dichtung sei erinnert142: »Ich habe immer nur das aus philosophischen Schriften, (den wenigen die ich las) genommen, was sich dichterisch fühlen und behandeln läßt.« Aus Kants Urteilskraft hat Schiller später anscheinend auch nur das genommen, was er dichterisch verwenden konnte.143 Wie Kant fragte ebenfalls Schiller, warum der Mensch ganz von den Naturgesetzen abhängen müsse? Warum könne der Mensch die Naturphänomene nicht so auslegen, daß sie mit menschlichen Vorstellungen übereinstimmen? Die Revolution des Geistes, die Kopernikus mit seinem Rückzug auf den Menschen als das Zentrum und den Filter der Weltbetrachtung initiierte, wurde von Newton und Kant fortgesetzt. Schiller fühlte sich berufen, diese Revolution des Geistes in die neue Disziplin der Ästhetik zu übertragen. Die Grundlinien seiner Vorstellungsart waren jedenfalls bereits sichtbar, ehe er sich mit Kants Metaphysik ernsthaft auseinanderzusetzen anfing. Sein jugendlicher Enthusiasmus blieb erhalten. Selbst der alte (und nicht nur der junge) Kant drückte sein Erstaunen beim Anblick des ästhetisch organisierten Himmels aus. Das Prinzip der Dynamik sei allenthalben vorhanden. Neben den apodiktischen Satz von Kant – »Materie ist das Bewegliche im Raume«144 – wäre das Schillersche Diktum »Schönheit ist durch sich selbst gebändigte Kraft«145 zu stellen. Das damit verwandte Sittengesetz gelte als eine wirkende Kraft, die zur Gründung eines moralischen Staats führen könnte.146

Ebd., 300. NA XXV, 40. 143 In den Kallias-Briefen zitiert Schiller nachdrücklich Kants Unterscheidung von Kunstund Naturschönem und versteht seinen eigenen Versuch, das Schöne zu bestimmen, als Erklärung des unterbeleuchteten Verhältnisses zwischen Kunst und Natur (vgl. NA XXVI, 209). 144 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, WA VIII, 25. 145 NA XXVI, 213. 146 Vgl. die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen, NA XX, 315 (4. Brief). 141 142

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Phantasie und Intuition fungieren zentral in der Kartographierung des realen so wie auch des moralischen Daseins. Wissen erscheint als eine Empfindungsweise beim Anblick der Natur. Letztendlich scheinen die theoretische Wissenschaft und die Philosophie Wissenszweige der Ästhetik zu sein und nicht umgekehrt.147 Für Schiller waren Sehkraft (gestärkt durch das Teleskop), Denkkraft (besonders die Kantische reine Vernunft) und Dichtungskraft innigst verknüpft. Ziel der ästhetischen Erziehung ist es, die mannigfaltigen Anlagen – d. i. Kräfte – im Menschen in eine einzige, alles durchflutende Kraft zusammenzuballen. »Dadurch allein«, schreibt Schiller in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, »daß wir die ganze Energie unsers Geistes in Einem Brennpunkt versammeln, und unser ganzes Wesen in eine einzige Kraft zusammenziehen, setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an und führen sie künstlicherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr gesetzt zu haben scheint.«148 In einem wahrhaft schönen Kunstwerk tut die Form – die innere Kraft – alles.149 Kopernikus leitete diese ›ästhetische‹ Wende ein.

Vgl. Harry Ritter: Science and the Imagination in the Thought of Schiller and Marx, in: The Quest for the New Science – Language and Thought in Eighteenth-Century Science, ed. by Karl J. Fink and James W. Marchand, Carbondale (Illinois) 1979, 28-40. Zur Rolle der Imagination vgl. auch Elizabeth F. Potter: Synthesis and Consciousness, in: Rice University Studies 61 (1975), Heft 3, 59-66. Den Aufstieg von Konstrukten kultureller und imaginärer Art (»memes«) als bedeutsame Gegenkraft zur Wirkung der angeborenen Gene biologischer Art betont Lyall Watson in Dark Nature – A Natural History of Evil, New York 1997, 182-232. Im Kapitel 11 »Memes: The New Replicators« seines Bestsellers The Selfish Gene (Oxford 1976) führte Richard Dawkins den Begriff ein. Die Anwendung von »memes« auf die ästhetischen Debatten des 18. Jahrhunderts wäre ein fruchtbares Unternehmen. Zur ersten Hinführung zur Theorie der memes siehe ‹ http://en. wikipedia.org/wiki/Meme ›. 148 NA XX, 327 (6. Brief). 149 Schiller schreibt: »In einem wahrhaften schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freyheit zu erwarten. Darinn also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt« (ebd., 382). Die Basis dafür in der materiellen Sphäre ist Schillers Auffassung der Welt als »ein Ausgedehntes in der Zeit«, was Veränderlichkeit und Extensivität zum inneren Prinzip hat (vgl. ebd., 348 f.). Also wiederum das Grundprinzip der Bewegung. 147

Schillers poetologische Reflexion der Natur im Horizont der Renaissancebukolik Von Steffen Schneider

I. Während die Bedeutung der philosophischen Tradition für Schillers Denken im allgemeinen und für seine Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung im besonderen bestens bekannt ist, hat man den Einfluß literarischer Modelle auf die poetologischen Überlegungen in diesem Text bislang noch kaum untersucht. Das gilt insbesondere für die Bukolik, die Schiller im Abschnitt über die Idylle kritisiert und als für die moderne Dichtung letztlich ungenügende Tradition aus seinem Kanon verbannt, auch wenn er ihr durchaus manche Verdienste zugesteht. Dieses Urteil Schillers ist nur verständlich, wenn man es auf die deutsche Idyllenpraxis und -theorie des 18. Jahrhunderts bezieht, es verliert allerdings seine Plausibilität vor dem Hintergrund der älteren Bukolik, vor allem der Renaissancebukolik, die sich aus dem Gesichtspunkt der Idylle gar nicht verstehen läßt. In den folgenden Ausführungen geht es darum, diese literarische Tradition als einen wesentlichen Horizont für Schillers Nachdenken über den Zusammenhang von Natur, Geschichte und Poesie wiederzuentdecken.1 Denn die Bukolik bildet seit der Antike einen zentralen Bezugspunkt für die ästhetische Reflexion des Naturverhältnisses der Poesie in der europäischen Literatur und Kunst. Über den Wandel geschichtlicher Wirklichkeitsbegriffe hinweg stellt sie nicht nur ein Inventar an Themen und Motiven bereit, sondern prägt eine Reflexionsfigur aus, die immer wieder an die gewandelten epochalen Epistemai angepaßt wurde. Diese Anpassungsfähigkeit verleiht der Bukolik eine Kontinuität bis ins 19. Jahrhundert hinein auch in den Fällen, in denen ein genaues Studium bukolischer Texte durch den modernen Autor nicht nachweisbar ist. Das scheint auch bei Schiller der Fall zu sein: Sieht man einmal von den wenigen in Über naive und sentimentalische Dichtung genannten Idyllikern ab, fehlt jeder Hinweis auf die Schäferdramen, -gedichte und -romane der Renaissance und des Barock – anders als die Philosophie Kants hat Schiller diese Werke nicht intensiv studiert, um aus ihnen Anregungen für seine Literaturtheorie zu gewinnen. Dennoch lassen sich vielfache Spuren bukolischen Denkens in seinem Text finden, denen ich im Folgenden nachgehen möchte. Zunächst werden an Schillers Kritik und Neukonzeption der Idylle die Wesensmerkmale herausgearbeitet, die 1 In seinem Aufsatz Schiller und das Pastorale, in: Euphorion 53 (1959), 229-251, hat Horst Rüdiger einen Versuch in dieser Richtung unternommen. Aber auch er betont letztlich vor allem die Differenz Schillers zur konventionell gewordenen Bukolik des 17. und 18. Jahrhunderts, so daß der Blick auf ein mögliches Weiterwirken verstellt wird.

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seine Ausführungen mit der Renaissancebukolik vergleichbar machen. Danach beziehe ich mich stellvertretend für die neuzeitliche Pastoraldichtung auf ihren Gründungstext – auf Jacopo Sannazaros Prosimetrum Arcadia, dessen Bedeutung in der Begründung jener Reflexionsfigur besteht, die bei Schiller, wenn auch unter veränderten historischen Bedingungen, noch immer aktuell ist. II. Daß die Frage eines möglichen Einflusses der Bukolik auf Über naive und sentimentalische Dichtung in der Forschung auf geringes Interesse stößt, hat seinen Grund in Schillers kritischer Auseinandersetzung mit der Idylle, denn nur in diesem Zusammenhang kommt Schiller ausdrücklich auf die Bukolik zu sprechen, sieht man einmal von einer kurzen, aber aufschlußreichen Bemerkung zu Beginn des Textes ab. Dort wird sie zur Charakterisierung des »Naiven der Denkart« herangezogen, also jener Eigenschaft von »Kindern und kindlich gesinnten Menschen«, die bisweilen inmitten zivilisierter Verhältnisse ein natürliches Verhalten offenbaren, das in diesem Kontext nicht erwartet wird und daher überrascht und rührt.2 Die Schäferwelt ist damit auf den Begriff der Naivität und Unschuld gebracht und als Ausdruck der ›unverfälschten‹ und ›wahren‹ Natur des Menschen bestimmt. Die Menschen dieser Schäferwelt sind durch zwei wesentliche Merkmale ausgezeichnet: Erstens schließt ihre Naivität Reflexivität aus, weil Reflexivität ein Bewußtsein von Distanz voraussetzt, das erst den gedanklichen Bezug auf einen Gegenstand ermöglicht. Zweitens fehlt ihnen aus diesem Grund ein Bewußtsein für die Differenz zweier Welten, nämlich der kultivierten Welt des Hofes und der unkultivierten Welt der Hirten. Dieser doppelte Mangel des naiven Bewußtseins wird nun von Schiller zur Grundlage der Bestimmung der Idylle gemacht, in welcher, anders als in der Satyre und der Elegie, so gesprochen und gehandelt wird, als herrsche noch immer das goldene Zeitalter natürlicher Verhältnisse und nicht die moderne Zivilisation der Höfe und Städte. Das Unvermögen zur Reflexivität und zur Differenzierung zwischen verschiedenen Lebenswelten und mit diesen verbundenen Verhaltenscodes, das das ›Naive der Gesinnung‹ auszeichnet, wird im Falle der (sentimentalischen) Idylle zu einem bewußten poetischen Akt der Stilisierung von Naivität3: »Die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit ist der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart. Weil diese Unschuld und dieses Glück mit den künstlichen Verhältnissen der größern Societät und mit einem gewissen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unverträglich schienen, so haben die Dichter den Schauplatz der 2 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Hier: NA XX, 422. 3 Ebd., 467 (Schillers Hervorhebungen).

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Idylle aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand verlegt, und derselben ihre Stelle vo r d e m A n f a n g e d e r K u l t u r in dem kindlichen Alter der Menschheit angewiesen.« Die Idylle setzt damit eine klare Trennung zweier Welten voraus und verbannt das reflexive Bewußtsein aus dem poetischen Text. Diese Auffassung der Idylle hat Schiller von Salomon Geßner und Christian Gottsched übernommen. Für beide ist Theokrit das Vorbild, weil dessen Idyllen vermeintlich der unverfälschte Ausdruck einer ursprünglichen Hirtenpoesie seien, mithin eine Nachahmung der menschlichen Natur und nicht anderer Dichter.4 Um dieses Ziel zu erreichen, forderte Geßner in der Vorrede »An den Leser« aus den Idyllen von dem Verfasser des Daphnis von 1756 die perfekte Illusionsbildung, also den Ausschluß jedes störenden Realitätselementes aus der bukolischen Welt.5 Schillers Urteil über die so verstandene Idylle fällt vernichtend aus, weil diese einen Zustand des Menschen verkläre, der doch nicht bloß zufällig überwunden wurde.6 Denn der Verlust des naiven, naturhaften Bewußtseins der ersten Menschen war kein historischer Unfall, er lag vielmehr in der Natur des Menschen selbst, die sich nur kulturell entfalten kann.7 Aus dieser Auffassung erklärt sich seine Neukonzeption der Idylle. Daher muß zunächst der Begriff der Natur in der Abhandlung erörtert werden. Dieser wird durch eine Reihe von Dichotomien bestimmt: Zunächst scheint Natur etwas zu sein, was die Gesamtheit der nicht vom Menschen geschaffenen Welt umfaßt, allerdings nicht als Summe beliebiger Objekte, sondern als ein diesen Objekten innewohnendes Prinzip. Natur ist etwas ›in‹ den Dingen, wie uns der erste Satz des Textes lehrt8: »Es giebt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralen, Thieren, Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohlthut, auch nicht, weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beyden kann oft das Gegentheil der Fall statt finden) sondern bloß we i l s i e N a t u r i s t , eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen.« ›Natur‹ umfaßt also einerseits die menschliche Umwelt – die Mineralien, die Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, Leipzig 41751 [Repr. Darmstadt 1962], 581 f. 5 Vgl. Salomon Geßner: Idyllen, hg. von Ernst Theodor Voss, Stuttgart 31988, 15-17. Zum Zusammenhang der Idyllendiskussion vgl. Helmut J. Schneider: Antike und Aufklärung – Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie, in: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, hg. von H.J.S., Tübingen 1988, 7-74. 6 »Sie [diese Idyllen, S.S.] führen uns also theoretisch rückwärts, indem sie uns praktisch vorwärts führen und veredeln. Sie stellen unglücklicherweise das Ziel hinter uns, dem sie uns doch entgegen führen sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung einflößen« (NA XX, 469; Schillers Hervorhebungen). 7 Zu dieser geschichtsphilosophischen Grundannahme vgl. Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische – Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, in: Ders.: Schriften II, Frankfurt a. M. 2 1991, 59-106. 8 NA XX, 413. (Schillers Hervorhebungen). 4

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Flora und Fauna –, andererseits den Menschen selbst. Jedoch betrifft sie offensichtlich nicht alle Menschen im gleichen Maße, denn Schiller erwähnt nur die Kinder, die einfachen Landbewohner und die Vorfahren. Die menschliche Natur scheint etwas zu sein, was mit der Gegenwart und der Welt des Erwachsenen nichts zu tun hat oder ihnen wenigstens in einem weit geringeren Maße zukommt als den Kindern. Bereits hier deutet sich an, daß der Begriff der ›Natur‹ einen normativen Sinn enthält – was ›im‹ Menschen und ›in‹ den Dingen der Schöpfung Natur ist, läßt sich als Entwicklungsnorm verstehen, die mit dem tatsächlichen Zustand der Dinge nicht unbedingt übereinstimmen muß. Diese Norm bezeichnet die Entfaltung einer immanenten Gesetzmäßigkeit der Entwicklung9: »Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts anders, als das freiwillige Daseyn, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzen.« Was die menschliche Natur betrifft, so gilt es, zwischen der ›wahren‹ Natur und der ›wirklichen‹ Natur zu unterscheiden. ›Wirkliche‹ Natur ist all das, was dem Menschen zufällig eignet, »jeder, noch so gemeine Ausbruch der Leidenschaft«.10 Aber die »wahre menschliche« Natur bestimmt sich erst durch ein bestimmtes Maß an Fähigkeit zur Selbstbestimmung, also als ›moralischer Trieb‹11 oder als »A n l a g e zum Sittlichen«,12 die dem Menschen ebenso zu eigen ist wie seine Physiologie. Die Annahme einer allen Menschen gemeinsamen Anlage zum Sittlichen dient nicht nur der Abgrenzung der wahren menschlichen Natur von der wirklichen, sondern sie dient überhaupt der Gegenüberstellung der menschlichen und der Umwelt-Natur. Durch den Rekurs auf die Moral-Sense-Theorie wird nicht nur die besondere Stellung des Menschen in der Schöpfung gesichert, sondern auch seine Perfektibilität in seiner Natur fundiert. Der Mensch besitzt eine Zukunftsbezogenheit, die den anderen Lebewesen nicht eignet. In welchem Sinn diese Zukunftsbezogenheit zu verstehen ist, erörtert Schiller am Beispiel des Kindes13: »Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der B e s c h r ä n k t h e i t unsers Zustands, welche von der B e s t i m m u n g , die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der gränzenlosen B e s t i m m b a r ke i t in dem Kinde und zu seiner reinen Unschuld h i n a u f s e h e n , gerathen wir in Rührung, und unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer gewissen Wehmuth gemischt, als daß sich diese Quelle desselben verkennen ließe. In dem Kinde ist die A n l a g e und B e s t i m m u n g , in uns ist die E r f ü l l u n g dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt.« Ebd. Ebd., 476. Vgl. auch ebd., 421, wo dieselbe Unterscheidung in die Worte »bloße« Natur und »gesunde« Natur gefaßt wird. 11 Vgl. ebd., 436. 12 Ebd., 415 (Schillers Hervorhebung). Schiller übernimmt hier die Grundannahmen Shaftesburys. Vgl. hierzu Wolfgang Riedel, ›Der Spaziergang‹ – Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Würzburg 1989, 71 ff. 13 NA XX, 416 (Schillers Hervorhebungen). 9

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Das Kind stellt die Idee der wahren menschlichen Natur in ihrem doppelten Aspekt dar: Auf der einen Seite ist diese Natur durch ihre Moralität, ihre potentielle Freiheit und Bestimmbarkeit gekennzeichnet; auf der anderen Seite ist das Kind den Schritt zur Freiheit und Selbstbestimmung noch nicht gegangen, es verharrt noch im Zustand der Möglichkeiten und ist darum noch jeder Einseitigkeit fern.14 Es lebt im Zustand »seiner reinen und freyen Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit«,15 verkörpert also das, was dem Erwachsenen fehlt: die Harmonie und innere Einheit mit sich selbst. Allerdings verfügt es, solange es Kind ist, nicht über die Freiheit der Selbstbestimmung, also über seine »freye Kraft«, durch welche die Potenz zum Akt wird. Dieser Übergang von der Möglichkeit zur Tat bedeutet allerdings eine Einschränkung der »freyen Kraft« – die Erfüllung der Möglichkeiten durch den Erwachsenen vollzieht sich um den Preis des Verlustes der kindlichen Integrität. Was hier vom Verhältnis des Kindes zum Erwachsenen gesagt wird, gilt a forteriori vom Verlauf der Geschichte, der von Schiller in Analogie zum Erwachsenwerden aufgefaßt wird: Im Prozeß der menschlichen Geschichte werden Einschränkungen und Spezifizierungen nötig, durch die die Menschen einerseits ungeheure Fortschritte machen, andererseits aber entstehen Zivilisationsschäden, deren Diagnose Schiller bereits in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen gestellt hatte. Es bildet sich eine Entwicklungsdynamik heraus, die den Menschen immer mehr von seinem Ursprung entfernt, ihm Macht über die Natur verleiht, ihn aber gleichzeitig jene Harmonie und Integrität seiner Kräfte verlieren läßt, die doch seine Natur ausmachten. Man sieht: Sofern der moralische Trieb als Wesensmerkmal der menschlichen Natur nicht nur auf die potentielle, sondern auf die aktuelle Freiheit bezogen ist, trägt er die Entzweiung dieser Natur und ihre Transzendierung zur Kultur bzw. zur Geschichte bereits in sich. Was den erwachsenen Menschen aus dem Einklang mit sich und der Welt, aus dem freien Spiel der Kräfte herausreißt und ihn von seiner Natur entfremdet, ist kein äußerer Zwang, sondern seine Natur selbst. Die Erfahrung dieser Entfremdung von der Natur bildet die Grundlage für die sentimentalische Empfindung. Im Unterschied zum naiven Bewußtsein ist diese durch einen reflexiven Bezug auf die Natur ausgezeichnet; die Abwesenheit eines ursprünglichen Naturgefühls wird vom sentimentalischen Subjekt bemerkt, und Laut Peter Szondi habe Schiller der ›ersten Natur‹ Vernunft und Freiheit überhaupt abgesprochen: »Denn Vernunft und Freiheit gehören der Kultur an, nicht der ersten Natur.« Daraus folgert Szondi, Schiller lehne »nicht bloß die rousseausche Sehnsucht, sondern auch deren Gegenstand: die erste Natur [ab]« (Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische [Anm. 7], 76). Jedoch muß bedacht werden, daß bereits in der noch unvernünftigen Natur des Menschen Freiheit und Vernunft als Potenzen, als noch unbestimmte Möglichkeiten vorhanden sind. Und so können wir die erste Natur überhaupt anschauen, als wäre sie frei, als stelle sich in ihr die Idee der Versöhnung von Natur und Freiheit dar. Insofern wird die erste Natur als Gegenstand der Poesie keineswegs rundweg abgelehnt. 15 NA XX, 416. 14

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erst hierdurch tritt es in eine Relation zur Natur. Im Zeitalter der Geschichte gewinnt die verlassene Natur eine Funktion, die sie zuvor nicht besaß: Der sentimentalische Blick faßt die Natur symbolisch als Darstellung einer Idee auf, oder man kann auch sagen, daß die sentimentalische Reflexion die Natur auf eine Idee bezieht. Das sentimentalische Naturinteresse kann darum nicht als ein ästhetisches verstanden werden, sondern ist moralisch, weil es nicht an der Schönheit der Natur hängt, sondern ihm um die von der Natur dargestellte Idee zu tun ist.16 Diese Idee vermittelt jene Vorstellung eines in sich vollkommenen Daseins, aus dem die Geschichte den Menschen gerissen hat, zu dem sie ihn aber wieder führen soll. Die sentimentalisch aufgefaßte Natur erhält also eine Funktion im Geschichtsprozeß: Sie hält das Erinnerungsbild einer Vorgeschichte der Gattung wie des Individuums fest und besitzt zugleich einen futurischen Index, der das Ziel der Geschichte beschreibt. Von den Naturdingen heißt es in diesem Sinn17: »Sie sind, was wir wa r e n ; sie sind, was wir wieder we r d e n s o l l e n . Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlornen Kindheit, die uns ewig das theuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmuth erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.« Die Natur als Darstellung tendiert in einem gewissen Sinne schon von sich aus zur Kunst: Als sentimentalische ist sie immer bereits in einer bestimmten Weise aufgefaßt und reflektiert, vor allem existiert sie nur durch ihren Bezug auf die Geschichte. So, wie die Natur als moralische Natur des Menschen den Keim der Geschichte bereits in sich enthält, enthält auch die Geschichte ihre Versöhnung mit der Natur als Auftrag in sich. Die Abgrenzung der menschlichen wahren Natur von der wirklichen und von der Umwelt-Natur ist nötig, um Ursprung und Ziel des Geschichtsprozesses abzusichern: Die ›wahre‹ als moralische Natur führt notwendig in die Geschichte hinein und wieder aus ihr heraus, während die ›bloße‹ oder ›wirkliche‹ Natur des Menschen – seine Affektseite, seine Triebe und Leidenschaften – funktionslos bleibt. Geht es dagegen um die poetische Darstellung der verlorenen Natur als wiederzugewinnende, so rückt für den sentimentalischen Dichter die gesamte Natur als Darstellungsmedium in den Blick, sofern sie auf die Idee bezogen werden kann. Was die Neukonzipierung der Idylle angeht, so lassen sich die entscheidenden Merkmale der neuen Idylle aus dieser geschichtsphilosophischen Begründung der Natur ableiten: Im Unterschied zur überkommenen Idylle versucht sie gerade nicht, die modernen kulturellen Erfahrungen aus der Darstellung zu verbannen, 16 »Daraus erhellet, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Formen« (ebd., 414). 17 Ebd. (Schillers Hervorhebungen).

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nimmt diese vielmehr in sich hinein, um den Weg von Arkadien nach Elysium über den Umweg der Geschichte in sich abbilden zu können. Nicht das naive, reflexionslose Schäfertum, das zu Recht überwunden wurde, sondern die Menschen der Kultur sollen Gegenstand der Idylle werden, mithin muß die Kultur selbst in ihrer Differenz zur Natur Thema der neuen Idylle sein, ihr Fluchtpunkt aber die künftige Versöhnung beider. III. Entgegen dem oberflächlichen Anschein hat Schiller mit seiner Kritik an der Idylle keinen Bruch mit der europäischen Bukolik vollzogen, sondern lediglich mit einem ihrer vielen Ableger. Im Gegenteil läßt sich behaupten und im folgenden zeigen, daß seine Bestimmung des geschichtlichen Naturverhältnisses des modernen Menschen und der Entwurf einer geschichtsphilosophisch reflektierten idyllischen Poesie in enger Beziehung zur Renaissancebukolik stehen. Im Grunde ist der reflexive Bezug zur Natur, in der diese als verlorener, jedoch durch Poesie wiederzugewinnender Ursprung erscheint, eine Denkfigur, die im europäischen Denken zuerst durch die Bukolik etabliert wurde. Doch was zeichnet diese aus? In einem Aufsatz über Jacopo Sannazaros Arcadia stellte Winfried Wehle die These auf, um 1500 seien drei neue Welten entdeckt worden: der kopernikanische Kosmos, der Kontinent Amerika und die Landschaft Arkadien.18 Damit hat Wehle Sannazaros Arcadia sehr stark aufgewertet. Die Bedeutung des Werkes besteht ihm zufolge darin, ein antikes Modell so gründlich renoviert und modifiziert zu haben, daß es fortan zu einem der erfolgreichsten Paradigmen der europäischen Literatur werden konnte. Was dieses neue Arkadien mit dem Kontinent Amerika und dem heliozentrischen Weltbild vergleichbar mache, sei die Einführung eines neuen ästhetischen Bewußtseins, denn mit Sannazaro werde zum ersten Mal eine klare Vorstellung von Fiktion etabliert19: »Wenn es in diesem handlungsarmen Werk eine Art Handlung gibt, dann das Werden des Textes als Bewußtwerdung seiner Fiktionalität.« Diese These hat Wolfgang Iser im Bukolikkapitel aus Das Fiktive und das Imaginäre übernommen und vertieft.20 Die bukolische Entdeckung der Fiktionalität kommt seiner Auffassung nach gerade durch den Anschluß Arkadiens an die nichtarkadische Lebenswelt zustande: Schon bei Vergil bilden Rom und der Kaiser Augustus einen beständigen Bezugspunkt der Schäferwelt, und die Markierung und Winfried Wehle: Arkadien – Eine Kunstwelt, in: Die Pluralität der Welten – Aspekte der Renaissance in der Romania, hg. von Wolf-Dieter Stempel und Karlheinz Stierle, München 1987, 137-165, hier 137. 19 Ebd., 153. 20 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre – Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991, 59: »Nun gibt es in der Geschichte der Literatur einen Diskurs, in welchem literarische Fiktionalität durch das Kenntlichmachen ihres Fingiertseins in das Bewußtsein einer Epoche getrieben wurde: die Schäferdichtung der Renaissance.« 18

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Überschreitung der Grenze zwischen fiktiver und realer Welt dient bereits hier dazu, die Fiktionalität des Textes auszustellen, und damit der Selbtthematisierung der Poesie.21 Während sich die deutschen Aufklärer auf Theokrit berufen, weil dieser vermeintlich ungebrochen die Menschen der ersten, goldenen Zeit nachahme, schließt sich Sannazaro und die Renaissancebukolik nach ihm an Vergil an, weil diese Tradition die Konfrontation heterogener Welten und damit die Thematisierung von Fiktionalität ermöglicht, die von den Aufklärungstheoretikern gerade unterdrückt werden sollte. Schillers neues Idyllenkonzept, das gleichfalls ein Durchbrechen der Illusion fordert, läßt sich insofern in die Traditionslinie der Renaissance stellen. Doch aus welchem Grund erhält die Thematisierung von Fiktionalität in der Renaissance eine solche Bedeutung? Um dies zu erklären, muß das von Iser und Wehle beschriebene Fiktionalitätsbewußtsein im Erfahrungshorizont der Neuzeit fundiert werden. Der Gegensatz des Fiktiven und des Realen verweist in der Bukolik der Renaissance auf einen anderen, tieferliegenden Gegensatz, nämlich den von Ordnung und Kontingenz. Die Renaissance entdeckt deshalb die Selbstthematisierung der Poesie im Rückgriff auf die Antike, weil die Welt, von Fortuna beherrscht, keine erkennbare Ordnung mehr zu besitzen scheint. Die Kontingenz der Welt erfordert weltimmanente Strukturierung, den Entwurf einer selbstgegebenen Ordnung.22 Weil sich der poetische Text nicht auf eine innerweltlich gegebene oder verständliche Ordnung zu stützen vermag, muß dem Dichter die ästhetische Überformung und Restrukturierung der Wirklichkeit als fiktionaler Akt bewußt werden. Die ästhetische Selbstbegründung wird in ähnlicher Weise wie die politische Selbstbegründung bei Machiavelli erforderlich durch die Erfahrung der Kontingenz.23 Was die Dichtung angeht, so erhält diese Selbstbegründung ihr Regulativ im Verfahren der Imitatio, durch die ein ästhetisches Ideal Geltung erhält, an der sich die poetische Fiktion orientieren kann, ohne dem Imitierten deshalb nachrangig zu sein. Diese Form der Selbstbegründung ästhetischer Ordnung läßt sich bei Sannazaro sehr gut erkennen. Als Erzähler dieses Werkes erscheint ein zunächst nicht näher faßbares auktoriales Ich, das erst im VII. Kapitel als Teil der Textwelt eingeführt wird, als es den anderen Schäfern seine Geschichte erzählt. Dieses Ich, das zugleich der fiktive Autor der Arcadia ist, trägt den Namen des realen Autors, Sannazaro, hat aber bei seinem Eintritt in Arkadien den bukolischen Decknamen Sincero

Vgl. ebd., 66 ff. Über die theologischen Voraussetzungen und Implikationen dieser Kontingenzerfahrung vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. M. 21988, bes. 139-259 (Teil 2: »Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung«). 23 Vgl. Maria Moog-Grünewald: Vorbemerkung, in: Kontingenz und Ordo – Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, hg. von Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 2000, VII-XIII, hier VII f. 21 22

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angenommen. Das Spiel von Realität und Fiktion wird damit an den Namen Sannazaro/Sincero selbst ablesbar, weil der reale Autor als fiktiver in seinen Text eingeht und dort eine weitere Fiktion, die Schäferexistenz, etabliert. In der Beschreibung seines Lebens betont der fiktive Sannazaro die Macht der Fortuna: Seine einst mächtige Familie wurde in Folge politischer Intrigen um ihre privilegierte Stellung gebracht, was ausdrücklich auf das Einwirken der Fortuna zurückgeführt wird.24 Auch erfahren wir im Fortgang des Werkes, daß die Region Neapel einen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Niedergang erlebt.25 Dieser allmächtigen und unergründlichen Kontingenz der Welt wird in Arkadien eine ästhetische Ordnung gegenübergestellt, die die Abschottung von Fortuna bezweckt. Über eine ästhetische Ordnung verfügt jedoch der Natur- und Landschaftsraum Arkadiens nicht von sich aus. Im Gegenteil, nicht nur die Kultur Neapels, auch Arkadien wird von den Schäfern als defizienter Abglanz einer verlorenen besseren Zeit erlebt, ist also nicht mehr identisch mit der aetas aurea, obwohl es stets auf diese verweist.26 Die Hirten, denen diese Differenz bewußt ist, sind also keine ›naiven‹, sondern ›sentimentalische‹ Subjekte, für die sowohl die Umweltnatur der Landschaft als auch die menschliche Natur heruntergekommen sind. Dies bezeugt etwa Kapitel VI, in welchem der Verlust der natürlichen Unschuld des Menschen wortreich beklagt wird. Während die Menschen der Vergangenheit durch und durch moralisch waren, hat sich ihre gegenwärtige Natur soweit verschlechtert, daß sie nur noch von ihren niedrigen Instinkten regiert werden27: »Regnan le voglie prave e le perfidïe / per la robba mal nata che gli stimula, / tal che ’lfigliuolo al padre par che insidïe.« Um den Verlust lebensweltlicher Idealität zu kompensieren, entwerfen die Hirten eine streng ritualisierte Ordnung: Der bukolische Wettgesang, die verschiedenen Formen des Spiels, die Gedächtnisrituale und Feste, in denen sie der Vorfahren gedenken und an die alte Zeit anknüpfen, all das dient der Vergegenwärtigung der einstigen Vollkommenheit des goldenen Zeitalters, das zwar ein für alVgl. Iacopo Sannazaro: Arcadia, a cura di Francesco Erspamer, Milano 1990, VII, 7 f. (die lateinische Zahl bezieht sich auf das Kapitel, lateinische Zahlen mit hochgestelltem ›e‹ auf die lyrischen Passagen des entsprechenden Kapitels, die arabische Zahl auf den Satz bzw. den Vers). 25 Vgl. die Klage Caracciolos ebd., Xe, Vs. 49-69. Hier werden die Armut der Landbevölkerung beklagt und fremde Menschen dafür verantwortlich gemacht. Dasselbe Motiv wird noch einmal ebd., XIIe aufgegriffen, wo ein allgemeiner Niedergang der Region behauptet wird, vgl. die Verse 61 ff. Ausdrücklich heißt es »Napoli non è piú tua Napoli« (ebd., Vs. 117). 26 Dies hat schon Hellmuth Petriconi deutlich hervorgehoben: »Das ganze goldene Zeitalter […] wird damit zu einem überhöhten Arkadien, zur eigentlichen Schäferwelt, so wie umgekehrt das gegenwärtige Arkadien nur als ein letzter Abglanz und unvollkommener Ersatz jenes seligen Zustandes erscheint« (Hellmuth Petriconi: Das neue Arkadien, in: Europäische Bukolik und Georgik, hg. von Klaus Garber, Darmstadt 1976, 181-201, hier 186; der Aufsatz erschien zuerst in: Antike und Abendland 3 (1948), 187-200). 27 Sannazaro: Arcadia [Anm. 24], VIe, Vs. 7-9. (»Es herrschen die bösen Lüste und der Verrat, die durch den schlechten Reichtum hervorgerufen werden, so daß sogar der Sohn dem Vater gegenüber hinterlistige Absichten hat.«) (Übersetzung hier und im folgenden: Steffen Schneider.) 24

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lemal dahin ist, auf das aber das melancholische Bewußtsein der Schäfer permanent bezogen bleibt. Diese ästhetische Ordnung hat in der Wirklichkeit keine weitere Grundlage, die Hirten geben sie sich selbst, um die Macht der Fortuna abzuwenden und das durch die Dekadenz der menschlichen Natur bedrohte Gemeinwesen zu schützen; orientiert ist diese selbstgegebene Ordnung aber an der Idee der goldenen Zeit, deren verblassendes Abbild Arkadien darstellt. Das bukolische Bewußtsein läßt sich daher in Schillers Terminologie als ›elegisches‹ bezeichnen: Es besteht in der Sehnsucht nach der verlorenen Lebensfülle und der paradiesischen Menschennatur, die von der Gegenwart in keiner Weise mehr eingeholt werden kann. Diesem elegischen Bewußtsein steht das Bewußtsein Sinceros gegenüber, der sich durch seine städtische und adlige Abstammung von den übrigen Arkadiern unterscheidet. Für Sincero stellt der Aufenthalt in Arkadien nur einen vorübergehenden Lebensabschnitt dar, den er überwinden muß und will. Für ihn bildet nicht die verlorene Natur, sondern die verlorene Kultur den Bezugspunkt, und so setzt er die Hirtenwelt verächtlich herab28: »[O]ra mi posso giustamente sovra ogni altro chiamare infelicissimo, trovandomi per tanta distanza di paese absente da lei, e forse senza speranza di rivederla giamai, né di udirne novella che per me salutifera sia. Maximamente ricordandomi in questa fervida adolescenzia de’ piaceri de la deliciosa patria tra queste solitudini di Arcadia, ove, con vostra pace il dirò, non che i gioveni ne le nobili città nudriti, ma appena mi si lascia credere che le selvatiche bestie vi possano con diletto dimorare.« Sinceros Geringschätzung der Hirtenwelt hat ihren Grund darin, daß es ihm um die Restitution der bedrohten städtischen Kultur zu tun ist. Der Durchgang durch Arkadien erweist sich jedoch als notwendige Voraussetzung dafür, weil er hier eine Erfahrung der Idealität macht, die ihm eine Reform der Kultur erst ermöglicht. In Arkadien vertieft sich für Sincero der dreifache neapolitanische Verlust – der Verlust der Liebsten, der familiären Machtstellung, der angedeutete Niedergang Neapels – zu einer existentiellen Erfahrung, die ihm die Möglichkeit gibt, über die Beziehungen des Menschen zur Natur und über die Natur des Menschen nachzudenken, wobei er zu Ergebnissen kommt, die in wichtigen Punkten auf Schillers spätere Bestimmung der Natur vorausweisen. Wir haben gesehen, daß für Schiller der Sinn, den die Natur im sentimentalischen Bewußtsein besitzt, nicht in ihrer Schönheit besteht, sondern darin, daß sie moralisch gesehen, das heißt durch eine Idee vermittelt wird. Die Idee, welche sich in der Natur darstellt, ist die des verlorenen Ursprungs, den die Geschichte wieder Ebd. VII, 17 f. (»Jetzt kann ich mich zu Recht unglücklicher als jeden anderen nennen, da ich soweit von ihr entfernt bin und vielleicht ohne Hoffnung, sie jemals wiederzusehen noch von ihr Neues zu hören, das für mich erfreulich wäre. Besonders da ich mich in dieser lebhaften Jugendzeit an die Vergnügungen des reizvollen Vaterlands erinnere, ausgerechnet hier inmitten dieser arkadischen Einsamkeit, wo sich, wie ich ohne euch verletzen zu wollen sagen muß, nicht nur die Jünglinge aus den edlen Städten nicht gerne aufhalten, sondern nicht einmal die wilden Tiere.«) 28

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einholen soll29: »Sie [die Naturdinge; S.S.] sind, was wir wa r e n ; sie sind, was wir wieder we r d e n s o l l e n .« Und: »Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlornen Kindheit, die uns ewig das theuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmuth erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhaben Rührung versetzen.« Für Sincero repräsentiert die arkadische Landschaft einerseits ein Bild der früheren menschlichen Unschuld, von dem er sich durch seine Leiderfahrungen geschieden weiß, andererseits aber zeigt sie ihm überall die entzogene Geliebte30: »E’ mi pare che le concave grotte, i fonti, le valli, i monti, con tutte le selve la chiamino, e gli alti arbusti risoneno sempre il nome di lei. Tra i quali alcuna volta trovandomi io, e mirando i fronzuti olmi circondati da le pampinose viti, mi corre amaramente ne l’animo con angoscia incomportabile quanto sia lo stato mio difforme da quello degli insensati alberi, i quali, da le care viti amati, dimorano continuamente con quelle in graziosi abracciari; e io per tanto spazio di cielo, per tanta longinquità di terra, per tanti seni di mare dal mio desío dilungato, in continuo dolore e lacrime mi consumo.« Ähnlich wie bei Schiller stellt die Landschaft zunächst einmal eine Erinnerung an den entzogenen Ursprung dar. In der Natur bleibt das einstige unbeschwerte Lieben der arkadischen Menschen als Erinnerung in der nichtmenschlichen Natur gegenwärtig: Die Bäume werden von den Reben geliebt und befinden sich in einer ununterbrochenen Umarmung. Diese Reminiszenz verweist auf das menschliche Liebesglück der aetas aurea, so daß die Natur als Repräsentation eines menschlichen Idealzustands aufzufassen ist, von dem sich Sincero geschieden weiß. Als Verkörperung des verlorenenen Paradieses wird sie zum Reflexionsraum eines, mit Schiller zu reden, ›sentimentalischen‹ Bewußtseins und ermöglicht so die Erkenntnis der menschlichen Natur aus der Differenz zur Umweltnatur, denn bei ihrer Betrachtung kommt Sincero endgültig zu Bewußtsein, wie sehr sein Zustand »von dem jener fühllosen Bäume verschieden ist«. In der Landschaft erkennt der Mensch seine ihm eigentümliche Natur: Er wird des Mangels inne, der ihn auszeichnet. Die Naturdarstellung in der Arcadia enthält also eine ›anthropologische‹ Dimension: Die Landschaft ist der Ort, an dem der Mangel und die Abwesenheit des Ideals erfahren und zugleich rituell verkörpert werden. Die Hirten der Arcadia sind also keine Repräsentanten der ersten unschuldigen Menschheit, wie es Gottsched wollte; aber sie sind auch nicht einfach NA XX, 414 (Schillers Hervorhebungen). Sannazaro: Arcadia [Anm. 24], VII, 21 f. (»Mir kommt es vor, als riefen die Höhlen, Quellen, Täler, Berge und alle Wälder sie und als hallte in den hohen Sträuchern immer ihr Name wider. Wenn ich mich bisweilen zwischen denen befinde und die dichtbelaubten, von blättrigen Reben umwundenen Ulmen betrachte, dann kommt es mir bitter und mit unerträglicher Kümmernis zu Bewußtsein, wie sehr mein Zustand von dem jener fühllosen Bäume verschieden ist, die, von den teuren Reben geliebt, mit diesen unaufhörlich in anmutiger Umarmung vereint sind; und ich verzehre mich in endlosem Schmerz und in Tränen, weil ich durch soviel Himmelsraum, durch soviel Landstrecke, durch soviele Meerbusen von meinem Begehren getrennt bin.«) 29 30

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maskierte Kulturwesen. Eher sind es ›sentimentalische‹ Menschen im Naturzustand, ohne spezifische soziale oder individuelle Merkmale, so daß die menschliche Natur, die in der Erfahrung sich entziehender Idealität und Fülle begründet wird, hervorgehoben werden kann. Wenn Schiller drei Jahrhunderte später das Wesen der sentimentalischen Einstellung als Sehnsucht nach der verlorenen Einheit beschreibt, so gründet diese Charakterisierung in dem Menschenbild, das mit dem Paradigma der Arcadia in die europäische Literatur Einzug hielt. Die Natur besitzt in der Arcadia drei Funktionen, die sie noch bei Schiller besitzen wird: Erstens verkörpert sie als stilisierte Landschaft eine fiktionale Ordnung, die der Kompensation eines lebensweltlichen Ordnungsverlusts dient; zweitens wird diese ästhetische Ordnung in einer übergeordneten Idee begründet, erhält also ihren Sinn als ›moralische‹ Natur, sofern sie als Abbild der ersten goldenen Zeit konzipiert ist. Drittens ermöglicht die Erfahrung der äußeren Natur eine Reflexion auf die innere Natur, führt also zu einer Reflexion auf das Wesen des Menschen und seine Subjektivität. Der Naturbezug der Arcadia ist durchgängig reflexiv. Damit eröffnet sich ein Spielraum unterschiedlicher Naturkonzeptionen und Empfindungsweisen der Natur, deren das Werk zwei vorführt: den melancholischen Rückbezug der Hirten auf die verlorene Zeit und das vorwärtsgewandte Denken Sinceros / Sannazaros, der nach seiner Erfahrung der arkadischen Idee zu einem neuen poetischen Sendungsbewußtsein gelangt. Dies führt zu einer letzten Frage, die im Hinblick auf Schiller von Bedeutung ist, nämlich zur Frage nach der Rolle der Poesie im Prozeß der Vermittlung von Natur und Kultur.

V. Nachdem Sincero den Hirten seine Geschichte erzählt hat, tröstet ihn Carino mit der Versicherung, Sincero werde künftig höchste poetische Fama erlangen. Zunächst werde er den ungehobelten Stil der Hirtenlieder, die er bei den Hirten gehört habe, auf ein neues Niveau heben, bevor er sich größeren Aufgaben zuwenden werde.31 Implizit liegt hier ein Vergleich mit Vergil vor, denn die Verheißung einer würdevollen Weiterführung durch Sincero wird durch den Text der Arcadia, deren »E io in guidardone ti donerò questa sampogna […] con la quale spero che, se da li fati tuoi non ti è tolto, con piú alto stile canterai gli amori di fauni e di ninfe nel futuro. E sí come insino qui i principî de la tua adolescenzia hai tra semplici e boscarecci canti di pastori infruttuosamente dispesi, cosí per lo inanzi la felice giovenezza tra sonore trombe di poeti chiarissimi del tuo secolo, non senza speranza di eterna fama, trapasserai« (ebd., VII, 32). (»Und zum Lohn werde ich dir diese Flöte geben, mit der du, hoffe ich, wenn dein Schicksal dich nicht daran hindert, in einem höheren Stil die Liebeshändel der Faune und Nymphen in Zukunft besingen wirst. Und so, wie du bis jetzt die Anfänge deiner Jugendzeit zwischen einfachen Hirtenliedern fruchtlos vergeudet hast, so wirst du in Zukunft deine glückliche Jugend zwischen klangvollen Trompeten hochberühmter Poeten deines Jahrhunderts verbringen, nicht ohne Hoffnung auf ewigen Ruhm.«) 31

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fiktiver Autor er ist, erfüllt. Doch die Bukolik ist Carino zufolge nur eine Vorstufe zu höherem Ruhm. In ähnlicher Weise wurde bekanntlich das Dichterschaffen Vergils, die ›rota Virgilii‹, gedeutet als ein Fortschreiten von der Hirten- über die Landlebensdichtung hin zum großen Epos, mit dem sich Vergil unsterblichen Ruhm verschaffte.32 Im 10. Gesang wird diese Nachfolge Vergils explizit. Hier betreten die Hirten den Pantempel, wo sie die Flöte bewundern, welche Pan an Theokrit und an Vergil vererbt habe und die dieser schließlich im Pantempel hinterließ, zum Zeichen, daß er mit der Bukolik abgeschlossen hatte. Sincero tritt dieses Erbe an, indem er die antike Hirtendichtung Vergils imitierend und variierend wiedererstehen läßt. Doch wie der Abschied von der ›Sampogna‹ im Schlußkapitel der Arcadia anzeigt, handelt es sich dabei nur um eine Vorstufe zu größerem Schaffen. Daraus ergibt sich aber auch, daß die Imitatio der Bukolik für Sannazaro nicht das eigentliche Ziel seiner Dichtung darstellt. Schon gar nicht darf die imitierte Antike gar mit der Idee, um der es der Bukolik geht, gleichgesetzt werden.33 Die Imitatio ist letztlich sekundär, sie bleibt ein Mittel, um die Perfektion des poetischen Stils zu erreichen, die notwendig ist, um das eigentliche Ziel, die Versöhnung von Kultur und Natur, heraufzuführen und damit ein neues goldenes Zeitalter zu begründen. Die Poesie wird damit zum Mittel der Restitution der Kultur. So jedenfalls deute ich die Neapelvision im elften Gesang, die eindeutig utopische Bedeutung hat. In der Beschreibung Neapels nämlich werden Natur und Kultur, Fortuna und Ordnung als miteinander versöhnt dargestellt – und dies, obwohl wir aus anderen Textstellen wissen, daß es in Wirklichkeit ganz anders bestellt ist. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Tatsache, daß sich diese Vision bei Sincero einstellt, als er einem Lied des Schäfers Ergasto zuhört34: »Che già mentre quelli versi durarono, mi parea fermamente essere nel bello e lieto piano che colui dicea, e vedere il placidissimo Sebeto, anzi il mio napolitano Tevere […]«. Die bukolische Dichtung entrückt den zuhörenden Dichter, wird zur eigentlichen Quelle der InZur ›rota Virgilii‹ siehe Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 238. 33 Dies ist die These Helmut J. Schneiders zur Renaissancebukolik: »Das goldene Zeitalter der humanistischen Bukolik war der Mythos der vergilischen Bucolica als ein ferner und vergangener Gegenstand der literarischen Nachahmung. Für die Renaissance bedeutete ja überhaupt die vergangene Antike ein verlorenes Paradies, das durch die Nachahmung der antiken Texte wiedergewonnen oder zumindest als Abglanz in die schlechtere Gegenwart geholt werden sollte. […] Der poetische Hirt stellte, soweit er überhaupt ›etwas darstellte‹, den Imitator antiquitatis dar; man könnte die pastorale Fiktion daher als Mimesis von Imitatio bezeichnen. Die ›geistige Landschaft‹ Arkadiens war eine durch ihren klassischen Ursprung geweihte Textlandschaft, die man durch Imitatio betreten und in der man mit den Vorgängern und humanistischen Kollegen kultivierten Umgang pflegen konnte« (H.J. Schneider: Antike und Aufklärung [Anm. 5], 24). Was durch die Imitatio geleistet wird, ist aber doch etwas anderes als die Wiederbringung des goldenen Zeitalters antiker Poesie, es ist vielmehr eine Vorstellung idealer Vollkommenheit, die so auch in der Antike nie realisiert wurde. 34 Sannazaro: Arcadia [Anm. 24], XI, 2. Die Übersetzung in Anm. 35. 32

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spiration einer Poesie, in der die Bukolik dann überwunden und verlassen wird, wie der Fortgang des Textes belegt. So faßt diese Stelle den arkadische Entwicklungsroman Sinceros, die Transzendierung der Bukolik nach der Arkadienerfahrung, prägnant zusammen. Was sich einstellt, ist eine neue Poesie mit utopischer Funktion – eine nichtarkadische Idylle im Sinne Schillers, in der sich Natur und Kultur in Harmonie befinden35: »Che già mentre quelli versi durarono, mi parea fermamente essere nel bello e lieto piano che colui dicea, e vedere il placidissimo Sebeto, anzi il mio napolitano Tevere, in diversi canali discorrere per la erbosa campagna, e poi tutto inseme raccolto passare soavemente sotto le volte d’un picciolo ponticello, e senza strepito alcuno congiungersi col mare. Né mi fu picciola cagione di focosi sospiri lo intender nominare Baie e Vesuvio, ricordandomi de’ diletti presi in cotali luoghi. Coi quali ancora mi tornaro a la memoria i soavissimi bagni, i maravigliosi e grandi edifici, i piacevoli laghi, le dilettose e belle isolette, i sulfurei monti, e con la cavata grotta la felice costiera di Pausilipo, abitata di ville amenissime e soavemente percossa de le salate onde. E appresso a questo, il fruttifero monte sovraposto a la città, e a me non poco grazioso per memoria degli odoriferi roseti de la bella Antiniana, celebratissima ninfa del mio gran Pontano. A questa cogitazione ancora si aggiunse il ricordarmi de le magnificenzie de la mia nobile e generosissima patria: la quale, di tesori abondevole e di ricco e onorato populo copiosa, oltra al grande circuito de le belle mura contiene in sé il mirabilissimo porto, universale albergo di tutto il mondo, e con questo le alte torri, i ricchi templi, i superbi palazzi, i grandi e onorati seggi de’ nostri patrizî, e le strade piene di donne bellissime e di leggiadri e riguardevoli gioveni. […] E sopra tutto mi piacque udirla comendare de’ studî de la eloquenzia e de la divina altezza de la poesia […].« Ebd., XI, 2-7. (»Denn schon während jene Verse erklangen, kam es mir als gewiß vor, daß ich mich in der schönen und heiteren Ebene befand, von der er sprach, und daß ich den ruhigen Sebeto, ja sogar meinen neapolitanischen Tiber sah, der sich in verschiedenen Kanälen durch das grüne Land ergoß, die dann alle wieder versammelt sanft unter den Bögen eines kleinen Brückleins hindurchflossen und sich ohne jeden Lärm mit dem Meer vereinten. Auch war für mich kein geringer Anlaß zu heißen Seufzern, daß ich Baia und Vesuvio nennen hörte und mich an die dort erfahrenen Freuden erinnerte. Mit denen mir dann auch die angenehmen Thermalbäder, die wunderbaren und großartigen Gebäude, die vergnüglichen Seen, die liebreizenden und schönen Inselchen, die schwefligen Berge und mit der ausgewaschenen Grotte die glückliche Küste des Posillipo wieder einfielen, die von äußerst anziehenden Landhäusern besiedelt und sanft von den salzigen Wellen umspült wird. Und nahebei der fruchtreiche Berg über der Stadt und die duftenden Rosengärten der schönen Antiniana, der hochberühmten Nymphe meines großen Pontano, an die ich mich so gerne erinnere. Zu diesen Gedanken kam noch hinzu, daß mir die Großartigkeiten meiner edlen und großzügigen Vaterstadt einfielen: welche von Schätzen überbordet und voller wohlhabender und ehrbarer Leute ist und außer dem großen Rund der schönen Mauern einen wunderbaren Hafen besitzt, der eine Herberge für die ganze Welt darstellt, und dazu die hohen Türme, die reichen Kirchen, die prachtvollen Paläste, die großartigen und geehrten Wohnsitze unserer Patrizier, und die Straßen voller wunderschöner Frauen und reizender und hervorragender Jünglinge. […] Und ganz besonders gefiel es mir, daß sie gelobt wurde aufgrund der Studien der Beredsamkeit und der göttlichen Höhe der Poesie.«) 35

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Die Darstellung beginnt mit einer Beschreibung der Natur, die bereits mit Elementen der Kultur – mit »canali«, einem »picciolo ponticello«, mit »maravigliosi e grandi edifici« – durchsetzt ist. Diese Landschaft geht über in eine Kulturlandschaft, der Obst- und Rosenanbau wird genannt, worauf schließlich die kommerziellen und politischen Vorzüge hervorgehoben werden, bevor die Vision in der Darstellung der humanistischen Kultur gipfelt. Landschaft und Stadt, Natur und Kultur, menschliche Fähigkeit und äußere Disposition befinden sich in vollkommener Harmonie. Jene Vorhersage Carinos, daß sich Sinceros Poesie in größeren Zielen als der Hirtenpoesie erfüllen werde, verweist auf Neapel als Ort des kulturellen Lebens, an dem sich der Dichter beteiligen will. Zwar enttäuscht die reale Erfahrung bei der Rückkehr Sannazaros nach Neapel diese Hoffnung einer Aufhebung der kontingenten Welt in einer vollkommenen Ordnung. Aber die Vorstellung ihrer Möglichkeit als eine ästhetische Utopie wurde ihm erst durch die Begegnung mit Arkadien gegeben, dem Land, in dem sich ihm die Natur und die Poesie erschlossen. Worin also besteht, zusammenfassend, die Funktion der Dichtung in der Arcadia? Dichtung wird begründet im epochalen Widerstreit von Kontingenz und Ordnung, den sie aufheben will. Die ästhetische Ordnung, auf deren Herstellung Poesie zielt, wird bezogen auf eine verlorene Idee, aber dieser Rückbezug dient, wenigstens für Sincero, nicht einfach der Wiederherstellung von schon Dagewesenem, sondern der Neubegründung eines noch nicht Dagewesenen. Auch reicht die Idee der Dichtung über die Herstellung eines Werkes und über das stilistische ImitatioIdeal hinaus: Sie zielt auf eine Beteiligung am Prozeß der Kultur, durch Vorwegnahme des Idealzustandes. Um die berühmte Formulierung Schillers abzuwandeln: Sannazaro kann seine Rolle als Sincero abwerfen, weil er durch die Begegnung mit Arkadien eine Vorahnung von Elysium erworben hat und diese in der Stadtidylle poetisch realisiert. Die Aufgabe der Dichtung ist die Vermittlung der Realität mit diesem Ideal. Die späteren geschichtsphilosophischen Begründungen der Poesie durch Schiller und die Frühromantiker haben ihren Vorläufer in dieser Dichtungskonzeption der Bukolik, in der in Wahrheit nie eine künstliche, von der Welt abgeschottete Idylle gezeichnet wurde, sondern die nur als ein Raum verstanden werden kann, in dem die Beziehung von Natur und Kultur durch Poesie vermittelt, reflektiert, experimentell und spielerisch ausgelotet wird. Anders, als Schillers verharmlosende Darstellung der Schäferdichtung in Über naive und sentimentalische Dichtung es vermuten ließ, stehen sowohl sein Naturbegriff als auch die Funktionsbestimmung der Poesie in einer engen Beziehung zur Bukolik. Für Schiller wie für Sannazaro stellt die als Landschaft wahrgenommene Natur einen Raum der Innerlichkeit, der Memoria und der Idealität dar, die von einem naturalistischen oder empiristischen Naturverständnis abgegrenzt wird. Bei beiden dient die Naturerfahrung gerade nicht der Ablenkung von Zivilisationsmühen, sondern stellt die Subjekte vor die Aufgabe, die Kultur durch Poesie auf einen Höhepunkt zu führen, an dem sich der Kreis schließt und Natur in und durch Zivilisation gerettet ist. Damit soll nicht die völlige Identität beider Positionen be-

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hauptet, sondern lediglich der Nachweis erbracht werden, daß es eine bukolische ›Denkfigur‹ oder ›Denkgewohnheit‹ gibt, deren Charakterisierung eine Kontinuität sichtbar werden läßt, wo wir sonst gewohnt sind, mit scharfen Epochenzäsuren zu arbeiten. Gewiß: Der Gegensatz von Kontingenz und Ordo, der für die Renaissance-Episteme so fundamental ist, unterscheidet sich deutlich vom Schillerschen Begriffspaar Kultur und Natur, weil der Prozeß der Kultur (bzw. der Geschichte) eine immanente Teleologie impliziert, die der kontingenten Welt der frühen Neuzeit gerade abzusprechen ist. Doch rechtfertigt diese Tatsache es nicht, jegliche Kontinuität über Epistemeschwellen hinweg abzustreiten, denn bei aller Verschiedenheit sind beide Begriffspaare letztlich funktional äquivalent und gehen in dem Sinn auseinander hervor, daß das späte 18. Jahrhundert sich am Bestand des früheren Denkens abzuarbeiten hat. Eine solche Arbeit der begrifflichen Durchdringung und Neukonzipierung des ›Ererbten‹ leistet Schillers Abhandlung – nicht nur in den wenigen Seiten über die Idylle, sondern insgesamt, indem sie eine Lösung sucht für die Aufgabe, die die Bukolik und das mit ihr erwachte neue ästhetische Bewußtsein der Moderne gestellt hat: das Naturverhältnis von Poesie zu bedenken.

natur als pe r spektivpunkt de r me dizin und anthropolog ie

Schillers Leben mit der Krankheit im Kontext der Pathologie und Therapie um 1800 Von Dietrich von Engelhardt

I. Zusammenhänge Die Erkenntnis von Hippokrates (um 460 - um 370 v. Chr.): »Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat. Quae ferrum non sanat, ignis sanat«, »was die Medikamente nicht heilen, heilt das Eisen; was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer«, stellt Friedrich Schiller (1759 -1805) bekanntlich den Räubern (1781) als Motto voran;1 ausgespart bleibt allerdings die für Hippokrates entscheidende Fortsetzung, die auch über Schillers Leben stehen könnte: »Quae vero ignis non sanat, insanabilia reportari oportet«, »was aber das Feuer nicht heilt, muß als unheilbar hingenommen werden«. Von Goethe (1749 -1832) stammt die ebenso zutreffende Beobachtung über den inneren Zusammenhang von Krankheit und Kunst bei Schiller, an deren Sinn zum Abschluß dieser Studie mit einem Wort von Marcel Proust (1871-1922) erneut erinnert werden soll: »seine durchgewachten Nächte haben unseren Tag gehellt.«2 Das Thema ›Schillers Leben mit der Krankheit im Kontext der Pathologie und Therapie um 1800‹ richtet den Blick auf die Verbindung von Biographie, Ergographie, Pathographie und Medizingeschichte. Ergographie meint das Werk als Kreativität und Gehalt, als produktiven Akt sowie als Kunstwerk in Form und Inhalt. Pathographie besitzt unterschiedliche Bedeutung, steht in einer langen Tradition und gewinnt in der Gegenwart in Medizin- und Wissenschaftsgeschichte wie ebenfalls in den Geisteswissenschaften – nach Zeiten der Vernachlässigung und Diskreditierung – wieder an Beachtung.3 Krankheitsgeschichte (Objektivität) steht der Krankengeschichte (Subjektivität) gegenüber; Medizin muß beide Seiten in einen Ausgleich bringen. Ontologie der Krankheit ist von Ätiologie zu unterscheiden, die ihrerseits abweichend verstanden werden kann. Krankheit und Leben sind ebenfalls nicht identisch; Gesundheit und Krankheit bestehen nebeneinander, Krankheit 1 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Hier: NA III, 2. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Schillers Todtenfeyer (1805), in: Ders.: Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, 1. Abt., Bd. XVI, Weimar 1894, 561-569, hier 564. 3 Vgl. Dietrich v. Engelhardt: Pathographie – historische Entwicklung, zentrale Dimensionen, in: Wahn Welt Bild, hg. von Thomas Fuchs u.a., Heidelberg 2002, 199-212; Susanne Hilken: Wege und Probleme der psychiatrischen Pathographie, med. Diss. Aachen 1993; Krankengeschichte: Biographie – Geschichte – Dokumentation, hg. von Dieter Janz, Würzburg 1999; Wilhelm Preuss: Zur Biographik in Psychologie und Medizin, med. Diss. Würzburg 1985.

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schließt berufliche Tätigkeit, soziale Kontakte, Lebensfreude und künstlerisches Schaffen keineswegs aus. Kreativität meint aber nicht nur Aktivitäten und Leistungen in den Wissenschaften und Künsten, sondern ebenso das Engagement und die Tätigkeit als Politiker, Lehrer, Jurist, Schüler oder Mutter; Pathographie ist deshalb auch nicht notwendig auf bedeutende Menschen begrenzt. Beachtung verlangt im übrigen der jeweils etablierte Stand der Medizin in Diagnostik und Therapie mit seinen Auswirkungen auf Leben, Krankheit und Produktivität. Einfluß übt schließlich auch der sozialkulturelle Kontext mit seinen Wertorientierungen, Verhaltensmustern und faktischen Gegebenheiten aus. Die theoretischen Überlegungen zu Pathographie und konkreten Umsetzungen des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers (1883 -1969), der sich zu Leben und Werk von Hölderlin (1770 -1843), Nietzsche (1844 -1900), van Gogh (1853 -1890) und Strindberg (1849 -1912) geäußert hat, verdienen in diesem Zusammenhang weiterhin Beachtung: »Die Zeitgestalt ist zu erkennen erstens im biologischen Ablauf, zweitens in der inneren Lebensgeschichte, drittens in Leistung und Werk des Menschen.«4 Von bleibendem Gewicht sind auch die Warnungen von Jaspers: Korrelationen mit Kausalitäten nicht zu verwechseln, naturwissenschaftliches Erklären und geisteswissenschaftliches Verstehen zu unterscheiden und zugleich zu verbinden sowie sich der Grenzen der Psychologie in der Ableitung des Werkes aus der Biographie bewußt zu sein. Leistungen und Werke in den Wissenschaften und Künsten können nicht unmittelbar auf Ereignisse des Lebens zurückgeführt werden. Krankheiten hängen keineswegs nur von psychosozialen Voraussetzungen ab. Die Freiheit des Menschen setzt jeder wissenschaftlichen und statistisch fundierten Interpretation oder Klassifikation Grenzen; das trifft nach Jaspers für die Biologie, Soziologie wie Psychologie zu, die zu jeweils fachspezifischen Verabsolutierungen neigen und damit unhaltbare anthropologische Konzepte begünstigen oder hervorbringen. II. Schillers medizinische Ausbildung und ärztliche Tätigkeit Schiller absolviert nach der üblichen Grundausbildung 1767 -1772 in der Lateinschule in Ludwigsburg von 1773 -1775 die schulische Weiterbildung an der Karlsschule in der Solitude in Ludwigsburg und nach einem kurzfristigen Jurastudium von 1776 -1778 an der Hohen Karlsschule – nun in Stuttgart – ein für die damalige Zeit übliches Studium der Medizin, für das er sich selbst entschieden hat und das ihm offensichtlich auch zusagt.5 Die Fächer umfassen in Übereinstimmung mit der Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie [1913], Berlin/Heidelberg 91973, 563. 5 Vgl. Thomas Neville Bonner: Becoming a Physician – Medical Education in Great Britain, France, Germany, and the United States, New York 1995; Thomas H. Broman: The Transformation of German Academic Medicine, 1750-1820, Cambridge 1996; Theodor Puschmann: Geschichte des medicinischen Unterrichts von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig 1889 [engl. New York 1966]; Wilhelm 4

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Studienordnung der Zeit naturwissenschaftliche und medizinische Disziplinen, zu denen stets auch Medizingeschichte gehört, wie ein Lehrplan für das Jahr 1777 mit den verantwortlichen und als qualifiziert geltenden Professoren dokumentiert: Chemie (Chr. G. Reuß); Naturgeschichte (Chr. G. Reuß); Medizingeschichte ( J. F. Consbruch); Anatomie (C. Klein); Physiologie ( J. F. Consbruch); Arzneimittelkunde (Chr. G. Reuß); Chirurgie (C. Klein); Pathologie ( J. F. Consbruch); Therapie ( J. F. Consbruch). Der klinische Unterricht wird in der eigenen Krankenabteilung der Karlsschule und in Krankenanstalten der Hauptstadt absolviert. Überliefert sind Zeugnisse der Professoren über den Studenten Schiller, die für die verschiedenen Jahre ein bestimmtes Leistungs- und Interessenprofil erkennen lassen. Im Jahr 1776 lauten die Urteile: Chemie: gut, Physik: ziemlich gut, Botanik: fleißig, Anatomie: sehr gut, Pathologie und Therapie: gut, Zeichnen und Modellieren: mittelmäßig; neben den alten Sprachen Englisch: sehr gut und Französisch: ziemlich gut; als schlecht gelten Schillers Fähigkeiten im Reiten, als recht gut wird Schiller wiederum im Verhalten (Conduite) wie ebenfalls gut in Religion beurteilt. Lehre, Forschung und Unterricht in der Medizin der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stehen unter einer Reihe theoretischer und praktischer Ansätze und Initiativen, die auch für Schiller in der Karlsschule eine Rolle spielen.6 Seine Ausbildung und Praxis sind vor diesem Hintergrund an der Medizin der Aufklärung und nicht der romantischen Medizin oder spekulativen Naturphilosophie um 1800 orientiert. Organisches Leben soll sich nach mechanischen Gesichtspunkten nicht angemessen erfassen lassen; es gibt eine spezifische Lebenskraft. Albrecht von Haller (1708 -1777) mit seinen Beiträgen zur Physiologie (Sensibilität, Irritabilität) gilt die besondere Schätzung. Beachtet wird die neuropathologische Schrift De abscessibus per materiam et ad nervos (1755) von Johann Gottfried Brendel. Ebenso entspricht Ernst Platners (1744 -1818) Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1772, 21790) Schillers Vorstellungen. Krankheiten sollen jeweils einen bestimmten örtlichen Sitz im Körper haben und mit der Seele in Wechselbeziehungen stehen. Neue therapeutische Verfahren werden rezipiert und wie die Kuhpockenimpfung in der eigenen Familie eingesetzt. Elektrizität kann nach Schiller eine Behandlungsmöglichkeit darstellen, Skepsis besteht gegenüber Mesmers animalischem Magnetismus. Theopold: Der Herzog und die Heilkunst – Die Medizin an der Hohen Carlsschule zu Stuttgart, Köln 1967; Kai Torsten Kanz: Die Naturgeschichte (Botanik, Zoologie, Mineralogie) an der Hohen Karlsschule in Stuttgart (1772-1794), in: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg 148 (1993), 5-23. 6 Als repräsentativ für diese Zeit können die folgenden Beiträge gelten: B. Ramazzin: De morbis artificum diatriba (1700); H. Boerhaave: Institutiones medicae (1708); G. E. Stahl: Theoria medica vera (1708); A. v. Haller: De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus (1753); D. H. Gaub: Institutiones pathologiae medicinalis (1758); C. F. Wolff: Theoria generationis (1759); J. L. v. Auenbrugger: Inventum novum (1761); J. G. Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneykunst (1763/64); G. B. Morgagni: De sedibus et causis morborum (1761); F. K. Medicus: Von der Lebenskraft (1774); F. A.

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Der Mensch ist für seine Gesundheit verantwortlich und kann selbst zur Lebensverlängerung beitragen. Medizinische Ethik bezieht sich auf den Arzt wie Patienten. Der Staat hat seinerseits besondere Aufgaben der Gesundheitsvorsorge zu übernehmen. Georg Ernst Stahl (1659-1734) und damit auch Paracelsus (um 1493 -1541) gehören ihrerseits noch in das Spektrum prägender Einflüsse. Krankheit ist nach Stahl, worin ihm auch Schiller zustimmen kann, mangelhafte Herrschaft der Seele über den Körper; Stahls Formulierung findet sich in Schillers berühmter Wendung im Wallenstein (1800) vom »Geist, der sich den Körper baut«7 wieder: »Die Seele baut sich den Körper, ernährt ihn und handelt in allem in und mit ihm auf ein bestimmtes Ziel hin, wenn sie zuweilen auch von diesem Ziel abirrt.«8 Der kosmischen Erweiterung dieses Gedankens in der Medizin, wie sie zum Beispiel von dem Mediziner Heinrich Damerow (1798-1866) vertreten wird, steht Schiller dagegen distanziert gegenüber: »[D]ie Stahl’sche Seele ist die auf den Menschen concentrirte Idee der Weltseele.«9 Schiller nimmt, wie es für das Studium in jener Zeit üblich ist, jeweils gemeinsam mit anderen Studenten an verschiedenen Verteidigungen der von seinen Lehrern aufgestellten Thesen teil, veröffentlicht Sektionen und Patientenbeschreibungen und legt mehrere Dissertationen zum Abschluß des Studiums vor. Verteidigt werden von Schiller in der Medizin vor allem Thesen seines Lehrers Johann Friedrich Consbruch (1736 -1810) über Themen der Medizingeschichte, Pathologie und Rechtsmedizin (1776: Theses ex historia medicinae; 1777: Dissertatio fasciculum observationum medicarum exhibens; 1778: Theses ex parte generali pathologiae, semioticae et therapiae; 1779: Theses promiscuae ex medicina practica et forensi). Dann werden von Schiller ebenfalls Thesen seines Lehrers Christian Theophil Gottlieb von Reuss (1742 1815) über verschiedene medizinische Fragen verteidigt (1779: Theses ad materiam medicam spectantes) wie auch neben diesen Thesen in der Medizin Thesen seines philosophischen Lehrers Jakob Friedrich Abel (1751-1829) über den Ursprung der Seele (1776: Dissertatio de origine characteris animi). Zu den eigenen Publikationen gehören: Beobachtung bei der Leichenöffnung des Eleven Hiller (1778), Über die Krankheit des Eleven Grammont (1780) und vor allem die Dissertationen über grundsätzliche Mesmer: Sendschreiben über die Magnetkur (1775); J. P. Frank: System einer vollständigen medicinischen Polizey (1779 ff.); J. Brown: Elementa Medicinae (1780); J. F. Blumenbach: Über den Bildungstrieb (1781); K. P. Moritz (Hg.): Magazin der Erfahrungsseelenkunde (1783-1793); J. Gregory: Lectures on the Duties and Qualifications of a Physician (1788); L. Galvani: De viribus electricitatis in motu musculari commentarius (1791); C. F. v. Kielmeyer: Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte (1793); S. Hahnemann: Versuch über ein neues Princip zur Auffindung der Heilkräfte (1796); C. W. Hufeland: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1796); S. T. v. Sömmerring: Ueber das Organ der Seele (1796); E. Jenner: An Inquiry into the Causes and Effects of the variolae vaccinae (1798). 7 NA VIII, 258. 8 Georg Ernst Stahl: Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper [lat.1695], Leipzig 1961, 37. 9 Heinrich Damerow: Die Elemente der nächsten Zukunft der Medicin, entwickelt aus der Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1829, 160 f.

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Probleme der Medizin und Psychologie sowie über Fieberarten: Philosophia physiologiae (1779); De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum (1780); Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780).10 Dem Medizinstudium schließt sich im Dezember 1780 eine ärztliche Tätigkeit als Regimentsmedicus im Grenadierregiment des Generals Johann Abraham David von Augé (1698-1784) mit überwiegend alten und invaliden Grenadieren in Stuttgart an. Schiller muß sich um das Lazarett kümmern und wird bekannt wegen seiner Radikalkuren, nicht zuletzt in der Folge der ›Evakuationstheorie‹ des Wiener Mediziners Maximilian Stoll (1742 -1787); sein Vorgesetzter ist der Leibmedikus Johann Friedrich Elwert (1731-1787), der immer wieder Schillers hohe Dosen reduzieren läßt. Nach einer Haftstrafe im Juli 1782 wegen unerlaubter Entfernung vom Dienst mit Reisen nach Mannheim sowie dem herzoglichen Verbot literarischer Schriftstellerei verläßt Schiller am 23. September 1782 die Heimat und beendet damit seine offizielle ärztliche Tätigkeit; die für den vollständigen Abschluß des Medizinstudiums noch notwendige Prüfung in Tübingen legt er nicht ab. Der Rat des Mediziners und Mannheimer Theaterarztes Franz Anton May (1742 -1814), zur Medizin zurückzukehren, wird von ihm ebenfalls nicht befolgt.11 Zugleich bleiben das Medizinstudium und die kurze aktive Zeit als Arzt nicht unvergessen, wirken sich auf seinen Umgang mit den eigenen Krankheiten aus und schlagen sich auch in seinem Werk nieder.

III. Umgang Schillers mit der Krankheit (= Coping) Ausbildung, Beruf und publizistische Aktivitäten werden von Schillers Erkrankungen begleitet, wie sie auch von biologischen Zusammenhängen beeinflußt werden und mit seinen literarischen Texten in produktiver, formaler und inhaltlicher Hinsicht in einer Beziehung stehen. »Schwer hat mich die Hippokratische Kunst für Vgl. Kenneth Dewhurst/Nigel Reeves: Friedrich Schiller – Medicine, Psychology and Literature, Oxford 1978; Erich Ebstein: Schiller als Arzt, in: Zeitschrift für Medizinische Chemie 6 (1926), Heft 3; Joachim Bodamer: Über eine psychiatrische Beobachtung des jungen Friedrich Schiller, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 77 (1952), 754-756; Volker Hesse: Goethes und Schillers Beziehungen zur Medizin, in: Wegbereiter der modernen Medizin, hg. von Christian Fleck, Volker Hesse und Günther Wagner, Jena 2004, 311-332; Alexander Mette: Friedrich Schillers medizinisch-philosophische Jugendarbeiten, Berlin 1959; Irmgard Müller: »Die Wahrheit … von dem Krankenbett aus beweisen …« – Zu Schillers medizinischen Schriften und Bestrebungen, in: Schiller – Vorträge aus Anlaß seines 225. Geburtstages, hg. von Dirk Grathoff und Erwin Leibfried, Frankfurt a. M. 1991, 112-132; Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985; Friedrich Schiller: Medizinische Schriften, Grenzach 1959; Johannes Steudel: Schillers Krankheitsbegriff, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 97 (1955), 597-598; Theopold: Der Herzog und die Heilkunst [Anm. 5]; Alexander Witzel: Über Schillers Verhältnis zur Medizin, in: Die Medizinische (1959), 1036-1042. 11 Vgl. NA XXIII (Schiller an Wolfgang Heribert von Dalberg, Ende Juni 1784). 10

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meine Apostasie bestraft. Da ich nicht mehr ihr Jünger seyn wollte, so hat sie mich unterdeßen zu – ihrem Opfer gemacht.«12 Friedrich Schiller hat seit der Kindheit bis zu seinem Tod an verschiedenen Krankheiten zu leiden, besonders betroffene Zeiten sind die Jahre 1783, 1791, 1804 und 1805 wie naturgemäß auch die Phase, die mit seinem Tod am 9. Mai 1805 endet. Zwei diagnostische Positionen stehen sich in der medizinischen oder medizinhistorischen Forschung gegenüber,13 die sich im übrigen der grundsätzlichen Begrenztheit und Problematik einer Bestimmung von Krankheiten aus der historischen Distanz prinzipiell bewußt ist: a) Einerseits soll Schiller an einer schubweise fortschreitenden Lungen- und Darmtuberkulose nach einer Primärinfektion in der Karlsschule gelitten haben, die dann auch zur letzten Krankheit und seinem Tod geführt hat. b) Andererseits wird eine Lungenentzündung 1791 mit Abszeß, rezidivierenden Lungenentzündungen und einem Durchbruch durch das Zwerchfell im Bauchraum mit der Folge von Narben- und Strangbildungen an Dick- und Dünndarm und immer wieder auftretenden kolikartigen Darmverengungen unter entzündlicher Beteiligung des Herzmuskels für möglich gehalten, verbunden zugleich mit einer chronischen Entzündung der Stirn-, Keilbein- und Kieferhöhlen, Ursache des chronischen Schnupfens und der wiederholt auftretenden Kopfschmerzen. In der heutigen Medizin hätte Schiller erfolgreich mit einer antiviralen Therapie und mit operativen Eingriffen behandelt werden können. Über die Auswirkungen auf das literarische Schaffen und Leben kann natürlich nur spekuliert werden. Schiller ist als Kind und in der Schule immer wieder krank und kränklich, wird durchgehend beherrscht von einer vegetativen und psychischen Labilität. Mit »zerrissenem Gemüth«14 soll er 1773 die Schulzeit in der Solitude begonnen haben. NA XXVI, 157 (Schiller an Friedrich Wilhelm von Hoven, 10. Oktober 1792). Vgl. Hans Bankl: Woran sie wirklich starben, Wien 1989; Erich Ebstein: Schillers Krankheiten, Leipzig 1926; Robert Herrlinger: Schillers Krankheit, in: Pharmazie 10 (1955), 396-398; Volker Hesse: Vermessene Größen – Schiller im Wandel seiner äußeren Gestalt und seiner Krankheiten, Rudolstadt/Jena 2001; Hans Helmut Jansen: Schillers Krankheit und Tod aus pathologisch-anatomischer und klinischer Sicht, in: Pathologie 9 (1988), 187-191; Schillers Tod, hg. von Rudolf A. Kühn, Jena 1992; Anton Neumayr: Friedrich Schiller, in: Ders.: Dichter und ihre Leiden, Wien 2000, 101-203; Norbert Oellers: »Mein Kopf ist ganz wüste.« – Der kranke Klassiker Schiller, in: Ders.: Friedrich Schiller: Zur Modernität eines Klassikers – Gesammelte Aufsätze und Vorträge, hg. von Michael Hofmann, Frankfurt a. M. 1996, 9-23; Fritz Schmitt: Krankheit und Schaffen bei Friedrich v. Schiller, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 105 (1937), 1-34; Frida Teller: Die Wechselbeziehungen von psychischem Konflikt und körperlichem Leiden bei Schiller, in: Imago 7 (1921), 93126; Wilhelm Theopold: Schiller – Sein Leben und die Medizin im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1964; Wolfgang H. Veil: Schillers Krankheit – Eine Studie über das Krankheitsgeschehen in Schillers Leben und über den natürlichen Todesausgang, Naumburg/S. 1936, 21945. 14 So der Bericht seines Freundes Andreas Streicher, zit. n.: Schillers Persönlichkeit – Urtheile der 12 13

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Der ihn bei der Aufnahme untersuchende Arzt Conrad Gottlieb Christian Storr (1749-1821) erklärt ihn, abgesehen von einem »ausgebrochenen Kopf und etwas verfrörten Füßen«,15 für gesund. Auch in der Studienzeit sind immer wieder Erkältungen, Zahnschmerzen, Fieberanfälle bezeugt, wohl auch eine tuberkulöse Lungenerkrankung, die überwunden wird. In Mannheim erkrankt er an einer Form der Malaria oder eines sogenannten Wechselfiebers, auch ›gallichte Seuche‹ benannt, von der zu jener Zeit die Stadt und Umgebung als Epidemie befallen war. Der Tod am 9. Mai 1805 wird überwiegend auf eine akute Lungenentzündung und Herzversagen zurückgeführt. Von den Ärzten Wilhelm Ernst Christian Huschke (1760 -1828) und Gottfried von Herder (1774 -1806) liegt ein Sektionsprotokoll des folgenden Wortlauts vom 19. Mai 1805 vor16: »1. Die Rippenknorpel waren durchgängig und sehr stark verknöchert. 2. Die rechte Lunge war mit der Pleura von hinten nach vorne und selbst mit dem Herzbeutel so ligamentartig verwachsen, daß es kaum mit dem Messer gut zu trennen war. Diese Lunge war faul und brandig, breiartig und ganz desorganisiert. 3. Die linke Lunge war besser, marmoriert mit Eiterpunkten. 4. Das Herz stellte einen leeren Beutel vor und hatte sehr viel Runzeln, war häutig ohne Muskelsubstanz. Diesen häutigen Sack konnte man in kleine Stücke zerflocken. 5. Die Leber natürlich, nur die Ränder brandig. 6. Die Gallenblase noch einmal so groß als im natürlichen Zustande und strotzend von Galle. 7. Die Milz um 2/3 größer als sonst. 8. Der vordere konkave Rand der Leber mit allen naheliegenden Teilen bis zum Rückgrat verwachsen. 9. Die rechte und linke Niere in ihrer Substanz aufgelöst und völlig verwachsen. 10. Auf der rechten Seite alle Därme mit dem Peritoneum verwachsen. 11. Urinblase und Magen waren allein natürlich.« Dr. Huschke, der Schiller in den letzten Tagen betreute, ist über den Befund sehr beeindruckt und setzt die entsprechende Bemerkung hinzu17: »Bei diesen Umständen muß man sich wundern, wie der arme Mann so lange hat leben können.« Der Umgang des Kranken mit der Krankheit wird heute in der Medizin, Psychologie und Soziologie mit dem Ausdruck Coping (engl. to cope with = umgehen mit, bewältigen) bezeichnet und erforscht.18 Beachtet werden nach der Copingstruktur im Prinzip drei Bereiche: 1. der kranke Mensch in den Dimensionen Wahrnehmung, Beurteilung und Verhalten; 2. der Umgang des Kranken mit Zeitgenossen und Documente, hg. von Max Hecker und Julius Petersen, 3 Bde, Weimar 1904-1909 [Repr. Hildesheim 1976], Bd. I, 177. 15 Zit. n. ebd., 99. 16 Zit. n. Veil: Schillers Krankheit [Anm. 13], 49-50. 17 Zit. n. ebd., 50. 18 Vgl. George L. Engel: Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit [engl. 1962], Bern 1978; Dietrich v. Engelhardt: Mit der Krankheit leben – Grundlagen und Perspektiven der Copingstruktur des Patienten, Heidelberg 1986; Edgar Heim: Krankheit als Krise und Chance, Stuttgart 1980; Motivierung, Compliance und Krankheitsbewältigung, hg. von Franz Petermann u.a., Regensburg 2004.

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Krankheit, Therapie und dem durch die Krankheit veränderten Leben; 3.) schließlich die Voraussetzungen, die sich auf den Kranken und seinen Umgang mit Krankheit, Therapie und Leben auswirken. In anthropologischer Hinsicht besitzt die Krankheit fünf Ebenen: Raum- und Zeitgefühl, Körpergefühl, soziale Folgen und Selbstbild.

Voraussetzungen

kulturhistorisch

Patient

Verhalten

Leben Selbstbild Familie Freizeit Beruf

konstruktiv bis destruktiv

Beurteilung

Krankheit Art Stadium Ursache Prognose

Übertreibung Untertreibung Verleugnung Annahme

medizinhistorisch ethnisch sozioökonomisch

Reaktionsbereiche

Alter Geschlecht Persönlichkeit Wahrnehmung

Medizin Arzt Therapie Pflegedienst Krankenhaus

kooperativ bis unkooperativ

Abb. 1: Copingstruktur des Patienten

A. Patient: Verhalten, Beurteilung, Wahrnehmung a) Schillers Wahrnehmungen als kranker Mensch gelten somatischen und psychischen Phänomenen. Frösteln, Fieber, Stechen in der Brust, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Erstickungs- und Schwindelanfälle, Magenkrämpfe, Verstopfung, Kopfschmerzen, Zahnschmerzen, Schnupfen, Husten werden im Detail und nüchtern in Briefen, überlieferten Gesprächen oder autobiographischen Zeugnissen beschrieben. Ebenso beziehen sich die subjektiven Ausführungen Schillers auf Stimmungsschwankungen, Mutlosigkeit, Melancholie wie auf Begeisterung, Hoffnungen, Selbstbewußtsein. Hypochondrie kann sich nach Schiller im Körper wie in der Seele zeigen. Angesichts der eingeschränkten diagnostischen Methoden des 18. Jahrhunderts kommt den subjektiven Aussagen der Kranken und objektiven oder äußeren Beobachtungen der Ärzte entscheidende Bedeutung für die Therapie zu. Charakteristisch sind die Berichte Schillers über die schweren Anfälle zu Beginn des Jahres

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1791. Am 24. Mai 1791 beschreibt Schiller in einem Brief an Christian Gottfried Körner (1756 -1831) seine Wahrnehmungen und Empfindungen19: »Unter den wiederhohlten und periodisch zurückkehrenden Anfällen waren zwey, einer am Sontag vor 18 Tagen der andre am Dienstag, fürchterlich. Der Athem wurde so schwer, daß ich über der Anstrengung, Luft zu bekommen, bei jedem Athemzug ein Gefäß in der Lunge zu zersprengen glaubte. Bei dem erstern stellte sich ein starker Fieberfrost ein, so daß die Extremitäten ganz kalt wurden, und der Puls verschwand. Nur durch immer continuirtes Anstreichen konnte ich mich vor der Ohnmacht schützen. Im heißen Waßer wurden mir die Hände kalt, und nur die stärksten Frictionen brachten wieder Leben in die Glieder.« b) Die Bewertung der Krankheit fällt bei Schiller ambivalent aus, negativ wie zugleich positiv. Krisen und Leiden können auch sinnvoll sein, nicht nur für den Geist, sondern auch für den Körper. Das aus der antiken Medizin stammende Verständnis der Krise wird auch noch um 1800 vertreten. Vollständige Gesundheit kann sogar, wie Wilhelm von Humboldt (1767-1835) von Schiller erfährt, Produktivität behindern: »[E]r pflegte sogar wohl zu sagen, daß man besser bei einem gewissen, doch freilich nicht zu angreifenden Uebel arbeite.«20 Schiller weiß Krankheiten zu nutzen: »[E]in Schnupfen hinderte mich am Schreiben, da habe ich meiner Phantasie einmal den Zügel schießen laßen.«21 Krankheit und Schmerzen lenken Gedanken und Ängste auf Sterben und Tod. Schillers entsprechende Bemerkungen sind nicht sehr häufig, anders sieht es bekanntlich im dichterischen Werk aus, in dem der natürliche und unnatürliche Tod in unterschiedlichster Form durchgängig eine Rolle spielt. Im Geisterseher (4. Brief) werden die Grenzen des irdischen Lebens scharf gezogen22: »Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze und undurchdringliche Dekken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhangen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat.« Gegenüber Caroline von Wolzogen (1763 -1847) äußert sich Schiller in diesem Sinn23: »Der Tod kann kein Uebel seyn, da er etwas Allgemeines ist.« Goethe stellt im Epilog zu Schillers Glocke fest, »[d]em Leiden war er, war dem Tod vertraut.«24 c) Das Verhalten als Kranker kann Verzicht auf Therapie, Kontakte zu wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten wie auch Außenseitern, Heilpraktikern oder WunNA XXVI, 87. Wilhelm von Humboldt an Charlotte Diede, 6. September 1825, zit. n. Hecker/Petersen: Schillers Persönlichkeit III [Anm. 14], 348. 21 NA XXV, 224 (Schiller an Körner, 10. [und 12.] März 1789). 22 NA XVI, 124. 23 Caroline von Wolzogen: Schillers Leben, verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eignen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner II, Stuttgart – Tübingen 1830 [Repr. Hildesheim 2004], 272. 24 Johann Wolfgang von Goethe: Epilog zu Schillers Glocke (1815), in: Ders.: Werke XVI [Anm. 2], 163-168, hier 168. 19 20

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derheilern bedeuten; Schiller wendet sich universitär ausgebildeten Ärzten zu; als Arzt heißt Therapie bei ihm stets auch Selbsttherapie.

B. Reaktionsbereiche: Krankheit, Medizin, Leben Der kranke Mensch reagiert auf die Krankheit, auf Ärzte und Therapie sowie auf das durch die Krankheit veränderte Leben. Krankheit meint Art und Stadium, Ätiologie und Prognose, Medizin heißt Ärzte, Pflegekräfte, Diagnostik, Therapie und Hospital, Leben bedeutet Familie und Freunde, Beruf, Freizeit, Selbstbild. Die Reaktionen können jeweils einem bestimmten Typ zugeordnet werden, die allerdings nur Extreme darstellen und nach weiteren Untergliederungen verlangen. a) Auf Leiden und Schmerz wird von Schiller aktiv reagiert, wovon zahlreiche Briefe wie Beobachtungen seiner Freunde und Angehörigen Zeugnis ablegen. Am 24. Mai 1791 urteilt er in einem Brief an Körner über die Natur der schweren Attacken25: »Ueberhaupt hat dieser schreckhafte Anfall mir innerlich sehr gut gethan. Ich habe dabey mehr als ein mal dem Tod ins Gesicht gesehen, und mein Muth ist dadurch gestärkt worden.« Ebenso können diese Anfälle aber auch Gefühle der Resignation und Niedergeschlagenheit auslösen. Zu Simulation kommt es in der Karlsschule, um im Krankenzimmer Licht zum Lesen zu haben, zu Dissimulation ebenfalls immer wieder, um die Umwelt zu täuschen und zu beruhigen. Große Bedeutung wird dem Bewußtsein, der Seele oder dem Geist – in Übereinstimmung mit seinen medizinischen Dissertationen wie auch dem literarischen Werk – zugemessen26: »Philosophen und Mediziner lehren mich, wie treffend die Stimmungen des Geists mit den Bewegungen der Maschine zusammen lauten« (Die Räuber, 2. Akt, 2. Szene). Der Körper wird in cartesianischer Tradition immer wieder als Maschine verstanden; »geistiges Vergnügen« soll das »Wohl der Maschine« fördern, »geistiger Schmerz« das »Wohl der Maschine«27 untergraben können. Die Lebensweise Schillers fällt allerdings keineswegs immer gesundheitsbewußt aus. Physis wird anerkannt, Psyche steht aber höher, der Geist gibt Schiller mehr als die Natur. »Alle meine Genüße muß ich tief aus meiner Seele hervorhohlen, die Natur gibt mir nichts.«28 Übereinstimmung besteht in der Hochschätzung eines aktiven Umgangs des Menschen mit Gesundheit und Krankheit mit Immanuel Kants (1724 -1804) Schrift Von der Macht des seelischen Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu seyn (1798) wie ebenfalls mit Christoph Wilhelm Hufelands (1762-1836) Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1796, später unter dem Titel Makrobiotik). NA XXVI, 88. NA III, 38. 27 Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780), NA XX, 57, 59. 28 NA XXV, 196 (Schiller an Caroline von Beulwitz, 5. Februar 1789). 25 26

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Schillers Einschätzung der Ätiologie ist vielfältig: Natur, Psyche, aber auch Schicksal, Fortuna sollen eine Rolle bei der Krankheitsentstehung spielen. Seine eigene Prognose schätzt Schiller wenig hoffnungsvoll ein, zugleich ist er bereit, sein Los zu akzeptieren29: »Ich waffne mich mit Geduld und Ergebung, und werde mich in jedes Schicksal finden.« Der Umgang mit der Krankheit kann für Schiller als: untertreibende Akzeptanz typisiert werden. b) Die immer wiederkehrenden Erkrankungen bringen Schiller mit verschiedenen Ärzten in Kontakt, zu denen vor allem gehören: Johann Friedrich Consbruch (1736 -1810), Ferdinand Eicke (1769-?), Johann Benjamin Erhard (1766-1827), Gottfried von Herder (1774 -1806), Friedrich Wilhelm von Hoven (1759-1838), Christoph Wilhelm Friedrich Hufeland (1762 -1836), Wilhelm Ernst Christian Huschke (1760 -1828), Christian Conrad Klein (1741-1799), Christian Gottlob Reuss (1742 -1815), Johann Christian Stark (1753 -1811), Conrad Gottlieb Christian Storr (1749 -1821). In der Karlsschule spielt Conrad Gottlieb Christian Storr eine wichtige Rolle; in Weimar und Jena dominiert die Beziehung zu Johann Christian Stark. Gleichzeitig kann Schiller seine Ausbildung als Arzt nicht vergessen, stellt sich selbst Diagnosen und setzt sich kritisch mit den Diagnosen seiner Ärzte auseinander. Das Urteil von Stark über die Anfälle 1791 bestätigt Schiller in seiner eigenen Einschätzung30: »Starkens Urtheil von dieser Krankheit ist, daß Krämpfe im Unterleib und Zwerchfell zum Grunde liegen, die Lunge selbst aber nicht leide; und es ist wahr, daß dieser fürchterliche Zufall selbst der stärkste Beweis davon ist, weil ein örtlicher Fehler in der Lunge sich bei der convulsivischen Anstrengung der Respirationswerkzeuge nothwendig hätte offenbaren müssen, welches nicht geschah.« Über seine Beziehung als Patient und zugleich Arzt zu Stark heißt es in den Erinnerungen (1839) von Ludwig Friedrich Göritz (1764 -1823)31: »Er las alle Recepte, wollte die bestimmte Ursache wissen, warum dieses Mittel in dieser Quantität verschrieben worden sey, wie es wirken solle, mechanisch oder chemisch, und haderte oft mit seinem sanftmüthigen Arzt, der unaussprechliche Geduld mit ihm hatte.« Schiller schätzt Starks Fähigkeiten bei akuten offensichtlich höher ein als bei chronischen Krankheiten; kritisch äußert er sich über das diagnostisch-therapeutische Verhalten des Arztes während der Schwangerschaft seiner Frau Charlotte32: »Stark ist bey chronischen Krankheiten gar nachläßig, und hat uns beyde schon sehr versäumt.« Die Therapie ist zeitüblich, umfaßt das in der Medizin seit der Antike gültige Spektrum von Diätetik, Medikament und Operation, das auch in Schillers literarischem Werk vorkommt. 29 30 31 32

NA XXVI, 98 (Schiller an Christoph Martin Wieland, 3. Oktober 1791). Ebd., 88 (Schiller an Körner, 24. Mai 1791). Zit. n. Hecker/Petersen: Schillers Persönlichkeit II [Anm. 14], 224. NA XXVI (Schiller an Körner, 1. Juli 1793).

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Dietrich von Engelhardt Diätetik

Luft und Licht

Essen und Trinken

Materia Medica

Bewegung und Ruhe

Schlafen und Wachen

Chirurgie

Ausscheidungen

Gefühle

Abb. 2: Diätetik im Spektrum der Therapie

Aderlaß, Blutegel, Klistiere, Blasenpflaster, Opium, Vomitiva – nicht zuletzt in der Perspektive der Austreibung des Krankheitsstoffes (materia peccans) – kommen zur Anwendung, Kräutersäfte, Eselsmilch werden eingenommen, Chinarinde verschreibt sich Schiller selbst in hohen Dosen. In seiner anonym veröffentlichten Selbstrezension zu den Räubern heißt es über den Autor33: »Er soll ein Arzt bei einem wirtembergischen Grenadier-Bataillon sein […]. So gewiß ich sein Werk verstehe, so muß er starke Dosen in Emeticis ebenso lieben als in Aestheticis, und ich möchte ihm lieber zehen Pferde als meine Frau zur Kur übergeben.« Schiller verschafft sich während eines Besuches im August 1793 bei dem Arzt Eberhard Gmelin (1753-1809) in Heilbronn ein konkretes Bild über Mesmers animalischen Magnetismus, dem er bei allem Interesse aber skeptisch gegenübersteht und den er auch für seinen eigenen Krankheitszustand für keine geeignete Therapie hält.34 Die Ratschläge der Ärzte werden von Schiller zum Teil sorgfältig, allerdings keineswegs immer befolgt. Therapie heißt bei Schiller aber auch vor allem Diätetik im antiken Sinn der sex res non naturales, des therapeutischen Umgangs mit den sechs Bereichen: Luft und Licht (aer), Bewegung und Ruhe (motus et quies), Essen und Trinken (cibus et potus), Schlafen und Wachen (somnus et vigilia), Ausscheidungen (secreta et excreta) und Gefühle (affectus animi).35 ›Medizinieren‹ ist bei ihm im Unterschied zur Diätetik ein Ausdruck für medikamentöse Therapie. Wiederholt wird von frischer Luft, Bewegung, Reiten, Spaziergängen, von Kurreisen, Bädern, Selzerwasser, von Abhärtungsversuchen, Schlaf, liebevoller Zuwendung, Lektüre berichtet. Von der anregenden Wirkung des Duftes fauliger Äpfel auf Schiller ist Goethe beeindruckt, da ihm selbst dieser Geruch in Schillers Zimmer große Übelkeit verursacht36: »Ich trat soNA XXII, 131. Vgl. NA XXVI, 279 (Schiller an Körner, 27. August 1793); NA XLII, 166. 35 Vgl. Ludwig Edelstein: Antike Diätetik, in: Medizinhistorisches Journal 1 (1966), 162-174 (zuerst in: Die Antike 7 (1931), 255-270); Dietrich v. Engelhardt: Krankheit, Schmerz und Lebenskunst – Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München 1999; Peter H. Niebyl: The Non-Naturals, in: Bulletin of the History of Medicine 45 (1971), 486-492; Jean Trémolières: A History of Dietetics, in: Progress in Food and Nutrition Science 1 (1975), Heft 2, 65-114. 36 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Leipzig 1968, 585 (7. Oktober 1827). 33 34

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gleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, daß die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schiller wohltuend sei, er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.« Auf den Bereich der Gefühle beziehen sich Kunsttherapie und Psychotherapie, speziell auch die Schreib- und Lesetherapie, deren Tradition – mit Unterbrechungen oder Vernachlässigungen – von der Antike bis in die Gegenwart reicht.37 Als wohltuend empfindet Schiller die Lektüre aus Kants Kritik der Urteilskraft (1790) durch Caroline von Wolzogen während des Krankenlagers von 1791.38 Durch seine kritische Rezension der Gedichte Gottfried August Bürgers (1747-1794) fühlt er sich ebenfalls »ordentlich rekonvalesziert«, wie sich auch seine Vergilübersetzung »sehr glücklich«, wie er Körner schreibt, auf die Gesundheit auswirkt.39 Farben haben spezifische Folgen. Vor Schillers Arbeitstisch ist ein carmesinseidener Vorhang am Fenster angebracht: »Er sagte uns, daß der röthliche Schimmer belebend auf seine productive Stimmung wirke.«40 Neben Bildern und Literatur besitzt auch die Musik eine wohltuende Wirkung. Die Arie Ombra adorata aspetta aus der Oper Giulietta e Romeo (1796) des neapolitanischen Komponisten Niccolò Antonio Zingarelli (1752-1837) rührt ihn tief, wie sich Caroline von Wolzogen erinnert. »Es schien, als habe die herannahende Auflösung alle Organe seines Geistes und Gefühls geschärft.«41 Schillers Umgang mit der Medizin läßt sich als: aufgeklärt-kooperativ typisieren, bei einer zugleich immer wieder ungesunden Lebensweise, was seine literarische Produktivität allerdings weniger behindert als vielmehr stimuliert. c) Der Umgang mit dem durch die Krankheit veränderten Leben hängt wesentlich von der Familie, den Freunden und Arbeitskollegen ab; das ist auch bei Schiller nicht anders. »Ich bedarf eines Mediums, durch das ich die andren Freuden genieße.«42 Die Kontakte zur Umwelt müssen durch das Kranksein eingeschränkt und bestimmten Bedingungen unterworfen werden. Eine Einladung Goethes nimmt Schiller mit den Worten an43: »Ich bitte bloß um die leidige Freyheit, bey Ihnen krank seyn zu dürfen.« Von seinen Angehörigen und Freunden erfährt der Dichter immer wieder Verständnis und Unterstützung, Ratschläge und Anregungen. Johann Heinrich Voß d. J. (1779 -1822), der im Patientenverhalten zwischen Schiller 37 Vgl. Bibliotherapie – Arbeitsgespräch der Robert Bosch Stiftung 1985 in Stuttgart, hg. von Dietrich v. Engelhardt, Gerlingen 1987 (= Materialien und Berichte, Bd. 23); Peter Petersen: Der Therapeut als Künstler – Ein integrales Konzept von Psychotherapie und Kunsttherapie, Paderborn 1987, 42000; Using Bibliotherapy – A Guide to Theory and Practice, ed. by Rhea Joyce Rubin, Phoenix (Arizona) 1978; Therapien im Zusammenspiel der Künste, hg. von Walther Zifreund, Tübingen 1996. 38 Vgl. Wolzogen: Schillers Leben II [Anm. 23], 83. 39 NA XXVI, 104 (Schiller an Körner, 24. Oktober 1791). 40 Wolzogen: Schillers Leben II [Anm. 23], 227. 41 Ebd., 273. 42 NA XXV, 4 (Schiller an Körner, 7. Januar 1788). 43 NA XXVII, 39 (Schiller an Goethe, 7. September 1794).

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und Goethe einen bemerkenswerten Unterschied beobachtet, steht Schiller als Krankenwärter bei. »Goethe ist ein etwas ungestümer Kranker, Schiller aber die Sanftheit und Milde selber.«44 Die Einführung am 12. Februar 1805 eines Klistiers gegen die Verstopfungen wird von Voß aktiv unterstützt: »Als er nun so auf jenem Stuhle, der oft auch für Könige bedeutender wird als der Thron, saß, verglich er sich mit Cato, der auch einmal in dieser Positur gesessen und so Audienz gegeben hatte.«45 Nach Goethe hat Schiller in seiner Lebensweise – seiner Ansicht nach wohl auch in seinem Werk – die ideelle Seite überbetont, wie er in einem Gespräch mit Eckermann ausführt: »[I]n seinem reiferen Leben, wo er der physischen Freyheit genug hatte, ging er zur ideellen über, und ich möchte fast sagen, daß diese Idee ihn getötet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren.«46 Mehrfach unterstützt umgekehrt Schiller – nicht zuletzt wegen seiner ärztlichen Ausbildung – Angehörige und Freunde bei Erkrankungen mit Ratschlägen und Handlungen. Intensiv kümmert er sich um seine Frau; als sie im Oktober 1799 nach der Geburt ihrer Tochter Caroline von einem schweren Nervenfieber mit Tobsuchtsanfällen ergriffen wird, wacht er während der Nächte an ihrem Krankenbett, was ihn selbst wieder körperlich und seelisch angreift. Körner empfiehlt er, »mehr Vegetabilien« in die Diät zu mischen, um die »Circulation frischer und Leichter zu machen«, auch Beschäftigung des Geistes und körperliche Bewegung; und er will auch mehr über seine »Animalität« wissen, als einem »landfremden Prakticus« möglich sei.47 Besonderes Interesse verdient für Schiller als einen geistig aktiven Menschen in der Coping-Perspektive der Zusammenhang von Krankheit und Werk (Pathographie – Ergographie) – im Blick auf die Kreativität und das Werk in Form und Inhalt. Die schöpferische Tätigkeit bricht bei den Erkrankungen nicht zusammen, sondern bleibt erhalten, die Arbeit an den Dramen wird fortgeführt; bis zum Ende des Lebens wird am Demetrius gearbeitet. Schiller beobachtet bei sich spezifische Auswirkungen der Krankheit: Die Stimmung verändert sich nicht, wohl aber die Ausdauer. »Glücklicherweise alteriert meine Kränklichkeit nicht meine Stimmung, aber sie macht, daß ein lebhafter Antheil mich schneller erschöpft und in Unordnung bringt.«48 Wegen der Anfälle müssen die Vorlesungen an der Universität in Jena immer wieder unterbrochen und schließlich ganz aufgegeben werden. Umgekehrt können von der Beendigung eines Werks psycho-physische Krisen und Schaffenskrisen ausgelöst werden, so nach Abschluß des Wallenstein, worüber Johann Heinrich Voß d. J. an August Hermann Niemeyer, April 1805, zit. n.: Schillers Gespräche – Berichte seiner Zeitgenossen über ihn, hg. von Julius Petersen, Leipzig 1911, 409. 45 Johann Heinrich Voß d. J. an Agnes Wilhelmine Christiane Niemeyer, 12. August 1806, zit. n. Hecker/Petersen: Schillers Persönlichkeit III [Anm. 14], 310. 46 Eckermann: Gespräche mit Goethe [Anm. 36], 194 (18. Januar 1827). 47 NA XXV, 67 (Schiller an Körner, 12. Juni 1788). 48 NA XXIX, 165 (Schiller an Goethe, 8. Dezember 1797). 44

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Schiller Goethe gegenüber klagt49: »Ich habe mich schon lange vor dem Augenblick gefürchtet, den ich so sehr wünschte, meines Werks los zu seyn; und in der That befinde ich mich bei meiner jetzigen Freiheit schlimmer als der bisherigen Sklaverey. Die Masse, die mich bisher anzog und fest hielt, ist nun auf einmal weg, und mir dünkt als wenn ich bestimmungslos im luftleeren Raume hienge.« Die Art der Beschäftigung wirkt sich unterschiedlich auf die Krankheiten aus, als besonders gravierend empfindet Schiller die künstlerische Aktivität50: »Mit meiner Gesundheit geht es noch nicht viel beßer. Ich fürchte, ich muss die lebhafte Bewegungen büssen, in die mein Poetisieren mich versetzte. Zum Philosophieren ist schon der halbe Mensch genug und die andere Hälfte kann ausruhen; aber die Musen saugen einen aus.« Produktivität ist in Schillers Selbstverständnis eine Beziehung von Form und Ich. Krankheit kann ihrerseits als das Verhältnis von Körper und Ich verstanden werden. Hegel (1770 -1831) definiert die Krankheit des Menschen als »Disproportion seines Seyns und seines Selbsts«.51 In dieser Perspektive ergibt sich eine Übereinstimmung der ars scribendi und der ars vivendi, ars moriendi und ars aegrotandi, ein Zusammenhang zwischen der Kunst des Schreibens und der Lebens- und Sterbekunst wie auch der Kunst des Krankseins. Medizin wird seit der Antike als Kunst (ars) und Wissenschaft (scientia) verstanden. Die ars moriendi gilt im Mittelalter als zentraler Bestandteil der ars vivendi. Auch der Umgang mit der Krankheit kann als Kunst, als Teil der Lebenskunst verstanden werden. Von dem romantischen Mediziner und Maler Carl Gustav von Carus (1789-1869) stammt die Schrift Einige Worte über das Verhältniß der Kunst, krank zu sein, zur Kunst, gesund zu sein (1843). Goethe ist für Carus das große Beispiel einer Kunst des Krankseins. Kränklichkeit und Stimmungen hält Schiller für persönlichkeitskonform. Oft klagt er über Gefühle der Zerrissenheit, der Depression, die er aber nicht von äußeren Ereignissen abhängig macht52: »wie verwüstet mein Gemüth, wie verfinstert mein Kopf ist – und alles dieses nicht durch äusseres Schicksal, denn ich befinde mich hier von der Seite wirklich gut, sondern durch inneres Abarbeiten meiner Empfindungen«. Auffallend sind die affektiven Schwankungen: »Das Gemüth ändert sich oft schneller, als der Brief an Ort und Stelle kommt.«53 Zugleich wird von Schiller – vielleicht im Sinne einer Differenz von Psyche und Geist – von diesen Stimmungsschwankungen der eigene Charakter unterschieden. Im Selbstbild dominiert die Bewältigung der Krankheit als Sieg des Geistes über den Körper; zugleich wird die Macht von Zufall und Schicksal anerkannt.

NA XXX, 38 (Schiller an Goethe, 19. März 1799). NA XXVIII, 37 (Schiller an Goethe, 29. August 1795). 51 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke IX, Stuttgart/Bad Cannstatt 41965, 697 (System der Philosophie, Teil 2: »Die Naturphilosophie«, § 371, Zusatz). 52 NA XXV, 4 (Schiller an Körner, 7. Januar 1788). 53 Ebd., 328 (Schiller an Beulwitz und Charlotte von Lengefeld, 15. November 1789). 49 50

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Schillers Umgang mit dem durch die Krankheit veränderten Leben läßt sich als: produktiv – konstruktiv typisieren. Kreativität bleibt in der Krankheit erhalten. Zu Momenten der Mutlosigkeit und Verzweiflung kommt es allerdings auch immer wieder, dennoch bricht das Schaffen auch in Höhepunkten des Leidens und der Schmerzen nicht ab. C. Voraussetzungen Der Umgang des Kranken mit der Krankheit, der Therapie und dem durch die Krankheit veränderten Leben steht unter dem Einfluß einer Reihe von Voraussetzungen: sozialkulturelle Bedingungen, Stand der Medizin in Diagnostik und Therapie, ethnische Faktoren, Alter, Geschlecht, Persönlichkeit. Viele Äußerungen Schillers oder von Personen aus seinem Verwandten- und Bekanntenkreis zu diesen Bereichen sind überliefert; an wenige Beispiele sei erinnert. Eindrucksvoll ist Schillers Unabhängigkeit, die er allerdings selbst auch immer wieder einschränkt, von äußeren Bedingungen54: »Beschränkung der äußern Lage trübte seine Stimmung selten; und immer schaute er auf den Reichthum seines Geistes, als auf einen sichern Schatz.« Die Medizin des 18. Jahrhunderts schlägt sich in den literarischen Texten, Briefen, Gesprächen und im realen Verhalten Schillers durchgehend nieder. Die Wirkung von Kuraufenthalten entfaltet sich, wie er zu beobachten weiß, besonders stark bei Frauen.55 Das Alter schränkt die Fähigkeit ein, Krankheit und Leiden zu bewältigen56: »[D]ie Natur hilft sich zwischen 40 und 50 nicht mehr so als im 30sten Jahr. Indeßen will ich mich ganz zufrieden geben, wenn mir nur Leben und leidliche Gesundheit bis zum 50 Jahr aushält.« Die eigene hypochondrisch-melancholische Anlage wird mehrfach betont, die »fatale fortgesetzte Kette von Spannung und Ermattung, Opiumsschlummer und Champagnerrausch«, wie Schiller Ludwig Ferdinand Huber (1764-1804) am 20. Januar 1788 bekennt.57 Der Umgang mit der Krankheit hängt – bei allen äußeren Einflüssen – wesentlich von der Persönlichkeit des Kranken ab; unzweifelhaft liegt »in uns selbst die Quelle der Schwermuth und Fröhlichkeit«.58 Insgesamt fällt die Coping-Diagnostik in allen drei Bereichen bei Schiller in der folgenden Weise aus: Umgang mit der Krankheit: untertreibender Akzeptierer; Umgang mit der Medizin: aufgeklärt-kooperativ bei zugleich »ungesunder« Lebensweise; Umgang mit dem durch die Krankheit veränderten Leben: kreativ-konstruktiv.

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Wolzogen: Schillers Leben II [Anm. 23], 301. Vgl. NA XXV, 83 (Brief an Körner, 27. Juli 1788). NA XXXII, 217 f. (Schiller an Körner, 25. April 1805). NA XXV, 8. NA XXIV, 166 (Schiller an Körner, 14. Oktober 1787).

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IV. Ausblick Schillers Umgang mit der Krankheit, den Ärzten und dem Leben ist persönlichkeitsspezifisch, krankheitsgeprägt und zugleich zeitbestimmt, hängt ab von der Medizin und Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts und bietet allgemeine Anregungen auch für die Gegenwart – für Gesunde und Kranke, Ärzte und die Gesellschaft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert in ihrer Satzung Gesundheit als einen »Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens«. Wieviel angemessener ließe sich menschliche Gesundheit als die Fähigkeit verstehen, mit Krankheit, Behinderung und Tod leben zu können. Aufklärung und Klassik stehen über Schillers Leben mit der Krankheit, nicht aber Romantik oder Positivismus. Nach Schiller kann der Mensch in seiner geistigen Freiheit den Körper beeinflussen, kann physisches Leiden, Schmerzen besiegen oder relativieren – wenn auch nicht endgültig, der Tod muß akzeptiert werden, er ist die über die Subjektivität siegende Objektivität. Zentral ist für den Umgang mit der Krankheit Kants Gedanke von der »Kausalität aus Freiheit«59 (Kritik der reinen Vernunft 1781, 21787). Schillers Äußerungen und Wertungen unterliegen im übrigen einem Wandel, hängen von Brief- und Gesprächspartnern ab und sind auch nicht frei von Stilisierungen und Projektionen. Auf den Zusammenhang von Krankheit und Werk Schillers konnte in diesem Beitrag nur mit wenigen Beispielen hingewiesen werden. Es bleibt eine zukünftige Aufgabe, Biographie, Pathographie und Ergographie des Schiftstellers in ihrer Verbindung und ihrem Spannungsverhältnis darzustellen, im Blick nicht nur auf literarische Kreativität oder Produktivität, sondern ebenfalls auf Form und Inhalt der literarischen Texte, auf Gesundheit und Krankheit, Arzt und Patient, Diagnostik und Therapie in den Romanen, Erzählungen und Dramen. Begonnen wurde mit Worten von Hippokrates und Goethe, geendet sei mit der Einsicht Prousts über den Zusammenhang von Krankheit und Kunst, dem auch zu Beginn der Gedanke Goethes gegolten hat60: »Alles, was wir an Großem kennen, ist von Nervösen geschaffen. Sie und keine anderen haben Religionen begründet und Meisterwerke hervorgebracht. Niemals wird die Welt genügend wissen, was sie ihnen verdankt, noch vor allem, was sie gelitten haben, um es ihr zu schenken.«

Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden IV, hg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, 506 (A 558/B 586) 60 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit V, Frankfurt a. M. 1975, 404 f. 59

»Es ist der Geist, der sich den Körper baut« Schillers philosophische und medizinische Anfänge im anthropologiegeschichtlichen Kontext Von Ludwig Stockinger

I. »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«. Dieses Zitat aus Schillers Drama Wallensteins Tod,1 das auch in Büchmanns Geflügelte Worte Eingang gefunden hat, wird in der Schiller-Forschung traditionell in einer Reihe weiterer Belegstellen aus Schillers Werk angeführt, wenn es darum geht, die Kontinuität einer bestimmten anthropologischen Vorstellung von den Anfängen der medizinischen Dissertationen bis zum Werk des klassischen Dramatikers zu belegen.2 Als Textstelle, die zwischen den Anfängen und dem Autor des Wallenstein eine Brücke herstellt, wird in der Regel Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde zitiert, in der dieser Satz in einer längeren Passage umschrieben wird.3 Da es sich bei diesem Satz um ein Zitat des Mediziners Georg Ernst Stahl (16591738) handelt – Schiller selbst gibt in seiner dritten Dissertation mit der expliziten Nennung dieses Namens darauf einen deutlichen Hinweis4 – steht damit die Frage nach der Stellung Schillers im Kontext der Anthropologie des 18. Jahrhunderts zur Debatte, und dies mit Folgen für die Deutung von Schillers Gesamtwerk. Wolfgang Riedel hat dies im Schiller-Handbuch bündig so zusammengefaßt5: »Im ›anthropologischen Ansatz‹ der frühen Dissertationen liegt die Wurzel für ein Zentralmotiv des Schillerschen Denkens, das über den Einschnitt des Kant-Studiums (seit 1789) hinaus wirksam bleiben und die philosophische Ästhetik der Jenenser Jahre wesentlich bestimmen wird. Die im Karlsschulunterricht gewonnene Einsicht, daß die ›Vermischung‹ von Geist und Körper […] nicht einen Mangel und Makel des menschlichen Wesens, sondern im Gegenteil seine spezifische ›Vollkommenheit‹ bezeichne Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an; zusätzlich werden in Klammern Akt, Szene und Vers angegeben]. Hier: NA VIII, 258 (III,13, Vs. 1813). 2 Vgl. den Kommentar in NA XXI, 131. 3 Vgl. NA XX, 264-275. 4 Vgl. ebd., 70. 5 Wolfgang Riedel: Schriften der Karlsschulzeit, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, 547-559, hier 549. 1

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[…], birgt den Keim jenes Ideals […] der ›schönen‹ Synthesis von Trieb und Vernunft, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, mit dem die Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) der Vernunftlastigkeit der alten rationalistischen Aufklärung wie der neuen Kantischen Philosophie entgegentreten werden.« Wolfgang Riedel hat schon 1985 in der pointierten Charakterisierung einer dominanten Deutungstradition vom Bild Schillers »als eines Stahlianers« gesprochen, das sich passend zu der »im kulturellen Gedächtnis etablierten, trivial durchwirkten Schiller-Imago eines geistwärts gerichteten, idealischen Charakters«6 durchgesetzt habe. Damit verbunden ist ein bestimmtes Bild von der Bedeutung Stahls in der Geschichte der Medizin. Mit dem Etikett des ›Animismus‹ versehen, repräsentiert Stahl das kulturelle Wunschbild einer die Seele des Menschen berücksichtigenden Medizin, die als Alternative gegen die dominante, den Menschen auf den Körper und seine Physik reduzierende Schulmedizin aufgeboten wird.7 Dieses Bild werde – so Riedel – allerdings »bis zur Gegenwart gleichsam als Kontrafaktur durch die Forschungsgeschichte« von den Hinweisen auf Schillers Rezeption des »anthropologischen Materialismus«8 begleitet. In der Tat gibt es in Schillers Dissertationen genügend Textstellen, die sich »zum Bild des ›Stahlianers‹ Schiller […] nicht recht fügen, noch weniger zum Bild des blauäugigen Idealisten.«9 Daß die Schiller-Imago des ›idealischen Charakters‹ bis in die Gegenwart ihre Attraktivität – auch im Sinne eines Deutungsangebots für die eigene Lebenspraxis von Schiller-Lesern – behalten hat, das dokumentiert eindrücklich die SchillerBiographie von Rüdiger Safranski, in der es schon in der Einleitung – wieder mit Bezug auf das Stahl-Zitat – programmatisch heißt10: »Nach Schillers Tod am 9. Mai 1805 wurde die Leiche obduziert. […] Doktor Huschke, der Leibmedicus des Weimarer Herzogs, fügte dem Obduktionsbefund den lapidaren Satz hinzu: ›Bei diesen Umständen muß man sich wundern, wie der arme Mann so lange hat leben können.‹ Hatte nicht Schiller selbst davon gesprochen, daß es der Geist sei, der sich den Körper baut? Ihm war das offenbar gelungen. Sein schöpferischer Enthusiasmus

Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985, 6. 7 Dieses Bild wird noch in einer neueren Darstellung – mit erheblichen Nachteilen für die Analyse – kultiviert: Johanna Geyer-Kordesch: Die Medizin im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Pietismus – Das unbequeme Werk Georg Ernst Stahls und dessen kulturelle Bedeutung, in: Halle – Aufklärung und Pietismus, hg. von Norbert Hinske, Heidelberg 1989, 255-274; dies.: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert – Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls, Tübingen 2000. 8 Riedel: Anthropologie [Anm. 6], 9. 9 Ebd., 32. 10 Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München/ Wien 2004, 11-14. Safranski hat den Satz dann auch auf das Sterben von Johannes Paul II. bezogen. Vgl. Der Spiegel Nr. 15, 11. April 2005, 118: »Für Johannes Paul trifft Schillers Wort zu: ›Es ist der Geist, der sich den Körper baut.‹« 6

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hielt ihn am Leben über das Verfallsdatum des Körpers hinaus. […] Aus der Perspektive Schillers gewinnt der Idealismus wieder Glanz. Idealismus – daran ist nichts Veraltetes, wenn man ihn so versteht, wie Schiller ihn verstanden hat: der Freiheit eine Gasse; der Geist, der sich den Körper baut.« Wolfgang Riedel hat in seiner präzisen Einordnung von Schillers Dissertationen in den Diskurs der medizinischen Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts schon gezeigt, daß eine Deutung innerhalb der einfachen Dichotomien von ›Idealismus‹ und ›Materialismus‹ bzw. von ›Stahlianer‹ und ›Antistahlianer‹ als Deutungskonzepten die Sachlage nicht trifft11: »In der Medizin der Spätaufklärung nämlich lassen sich Konzepte einer medizinischen Anthropologie finden, die den ganzen Menschen ins Auge fassen und wie Schiller ›Philosophie und Arzneiwissenschaft‹ zu verbinden trachten. Diese Entwürfe philosophisch interessierter Ärzte wie medizinisch interessierter Philosophen […] bezeugen […], daß auch in der zweiten Reihe der Geistesgeschichte der deutschen Aufklärung jene epochale Tendenz zur ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹ greifbar wird, der Schiller von den medizinischen Dissertationen bis zum anthropologischen Ideal der ›Briefe über die ästhetische Erziehung‹ verpflichtet bleibt.« Der Befund ist unüberholt zutreffend. Es ist angesichts der Forschungslage nicht mein Ziel, ihn zu revidieren oder zu widerlegen. Was ich dazu ergänzend beitragen kann, ist nur der Versuch, den bei Riedel auf die deutsche Spätaufklärung eingeschränkten Kontext in einen weiteren Horizont zu stellen, nämlich in den einer ›Anthropologie avant la lettre‹ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts,12 und dabei einige Vorschläge zur Präzisierung des systematischen Zusammenhangs und der kulturellen Bedeutung der Probleme zu machen, an denen Schiller sich abarbeitet.

II. Anhand der vielzitierten Textstelle aus Wallensteins Tod13 kommt man zunächst zu einem ernüchternden Ergebnis. Das Zitat steht in einem Monolog Wallensteins, in dem er in einer schwierigen Situation sich seines früheren militärischen Erfolgs in aussichtslos erscheinender Lage erinnert und sich selbst in der Hoffnung, daß sich dieser Erfolg wiederholen läßt, Mut zuspricht14:

Riedel: Anthropologie [Anm. 6], 10. Ich greife dabei auf Materialien und Thesen einer noch ungedruckten Leipziger Dissertation zurück: Katrin Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung – Leipzig um 1740, Diss. Leipzig 2004 [erscheint voraussichtlich im Herbst 2005]. 13 Vgl. Anm. 1. 14 NA VIII, 257-258 (III,13, Vs. 1806-1818). 11 12

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Ich sollte aufstehn mit dem Schöpfungswort Und in die hohlen Läger Menschen sammeln. Ich tats. Die Trommel ward gerührt. Mein Name Ging wie ein Kriegsgott durch die Welt. Der Pflug, Die Werkstatt wird verlassen, alles wimmelt Der altbekannten Hoffnungsfahne zu – – Noch fühl ich mich denselben, der ich war! Es ist der Geist, der sich den Körper baut, Und Friedland wird sein Lager um sich füllen. Führt eure Tausende mir kühn entgegen, Gewohnt wohl sind sie, unter mir zu siegen, Nicht gegen mich – Wenn Haupt und Glieder sich trennen, Da wird sich zeigen, wo die Seele wohnte.

Hier steht, wie man sieht, das ›geflügelte Wort‹ gar nicht auf der Ebene des ›Autors‹, sondern es ist Teil der Figurenrede, in der das Verhältnis von Geist und Körper metaphorisch auf das Verhältnis von Feldherr und Heer übertragen wird, und dies so, daß der illusionäre Charakter dieser Übertragung – die Erwartung Wallensteins wird sich ja nicht bestätigen – offengelegt wird. Und wenn Wallenstein das »Haupt«, also das Gehirn, zum Sitz der Seele erklärt, so charakterisiert er sich selbst damit durchaus nicht als Stahlianer, denn in diesem Paradigma ist die Seele im ganzen Körper präsent. Wallenstein, so könnte man sagen, hätte also den eigentlichen Sinn dieser Aussage, wenn man sie denn als Verweis auf Stahl verstehen wollte, gar nicht begriffen. Diese Textstelle kann also nicht als Beleg für die These herangezogen werden, der Autor Schiller sei von der Wahrheit dieses Satzes überzeugt gewesen. Vielmehr gewinnt man hier den Eindruck, der Text führe vor, zu welchen Täuschungen es kommen kann, wenn man diesen Satz auf die Realität bezieht. Ob dies nur für die metaphorische Übertragung gilt oder auch für die wörtliche Bedeutung in Bezug auf das Verhältnis von Geist und Körper, bleibt dahingestellt. Wenn man nun zur Textstelle in § 22 von Schillers dritter Dissertation, dem Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, zurückgeht, an der ein expliziter Bezug zu Stahl formuliert wird, so ist man ebenfalls gut beraten, diesen Bezug mit Vorsicht zu beurteilen. Es geht im Textzusammenhang des § 22 um die Frage, ob sich aus der Physiognomie des Menschen ein Erfahrungsargument für die Möglichkeit der Wirkung der Seele auf den Körper ableiten läßt – vorher ist ausführlich von der umgekehrten Richtung, der Wirkung des Körpers auf die Seele, die Rede gewesen. Während die Beobachtung, daß in den beweglichen Erscheinungen der Körperoberfläche »die geheimsten Rührungen der Seele […] geoffenbahrt«15 werden, so evident zu sein scheint, daß sie keiner besonderen Begründung bedarf, ist die weitergehende These, daß sich dann, wenn 15

NA XX, 68.

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ein bestimmter Affekt der Seele durch öftere Wiederholung »habituell«16 werde, in der Gestalt des Körpers eine »feste perennirende Physiognomie des Menschen«17 bilde, einer Begründung bedürftig, und hier wird, gleichsam als Ersatz für die Begründung, die Tradition der »Stahlianer« apostrophiert18: »In diesem Verstande also kann man sagen, die Seele bildet den Körper, ohne ein Stahlianer zu sein, und die ersten Jugendjahre bestimmen vielleicht die Gesichtszüge des Menschen durch sein ganzes Leben, so wie sie überhaupt die Grundlage seines moralischen Karakters sind. […] Eine Physiognomik organischer Theile, z.E. der Figur und Grösse der Nase, der Augen, des Mundes, der Ohren u.s.w. der Farbe der Haare, der Höhe des Halses u.s.f. ist vielleicht nicht unmöglich, dörfte aber wohl so bald nicht erscheinen, wenn auch Lavater noch durch zehen Quartbände schwärmen sollte.« Wie man sieht, bezieht sich Schiller hier nicht nur auf Stahl, sondern auch auf eine These Lavaters – der Charakter der Seele zeigt sich auch in den Teilen des Körpers, die nicht durch Mimik und Gestik geformt werden, etwa auch in der Form des Schädels –, er grenzt aber im gleichen Atemzug die Reichweite von Stahls These und von Lavaters Methode kritisch ein. Anders gesagt: Schiller ›maskiert‹ die physiognomische Theorie Lavaters als These der ›Stahlianer‹, relativiert aber gleichzeitig deren empirischen und theoretischen Geltungsanspruch in einem medizinischen bzw. anthropologischen Diskurs. Man hat hier den Eindruck, daß Schiller eine These, an der ihm sehr zu liegen scheint, weil mit ihr in der Wechselwirkung von Körper und Seele die wirkende Kraft der Seele zu stärkerem Recht kommt und damit die Gefahr einer deterministischen Deutung der Seelenbewegungen aus der Wirkung des Körpers eingegrenzt wird, aufrecht erhalten möchte, obwohl er weiß, daß die Begründungen dieser These, auf die er sich beruft, in dem wissenschaftlichen Diskurs, in dem er sich mit seiner Dissertation bewegt, nicht ›diskursfähig‹ sind. An der entsprechenden Stelle in der späteren Abhandlung Über Anmut und Würde wird diese These, die dort eine grundlegende Funktion bei der Begründung von Schillers Anthropologie der neunziger Jahre bekommt, dann ohne expliziten Bezug auf die Traditionen und Kontexte medizinischer bzw. anthropologischer Diskurse vorgetragen19: »Endlich bildet sich der Geist sogar seinen Körper, und der Bau selbst muß dem Spiele folgen, so daß sich die Anmuth zuletzt nicht selten in architektonische Schönheit verwandelt.« Man darf hier die Bezüge zu Stahl und Lavater nicht einfach interpolieren, um diesen Satz im Kontext des medizinischen Wissens der Zeit plausibel zu machen, denn was Schiller hier vorträgt, ist eine andere Form von Wissen, die einer Stütze Ebd., 69. Ebd., 70. 18 Ebd. 19 Ebd., 265; vgl. auch ebd., 274: »Ein reger Geist verschaft sich auf alle körperlichen Bewegungen Einfluß, und kommt zuletzt mittelbar dahin, auch selbst die festen Formen der Natur, die dem Willen unerreichbar sind, durch die Macht des sympathetischen Spiels zu verändern.« 16 17

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in den empirischen Wissenschaften offenbar nicht bedarf. Dennoch ist die Frage legitim, ob und auf welche Weise diese Behauptung rational nachvollziehbar und intellektuell verantwortlich aufgestellt werden konnte, wenn sich deren wissenschaftliches Fundament als brüchig erwiesen hat. Dies soll nun mit einem Blick auf die Diskussionsfronten des 18. Jahrhunderts erläutert werden.

III. Zunächst zu Stahl: Die These, daß es der ›Geist‹ sei, der sich den ›Körper‹ baut, findet sich bei Georg Ernst Stahl in unterschiedlichen lateinischen Formulierungen. Dabei wird in der lateinischen Terminologie allerdings immer das Wort ›anima‹ verwendet, das im Deutschen in der Regel nicht mit ›Geist‹, sondern mit ›Seele‹ in der Bedeutung der bildenden Kraft eines lebendigen Organismus übersetzt worden ist. In der Theoria medica vera von 1708, aus der Riedel zitiert,20 wird die Tätigkeit dieser ›Seele‹ in Bezug auf den Körper mit den Verben »struere« und »regere« bezeichnet, und es wird hier betont, daß diese Wirkung »sine alterius moventis interventu aut concursu« geschehe, also ohne Vermittlung oder Hinzutreten eines anderen Bewegers, d.h. einer dritten Substanz, die zwischen dem materiellen Körper und der geistigen Seele vermittelt und dafür sorgt, daß einerseits die Empfindungen der körperlichen Sinne als Informationen zur Seele gelangen und andererseits der Wille der Seele den Körper in entsprechender Weise zu bewegen vermag. An dieser Stelle ist nicht, wie Riedel den Sinn des Zitats zusammenfaßt, davon die Rede, daß die »Seele sich ihren Leib erschafft«,21 sondern nur davon, daß sie ihn ›zusammenfügt‹ bzw. ›zusammenhält‹ – was ja der Bedeutung von ›bauen‹ durchaus näher kommt als der Bedeutung von ›erschaffen‹ – und daß sie ihn ›lenkt‹ bzw. ›regiert‹. An einer anderen Stelle im Werk Stahls, in einer medizinischen Disputation, findet sich eine Formulierung, die dem deutschen Zitat etwas näher kommt22: »Anima sibi ipsi fabricat corpus.« Das Wort »fabricare« bedeutet hier ebenfalls nicht ›erschaffen‹, sondern ›schmieden‹, ›zimmern‹, ›bauen‹, also aus einem vorhandenen Material nach Zwecken und Absichten eine bestimmte Struktur zu bilden. Es wäre nun vergebliche Mühe, in einer bestimmten Schrift von Stahl die eigentliche Quelle von Schillers Zitat identifizieren zu wollen, denn man kann davon ausgehen, daß dieser Satz im 18. Jahrhundert als Zusammenfassung dessen, was Stahls Konzept von den anderen anthropologischen Konzepten unterschieden hat, in mehreren Varianten verbreitet war. Allerdings muß man darauf hinweisen, daß mit diesem Satz die Stahlsche Anthropologie um einen wesentlichen Aspekt verVgl. das Zitat bei Riedel: Anthropologie [Anm. 6], 25, Anm. 40. Ebd. 22 Georg Ernst Stahl: Disputatio inauguralis de passionibus animi corpus humanum varie alterantibus, Halle 1695. 20 21

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kürzt wird, nämlich um die Betonung der ›Einheit‹ von Körper und Seele, auf die Stahl und seine Schüler größten Wert gelegt haben, und damit auch um die Betonung nicht nur der Wirkung der Seele auf den Körper, sondern auch der Wirkung des Körpers auf die Seele. Bei dem Stahl-Schüler und Hallenser Waisenhausarzt Christian Friedrich Richter, über dessen sehr erfolgreiches Buch Höchst-nöthige Erkenntniß des Menschen die Lehre Stahls einem breiteren Publikum vermittelt worden ist,23 heißt es beispielsweise24: »Denn ohne die leiblichen Sensoria wäre keine Empfindung, ohne das Gehirn wären keine Gedancken, und ohne die Nerven und Musculn wäre keine äusserliche Bewegung und Verrichtung, und also wäre die Seele ohne den Leib wie ein Künstler ohne Instrumente, welchen seine Kunst und Wissenschaft nichts hilft.« An anderer Stelle schreibt Richter, daß Leib und Seele des Menschen so sehr »vermenget« seien, »als wäre die Seele selbst Fleisch und materialisch, der Leib aber seelisch worden«.25 Man muß also festhalten, daß für die Stahlianer die Betonung der untrennbaren Einheit von Körper und Seele entscheidend war. Dennoch zeigt das Zitat, daß man die Vorstellung einer subsistierenden Seele, die vom Körper unterschieden ist, in diesem Paradigma nicht aufgegeben hatte. Die Konzeption des Körper-Seele-Verhältnisses bei Stahl und seinen Schülern gehört in den großen Zusammenhang der Versuche in der deutschen Aufklärung, für ein unlösbares Problem eine Lösung zu finden. Es geht darum, innerhalb des Modells eines Körper-Seele-Dualismus, das unter den Bedingungen der noch prinzipiell von der christlichen Theologie dominierten Diskussionskultur nicht zugunsten eines konsequenten Monismus verlassen werden durfte, eine Beschreibung des Verhältnisses von Körper und Seele zu finden, die philosophisch nachvollziehbar war und in der Morallehre plausibel angewandt werden konnte. Die in der Philosophie des späten 17. Jahrhunderts entwickelten Modelle eines ›nicht-interaktionistischen Dualismus‹ (prästabilierte Harmonie, Okkasionalismus) waren zwar wegen der Berücksichtigung der Cartesianischen Trennung der Substanzen von Geist und Materie philosophisch konsequent, aber mit der alltäglichen Erfahrung, mit den moralischen Geboten und mit den Lehren des Christentums nicht vermittelbar. Deshalb setzt sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitgehend das Modell des ›interaktionistischen Dualismus‹ durch, in der zeitgenössischen Begriffssprache gewöhnlich mit den Termini influxus physicus oder commercium mentis et corporis bezeichnet. Diese Entwicklung zeigt sich in der deutschen Aufklärungsphilosophie daran, daß Christian Wolff in seiner Deutschen Metaphysik (1719) noch im Anschluß an Vgl. zum folgenden Löffler: Anthropologische Konzeptionen [Anm. 12], 174 ff. Christian Friedrich Richter: Die höchst-nöthige Erkenntniß des Menschen, sonderlich nach dem Leibe und natürlichem Leben, oder ein deutlicher Unterricht, von der Gesundheit und deren Erhaltung: auch von denen Ursachen, Kennzeichen und Namen der Kranckheiten, und bewährten Mitteln gegen dieselben […], Leipzig 51715, 76 f. 25 Ebd., 80. 23 24

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Leibniz am ›nicht-interaktionistischen Dualismus‹ festhält,26 während Johann Christoph Gottsched, der auf seine Zugehörigkeit zur ›Leibniz-Wolffschen Schule‹ großen Wert gelegt hat, in seinem weit verbreiteten Lehrbuch Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1733) an dieser Stelle schon für das Modell des ›Influxus‹ plädiert. Gottsched ist sich dabei der Schwierigkeit bewußt, daß es keine plausible Theorie zur Erklärung des wechselseitigen Einflusses gibt, und er empfiehlt deshalb, an der Hypothese des ›Influxus‹ festzuhalten, bis »bey einem reiferen Erkenntnisse der Seele und des Leibes«27 eine überzeugende Theorie formuliert werden könne. Den Stand der Diskussion zu Beginn der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts faßt der Artikel »Seele« im 36. Band von Zedlers Universal-Lexikon (1743) in einer Weise zusammen, daß man die Gründe für die Durchsetzung dieses Modells in den Diskussionsbedingungen der Epoche gut erfassen kann28: »Das […] systema influxus physici […] ist das älteste und gemeinste. Es kommt dasselbige eigentlich darauf an, daß nach demselbigen die Seele eine Kraft in den Cörper habe, so nach ihrem Belieben in ihm den Vorstellungen und Begierden gleichförmige Bewegungen erreget würden, dergleichen wieder von ihm vermittelst der Bewegungen in den […] Geistergen in die Seele geschähe, und auf solche Art die Seele in den Cörper, und der Cörper in die Seele einen Einfluß thäte. […] Man hält […] diese Hypothesin nicht nur vor gegründet und ausgemacht, sondern auch vor nothwendig, weil man ohne derselbigen in vielen Stücken des Christenthums und der Moral nicht könnte zurecht kommen. Denn hätte die Seele keine Herrschaft über den Leib, so hätte Gott von einem Christen nicht verlangen können, daß man Fleisch und Blut creutzige; seinen Leib darstelle zu einem Opfer, das da lebendig, heilig, und Gott wohlgefällig sey; […]. Und wie wollte man einem Menschen die äußerlichen Sünden, die mit dem Leibe begangen würden, als Mord, Diebstahl, Gotteslästerung, u.d.g. zurechnen, und ihn deswegen bestraffen, wenn die Seele mit dem Leibe keine Gemeinschafft haben, noch in denselben einen Einfluß thun oder über ihn Herrschafft führen sollte? […] Ein gemeiner Zweifel ist, daß der Einfluß der Seele in den Cörper ohne einer Extension nicht zu begreiffen sey; gleichwohl könnte man der Seele, als einem Geist, keine Ausdehnung beylegen. Denn der Einfluß könnte ohne Berührung nicht geschehen, und wenn die Seele den Leib berühren sollte, so müste sie Theile haben, und also was Ausgespanntes, oder Ausgedehntes seyn, und diese Schwierigkeit äussert sich auch auf Seiten des Leibes, daß man sich nicht einbilden könnte, wie er als ein ausgedehnter Cörper in die Seele würcken sollte. Doch ist dieser Zweifel so erheblich nicht, daß man deswegen das Systema selbst sollte fahren lassen. Denn er betrifft die Art und Weise, die man nicht wissen kann; Vgl. Löffler: Anthropologische Konzeptionen [Anm. 12], 113 f. Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke V/1, hg. von Joachim Birke, Brigitte Birke und Philipp M. Mitchell, Berlin/New York 1983, 588. 28 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste XXXVI, Leipzig/Halle 1743, 1099-1101. 26 27

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daher aber läst sich noch nicht schlüssen, weil man nicht begreiffen kann, wie es zugehet, daß ein Geist in einen Cörper würcket, folglich würcket er auch nicht in einen Leib. […] Diejenigen, welche gleichwohl solchen Einfluß der Seele behaupten, gründen sich auf die Proben, daß Geister in Cörper gewürcket […]; also benimmt dieser Erkenntniß nicht, wenn sie gleich nicht begreiffen, auf was Art und Weise dieses geschehen möge.« Hier wird in wünschenswerter Deutlichkeit gesagt, daß man auf das Modell des ›interaktionistischen Dualismus‹ deshalb nicht verzichten kann, weil religiöse und moralische Gebote ohne dieses Modell ebenso wenig begründet werden könnten wie eine Schuldzuweisung im Strafrecht. Der Hinweis auf die Kreuzigung von Fleisch und Blut erinnert überdies daran, daß mit der Preisgabe dieses Modells auch das Dogma der Erlösung durch das Leiden Christi nicht mehr begründet werden könnte. Die methodische Empfehlung für den Umgang mit diesem Problem am Ende des Artikels ist klar: Man möge sich an die empirischen Beobachtungen halten, die den wechselseitigen Einfluß evident belegen, und das Fehlen einer Theorie einstweilen auf sich beruhen lassen. Wenn in diesem Artikel von »Geistergen« die Rede ist, die zwischen Körper und Seele vermitteln, so spricht der Verfasser damit einen in vielen Varianten im 18. Jahrhundert verbreiteten Versuch an, den Hiat zwischen Körper und Seele mit der Theorie der spiritus animales zu schließen, auf die schon Descartes hinweist. Auf die unterschiedlichen Varianten dieser Theorie kann hier nicht eingegangen werden; ich beschränke mich im Hinblick auf das Problem, vor dem der junge Schiller steht, auf das grundlegende Prinzip und die daraus folgenden Aporien. Die ›Lebensgeister‹ stellte man sich auf der Grundlage der Physik des 18. Jahrhunderts als imponderable Materie vor, wie sie auch in der Wärmelehre, in der Lehre von der Verbrennung und in der Astronomie angenommen wurde. Diese Materie, die in den Nerven fließt, befindet sich in einem unendlich gestuften Übergangsstadium zwischen dem Materiellen und dem Geistigen, so daß deren Vermittlungsfunktion plausibel erscheinen konnte; sie spielte auch in zeitgenössischen Überlegungen zur Unsterblichkeit von Gottsched29 bis Wieland30 eine erhebliche Rolle, weil man bei der Vorstellung, daß die Seele der Verstorbenen noch mit einem feinstofflichen Leib umgeben sei, die Idee des Fortlebens nach dem Tode mit der Möglichkeit der sinnlichen Erfahrung und damit der Bewahrung von Individualität in Einklang zu bringen vermochte. So verbreitet diese Vorstellung im 18. Jahrhundert auch war, sie konnte das Problem nicht lösen, daß imponderable Materie immer noch Materie ist und daß damit der Dualismus der Substanzen nicht überwunden werden kann. Einzelne Philosophen und Mediziner des 18. Jahrhunderts, so der Leipziger Andreas Rüdiger (1673-1731) und der Hallenser Gegenspieler Stahls, Friedrich Hoffmann, versuchten, dieses Problem durch den Rückgriff auf die Traditionen eines 29 30

Vgl. Gottsched: Ausgewählte Werke [Anm. 27] V/1, 66 und V/2, 571 f. Vgl. Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke XXXVII: Euthanasia, Leipzig 1805.

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trichotomischen Menschenbildes zu umgehen. Rüdiger unterschied Geist, Seele und Leib, wobei nur der Geist immateriell, die Seele hingegen als subtiles materielles Bindeglied zwischen Materie und Geist gefaßt wurde.31 Es liegt auf der Hand, daß hier der Begriff der ›Seele‹ nur an die Systemstelle der ›Lebensgeister‹ getreten ist und auch deren Eigenschaften aufweist. Da die ›Seele‹ aus einer feinstofflichen Materie besteht, ist sie Materie, so daß die Frage nach der Vermittlung der Substanzen wiederum nur verschoben ist.32 Georg Ernst Stahls anthropologisches Modell hat nun in diesem Problemkontext den Vorzug, daß er den Körper als belebten ›Organismus‹ interpretierte, dessen Lebensprozesse von der Seele zielgerichtet gesteuert werden; diese Steuerung schrieb er allein der Seele zu,33 die mit Hilfe des motus tonicus nicht nur die willentlichen, sondern auch die vegetativen Bewegungen des Leibes steuert, ohne einer Vermittlungsinstanz zu bedürfen. Die ›Seele‹ wird damit zu einem Begriff für das in lebendigen Organismen wirkende teleologische Prinzip, der an die Konzeption der Zweckursachen als Erklärungsprinzip für Vorgänge des organischen Lebens anschlußfähig ist, die in der Naturwissenschaft bis zur Durchsetzung der darwinistischen Evolutionstheorie im 20. Jahrhundert dominierte, und man könnte deswegen sagen: In der Stahlschen These, daß sich der Geist den Körper baue, konnte man am Ende des 18. Jahrhunderts eine erste Formulierung idealistisch-romantischer Naturphilosophie erkennen. Genau in dieser Weise ordnet das Brockhaus-Lexikon von 1824 Stahls Leistung in der Medizingeschichte ein, wenn es dort heißt: »Er war, nach einer langen Zeit der Abirrung der medicinischen Lehren, wieder der erste, welcher die Kraft und Fülle des organischen Lebens und den innern, einzigen und mächtigen Quell desselben erkannte.«34 Da Stahl und sein Schüler Christian Friedrich Richter aber schon aus theologischen Gründen prinzipiell am Dualismus festhalten – sie sprechen ja noch von Leib und Seele und unterscheiden letztlich doch die beiden Substanzen –, bleibt auch in diesem Modell die Grundfrage jedes ›interaktionistischen Dualismus‹, wie denn die wechselseitige Wirkung von Körper und Seele zu erklären sei, ohne Antwort. Der Unterschied zu den anderen Modellen des ›interaktionistischen Dualismus‹ wie beispielsweise dem Modell Gottscheds besteht nur darin, daß bei Gottsched der Vgl. Löffler: Anthropologische Konzepte [Anm. 12], 133. Dieses Problem gehört schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum lexikonfähigen Wissen, wie der Artikel »Mensch« bei Zedler zeigt. Vgl. Zedler: Universal-Lexicon [Anm. 28] XIX (1739), 725: »Denn erinnert man, daß die Seele, als das mittlere Principium das Band der Vereinigung zwischen dem Leib und der Seele seyn müsse, so setzet man dabey zwar voraus, daß zwey Extrema, die einander gerade entgegen wären, nicht anders, als durch eine mittlere Sache […] könten vereiniget und zusammen gebracht werden, welches aber eben auf die Vereinigung des Geistes mit dem Leibe nicht zu extendiren. Es ist solche Vereinigung ein philosophisches Geheimniß, davon man die Art und Weise nicht wissen kan.« 33 Vgl. Löffler: Anthropologische Konzepte [Anm. 12], 173. 34 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände IX, Leipzig 61824, 491 f. 31 32

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Körper ein Mechanismus ist, auf den die Seele mit ihrer ›bewegenden Kraft‹ über das Gehirn und die Nerven einwirkt, während bei Stahl der Körper als beseelter Organismus gedacht wird. Die zielgerichtete Tätigkeit der Seele in diesem Organismus ist die Bildung und Erhaltung von dessen Gestalt – wenn diese Tätigkeit nicht mehr da ist, zerfällt der Organismus in die Teile von anorganischer Materie, aus denen er stofflich besteht. IV. Wenn Schiller in seiner ersten Dissertation sich das Ziel setzt, die Frage der Vermittlung der Substanzen im Rahmen des ›interaktionistischen Dualismus‹ zu beantworten, so bewegt er sich – unbeschadet der konkreten Vermittlungen durch die Lehrer der Karlsschule – prinzipiell noch innerhalb der Diskursbedingungen, wie sie schon bei Zedler zusammengefaßt werden. Wenn er allerdings behauptet, das Problem der Vermittlung des Substanzendualismus lösen zu können, dann entfernt er sich von der in diesem Diskurs geltenden Regel, Phänomene der Wechselwirkung einstweilen nur zu beobachten und zu beschreiben, die theoretische Erklärung des ›philosophischen Geheimnisses‹35 aber auf sich beruhen zu lassen. Da dieses Problem unlösbar war, konnte sein Versuch einer Erklärung nur scheitern, und seine Begriffe ›Mittelkraft‹ – dieser war schon bei Gottsched als »bewegende Kraft« der Seele (vis motrix) vorhanden36 – und ›Nervengeist‹ greifen nur längst vorhandene Konzepte des 18. Jahrhunderts, die schon der Kritik verfallen waren und die gerade Stahl in seinem Modell abgelehnt hatte, wieder auf. Daß dieser Text als medizinische Dissertation nicht angenommen werden konnte, liegt auf der Hand. Die dritte Dissertation Schillers bleibt dagegen ganz im methodischen Rahmen, wie er schon im Artikel des Zedler-Lexikons vorgegeben ist, nämlich der Begrenzung auf empirische Belege für die Wechselwirkung unter Verzicht auf eine Theorie, aber doch mit distanzierendem Verweis auf die Theoriemodelle Stahls und die Beobachtungen Lavaters, die theoretisch zu schwach begründet waren, um sie als Grundlage einer anthropologischen Theorie des Verhältnisses von Geist und Körper ernsthaft ins Feld führen zu können. In Über Anmut und Würde werden, wie schon gesagt, diese Konzepte nun ohne expliziten Bezug auf Stahl und Lavater und ohne empirische Begründung wiederholt. Deren Plausibilität ist in dieser Schrift allerdings auf neue Weise dadurch gesichert, daß Schiller das Argumentationsparadigma von Kants Kritik der Urteilskraft voraussetzt, d. h. der Zulassung von Zweckursachen bei der Betrachtung von Phänomenen der organischen Natur, allerdings nur in der Form eines ›regulativen Begriffs‹, der zwar in der Erfahrung nicht angetroffen werden kann, aber die Aneignung von Wissen in der Erfahrung anleitet. Gemäß diesem regulativen Begriff wird 35 36

Vgl. Anm. 32. Gottsched: Ausgewählte Werke V/1 [Anm. 27], 586, 587.

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das »Naturprodukt« als »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen«37 betrachtet38: »Der Begriff eines Dinges, als an sich Naturzwecks, ist also kein konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft, kann aber doch ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein, nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken überhaupt die Nachforschung über Gegenstände dieser Art zu leiten und über ihren obersten Grund nachzudenken; das letztere zwar nicht zum Behuf der Kenntnis der Natur, oder jenes Urgrundes derselben, sondern vielmehr eben desselben praktischen Vernunftvermögens in uns, mit welchem wir die Ursache jener Zweckmäßigkeit in Analogie betrachteten.« Unter der Voraussetzung dieser prinzipiellen transzendentalphilosophischen Einklammerung kann Schiller weitreichende Thesen über die Wechselwirkung von Geist und Körper, die er in seinen frühen Schriften mit dem Verweis auf Stahl und Lavater – verbunden mit dem in diesem Paradigma unvermeidlichen Vorbehalt der mangelnden theoretischen und empirischen Begründung – plausibel zu machen versuchte, nun ohne diesen Vorbehalt wiederholen. Das Folgeproblem, das dabei schon bei Schiller sichtbar wird, ist das Problem aller Versuche einer Naturphilosophie auf der Basis der Transzendentalphilosophie, die von der nächsten Generation der Frühromantiker nicht zuletzt aufgrund der von Schiller erhaltenen Anregungen unternommen worden sind: Man redet über ›regulative‹ Begriffe innerhalb der generellen ›Einklammerung‹ in der Sprache der Behauptung eines ›konstitutiven‹ Begriffs, so daß die Verwechslung von Natur im Sinne einer ›Idee‹ und von Natur im Sinne einer empirischen Aussage und damit die Re-Ontologisierung dieser Rede beinahe unvermeidlich wird. Aber das ist ein anderes Thema!

37

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974,

322. 38

Ebd., 323 f.

»Vielleicht, dass der A nblik seinen Genius wieder aufwekt.« Die ›umschlägliche‹ Figurenpsychologie in Schillers frühen Dramen und die anthropologische Theorie der Aufmerksamkeit Von Lutz-Henning Pietsch

»Alle dramatische Bewegung ist im tiefsten Grunde umschläglich«1 – so behauptet Robert Petsch in einem Artikel von 1928; und an diese Behauptung knüpft er auch auf den ersten Seiten seiner 1945 erschienenen Monographie Wesen und Formen des Dramas an, wo er das im Drama präsentierte Geschehen als einen »bewegten« Vorgang kennzeichnet, der sich »unter dauernden Umschlägen« vollziehe.2 Petschs Kriterium der ›Umschläglichkeit‹, das sich gleichermaßen auf den äußeren Handlungsverlauf, auf innere seelische Vorgänge bei den Figuren wie auf die beim Rezipienten ausgelösten Stimmungen bezieht,3 stellt im Hinblick auf das Drama überhaupt eine bedenkliche normative Verallgemeinerung dar.4 Im Hinblick auf die Figurenpsychologie in Schillers Dramen allerdings trifft es in ausgezeichneter Weise zu, wie jüngst erst wieder Lothar Pikulik bestätigt hat, wenn er betont, daß Schillers Figuren »in ihrem dramatischen Werdegang keine feste, voraussehbare Linie einhalten, sondern unvorhergesehene Reaktionen und Wendungen zeigen«.5 Ein entsprechendes Urteil zu Schiller findet sich ebenfalls schon bei Petsch, und zwar in der 1905 erschienenen Studie Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen. Petsch grenzt hier den jungen Schiller von den Autoren des Sturm und Drang anhand der unterschiedlichen hamartia-Konzeption ab. Während bei Lenz, Klinger, Wagner und (mit Einschränkungen) auch bei Goethe der Held ganz von einer übermächtigen Leidenschaft beherrscht sei, die sein Handeln naturgesetzartig bestimme und alle entgegengesetzten Tendenzen des Gefühls oder Intellekts ausRobert Petsch: Schlachten und Aufzüge auf der Bühne, in: Hamburger Fremdenblatt, 7. April 1928, Literarische Rundschau Nr. 98. 2 Robert Petsch: Wesen und Formen des Dramas – Allgemeine Dramaturgie, Halle 1945 (= Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreihe, Bd. 29), 4. 3 Zu den verschiedenen Dimensionen und Verwendungszusammenhängen des Kriteriums bei Petsch, auch zur Abgrenzung vom engeren aristotelischen Begriff der Peripetie vgl. die Registerangaben zu ›Umschlag‹, ebd., 477. 4 Petschs Abhängigkeit von der ästhetischen Tradition des Idealismus wird besonders an den Stellen deutlich, wo er das Umschlägliche des dramatischen Geschehens auf den Konflikt zweier entgegengesetzter Prinzipien zurückführt und es insgesamt als aufsteigende, zu einem höheren Ziel führende Bewegung charakterisiert. Vgl. ebd., 4, 15, 261. 5 Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe – Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie, Paderborn 2004, 96. 1

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schalte, stehe bei Schiller der Intellekt des Helden im Spannungsfeld unterschiedlicher Neigungen, die darum konkurrieren, ihn auf ihre Seite zu ziehen und seine Handlungsziele zu beeinflussen. Schiller, so faßt Petsch die Differenz zu den Stürmern und Drängern zusammen, »hält sich lieber an die von Abel bis zur Ermüdung beschriebene Wechselwirkung der Neigungen mit ihren Kämpfen und Rückfällen, als an die geradlinige Entwickelung der Leidenschaft«.6 Mit der Erwähnung Jacob Friedrich Abels (1751-1829), Schillers philosophischem Lehrer an der Karlsschule, ist ein ideengeschichtliches Bezugsfeld der Schillerschen Figurenpsychologie eröffnet, dessen grundsätzliche Bedeutung Petsch zwar schon sehr genau gesehen hat, dessen umfassende Rekonstruktion jedoch erst in den letzten beiden Jahrzehnten, vor allem durch die grundlegenden Arbeiten Wolfgang Riedels, geleistet worden ist.7 Im folgenden soll versucht werden, das explikative Potential dieses Bezugsfelds im Hinblick auf Schillers frühe Dramen weiter auszuschöpfen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der ›Aufmerksamkeit‹. Dem Begriff kommt in der Diskussion des 18. Jahrhunderts um das Verhältnis von Freiheit und äußerer Determiniertheit menschlichen Handelns eine Schlüsselbedeutung zu; dies vor allem am Beispiel der Schriften Abels zu erläutern, ist Inhalt des ersten Teils der Ausführungen. Im zweiten Teil geht es dann darum, mit Hilfe der anthropologischen Theorie der Aufmerksamkeit die ›umschlägliche‹ Figurenpsychologie in Schillers frühen Dramen genauer zu analysieren.

I. Die Anthropologie der Spätaufklärung, wie Schiller sie im Rahmen seines Medizin-Studiums an der Stuttgarter Karlsschule (1775-1780) auf aktuellem Stand vermittelt bekam, stellte eine Reihe von Grundüberzeugungen der metaphysischen Tradition in Frage, und dazu gehörte auch das Vertrauen in die geistige Autonomie des Menschen. Gemäß dem (vor allem durch Albrecht von Haller inaugurierten) nervenphysiologischen Paradigma der Zeit8 wird das gesamte geistige Leben auf Robert Petsch: Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen, München 1905 (= Goethe- und Schillerstudien, Bd. 1), 51. 7 Vgl. vor allem Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 17) sowie den umfangreichen Kommentar in ders. (Hg.): Jacob Friedrich Abel – Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782), Würzburg 1995. 8 Vgl. Kenneth Dewhurst/Nigel Reeves: Friedrich Schiller – Medicine, Psychology and Literature, Oxford 1978, 100-105, 116; Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller [Anm. 7], 8, 96-99; ders.: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung – Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft (1994), 93-157, hier 108; zum allgemeineren medizingeschichtlichen Kontext vgl. Karl E. Rothschuh: Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, in: Ciba-Zeitschrift 8 (1958), Nr. 89, 2950-2978 (wieder in: Ders.: 6

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ursprünglich physische Bewegungen zurückgeführt, die vom äußerlich affizierten Sinnesorgan über die Nervenbahn ins Gehirn weitergeleitet werden und dort eine ›Spur‹ (vestigium), einen ›Eindruck‹ (impressio) im wörtlichen Sinne hinterlassen, der die Grundlage einer seelischen Empfindung oder ›Idee‹ bildet und daher analog als ›materielle Idee‹ (idea materialis) bezeichnet wird.9 Was immer der Mensch denkt, will, sich vorstellt oder woran er sich erinnert, geht von der (Re-)Aktivierung der durch Wahrnehmungen ins Gehirn eingezeichneten materiellen Ideen aus.10 Konsequenz dieses neuromechanischen Modells ist es, daß dem Willen die Kontrolle darüber, wann welche materielle Idee aufgerufen wird, zu entgleiten droht. Zum einen ist es natürlich die aktuelle sinnliche Wahrnehmung, die zur Folge hat, daß eine bestimmte materielle Idee im Gehirn entsteht bzw. reaktiviert wird. Zum anderen sind die materiellen Ideen auch untereinander nach bestimmten Gesetzen der Assoziation nerval verbunden, so daß eine materielle Idee, wenn sie aktiviert ist, ihrerseits verwandte materielle Ideen durch neuromechanische Impulse aufruft, ohne daß der Mensch diesen Prozeß bewußt beeinflussen könnte.11 Nicht nur im Hinblick auf das Denken, den Fortgang der Ideen, sondern auch im Hinblick auf das Wollen entfaltet dieser Befund allergrößte Brisanz. Empiristische Grundüberzeugung ist es ja, daß nicht nur das Denken, sondern auch die Neigungen des Menschen von sinnlichen Eindrücken abhängig sind. Genauer gesagt, beruht die Herausbildung von Neigungen auf der Erfahrung dessen, was der Seele angenehme oder unangenehme Empfindungen bereitet: Ersteres strebt sie an, letzteres sucht sie zu vermeiden.12 In gleichem Maße, wie sich die Aktualisierung der Vorstellungen, Physiologie im Werden, Stuttgart 1969 [= Medizin in Geschichte und Kultur, Bd. 2], 111-138); Gernoth Rath: Die Neuropathologie am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Von Boerhaave bis Berger – Die Entwicklung der kontinentalen Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Karl E. Rothschuh, Stuttgart 1964 (= Medizin in Geschichte und Kultur, Bd. 5), 35-47. 9 Vgl. Albrecht von Haller: Grundriß der Physiologie für Vorlesungen, Berlin 1788, §§ 366, 556558 (bei dem Buch handelt es sich um eine Übersetzung von Hallers Primae lineae physiologiae von 1747, einem medizinischen Standard-Lehrwerk der damaligen Zeit); Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise I, Leipzig 1772 [Repr. 1998], §§ 216, 223-243, 284 (Haller und Platner gehörten beide zur elementaren Lektüre an der medizinischen Fakultät der Karlsschule; vgl. Richard Weltrich: Friedrich Schiller – Geschichte seines Lebens und Charakteristik seiner Werke I, Stuttgart 1899, 255); Jacob Friedrich Abel: Dissertatio de origine characteris animi [1776], in: Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 140-179, hier §§ 11, 44; ders.: De phaenomenis sympathiae in corpore animali conspicuis dissertatio [1779], in: ebd., 237-289, hier 255 f.; ders.: Einleitung in die Seelenlehre, Stuttgart 1786 [Repr. 1985], § 42. Vgl. dazu Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller [Anm. 7], 140 f., 216 f.; ders. (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 481 f. 10 Vgl. Haller: Grundriß [Anm. 9], §§ 559 f., 562, 564; Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 344, 380, 388, 410, 424 f., 486, 576 f., 609; Abel: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 39 f., 166, 174, 1401, 1403, 1426b. 11 Vgl. Haller: Grundriß [Anm. 9], § 558; Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 437-442, 519, 630 f.; Abel: Dissertatio 1779 [Anm. 9], 263; ders.: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 149-156. Vgl. dazu auch Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 433 f. 12 Vgl. Abel: Dissertatio 1776 [Anm. 9], § 34; ders.: Rede [Seelenstärke ist Herrschaft über sich

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die sich der Seele als angenehm oder unangenehm eingeprägt haben und dementsprechend ihre Handlungsrichtung bestimmen, der Kontingenz innerer oder äußerer nervaler Reizung überantwortet wird, droht der Wille zu einem amoralischen Mechanismus degradiert zu werden.13 Das neuromechanische Modell, dem auch Schiller sich in seinen medizinischen Schriften verpflichtet zeigt,14 muß also durch Überlegungen begleitet werden, wie der Seele ihr souveräner Anteil an den Operationen des Geistes zu sichern ist, soll letzterer nicht ganz von der Eigendynamik der materiellen Ideen beherrscht sein. Solche Überlegungen kreisen in der zeitgenössischen Diskussion um den Begriff der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit bezeichnet zunächst einfach nur das Phänomen, daß die Seele sich aus der Menge verfügbarer Vorstellungen (sinnlich präsenter wie ›gespeicherter‹) einzelnen besonders zuwendet und bei ihnen verharrt. Insofern damit das rein physiologisch bedingte Geschehen bezeichnet sein kann, daß die Nervengeister in Bewegung versetzt werden und sich um eine bestimmte materielle Idee herum ansammeln,15 ist dadurch noch kein selbständiges Vermögen der Seele verbürgt. In diesem Sinn ist eine lebhafte Aufmerksamkeit erstens an bestimmte organische Voraussetzungen gebunden, wie z.B. an ein weiches, reizbares Gehirn,16 zweitens ist sie abhängig von der Stärke des äußeren Reizes, d.h. sie wird besonders von heftig auf die Sinne wirkenden, überraschenden oder die Leidenschaft erweckenden Gegenständen erregt.17 Insofern die Seele die Aufmerksamkeit aber auch in gewissem Grade bewußt lenken kann,18 insofern sie, aufgrund rationaler Abwägung, willentlichen Einfluß darauf nehmen kann, welcher Empfindung sie sich zuwendet oder von welcher Vorstellung oder Idee sie sich ihre Handlungsziele vorgeben läßt, sieht die zeitgenössische Anthropologie hier einen echten Anhaltspunkt für menschliche Freiheit

selbst] [1777], in: Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 219-236, hier 224; ders.: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 794, 920. 13 Vgl. Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 435, 484-485; Peter-André Alt: Schiller: Leben – Werk – Zeit I, München 2000, 518 f. 14 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. (im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische Ziffer gibt die Seitenzahl an). Zur Theorie des Nervengeists, der materiellen Ideen und der Assoziation in Schillers erster Dissertation Philosophie der Physiologie vgl. NA XX, 16-20; zur Abhängigkeit des Willens von Empfindung vgl. die dritte Dissertation Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, ebd., 44-46, 50. 15 Vgl. Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 242, 425. 16 Vgl. ebd., § 815. Zum Begriff der Reizbarkeit vgl. auch Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 557 f. 17 Vgl. Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 272-283; Abel: Dissertatio 1776 [Anm. 9], § 41; ders.: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 196 f., 219, 248. 18 Vgl. Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 454, 658, 660.

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gegeben. So heißt es in Abels Einleitung in die Seelenlehre (die zwar erst 1786, nach Schillers Karlsschul-Zeit, erschien, von der man aber annehmen kann, daß sie die Vorlesungsinhalte der 70er Jahre widerspiegelt)19: »Der Wille […] ist verschieden von der Empfindung. Er ist Folge derselben, so fern wir sie durch ihn zu vermindern oder zu erweitern streben. Er hangt also von ihr ab, so fern seine Aeusserung ohne gegenwärtige oder eingebildete und vorausgehende Empfindung, auf die er sich hinrichtet, nicht möglich ist, und so fern er durch dieselbe modificirt wird. Aber er bestimmt umgekehrt auch sie, so fern er die ganze Aufmerksamkeit regiert, und […] die Empfindungen modificirt, vermehrt, oder zum Theil gar erst erzeugt. Auch die Idee bestimmt den Willen, so fern sie das gegenwärtige oder künftig zu erhaltende Gute ihm darstellt, und wird von ihm bestimmt, so fern Wille die ganze Aufmerksamkeit und Richtung der Seele leitet.« Entsprechend erklärt Abel im gleichen Abschnitt »Willkühr der Aufmerksamkeit«20 zum wesentlichen Element menschlicher Freiheit. Es ist öfter hervorgehoben worden, daß für eine Zeit, in der die Determinierung des Menschen durch äußere Faktoren in besorgniserregendem Maße deutlich geworden war, dem seelischen Vermögen der Aufmerksamkeitslenkung eine zentrale Bedeutung zukam.21 Prägnant auf den Punkt gebracht wird der ambivalente Status der Aufmerksamkeit zwischen geistiger Kontrolle und physischer Determiniertheit22 in einer Formulierung des bekannten (und auch an der Karlsschule rezipierten) Popularphilosophen Christian Garve (1742-1798): »Dieses Zusammenhalten und dieses Aufhalten unsrer Aufmerksamkeit bey Einem Gegenstande erfodert allemal eine außerordentliche Kraft, die dieses bewirke; entweder die Kraft des Menschen selbst, oder die Kraft der Dinge, von denen er gerührt wird.«23 Der erstere, auf die Selbsttätigkeit der Seele zielende Begriff von Aufmerksamkeit ist es, den Schiller im zehnten Paragraphen seiner ersten Dissertation Philosophie der Physiologie (1779) Abel: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 938 f. Ebd., § 931. 21 Vgl. Dewhurst/Reeves: Friedrich Schiller [Anm. 8], 120, 129 f.; John Neubauer: The Freedom of the Machine – On Mechanism, Materialism, and the Young Schiller, in: Eighteenth Century Studies 15 (1981/82), 275-290, hier 282; Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 439, 573 f.; Alt: Schiller I [Anm. 13], 147 f. 22 Zu diesem doppelten Status der Aufmerksamkeit in der zeitgenössische Anthropologie vgl. auch die Nachweise bei David Braunschweiger: Die Lehre von der Aufmerksamkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1899, 50-69 (Kap. 3: »Reize der Aufmerksamkeit. – Willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit«). 23 Christian Garve: Einige Gedanken über das Interessirende [1771/1772], in: Ders.: Popularphilosophische Schriften I, hg. von Kurt Wölfel, Stuttgart 1974, 161-347, hier 162 (vgl. ganz ähnlich auch Platner: Anthropologie [Anm. 9], § 599). Garves Aufsatz war ursprünglich in Christian Felix Weißes Neuer Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste erschienen. Mit Garves Beiträgen zu dieser Zeischrift war Schiller durch Abels Vermittlung vertraut; vgl. Alt: Schiller I [Anm. 13], 469. Zu Abels Rezeption der Schrift vgl. auch Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 476, 477. 19 20

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vertritt24: »Die Seele hat einen thätigen Einflus auf das Denkorgan. Sie kann die Materielle Ideen stärker machen, und nach Willkühr darauf haften, und so mit macht sie auch die geistigen Ideen stärker. Diß ist das Werk der Aufmerksamkeit. Sie hat also Macht auf die Stärke der Beweggründe; ja sie selbst ist es, die sich Beweggründe macht. […] Alle Moralität des Menschen hat ihren Grund in der Aufmerksamkeit, d. h. im thätigen Einflus der Seele auf die Materiellen Ideen im Denkorgan.« Im Anschluß an diese optimistischen Betrachtung kommt Schiller allerdings, im Rahmen einer Reflexion über die Pathologie der fixen Idee,25 auch auf den Fall zu sprechen, daß eine durch Aufmerksamkeit hervorgehobene materielle Idee eine solche Stärke annehmen kann, daß sie den Fluß der Nervenimpulse im Gehirn ganz auf sich konzentriert, die Rezeptivität für andere Eindrücke blockiert und damit zur »Tyrannin«26 des Willens wird. Die Ambivalenz des Phänomens der Aufmerksamkeit wird also ansatzweise auch in Schillers Schrift deutlich. Ausführlicher problematisiert wird sie von seinem Lehrer Abel, wie dessen Seelenlehre zeigt. Unter der Überschrift »Geseze der Aufmerksamkeit« verleiht Abel hier seiner Überzeugung Ausdruck, daß der Mensch zwar grundsätzlich in der Lage ist, seinen Willen bewußt auf diejenigen Vorstellungen und Zielsetzungen auszurichten, die ihm auf lange Sicht das meiste Glück bereiten; und gemäß einer von der Moral-Sense-Philosophie beeinflußten optimistischen Gleichsetzung des Angenehmen mit dem Guten sind das für Abel notwendigerweise immer solche Vorstellungen und Zielsetzungen, die tugendhaft sind.27 Aber der Autor macht auch deutlich, daß dieser ideale Zusammenhang von aufmerksaNA XX, 26 f. Zur Abhängigkeit Schillers von Positionen seines Lehrers Abel in diesem Punkt vgl. Alt: Schiller I [Anm. 13], 163. 25 Vgl. Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 252, 269, 466; Abel: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 241, 252, 257, 1481; Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 434. 26 NA XX, 27. Als eine Form fixierter Aufmerksamkeit galt im zeitgenössischen anthropologischen Diskurs auch die Melancholie, verstanden als zwanghaftes Nachsinnen über immer dieselben schwermütigen Ideen. Vgl. Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 363, 466, 709. Die Berichte, die Schiller an der Karlsschule über seinen an Depressionen erkrankten Mitschüler Joseph Frédéric Grammont anfertigen mußte, spiegeln diese Auffassung wider, indem sie Auskunft über die Versuche geben, die Herrschaft der fixen Ideen in Grammonts Seele durch Mittel der Zerstreuung (wie Lektüre, Bewegung, Gespräche und Reisen) zu brechen. Vgl. NA XXII, 20-23, 25 sowie dazu Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller [Anm. 7], 47, 51-54, 56; aus semiotischer und diskursgeschichtlicher Sicht ferner Ingo Stöckmann: Anthropologie und Zeichengemeinschaft – Schillers Grammont-Berichte, in: Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit: Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), hg. von Jörn Steigerwald und Daniela Watzke, Würzburg 2003, 127-145, hier 129 f., 140 f., 143. Zum Zusammenhang von Melancholie und Aufmerksamkeit vgl. auch die Bemerkungen bei Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung – Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, 55 f., 60 f., 66, 68. 27 Vgl. Abel: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 202, 260, 262-264, sowie ferner auch ebd., §§ 689-692, 710, 1428-1430. 24

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mem und moralischem Handeln massiv beeinträchtig werden kann. Oft ist es, wie Abel feststellt, allein die Lebhaftigkeit und Stärke eines Eindrucks, welche bewirkt, daß die Seele sich ihm zuwendet.28 Und das, was gegenwärtig das Angenehmste ist, droht häufig demjenigen vorgezogen zu werden, was auf lange Sicht das Angenehmste ist.29 Wenn unter den Eindrücken und Vorstellungen, die unsere Handlungsziele und Neigungen bestimmen können, verschiedene in der Seele um Aufmerksamkeit konkurrieren, kommt es zu Entscheidungskonflikten.30 Hier, wenn es darum geht, das Schwanken der Seele zwischen verschiedenen Vorstellungen und den dadurch jeweils ausgelösten Handlungsimpulsen zu beschreiben, erlangen Abels Ausführungen in der Seelenlehre ihren höchsten Grad an Poetizität, wie z.B. folgende Passage zeigt31: »Wenn […] zwey entgegengesezte sich ausschliessende Zwecke gegen einVgl. ebd., §§ 196-198, 205 f., 234. Vgl. ebd., § 199. Vgl. auch Abel: Rede 1777 [Anm. 12], 224-226. 30 Dies ist der Punkt, an dem Abels Theorie der ›Seelenstärke‹ zum Tragen kommt. Der Begriff ist bei Abel eng mit dem der Aufmerksamkeit verbunden (vgl. Abel: Seelenlehre [Anm. 9], § 917). Seelenstärke wird als die Fähigkeit definiert, »unter zwey kämpfenden Leidenschaften stets die bessere zu erheben« (ebd., § 906); in gewisser Weise ist sie also identisch mit bewußt und rational ausgerichteter Aufmerksamkeit. In Abels Rede Seelenstärke ist Herrschaft über sich selbst [Anm. 12] wird der Bezug zum Problem der Aufmerksamkeit ebenfalls sehr deutlich. Vgl. zu dieser Rede und zur Philosophie der Seelenstärke auch Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 438 f., 570-575; ders.: Influxus physicus und Seelenstärke – Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel, in: Anthropologie und Literatur um 1800, hg. von Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra, München 1992 (= Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London, Bd. 54), 24-52, hier 49-52. In Abels neostoizistisch gefärbter Moralphilosophie hat Riedel eine Quelle für Schillers spätere Konzeption des Erhabenen gesehen. Vgl. ebd., 52; ders. (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 440. Zur Seelenstärke bei Schiller vgl. auch Riedels Kommentar in Friedrich Schiller: Sämtliche Werke V, hg. von Wolfgang Riedel, München/Wien 2004, 1196 f.; Alt: Schiller I [Anm. 13], 106 f., 110 f., 144, 145, 455 f., 463; Pikulik: Dramatiker [Anm. 3], 61-64. Wenn auch mit ›Seelenstärke‹ in der Regel ein moralisches Vermögen gemeint ist, so weist Abel doch ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, daß es sich von der Moral ablösen und sich ebenso im Verfolgen niedriger Ziele manifestieren kann: »Man ist öfters überhaupt nicht stark, sondern wählt vielmehr aus Schwäche einen niedrigen Zweck, und doch kann man in Rücksicht auf den leztern aufs neue Seelenstärke zeigen« (Abel: Seelenlehre [Anm. 9], § 918). Zu dieser immoralistischen Tendenz von Abels Seelenstärke-Begriff und ihrem Niederschlag bei Schiller, z.B. in der Thematisierung des ›erhabenen Verbrechers‹, vgl. Wolfgang Liepe: Der junge Schiller und Rousseau – Eine Nachprüfung der Rousseaulegende um den Räuber-Dichter, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 51 (1926), 299-328, hier 315 f. (wieder in: Ders.: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, Neumünster 1963, 29-64, hier 49); Gerhard Kluge: Kommentar, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe II, hg. von G. K., Frankfurt a. M. 1988, 869-1556, hier 872, 987 f., 1011 f., 1098 f.; Pikulik: Dramatiker [Anm. 5], 66-69, 157. 31 Abel: Seelenlehre [Anm. 9], § 903; vgl. ebd., § 204. Passagen wie diese mögen Petschs anfangs zitierte Klage über die »von Abel bis zur Ermüdung beschriebene Wechselwirkung der Neigungen mit ihren Kämpfen und Rückfällen« mit veranlaßt haben; vermutlich zielt die Bemerkung aber vor allem auf einen anonymen Beitrag im (von Schiller und Abel gemeinsam herausgegebenen) Wirtembergischen Repertorium, in welchem Abel die Schilderung des Kampfes der von 28 29

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ander kämpfen, so stellt sich erst der eine Gegenstand mit allen seinen Reizen dar, und treibt die Seele zur Handlung, dann tritt der andere, eben weil wir ihn jezt durch den ersten zu verlieren fürchten, noch mächtiger auf, erhebt sich über den ersten, scheint jezt zu siegen, aber erweckt durch den Contrast, durch den gedrohten Verlust des ersten, und durch das große Feuer, in das jezt die ganze Seele gesezt ist, denselben aufs neue wieder, und so geht es immer fort, bis endlich einer durch seine überwiegende Heftigkeit, zu der ihn der, durch Kampf entstandene, Schwung, die gegenwärtige Laune, oder eine zufällige Nebenverbindung erhoben, oder durch Schnelligkeit der Ausführung, die den andern zu Hülfe zu kommen hindert, oder durch den [sic] entstandene Ermüdung, die das Wiederaufleben des jezt abwesenden hemmt, und uns mit dem nächsten besten vorlieb zu nehmen nöthigt, den Sieg erhält, und dann oft nagende Reue selbst bey guten Handlungen, oder edles Selbstgefühl zurückläßt.« Das Hin- und Hergerissensein der Seele zwischen verschiedenen, ihr machtvoll sich aufdrängenden Eindrücken wird hier als ein dramatischer Kampf voll Heftigkeit und Feuer geschildert, für dessen Ausgang Kraft und Schnelligkeit, aber auch bloßer Zufall entscheidend sein können. Eine ähnliche Heroisierung der durch den Schwung der Seele und den mächtigen Reiz der Gegenstände beflügelten, dadurch in ihrer Ausrichtung aber auch labilen Aufmerksamkeit kann man in einer weiteren Karlsschul-Schrift Abels erkennen, nämlich in der zehn Jahre zuvor verfaßten Rede über die Entstehung und Kennzeichen grosser Geister von 1776. In dieser Rede werden die Eigenschaften, die das Genie charakterisieren, wie Begeisterung, Feuer, Größe und Kraft, in engem Zusammenhang mit dem Phänomen der Aufmerksamkeit diskutiert.32 Einerseits betont Abel immer wieder, daß für das Vollbringen großer Werke ein planvolles Verharren bei einem Gegenstand unabdingbare Voraussetzung sei.33 Andererseits ist das Genie, dessen organische Voraussetzung Abel in einer hohen Reizbarkeit des Gehirns erkennt,34 für ihn aber auch dadurch gekennzeichnet, daß Richtung und Stärke seiner Aufmerksamkeit ganz maßgeblich durch Leidenschaften mitbestimmt werden,35 daß es sich durch den Gegenstand, dem es sich zuwendet, vollkommen hinreißen und überwältigen läßt36 und daß es zuweilen durch die Gewalt der Eindrücke von einem Objekt zum nächsten fortgerissen wird.37 gegensätzlichen Neigungen und moralischen Forderungen bedrängten Seele zu einer 40seitigen Abhandlung auswalzt. Vgl. Jacob Friedrich Abel: Die grausame Tugend, in: Wirtembergisches Repertorium der Litteratur, 1. Stück (1782), 1-71, hier 33-71. 32 Schon in der Genie-Konzeption Johann Georg Sulzers, von welcher Abels Rede wahrscheinlich beeinflußt wurde, spielt die Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle. Vgl. Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 560. Vgl. auch Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 730, 812. 33 Vgl. Jacob Friedrich Abel: Rede, über die Entstehung und die Kennzeichen grosser Geister [1776], in: Riedel (Hg.): Jacob Friedrich Abel [Anm. 7], 181-218, hier 197 f., 201. 34 Vgl. ebd., 186, 188, 189, 198. Vgl. Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 814 f. 35 Vgl. ebd., 193-195, 197 f. 36 Vgl. ebd., 202 f. 37 Vgl. ebd., 201.

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Abels Genie-Rede gilt als direkte Inspirationsquelle für Schillers Konzeption seiner frühen Dramenhelden.38 Allerdings weist die Art und Weise, wie Schiller die durch Abel vermittelte Psychologie für seine Dramenproduktion nutzbar macht, eine wichtige Akzentverschiebung auf. Was sich in Abels Rede höchstens implizit andeutet bzw. was durch die Betonung rationaler Fähigkeiten des Genies39 von vornherein aufgefangen wird – daß das Genie, eben weil es sich durch ein Höchstmaß an Reizbarkeit und Intensität der Aufmerksamkeit auszeichnet, auch besonders gefährdet ist, sich durch augenblicklich und zufällig erweckte Vorstellungen und Leidenschaften von vernünftigen Handlungszielen abbringen zu lassen und seine Energie in den Dienst der falschen Sache zu stellen – gerade diese problematische Seite der ›großen Seele‹ ist es, die Schiller, gestützt auf die fundierten psychologischen Kenntnisse aus dem Karlsschul-Unterricht, in seinen Dramen weiter auslotet. Während die Ausführungen des Philosophen und Mediziners Schiller, wie die zitierte Passage aus der Philosophie der Physiologie zeigen sollte, insgesamt eher darauf hinauslaufen, am Begriff einer sich konstant nach rationalen Gesichtspunkten bestimmenden Aufmerksamkeit Freiheit und Moralität des Menschen festzumachen, hat es der Dramatiker Schiller darauf abgesehen, an der ›Umschläglichkeit‹ der Aufmerksamkeitslenkung seiner Helden ihr prekäres Schwanken zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen energisch behaupteter und durch die affizierende Gewalt äußerer Eindrücke in Frage gestellter Entscheidungsfreiheit vorzuführen. Dies soll im folgenden anhand der Dramentexte genauer gezeigt werden. Die Ausführungen beziehen sich auf die drei frühen Dramen Schillers, die schon während der Karlsschul-Zeit entstandenen Räuber (1781), den Fiesko (1783) und Kabale und Liebe (1784).

38 Die Bedeutung der in dieser Rede vertretenen Genie-Auffassung für Schillers frühe Dramen ist schon oft hervorgehoben worden. Vgl. Walter Müller-Seidel: Nachwort, in: Jacob Friedrich Abel: Rede über das Genie – Werden große Geister geboren oder erzogen und welches sind die Merkmale derselbigen?, hg. von W. M.-S., Marbach am Neckar 1955 (= Turmhahn-Bücherei, Bd. 21/22), 5870, hier 67 f.; Walter Hinderer: »Ein Augenblick Fürst hat das Mark des ganzen Daseins verschlungen« – Zum Problem der Person und der Existenz in Schillers ›Die Verschwörung des Fieso zu Genua‹, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), 230-274, hier 247; Dewhurst/Reeves: Friedrich Schiller [Anm. 8], 38, 131 f., 317; Rolf-Peter Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, in: Schillers Dramen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1992, 68-104, hier 88 f.; Kluge: Kommentar [Anm. 30], 1024 f., 1034 f., 1221, 1464; Günter Saße: »Der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich, wie in der Liebe« – Schillers Liebeskonzeption in den ›Philosophischen Briefen‹ und in ›Kabale und Liebe‹, in: Konflikt, Grenze, Dialog – Kulturkontrastive und interdisziplinäre Textzugänge, Fs. Horst Turk, hg. von Jürgen Lehmann u.a., Frankfurt a. M./Berlin 1997, 173-184, hier 173 f.; Alt: Schiller I [Anm. 13], 144, 341, 357. 39 So gehört laut Abel zu den Kennzeichen des Genies auch, daß es einen weitumfassenden Verstand besitzt, komplexe Verhältnisse schnell einsieht, richtige Begriffe bildet usw.; vgl. Abel: Rede 1776 [Anm. 32], z.B. 193, 195, 197, 199 f., 205 f., 209, 211. Vgl. auch die ausführlichen Erläuterungen bei Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 721-836 (siebtes Hauptstück: »Vom Genie«).

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II. Im ersten Auftritt der Räuber liefert Franz Moor, der hier die Worte seines Vaters wiedergibt, eine Beschreibung seines Bruders Karl im Knabenalter40: »Der feurige Geist, […] der ihn für jeden Reiz von Grösse und Schönheit so empfindlich macht; diese Offenheit die seine Seele auf dem Auge spiegelt, diese Weichheit des Gefühls, die ihn bey jedem Leiden in weinende Sympathie dahinschmelzt, dieser männliche Muth, der ihn auf den Wipfel hundertjähriger Eichen treibet, und über Gräben und Pallisaden und reissende Flüsse jagt, dieser kindische Ehrgeiz, dieser unüberwindliche Starrsinn […]« Die geniehafte Mischung aus rücksichtsloser Entschlossenheit und sensibler Empfänglichkeit für äußere Eindrücke, die in Franzens Schilderung zum Ausdruck kommt, läßt sich an sämtlichen frühen Dramenhelden Schillers feststellen, ob sie Karl Moor, Fiesko von Lavagna oder Ferdinand von Walter heißen. Sie alle sind geneigt, ihre einmal ins Auge gefaßten Ziele mit einem äußersten Grad an Kühnheit zu verfolgen und dafür alles aufs Spiel zu setzen. Den Gegenpol bilden Momente, in denen sie sich anfällig für augenblickliche Stimmungen und Sinnesreize zeigen und dadurch in ihren Entschlüssen wanken oder sie radikal ändern. Ein Beispiel bildet in den Räubern die berühmte Szene an der Donau, in welcher Karl, nachdem er kurz zuvor seine Bande im heroischen Kampf gegen eine übermächtige Armee zum Sieg geführt hat, nun beim Anblick der friedlichen Natur von der Erinnerung an seine Kindheit überwältigt wird41: »[…] o ihr Tage des Friedens! Du Schloß meines Vaters – ihr grünen schwärmerischen Thäler! O all ihr Elisiums Szenen meiner Kindheit! – Werdet ihr nimmer zurükkehren – nimmer mit köstlichen Säuseln meinen brennenden Busen kühlen? – Traure mit mir Natur – Sie werden nimmer zurükkehren, nimmer mit köstlichen Säuseln meinen brennenden Busen kühlen.« Führt diese, von einem Kameraden als »Paroxismus«42 bezeichnete Anwandlung zunächst nur dazu, daß Karl im Bewußtsein des unwiederbringlich Verlorenen den Bund mit den Räubern erneuert, so wird sein Entschluß zur Rückkehr in die Heimat unmittelbar darauf durch das Auftreten Kosinskys perfekt. Ausschlaggebend ist Kosinskys lebhafte Schilderung seines Schicksals, die enge Parallelen zu Karls Vergangenheit aufweist und sich um eine verlorene Geliebte dreht, die den gleichen Namen wie Karls Jugendliebe hat. Der Macht, mit der durch Kosinskys Erzählung die Vorstellung seiner Amalia in ihm wachgerufen wird, kann Karl nicht lange standhalten43:

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NA III, 13-14. Ebd., 80. Ebd. Ebd., 86.

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»Moor der bisher in heftigen Bewegungen hin und her gegangen, springt rasch auf, zu den Räubern. Ich muß sie sehen – auf ! […] hurtig! alle! nach Franken! in acht Tagen müssen wir dort seyn. Sie gehen ab.« Der Entschluß, Amalia wiederzusehen, wird schon in der nächsten Szene, in der Karl nach tagelangem Ritt das väterliche Schloß erreicht hat, wieder wankend. Angesichts der heimatlichen Fluren stellt sich bei Karl zunächst erneut das desillusionierende Bewußtsein ein, daß eine Rückkehr zu seinem früheren Leben unmöglich ist – bis das Bild Amalias in ihm aufsteigt und den endgültigen Ausschlag gibt. Erneut manifestiert sich der seelische Entscheidungskampf der Figur auch körperlich in ruckartigen, fahrigen Bewegungen44: »Er fährt auf. Warum bin ich hiehergekommen? […] Lebt wohl, ihr Vaterlandsthäler! einst saht ihr den Knaben Karl, und der Knabe Karl war ein glüklicher Knabe – itzt saht ihr den Mann, und er war in Verzweiflung. Er dreht sich schnell nach dem äussersten Ende der Gegend, allwo er plötzlich stille steht und nach dem Schloß mit Wehmut herüberblickt. Sie nicht sehen, nicht einen Blick? – und nur eine Mauer gewesen zwischen mir und Amalia – Nein! sehen mus ich sie – mus ich ihn – es soll mich zermalmen! Er kehrt um. Vater! Vater! dein Sohn naht – […] Amalia! Vater! Dein Karl naht! Er geht schnell auf das Schloß zu.« Karl Moor ist nicht die einzige Figur Schillers, an der sich studieren läßt, wie verschiedene, häufig durch äußeren Anstoß aktualisierte Vorstellungen sich als Zielvorstellung ablösen und dadurch zu radikalen Kehrtwendungen im Handeln führen. Das gleiche trifft für Fiesko zu, am deutlichsten in der vierzehnten Szene des vierten Akts. Nachdem Fiesko nach langem, unermüdlichem Einsatz alle Hebel der Verschwörung in Gang gesetzt hat und der Umsturz unmittelbar bevorsteht, weiht er seine Frau in seine Pläne ein und verkündet ihr voller Pathos, morgen werde sie Herzogin sein. Leonore, die in Fieskos Herrschaftsambitionen eine Bedrohung ihrer Liebe sieht, versucht nun, Fiesko in letzter Minute von seinem Plan abzubringen, indem sie ihm unter leidenschaftlichen Umarmungen und schmachtenden Blicken das Glück einer selbstgenügsamen Zweisamkeit ausmalt. Tatsächlich gelingt es ihr durch Aufbietung all ihrer sinnlichen Reize, Fiesko vollkommen zu erweichen und ihn dazu zu bewegen, sämtliche Umsturzpläne fallen zu lassen – bis ein verabredetes akustisches Zeichen ihn wieder mit aller Gewalt auf sein ursprüngliches Vorhaben zurücklenkt45: Ebd., 87 f. In Schillers Einsatz von Regieanweisungen kann man eine Anwendung seiner medizinischen Erkenntnisse über den leib-seelischen Zusammenhang sehen. Vgl. Kluge: Kommentar [Anm. 30], 1482; Pikulik: Dramatiker [Anm. 5], 12. 45 NA IV, 101 f. Das Verhalten des Titelhelden in dieser Szene veranlaßt Peter Michelsen zu der Behauptung, Fieskos schneller Stimmungsumschwung könne nicht als authentischer Ausdruck einer seelischen Realität verstanden werden, sondern diene vor allem dem theatralischen Effekt (vgl. Peter Michelsen: Schillers Fiesko – Freiheitsheld und Tyrann, in: Schiller und die höfische Welt, hg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack, Tübingen 1990, 341-358, hier 349 Anm. 8). Meine Ausführungen sollen dagegen zeigen, daß das Verhalten von Schillers 44

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»Fiesko durch und durch erschüttert. Leonore, was hast du gemacht? er fällt ihr kraftlos um den Hals Ich werde keinem Genueser mehr unter die Augen treten – […] Man hört den Kanonenschuß. Fiesko springt los. Alle Verschworene treten in den Saal. Verschworene. Die Zeit ist da! Fiesko zu Leonoren, vest. Lebe wol! Ewig – oder Genua liegt morgen zu deinen Füssen.« An dem Verhalten Leonores in der Szene wird deutlich, daß das Wissen über die Gewalt akuter sinnlicher Eindrücke von Schillers Figuren mitunter dazu benutzt wird, das Handeln anderer bewußt zu beeinflussen. Wenn man in einem Menschen bestimmte Vorstellungen mit Macht wachruft, so daß sie seine ganze Aufmerksamkeit okkupieren, werden sie andere Vorstellungen in den Hintergrund drängen und in seinen Handlungszielen entsprechend neue Prioritäten etablieren. Dieses Wissen wird häufig von den Bösewichtern in Schillers Dramen eingesetzt. So z. B. von Spiegelberg in der zweiten Szene der Räuber, als Karl, in sicherer Erwartung der nahen Aussöhnung mit seinem Vater, sich von ihm und den Exzessen des Studentenlebens endgültig verabschieden will46: »Kamerad! Mit den Narrenstreichen ists nun am Ende.« Spiegelberg versucht daraufhin, Karl von seinem Entschluß abzubringen und bei der Bande zu halten, indem er ihm seine tolldreisten Aktionen der Vergangenheit in farbiger Erzählung vergegenwärtigt47: »ha! ich muß nur dein eigenes Bild wieder vor dich rufen, das wird Feuer in deine Adern blasen, wenn dich sonst nichts mehr begeistert.« Spiegelbergs Reden vermögen es allerdings nicht, die Aufmerksamkeit seines Gegenübers, dessen Zustand in einer Bühnenanweisung als »zerstreut«48 angegeben wird, in ausreichendem Maß in Beschlag zu nehmen; Karl bleibt bei seiner Entscheidung. Figuren selbst dort, wo es gegensätzliche Extreme auf engstem Raum durchläuft, durchaus von psychologischer Konsequenz ist und sich auf anthropologische Erkenntnisse der Zeit stützt. Das ändert nichts an der Wichtigkeit der Beobachtung, daß Schiller diese Erkenntnisse dramaturgisch sehr wirkungsbewußt und effektvoll einsetzt. Letztlich ist es ja die Aufmerksamkeit nicht nur seiner Figuren, sondern vor allem die des Publikums, deren Erregung und Lenkung Schiller bei seiner dramatischen Kunst im Blick hat, wie auch seine Formulierung auf dem Theaterzettel zur Mannheimer Erstaufführung des Fiesko deutlich macht: »Heilig und feierlich war immer der stille, der große Augenblick in dem Schauspielhaus, wo die Herzen so vieler Hunderte, wie auf den allmächtigen Schlag einer mächtigen Rute, nach der Phantasie eines Dichters beben […] – wo ich des Zuschauers Seele am Zügel führe und nach meinem Gefallen einem Ball gleich dem Himmel oder der Hölle zuwerfen kann […]« (NA XXII, 90 f.). Zum Drama Schillers als ›Affekterregungskunst‹ vgl. Rüdiger Safranski: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München/Wien 2004, 118 f. 46 NA III, 22. 47 Ebd., 357 (die nach dem Erstdruck der Räuber zitierte Passage wird in der Nationalausgabe, welche die ›Löwenausgabe‹ als Textgrundlage wählt, im Lesarten-Verzeichnis wiedergegeben). 48 NA III, 24.

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Eine ähnliche psychagogische Strategie wie Spiegelberg gegenüber Karl wendet Franz gegenüber seinem Untergebenen Hermann an, um ihn als Helfershelfer für seine finsteren Machenschaften zu rekrutieren. Hermanns späteres Verhalten beweist, daß er eigentlich kein abgrundtief verdorbener Mensch und kein Mörder ist: Er erbarmt sich des alten Moors, den Franz zum Hungertod bestimmt hatte, und ernährt ihn heimlich bei Gefahr seines Lebens.49 Trotzdem sind Franzens Bemühungen im zweiten Akt, Hermann für seine Mordpläne einzuspannen, erfolgreich. Der Grund dafür liegt in der virtuosen Art, in der er ihm die durch Karl und den alten Moor erlittenen Kränkungen in geballter Form vor Augen führt. Hermanns Rachsucht wird dadurch in einem solchem Grade erregt, daß er sich zu allen Schandtaten bereit erklärt50: »Ich ruhe nicht, bis ich Ihn und Ihn unterm Boden hab.« Die Technik, das Handeln von Personen dadurch zu beeinflussen, daß man ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Eindrücke, Vorstellungen oder Erinnerungen ausrichtet, bringt Franz auch gegenüber der von ihm begehrten Amalia in Anschlag. Um ihre Liebe zu Karl, dem sie auch in dessen Abwesenheit unverbrüchlich die Treue hält, zu erschüttern, stellt Franz seinen Bruder als ausschweifenden Wollüstling dar und beschreibt sein Äußeres bis in alle ekelhaften Details als von der Syphilis gezeichnet.51 Seine ausführliche Schilderung schließt er mit den Worten52: »Du hast jenen Elenden gesehen, Amalia, der in unserem Siechenhause seinen Geist auskeuchte, die Schaam schien ihr scheues Auge vor ihm zuzublinzen – du ruftest Wehe über ihn aus. Ruf dis Bild noch einmal ganz in deine Seele zurück, und Karl steht vor dir! – Seine Küsse sind Pest, seine Lippen vergiften die deinen!« Franzens Versuch, das Idealbild Karls in Amalias Seele durch ein abstoßendes Gegenbild zu verdrängen, ist für einen Moment auch tatsächlich erfolgreich.53 Den theatralischsten Moment von manipulierender Aufmerksamkeitslenkung in Schillers frühen Dramen findet man im Fiesko. Hier sieht der republikanische VerVgl. ebd., 113. Vgl. auch schon die frühe Regung seines Gewissens, ebd., 48. Ebd., 41. 51 Franzens hier praktiziertes Verfahren, seinen Gegenstand durch Aufzählung sinnlicher Details möglichst plastisch vor Augen zu rufen, entspricht der rhetorischen Technik der evidentia (vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik – Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, §§ 810-813; Ansgar Kemmann: Art. ›Evidentia, Evidenz‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik III, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1996, Sp. 33-47). Daß sinnliche Vergegenwärtigung ein vorzügliches Mittel ist, auf die Affekte des Zuhörers zu wirken und die eigenen Redeziele zu befördern, ist natürlich rhetorisches Gemeingut seit der Antike. Insofern sind die hier dargestellten Zusammenhänge ein Beispiel für den allgemeinen Sachverhalt, daß im Verlauf des 18. Jahrhunderts Teile des rhetorischen Wissens neu sich ausdifferenzierenden Disziplinen (wie der Anthropologie) einverleibt und in ihrem Zeichen neu begründet werden. 52 NA III, 35. 53 Das zeigt besonders der (wiederum auch durch körperliche Symptome begleitete) Moment, an dem Amalia die Krise überwindet: »AMALIA (froh aufspringend). Ha! Karl! nun erkenn ich dich wieder! du bist noch ganz! ganz! alles war Lüge!« (ebd., 36). 49 50

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schwörer Verrina nur noch einen Weg, um den scheinbar zum leichtlebigen Epikureer mutierten Titelhelden wieder als Verbündeten zurückzugewinnen. Er gibt bei einem Maler ein Bild in Auftrag, das ein republikanisches Motiv aus der römischen Geschichte darstellt, den Sturz des Appius Claudius. Der Auftrag erfolgt allein zu dem Zweck, das Gemälde Fiesko zu Gesicht zu bringen und ihn durch die überraschende Konfrontation mit der pathetischen Szene so stark zu beeindrucken, daß er wieder auf den patriotischen Pfad einschwenkt54: »Vielleicht, daß der Anblik seinen Genius wieder aufwekt«. Die Szene, in welcher der Plan umgesetzt wird (II/17), weist Anklänge an den Beginn von Lessings Drama Emilia Galotti auf, als sich der Prinz unerwartet dem Porträt Emilias gegenübergestellt sieht.55 Im Vergleich der grundsätzlich ähnlichen Situationen wird die Spezifik von Schillers Arrangement deutlich. Während in der Emilia Galotti die Konfrontation mit dem Bild eine bestehende Neigung, die Liebe des Prinzen zu Emilia, zufällig bestätigt und verstärkt, ist sie im Fiesko in einen manipulativen Kontext eingebunden und mit der Erwartung verknüpft, eine seelische Disposition umzukehren, ihr durch sinnliche Impulse eine neue Richtung zu geben. Da Verrinas Plan allerdings auf einer falschen Einschätzung der Absichten Fieskos beruht, kann die erhoffte Wirkung nicht eintreten.56 Fiesko benutzt die Enthüllung des Bildes im Gegenteil dazu, seine Selbstinszenierung auf die Spitze zu treiben. So bleibt er bei seiner Kommentierung des Bildes zunächst noch der Rolle des politisch uninteressierten Epikureers treu, um dann unvermittelt die Maske falNA IV, 36. Der intertextuelle Bezug zu Lessings Drama wird auch durch das Motiv des Gemäldes markiert, welches der Virginia-Legende (dem wichtigsten Prätext der Emilia Galotti) entstammt, sowie durch eine Äußerung Fieskos, die die Umkehrung eines Zitats des Prinzen darstellt: »Doch über des Künstlers Bewunderung vergeß ich das Werk zu verschlingen« (NA IV, 61; vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe VII, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 2000, 297). 56 Umso auffälliger ist die Wirkung des Gemäldes auf Verrina, der von der dargestellten Szene so hingerissen wird, daß er sie einen Moment lang für Wirklichkeit hält, die Figuren auf dem Bild anredet und in das gemalte Geschehen eingreifen will (vgl. NA IV, 60 f.). Was hier mit Verrina geschieht, läßt sich im Sinne der zeitgenössische Anthropologie als ein Fall übersteigerter Aufmerksamkeit erfassen, verstanden im physiologischen Sinn als übermäßige Lebhaftigkeit des Nervensafts bei der Aktivierung einer materiellen Idee. Laut Platner unterscheiden sich Akte sinnlicher Empfindung, welche mit der Überzeugung von der objektiven Gegenwart des wahrgenommenen Gegenstandes verbunden sind, von Akten des bloßen Einbildens und Erinnerns letztlich nur durch den höheren Grad der Bewegung des Nervensafts, mit der die Aufmerksamkeit der Seele auf eine materielle Idee gelenkt wird. Das heißt: Wird bei der Aktivierung imaginarischer oder Gedächtnisideen der Nervensaft durch bestimmte Faktoren in außergewöhnlich starke Bewegung versetzt, kommt es zur Realitätsverkennung, die inneren Vorstellungen werden für objektive Wirklichkeit gehalten. Vgl. Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 291-299, 416-418. Die Malerei wird von Platner ausdrücklich (neben Beredsamkeit und Poesie) in die Reihe der Faktoren gestellt, welche diese Verstärkung innerer Vorstellungen veranlassen können. Vgl. ebd., § 418. Zum Verhältnis von Einbildungskraft und sinnlicher Empfindung vgl. auch Abel: Seelenlehre [Anm. 9], §§ 166, 171, 550, 592 f.; Haller: Grundriß [Anm. 9], § 559. 54 55

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len zu lassen und die Republikaner mit der Mitteilung zu überrumpeln, daß er schon längst alle Vorbereitungen für den Umsturz getroffen hat. Hier findet sich das nächste Beispiel für die Beeinflussung des Handelns durch bewußte Aufmerksamkeitslenkung. Alle Republikaner scheinen zum schnellen Handeln unter Führung Fieskos bereit, nur Verrina, der Fieskos selbstherrlichem Gebaren mißtraut,57 bleibt regungslos. Seine Lähmung wird schlagartig durchbrochen, als Bourgognino ihm den Namen seiner vom Neffen des Herzogs vergewaltigten Tochter zuruft, die durch einen Eid Verrinas58 dazu verurteilt ist, so lange im Kerker zu schmachten, bis Genua befreit ist59: »Fiesko. Aber laßt uns schleunig von Gedanken zu Thaten gehen. Alle Maschinen sind gerichtet. […] Nichts fehlt – Aber Verrina ist nachdenkend? Bourgognino. Geduld. Ich hab ein Wörtchen, das ihn rascher aufschröken soll, als des jüngsten Tages Posaunenruf. er tritt zu Verrina, ruft ihm bedeutend zu Vater, wach auf! Deine Bertha verzweifelt. Verrina. Wer sprach das? – Zum Werk Genueser!« Die gezielte Beeinflussung des Handelns durch die Konfrontation mit bestimmten Sinnesreizen, durch die bestimmte Vorstellungen aktualisiert werden,60 nimmt in Schillers Dramen auch die Form der Selbstmanipulation an. Dies ist bei Amalia der Fall, als Karl sie nach langen Jahren der Abwesenheit auf dem väterlichen Schloß aufsucht, ohne sich ihr zu erkennen zu geben. Verzweifelt wehrt sich Amalia gegen die unwiderstehliche Anziehungskraft des fremden Grafen, durch die sie ihrem Geliebten untreu zu werden droht61: »Nein, du sollst mir meinen Karl nicht entreissen! Meine Seele hat nicht Raum für zwey Gottheiten, und ich bin ein sterbliches Mädgen! Sie nimmt Karls Bild heraus. Du, mein Karl, sey mein Genius wider diesen Vgl. NA IV, 66. Vgl. ebd., 34 f. 59 Ebd., 62 f. 60 Wenn in dieser Analyse der Schillerschen Dramen nicht danach unterschieden wird, ob eine Vorstellung durch den Gegenstand selbst, durch ein ikonisches Zeichen (Gemälde) oder durch ein symbolisches Zeichen (Sprache, Kanonenschuß) aufgerufen wird, dann entspricht das der Tatsache, daß in der zeitgenössischen Anthropologie eine solche Unterscheidung unter dem Gesichtspunkt der Aufmerksamkeitserregung von untergeordneter Bedeutung ist. So betont Platner z.B., daß im Fall angenehmer Gegenstände die Aufmerksamkeit nicht nur durch die Gegenstände selbst geweckt wird, sondern ebenso durch »alle natürliche, oder willkührliche Kennzeichen […], welche die bezeichneten Objekte des Vergnügens in dem Gedächtnis erweken […]. Daher ziehen alle Worte von irgend einer solchen Bedeutung, unsere Aufmerksamkeit auf sich.« (Platner: Anthropologie [Anm. 9], § 276). Zugrunde liegt eine anthropologische Assoziationstheorie, die das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem als einen Fall mechanischer Ideenverknüpfung behandelt. Vgl. ebd., §§ 439, 619 f.; Abel: Seelenlehre [Anm. 9], § 154. Zum Verhältnis von Objekt, Bild und Begriff in Schillers anthropologischer Poetik vgl. den Beitrag von Jörg Robert in diesem Band. 61 NA III, 101. 57 58

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Fremdling, den Liebestörer! dich, dich ansehen, unverwandt, – und weg alle gottlosen Blicke nach diesem sie sitzt stumm – das Auge starr auf das Bild geheftet.« Im Kampf der Neigungen zwischen zwei Objekten muß diejenige Vorstellung, die gerade am mächtigsten durch äußere sinnliche Impulse aktualisiert wird, den Ausschlag geben: Dies ist auch die Erfahrung, die Ferdinand im zweiten Akt von Kabale und Liebe macht bzw. bewußt herbeiführt. Als sich die ihm zur Gattin bestimmte Lady Milford, für Ferdinand völlig unerwartet, in einer Unterredung als edle und feinfühlige Person erweist, die ihm in schonungsloser Selbstentblößung ihre Liebe offenbart, ist Ferdinands bedingungslose Hingabe an Luise für einen Moment erschüttert. Verstört flieht er zu ihr und berichtet von einer Stunde, »wo zwischen mein Herz und dich eine fremde Gestalt sich warf – wo meine Liebe vor meinem Gewissen erblaßte – wo meine Luise aufhörte, ihrem Ferdinand alles zu sein – – «.62 Doch beim Anblick Luises wird die Krise überwunden63: »Ferdinand geht schnell auf sie zu, bleibt sprachlos mit starrem Blick vor ihr stehen, dann verläßt er sie plötzlich, in großer Bewegung. Nein! Nimmermehr! Unmöglich, Lady! Zuviel verlangt! Ich kann dir diese Unschuld nicht opfern – […] Er faßt sie bei der Hand, und hebt sie vom Sessel. Fasse Mut, meine Teuerste! – Du hast gewonnen. Als Sieger komm ich aus dem gefährlichsten Kampf zurück.« Das Festhalten an als wertvoll erkannten Handlungszielen wird nicht nur positiv dadurch unterstützt, daß man sich bestimmten Eindrücken ausliefert, sondern auch negativ dadurch, daß man bestimmte Eindrücke vermeidet. Als Lady Milford sich in ihrem Monolog im vierten Akt dazu durchgerungen hat, Ferdinand heroisch zu entsagen und das Land zu verlassen, macht sie sich augenblicklich daran, den Abschiedsbrief an den Herzog zu schreiben. Sie will ihren Entschluß möglichst schnell in die Tat umsetzen, um auszuschließen, daß eine neue Begegnung mit dem Geliebten oder der erneute Gedanke an ihn ihre Entscheidung wieder in Frage stellen könnte64: »Entschlossen zum Schreibpult gehend. Jetzt gleich muß es geschehen – jetzt auf der Stelle, ehe die Reize des lieben Jünglings den blutigen Kampf meines Herzens erneuren. Sie setzt sich nieder, und fängt an zu schreiben.« Was Amalia, Ferdinand und Lady Milford in den genannten Szenen praktizieren, ist nichts anderes, als von ihrer Freiheit in dem Sinne Gebrauch zu machen, in dem der Mediziner Schiller sie definiert. In dem vorhin berührten Abschnitt aus der Philosophie der Physiologie über die Aufmerksamkeit stellt Schiller die Frage, »was Freiheit ist«,65 und führt daraufhin die Unterscheidung zwischen einem ersten und zweiten Willen ein66: »Der erste Wille, der meine Aufmerksamkeit bestimmt, ist der 62 63 64 65 66

NA V, 39. Ebd., 40. Ebd., 80. NA XX, 26. Ebd., 27.

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freie, der lezte, der die Handlung bestimmt, ist ein Sklav des Verstands; die Freiheit liegt also nicht darinn, daß ich das wähle, was mein Verstand für das beste erkannt hat, (dann diß ist ein ewiges Gesez:) sondern daß ich das wähle, was meinen Verstand zum Besten bestimmen kann.« Schillers Definition der Freiheit ist von der Erkenntnis geprägt, daß in dem Moment, in dem ich meine Aufmerksamkeit einer bestimmten Vorstellung oder sinnlichen Reizquelle zugewandt habe, Freiheit im strengen Sinn bereits verwirkt ist. Das weitere Handeln folgt dem mechanischen Prinzip, daß der Wille immer nach demjenigen strebt, was auf der Basis der verfügbaren Eindrücke den maximalen Lustgewinn verspricht. Um der Zufälligkeit dieses zweiten Willens nicht ausgeliefert zu sein, richten Amalia und Ferdinand ihren ersten Willen, das heißt ihre Aufmerksamkeit bewußt auf diejenige Vorstellung aus, die am ehesten erwarten läßt, daß die daraus entspringenden Neigungen und Handlungen im Einklang mit dem stehen, was moralisch geboten ist (wie der Treue gegenüber der geliebten Person). Aus demselben Grund zieht Lady Milford ihre Aufmerksamkeit bewußt von derjenigen Vorstellung ab, von der sie weiß, daß dadurch Neigungen und Handlungen begünstigt würden, die dem moralisch Geforderten (das Liebesglück des jungen Paares nicht zu zerstören) entgegenstehen. Das Verhalten der drei Figuren entspricht der Auffassung des Mediziners und Anthropologen Schiller, daß Freiheit immer nur darin bestehen kann, zu bestimmen, wovon man sich (nicht) bestimmen lassen will.67

III. Wie die vorausgegangenen Beispiele gezeigt haben, wird es den Figuren in Schillers Dramen häufig schwer gemacht, von ihrem ersten Willen, der Aufmerksamkeitslenkung, bewußten Gebrauch zu machen. Oder, um es in den Kategorien Garves zu formulieren: Allzu häufig droht die Aufmerksamkeit von Schillers Figuren nicht durch die Kraft des Menschen, sondern durch die Kraft, mit der die Dinge auf ihn wirken, bestimmt zu werden. Die plötzliche Konfrontation mit starken sinnlichen Eindrücken, ob zufällig oder durch die bewußte Manipulation Dritter herbeigeführt, bzw. die durch diese Eindrücke sich aufdrängenden Assoziationen und Erinnerungen drohen immer wieder seine Handlungsziele zu beeinflussen und alternative, womöglich vernünftigere Handlungsmöglichkeiten aus dem Blickfeld zu rücken. Damit ist eine grundlegende figurenpsychologische Versuchsanordnung in Schillers frühen Dramen umschrieben, die nicht nur innerhalb einzelner Szenen vor67 Strenggenommen ist diese Auffassung philosophisch nicht konsequent. Denn auf welche Kriterien stützt man sich bei der Entscheidung, von welcher Reizquelle man sich bestimmen lassen will? Diese Kriterien können nach empiristischer Auffassung wiederum nur auf der Erfahrung dessen beruhen, was gut und angenehm für mich ist und was nicht, unterliegen also ihrerseits wieder dem gleichen ›Lust-Mechanismus‹ – ein Regreß.

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kommt, sondern den Kern der Gesamthandlung ausmacht. Die Theorie der durch zufällige nervale Impulse tangierten Aufmerksamkeit und der daraus folgenden potentiellen ›Umschläglichkeit‹ der Handlungsziele bildet den konkreten anthropologischen Ausgangspunkt für das dramatische Projekt des jungen Schiller: große Charaktere darzustellen, die dazu bestimmt sind, durch ihre Fülle an Kraft »nach der Richtung, die diese bekömmt, nothwendig entweder ein Brutus oder ein Katilina zu werden«.68 In den Rang einer schicksalsentscheidenden Instanz, deren Auswirkungen das ganze Spektrum moralischer Zustände des Menschen umfassen, wird die Lenkung der Aufmerksamkeit schon bei Abel gehoben. Tugend oder Laster, Glück oder Unglück, Leben oder Tod, Freude oder Schmerz, Verderbnis oder Wachstum heißen in Abels Seelenlehre die Alternativen, denen sich der Mensch verschreibt, je nachdem, wie er seine Aufmerksamkeit ausrichtet.69 Es ist die darin angedeutete Logik der fatalen Weichenstellung, die auch Schillers frühe Dramen bestimmt. Seine Helden, energisch-entschlossene und zugleich empfindsam-sensible Charaktere, haben das Potential zu höchster moralischer Statur, geraten aber an einen Punkt, an dem ihre Aufmerksamkeit von einem Umstand eingenommen wird, der mit aller Macht auf sie wirkt und in folgenschwerer Weise ihre Handlungsziele neu justiert. In den Räubern ist es der von Franz gefälschte Brief des alten Moors, der dazu führt, daß Karl, statt sich weiter um die Aussöhnung mit seinem Vater zu bemühen, in einer Geste unbändigen Trotzes die Karriere des Räuberhauptmanns wählt.70 Angesichts der Unbarmherzigkeit seines Vaters, die ihn bis aufs Tiefste erschüttert, ruft Karl aus71: »Oh ich will mir eine fürchterliche Zerstreuung machen […]« und kennzeichnet damit seinen Seelenzustand indirekt als den einer fixierten Aufmerksamkeit, welchem mit radikalen Mitteln der Ablenkung begegnet werden muß.72 Im Fiesko ist es der gewaltige Eindruck der über Genua aufgehenden Sonne, welcher den bis dahin immer noch schwankenden Titelhelden im zweiten seiner beiden berühmten Entscheidungsmonologe, beim Ausblick aus dem Fenster seines Saales, dazu bewegt, sich für die Herzogswürde und gegen die Republik zu entschließen73:

NA III, 6 (Schillers Vorrede zu den Räubern). Vgl. Abel: Seelenlehre [Anm. 9], § 260. 70 Zu den philosophischen Implikationen des durch den Brief bei Karl ausgelösten ›Universalhasses‹ vgl. Hans-Jürgen Schings: Schillers ›Räuber‹ – Ein Experiment des Universalhasses, in: Friedrich Schiller – Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, hg. von Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1982, 1-21, bes. 11-16. 71 NA III, 32. 72 Zur Diätetik der Zerstreuung als Gegenmittel zur fixierten Aufmerksamkeit siehe oben, Anm. 26; vgl. auch Platner: Anthropologie [Anm. 9], §§ 712 f. sowie die Nachweise bei Braunschweiger: Die Lehre von der Aufmerksamkeit [Anm. 22], 140-143. 73 NA IV, 67. Daß Fiesko sich hier in einer echten Entscheidungssituation befindet und sein Entschluß keineswegs schon längst getroffen ist, betont Kluge: Kommentar [Anm. 30], 1283 f. 68 69

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»Die Sonne geht auf über Genua. Diese majestätische Stadt. mit offnen Armen dagegen eilend. Mein! – und drüber emporzuflammen gleich dem königlichen Tag – drüber zu brüten mit Monarchenkraft […]« Und die gleiche psychische Struktur, wonach in einem allgemein lebhaften und reizbaren Gemüt ein einzelner äußerer Impuls ausreicht, um dem Handeln eine fatale neue Richtung zu geben, bestimmt schließlich auch den Charakter Ferdinands. Der Sekretär Wurm erkennt in dieser Eigenschaft ganz deutlich die Voraussetzung für das Gelingen der Briefintrige74: »Ich müßte mich schlecht auf den Barometer der Seele verstehen, oder der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich, wie in der Liebe. Machen Sie ihm das Mädchen verdächtig – – Wahrscheinlich oder nicht. Ein Gran Hefe reicht hin, die ganze Masse in eine zerstörende Gärung zu jagen.« Es ist die Logik einer erratischen, von zufälligen äußeren Faktoren mitbestimmten, sprunghaft von einer Zielvorstellung auf die andere sich verschiebenden Aufmerksamkeitslenkung, die Schillers ›umschlägliche‹ Dramatik prägt, in der alles irgendwie immer auf der Kippe steht, in der jede Entscheidung bei geringfügig veränderter Konstellation auch anders hätte ausfallen können und die es infolgedessen auch erlaubt, an ein und derselben Hauptfigur radikal verschiedene Dramenausgänge durchzuspielen, ohne an ihrer Gesamtanlage etwas ändern zu müssen (wie das Beispiel des Fiesko demonstriert, in dem sich in der Bühnenfassung am Ende doch der Republikaner durchsetzt).75 Inwieweit die Theorie der ästhetischen Freiheit, wie der klassische Schiller sie formuliert, sich auch als Versuch lesen läßt, den Gefahren der unkontrollierten und fehlgeleiteten Aufmerksamkeit ein Regulationsmodell entgegenzusetzen; inwiefern sich z.B. die in den Ästhetischen Briefen verwendeten Kategorien der ›Verwilderung‹ und der ›Barbarei‹ auch als pathologische Zustände einer ganz durch sinnliche Eindrücke hin- und hergerissenen Aufmerksamkeit einerseits und einer fixierten Aufmerksamkeit, die sich gegenüber dem Korrektiv sinnlicher Eindrücke verschließt, andererseits lesen lassen – das wäre Stoff einer eigenen Untersuchung.

74 75

NA V, 49. Vgl. dazu Safranski: Schiller [Anm. 45], 154-157.

Die Psychopathologie des Herrschers Demetrius, ein Tyrann aus verlorener Selbstachtung Von Barbara Mahlmann-Bauer

Den Arbeiten von Hans-Jürgen Schings, Wolfgang Riedel und Alexander Košenina haben wir es zu verdanken, daß wir besser als früher die wissenschaftlichen Grundlagen für die Darstellung außergewöhnlicher Menschen, Rebellen und Herrscherfiguren in Schillers Geschichtsschreibung, seinen Dramen und Prosaschriften identifizieren können.1 Die vermehrte Kenntnis des Fachschrifttums zur Anthropologie und empirischen Psychologie, das seit Schillers Studienzeit anwuchs und immer differenziertere Fallbeschreibungen und Anwendungsbereiche hervorbrachte, regt dazu an, die Herrschergestalten in Schillers historischen Dramen, ihre Widersacher, Gegenspieler als medizinische Fälle zu analysieren. Am Beispiel des letzten, unvollendeten Dramas möchte ich zeigen, inwieweit Schiller in seinem Psychogramm des Demetrius in seinen Prosaentwürfen und in den ausgearbeiteten Szenen der gleichnamigen Tragödie mit Seelenmodellen oder Fallbeschreibungen arbeitet, die aus der zeitgenössischen Fachliteratur der ›philosophischen Ärzte‹ stammen. Der ausgebildete Mediziner besaß die Fachkompetenz, pathologische Exzesse des Demetrius und seines Vorgängers auf dem russischen Thron, Boris Godunov, auf die krankmachenden Ursachen zurückzuführen. In den tragödientheoretischen und ästhetischen Schriften hat sich Schillers Auseinandersetzung mit Kants Kritiken, vor allem der Kritik der Urteilskraft und der Kritik der praktischen Vernunft, niedergeschlagen. Demnach ist der ideale Held einer, der nach einer rationalen Güterabwägung zwischen den Anforderungen der Neigungen und der Pflicht, der volonté particulière und der volonté générale, sich für das Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985; ders.: Influxus physicus und Seelenstärke – Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel, in: Anthropologie und Literatur um 1800, hg. von Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra, München 1992, 24-52; ders.: Erkennen und Empfinden – Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Der ganze Mensch – Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart 1994, 410-439; immer noch grundlegend ist Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung – Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977; ferner Alexander Košenina: Nachwort, in: Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise I [1772], Repr. Hildesheim – New York 22000. Die naturwissenschaftlichen und naturrechtlichen Voraussetzungen für die Grundlegung der Anthropologie als Wissenschaft vom ›ganzen Menschen‹ und für Hallers Theorie des Menschen als Mittelwesen analysiert Simone de Angelis: Von Newton zu Haller – Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, Tübingen 2003 (= Frühe Neuzeit, Bd. 74), 259-321. 1

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Gebot der Pflicht entscheidet. Dazu bestimmen ihn rationale Überlegung und das Bewußtsein seiner Willensautonomie. Seine rationale Seelenkraft hat stärkere Wirkung auf ihn als die Furcht vor Schmerzen, Tod und Verlust. In der frühneuzeitlichen Geschichte der Herrschaftskrisen, die der Etablierung absolutistischer Monarchien vorhergehen, und in der politischen Wirklichkeit überwiegen freilich Beispiele für Herrscher, die mit irrationalen, egoistischen Entschlüssen von ihren Untertanen unmenschliche Opfer gefordert und Krieg und Not über sie gebracht haben. Genau aus dieser Umbruchzeit stammen die Helden in Schillers historischen Dramen. Die Charakterisierungen des Demetrius, aber auch des Boris Godunov, in den überlieferten Skizzen zum Demetrius-Drama legen die Vermutung nahe, daß Schiller in den Jahren 1804 und 1805 zu einem anthropologischen Modell zurückkehrte, das er während seiner Ausbildung an der Hohen Karlsschule vermittelt bekommen hatte. Aufgrund des akademischen Unterrichts in der Hohen Karlsschule und der besonderen Autorität Jakob Friedrich Abels wurde Schiller zum Anhänger eines Seelenmodells, in dem die dunklen Neigungen und Empfindungen das Urteils-, Willens- und Handlungsvermögen stärker beeinflußten als die Verstandeskräfte. In seiner Dissertation Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen bemühte er sich, »den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den großen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes auf das Geistige in ein helles Licht zu setzen.«2 Das Paradigma, wonach die Seele weitgehend von Empfindungen ausgefüllt ist und diese ihre Tätigkeit bestimmen, während Denken und Wollen nur auf bestimmte Gegenstände zugespitzte Ausrichtungen der empfindenden Grundkraft sind, wurde von Johann Georg Sulzer, Jakob Friedrich Abel und Ernst Platner ausdifferenziert. In seiner Erzählung Verbrecher aus verlorener Ehre (Titel im Erstdruck: Verbrecher aus Infamie) hat Schiller das Seelenmodell der modernen empirischen Psychologie seiner psychologisch subtilen Schilderung zugrundegelegt, wie der Sonnenwirt Christian Wolf zum Mörder hat werden müssen. In seinen Demetrius-Skizzen präsentiert Schiller Demetrius und Boris in ihrem Denken und Empfinden ebenfalls zum großen Teil als personaler Erzähler. Deswegen erfahren wir mehr über das Seelenleben dieser Protagonisten als in den ausgeführten historischen Dramen. Schillers Beschreibungssprache für Demetrius’ pathologische Charakterveränderung stimmt partiell mit der Begrifflichkeit Sulzers, Abels und Platners überein. Nun führt aber Schiller in Demetrius einen ehrgeizigen, machthungrigen Jüngling vor, der sich als angeblicher Zarensohn vornimmt, in einer waghalsigen militärischen Unternehmung von Polen aus Moskau einzunehmen, und auf dem Gipfel seiner Macht eine 2 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. (im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische Ziffer gibt die Seitenzahl an); hier: NA XX, 41; dazu Riedel: Anthropologie [Anm. 1], 27.

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Persönlichkeitskrise erleidet, die durch die Offenbarung seiner »Nullität«3 und völligen Illegitimität verursacht wird. Der überraschende Siegeszug des Demetrius stürzt jedoch auch Boris Godunov in eine Krise, die mit seinem Selbstmord endet. Mit Blick auf die historisch-politischen Umstände, in denen herrschsüchtige polnische Aristokraten, das russische Volk und opportunistische Kosaken und Bojaren ihren Einfluß geltend zu machen versuchen, entwirft Schiller ein differenziertes Figurentableau, das weit über die psychopathologischen Fallbeschreibungen Sulzers, Abels und Platners hinausgeht. Bereits in früheren Dramen hat Schiller den Kausalzusammenhang zwischen Kränkungen, Demütigungen oder Beleidigungen und dem Ausbruch großer Leidenschaften, der auch die Gewaltbereitschaft erhöht, veranschaulicht. Schiller führt im Wallenstein und in Maria Stuart vor, wie gekränktes Ehr- und Selbstwertgefühl Herrscher zu irrationalen Entscheidungen disponiert, die politisch gravierende Folgen haben.4 Bei Demetrius ist die krankhafte Persönlichkeitsveränderung, ähnlich und stärker noch als im Falle Wallensteins und Maria Stuarts, aus den psychischen Verletzungen und den politischen Umständen verständlich. Demetrius wird zu einem Tyrannen aus verlorener Selbstachtung – vielleicht könnte man auch sagen: »aus Infamie«, denn Diffamierungen hat er von den polenfeindlichen Moskovitern und dem »Fabricator doli«,5 der ihm seine wahre Herkunft und die Gründe für seine Irreführung enthüllt, zu erleiden. Er wandelt sich zum unberechenbaren Willkürherrscher »aus verlorener Ehre«, denn die Dignität als Sohn Iwans und daher legitimer Thronerbe machen ihm der fabricator doli Sapieha und Marfa streitig. Schon im ersten Aufzug, als Demetrius auf dem polnischen Reichstag den polnischen Magnaten vorgeführt wird, provoziert ihn Sapieha mit der Bemerkung, er sei nur »Spielwerk«6 in den Händen des ehrgeizigen Mnischek. Während Maria Stuart und Wallenstein aber ihr Ich-Ideal aufrecht erhalten können, erleidet Demetrius nach dem Gespräch mit jenem Drahtzieher »X« einen Ich-Identitätsverlust und wird dadurch zur Herrschaft unfähig. Demetrius – Studienheft, NA XI, 110. Zu Schillers Demetrius-Nachlaß werden ergänzend auch die Seiten der Edition des Deutschen Klassikerverlags angegeben: Friedrich Schiller: Werke und Briefe X, hg. von Herbert Kraft und Mirjam Springer, Frankfurt a. M. 2004 (im folgenden: DKV); hier: DKV X, 343. 4 Dabei entspricht die von Schiller demonstrierte Einsicht, wie sehr der Verlauf der politischen Geschichte von unheilvollen Entscheidungen psychisch labiler Herrscher bestimmt wird, der Geschichtsauffassung des Tacitus, über deren Aktualität schon in den staatstheoretischen Abhandlungen des 17. Jahrhundert gestritten worden war. Zur Aktualität des Geschichtsbildes des Tacitus im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat – Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, bes. 55-66, dort weitere Literatur. 5 Vgl. NA XI, 94, 96; DKV X, 326, 328. Schiller übernimmt diesen Ausdruck aus Vergils Aeneis (II, Vs. 264). Vgl. Peter-André Alt: Schiller: Leben – Werk – Zeit II, München 2000, 603. 6 NA XI, 21; DKV X, 513. 3

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Ich konzentriere mich in meiner Demetrius-Analyse besonders auf die Darstellung der beiden jähen Glückswechsel in der Karriere des Demetrius, untersuche den Zusammenhang mit dem Schicksal Boris Godunovs und frage: Wie erlebt Demetrius die überraschende Erhebung zum Zarewitsch ? Welche Dispositionen bringt er für sein Amt zu herrschen mit ? Warum stürzt ihn die Eröffnung des fabricator doli, er sei gar nicht der Zarensohn, sondern nur Instrument in den Händen anti-russischer polnischer Kräfte und römisch-katholischer Parteiinteressen, derartig in Selbstzweifel, daß er die Selbstdisziplin und das Selbstvertrauen verliert ? Wieso stürzt der Aufstieg des Demetrius ebenfalls Boris in eine Existenzkrise ? Schillers Interesse geht aber über die individualpsychologischen Ätiologien hinaus (Kapitel 6). Das Klima, in dem sich Demetrius für seine Machtergreifung rüstet, ist geprägt von opportunistischen Karrieristen in Polen und vom leichtgläubigen Moskovitervolk, das jeden Herrscher begrüßt, der ihm materielle Vorteile verspricht. Indem Schiller in seinem Drama die Psychopathologie des Aufsteigers Demetrius in Beziehung setzt zum politischen Zustand in Polen und Rußland, leistet er mehr als die ›philosophischen Ärzte‹ in ihren Anthropologien. Gleichzeitig wagt er es, den Seelenzustand von Demetrius und Boris von innen zu zeigen, im Unterschied zur älteren Historiographie. Im 7. Kapitel möchte ich Mutmaßungen darüber anstellen, ob zeitgenössische Leser in Schillers Demetrius Anspielungen auf Zar Pawel I. oder gar eine Karikatur Napoleons sehen konnten und ob es in der zeitgenössischen Publizistik nach 1800 Ansätze zur Kritik an Napoleon aufgrund anscheinend psychopathischer Herrschermerkmale gibt.

I. Die Außensicht von Demetrius, dem Betrüger, in Schillers Quellen Die historische Situation: Schiller konzentriert sich in seiner Dramatisierung der Geschichte vom Aufstieg und Fall des betrogenen Betrügers Grischka Opetrief, der 1604 in Polen auftauchte, sich als Zarensohn Dimitri ausgab und von einer aufgebrachten Volksmenge unter Anführung Zuskis 1606 ermordet wurde, auf die letzte Lebensphase Dimitris.7 1584 war das Reich nach dem Tod Iwans IV. an seinen minderjährigen, geistesschwachen Sohn Feodor gekommen. Iwans Stallmeister Boris Godunov hatte die Herrschaft an sich gerissen; zur Machtsicherung ließ er, wie vermutet wird, Dimitri, den zehnjährigen Sohn Iwans aus dessen Ehe mit Maria Nagoije (»Marfa«), umbringen. Da Boris’ Machtusurpation die Auslöschung seines Rivalen, des mutmaßlichen Zarensohns Demetrius, zur Voraussetzung hat, da also die Herrschaft dieses ehemaligen Stallmeisters Iwans auf einen nie gerichtlich verfolgten Meuchelmord gegründet ist, war Boris durch Gerüchte über einen möglicherweise überlebenden Demetrius, überhaupt durch feindselige Stimmen, die 7

Ein Resumé der historischen Ereignisse bietet Alt: Schiller II [Anm. 5], 598 f.

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seine Legitimität in Frage stellen können, leicht verwundbar. Demetrius vermochte, mit polnischer und römisch-katholischer Unterstützung, 1605 die russischen Truppen zu besiegen und Moskau einzunehmen. Boris brachte sich angesichts des Siegs seines Widersachers um, Demetrius bestieg den Thron und feierte in Moskau Hochzeit mit der Woiwodentochter Marina. Eine Rebellion gegen den Usurpator profitierte von den Ressentiments der orthodoxen Gläubigen gegen den römischen Katholizismus, den Demetrius angeblich in Moskau einführen wollte. Erst 1613 begründete Michail Romanow aus der mütterlichen Familie Feodors eben die Dynastie, der noch Maria Pawlowna angehörte, deren Vermählung mit dem Weimarer Erbprinzen und Einzug ins Weimarer Schloß Schiller im November 1804 mit der Huldigung der Künste feierte. Schiller malt die emotionalen Konsequenzen aus, welche die Enthüllungen über die wahre Identität als Zarensohn auf Demetrius haben mußten. In der französischen Literatur über die Geschichte des Zarenreichs ist, nach meiner Kenntnis, von einem krankhaften Identitätsverlust des Demetrius nicht (höchstens ansatzweise) die Rede.8 Dort wird Grischka Opetrief oder Dimitri entweder als betrogener oder als wissentlicher Betrüger von außen dargestellt, entweder als tumber Tor oder als gerissener Intrigant, dessen Handlungen der Komik nicht entbehren. Am wenigsten Gedanken machten sich diejenigen Historiker über die Seele Dimitris, die ihn als gewieften, schauspielerisch begabten fourbe und imposteur betrachteten. Ein wissentlich handelnder Betrüger mußte zugleich ein kaltblütiger Kalkulator sein, wußte er doch, welche Risiken er als fremder Eindringling einging und von welchen Interessen er abhängig war, wer auf seiner Seite stand und vor wem er sich in Acht nehmen mußte. Jacques Auguste de Thou stellt Dimitri als Betrüger dar, der, von den Jesuiten und vom Papst protegiert, nach dem Zarenthron strebte. De Thou leuchtet nicht in sein Inneres. Sein Dimitri mußte sich über die Risiken seines Spiels klar sein. Der Woiwode von Sendomir unterstützt ihn, unter der Bedingung, daß er im Falle einer erfolgreichen Usurpation seine Tochter heirate und zur Zarin mache. Die Begegnung mit der angeblichen Mutter wird von de Thou von Anfang an als abgekartetes Spiel zwischen zwei vom Verlauf der Geschichte Nur die französische Rußland-Historiographie aus den ersten zwei Dritteln des 18. Jahrhunderts, die Schiller nachweislich kannte, war mir in Bern zugänglich. Deutsche Historiker und Rußlandreisende bemühten sich im 18. Jahrhundert um ein aufgeklärtes Bild vom Zarenreich, indem sie die seit Herbersteins Darstellung gängigen Vorurteile über die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit des Volkes und die grausame Willkürherrschaft der Zaren überwanden. Hierzu gehören August Ludwig Schlözer, Johann Georg Gmelin und Johann Gottlieb Gmelin, die in der Schillerforschung aber nicht als Quellen für Demetrius genannt werden. Vgl. Hans Hecker: Rußland und die deutsche Historiographie des 18. Jahrhunderts, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht – 18. Jahrhundert: Aufklärung, hg. von Mechthild Keller, München 1989 (= West-östliche Spiegelungen, Reihe A; Bd. 2), 185-215; Gert Robel: Berichte über Rußlandreisen, in: ebd., 216-247. Zu Schillers Darstellung des Volks siehe unten, Kapitel 5. Einen guten Überblick über Schillers Umgang mit den historischen Quellen vermittelt Sybille Demmer: »[…] ein gesittet Volk aus Wilden« – Schillers Rußlandbild, in: ebd., 564-584; Alt: Schiller II [Anm. 5], 597. 8

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Benachteiligten dargestellt, die ihre persönlichen Ressentiments miteinander verbinden. Das zweite Zusammentreffen mit Marfa, das bei Schiller erst die Bewußtseinskrise auslöst, braucht aufgrund dieses Interessenbündnisses gar nicht stattzufinden.9 Du Port du Tertre und Lacombe schildern die Begegnung mit der Mutter gleichfalls als Maskerade, die Demetrius Sympathien bei den Moskovitern verschaffen und seine Glaubwürdigkeit als legitimer Thronfolger verstärken sollte. Die von Boris kaltgestellte Witwe Marfa konnte derweil Genugtuung darüber empfinden, sich im Glanz der Macht des falschen Demetrius zu sonnen.10 Für Jacques Lacombe ist das opportunistische, rachsüchtige Verhalten Marfas ein Beispiel neben anderen dafür, daß Affekthandlungen den Verlauf der Geschichte bestimmen, in dem der Historiker kein rationales Prinzip mehr erkennen kann.11 Die französischen Historiker betonen, daß es dem Betrüger, einem ehrgeizigen Mönch, an »prudence« gefehlt habe, die usurpierte Herrschaft aufrechtzuerhalten. Als töricht und kurzsichtig wird die Begnadigung seines militärischen Gegenspielers Zuski aufgefaßt.12 Die Perspektive aufgeklärter Historiographie kommt in der Einschätzung zum Ausdruck, daß ein betrügerischer Thronprätendent überhaupt nur bei einem unmündigen, leichtgläubigen Volk den Schein von Legitimität und Autorität gewinnen konnte.13 Im jähen Glückswechsel, den die gegenläufigen Karrieren von Demetrius und Zuski veranschaulichen, offenbart sich die Ironie der Geschichte als Fratze eines rationalen, dem Guten und Richtigen zum Sieg verhelfenden Weltgeistes.14 Der Umstand, daß wenige Jahre später ein zweiter falscher Thronprätendent aus Polen in Moskau mit denselben Behauptungen an die Öffentlichkeit tritt, zeugt von der mangelnden Lernfähigkeit der Moskoviter und erweist sich als Ursache eines polnisch-russischen Dauerkonflikts.15 Während de Thou, Lacombe und Du Port du Tertre Dimitri als Spielball in den Händen einer skrupellos machtgierigen Clique betrachten, dessen Schicksal sie aus spöttischer Distanz wiedergeben, deutet allein Pierre-Charles Levesque an, was in Dimitri vorgegangen sein könnte, als die Schergen des zuvor begnadigten Rebellen Zuski in sein Schlafzimmer eindrangen, um ihn zu ermorden16: »A l’aspect de ce Vgl. das Summarium »Affaire du faux Demetrius« in Jacques Auguste de Thou: Histoire universelle X, Den Haag 1740, 44 (livre 135), und den Bericht über die Ermordung Dimitris, ebd., 78. 10 Vgl. François-Joachim du Port du Tertre: Histoire des conjurations, conspirations et révolutions célebres X, Paris 1762, 396-420 (»La conjuration de Zuski«), hier 402. 11 Vgl. Jacques Lacombe: Histoire des révolutions de l’empire de Russie, Paris 1760, 68. 12 Vgl. Du Port du Tertre: Histoire X [Anm. 10], 405 f. 13 Vgl. Lacombe: Histoire des révolutions [Anm. 11], 69. 14 Vgl. ebd., 74. 15 Vgl. Du Port du Tertre: Histoire X [Anm. 10], 406. 16 Pierre-Charles Levesque: Histoire de Russie, tirée des chroniques originales, de pièces authentiques, & des meilleurs historiens de la Nation III, Yverdon 1783, 267. Levesque geht (im Gegensatz zur offiziellen russischen Geschichtsschreibung) davon aus, daß Demetrius ein echter Thronprätendent gewesen sei. 9

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signe révéré, la populace se croit conduite par Dieu même, & reconnoît la voix du ciel dans celle de Couiski. Dimitri se lève à la hâte, il s’avance sur le vestibule de son palais, il espère en imposer au peuple par sa présence, mais son aspect ne fait qu’irriter d’avantage la multitude. A peine il peut prononcer quelques mots qui ne sont pas entendus; il voit qu’en un instant toute sa puissance est évanouie, & se retire dans l’attente du sort le plus affreux.« Levesque berichtet auch, wie »le faux Dimitri« als Zarewitsch von Mnichek in Anwesenheit König Sigismunds 1603 auf dem polnischen Reichstag eingeführt wurde und sich dort mit seinen einstudierten Abenteuergeschichten aus seiner Kindheit so überzeugend präsentierte, daß er selbst von Tränen überwältigt worden sei. Dieser Dimitri besaß die Fähigkeit zur Selbstillusion und könnte Schillers Gestaltung der Reichstagsszene beeinflußt haben17: »Mnichek y mena le faux Dimitri. Au milieu de cette noble assemblée, & en présence du Roi Sigismond, l’imposteur fit le récit de ses fausses aventures, &, se passionnant lui-meme pour le roman qu’il inventoit, il parut ne se rappeler qu’avec une profonde douleur les maux qu’il n’avoit point éprouvés, & interrompit plusieurs fois son récit par ses larmes.« Während Levesque das Lächerliche dieses Auftritts eines selbst sich betrügenden Betrügers betont, bemüht sich Schiller, ihm und seinen begeisterten Worten nicht nur vor seinen Zuhörern, sondern auch vor dem intendierten Publikum die größtmögliche Überzeugungskraft zu verleihen. Demetrius’ leichte Irritierbarkeit, die sich in seinem plötzlichen Erinnerungsschub betreffend seine früheste Kindheit, in seiner schwärmerischen Begeisterung für die Mission, die er als vermeintlicher Zarensohn zu haben glaubte, aber auch in seiner Panikreaktion auf die Offenbarung seiner wahren Identität zeigt, ist ein Charakterzug, den Schiller allerdings so nicht in seinen Quellen finden konnte. Der Identitätskonflikt nach der Enthüllung durch den fabricator doli ist nur der letzte Schritt in einer Krankengeschichte, die sich schon in der Kindheit an Symptomen psychischer Gefährdung äußert. Verfolgen wir nun gleichsam wie Ärzte auf der Suche nach Krankheitsursachen die Krankheit des Demetrius von ihren ersten Symptomen in der Kindheit bis zu ihrem Höhepunkt nach der Machtergreifung in Moskau! Demetrius ist die einzige Herrschergestalt, über deren frühe Kindheit Schiller ausführlich Auskunft gibt.

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Ebd., 234.

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II. Die Kindheit des Demetrius und die Wurzeln seiner psychischen Labilität Ist Demetrius’ Verlust der Selbstkontrolle und des Selbstvertrauens auf dem Gipfel seines Machtstrebens nicht die Folge von Verhaltensweisen, zu denen er seit seiner Kindheit und Jugend neigte ? Welches Seelenmodell legt Schiller seiner Beschreibung des jugendlichen Demetrius zugrunde ? Schillers Überlegung, wie er Demetrius dem Publikum näherbringen könne, offenbart das Interesse des Anthropologen18: »Wie der Held angefangen moralisch zu sinken, muß er physisch mehr interessieren. Man muß die Gewalt der Umstände, das pathetische der Situation mächtig empfinden, fortgerissen werden, für ihn zittern, von ihm fürchten.« Also muß er wegen seines abweichenden Verhaltens und seiner auffälligen äußeren Erscheinung die Zuschauer faszinieren. Schiller legt Wert darauf, die Zuschauer von Anfang an mit der Leidenschaftlichkeit des Demetrius so bekannt zu machen, daß sie für den Jugendlichen eingenommen werden und seinem strebsamen Geist Erfolg wünschen.19 Seine Phantasie ist leicht erregbar. Demetrius wird als überheblich, aufbrausend und reizbar charakterisiert. Schiller begründet seinen Status als entsprungener Mönch damit, daß er die klösterliche Disziplin nicht aushielt20: »dunkelmächtig in den Adern / Empörte sich das ritterliche Blut.« Schon in den Quellen wird seine mönchische Erziehung damit begründet, daß er von Natur aus zur Prahlerei und Selbstüberhebung (débauche) neigte und die Klosterzucht als Gegenmittel geeignet erschien.21 Wenn Grischka alias Demetrius den Verweis des Palatins, er, der mittellose Fremdling, habe keinen Anspruch auf die Woiwodentochter Marina, als Kränkung seiner Ehre auffaßt, den Konkurrenten um Marinas Gunst, der sich ihm gegenüber allerdings im Recht befindet, tötet, jedoch nach dieser Affekthandlung fassungslos darüber ist, was er – »mit willenlose[r] Hand«22 – angerichtet habe, läßt er einen Mangel an einer gesunden, rationalen Einschätzung seiner Situation und an Selbstkontrolle erkennen.23 Schiller charakterisiert ihn als Außenseiter, der »kühn und keck, hochgesinnt, trotzig« und »von entschlossenem Wesen« sei, »eine unbändige wilde feroce unabhängige Natur« voller »Uebermuth«.24 Thalheims Deutung ist unrichtig, daß die Tragik des Demetrius darin bestehe, daß er gänzlich unwissend, als bloßes Opfer fremder Betrüger, zum Verbrecher und Verräter am russischen Volke werde.25 Denn Schiller legt Wert darauf, daß er schon Demetrius – Studienheft, NA XI, 117; DKV X, 351. Vgl. NA XI, 112; DKV X, 346. 20 Demetrius – Die Redaktionen der 2. Fassung, NA XI, 210; DKV X, 522; ähnlich auch Entwürfe, NA XI, 261; DKV X, 483. 21 Vgl. Du Port du Tertre: Histoire X [Anm. 10], 397. 22 Demetrius – Entwürfe, NA XI, 262; DKV X, 484. 23 Vgl. Demetrius – Studienheft, NA XI, 133; DKV X, 367. 24 Demetrius – Skizzen, NA, XI, 146; DKV X 377; Studienheft, NA XI, 124; DKV X, 359. 25 Vgl. Hans-Günther Thalheim: Schillers ›Demetrius‹ als klassische Tragödie, in: Weimarer Beiträge 18 19

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im ersten Aufzug mit dem Drahtzieher des Betrugs, einer »Hauptperson […], welche den Faden dieses verworrenen Knäuels in der Hand hat«, bekannt wird und ihm klar sein müßte, daß er für fremde Parteiinteressen instrumentalisiert werde.26 Der noch unbekannte Demetrius erfährt nämlich schon bei seinem ersten Auftritt auf dem polnischen Reichstag, daß er ein »Spielwerk« in den Händen eines ehrgeizigen und »listgen Woiwods« sei.27 Von da an hätte Demetrius also gewarnt sein müssen. Er neigt jedoch zum »Selbstbetrug«.28 Lieber folgt er den eigenen Neigungen, die ihm vorspiegeln, er habe sich immer schon als etwas Höheres, Besseres, eben als Zarensohn gefühlt, weil diese angenehme Vorstellung seiner Eitelkeit schmeichelt. Kaum ist er aus dem Gefängnis befreit, kaum hat man ihn anhand äußerlicher Indizien, die während des Reichstags jedoch von den Bischöfen angezweifelt werden, über seine angebliche Identität als Zarensohn aufgeklärt, da fühlt er sich schon begeistert emporgehoben. Ja er wähnt sich sogar an Szenen aus der frühen Kindheit zu erinnern, die den Bildern entsprechen, die in Rußland und Polen über die Gerüchte um den heimlich vertauschten und geretteten Zarensohn kursieren. Schiller bemüht sich also, die Kindheitsgeschichte Dimitris als eine, die von Geheimnissen umwittert ist, interessant zu machen, indem er darstellt, wie der Jüngling jäh aus dem Zustand kindlicher Unwissenheit erwacht und sich plötzlich an einen Geistlichen, Feuer und ähnliche Bestandteile des Gerüchts zu erinnern glaubt. Es »muß sich in seiner Knabenerinnerung etwas finden, was jenen Selbstbetrug unterstüzt«.29 Immer wieder malt Schiller aus, wie sich Demetrius an einschlägige Kindheitserlebnisse erinnert und sich also mit seiner lebhaften Phantasie schnell in die neue, ihm aufgedrängte Rolle fügt, so als wäre er immer schon Zarewitsch.30 »Und jetzt fiels auch wie Schuppen mir vom Auge! / Erinnrungen belebten sich auf einmal / Im fernsten Hintergrund vergangner Zeit.«31 Demetrius vergleicht hier »die äusersten Grenzpfeiler der Erinnerung« mit fernen Türmen, die »in der Sonne Gold« erglänzten.32 Die untergehende Sonne steht für die Selbstliebe, welche diese Bilder heraufbeschwört und golden eintaucht. Was ihm die Einbildungskraft vormalt, sind Bilder, die er, Grischka, nur aus den wahrscheinlich oft vernommenen Gerüchten um den Zarensohn Demetrius kennt. Dabei handelt es sich um dunkle Ideen aus dem Empfindungsvermögen seiner Seele, die derartig lebhaft sind, daß sie alle klaren Ideen beiseite drängen. 1 (1955), 22-86, hier 55: »Noch niemals war ein Schillerscher Held unwissentlich so schuldig geworden, und noch niemals hatte einer zugleich so einschneidend historisch gehandelt […].« Alt nimmt diese Sichtweise auf: »Das naive Vertrauen in die neue Identität treibt den Helden ohne jegliches Schuldbewußtsein zum politischen Handeln« (Alt: Schiller II [Anm. 5], 600, vgl. auch 603). 26 Demetrius – Studienheft, NA XI, 130; DKV X, 364. 27 Demetrius – Redaktionen, NA XI, 321; DKV X, 531. 28 Demetrius – Studienheft, NA XI, 107; DKV X, 340. 29 Demetrius – Studienheft, NA XI, 107; DKV X, 340. 30 Vgl. Demetrius – Skizzen, NA XI, 151, 156, 164; DKV X, 382, 387, 395. 31 Demetrius – Redaktionen, NA XI, 313; DKV X, 525. 32 NA XI, 300; DKV X, 515.

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Beobachtungen hatten Johann Georg Sulzer, den Lehrer Abels, in der Annahme bestärkt, daß Menschen deswegen so oft gegen die Stimme der Vernunft irrational handelten, weil die dunklen Ideen ihre ganze Seele erfüllten und sich wie ein Schleier vor die vernunftgeleiteten klaren Vorstellungen legten.33 Eine dunkle Vorstellung wirke »gar nicht auf den Verstand, sondern führet unmittelbar zur Empfindung« und löst eine impulsive Reaktion, unter Umgehung der Verstandesleitung, aus.34 Unfähig, unsere verworrenen Empfindungen zu analysieren, halten wir nach Sulzers Theorie oft Einbildungen »für Wirklichkeit« oder ein fremdes, früher häufig gehörtes Vorurteil gar für das eigene Urteil.35 Mithilfe dieser Theorie kann man auch Demetrius’ »Selbstbetrug« wider bessere Einsicht erklären. Karl Philipp Moritz analysierte Selbstbetrug als Resultat eines inneren Kampfes zwischen zwei Teilen des Ichs, wobei derjenige sich als stärker erweist, der »Wünsche nach etwas Höhern« nährt. Ein falscher Schein komme dadurch zustande, daß der Wille, eine bestimmte Rolle zu spielen, stärker sei als das Vermögen dazu. Menschen neigten zum Selbstbetrug, weil sie auch vor sich selber eine Rolle spielen wollten, die größer, schöner und glänzender ist als ihre reale Rolle.36 Die plötzliche Erhebung aus dem schmählichen Stand des fremden Verbrechers zum Zarenthron stürzt den ohnehin zur Angeberei neigenden Jugendlichen in eine Identitätskrise37: »Bist du derselbe noch Demetrius ? / der du ehmals warst ?« Die Folge davon ist, daß er sich in neue Aufgaben und Projekte stürzt, für die er nicht ausgebildet ist, und sein Können überschätzt38: »Er warf sich also jezt in die Welt und ohne sich selbst zu kennen.« Wenig glaubwürdig als Zeugnis maßloser, euphorischer Selbstüberschätzung erscheint daher sein Projekt, er wolle »aus Sklaven / Menschen machen«.39 Zu seinem aufbrausenden, rechthaberischen Temperament paßt es, daß er (in der von Schiller dramaturgisch umgesetzten Reichstagsszene) Sapiehas Warnung, er solle nicht den Einflüsterungen egoistischer Intriganten glauben, habe er doch gar kein Recht zu militärischen Unternehmungen, zumal nicht zum Bruch eines Friedensvertrags mit Rußland von polnischem Boden aus, mit größenwahnsinniger Anmaßung kontert40:

Vgl. dazu Johann Georg Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet, in: Ders.: Vermischte philosophische Schriften I, Leipzig 1773, 99-120; und den Aufsatz von G. Ch. G. Wedekind: Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunkeln Ideen, in: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte (im folgenden: MES) 3 (1785), 158-165, hier 163. 34 Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes [Anm. 33], 115. 35 Ebd., 116. 36 Vgl. Karl Philipp Moritz: Über Selbsttäuschung, in: MES 8 (1791), 205-208. 37 Demetrius – 4. Samborszene, NA XI, 244; DKV X, 471. 38 Demetrius – Studienheft, NA, XI, 123; DKV X, 357. 39 Demetrius – Redaktionen, NA XI, 330; DKV X, 538. 40 NA XI, 320; DKV X, 530 f. 33

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Fürst Leo Sapieha! Ihr habt Frieden Geschloßen, sagt ihr, mit dem Czar zu Moskau ? Das habt ihr nicht, denn ich bin dieser Czar. In mir ist Moskaus Majestät, ich bin Der Sohn des Iwan und sein rechter Erbe. Wenn Pohlen Friede schließen will mit Rußland, Mit mir muß es geschehen, euer Vertrag Ist nichtig, mit dem Nichtigen errichtet.

Daraufhin klärt ihn Sapieha über die Machenschaften des Woiwoden Mnischek auf. Eine Widerrede des Demetrius hat Schiller in seinem Szenar leider nicht aufgezeichnet. Der Selbstbetrug aufgrund überstarker Selbstliebe, welche die Zweifel der Vernunft ausschaltet, wird durch die späteren Zeichen der Verehrung und Anhänglichkeit von seiten des polnischen Kleinadels, der eigenen Soldaten und der russischen Bauern verstärkt. Bei rationaler Überlegung hätte Demetrius freilich schon auf dem Reichstag die Sympathien, die ihm entgegenschlagen, auf egoistische Interessen machtversessener Woiwoden zurückführen können, wenn er nicht auf seine von blind machender Selbstliebe inspirierte Neigung hören würde. Schiller läßt die Zuschauer im Unklaren darüber, wieviel von dem, was sie selbst über die Drahtzieher des Betrugs, ihre Ziele und Mittel, wissen, auch Demetrius bekannt sein könnte. Über den Grad seines Selbstbetrugs sollten die Zuschauer rätseln dürfen. Schillers Spiel mit dem Wissen der Zuschauer war von Erfolg gekrönt, wie Thalheims Interpretation zeigt, wonach Demetrius keine Spur einer Ahnung, welches Spiel mit ihm gespielt werde, gehabt hätte. Schiller rechnete also mit Zuschauern, die mit Sulzers Theorie der Dominanz dunkler Empfindungen über Verstandeskräfte vertraut oder auf dem Niveau der Mitarbeiter und Leser des Magazins für Erfahrungsseelenkunde waren und sich über den feinsinnig dargestellten Selbstbetrug des Demetrius im klaren sein konnten.41 Vielleicht ist die sensualistische Theorie der Aufmerksamkeit, die Schiller in seiner ersten Dissertation von 1779 entwickelt, von Sulzers Auffassung beeinflußt, daß sich dunkle Empfindungen als Wirkkräfte auf Denken und Wollen stärker durchsetzen als der Verstand. Die Aufmerksamkeit bewirke, daß sich materielle Ideen stärker als geistige Ideen in der Seele durchsetzten und in der Lage seien, dem Willen durch starke Beweggründe eine bestimmte Richtung zu geben.42 Eine solche den Willen determinierende »materielle Idee«, die in Grischkas Seele »eine gewisse Stärke« beibehalte und seine »Seele treffender« rühre, wäre die dem Ich ungeheuer schmeichelhafte Vorstellung, Zarewitsch und für die Thronfolge in Moskau bestimmt zu sein.43 41 Vgl. zu diesem Thema von Selbstbetrug und Verstellungskunst Alexander Košenina: Wie die Kunst von der Natur überrumpelt werden kann – Anthropologie und Verstellungskunst, in: Barkhoff/ Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800 [Anm. 1], 53-71. 42 Vgl. Philosophie der Physiologie, NA XX 26-28 (§ 10). 43 Ebd.

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Die Aufmerksamkeit wird zur Sklavin der materiellen Idee und folglich mit Hilfe des Verstandes nach Mitteln zur Usurpation der angeblich legitimen, auf jeden Fall aber höchst schmeichelhaften Herrschaft suchen. Da die materielle Idee die Seele beherrscht, veranlaßt sie Demetrius, andere »Assoziationen«, die mit ihr in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen, zu »erdichten« und sich an diese Assoziationen je nach Gelegenheit zu »erinnern«. Im 10. Paragraphen seiner ersten Dissertation beschreibt Schiller, wie die Phantasie durch zusammenhängende materielle Ideen zur Erinnerung und Erdichtung angeregt werde, also kraft ihrer Erregbarkeit die Selbstillusion induziere.44 Demetrius hat sich so sehr an den Selbstbetrug, die willentliche Ausblendung von Selbstzweifeln und gegründeten Bedenken, gewöhnt, daß er nicht einmal nach der Offenbarung seiner »Nullität« durch den fabricator doli »X« den eigenen Soldaten zu bekennen bereit ist, daß er betrogen worden sei. Im Gegenteil: Grischka alias Demetrius versucht Marfa zu beschwören, sie solle sich für ihn erklären, auch wenn sie wisse, daß Demetrius Opfer eines Betrugs geworden sei; denn sie seien doch beide durch ähnliche Begierden in einer Interessenkoalition verbunden, Marfa aufgrund ihrer Rachsucht, Demetrius aufgrund seines Bestrebens, die einmal errungene Herrschaft zu behalten. III. Demetrius’ Zerfallenheit mit sich selbst In seinen Skizzen schildert Schiller den von einem namenlosen Boten »X« aufgeklärten Demetrius als einen heillos Zerrissenen und mit sich Entzweiten45: »In einer Lüge bin ich befangen, Zerfallen bin ich mit mir selbst! […] Fest stehen muss ich, und doch kann ichs nicht mehr durch eigene innere Ueberzeugung. Mord und Blut muß mich auf meinem Platz erhalten. […] ein tyrannischer Geist ist in ihn gefahren, aber er erscheint jetzt auch furchtbarer und mehr als Herrscher. Sein böses Gewißen zeigt sich gleich darin, daß er mehr exigiert, daß er despotischer handelt. Als auch Marina ihn aufklärt, daß sie nie geglaubt habe, er sei wahrhaftig der Zarensohn, flieht Demetrius in die Einsamkeit »und sucht sich zu betäuben.«46 Als der Drahtzieher »X« Demetrius auf dem Gipfel seiner Macht über den Betrug aufklärt, reagiert Demetrius mit einem »schreckhaften Ausdruck«, bemeistert sich aber und gewinnt soweit Kontrolle über sich, daß er diesen Unglücksboten zuerst aushorcht und erst dann ermordet.47 Sobald Ich und Rolle auseinanderfallen, treibt »sein böses Gewißen« ihn zum Vgl. ebd. Demetrius, NA XI, 170 f.; DKV X, 400 f. 46 Demetrius – Szenar, NA XI, 185; DKV X, 413. 47 »Die Handlung ist zwar ein momentanes Apperçu der Nothwendigkeit aber zugleich auch ein Werk der höchsten Wuth und Verzweiflung […]. X fodert Dank und Lohn in dem Moment, 44 45

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despotischen Handeln48: »Der finstre Argwohn läßt sich schon auf ihn nieder, er zweifelt an den andern, weil er nicht mehr an sich selbst glaubt.« In dem Moment, als Demetrius wegen seines militärischen Erfolges Dank erwartet, erntet er Spott, wodurch seine »Indignation« auf das höchste steigt. Nach der Enthüllung handelt Demetrius automatisch, ohne Selbstkontrolle und Reflexion49: »Das aufgezogene Uhrwerk geht ohne sein Zuthun.« Die Nachricht enthemmt Demetrius, so daß seine Selbstkontrolle aussetzt. Da er dem russischen Volk nicht die Wahrheit offenbaren will, ist er zur Aufrechterhaltung seiner Autorität auf die Methoden eines Despoten festgelegt. Als ihm klar wird, daß es verborgene Mächte gibt, die an seiner Inszenierung als Zarensohn Interesse hatten, und er sich als Spielball einer anti-russischen Partei mißbraucht sieht, hat er Grund, fortan allen, die Forderungen an ihn richten, zu mißtrauen. Sein Argwohn steigert sich, und er verliert die Selbstkontrolle und das Vertrauen auf seine willentlichen Kräfte, weil er im Moment, als er Respekt und Dank erwartete, die größtmögliche Kränkung erfahren hat. Unerträglich erscheint es ihm, daß ihn Gegner des Boris lange Zeit erfolgreich manipuliert haben, während er wähnte, er handle aus freien Stücken. In seiner Dissertation über den Zusammenhang der tierischen mit der geistigen Natur bezeichnete Schiller »die Ideen, die sich beim Zornigen oder Erschrockenen so intensiv stark herausheben, […] als Konvulsionen des Denkorgans«, die sich zerstörerisch auf die physische Maschine auswirken und diese mit Schmerzempfindungen überwältigen.50 Indignation und schleichender Zorn haben diese Wirkung: Sie nagen »an den Grundfesten des Körpers […]. Furcht, Unruh, Gewissensangst, Verzweiflung wirken nicht viel weniger als die hizigsten Fieber.«51 Grund für die Zerrüttung seien die verworrenen Sensationen, die von der Phantasie erzeugt würden, aber vom Gang der Vernunft nicht eingeholt werden könnten. Wer eine böse Tat begangen habe oder dabei sei, sie auszuführen, werde von ähnlichen Schauern erfüllt wie ein Fiebernder.52 Demetrius’ Zustand nach der Machtergreifung angesichts der Enthüllung seiner »Nullität« ist ein Beispiel für diesen Erregungszustand, ebenso auch Boris’ Einsicht, daß der von ihm am stärksten gefürchtete Rivale am Leben sei und nach der Zarenkrone strebe. Derartig krasse Fälle von Persönlichkeitsdissoziation und Suizidgefährdung werden in den Lehrbüchern von Abel und Platner nicht erörtert.53 Die Herrschbewo D. emetrius  sich durch ihn ins höchste Unglück versetzt sieht; dieß bringt D  emetriu  s Indignation aufs höchste« (NA XI, 216; DKV X, 450). 48 Demetrius – Skizzen, NA XI, 171; DKV X, 401. Vgl. Alt: Schiller II [Anm. 5], 604. 49 Demetrius – Studienheft, NA XI, 111; DKV X, 345. 50 NA XX, 59 (§ 14). Zu Schillers Quellen für diese Theorie der physischen Wirkung der Leidenschaften vgl. Riedel: Anthropologie [Anm. 1], 33-37. 51 NA XX, 59-60 (§ 15). 52 Vgl. ebd., 60-61 (§ 15). 53 Eine großflächige Suche nach analogen Fallbeschreibungen in der medizinisch-anthropo-

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gierde oder Machtgier wird allerdings in Beziehung zur Melancholie gesetzt. Als Symptome, an denen sie zu erkennen sei, werden Argwohn, Mißgunst und Furcht genannt. Melancholie charakterisiert Abel als gefährlichen Gemütszustand, der dann eintritt, wenn ein Konflikt zwischen Pflicht und Neigung zugunsten letzterer entschieden wird und sich daraufhin nachteilige Wirkungen einstellen. Dann bemächtigen sich selbstzerstörerische Kräfte des Melancholikers, und er wütet gegen sich und andere. Dies ist der Fall, nachdem Demetrius erfahren hat, daß er zur Zarenherrschaft nicht legitimiert sei, sie aber gleichwohl, seiner Neigung entsprechend, zu erhalten trachtet und fortan mit Furcht und Schrecken seine Macht ausübt. Abel schildert in seiner Abhandlung über Konfliktfälle zwischen Pflicht und Neigung die unangenehmen Folgen einer einmal beschlossenen und tatsächlich ausgeführten Handlung, welche die Neigung geboten, aber die Pflicht verboten habe. In der widrigen, unangenehmen Folge einer Pflichtverletzung zugunsten der Neigung stellten sich »Selbstverachtung, Selbsthaß, Schaam, Furcht und Reue in schrecklicher Menge« ein54: »Bliken sie in ihr Herz, mit Schaudern beben sie zurük vor dem, was sie erbliken, bliken sie auf andere um sich her, von allen Seiten verfolgt sie Verachtung und Haß ihrer Freunde und Feinde; in jedem Gesicht lesen sie Spuren des Unwillens gegen ihre That, jede veränderte Miene der vorübergehenden wirft ihnen ihre Schande vor.« Abel analysiert Machtsucht und übersteigerte Ehrbegierde in seiner Einleitung in die Seelenlehre nicht als verabscheuenswürdige Laster, sondern als Seelenzustände, die durch die Vorherrschaft der Empfindungen über das Vermögen, zu denken und Willensentscheidungen auszuführen, erklärbar seien. Wer in den Genuß von Macht gekommen sei, werde dazu animiert, das, was er besitzt, zu mehren. Im gleichen Maße wachse die Furcht vor »Verspottung, Beschimpfung und Rachsucht« der Gegner.55 Wer vom Genuß der Macht verwöhnt worden sei, dessen Machtgier wachse infolge der Mechanik der dunklen Seelenkräfte ins Unermeßliche. Je mehr der Machtsüchtige dabei Herz, Verstand und Willen anderer beherrsche oder zu beherrschen trachte, je mehr er dazu Gewalt einsetze, umso rauschhafter sei sein Selbstgefühl, umso größer aber auch die Angst vor der Gegenwehr der Beherrschten.56 Abel zufolge macht die Sucht nach Ehre verwundbar, weil sie zu ihrer Befriedigung auf Respektbezeugungen Untergebener zum Zweck der Selbstbestätigung angewiesen sei. Der Ehrsüchtige prahlt gern vor anderen, tut groß in logischen Fachliteratur, die übrigens in der Allgemeinen deutschen Bibliothek und ihrem Nachfolgeorgan, der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, vorgestellt und lebhaft rezensiert wird, erschiene mir lohnend (vgl. www.ub.uni-bielefeld.de/diglib). Leider waren mir in Bern nur die Originalschriften von Sulzer, Abel und Platner zugänglich. 54 Jakob Friedrich Abel, Professor der Philosophie an der Hohen Karlsschule zu Stuttgart: Erläuterungen wichtiger Gegenstände aus der philosophischen und christlichen Moral, besonders der Ascetik durch Beobachtungen aus der Seelenlehre, Tübingen 1790, 64-66. 55 Jacob Friedrich Abel: Einleitung in die Seelenlehre, Stuttgart 1786 [Repr. 1985], § 1028. 56 Vgl. ebd., § 1026 (Definition der »Machtsucht«), ferner §§ 1028-1032.

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seinen Handlungen, gibt Verdienste vor, die er in den Augen anderer gar nicht hat, neigt also dazu, sich über die Größe seiner Verdienste zu täuschen. Wer sich töricht selbst überschätzt, wird daher unverschämt, selbstgefällig, ungerecht und stolz gegen andere.57 Wer hingegen aus der Perspektive anderer gering und verächtlich von seinen Verdiensten denkt, stürzt sich in Selbstzweifel. »Misvergnügen, Reue, Schaam, Mistrauen in seine Kräfte und gegen andere Bescheidenheit, Demuth, Furcht, aber auch Neid und Eifersucht« seien die Folgen. Der diesen Leidenschaften Unterworfene mißtraut folglich seinen eigenen Kräften, wird furchtsam, neidisch und eifersüchtig.58 Eine Beschreibung von »Herrschsucht« und »Ehrsucht« als regressive Triebkräfte der Politik in der Neuzeit, die sich zu Unrecht aufgeklärt dünke, gibt Ernst Platner (1744 –1818) in seinen Philosophischen Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte.59 Hier nutzt er seine schon 1772 entwickelte anthropologische Theorie für eine kulturpessimistische, illusionslose Bilanz der Zivilisationsgeschichte. Den Umstand, daß skrupellose Machtpolitiker noch im Zeitalter der Aufklärung eine Gewaltherrschaft errichten können, betrachtet Platner als Symptom für die Unfähigkeit der Menschen, sich aufklären und höherbilden zu lassen.60 Herrschsucht führe immer noch zu »Dünkel und Einbildung«, zur unrechtmäßigen Unterjochung anderer, wobei derjenige, der seinem Herrschtrieb freien Lauf lasse, ein Sklave seines Triebs werde, weil er beim geringsten Anschein der Bedrohung argwöhnisch und furchtsam reagiere.61 Bei »wilden«, unzivilisierten Völkern fehlten gesetzliche Kontrollen zur Verhinderung oder Einschränkung einer zügellosen, triebgeleiteten Willkürherrschaft. Wer in einem wilden Volk die Herrschaft ausübt, sei fühllos und grausam gegenüber Feinden und Untergebenen.62

Vgl. ebd., § 1044. Vgl. den Abschnitt über die »Ehrsucht«, ebd., §§ 1037-1057 (Zitat ebd., § 1040). 59 Vgl. Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte II, Leipzig 1806 (erstmals erschienen beide Teile 1776 und 1782, in zweiter, erweiterter Auflage 1793 und 1800), §§ 725-760. In den Aphorismen wendet Platner seine erstmals 1772 publizierte Anthropologie zur Erklärung gesellschaftlicher und politischer Zustände und historischer Phänomene an. Vgl. ders.: Neue Anthropologie für Ärzte und Weltweise mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Ästhetik, Leipzig 1790. Die programmatische Vorrede, mit der Platner die Erstfassung dieses Lehrbuchs 1772 eröffnete, diente zur Profilierung der Anthropologie als Wissenschaft zwischen Philosophie und Medizin; sie entfiel 1790, als Anthropologie als Lehrfach etabliert war. 60 Platner: Philosophische Aphorismen II [Anm. 59], 440 f. 61 Ebd., 565 f. (§§ 966 f.). 62 Ebd., 608 (§ 1023). 57 58

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IV. Drei unfähige Herrscher: Boris Godunov, Sigismund III. und Demetrius Boris Godunov, dem ehemaligen Stallmeister Iwans IV., fehlt es ebenso an dynastischer Legitimität wie Demetrius, ganz zu schweigen davon, daß er sich auf die Zustimmung seiner Völker stützen könnte. Schiller beschreibt ihn als »sehr verhaßt, […] grausam, argwöhnisch, ein Unterdrücker vieler edeln Familien. Er wird als Thronräuber und Tyrann geschildert«,63 nur der Woiwode sagt etwas Gutes von ihm. Die von den Russen unterdrückten Völker, die Bojaren und Kosaken, verbünden sich bereitwillig mit demjenigen, der ihnen gegenüber den Russen zu höherem Ansehen zu verhelfen verspricht. Das Band, das die Kosaken an Boris bindet, ist also nicht auf Treue oder gegenseitige Verpflichtung gegründet. Boris erträgt es nicht, daß seine Untertanen später aufgrund desselben opportunistischen Prinzips dem angeblichen Demetrius zufallen. »Die Ereigniße, welche den Boris nach und nach zur Verzweiflung treiben, dürfen nicht bloß aus schlimmen Botschaften bestehen, es müssen Thatsachen darunter seyn, welche ins Auge fallen, gegenwärtige Kränkungen, Untreue und Insolenz der Moscowiter, Verrätherei der Bojaren, Desertion der Strelzi.«64 Boris’ »Stolz und diese Eifersucht über seine Herrscherwürde sind die Quelle aller seiner Fehler und seiner Unfälle. Boris ist wie ein verwundeter Tiger […].«65 Schillers Analyse des reizbaren Stolzes von Boris entspricht dem Modell des machtgierigen Herrschers, dessen pathologische Züge als typischer Melancholiker Abel und Platner in ihren Lehrbüchern hervorheben.66 Schon die Möglichkeit einer Beschimpfung, die Furcht vor einer unwürdigen Blamage ist für seinen Stolz unerträglich. Aus gekränktem Stolz sei er schließlich zur Verzweiflungstat bereit. Auf ihn trifft Platners Charakterisierung des von Herrschsucht und Stolz Besessenen zu, dem nur in einer Phase der Barbarei die Regierung zuteil werden könne.67 Der romtreue König Sigismund von Polen (1566 –1632, reg. seit 1587), Sohn des Schwedenkönigs Johannes III. (1537 –1592, reg. seit 1568), ist durch das Scheitern des Projekts seines Vaters, den Katholizismus im protestantischen Schweden wiederherzustellen, traumatisiert. Sein Bruder Johannes IV., Nachfolger Johannes III. seit 1594, mußte angesichts der Treue der protestantischen Gläubigen zur Confessio Augustana das Land verlassen.68 Sigismund rät angesichts dieser Erfahrungen im Konflikt zwischen Herrscher und Volk dem jungen Demetrius von einer militärischen Invasion Rußlands zum Zweck der Throneroberung ab, da sie ihm nie die Demetrius – Szenar, NA XI, 188; DKV X, 415 f. NA XI, 210 f.; DKV X, 443. 65 NA XI, 211, ferner 96; DKV X, 443 f., ferner 328. 66 Vgl. Abel: Einleitung [Anm. 55], §§ 1027, 1032, 1039-1046; ders.: Erläuterungen [Anm. 54], 54-66; Platner: Philosophische Aphorismen II [Anm. 59], 545-565. 67 Vgl. ebd., 565 f. (§§ 966 f.). 68 Vgl. Sven Göransson: Art. ›Schweden I: Kirchengeschichte‹, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart V, hg. von Kurt Galling, Tübingen 31961, 1592-1601, hier 1594. 63 64

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Herzen seiner Untertanen gewinnen würde.69 Sigismund hängt am Friedensvertrag, den seine Unterhändler mit dem Zaren 1582 ausgehandelt haben, weil er seinem Land Ruhe verheiße. Nur unter der Bedingung erteilt er Demetrius seinen Segen, daß dieser imstande wäre, sich das Herz der Moskauer Bürger zu erobern, denn »[d]urch fremde Waffen gründet sich kein Thron / Noch keinem Volk das sich zu ehren wußte / Drang man den Herrscher wider Willen auf.«70 Vielleicht leiten ihn außerdem unwillkürlich dunkle Vorstellungen, die durch anti-russische Ressentiments und seine Verbundenheit mit dem römischen Papsttum geprägt sind.

V. Das Seelenmodell in Schillers ›Demetrius‹ und mögliche Quellen Demetrius’ Entscheidung, seine Rolle als Eroberer weiterzuspielen, selbst nachdem er weiß, daß er eine Marionette in den Händen polnischer katholischer Intriganten war und ist, überrascht aufgrund seiner psychischen Struktur nicht. Er wird zum Tyrannen und Gewalttäter wider bessere Einsicht, weil es ihm auf der Höhe des Ruhms schwer fällt, den wohltuenden Bestätigungen seiner Selbstliebe zu entsagen. Demetrius’ Fall ist eben der eines Menschen, der »gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet«, den Sulzer in seinen Vermischten philosophischen Schriften erörtert.71 Riedel bezeichnet Sulzers Theorie der »Fehlleistungen« als die »in ihrer Zeit am weitesten gehende Theorie der intrapsychischen Fremdbestimmung, der Depotenzierung des bewußten Ich und seines freien Willens«.72 Fehlleistungen, die wir als inkonsequentes, irrationales Verhalten zu beurteilen geneigt sind, entstehen, wenn dunkle Vorstellungen aufgrund ihrer Lebhaftigkeit einen größeren Einfluß auf unser Empfinden und Begehren haben als klare, deutliche Ideen, die auf die Analyse von außer uns befindlichen Objekten gerichtet sind. Unser Verstand, der sich auf Äußeres richtet, vermag gegen die Wirkkraft der dunklen Vorstellungen kaum etwas73: »Vergeblich suchet man ihnen die Stärke der Vernunft entgegen zu stellen. Es sind Feinde, die im Hinterhalt verborgen liegen, man wird von ihnen geschlagen, und sieht nicht, woher die Schläge kommen. Eben deßwegen ist es unmöglich, sich geradezu gegen sie zu wehren. Der Mensch wird immer ein Sclave seiner Leidenschaften und seiner Vorurtheile bleiben, so lange er ihnen weiter nichts als die Vernunft entgegen zu setzen weiß.« Deswegen haben nach Sulzer Vorurteile und Leidenschaften so große Macht über die Seele eines labilen, wenig aufgeklärten Menschen. Sie verhielten sich wie Feinde, die im Schutz der Dunkelheit lauern, wo man ihre feindlichen Bewegungen Vgl. Demetrius – Entwürfe, NA XI, 255; DKV X, 477. Demetrius – Redaktionen, NA XI, 327; DKV X, 536. 71 Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes [Anm. 33], 99. 72 Riedel: Influxus physicus [Anm. 1], 31. Riedel gibt hier auch Auskunft über die Anleihen Sulzers bei Leibniz und Wolff. Vgl. auch ders.: Erkennen und Empfinden [Anm. 1], 412 f. 73 Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes [Anm. 33], 117. 69 70

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erst zu spät wahrnehme. Empfindungen überwältigten uns schneller, bevor die Vernunft in der Lage sei, durch Analyse der Außenwelteinflüsse Gründe gegen die Gültigkeit der Empfindungen anzuführen.74 Nach demselben Modell vermag auch Demetrius nicht zu erkennen, daß die dunklen Vorstellungen über Kindheitseindrücke auf Vorurteilen beruhen, mit denen er groß geworden ist.75 Die Quelle für Demetrius’ Triebhaftigkeit und Manipulierbarkeit können wir in seiner Rezeptivität und Willensschwäche erkennen. Sie schlägt in Machtbegierde um, sobald sein Empfindungsvermögen (vor allem sein Selbstwertgefühl) von Schmeichelreden beeinflußt ist; dann werden Denken und Wille, sofern sie auf äußere Gegenstände gerichtet sind, ausgeschaltet. Demetrius leidet an der Schwäche, nicht zwischen den Produkten seiner Einbildungskraft (Wahnideen) und realen Gegenständen, die ihm seine Sinne präsentieren, unterscheiden zu können. Das Funktionsmodell seiner Seele entspricht dem Seelenmodell Abels. Demnach sind Denken und Wollen nur Fähigkeiten, die von der basalen Fähigkeit der Seele, zu empfinden, abgeleitet sind, insofern sie auf spezielle äußere Objekte ausgerichtet sind.76 Denken und Wollen sind nur Modifikationen der Kraft zu empfinden, Bewegung ist eine Folge dieser Modifikationen im Hirn.77 Es ist nun offensichtlich, was den ausgebildeten Mediziner Schiller an Demetrius, dieser leicht irritierbaren, von Selbstentzweiung gefährdeten Persönlichkeit, dramaturgisch gereizt haben mag. Als einer, der seinen Trieben willenlos ausgeliefert ist – also z. B. mit »willenlose[r] Hand«78 einen hochrangigen Adeligen tötet, nur weil dieser sein Selbstwertgefühl bedroht hat –, und der zur Erhaltung dieses Gefühls auf Bestätigungen seiner selbst durch andere angewiesen ist, hat Demetrius Ähnlichkeit mit dem Sonnenwirt. Sobald Christian Wolf seine Ehre verloren zu haben wähnt, fallen ansozialisierte moralische Skrupel, und er überläßt sich seinen dunklen Rachegefühlen, die seine Seele so sehr ausfüllen, daß sie die Stimme des Gewissens ausschalten und er – »als ob die ganze Welt in meinem Flintenschuß läge und der Haß meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze sich zusammendrängte« – den Jäger Robert erschießt.79 Schiller unterscheidet 1793 zwischen großen, gemeinen und niedrigen Gesinnungen, deren Darstellung für den Künstler reizvoll sein könnte.80 Nun komme es freilich darauf an, eine gemeine Handlung, die dem Eigennutz entspringt, oder eine niedrige Gesinnung wie den Rachewunsch, der zudem noch mit verächtlichen Vgl. ebd., 119. Vgl. ebd., 116. 76 Vgl. Abel: Einleitung [Anm. 55], §§ 5 f. 77 Vgl. ebd., § 6. 78 Demetrius – Entwürfe, NA XI, 262; DKV X, 484. 79 Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1792), NA XVI, 15-16. Die Stelle ist in der früheren Version der Erzählung von 1786 textidentisch. 80 Vgl. Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst, NA XX, 242; vgl. auch NA XXI, 208 f. 74 75

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Mitteln ausgeführt werden könne, durch eine große Behandlungsart ästhetisch interessant und moralisch befriedigend auszugestalten. Schiller erörtert, unter welchen Umständen ein Dieb oder gar ein Mörder, ungeachtet der niedrigen Gesinnung, die sich im Stehlen und Morden ausdrückt, und trotz der moralischen Verwerflichkeit dieser Handlungen, dennoch ästhetisch interessant werden könne. Das Interesse des Publikums an einer »Mordthat« richtet sich »nach dem Grad der Kraft, der dabey geäußert worden ist«.81 Die Ermordung des Palatins, der Grischka den Anspruch auf die Woiwodentochter streitig machte, erweckt dementsprechend Verwunderung, traut man doch einem ausländischen Exmönch die hierbei zum Ausdruck kommende Kraft der Selbstbehauptung nicht zu. Psychologisch verständlich und entschuldbar wird die Gewalttat, sobald der Täter als Zarensohn identifiziert ist, der, indem er sich für eine Beleidigung am Palatin rächte, eine Ahnung von seiner angeblich angeborenen Herrscherwürde bekundete. Freilich verblendet das prahlerische Auftreten dieses Mörders vor dem Reichstag die Anwesenden, die darin allzu schnell ein Indiz für die noble Abkunft sehen. Zu einer Darstellung Grischkas, welche die Zuschauer auf die empörenden Ursachen einer an sich niedrigen Gewalttat aufmerksam, das Publikum in der Folge aber zum Zeugen einer vorteilhaften Persönlichkeitsveränderung macht, ist der anthropologisch geschulte Künstler erforderlich.

VI. Der Zusammenhang der individuellen Pathologie mit der Zivilisationsgeschichte in Rußland um 1600 Schiller verknüpft die psychologische Fallbeschreibung des Demetrius mit einem völkerpsychologischen Tableau der Sitten und Bräuche in Polen, Rußland und bei den Bojaren und Kosaken, die aus Sicht der Moskoviter underdogs waren. Das Seelengemälde des Demetrius geht über die Schilderung der Bedingungen, unter denen der Sonnenwirt zum Mörder wird, hinaus, weil Schiller den Bewußtseinszustand und das Handeln des Demetrius ebenso wie das Handeln des Boris, der Marina und der Marfa in seinem historisch-politischen Kontext plausibel zu machen versucht. Wer als entsprungener Mönch, minderwertiger russischer Exulant in Polen, also als Außenseiter, sozial aufzusteigen vermag, ist der Spielball oder das »Spielwerk« einer geballten Ladung von influxus physici, die von egoistischen polnischen Adeligen, von romtreuen polnischen Bischöfen, risikofreudigen Soldaten, frustrierten Opfern der Politik des tyrannischen Usurpators Boris Godunov und nicht zuletzt vom leichtgläubigen russischen Volk ausgelöst werden. Nur im Zustand der Anarchie, nur wenn Gesetze fehlen, wenn es keine Gewaltenteilung gibt und der Abstand zwischen Herrscher und Beherrschten riesengroß ist, kann ein sozial Deklassierter und Fremdling überhaupt zum Herrscher aufsteigen. Leidenschaftliche, 81

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phantasiebegabte, schauspielerisch begabte Personen, die durch ein Stigma (etwa eine fragwürdige Herkunft oder eine soziale Außenseiterposition) leicht verwundbar sind, können über sich hinauswachsen und glanzvolle Führungspositionen erreichen, wenn es Leute gibt, die an sie glauben oder ihr Eigeninteresse mit deren Schicksal verbinden. Die Gutgläubigkeit, die sich an äußeren Zeichen von Größe orientiert, zeigt einen Mangel an charakterlich geeigneten, fachlich geschulten Herrscherpersonen an.82 Das russische Reich erscheint in Schillers Sicht politisch und gesellschaftlich, zivilisationsgeschichtlich rückständig. Der unfähige, psychisch labile, mangelhaft ausgebildete, nur künstlich, hier durch mehrdeutige Insignien und Indizien, ausgewiesene Herrscher paßt zur politischen Kultur der Moskoviter wie der Schlüssel in sein Schlüsselloch. Ein Volk, das religiös, ethisch und politisch unmündig und, am Gängelband der Patriarchen und Monarchen hängend, leicht manipulierbar ist, verdient keinen aufgeklärten Herrscher. Wer nicht selbst denkt, sondern blind glaubt, ohne zu prüfen, muß sich nicht wundern, wenn er einem Demagogen zujubelt, der es als Herrscher für seine psychopathologischen Ziele mißbraucht. Das Beispiel des falschen Thronprätendenten Dimitri illustriert die generelle Beobachtung aus Schillers Versuch über den Zusammenhang, daß das »Klima« zwar nicht die »einzige Quelle des Karakters sey, aber gewiß muß, um ein Volk aufzuklären, eine Hauptrüksicht dahin genommen werden, seinen Himmel zu verfeinern.«83 Schillers Darstellung der Fortune eines Parvenus, die an die Leichtgläubigkeit und Ignoranz der unmündigen Menge geknüpft ist, veranschaulicht am Beispiel der Moskoviter die gegen die zeitgenössische Vertragstheorie gerichtete Auffassung Herders, »daß kein Volk unterdrückt wird, als das sich unterdrücken lassen will, das also der Sklaverei wert ist.«84 Das Elend der Sklaverei sei nicht »das Werk der Natur, sondern der Menschen. […] Wie aktuell eine Behandlungsart ist, welche die sozialpsychologischen Gründe der Karriere eines an sich psychisch labilen Parvenus offenzulegen versucht, wird an Versuchen Hermann Brochs, Thomas Manns oder Elias Canettis deutlich, die sozialpsychologischen Bedingungen nachzustellen, die den Aufstieg Adolf Hitlers ermöglichten. Vgl. Hermann Broch: Die Verzauberung (entstanden nach 1932); Thomas Mann: Mario und der Zauberer (1930); Elias Canetti: Die Blendung (1932); ders.: Komödie der Eitelkeit (1933). Vgl. dazu Paul-Michael Lützeler: Hermann Brochs ›Die Verzauberung‹ als politischer Roman, in: Neophilologus 61 (1977), 111-126; ders.: Hitler als Metapher – Zur Faschismuskritik im Exilroman (1933-1945), in: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses, Cambridge 1975, hg. von Leonard Forster und Hans-Gert Roloff, Bern u.a. 1976 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 2), 251-257; Gisela Berglund: Deutsche Opposition gegen Hitler in Presse und Roman des Exils – Eine Darstellung und ein Vergleich mit der historischen Wirklichkeit, Stockholm 1972; Gert Sautermeister: Thomas Mann – ›Mario und der Zauberer‹, München 1981, 11-30; Günther Scholdt: Autoren über Hitler – Schriftsteller 1919-1945 und ihr Bild vom Führer, Berlin 1993; Barbara Bauer: »Unter dem Eindruck der Ereignisse in Deutschland« – Ideologiekritik und Sprachkritik in Elias Canettis ›Komödie der Eitelkeit‹, in: Canetti als Leser, hg. von Gerhard Neumann, Freiburg 1996, 77-112, dort weitere Literatur. 83 Versuch über den Zusammenhang, NA XX, 65 (§ 19). 84 Johann Gottfried Herder: Werke III/1, hg. von Wolfgang Proß, München/Wien 2002, 335 (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Buch IX, Kapitel 4). Proß zufolge rekurriert 82

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Richteten sich die Menschen gut ein: so hätten sies gut; wählten oder duldeten sie Tyrannei und üble Regierungsformen: so mochten sie ihre Last tragen.« Entsprechend äußert Herder am Ende des 16. Buchs der Ideen die Hoffnung, die russischen Völker würden endlich bald »nach Jahrhunderten der Unterjochung und der tiefsten Erbitterung« aus dem »langen trägen Schlaf« erwachen, ihre »Sklavenketten« abschütteln, die schönen, weiten Gegenden selbsttätig in Besitz nehmen.85 Platner entwirft im Rückblick auf den wenig fortgeschrittenen Prozeß der Zivilisierung ein ähnliches Bild: Während »Despotismus, Aberglaube, Furcht, Willkür und Opportunismus« herrschten, vergrößerte sich die Kluft zwischen Regierung und Regierten, und die »Alleinherrschaft« eines Despoten gründete sich »auf freiwilligen Aberglauben und angeborenen Sklavensinn […], teils auf gewaltsam erzwungenen Gehorsam.«86 Schiller erwog zwar die Perspektive, im Auftritt des jungen Michail Romanow eine Vision der »Vereinigung von legaler Herrschaft als Ordnungsgarantie und von rechtlich-sittlicher und politischer Humanität in Staat und Volk« zu gestalten,87 verzichtete jedoch auf eine Konkretisierung, weil er in seinem Rußland-Tableau eine Huldigung an die regierende Romanow-Dynastie vermeiden wollte.88 Um einem aufgeklärten Publikum den fremdartigen historischen Stoff und ein barbarisches Land, Rußland, welches er als »den Boden des Despotismus«89 bezeichnete, die Abenteuernatur des Protagonisten und seine naiven Anhänger in Moskau näherzubringen, mußte die Handlung (Aufstieg und Fall eines betrogenen Betrügers) in den historisch-politischen Kontext eingebettet werden.90 Schiller skizziert ihn folgendermaßen91: »1. 2. 3. 4.

Polen gegen Russland. Unzufriedenheit mit Boris und seine noch nicht bevestigte Herrschaft. Keckheit der unternehmenden Personen Rohheit des Volks und des Zeitmoments, die ein so grobes Spiel möglich macht, Wilder Zustand. 5. Hazardspiel und Versuch.« Aufgrund der überlieferten Aufzeichnungen Schillers ergibt sich folgendes Bild von der politischen Gesamtlage: Herder hier auf Theorien von d’Holbach und Helvétius (vgl. den Kommentar in Herder: Werke III/2, bes. 537-541). 85 Herder: Werke III/1 [Anm. 84], 643 (Buch XVI, Kapitel 4). 86 Platner: Philosophische Aphorismen II [Anm. 59], 438. 87 Fritz Martini: Demetrius, in: Schillers Dramen – Neue Interpretationen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1979, 316-347, hier 340. 88 Vgl. dazu das Zeugnis Caroline von Wolzogens im Rückblick auf den Februar 1804 in Schillers Leben [1830], Hildesheim / New York 1990, 2. Teil, 259 f. (zitiert in DKV X, 998 f.). 89 Demetrius – Studienheft, NA XI, 110; DKV X, 343. 90 Vgl. Demmer: Schillers Rußlandbild [Anm. 8], 576. 91 NA XI, 128; DKV X, 362.

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- Unsichere Grenzen, außenpolitische Konflikte, die militärisch zu eskalieren drohen, - konfessionelle Spannungen, Aberglauben des Volks, vor allem Glaube an Äußerlichkeiten, Symbole und Abzeichen aus Mangel an Kriterien für die innere Eignung und die Erkenntnis des Wesens; Autorität der Patriarchen, Metropoliten und der religiösen Orden, - Mangel an Gesetzen, welche die Herrschaftsfolge und Rechte und Pflichten, Leistungen und Abgaben der Untertanen regeln, - Gewalt- und Willkürherrschaft, - äußerste Devotheit der Untertanen gegenüber der weltlichen und geistlichen Obrigkeit, - Rivalität mehrerer Ethnien, die sich gegenseitig mißtrauen und verunglimpfen (Russen im Gegensatz zu Bojaren, Kosaken, Tartaren, dazu kommt der religiöse Gegensatz zwischen Moskovitern und Litauern und Polen). Am Rand seines Studienhefts notiert Schiller92: »Ein rohes Land wird voraus gesezt.« Wiederholt betont Schiller, daß der »patriarchalische Zustand […] ein Hauptcharacter der rußischen Regierung« sei, der »mit dem Despotismus zusammen« hänge.93 Die vergangene Epoche der russischen Geschichte ist vergleichbar mit dem Kindesalter eines Volkes. Schillers Bild von Rußland im 16. Jahrhundert ist von völkerpsychologischen Stereotypen geprägt, die Sigmund von Herberstein (1486 –1566), Diplomat im Dienste Maximilians I., erstmals deutschsprachigen Lesern vermittelte,94 die inzwischen aber von aufklärungsfreudigen Historikern und Rußlandreisenden in Frage gestellt worden waren.95 Vor Herder und Schiller sah der Jesuitengelehrte Antonio Possevino (1533 –1611) einen Zusammenhang zwischen der Schreckens- und Willkürherrschaft Iwans IV. und seinem unmündigen, autoritätsgläubigen Volk. Eine diplomatische Mission führte Possevino als päpstlichen Legaten 1581 nach Moskau, mit dem Auftrag, auf der Basis eines Waffenstillstands zwischen Polen und Moskau, der 1582 tatsächlich für zehn Jahre in Kraft trat, eine Annäherung der orthodoxen Kirche an die römische herbeizuführen. In seinem Bericht über den Moskau-Aufenthalt96 äußert sich Possevino erstaunt darüber, daß die orthodoxen Gläubigen eiEbd., 104; DKV X, 337. Demetrius – Kollektaneen, NA XI, 76; DKV X, 313; vgl. Studienheft, NA XI, 85; DKV X, 318. Vgl. dazu auch Demmer: Schillers Rußlandbild [Anm. 8], 577. 94 Vgl. Sigmund von Herberstein: Das alte Rußland, aus dem Lat. übertragen von Wolfram von den Steinen, mit einem Nachwort von Walter Leitsch, unter Mitarbeit von Paul König, Zürich 1984 (die lateinische Ausgabe erschien 1549, eine deutsche Übersetzung 1557), bes. die Kapitel über die Geschichte, Chorographie und die Eindrücke seiner Gesandtschaftsreise, ebd., 27-62, 162-212, 293-344. 95 Vgl. Demmer: Schillers Rußlandbild [Anm. 8], 576. 96 Vgl. Antonius Possevinus SJ: Moscovia cum ijs quae ad euincendos Schismaticos attinent, ad Gregorium XIII. Pontificem Maximum duobus commentarijs absoluta, Köln 21587, 1-8. 92 93

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ner argumentativen Belehrung und Exegese der Bibel nicht zugänglich seien, sondern die griechischen Texte der Liturgie nicht einmal verstünden. Er vermißte staatliche Ansätze zur Volksbildung. Daher täten sich die Jesuiten auch so schwer mit einer Seelsorge, die zur Konversion der russisch-orthodoxen Gläubigen und zum Anschluß des Moskoviterreiches an die römische Kirche führen sollte, erklärte Possevino Papst Gregor XIII. nach seiner Rückkehr. Die russische Mentalität hielt er für das Haupthindernis, das sich der von den Jesuiten und Polen gewünschten Reunion der orthodoxen mit der römischen Kirche in den Weg stellte. Der Autoritätsgläubigkeit und patriarchalischen Fremdbestimmung der Moskauer Gläubigen entspreche, so Possevino, auch ihre rückständige politische Kultur. Als deren Repräsentant erschien dem Jesuiten der selbstherrlich auftretende, in seinem Verhalten unberechenbare Zar Iwan IV., sein Verhandlungspartner von September 1581 bis März 1582 in der Frage der Reunion.97 Wäre es möglich, daß Schiller Possevinos Moscovia gelesen hat ? Dafür spräche der Umstand, daß die Motive der jesuitischen Steuerung und Fremdbestimmung des russischen Exmönchs und des religiösen Aberglaubens im Moskovitischen Volk am Anfang seiner Arbeit am Demetrius besonders hervorgehoben werden. Die Kultur, in der Demetrius’ traumhafter Aufstieg möglich schien, ist charakterisiert durch militärische Grenzkonflikte und Rivalitäten mit Nachbarvölkern sowie innenpolitische Unterdrückung und Bevormundung; diese politischen Gegebenheiten waren in Herders und Schillers Augen typisch für politisch unterentwickelte Kulturen.

VII. Analogien der politischen Konstellation in ›Demetrius‹ zur politischen Situation nach 1800. Anspielungen auf Zar Pawel I. und auf Napoleon In der Forschungsliteratur wurde seit Karl-Heinz Hahn und Hans-Günther Thalheim98 darüber diskutiert, in welchem Maße Demetrius auch aktuelle politische Diskurse über moderne Formen der nicht-dynastischen Legitimität widerspiegeln könnte. Fritz Martini knüpft in seiner Demetriusinterpretation an diese älteren Darstellungen an.99 Eine Analyse der pro- und anti-napoleonischen deutschen Publizistik (in Zeitschriften und Zeitungen) der Jahre 1801 bis 1805 gibt es meines Wissens nicht. Es fragt sich, wie sehr Bonaparte, der im Namen der Ideen der Französi-

Vgl. ebd. sowie hierzu Barbara Mahlmann-Bauer: Knowledge as a Weapon – Antonio Possevino’s ›Bibliotheca selecta‹, in: I Gesuiti e la Ratio Studiorum, a cura di John O’Malley SJ und Manfred Hinz, Turin 2004, 315-355, hier 352-354. 98 Vgl. Thalheim: Schillers ›Demetrius‹ [Anm. 25], 57, 62; Karl-Heinz Hahn: Dramatische Dichtung – Schillers Demetrius, in: Ders.: Aus der Werkstatt deutscher Dichter, Halle 1963, 195-364, bes. 355 f. 99 Vgl. Martini: Demetrius [Anm. 87], 340-343. 97

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schen Revolution die östlichen Nachbarn mit seinem Code Napoléon beglücken wollte, von diesen gleichwohl als Usurpator empfunden wurde, vielleicht sogar als ähnliche Bedrohung für Deutschland wie der aus Polen kommende Demetrius für die Moskoviter.100 Schillers Bild des Tyrannen aus verlorener Selbstachtung, die in zeitgenössischen Lehrbüchern als Symptom der Melancholie interpretiert wird,101 verweist zum einen auf einen Herrscher, der von Charles François Philibert Masson102 als Willkürherrscher, Tyrann und »Wüthrich« beschimpft wurde: Zar Pawel I. habe, so Massons Vorwurf, Rußland, das unter Katharina II. zu einer aufgeklärten Nation umgebildet worden war, nach 1796 wieder in ein Gefängnis verwandelt, in dem Intellektuelle als mögliche Anhänger der Französischen Revolution verfolgt wurden und Deportationen nach Sibirien ohne einen Strafprozeß beliebigen unerwünschten Rußlandbesuchern drohten. Am 11. März 1801 fiel Pawel I. einer Palastrevolte zum Opfer, an der – wie ein Jahr später in der deutschen Publizistik bekannt wurde – sein eigener Sohn und Nachfolger, Alexander I., beteiligt war. Das fremde, zivilisationsgeschichtlich rückständige, aus vielen schwer beherrschbaren Völkern bestehende Rußland rückte durch dieses Ereignis 1801 wieder ins öffentliche Bewußtsein, noch bevor Herzog Karl August Verhandlungen wegen der »russischen Hochzeit« seines Sohnes mit Maria Pawlowna zu führen begann.103 Zur Publizität Rußlands trug August von Kotzebues (1761–1819) Bestseller über sein Jahr in der russischen Gefangenschaft und Verbannung bei. In Das merkwürdigste Jahr meines Lebens – Als Verbannter in Sibirien berichtet er, der selber russischer Untertan war, über seine Erfahrungen während der Reise nach Rußland und die Stationen als Gefangener in Sibirien und in St. Petersburg im Jahr 1800. Dieses Buch, das einen Panegyrikus auf Pawel I. enthält, erschien wenige Monate nach dessen Tod. Kotzebue vermied eine Analyse der politischen Hintergründe, die zur Ermordung führten, wie überhaupt die Erörterung der Todesursache.104 Masson, ehemaliger Offizier in russischen Diensten, warf Kotzebue vor, die Willkürherrschaft Pawels I. schöngefärbt zu haben, obwohl dieser doch selbst an Kotzebues abenteuerlicher

Über die in Anm. 53 genannte Web-Adresse sind Zeitschriftenartikel leicht auffindbar, die über die Politik Englands, Rußlands und Österreichs in der Abwehr Napoleons, über Napoleons Wahl zum Ersten Konsul, seine Vorbereitungen zur Kaiserkrönung und die Krönungszeremonie selbst berichten oder über den plötzlichen Tod des Zaren Pawel I. im Jahr 1801 informieren. 101 Einen Überblick über Melancholiekonzepte bringt Riedel: Anthropologie [Anm. 1], 37-60. 102 Charles François Philibert Masson: Briefe eines Franzosen an einen Deutschen, zur Beantwortung des merkwürdigsten Jahrs des Hrn. v. Kotzebue […], Basel/Koblenz 1802. 103 Über mutmaßliche Reaktionen auf diese Nachricht in Weimar trägt Karl-Heinz Hahn einige Quellen zusammen. Vgl. Hahn: Dramatische Dichtung [Anm. 98], 355 f. 104 Bis 1905 wurde in der russischen Geschichtsschreibung Apoplexie, also Schlagfluß, als offizielle Todesursache Pawels I. aufrechterhalten. Vgl. Wolfgang Promies: Nachwort, in: August von Kotzebue: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens, gekürzte Ausgabe, München 1965, 295-315, hier 306. 100

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Verbannung schuld gewesen sei.105 Schiller nahm Partei gegen den Erfolgsschriftsteller Kotzebue und begrüßte die Widerlegung von dessen Irrtümern, die Masson 1802 auf französisch herausbrachte.106 Masson klagt in seinem 9. Brief Pawel I. als Tyrannen an, der »die benachbarten Staaten mit Verbannten, Geächteten, Flüchtlingen von Unglücklichen bevölkert« und »aus seinem Palast ein schreckliches Gefängniß, aus seinem Hof ein trauriges Wachthaus gemacht« habe. Seine Hauptstadt verwandelte sich unter seiner Willkürherrschaft »in eine dumpfe Wüste«. Sein Reich habe er vom übrigen Europa »abgetrennt« und »verschlossen«. »Die sanften Gefühle der Menschlichkeit und der geselligen Verbindung« suchte er in sich und anderen »zu ersticken«, »indem er sich beinahe wie ein Gott anbeten ließ.«107 »Züge solchen Hochmuths« kenne man nur von den »barbarischsten Despoten des Alterthums, oder den ungebildetsten Nationen der neuern Zeit«.108 Dieselben psychopathischen Züge zeichnen diesen Feind der Französischen Revolution aus, auf welche Schiller in seinem Demetriusporträt Wert legte109: »Wenn Paul ein Tyrann war, so war er auch rachsüchtig; ja er rächte sich nicht allein für das Böse, was man hätte tun können, sondern sogar für das, dessen Möglichkeit er nur ahndete. […] Er war sogar unversöhnlich.« Masson findet daher Kotzebues fürstendienerische »Feigheit« empörend. Dieses Urteil mag Schiller, den programmatischen Tyrannenhasser und Verächter des rührseligen Erfolgsdramatikers Kotzebue, mit dazu veranlaßt haben, aus seinem Demetrius einen optimistischen Ausblick auf die künftige Herrschaft der Romanow-Dynastie zu verbannen, da es ihm widerstrebte, vielleicht wie Kotzebue als »käuflicher Schriftsteller«, wohlfeiler Fürstendiener, Panegyriker zu erscheinen.110 Schillers Demetrius fehlt die solide Ausbildung zum Herrscher und die Vertrautheit mit der russischen Mentalität und Religiosität. Allein der (erheblich manipulierte) Nachweis, daß er der älteste Sohn Iwans IV. sei, reicht dem Oberhaupt der russischen Kirche, der gegen Boris eingestellten Führungselite und dem abergläubischen Volke aus, um ihn als legitimen Thronfolger anzuerkennen. Eine Narbe, ein kostbar verzierter Psalter und ein Diamantenkreuz sollen als Indizien zur Identifikation mit dem totgeglaubten Demetrius genügen ? Das Vertrauen des Volks und einiger Geistlicher auf derlei Indizien scheint hoffnungslos veraltet und birgt Gefahren des Mißbrauchs. Im Unterschied zum Aufstieg Bonapartes fehlt der Leistungsnachweis, daß Demetrius auch wirklich zur Herrschaft befähigt sei. Vgl. Kotzebue: Das merkwürdigste Jahr [Anm. 104] (vgl. auch die neuere Ausgabe von Hans Schumann, Zürich 1989); Hahn: Dramatische Dichtung [Anm. 98], 355-357; Mechthild Keller: »Agent des Zaren« – August von Kotzebue, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht III, hg. von M.K., München 1992, 119-150, bes. 134-136. 106 Zu Schillers Urteil über Massons Gegenschrift vgl. Promies: Nachwort [Anm. 104], 310. 107 Masson: Briefe [Anm. 102], 123. 108 Ebd., 124. 109 Ebd., 125 f. 110 Ebd., 136; vgl. das oben [Anm. 88] genannte Zeugnis Caroline von Wolzogens. 105

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Johann Jacob Moser (1701–1785) hat die Praxis der Reichsgesetzgebung und - rechtsprechung aus der Fülle der reichs- und territorialgeschichtlichen Quellen in seinem 53 Bände umfassenden Teutschen Staats-Recht dokumentiert.111 Die Gesetze und die Rechtspraxis betreffend die Thronfolge der Kurfürsten und Fürsten werden in Mosers Teutschem Staats-Recht seit den grundlegenden Bestimmungen der Goldenen Bulle en détail in fünf Bänden referiert. Das Majorat, d. h. das Recht zur Thronfolge durch den ältesten Sohn, war nach Moser im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Regel. Kraft des Naturrechts sei dieses Gesetz auch auf andere Herrschergeschlechter und Territorien applizierbar, gelte also nicht allein nur für Kaiser, Kurfürsten und Fürsten. Moser kennt aber zahllose Ausnahmebestimmungen, die in einzelnen Territorien seit dem späten Mittelalter Rechtspraxis geworden seien. Besonders für den problematischen Fall der Debilität des ältesten Erben oder der Unmündigkeit nennt Moser aus vergangenen Jahrhunderten und zahlreichen Territorien mehrfache Ausnahmeregelungen. Liest man Mosers komplizierte, kleinteilige Offenlegung der unübersichtlichen reichsrechtlichen Situation in der Frage der Herrschaftsfolge bei Kurfürsten und Fürsten, drängt sich die Notwendigkeit einer auf mehr Klarheit und Gerechtigkeit zielenden Reform der Bedingungen für die legitime Herrschaftsnachfolge in Monarchien auf.112 In Schillers Entscheidung, nach Aufführung des Wilhelm Tell den DemetriusStoff zu bearbeiten, sehe ich eine kritische Stellungnahme zur Politik Napoleons: Die von Johannes von Müller nach neuesten Erkenntnissen nacherzählte Legende vom Befreier der Eidgenossen von der Fremdherrschaft begann Schiller im Frühjahr 1803 ernsthaft für die Bühne zu bearbeiten, als die Helvetische Republik gerade gescheitert war und die von Bonaparte eingeführten rechtlichen Neuerungen rückgängig gemacht wurden.113 Der psychopathisch ehrsüchtige Demetrius, der mit Unterstützung romtreuer Kräfte nach dynastischer Anerkennung strebte, beschäftigte den Dramatiker, nachdem sein erst am 10. März beendeter Wilhelm Tell in Weimar am 17. März 1804 aufgeführt worden war und als Napoleon mit seinem Plan, in der Nachfolge Karls des Großen den Kaisertitel zu erlangen und seine FaVgl. Johann Jakob Moser: Teutsches Staats-Recht, 53 Bde, Nürnberg u.a. 1737-1754 [Repr. Osnabrück 1968]; Fortsetzung von dems.: Neues teutsches Staatsrecht, 43 Bände, Frankfurt / Leipzig 1766-1782. Vgl. dazu Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland I, München 1988, 258-263; Reinhard Rürup: Johann Jakob Moser – Pietismus und Reform, Wiesbaden 1965, 105-119; Adolf Laufs: Art. ›Johann Jacob Moser‹, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte III, hg. von Albrecht Cordes, Berlin 1984, 703-705. 112 Vgl. Johann Jacob Moser: Teutsches Staats-Recht XII, Leipzig / Ebersdorf 1744. Die Goldene Bulle regelte die dynastische Nachfolge der Reichsstände durch das Erstgeburtsrecht. Gleichwohl gab es in den Territorien seit altersher mehrere individuelle Abweichungen. Solche abweichenden Abmachungen bedurften aber jedesmal der Zustimmung des Kaisers, also des Reichsoberhaupts. Vgl. ebd., 339 (§§ 2, 4-6), 375. 113 Vgl. Anton von Tillier: Geschichte der helvetischen Republik, von ihrer Gründung im Frühjahr 1798 bis zu ihrer Auflösung im Frühjahr 1803 […] III, Bern 1843; Der französische Invasionskrieg in der Schweiz – Beschrieben von einem Schweizer Officier, in: Minerva 1798, Bd. 3, 494-535. 111

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milie zu Erben einzusetzen, an die Öffentlichkeit trat. Im September des Jahres stand fest, daß der Papst bei der geplanten Krönungszeremonie mitspielen würde. Was Schiller, der seit seinem Geisterseher keine Gelegenheit zur einer aufklärerisch inspirierten Kirchen- und Romkritik ausließ, über den päpstlichen Segen zur napoleonischen Cäsarenherrschaft und über die an der römischen Kaiserherrschaft orientierten Zeremonien dachte, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Napoleons Servilität gegenüber Rom mußte die Anhänger der Revolutionsideale irritieren. Ähnlich provozierte Demetrius’ Empfänglichkeit für römisch-katholische Riten und opulente kirchliche Feiern russisch-orthodoxe Gegner Roms und Polens. Von Schiller ist während seiner Arbeit an Demetrius kein Urteil über die Politik Napoleons oder seine herrscherliche Selbstinszenierung im Stile der römischen Imperatoren und mit Bezug auf Karl den Großen überliefert.114 Wir wissen nicht, ob er während der letzten Monate, die ihm noch für seine Dramenarbeit vergönnt waren, Zeitungsberichte und Zeitschriftenartikel über Napoleons Projekte, Absichten und Ziele gelesen hat. Um zu prüfen, ob Schillers Demetrius Charakterzüge mit Napoleon gemeinsam hat, die angesichts der geplanten Kaiserkrönung im Jahr 1804 auch Gegenstand der Presseberichterstattung gewesen waren, können wir uns nur an die historischen Daten und ihre Interpretation in der zeitgenössischen Lokalpresse und Zeitschriftenpublizistik halten. Bei Napoleon verhält es sich umgekehrt wie bei Demetrius: Jenem fehlt die dynastische Legitimität, die er sich erfinden und plebiszitär bestätigen lassen muß. Nachdem er sich allein durch Tüchtigkeit in seiner Armee bewährt und das Selbstbewußtsein der Franzosen so sehr beflügelt hatte, waren sie bereit, mehrheitlich seiner Krönung zum Kaiser zuzustimmen. Dem Thronprätendenten Demetrius fehlte die psychische Gesundheit als Grundlage für die politischen Führungsqualitäten, während er die dynastische Legitimität scheinbar mitbrachte. Napoleons Ruhm gründet sich auf seine erfolgreichen militärischen Operationen.115 1804 plante er einen Angriff auf Großbritannien, das unter der Initiative von William Pitt nach einer Allianz mit Zar Alexander und dem König von Schweden strebte. Preußen wahrte derweil die Neutralität. Seit März 1804 strebte Napoleon nach der Um114 Vgl. Hahn: Dramatische Dichtung [Anm. 98], 359 f. Zwei Äußerungen Schillers über Bonaparte sind aus der Erinnerung seines Verlegers Cotta und Caroline von Wolzogens überliefert. Schiller habe, so Cotta, »Bonaparte als die selten erhabene Erscheinung« geschildert, »die man täglich mehr an ihm bewundern kann« (NA XLII, 355, Nr. 830). Caroline von Wolzogen erinnert sich indes an Schillers Abneigung und Mißtrauen gegenüber Napoleon: »Zu dem Eroberer hatte Schiller nie Neigung und Vertrauen, nie hoffte er, daß irgend etwas Gutes der Menschheit durch ihn werden könne. Seiner freien Seele war der Hauch der Tyrannei durchaus zuwider. […] er war des ewigen Redens über den Helden der Zeit müde, und wir hörten ihn sagen: ›Wenn ich mich nur für ihn interessieren könnte! Alles ist ja sonst todt – aber ich vermag’s nicht; dieser Charakter ist mir durchaus zuwider […]‹« (Wolzogen: Schillers Leben [Anm. 88], 196 f.; zit. in NA XLII, 356, Nr. 831). 115 Eine vorzüglich detaillierte Darstellung der Ereignisse des Jahres 1804 gibt Thierry Lentz: Nouvelle histoire du premier empire I, Paris 2004, bes. Kapitel 1-3.

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wandlung seiner Herrschaft in eine Erbmonarchie. Am 18. April beschloß der französische Senat, dem Ersten Konsul Bonaparte den Titel eines erblichen Kaisers der Franzosen zu verleihen.116 Am 2. August wurde Napoleon zum Konsul auf Lebenszeit ernannt. Während seines Besuchs in Aachen im September 1804 trat Napoleon mit der Attitüde eines Nachfolgers Karls des Großen auf und lud die mitteldeutschen Fürsten, die Gewinner der Entschädigungsaktion infolge des Reichsdeputationshauptschlusses waren, zu einem Treffen in Mainz ein. Am 6. November wurde die Verfassung im Hinblick auf die Schaffung eines erblichen Kaisertitels geändert.117 Napoleon wünschte die Legitimität der Kaiserkrönung durch ein Plebiszit zu regeln, welches mit 3,5 Millionen Voten eine überwältigende Mehrheit erbrachte.118 Pius VII. erklärte im September 1804 seine Bereitschaft, die rituelle Salbung vorzunehmen, gegen die Bedenken seiner Kardinäle.119 Am 2. Dezember fand die Kaiserkrönung in der Cathédrale zu Notre Dame statt. Preußen hielt währenddessen an seiner Neutralität fest, aber die französische Invasion in Hannover und die französische Übernahme der Seeherrschaft in Cuxhaven trieben Preußen in die Arme des Zaren. Am 24. Mai 1804 schloß der preußische König ein Defensivbündnis mit Zar Alexander. Auch Österreich sah 1804 der Aggressionspolitik Napoleons noch untätig zu. Erzherzog Karl gab in seiner Eigenschaft als Hofkriegsratspräsident dem Drängen seines Diplomaten Friedrich Gentz, der antifranzösischen Allianz beizutreten, mit Rücksicht auf die finanzielle Schwäche Österreichs nicht nach. Der Begründung des französischen Kaisertums begegnete man in Österreich am 10. August 1804 trotzig-selbstbewußt mit der Ausrufung eines Kaisertums für die Habsburger. Am 18. März 1805 wird Napoleon in Neapel zum König von Italien gekrönt, wodurch der Friedensvertrag von Lunéville verletzt wurde.120 Der Beitritt Österreichs zur antifranzösischen Koalition erfolgte daraufhin am 9. August 1805, als Reaktion auf Napoleons eigenmächtiges Vorgehen in Oberitalien und die Gründung eines Königreichs Italien unter seiner Herrschaft. Der Siegeszug Napoleons in Österreich wurde unterdessen durch Abmachungen mit süddeutschen Herrschern ermöglicht, die Bonaparte Truppen zur Verfügung stellten und der napoleonischen Armee den Durchmarsch durch ihr Gebiet erlaubten. Vgl. Eugen Tarlé: Napoleon [russ. 1959], Berlin 1973, 173. Vgl. Max Braubach: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß (= Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 14), München 31979, 70-73. 118 Das Referendum des französischen Volkes im Mai 1804 brachte Napoleon eine überwältigende Zustimmung für seine Maßnahme der Kaiserkrönung: 3,5 Millionen Franzosen stimmten dafür, 2500 dagegen. Der Widerstand richtete sich gegen die Wiedereinführung eines vererbbaren Titels – daß Napoleon die Kaiserkrone verdiente, stellten die Negativvotierenden nicht in Abrede. Vgl. The French Revolution and Napoleon – A Sourcebook, ed. by Philip G. Dwyer and Peter McPhee, London 2002, 153. 119 Vgl. Robert Asprey: The Rise and Fall of Napoleon Bonaparte, London 2000, 489-499. 120 Vgl. Alt: Schiller II [Anm. 5], 607. 116 117

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Das Weimarische Wochenblatt brachte im Frühjahr, Sommer und Herbst regelmäßig Neuigkeiten über Napoleon, die vermutlich das Tagesgespräch im Herzogtum bestimmt haben: Am 26. und 30. Mai 1804 berichtete es über »das Senatusconsultum wegen der erblichen Kaiserwürde«, die »Errichtung mehrerer neuen hohen Stellen« in Frankreich und die Vorbereitung der Krönungszeremonien.121 Die feierliche Überreichung des Senatusconsult an »Se. Kaiserl. Majestät« durch den französischen Senat war dem Weimarischen Wochenblatt ebenfalls eine Nachricht wert. Es druckte die Dankesrede ab, mit der der »Kaiser« dem Senat antwortete, und gab die Inhaber der bei dieser Gelegenheit neugeschaffenen Ämter bekannt.122 In seiner 45. Nummer erläutert das Weimarische Wochenblatt, was die Einführung der erblichen »Kaiserwürde […] nach dem Rechte der Erstgeburt, und mit Ausschluß der Weiber und ihrer Abkömmlinge« bedeute, ohne die so geschaffene dynastische Erbmonarchie mit der des ancien régime wertend zu vergleichen.123 Die Ankündigung, daß Bonaparte zum Kaiser der Franzosen ausgerufen sei, erwarte man am preußischen Hofe »stündlich«, der sogleich »im Namen des Königs dem neuen Kaiser Glück« wünschen werde.124 Am 29. September gab das Weimarische Wochenblatt ohne weiteren Kommentar bekannt, daß in der französischen Diplomatie schon unter Ludwig XIV. der Kaisertitel »Empereur de France« gebräuchlich gewesen sei.125 Die detailfreudige Berichterstattung von der Krönungs- und Salbungszeremonie im Weimarischen Wochenblatt vom 12. Dezember erstreckt sich über vier Spalten.126 Die politisch-historischen Zeitschriften lassen sich in zwei Gruppen teilen, je nachdem, ob sie die Verdienste und das Genie Napoleons lobten und die Kaiserwürde als legitime Auszeichnung betrachteten oder aber den neuen Kaiser der Franzosen als Verräter an den Ideen der Revolution tadelten, während das Volk, das mehrheitlich der Erhebung Bonapartes zum Kaiser zustimmte, wegen seiner politischen Prinzipienlosigkeit und Faszination für äußeren Pomp mit Ironie und Spott bedacht wurde.127 Eine vollständige Dekonstruktion der Krönungsfeierlichkeiten in Weimarisches Wochenblatt (im folgenden: WW) Nr. 42, 26. Mai 1804, und Nr. 43, 30. Mai 1804, 185, 190. Danken möchte ich hier Jesko Reiling (Zürich), der mir die Napoleon betreffenden Meldungen im Weimarischen Wochenblatt in der Anna Amalia-Bibliothek zu Weimar heraussuchte. 122 WW Nr. 44, 2. Juni 1804, 193 f. »Der Kaiser antwortete darauf Folgendes: ›Alles, was zum Wohl des Vaterlandes beytragen kann, ist wesentlich mit meinem Glück verbunden. Ich nehme den Titel an, welchen Sie für den Ruhm der Nation nützlich halten. […] Ich hoffe, daß die Ehrenstellen, womit Frankreich meine Familie umgiebt, es niemals gereuen werden.‹ « 123 WW Nr. 46, 9. Juni 1804, 201 f. 124 WW Nr. 49, 20. Juni 1804, 214. 125 WW Nr. 78, 29. September 1804, 333 f. 126 Vgl. WW Nr. 99, 12. Dezember 1804, 419 f. 127 Nur einige Beispiele aus der Zeitschriftendiskussion mögen davon ein Bild geben. In die erste Gruppe fällt Karl Ludwig Woltmanns Zeitschrift Geschichte und Politik. Vgl. Woltmann: Bonaparte auf dem Schlachtfelde von St. Jvry, in: Geschichte und Politik 1803, Bd. 1, 1-11; Anonymus: Wiedereinnahme von Mailand durch Bonaparte 1800, in: Geschichte und Politik 1803, Bd. 3, 151-157; 121

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der Kathedrale zu Notre Dame erschien anonym 1804 in der Zeitschrift London und Paris. Die Zeremonie wird als Farce entlarvt, mit der das Volk geblendet wurde; die logistische Vorbereitung der Großveranstaltung, bei der Infanterie und Kavallerie zum Einsatz kamen, zeugt nach Ansicht des Verfassers bereits vom tyrannischen Naturell des Gefeierten als Menschenschinder. Die Krönungsfeier stehe im Gegensatz zur Revolutionsfeier des Jahrs 1790, die noch der kollektiven Freude über das politisch Erreichte Ausdruck gegeben habe.128 Ob ein Plebiszit angesichts der Unberechenbarkeit und Manipulierbarkeit des Volkes der richtige Weg zur Begründung der Kaiserherrschaft sei, mochte Schiller nicht weniger zweifelhaft erscheinen als das alte dynastische Prinzip des Majorats. In den Demetrius-Skizzen zeichnet er ein unvorteilhaftes Bild der Menge, die Demetrius solange zujubelte, wie sein Anspruch auf die Thronfolge unzweifelhaft und seine militärische Macht unangefochten schien. Verfehlt wäre es, wollte man in den vielfachen Bemühungen der polnischen (romtreuen) und russischen Opportunisten, die dynastische Legalität des Demetrius zu erweisen, ein Plädoyer des Autors zugunsten der dynastischen Herrschaftsfolge zu sehen.129 Das Gegenteil ist wahrscheinlicher, also eine Kritik Schillers am Glauben an dynastische Legitimität. Nachdem er mit seiner Huldigung der Künste, die vom 4. bis 8. November 1804 entstand, seinen Beitrag zu den Feierlichkeiten für den Empfang der Großfürstin Maria Pawlowna geleistet hatte, nahm Schiller die Arbeit am Demetrius wieder auf. Davor schon hatte er sich dazu entschlossen, sein Geschichtsdrama »rein« zu halten von schmeichelhaften Anspielungen auf die bevorstehende Verbindung der herzoglichen Familie in Weimar mit dem russischen Kaiserhaus, obwohl seine Zeichnung des jungen Romanow als Hoffnungsträger und Lichtgestalt dazu hätte Anlaß geben können.130 Die Hypothese sei gewagt, daß sich aus Schillers Perspektive die Woltmann: Bonaparte vor dem Teppich von Bayeux, in: Geschichte und Politik 1804, Bd. 1, 1-11; Buchholz: Ueber den Unterschied des Despotismus und der Souveränität, in Beziehung auf Bonaparte, in: Geschichte und Politik 1804, Bd. 1, 265-285; Crome: Frankreich, bei dem Anfange der Regierung des Kaisers Napoleon I., in: Geschichte und Politik 1804, Bd. 2, 138-163; Woltmann: Karl der Große und Bonaparte, in: Geschichte und Politik 1804, Bd. 1, 67-84; Schreiben eines Einsiedlers in den Pyrenäen, in: Minerva 1804, Bd. 4, 377-410 (die Legitimität der Kaiserwürde Napoleons aufgrund des Plebiszits wird vom anonymen Verfasser trotz mangelhafter dynastischer Voraussetzungen anerkannt). – Zur zweiten Klasse gehören Johann Wilhelm von Archenholtz’ Artikel in seiner historisch-politischen Monatsschrift Minerva und der von Wieland herausgegebene Neue Teutsche Merkur. Vgl. Archenholtz: Noch etwas über die Kayserwürde in Frankreich, in: Minerva 1804, Bd. 2, 529-536; J. G. M. Rocques Comte de Montgaillard: Bemerkungen über den Zustand Frankreichs und Europa’s unter der Consular-Regierung, in: Minerva 1804, Bd. 3, 20-50; Archenholtz: Ueber Reise-Werke und Kotzebue’s Erinnerungen aus Paris, in: Minerva 1804, Bd. 4, 357-364; J. von Hinsberg: An meine Freundin N. G., in: Der Neue Teutsche Merkur 1804, Bd. 1, 3-7. 128 [Anonym:] Schilderung der Feierlichkeiten bei der Kaiserkrönung in Paris, in: London und Paris 13 (1804), 349-376. 129 Diese Sicht vertraten eher die konservativen Mächte nach 1814. Vgl. Alt: Schiller II [Anm. 5], 605. 130 Vgl. das oben [Anm. 88] genannte Zeugnis Caroline von Wolzogens.

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Franzosen, die mehrheitlich Napoleons Streben nach der höchsten weltlichen Ehre guthießen und damit die revolutionäre Errungenschaft – die Abschaffung des Königtums und die Beseitigung der Adelstitel – wieder rückgängig machten, wenig von den Moskovitern um 1600 unterschieden. In Schillers Stück arbeitet Demetrius an seiner vorteilhaften öffentlichen Wirkung bei Moskovitern, Bojaren und Kosaken mit solchen Symbolen und öffentlichen Auftritten (z. B. mit der von Boris kaltgestellten Mutter Marfa), die den Bemühungen Napoleons um Medienwirksamkeit vergleichbar schienen. Die Ansätze zur Gesellschafts- und Staatskritik, die in Schillers Demetrius-Drama erkennbar sind, beruhen auf aktuellen Ergebnissen der empirischen Anthropologie. In zeitgenössischen Lehrbüchern werden Bemühungen sichtbar, diese etwa auch für die »Staatsarzneykunde«, z. B. für die »gerichtliche Medicin«, zu verwerten.131 Anwendungsgebiete der Anthropologie waren nach 1789 die Zivilisationsgeschichte, Gesellschaftstheorie und Völkerpsychologie; nach Kausalzusammenhängen zwischen individueller Pathographie und historisch-politischen Herrschaftskrisen wurde gesucht.132 Die wenigen hier von mir versammelten Indizien für eine analoge Symptomatik im Charakter und Verhalten des Demetrius und Bonapartes fügen sich zu einer Kritik an der Restitution der Monarchie in Frankreich und am Volk, dem der Glanz höfischer Ehrenämter und der karolingischen Tradition mehr schmeichelte als die Aussicht auf Gleichheit und Freiheit. Johann Wilhelm von Archenholtz’ ironische Berichterstattung über die Kaiserkrönung133 geht in dieselbe Richtung, die in Schillers Psychogramm des Parvenus Demetrius zum Ausdruck kommt. Es würde sich lohnen, in der zeitgenössischen Publizistik nach Applikationen anthropologischer Theorien zur medizinischen Beschreibung des Größenwahns Napoleons und der regressiven Neigungen derer, die sein Kaisertum per Plebiszit bestätigten, zu suchen.

Vgl. Just Christian von Loder (1753-1832): Anfangsgründe der medicinischen Anthropologie und der Stats-Arzneykunde, Weimar 21793. Rezension in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 7 (1793), 1. Stück, 107 f. Auch die dritte, vermehrte Auflage dieses Lehrbuchs von 1801 wurde in derselben Zeitschrift rezensiert: Vgl. NADB 65 (1801), 1. Stück, 52 f. 132 Christian Ulrich Detlev von Eggers untersucht in einem Artikel, wie »herrschende Ideen« nicht nur auf die körperliche und psychische Konstitution von Individuen wirken, sondern sich im Massenverhalten von Völkern Geltung verschaffen könnten. Das pädagogische Interesse an Volksaufklärung verbindet sich mit dem für die Völkerpsychologie. Vgl. Christian Ulrich Detlev von Eggers: Ueber die Macht herrschender Ideen bei einzelnen Menschen und bei Völkern; ein Beitrag zur Anthropologie, in: Deutsches Magazin 19 (1800), 58-82. 133 Vgl. Archenholtz: Noch etwas über die Kayserwürde [Anm. 127] zu Archenholtz als Beobachter der politischen Lage in Frankreich und Herausgeber der Minerva vgl. Friedrich Ruof: Johann Wilhelm von Archenholtz – Ein deutscher Schriftsteller zur Zeit der französischen Revolution und Napoleons (1741-1812), Berlin 1915. 131

Die Kunst der Natur Schillers Landschaftsästhetik und die anthropologische Revision von Lessings Laokoon Von Jörg Robert

Schillers grundlegender Beitrag zur Ästhetik der Natur1 ist niedergelegt in einer Rezension, die alles andere als ein kritisches Parergon zu den ästhetischen Hauptschriften darstellt. Die Besprechung der Lyrica Friedrich Matthissons enthält nicht nur eine »kleine Poetik der Landschaftsdichtung«,2 sondern darüber hinaus eine fundamentalästhetische Positionsbestimmung einer Kunst der (schönen) Natur, die ausdrücklich im Hinblick auf die »Poesie überhaupt«3 verstanden werden soll. Wie die Bürger-Rezension drei Jahre zuvor wird in ihr mit allem strategischen Bedacht ein Exempel statuiert4 – freilich mit gegenläufiger Tendenz und Wertung: Wird Bürger einer harschen, die Autorperson kompromittierenden Kritik unterzogen, so erfährt Matthisson eine Würdigung, die sich aus den aktuellen publizistisch-strategischen Umständen der Rezension – Matthisson soll für eine Mitarbeit an den Horen gewonnen werden – erklärt. Spätere Äußerungen gegenüber Goethe zeigen, daß sich Schiller der ästhetischen Grenzen Matthissons nur allzu bewußt ist,5 doch darauf kommt es nicht an. Wie die Bürger-Rezension ist auch Über Matthissons Gedichte Kritik und Poetik in einem: Schon äußerlich zerfällt die Besprechung in einen allgemeinen, theoretischen Teil und dessen Anwendung auf die Naturlyrik FriedZu Schillers Natur- und Landschaftsästhetik hier nur der Hinweis auf die grundlegende Monographie von Wolfgang Riedel: ›Der Spaziergang‹ – Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller. Würzburg 1989 (dort weitere Kontexte und Literaturangaben). Vgl. in diesem Band den Beitrag von Helmut Koopmann. 2 Ebd., 27. 3 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. (im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische Ziffer gibt die Seitenzahl an); hier: NA XXII, 267. Zur Matthisson-Rezension im Horizont von Schillers allgemeiner Lyriktheorie vgl. Joachim Bernauer: ›Schöne Welt wo bist du?‹ – Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller, Berlin 1995, 215-228; Riedel: Spaziergang [Anm. 1], 26-31; zum philosophisch-ästhetischen Kontext Wolfgang Ranke: Dichtung unter den Bedingungen der Reflexion, Würzburg 1990, 145-188. 4 Zur Eigenart der Schillerschen Rezensionen im Horizont der Gattungsgeschichte sei verwiesen auf Helmut Koopmann: Der Dichter als Kunstrichter – Zu Schillers Rezensionsstrategie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), 229-246; Astrid Urban: Die Kunst der Kritik – Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik, Heidelberg 2002, 107-126. 5 Vgl. NA XXVIII, 271 (Brief an Goethe vom 31. August 1798). 1

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rich Matthissons. »Bey der Anarchie, welche noch immer in der poetischen Critik herrscht«, so schreibt er nach Fertigstellung der Rezension am 7. September 1794 an Goethe, »und bey dem gänzlichen Mangel objectiver Geschmacksgesetze befindet sich der Kunstrichter immer in großer Verlegenheit, wenn er seine Behauptung durch Gründe unterstützen will; denn kein Gesetzbuch ist da, worauf er sich berufen könnte.« Vor die Notwendigkeit gestellt, »zugleich der Gesetzgeber und der Richter [zu] seyn«, habe er »in jener Recension die letzte Parthey ergriffen«.6 Körner teilt er mit (4. September 1794), die Rezension enthalte »einige bedeutende aesthetische Erörterungen«, die bereits das »vollendete Ganze«, d. h. die »Abhandlung über das Naive«, die Schiller im selben Atemzug ankündigt, umrißhaft erkennen ließen.7 In engster Verbindung mit der fast zeitgleich entstandenen Besprechung von Cottas Gartenkalender (Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795)8 enthält die Rezension tatsächlich den Nukleus des großen Essays Über naive und sentimentalische Dichtung. Dessen geschichtsphilosophische Perspektive kündigt sich am Ende an, wenn Schiller (Überlegungen der Kallias-Briefe über das ›Naive‹ fortführend)9 auf das große Thema des Essays, die »Simplizität der Natur« und ihre ›sentimentalische‹ Restitution, im Wortlaut Schillers: die »Zurückführung zu dem saturnischen Alter«,10 zu sprechen kommt. Gegenüber dem Essay zeigt die Rezension jedoch durchaus eigenständige Konturen. Ihre Bedeutung für die Landschaftsästhetik (nicht nur die Schillers) beruht auf der engen Verstrebung von philosophischer (d. h. geschichtsphilosophischer) Reflexion und poetologischer Konkretion. Das Grundproblem, dem Schiller sich hier stellt, ließe sich ungefähr so zusammenfassen: Wie kann aus der wirkästhetisch motivierten Analytik des Schönen bzw. der schönen Natur, um die es Schiller seit der Kantlektüre im allgemeinen und den Kallias-Briefen im besonderen geht, eine produktionsorientierte Normpoetik gewonnen und so eine »Brücke zu der poetischen production«11 geschlagen werden? Die folgenden Überlegungen sollen dabei andeuten, daß Schillers idealistische Poetik gerade nicht aus dem Kant-Erlebnis allein zu bestimmen ist, sondern als ›anthropologische Ästhetik‹ oder ›ästhetische Anthropologie‹ in einer Kontinuität zu den physiologisch-anthropologischen Arbeiten des Karlsschülers, vor allem seiner WahrnehmungspsycholoNA XXVII, 40. Ebd., 37. Skeptischer äußert sich Schiller rückblickend im Brief an Wilhelm von Humboldt vom 27. Juni 1798: »Wirklich hat uns beide unser gemeinschaftliches Streben nach Elementarbegriffen in aesthetischen Dingen dahin geführt, daß wir die Metaphysic der Kunst zu unmittelbar auf die Gegenstände anwenden, und sie als ein praktisches Werkzeug wozu sie doch nicht gut geschickt ist, handhaben. Mir ist dieß vis a vis von Bürger und Matthisson, besonders aber in den HorenAufsätzen öfters begegnet. Unsere solidesten Ideen haben dadurch an Mittheilbarkeit und Ausbreitung verloren« (NA XXIX, 248). 8 Vgl. NA XXII, 285-292. 9 »Warum ist das Naive schön? Weil die Natur darin über Künsteley und Verstellung ihre Rechte behauptet« (Brief an Körner vom 23. Februar 1793, NA XXVI, 214). 10 NA XXII, 281. 11 NA XXVII, 46 (Brief an Körner vom 12. September 1794). 6 7

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gie (und hier namentlich der Assoziationstheorie) steht.12 In einem zweiten Schritt wird zu skizzieren sein, wie Schiller mit Hilfe dieser Assoziationslehre das Lessingsche Verdikt über die naturlyrische »Schilderungssucht«13 zu revidieren sucht.

I. ›Freie‹ Einbildungskraft und Leserpoetik Der prekäre Status der Landschaftsdichtung liegt für Schiller auf einer anderen Ebene als für Lessing. Die Matthisson-Rezension schlägt zu Beginn geschichtsphilosophisch-klassizistische Töne an. Sowohl »Landschaftmalerei« als auch »Landschaft-Dichtung« seien moderne Genres, denen die »Griechen, in den guten Zeiten der Kunst […], nicht viel nachgefragt« hätten.14 Zur Disposition steht damit die generelle Kunstfähigkeit von Natur (im Sinne von »landschaftliche[r] Natur«15), die Frage, ob der »Landschaftmaler überhaupt nur als echte[r] Künstler gelten« könne.16 Die geschichtsphilosophische Ätiologie dieser »Gleichgültigkeit der griechischen Künstler für eine Gattung, die wir Neuern so allgemein schätzen«,17 wird am Ende der Rezension nur angedeutet; nachgetragen findet sie sich eingangs des Essays Über naive und sentimentalische Dichtung. In der Matthisson-Rezension argumentiert Schiller folgendermaßen: Erst der moderne Mensch habe ein Interesse daran, »unbeseelte Natur« nicht nur als »Lokal seiner dramatischen Gemälde«, d. h. als locus amoenus bzw. desertus zu behandeln, sondern »für sich selbst zur Heldin der Schilderung und den Menschen bloß zum Figuranten in derselben« werden zu lassen.18 Die Alten hätten den Bereich »schöner Kunst«19 daher bloß »auf Menschheit und Menschenähnlichkeit […] eingeschränkt«,20 denn allein am Menschen erscheine »Gesetzmäßigkeit« und »Bestimmtheit«,21 während es »[ü]ber dem Menschen (als Erscheinung)« und unter ihm »kein Objekt für die Kunst mehr« gebe,22 und noch am Ende der Rezension wird an Matthisson appelliert, »zu seinen Landschaften nun auch Figuren zu erfinden und auf diesen reizenden Grund handelnde Menschheit Der hier nur skizzierte Zusammenhang ist Gegenstand der Habilitation des Verf. mit dem Arbeitstitel »Commercium und Kommunikation: Schillers anthropologische Ästhetik«. Zur Vorgeschichte der Schillerschen Anthropologie vgl. den Beitrag von Ludwig Stockinger im selben Band. 13 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Ders.: Werke und Briefe V/2, hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, 11-206, hier 15. 14 NA XXII, 265. 15 Ebd., 266. 16 Ebd., 265. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., 266. 20 Ebd., 265. 21 Ebd., 269. 22 Ebd., 270. 12

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aufzutragen«.23 Verbirgt sich hinter dem Kriterium der ›handelnden Menschheit‹ Aristoteles’ Festlegung aller Kunst auf die »Nachahmung von handelnden Menschen« (Poetik 1448a), so setzt Schillers Ausweg aus der Aporie bei Kant an. Die Empfehlung, Landschaft »durch eine symbolische Operation in die menschliche zu verwandeln und dadurch all derjenigen Kunstvorzüge, welche ein Eigentum der letztern sind, teilhaftig zu machen,«24 schließt über die autonomieästhetische Formulierung der ›Freiheit in der Erscheinung‹ in den Kallias-Briefen an Kants Darlegungen zum »›Als-ob‹-Charakter teleologischer Urteile über die Natur« an.25 Ohne diese projektionstheoretische Lösung des Dilemmas aufzugreifen, wende ich mich sogleich Schillers Überlegungen zur »Poesie überhaupt«26 zu, die sich exkursartig anschließen. Denn sie, so wird zu zeigen sein, enthalten nichts weniger als die Quintessenz von Schillers anthropologischer Ästhetik. Ihr Ausgangspunkt ist eine Theorie der Einbildungskraft. »Poesie« wird definiert als »die Kunst […], ›uns durch einen freien Effekt unsrer produktiven Einbildungskraft in bestimmte Empfindungen zu versetzen‹«.27 In der Opposition von »Freiheit« und »Bestimmung«, Produktivität und (bloßer) Reproduktivität lauert freilich, wie Schiller selbst sogleich einräumt, ein offener »Widerspruch«. Wie soll der Dichter »unsere Einbildungskraft frei spielen und selbst handeln lassen«, wenn er es doch darauf anlegen muß, »eine bestimmte [d. h. fest definierte und vom Autor intendierte; J. R.] Empfindung zu erzeugen«?28 In dieser Opposition von freier Selbsthandlung und Zwang treffen zwei gegensätzliche Konzepte ästhetischer Wirkübertragung und mit ihnen zwei konträre Vorstellungen über die Funktionsweise der Einbildungskraft aufeinander. Das eine folgt dem Modell der Wachstafel: Sinnesreize werden analog, d. h. ikonisch übertragen und der Seele als Vorstellungsbilder eingeschrieben. Urbild und Abbild stehen in einem Verhältnis unmittelbarer Spiegelung und Mimesis. »Der Scribent ist bemue het« – so Bodmer in seinen Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter – »die Phantasie der Leser mit Gedancken anzuf ue llen, das heißt in der Sprache des Hrn. Descartes, er will ihnen Bilder von den Dingen in das Gehirne mahlen. Die Phantasie des Lesers ist das Tuch, auf welchem er sein Gemae hlde auftrae gt.«29 Diese genuin sensualistische Wirkpoetik steht für ein radikal asymmetrisches Modell ästhetischer Kommunikation. Der Dichter ist in ihm gleichsam MagnetiEbd., 283. Ebd., 271. 25 Wolfgang Riedel (unter Hinweis auf Kants Kritik der reinen Vernunft, § 68) in seinem Kommentar zur Matthisson-Rezension in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke V, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004, 1304. 26 NA XXII, 267. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter, Zürich 1741 [Repr. 1971], 39. 23 24

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seur seines Publikums, das sich der »heilige[n] Magie«30 seiner Wortmusik nicht entziehen kann. Aufgabe des Dichters und der Dichtung ist es, wie Schiller noch in der Bürger-Rezension ausführt, dem »Kindersinn« des gemeinen Volkes »die Geheimnisse des Denkers in leicht zu entziffernder Bildersprache […] zu erraten [zu] geben«.31 Der Leser ist reine Form- und Verfügungsmasse, die Wachstafel in der Hand des (ein-)schreibenden Dichters. Dichtung ist in dieser, die rhetorische Aufklärungspoetik (Bodmer/Breitinger) bestimmenden Konzeption wesentlich ars popularis und ›Bemeisterungskunst‹.32 Die Kant-Rezeption bezeichnet einen Paradigmenwechsel: Sie führt zu einem differenzierteren wirkpoetischen Modell, das nunmehr dem der Repräsentation folgt. In ihm werden nicht mehr einer gänzlich passiven Einbildungskraft Wort-Bilder eingeschrieben. An die Stelle der UrbildAbbild-Analogie tritt ein Vermittlungsmodell, in dem die äußeren Sinnesdaten (auch die ›sinnliche Rede‹ der Dichtung im Baumgartenschen Sinne) dem Wahrnehmungsapparat durch ein Zeichen- und Symbolsystem vermittelt werden.33 Beide Seiten, (immaterielle) Innen- und (materielle) Außenwelt, sind operational gegeneinander abgeschlossen: »Wir sind unabhängig von der Welt. Sie ist unabhängig von uns«, wie es bereits in der Philosophie der Physiologie heißt.34 Noch die autonomieästhetische Forderung nach dem freien Spiel der Einbildungskraft35 setzt die wahrnehmungspsychologisch begründete Schließung der unmittelbar-analogen Wirk- und Einflußkanäle und damit die Vorstellung symbolischer Vermittlung und Repräsentation voraus. Das Ergebnis ist zweischneidig: Die Distanz zwischen sinnlichem Außen und geistigem Innen gewährleistet einerseits die Freiheit des psychischen Systems, unterbricht jedoch andererseits das commercium zwischen Welt und Seele, die unmittelbare Mitteilung der empirischen Sinnesdaten an den (immateriellen) Geist. Daraus ergibt sich ein scheinbar paradoxer Befund: Zwar wird Schiller durch Kant auf das Prinzip der »Freiheit der Einbildungskraft« verwiesen;36 deren physiologisch-epistemologische Voraussetzungen jedoch, namentlich die operationale Schließung des psychischen Systems gegen seine Umwelt, ist Schiller seit seiFriedrich Schiller: Die Künstler, NA I, 213 (Vs. 446). NA XXII, 249. 32 Vgl. Friedrich Schlegel: Sich »von dem Gemüthe des Lesers Meister« machen – Zur Wirkungsästhetik der Poetik Bodmers und Breitingers, Frankfurt a. M. u.a. 1986. 33 Zur Konkurrenz beider Modelle vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr – Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 22003, 357-363. 34 NA XX, 13 (§ 2). 35 Die vollständigste Formulierung der autonomieästhetischen Forderung nach »Gemüthsfreyheit« findet sich im 22. Brief Über die ästhetische Erziehung. 36 Vgl. Kritik der Urteilskraft, § 16: »In der Beurteilung einer freien Schönheit (der bloßen Form nach) ist das Geschmacksurteil rein. Es ist kein Begriff von irgend einem Zwecke, wozu das Mannigfaltige dem gegebenen Objekte dienen, und was dieses also vorstellen solle, vorausgesetzt; wodurch die Freiheit der Einbildungskraft, die in Beobachtung der Gestalt gleichsam spielt, nur eingeschränkt werden würde« (Immanuel Kant: Werke VIII, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 51983, 311). 30 31

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nen Karlsschuldissertationen wohlbekannt. Es scheint so, als habe Schiller durch Kant lediglich den Anstoß erhalten, die alten physiologischen Theoreme in genuin ästhetischem Kontext zu reanimieren. Die Matthisson-Rezension entwirft auf dieser Grundlage eine Poetik ›von unten‹: Die psychophysischen Dispositionen des Lesers stecken jene Grenzen ab, innerhalb derer »Landschaft-Dichtung« wie »Poesie überhaupt« wirken können. Jenseits dieser Grenzen hört Kunst im Sinne von schöner Kunst auf, weil hier das Feld des Kontingenten und Chaotischen, der inkalkulablen Reaktionen einer sich selbst überlassenen, fessellosen Imagination beginnt, die nicht erst der klassische Schiller perhorresziert.37 Schiller löst nun dieses Dilemma zwischen Herrschaft und freiem Spiel auf, indem er – abstrakt gesagt – das Modell der Analogie unter den (neuen) Bedingungen der Repräsentation zu retten versucht. In Schillers Worten: Die Induktion »bestimmte[r]«, d. h. vom Dichter intendierter »Empfindung« gelinge »dadurch, daß er [sc. der Dichter] unserer Einbildungskraft keinen andern Gang vorschreibt, als den sie in ihrer vollen Freiheit und nach ihren eigenen Gesetzen nehmen müßte«, d. h. indem er die »äußere Notwendigkeit in eine innere verwandelt«.38 »Die Imagination in ihrer Freiheit folgt«, so heißt es zunächst, »bloß dem Gesetz der Ideenverbindung«. Diese gründet jedoch »nur auf einen zufälligen Zusammenhang der Wahrnehmungen in der Zeit, mithin auf etwas ganz Empirisches«. Diesen »empirischen Effekt der Assoziation« soll der Dichter nun jedoch »zu berechnen wissen«, d. h. er muß »eine Gesetzmäßigkeit darin entdecken und den empirischen Zusammenhang der Vorstellung auf Notwendigkeit zurückführen können«.39 ›Notwendig‹ sind Vorstellungen freilich nur, wenn sie auf eine »objektive Verknüpfung in den Erscheinungen, nicht bloß auf ein subjektives und willkürliches Gedankenspiel gründen«. Der Dichter muß sich dazu »an das reine Objekt« halten,40 an die »wahre«, nicht die »wirkliche (historische) Natur«.41 Dichtung erhält so – wiederum in Anklang an Kant,42 aber auch an das neunte Kapitel der Aristotelischen Poetik 43 – eine ›philosophische‹ Funktion und wird Medium einer Erkenntnis, die zu Kern und Wesen der Dinge vorstößt. Die zweite Idealisierungsoperation betrifft die Voraussetzung der ästhetischen Kommunikation: Um sich »bestimmte« Wirkung zu sichern, muß Dichtung jene Ebene adressieren, die nicht dem Leser als 37 In § 8 der Philosophie der Physiologie etwa wird festgestellt, »daß unter heftigen Fieberwallungen Ideen oft biß zur Furie lebhaft werden«, während »beim trägen Puls der Phlegmatischen die Folge der Ideen äußerst matt und langsam ist« (NA XX, 21). 38 NA XXII, 267. 39 Ebd., 267 f. 40 Ebd., 268 41 Ebd., 269. 42 Vgl. Peter Schaarschmidt: Die Begriffe ›Notwendigkeit‹ und ›Allgemeinheit‹ bei Kant und Schiller, Diss. Zürich 1971, 83-86. 43 Dies zeigt sich im Essay Über die tragische Kunst, wo Schiller ganz aristotelisch die »Naturwahrheit« (als »poetische Wahrheit«) gegenüber der »historischen« Wahrheit (NA XX, 167) abgrenzt.

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Individuum, sondern als »Gattung«, d. h. als »Mensch überhaupt« zugehört. Erschwert wird dies durch die psychophysische Individualität des Menschen, die Tatsache also, »daß verschiedene Menschen bei der nämlichen Veranlassung, ja daß derselbe Mensch in verschiedenen Zeiten von derselben Sache ganz verschieden gerührt werden kann«.44 Zu diesem Zweck muß sich nun aber auch der Dichter selbst zuvor jenem »Gesetz unterworfen haben, nach welchem die Einbildungskraft in allen Subjekten sich richtet«. Um die »reine Gattung in den Individuen« zu treffen, »muß er selbst zuvor das Individuum in sich ausgelöscht und zur Gattung gesteigert haben«.45 Beide Verfahren (»Operationen«) der Idealisierung, das der Objektivierung wie das der Typisierung, dienen dem Ziel, den dargestellten Gegenstand in seiner Substanz transparent werden zu lassen. Individualität – des Dichters wie der Behandlungsweise – ›trübt‹ den Blick auf das Wesen der Dinge und beeinträchtigt wie eine störende Interferenz Empfang und Resonanz beim Leser. Daher gilt46: »Nur in Wegwerfung des Zufälligen und in dem reinen Ausdruck des Notwendigen liegt der g ro ß e S t i l . « Schiller kommt damit auf die Medien- und Sprachreflexion der Kallias-Briefe zurück, in denen die ›Idealisierkunst‹-Problematik der Bürger-Rezension semiotisch und mediologisch neu gefaßt worden war 47: »Es sind also hier dreyerley Naturen, die miteinander ringen. Die Natur des Darzustellenden, die Natur des darstellenden Stoffes und die Natur des Künstlers, welcher jene beiden in Uebereinstimmung bringen soll.« Soll die ›Autonomie‹ des Gegenstandes gewahrt bleiben, müssen in der künstlerischen Darstellung alle Verzerrungen im Vorgang der Repräsentation beseitigt, das störende Rauschen der Übertragung soweit wie möglich gedämpft werden48: »Die Natur des Mediums oder des Stoffs muß also von der Natur des Nachgeahmten völlig besiegt erscheinen.« Wie schon in den Kallias-Briefen verwendet Schiller zur Bezeichnung dieses Transparenzideals49 den (offenbar Goethe entlehnten) Begriff des »S t i l [ s ] «.50 Aus Schillers mediologischen Überlegungen zur Wirk- und Leserpoetik ergibt sich damit, daß der Dichter über genaue Kenntnisse der (physiologischen) Gesetze der Einbildungskraft und der »Ideenverbindung«51 verfügen muß. Gefordert ist, mit anderen Worten, die Personalunion NA XXII, 268. Ebd. 46 Ebd., 269. 47 NA XXVI, 224 (Kallias-Brief vom 28. Februar 1793, Beilage »Das Schöne der Kunst«). 48 Ebd. 49 Die Kallias-Briefe stehen damit in der Kontinuität der Aufklärungsästhetik und ihres ›Transparenzprinzips‹. Thesenhaft formuliert: Schiller interpretiert hier Kants Analytik des Schönen neu auf der Grundlage der Zeichen- und Repräsentationstheorie des 18. Jahrhunderts, die ihm bereits im Ästhetik-Unterricht der Karlsschule vermittelt wurde. Grundlegend dazu David E. Wellbery: Lessing’s ›Laokoon‹ – Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge/London/ New York 1984 (Formulierung ebd., 72). 50 NA XXII, 269; vgl. NA XXVI, 225 f. 51 NA XXII, 267. 44 45

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von Dichter und Anthropologe. Schillers impliziter bzw. idealer Leser ist dabei nicht der poetisch wie poetologisch versierte lector doctus alteuropäischer Observanz, sondern der »Mensch überhaupt«52 – eine kühne, radikalanthropologische Leserpoetik, die auf der Theorieebene von allen spezifischen Bildungs- und Erwartungshorizonten absieht.53 Landschaftsmalerei wie Naturdichtung müssen auf jeden Menschen qua Mensch wirken, oder sie wirken überhaupt nicht.

II. Bukolische Assoziationen Es sind solche kommunikativen Erfordernisse, die Schiller dazu veranlassen, in der Matthisson-Rezension ältere Überlegungen zur Physiologie der Wahrnehmung zu aktualisieren. Dies gilt zumal für die Frage der »Ideenverbindung«, d. h. die Assoziationstheorie, die nun gegenüber der Philosophie der Physiologie (1779)54 eine idealistische Revision erfährt. Schillers fragmentarisch erhaltene erste medizinische Dissertation widmet sich im neunten Kapitel eingehend der Mechanik der Assoziation.55 Diese steht im Zusammenhang der Frage nach dem commercium mentis et corporis: Wie können, so Schillers Ausgangsproblem, empirische Sinnesdaten der Außenwelt vom Menschen als Geistwesen aufgenommen und verarbeitet werden? Es geht um die »Wirkung der Materie auf den Geist« (§ 2). Schon die Philosophie der Physiologie stellt dabei die Frage nach dem commercium als ästhetische und mediologische. Gesucht wird nach einem medium, einer Verbindung zwischen den »Bewegungen der Materie«56 und den inneren Bewegungen, d. h. Wahrnehmungen. Schiller antwortet auf die drohende Isolierung des Geistes in seinem Gehäuse, indem er eine »Kraft« benennt, »die zwischen den Geist und die Materie trit und beede ver-

Ebd., 268. In der Praxis ist das »Urteil der Kunstverständigen« (ebd., 270), mithin das Geschmacksurteil, und ein geteilter »lebenspraktische[r] Horizont« natürlich unabdingbar und immer schon eingerechnet (Wilhelm Amann: ›Die stille Arbeit des Geschmacks‹ – Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung, Würzburg 1999, 139). 54 Vgl. NA XX, 10-29. Dazu grundlegend Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985, 61-100. Vgl. weiterhin die Beschreibung der assoziativen ›Kettenreaktion‹, die Schiller im Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen gibt: »Es ist ein bekanntes Gesez der Ideenverbindung, daß eine jede Empfindung, welcher Art sie auch immer seye, also gleich eine andere ihrer Art ergreiffe, und sich durch diesen Zuwachs vergrössere. Je grösser und vielfältiger sie wird, desto mehr gleichartige wekt sie nach allen Direktionen des Denkorgangs auf, bis sie nach und nach allgemein herrschend wird, und die ganze Fläche der Seele einnimmt. So wächst demnach jede Empfindung durch sich selbst; jeder gegenwärtige Zustand des Empfindungsvermögens enthält den Grund eines nachfolgenden ähnlichen heftigern« (NA XX, 72). 55 Vgl. Riedel: Spaziergang [Anm. 1], 27 mit Anm. 10; Amann: ›Die stille Arbeit des Geschmacks‹ [Anm. 53], 134-139 (zur Matthisson-Rezension). 56 NA XX, 12. 52 53

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bindet«.57 Dies ist die »Mittelkraft«, die als »reales Substrat der psychophyischen Kommunikation«58 die distinctio mentis et corporis aufhebt. »Die Mittelkraft wohnet im Nerven. Dann wann ich diesen verleze, so ist das Band zwischen Welt und Seele dahin«,59 es kommt zu einem »Riß zwischen Welt und Geist«.60 Sie, die Mittelkraft, ist es, die den Kontakt zur Außenwelt herstellt; die Sinnesdaten werden dabei nicht analog, sondern im Modus der Repräsentation nach innen übertragen61: »Ein ewiges Gesez hat die Veränderungen des Nervengeists zu Zeichen der veränderten Kräfte gemacht«. Als Membran zwischen »Welt« und »Seele«,62 als »medium […] inter corpus et animam«63 sind »Nerven« bzw. »Nervengeist« somit Medien der Kommunikation. Sie konstituieren ein zwischen Materie und Geist vermittelndes Symbolsystem, mit anderen Worten: eine Sprache, in der sich Welt allererst dem Geistwesen Mensch kundgeben kann.64 Qua Sprache sind »Nerven« wie »Nervengeist« jedoch zutiefst ambivalent: einerseits Mittler, andererseits Filter und Schleier der Dinge.65 In diesen epistemologischen Zusammenhang rückt die Assoziationspsychologie, der sich § 8 bis 10 der Philosophie der Physiologie widmen.66 Schiller schließt hier an die Assoziationslehre des englischen Sensualismus (Locke, Hume, Gerard, Home u. a.)67 an, die ihm an der Karlsschule durch Jacob Friedrich Abel vermittelt wurde.68 Wenn Schiller sich in § 9 der »Mechanik des Denkorgans« widmet, faßt er Einbildungskraft sowohl produktiv als auch reproduktiv, d. h. als Organ der freien Synthesis wie der memoria. Das Phänomen, wie »schlummernde« Ideen im »Denkorgan« geweckt werden, wird folgendermaßen erklärt: Die »Materiellen Ideen der Phantasie« Ebd., 13. Riedel: Anthropologie [Anm. 54], 61. 59 NA XX, 16 (§ 6). 60 Ebd., 13 (§ 2). 61 Ebd., 16. 62 Ebd. 63 So die Formulierung in Albrecht von Hallers Elementa physiologiae corporis humani, zit. n.: Riedel: Anthropologie [Anm. 54], 95. 64 Vgl. Riedel: Anthropologie [Anm. 54], 100: »So treffen sich in Schillers Nerventheorie die von der zeitgenössischen Physiologie und Medizin vertretene, empirisch belegbare und funktional bestimmte Idee des nervalen Vermittlers und der einer metaphysischen Tradition entliehene, spekulativ gewonnene und substantial entworfene Begriff eines mittleren Wesens. Die ›Mittelkraft‹ ist ›Medium‹ und ›Mittelding‹ zugleich«. 65 Koschorke: Körperströme [Anm. 33], 359 spricht in diesem Zusammenhang von einem »Einbruch von Kontingenzstellen in die Übertragungsstrukturen«. 66 Vgl. dazu auch den Beitrag von Lutz-Henning Pietsch in diesem Band. 67 Die englische Tradition findet sich (ohne Hinweis auf die deutsche Rezeption) zusammengefaßt bei Eckhard Lobsien: Kunst der Assoziation – Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999. 68 Vgl. etwa dessen Aesthetische Säze (1777), in: Jacob Friedrich Abel – Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782), hg. von Wolfgang Riedel, Würzburg 1995, 35-43, hier 39 (Kommentar ebd., 474 f.); Riedel: Spaziergang [Anm. 1], 27 f., Anm. 10. 57 58

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werden durch »neue sinnliche […] Phantasie Ideen« belebt, die in einer Kontiguitätsbeziehung zu den ›schlummernden‹ stehen (»Kraft einer Verwandtschaft von Zeit, oder Ort, oder Wirkung«).69 Schiller ›assoziiert‹ zur Verdeutlichung ein Beispiel, das sich als literarisches enthüllen wird 70: »Es soll z. E. die Materielle Idee einer Quelle im Denkorgan schlummern. Izt laßen wir durch den Weeg der Sinne den Namen Quelle in das Denkorgan gelangen, so wird diese Veränderung in demselben auf Veranlaßung des Namens Quelle durch die Mechanik deßelben an die schlummernde Materielle Idee der Quelle geordnet werden. Diese wird izo erwekt, wirkt auf die Seele und gibt ihr die Vorstellung einer Quelle: aber freilich schwächer, als die ursprünglich sinnliche gewesen. Aber die neuauflebende Materielle Idee der Quelle wird izo die nächst an sie gränzende, meinetwegen eines Menschen, der damals am Baume stund, oder einem Schalle, der damals gehört ward, eben so erweken, als sie selbst von der sinnlichen erwekt ward, und die Seele wird eine Vorstellung von jenem Menschen oder jenem Schalle bekommen.« Auf den ersten Blick fällt auf, daß hier Wahrnehmung und Assoziation als protoästhetische Phänomene behandelt werden. Nicht ein beliebiges Sinnesdatum, sondern ein Wort, der ›Name [d. h. das Substantiv] Quelle‹, wird zur Quelle des Assoziationsflusses. Dies setzt allgemeine Annahmen über Sprachverstehen und Denken voraus, die an dieser Stelle freilich nicht expliziert werden. Das Wort ›Quelle‹ wird nicht als (abstrakter) Begriff, d. h. durch die Vernunft rezipiert, sondern richtet sich als Bild an die Einbildungskraft. Dies ist auch der Grund, warum Schiller die Verbalassoziation an einem reinen Substantiv (»Namen«), nicht an einer ganzen Phrase oder einem Vers durchspielt. Nur das einzelne nomen concretum scheint die Substanz des von ihm bezeichneten Gegenstandes einzufangen; als dessen (analoges) SprachBild kann es folglich dieselbe Kette von Reminiszenzen auslösen wie das Objekt selbst. Dazu paßt, daß Schiller ein concretum, kein abstractum (›Gerechtigkeit‹, ›Vernunft‹) wählt. Assoziation ist auf das primäre Bild, den Sinneseindruck angewiesen, während der sprachliche Begriff nach Schillers Verständnis keine sinnlich-bildliche Qualität mehr besitzt. Er ist Sprache minus Sinnlichkeit. Demgegenüber ist das Substantiv ›Quelle‹ ein poetisches Reizwort, sofern Dichtung (im Baumgartenschen Sinne) »vollkommene sinnliche Rede« ist (oratio sensitiva perfecta)71 und gewissermaßen nahe am Bild wohnt. Die Frage der Assoziation erscheint so bereits hier in einem poetologischen Licht. Die Philosophie der Physiologie ist, cum grano salis, Schillers (anthropologische) Poetik vor der Poetik.72 NA XX, 23. Ebd. 71 Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus [1735], übers. und mit einer Einl. hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 352), § 9. 72 Das Verhältnis zwischen Ideenfolge und ›Dichtung‹ wird in § 10 berührt: »Wenn die Seele ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Ideen heftet, und solche in andere Assoziationen bringt, so sagt man, sie erdichtet« (NA XX, 27). 69 70

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Kontinuitäten, aber auch Unterschiede zur nachkantischen Assoziations- und Imaginationstheorie werden deutlich, wenn man zum Vergleich die MatthissonRezension heranzieht. Hier heißt es im Übergang zum zweiten, kritischen Teil73: »Sehen wir bloß auf treue Nachahmung der Natur in seinen Landschaftsgemälden, so müssen wir die Kunst bewundern, womit er unsere Einbildungskraft zu Darstellung dieser Szenen aufzufodern und, ohne ihr die Freiheit zu rauben, über sie zu herrschen weiß. Alle einzelnen Partien in denselben finden sich nach einem Gesetz der Notwendigkeit zusammen, nichts ist willkürlich herbeigeführt, und der generische Charakter dieser Naturgestalten ist mit dem glücklichsten Blick ergriffen. Daher wird es unserer Imagination so ungemein leicht, ihm zu folgen, wir glauben die Natur selbst zu sehen, und es ist uns, als ob wir uns bloß der Reminiszenz gehabter Vorstellungen überließen.« Hier wie in der Dissertation geht es im Horizont der Wirkpoetik um ein Wechselspiel zwischen produktiver und reproduktiver Einbildungskraft (»Reminiszenz«).74 Während Schiller jedoch im frühen Traktat eine streng zufällige, an die individuelle Person und Vorgeschichte (»eines Menschen, der damals am Baume stund«) gebundene Assoziation im Auge hat, wird in der Rezension die »Notwendigkeit« der poetischen Bildfolge gerade daran sichtbar, daß sie sich an ein kollektives Bildgedächtnis richtet. Matthissons poetische ›Landschaftsgemälde‹ erfüllen den Anspruch auf »subjektive Allgemeinheit«,75 weil sie in jedem Leser (gleich welcher Vorbildung) dieselbe Bild-Anamnese, dasselbe assoziative Déjà-vu auslösen. Die idealistische Wende der Schillerschen Assoziationstheorie besteht darin, daß diese nunmehr eine Stufe höher, bei den Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen der Ideenverknüpfungen, d. h. bei der physiologischen Mechanik des assoziativen »Kettensystem[s]«,76 nicht mehr am konkreten Einzelbild und seiner Übertragung ansetzt. Noch in anderer Hinsicht nimmt die Matthisson-Rezension den Faden der Philosophie der Physiologie auf. Die Wahl des sinnlich-prägnanten Konkretums ›Quelle‹ im oben zitierten Beispiel verweist nicht nur auf eine physiologische Theorie der poetischen Sprache, sie ist auch gattungspoetologisch bedeutsam. Denn mit den Nomina »Quelle«, »Baum«, »Mensch« oder der Erinnerung an den »Schalle, der damals gehört ward«,77 wird in groben Umrissen das Bild eines Lustortes, einer Naturszenerie evoziert (oder besser: revoziert), wie sie bildkünstlerisch der in der Matthisson-Rezension gefeierten klassischen (d. h. Lorrainschen) Landschaft,78 liteNA XXII, 274. Am Beispiel von Matthissons Gedicht Genfersee führt Schiller vor, was er sich konkret unter einer solchen ›gehabten Reminiszenz‹ vorstellt. Der Dichter »erkennt in ihr [der Landschaft um den Genfersee; J. R.] das Lokal jener Dichterszenen, die ihm den Schöpfer der Heloise ins Gedächtnis rufen« (ebd., 279). 75 Ebd., 269. 76 NA XX, 23. 77 Ebd. 78 Vgl. Riedel: Spaziergang [Anm. 1], 34-50. 73 74

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rarisch der bukolisch-arkadischen Welt der Hirtenidylle entspricht. Eine fraglos determinierte Assoziation des ›poetischen Arztes‹ Schiller, ein Stück Psychopathologie des Alltagslebens, wenn man so will. Vor die Aufgabe gestellt, ein beliebiges Beispiel für die Funktionsweise der Assoziation zu benennen, assoziiert der Dichteranthropologe ein poetisches Naturbild, wie er es beinahe zeitgleich etwa in den Philosophischen Briefen entwirft: Der erste Brief des Julius an Raphael enthält, geschrieben aus der elegischen Distanz, eine bis in die Wortwahl analoge ›Reminiszenz‹ an das Beispiel der Philosophie der Physiologie79: »Im schwarzen Heiligthum dieser Buchen, ersannen wir zuerst das kühne Ideal unsrer Freundschaft. Hier wars, wo wir den Stammbaum der Geister zum erstenmal aus einander rollten und Julius einen so nahen Verwandten in Raphael fand. Hier ist keine Quelle, kein Gebüsche, kein Hügel, wo nicht irgend eine Erinnerung entflohener Seligkeit auf meine Ruhe zielte.« Unser literarisches Beispiel legt einen inneren Zusammenhang zwischen Assoziation, ›Reminiszenz‹ und bukolischer Sphäre offen. Die Frage der Assoziation assoziiert beinahe zwangsläufig den bukolischen locus amoenus, sofern die neuzeitliche Bukolik seit der Renaissance ihrerseits ein Genre der Assoziationen und sentimentalischen ›Reminiszenzen‹ ist, das im Lust- immer auch den Erinnerungsort mitinszeniert.80 Es ist angesichts dieser Verschränkung von Assoziationstheorie und Landschaftsästhetik kein Zufall, wenn Schiller im zweiten Teil der Matthisson-Rezension mehrfach gerade jene Gedichte Matthissons beifällig zitiert, die eben solche bukolischen Szenerien enthalten, etwa das Gedicht Abendlanschaft (»Malerisch / Im Gebüsch / Winkt mit Gärtchen, Laub und Quelle / Die bemooste Klausnerzelle«).81 Auch hier ist es das Reiz-Wort »Quelle«, das eine ästhetische Kettenreaktion in Gang setzt. Topik, Bildfolge und Musikalität von Matthissons Versen entsprechen jener keimhaften bukolischen Szenerie, die Schiller als Modellfall assoziativer Bildverkettung in der frühen Dissertation zitiert. Bereits Schillers erstes publiziertes Gedicht, die Hymne Der Abend (1776), präfiguriert schon thematisch das Matthissonsche Exempel, indem es eine bukolische Szenerie entfaltet, die wiederum auf das Beispiel der Philosophie der Physiologie vorausweist (»Vom Felsen rieselt spiegelhelle / Ins Graß die reinste Silberquelle, / Und tränkt die Herd und tränkt den Hirt«).82 Von solchen Kontinuitäten der poetischen Ideen- oder Bilderfolge aus ließe sich weiter nach Struktur und Intention der frühen Naturlyrik im Vor- und Umfeld der Karlsschule fragen. Tatsächlich sind Gedichte wie der Abend und andere Naturstücke aus der Anthologie auf das Jahr 1782 als ›Natur-‹ oder ›Landschaftsgemälde‹83 zu verstehen, deren Bildertaumel dem »Gesetz der Ideenverbindung«84 folgt oder

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NA XX, 109. Vgl. dazu den Beitrag von Steffen Schneider in diesem Band. NA XXII, 277. NA I, 4 (Vs. 44-46). Vgl. NA XXII, 274. Ebd., 267.

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doch deren beau désordre suggeriert, der verbreitete Untertitel »Phantasie« weist deutlich in diese Richtung.85 Schillers frühe Hymnen entfesseln in kunstvollem Kalkül einen »Tumult von Assoziationen«,86 der nur der (Un-)Ordnung der Phantasie und der Assoziation im Angesicht der Landschaft zu folgen scheint. Hannelore Schlaffer hat indes das poetologische Kalkül dieser lyrischen Unordnung im Gefolge der Odenkonzeption Boileaus benannt. Schiller beziehe die »Legitimation für die Steigerung der beau désordre ins Chaotische aus der Assoziationenlehre seines Lehrers Abel«.87 Diese Phantasie- und Assoziationstheorie bleibt, zumindest für die »Landschaft-Dichtung«, ein wesentlicher Bezugspunkt noch der späten Lyrik und ihrer Theorie. Diese steht jedoch jenseits einer idealistischen Wende, die Schiller erstmals in der Bürger-Rezension vertritt und noch in der Matthisson-Rezension, mit beinahe gleichlautenden Wendungen, wiederholt. In den Gedichten werden nun nicht mehr Gefühlsextreme und Affektspitzen geschildert,88 sondern eine entindividualisierte, beruhigte Normalpsyche. Schillers lyrische ›Idealisierkunst‹ darf somit nicht als Weltanschauungsprogramm mißverstanden werden: Sie votiert vielmehr in anthropologisch-medizinischer Perspektive für einen »Normalismus«89 der Seele bzw. der »Empfindungsweise«,90 dem das Individuelle (d. h. Abweichende) das Kranke, das Ideale (d. h. das Normale und »[G]enerische«91) das Gesunde ist. Unter dieser Prämisse wären Kontinuitäten und Differenzen zwischen Schillers früher und seiner klassischen »Landschaft-Dichtung« (wie der Lyrik insgesamt) neu auszuloten. Zu zeigen wäre, wie Schillers Lyrik eine Kehre vom Bildertumult zur geregelten »Ideenverbindung«,92 von der entfesselten zur generalisierten und im Hinblick auf die »reine Gattung«93 normalisierten Assoziation zurücklegt.

Sie finden ihr klassizistisches Gegenstück in jener »Gattung« Matthissonscher Naturgedichte, die, wie Schiller am Ende der Rezension festhält, »freie Fiktionen der Einbildungskraft behandelt« (ebd., 280). 86 Ebd., 80 (Der Jüngling und der Greis). 87 Hannelore Schlaffer: Die Ausweisung des Lyrischen aus der Lyrik – Schillers Gedichte, in: Das Subjekt der Dichtung – Festschrift für Gerhard Kaiser, hg. von Gerhard Buhr, Friedrich A. Kittler und Horst Turk, Würzburg 1990, 519-532, hier 526. 88 Vgl. ebd. sowie dazu (und zur Frage des Normalismus) auch den Beitrag von Günter Oesterle in diesem Band. 89 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997. 90 NA XXII, 269. 91 Ebd., 274. 92 Ebd., 267. 93 Ebd., 268. 85

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III. Handlung vs. Bilderfolge oder: Laokoon – und kein Ende Die Frage nach den Bildsequenzen und Ideenfolgen ist indes nicht nur anthropologisch bedeutsam, sie spielt wiederum hinüber in die am Laokoon aufgebrochene ästhetische Debatte um die Legitimität der Landschaftsdichtung. Lessings Frage nach den »Grenzen der Malerei und Poesie« steht, ohne beim Namen genannt zu werden, im Hintergrund, wenn Schiller lobend an Matthisson hervorhebt, er habe die »natürlichen Schranken seiner Kunst«94 erkannt. Der gesamte kritische Teil der Rezension läßt sich als kontinuierliche Auseinandersetzung mit Lessings Grundsatzschrift verstehen, zu der sich Schillers Überlegungen in ein diffiziles Verhältnis der Anziehung und Abstoßung setzen. Zugespitzt formuliert: Die Landschaftsdichtung wird gegen Lessing mit Lessings Kategorien und Argumentationsfiguren begründet. Auf den ersten Blick liest sich Schillers Stellungnahme zum ut pictura poesis-Problem wie eine einfache Paraphrase der Lessingschen Thesen, die terminologische Ecksteine des Laokoon umkreist95: »Nachahmung der Natur«, der enargeia-Komplex96 (›Täuschung‹, ›Schein‹, ›Illusion‹), »simultan« vs. »sukzessiv«, »Raum« vs. »Zeit«, »Handlung« bzw. »genetische Darstellung«, »Stetigkeit des Zusammenhangs« u. a. m. Auch Schiller rüttelt nicht am Mimesisprinzip: Landschaftsdichtung ist »Nachahmung der Natur«, freilich mit jenem auf Aristoteles zurückweisenden, typisierenden Zugriff auf ›wahre‹, nicht ›empirische‹ Natur.97 Matthisson wird nun jene Qualität zugebilligt, deren Fehlen Lessing zu seinem berühmten Verdikt über Hallers Blumenstücke veranlaßt hatte – »Täuschung«.98 In Matthissons »Landschaftsgemälden«, so Schiller, »glauben [wir] die Natur selbst zu sehen«.99 Der Tenor lautet also: Matthisson ist der bessere Haller. Deutlicher als Lessing unterstreicht Schiller den medienspezifischen »Nachteil [des Dichters] gegen den Maler«; beruhe doch »ein großer Teil des Effekts auf dem simultanen Eindruck des Ganzen«.100 Daraus wird, durchaus im Einklang mit dem Laokoon, die Forderung an den Dichter abgeleitet, »nicht sowohl, uns zu repräsentieren, was ist, als was geschieht«, der Dichter wird sich mithin »immer nur an denjenigen Teil seines Gegenstandes halten, der einer genetischen Ebd., 274. Ebd., 274 f. 96 Vgl. Lessing: Laokoon [Anm. 13], 113 f., Anm. 2: »Was wir poetische Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasieen, wie man sich aus dem Longin erinnern wird. Und was wir die Illusion, das Täuschende dieser Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie.« 97 Diese wäre – entsprechend der Definition des Aufsatzes Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst – ›gemeine‹ Natur. »Einen gemeinen Geschmack haben in der bildenden Kunst die Niederländischen Mahler, einen edlen und großen Geschmack die Italiener, noch mehr aber die Griechen bewiesen« (NA XX, 241). 98 Diese seien »ohne alle Täuschung«, so daß, »wer diese Kräuter und Blumen nie gesehen, sich aus seinem Gemälde so gut als gar keine Vorstellung davon machen könne« (Lessing: Laokoon [Anm. 13], 125). 99 NA XXII, 274. 100 Ebd. 94 95

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Darstellung fähig ist«.101 Dies stellt ihn vor das Problem, das simultane Ganze der landschaftlichen Natur in seine sukzessive Darstellung zu überführen. Hier liegt nun der neuralgische Punkt der Argumentation, denn aus der inneren Strukturdifferenz von Zeichen und Bezeichnetem hatte Lessing ja gerade die Ablehnung der deskriptiven Naturpoesie abgeleitet. Schiller umgeht diese Konsequenz, indem er nicht die Dichtung, sondern die Natur selbst in Bewegung setzt: Denn auch diese sei »ein sukzessiv gegebenes Ganze, weil sie in einem beständigen Wechsel ist, und […] insofern den Dichter [begünstiget]«.102 Landschaft als Gegenstand der Dichtung ist für Schiller legitim, sofern sie »immer mehr die bewegte als die feste und ruhende Natur« zeige.103 Das »wechselnde Drama«,104 zu dem die Matthissonsche Dichtung die Landschaft belebt, kompensiert das Fehlen von »Menschheit und Menschenähnlichkeit«105 der Natur, trägt zwar nicht »handelnde Menschheit«106 auf, transponiert sie aber doch durch eine »symbolische Operation«107 der Einbildungskraft in die Sphäre des Menschlichen und damit in die ästhetischer Relevanz. Die zweite Hauptdifferenz Lessing gegenüber besteht in der konsequent assoziationstheoretischen Umdeutung der Zeichenproblematik des Laokoon.108 Die Assoziationstheorie wird zum entscheidenden Argument gegen Lessing und für Matthisson und die Naturlyrik. Aus Lessings »Folge von Augenblicken«109 wird bei Schiller die Ideenfolge. Aus der medienspezifischen Sukzession der »Töne in der Zeit« oder der »Augenblick[e] der Handlung«110 (Kap. 16) wird eine Sukzession von »Bildern« und »Erscheinungen«, deren »Stetigkeit« den Effekt der »Totalvorstellung« und der »Komprehension« garantiert. Diese »Stetigkeit des Zusammenhanges«111 ersetzt das Kriterium der »Geschwindigkeit«,112 das bei Lessing das Umschlagen der Sukzession in Simultaneität sicherstellen sollte.113 Kleinste Einheit des Mediums Dichtung sind für Schiller jedoch nicht die arbiträren Sprachzeichen, die sich erst sekundär in der Leserphantasie zum Ganzen eines Bildes komponieren; für Schiller ist poetische Ebd. Ebd. 103 Ebd., 275. 104 Ebd. 105 Ebd., 265. 106 Ebd., 283. 107 Ebd., 271. 108 Aus der weitläufigen Literatur sei noch einmal verwiesen auf Wellbery: Lessing’s ›Laokoon‹ [Anm. 49] sowie, exemplarisch für die neuere Laokoon-Forschung, auf Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions – Das Modell der Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im 18. Jahrhundert, München 1998, 103-148. 109 Lessing: Laokoon [Anm. 13], 118. 110 Ebd., 116, 117. 111 NA XXII, 275. 112 Lessing: Laokoon [Anm. 13], 124. 113 Vgl. Inka Mülder-Bach: Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings ›Laokoon‹, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), 1-30. 101 102

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Sprache primär und immer schon Bildersprache, rein sinnlich, begriffslos, intuitiv. Es kommt lediglich darauf an, in die Abfolge der Bilder kausalnotwendige »Stetigkeit« zu bringen. Damit ist Lessings prekäre Frage nach einer gleichsam medientranseunten Bilderzeugung im Handstreich beigelegt. Die Verwandlung von Sprachzeichen in (mentale) Bilder erübrigt sich, weil sie in der Dichtung als »Bildersprache«114 immer schon geleistet ist. Daß diese Prämisse auf einem durchaus undifferenzierten, äquivoken Bildbegriff aufruht, der nicht zwischen Trope, äußerem und innerem (mentalem) Bild unterscheidet, wäre an Schillers Analyse der Matthissonschen Texte ohne weiteres zu zeigen. Damit ist aber auch Lessings Frage nach den »Grenzen der Malerei und Poesie«, mithin der ›Paragone‹ suspendiert. Schiller geht es nicht mehr um Abgrenzung der ›Poesie‹ von der ›Malerei‹. Die Mediendifferenz wird vielmehr ins Innere der Sprache selbst verlegt und führt zu einer – wiederum von Lessing inspirierten – Differenzierung von (abstrakter) Begriffs- und (poetischer) Bildersprache. In der Dichtung, so Schillers seit der Philosophie der Physiologie konstante Auffassung, transzendiert sich Sprache selbst und wird reine Sinnlichkeit ohne Rest an begrifflicher Füllung. Die Bedeutung der landschaftspoetischen Ideen- und Bilderfolgen liegt (dies macht ihre Analogie zur Musik aus) weniger in dem, was sie sagen oder was ihnen als Text unterlegt wird. Geglückte Dichtung ist (oder wäre) vielmehr Sprache ohne Worte, Rede in Bildern – oratio sensitiva perfecta.

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NA XXII, 249 (Bürger-Rezension).

fe lde r ›geistiger‹ be herr schung de r natur : das e rhabe ne, mag isches naturde nken

Die Geologie und das Erhabene Von Georg Braungart

I. ›Der Spaziergang‹ Schillers Elegie Der Spaziergang, ein Gedicht, dessen Vielschichtigkeit und geistesgeschichtliche Prägnanz durch Wolfgang Riedel1 eindrücklich vorgeführt worden ist, bezieht sich bekanntermaßen an einigen signifikanten Stellen auf den Diskurs des Erhabenen. Der Wanderer, der sich aus der Tiefe des Tals in die Höhen des Gebirges und damit der Erkenntnis hinaufbegeben hat, schaut zurück in die weite Flur; und es entsteht vor seinen Augen die Vision einer Geschichte der Zivilisation, die in Dekadenz mündet. Ein großes geschichtsphilosophisches Gemälde, das katastrophal in der Asche von Kriegen und Selbstvernichtung endet; eine Modellgeschichte von der Dialektik der menschlichen Freiheit, die den Wanderer jäh wieder in die nun schaurig-wilde (in der Tradition des locus terribilis präsentierte) Natur des Hochgebirges hineinwirft2: Aber wo bin ich? Es birgt sich der Pfad. Abschüßige Gründe Hemmen mit gähnender Kluft hinter mir, vor mir den Schritt. Hinter mir blieb der Gärten, der Hecken vertraute Begleitung, Hinter mir jegliche Spur menschlicher Hände zurück. Nur die Stoffe seh’ ich gethürmt, aus welchen das Leben Keimet, der rohe Basalt hofft auf die bildende Hand, Brausend stürzt der Gießbach herab durch die Rinne des Felsen Unter den Wurzeln des Baums bricht er entrüstet sich Bahn. Wild ist es hier und schauerlich öd’. Im einsamen Luftraum Hängt nur der Adler, und knüpft an das Gewölke die Welt.

Der Wanderer ist ausgesetzt, einsam und aus seiner Geschichte hinausgeworfen, und wie das Ich in Nikolaus Lenaus schauerlich-nihilistischem Doppelsonett Einsamkeit wirft er sich an die Brust der Natur, die – wenngleich ein ›einsamer‹ Ort, ein locus desertus – doch zugleich in ihrer übergeschichtlichen Gleichförmigkeit Trost bieten kann; die Elegie endet3:

1 Vgl. Wolfgang Riedel: ›Der Spaziergang‹ – Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Würzburg 1989. 2 Ich zitiere nach dem Abdruck bei Riedel, ebd., 9-16, hier 13, Vs. 173-182 (der Druckfehler ›mit‹ in Vs. 175 korrigiert). 3 Ebd., 13 f., Vs. 185-200.

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Georg Braungart

Bin ich wirklich allein? In deinen Armen, an deinem Herzen wieder, Natur, ach! und es war nur ein Traum, Der mich schaudernd ergriff, mit des Lebens furchtbarem Bilde, Mit dem stürzenden Thal stürzte der finstre hinab. Reiner nehm’ ich mein Leben von deinem reinen Altare, Nehme den fröhlichen Muth hoffender Jugend zurück! Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig Wiederhohlter Gestalt wälzen die Thaten sich um. Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz, Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne, Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut, Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter; Unter demselben Blau, über dem nehmlichen Grün Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter, Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.

Der Text lebt aus Gegensätzen: Der Idylle wird die Einöde gegenübergestellt, dem locus amoenus der locus terribilis; der Natur sodann die Kultur und schließlich die Geschichte; dem Mythos die Aufklärung, dem Frieden der Krieg, dem Fortschritt die Dekadenz. Mir geht es um den Gegensatz Natur versus Geschichte, denn ich glaube, daß Schiller in diesem großartigen Gedicht hier – wissenschaftlich, wissenschaftsgeschichtlich gesehen – ein Anachronismus ›passiert‹; das will ich in diesem Beitrag zeigen. Zu Recht und nachdrücklich hat man darauf hingewiesen, daß Schiller hier (und an einigen anderen Stellen) den Diskurs – oder auch die Topik – des Erhabenen aufnimmt, und man hat ebenfalls zu Recht festgestellt, daß der Spaziergang in seiner poetischen Logik mitnichten – wie 1795 von seinem Autor eigentlich zu erwarten – die Kant-Schillersche Philosophie des Erhabenen ›umsetzt‹. Die Flucht an den Busen der Natur und das tröstende Hinausschreiten aus der Geschichte, die – zwischen Homer und der eigenen Gegenwart aufgespannt – angesichts der gleichmütigen Selbstidentität der großen Natur zu einem winzigen Augenblick zusammenschrumpft (auch das hat Wolfgang Riedel gezeigt): Diese Flucht in die Natur hat nichts mit der ›erhebenden‹ Besinnung des Subjekts auf die Idee oder seine sittliche Existenz gemeinsam, wie sie Kant und Schiller – erst- und einmalig in der Geschichte des Erhabenen – als dessen Charakteristikum verlangen. Im Laufe seiner langen Geschichte hat das Erhabene seit je eine gewisse Affinität zum Hochgebirge und zu schauerlich-gewaltsamen Naturprozessen gezeigt. Die Topik des Erhabenen, die sich in vielfacher Weise mit der topischen Tradition des locus amoenus oder vielmehr des korrespondierenden locus terribilis bzw. desertus berührt, bedient sich immer wieder jener Naturbeispiele, die seit 1800 disziplinär dann von der eben entstehenden Wissenschaft der Geologie verwaltet werden.

Das Erhabene und die Geologie

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Doch bereits in der frühen Neuzeit gibt es wissenschaftsgeschichtlich charakteristische Berührungspunkte mit der Vorgeschichte der Geologie, also der Naturhistorie und der Erdgeschichte. Entscheidend für meinen Argumentationszusammenhang aber ist, daß sich genau in der Zeit um 1800, als die Entwicklung der Geologie als Wissenschaft, die in diesen Jahrzehnten zwischen Buffon und Charles Lyell, also zwischen etwa 1750 und 1830, ihr ›heroisches Zeitalter‹ erlebt – die Zeit ihrer Ausdifferenzierung und Professionalisierung –, geradezu eine Symbiose der Geologie mit dem Konzept des Erhabenen einstellt, die für Schillers Naturverständnis hätte prägend sein können, ja müssen. Doch dies geschieht, wie ich im folgenden zeigen werde, gerade nicht. Während der ›vorkritische‹ Kant ebenso wie Lichtenberg, Goethe, Alexander von Humboldt und – mit Abstrichen – sogar Herder die stürmische Entwicklung der Geologie zur Kenntnis nehmen und teilweise systematisch verarbeiten, bleibt Schiller, und das ist, meine ich, für die Analyse von ›Schillers Natur‹ durchaus relevant, in einer zentralen Entwicklungsphase einer um 1800 vieldiskutierten Wissenschaft beiseite stehen. Schillers hat, das ist zu zeigen und zu erklären, erstaunlicherweise nichts mitbekommen von dem durch Wolf Lepenies beschriebenen ›Ende‹ der traditionellen Naturgeschichte und von der damit verbundenen Verzeitlichung der Natur.4 Diese Verzeitlichung, die im Kontext der Geologie die Vorstellung unendlicher Zeiträume und die Erkenntnis der Episodenhaftigkeit menschlichen Lebens auf der Erde mit sich bringt, hat eine durchaus brisante Relativierung des Menschen und seiner eigenen Geschichte zur Folge, deren Reichweite in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts bereits absehbar wird. Damit befinden wir uns in einem Konfliktfeld, das – wissenschaftsgeschichtlich gesehen – als Konkurrenz von Geologie und Anthropologie beschrieben werden kann; und ich möchte am Ende meines Beitrags den im folgenden genauer darzustellenden Befund im Hinblick auf Schillers Rezeption der Naturkunde seiner Zeit aus genau dieser Konkurrenz heraus kommentieren.

II. Genesis und Geologie Um die Mitte des 18. Jahrhunderts versucht Georges Louis Leclerc, Comte de Buffon, seine seit längerem gewonnenen Überzeugungen über das hohe Alter der Erde zu veröffentlichen, was zunächst nicht möglich war5: »Buffon unterwarf sich 1751 der Aufforderung d[er] Theol[ogischen] Fakultät der Sorbonne zum Widerruf derjenigen seiner Thesen, die dem mosaischen Bericht widersprachen.« 1774 unter4 Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte – Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1978. 5 Helmut Hölder: Kurze Geschichte der Geologie und Paläontologie – Ein Lesebuch, Berlin u. a. 1989, 214. – Zum Folgenden vgl. auch: Georg Braungart: Apokalypse in der Urzeit – Die Entdeckung der Tiefenzeit in der Geologie um 1800 und ihre literarischen Nachbeben, in: Zeit – Zeitenwechsel – End-

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nahm er einen neuen Versuch, wobei er sich vor allem auf seine Berechnungen über die Abkühlgeschwindigkeit des Planeten stützte, und 1778 veröffentlichte er sein Werk Les époques de la nature (als fünften Supplement-Band seiner Histoire naturelle générale et particulière), in dem er die unübersehbar lange Dauer der Erdgeschichte – jenseits aller biblischen Berechnungen (die traditionell das Alter der Erde auf gut 6000 Jahre angesetzt hatten) – nachzuweisen versuchte.6 In den Konflikten um Buffons Einsichten kulminierte eine Entwicklung, die sich als ein langer Kampf zwischen Genesis und Geologie darstellte, welcher zunächst in Harmonisierungsversuche nach Art der Physikotheologie gemündet hatte, bei denen man – etwa im Gefolge der Debatten um Thomas Burnets Telluris Theoria Sacra bzw. Sacred Theory of the Earth (1681/89 bzw. 1684/90) – die sechs Schöpfungstage der Bibel als geologische Epochen von längerer Dauer zu deuten vorschlug. Thomas Burnet selbst ist im übrigen für eine Geschichte des Geologisch-Erhabenen7 von einiger Bedeutung. Er hatte am Ende des 17. Jahrhunderts ein grandioses, bereits von Zeitgenossen als romanhaft eingeschätztes Gemälde der großen Umwälzungen in der Erdgeschichte vorgelegt, aus dem die These von der gealterten, ruinierten Welt geradezu topisch wurde. »Mond und Erde gäben beide ›das Bild einer großen Ruine ab, sie sehen aus wie eine Welt, die auf ihren eigenen Trümmern ruht.‹«8 Paolo Rossi stellt in diesem Zusammenhang fest9: »Die Trümmer und die große Ruine avancierten in Burnets Schriften zu metaphysischen Leitmotiven.« Und: »Burnet konnte wohl kaum ahnen, daß seine Schrift für die Ideengeschichte des Erhabenen und für die Entstehung einer auf Berglandschaften bezogenen Gemütsbewegung große Bedeutung erlangen würde.« An der Wende zum 19. Jahrhundert erlebte die entstehende Wissenschaft von der Geologie ihr großes Zeitalter, denn in den Jahrzehnten bis zu Charles Lyells Principles of Geology (1830/1833) wurden die entscheidenden Entdeckungen gemacht, die zu einer immer weiter fortschreitenden Professionalisierung und zur endgültigen Etablierung als Wissenschaft führten. Die Relativierung der biblischen Schöpfungsgeschichte war dabei der eine wichtige geistesgeschichtliche Effekt; damit verbunden, aber doch analytisch davon zu unterscheiden ist das Auseinanderdriften der Menschheitsgeschichte (welche zuvor noch unreflektiert mit der Geschichte der Erde in eins gesetzt worden war) und der Geschichte der Natur in ihrer Entwicklung – ganz besonders der Geschichte der Erde mit ihren unvorstellbar langen Zeiträumen. Die Geschichte der Menschheit, in diesen Jahrzehnten durch vielfältige geschichtsphilosophische Modelle – und nicht zuletzt durch Schilzeit: Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen, hg. von Ulrich G. Leinsle und Jochen Mecke, Regensburg 2000, 107-120. 6 Vgl. auch Stephen Toulmin/June Goodfield: Entdeckung der Zeit, Frankfurt a. M. 1985 [engl. 1965], 160. 7 An der ich arbeite. 8 Paolo Rossi: Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München 1997, 260 f. 9 Ebd., 261.

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ler selbst – in diverse Sinnhorizonte gerückt, wurde durch die scheinbar harmlose Geologie mit einem Schlag zur bloßen Episode, zum Epiphänomen von Prozessen ganz anderer, unvorstellbarer zeitlicher Dimensionen. Jean Baptiste Lamarck formuliert zu Beginn des 19. Jahrhunderts: »Wie ungeheuer ist doch das Alter unserer irdischen Welt, und wie klein sind die Gedanken derer, die glauben, seit der Entstehung unserer Erde bis zum heutigen Tag seien nicht mehr als sechstausend und ein paar hundert Jahre vergangen!«10 – Und er betont, »daß das Alter unserer Erde weit über die Vorstellungskraft des Menschen hinausgeht.«11

III. Anthropologie und Geologie Das 18. Jahrhundert, genauer seine zweite Hälfte ist bekanntermaßen jene Epoche, in welcher die Anthropologie zu einer neuen Leitwissenschaft wird (sofern man schon von einer Wissenschaft sprechen kann). »Die Lehre vom Menschen«, so PeterAndré Alt, »[…] die Beschaffenheit individueller Mentalitäten, Gemütsverfassungen und Begabungen faszinieren die Zeit wie kaum ein anderes Thema.«12 Medizin, Psychologie, Rhetorik, Naturkunde, Philosophie und andere Disziplinen sind auf die Erforschung des Menschen zentriert. Kant, Schiller, Garve, Platner, Schillers Mentor Abel und viele andere partizipieren an diesem Diskurs. Doch im Schatten dieses Aufstiegs findet sich als dunkle Schwester der Anthropologie auch die Geologie, durch welche eine radikale Erschütterung des Anthropozentrismus der Spätaufklärung droht. Neben der Spannung zwischen theologischen und geologischen Erdentstehungsmodellen ist damit die Spannung zwischen dem Anthropozentrismus der Leitwissenschaft des späten 18. Jahrhunderts einerseits – und der transhumanen Perspektive andererseits ins Auge zu fassen, wie sie durch die Erkenntnisse der Geologie jener Zeit nahegelegt wird: Die Erde hat eine eigene Geschichte, mit eigenen, unglaublichen und die Anschauung überfordernden Dimensionen, welche die Weltgeschichte, die Geschichte des Menschen zu einer bloßen Episode werden lassen und den Menschen zu einem Epiphänomen herabstufen. Nach der kosmischen Marginalisierung (so hat dies Stephen Jay Gould einmal formuliert)13 und vor der Darwinschen und der Freudschen Kränkung des neuzeitlichen Narzißmus hätte Freud in seinem berühmten Diktum noch eine vierte Kränkung erwähnen müssen: die zeitliche Marginalisierung des Menschen durch den »dunklen Abgrund der Zeit«, Toulmin/Goodfield, Entdeckung der Zeit [Anm. 6], 192. Ebd. 12 Peter André Alt: Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1996, 312 f.; zur Anthropologie in der Spätaufklärung vgl. jetzt die umfassende Studie von Carl Niekerk: Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie – Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung, Tübingen 2005. 13 Vgl. Stephen Jay Gould: Time’s Arrow – Time’s Cycle: Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time, Cambridge (Mass.)/London 91996, 1 f. 10 11

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wie eine inzwischen klassische Darstellung der Geologiegeschichte dieser Epoche14 mit den Worten Buffons formuliert. Prägnantestes Beispiel für die Konfliktlage ist vielleicht Kant selbst, und zwar der vorkritische Kant: 1755 bebte die Erde und zerstörte Lissabon. Das darauf folgende publizistische, theologische und philosophische Erdbeben war nicht weniger heftig. Und es konnte durchaus vor dem Hintergrund der Ruinentheorie Burnets gelesen werden, als Beweis, daß die Erde alt, ausgebrannt und ihrem Ende nahe sei. Immanuel Kant in Königsberg reagierte unmittelbar und versuchte, in drei 1756 veröffentlichten Aufsätzen, eine eigene Deutung, die über religiös-theologische Zweifel und entsprechende Harmonisierungen hinausgeht.15 Kant setzt in der umfangreichsten dieser Schriften vom März 1756 zunächst bei erdgeschichtlichen Bemerkungen an und weist darauf hin, wie wenig die Menschen noch vom Innern der Erde wüßten, wo sie doch »die Oberfläche des Erdbodens« eigentlich schon »ziemlich vollständig« zu kennen meinen.16 »Die größte Tiefe«, so heißt es bei Kant weiter, »zu der Menschen von der obersten Fläche des festen Landes hinabgekommen sind, beträgt noch nicht 500 Klafter«.17 Nun folgt eine längere Passage, die ich ganz zitieren möchte, um die Argumentationsweise erkennbar zu machen18: »Was aber die Natur unserm Auge und unsern unmittelbaren Versuchen verbirgt, das entdeckt sie selber durch ihre Wirkungen. Die Erdbeben haben uns offenbart, daß die Oberfläche der Erde voller Wölbungen und Höhlen sei, und daß unter unseren Füßen verborgene Minen mit mannigfaltigen Irrgängen allenthalben fortlaufen. Der Verfolg in der Geschichte des Erdbebens wird dieses außer Zweifel setzen. Diese Höhlen haben wir eben derselben Ursache zuzuschreiben, welche den Meeren ihr Bette zubereitet hat; denn es ist gewiß, wenn man von den Überbleibseln, die das Weltmeer von seinem ehemaligen Aufenthalte über dem gesamten festen Lande zurückgelassen hat, von den unermeßlichen Muschelhaufen, die selbst in dem Innern der Berge angetroffen werden, von den versteinerten Seetieren, die man aus den tiefsten Schächten herausbringt, ich sage, wenn man von allem diesem nur einigermaßen unterrichtet ist, so wird man leicht einsehen, daß erstlich das Meer ehedem eine lange Zeit alles Land überdeckt habe, daß dieser Aufenthalt lange gedauert habe und älter als die Sündflut sei, und daß endlich das Gewässer sich unmöglich anders habe zurückziehen können, als daß der Boden desselben hin und wieder in tiefe Grüfte herabgesunken und demselben Paolo Rossi: The Dark Abyss of Time – The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico, Chicago/London 1984. 15 Vgl. hierzu Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt das Denken in Bewegung, Berlin 1994, bes. 34-42. – Die Texte Kants sind auszugsweise nachgedruckt in: Die Erschütterung der vollkommenen Welt – Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, hg. von Wolfgang Breidert, Darmstadt 1994, 100-143; hiernach die folgenden Zitate. 16 Ebd., 108. 17 Ebd., 109. 18 Ebd. 14

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tiefe Becken zubereitet hat, darin es abgeflossen ist, und zwischen deren Ufern es noch jetzt beschränkt erhalten wird, indessen daß die erhöhten Gegenden dieser eingesunkenen Rinde festes Land geworden, welches allenthalben mit Höhlungen untergraben ist, und dessen Strecke mit den steilen Gipfeln besetzt ist, die unter den Namen der Gebirge die oberste Höhe des festen Landes nach allen denjenigen Richtungen durchlaufen, nach welchen es sich in eine beachtliche Länge erstreckt. Diese Höhlen enthalten alle ein loderndes Feuer, oder wenigstens denjenigen brennbaren Zeug, der nur einer geringen Reizung bedarf, um mit Heftigkeit um sich zu wüten und den Boden über sich zu erschüttern oder gar zu spalten.« Also: Die Aktivitäten der Menschen reichen nicht weit in die Tiefe. Die Erde, wie sie sich der Gegenwart darstellt, ist Produkt von ungeheuren, gewaltsamen Umwälzungen. Und schließlich: Die Menschheit lebt in jeder Hinsicht auf dünnem Boden. Die Hinweise auf die unterirdischen Gänge in der Erde, so Kant dann weiter, seien nötig, um die Vorgänge des Erdbebens von Lissabon zu verstehen. Und nun folgt eine interessante Wendung des Arguments, die später von Lichtenberg noch radikalisiert werden wird: Kant spielt mit dem Gedanken, wie viele Zeitgenossen das Augenmerk auf Schrecken, Not und Tod der Menschen zu richten und so »das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt«.19 Doch von dieser humanen Perspektive auf das Ereignis verabschiedet er sich in programmatischer Weise, wenn er sagt20: »Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen derselben.« Und Kant wird noch deutlicher, denn für ihn ist diese Katastrophe ein Anlaß, über den Narzißmus des Menschen grundsätzlich nachzudenken. Das Kapitel Von dem Nutzen der Erdbeben in der hier zitierten zweiten Erdbebenschrift des Jahres 1756 leitet er wie folgt ein21: »Man wird erschrecken, eine so fürchterliche Strafrute der Menschen von der Seite der Nutzbarkeit angepriesen zu sehen. Ich bin gewiß, man würde gerne Verzicht darauf tun, um nur der Furcht und der Gefahren überhoben zu sein, die damit verbunden sind. So sind wir Menschen geartet. Nachdem wir einen widerrechtlichen Anspruch auf alle Annehmlichkeit des Lebens gemacht haben, so wollen wir keine Vorteile mit Unkosten erkaufen. Wir verlangen, der Erdboden soll so beschaffen sein, daß man wünschen könnte darauf ewig zu wohnen.« Die Egozentrik des Menschen, der möglichst alle Naturerscheinungen für sich selbst eingerichtet sehen möchte, wird mit einer Fülle von Beispielen aufs Korn 19 20 21

Ebd., 111. Ebd. Ebd., 130.

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genommen, und zusammenfassend sagt Kant22: »Der Mensch ist von sich selbst so eingenommen, daß er sich lediglich als das einzige Ziel der Anstalten Gottes ansieht, gleich als wenn diese kein ander Augenmerk hätten als ihn allein, um die Maßregeln in der Regierung der Welt darnach einzurichten. Wir wissen, daß der ganze Inbegriff der Natur ein würdiger Gegenstand der göttlichen Weisheit und seiner Anstalten sei. Wir sind ein Teil derselben und wollen das Ganze sein. Die Regeln der Vollkommenheit der Natur im Großen sollen in keine Betrachtung kommen, und es soll sich alles bloß in richtiger Beziehung auf uns anschicken. Was in der Welt zur Bequemlichkeit und dem Vergnügen gereicht, das, stellt man sich vor, sei bloß um unsertwillen da, und die Natur beginne keine Veränderungen, die irgendeine Ursache der Ungemächlichkeit für den Menschen werden, als um sie zu züchtigen, zu drohen oder Rache an ihnen auszuüben.« Das lapidare Fazit Kants lautet23: »Der Mensch ist nicht geboren, um auf dieser Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen.« Was wie eine barocke Sentenz aus der Feder etwa von Andreas Gryphius anmutet, ist 1756, als Kant diesen Aufsatz über den Eigenwert des Organismus Erde veröffentlicht, der seine eigenen Gesetze auch in diesem schrecklichen Erdbeben offenbart, ein deutlich sich andeutendes Korrektiv zum Anthropozentrismus der Aufklärung, welches sich unmittelbar mit geologischen Untersuchungen und Einsichten verbindet. Die menschliche Katastrophe ist nur ein Epiphänomen eines an und für sich selbst interessierenden – und eigentlich ›normalen‹ – erdgeschichtlichen Vorganges, ein ›Kollateralschaden‹, wie man heute zynisch sagen könnte. Sie zeigt nur, daß der Mensch, wie vor 20 Jahren auch Ulrich Horstmann in einem viel diskutierten ›anthropofugalen‹ Buch mit zynischer Fulminanz behauptet hat, eigentlich nicht auf diese Erde gehört.24

IV. Das Geologisch-Erhabene Bereits in seiner ersten Kodifizierung gehören zur Phänomenologie des Erhabenen geologische Phänomene. In der Schrift Vom Erhabenen /Peri hypsous (ca. 40 n. Chr.),25 in welcher das Erhabene als rhetorische Gewalt konzipiert wird, erscheinen an einer Stelle, an der die Eindruck erweckenden sprachlichen Mittel mit der Größe des menschlichen Ingeniums in Verbindung gebracht werden, die eindrucksvollen Gewaltphänomene der Erdbewegungen als Faszinosum des menschlichen Geistes. Wir bestaunen, so heißt es dort, »die Krater des Ätna, dessen Ausbrüche Steine und ganze Felsmassen aus der Tiefe emporschleudern und manchmal Ströme des erdgebore22 23 24

Ebd., 134 f. Ebd., 135. Ulrich Horstmann: Das Untier – Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Frankfurt a. M.

1985. Zur frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte vgl. Dietmar Till: Das doppelte Erhabene – Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006. 25

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nen, elementaren Feuers ergießen.«26 In seiner vorkritischen Schrift über das Erhabene, die noch ganz in den Kategorien der psychologisch-sensualistischen Argumentation verfährt, verweist Kant unter anderem auf den »Anblick eines Gebirges, dessen beschneite Gipfel sich über Wolken erheben«.27 Diese geologische Phänomenologie des Erhabenen setzt sich in Kants Behandlung des Phänomens in der Kritik der Urteilskraft (1790) entschieden fort. Im Kontext der Behandlung des Dynamisch-Erhabenen werden als Auslöser der ›Erhebung‹ über die zerstörerische Natur folgende Phänomene genannt28: »Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich aufthürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der gränzenlose Ocean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Muth macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.« Hier wird deutlich, wie Kant im Horizont der kritischen Philosphie die Domestizierung der geologischen Gewalt konzipiert: subjektphilosophisch-ethisch. Schiller wird dies übernehmen und mit einer durchaus radikalen Wendung gänzlich in den Bereich menschlichen Handelns hinüberspielen. Während das Erhabene bei Kant bekanntermaßen und strenggenommen nur von Naturphänomenen ausgelöst werden kann, ist das Phänomen bei Schiller gerade nicht in der Natur lokalisiert, sondern in der Geschichte – und genauer noch in der Kunst der Tragödie. Die Erdgeschichte wird von ihm beinahe ›verdrängt‹. Schelling zählt in seiner Philosophie der Kunst (entst. 1802/03, veröffentlicht posthum 1859) folgende Beispiele für das ›Erhabene der Natur‹ auf 29: »ungeheure Gebirgs= und Felsenmassen, deren Gipfel das Auge nicht erreicht, der weite, nur vom Himmel umwölbte Ocean, das Weltgebäude in seiner Unermeßlichkeit, für welche jeder mögliche Maßstab des Menschen unzureichend befunden wird.« Diese Traditionslinie der geologischen Phänomenologie des Erhabenen verbindet sich um 1800 mit der Tradition der ›Alpenbegeisterung‹30 – im Zusammenhang [Ps.-]Longinus: Vom Erhabenen, Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, 89 (= 35,4). 27 Immanuel Kant: Werke – Akademie-Textausgabe II, Berlin 1968, 208 (Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764]). 28 Kant: Werke [Anm. 27] V, 261 (§ 28). 29 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ausgewählte Schriften II, hg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1985, 290 (§ 65). 30 Konrad Gesner (1516-1565) schreibt in einem Brief: »Ich behaupte daher, daß ein Feind der Natur sei, wer die erhabenen Berge nicht einer eingehenden Betrachtung würdig erachtet. 26

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der Diskussion des 18. Jahrhunderts über die ›gemischten Gefühle‹ –, wie sie Carsten Zelle so eindrücklich dargestellt hat.31 John Dennis etwa (1658-1734) greift für seine Ästhetik, in welcher er die Trennung des Schönen vom Erhabenen postuliert, auf Erfahrungen einer Alpenüberquerung im Jahre 1688 zurück32: »[T]he unusual heighth (!) in which we found our selves, the impending Rock, that hung over us, the dreadful Depth of the Precipice, and the Torrent that roar’d at the bottom, gave us such a view as was altogether new and amazing […]. The sense of all this produc’d different motions in me, […] a delightful Horrour, a terrible Joy, and at the same time, that I was infinitely pleas’d, I trembled.« Bei Dennis wird die Schilderung der Wahrnehmung mit Überlegungen zur Entstehung dieser Berge verknüpft: Sind sie so geschaffen oder sind sie Ergebnis eines ruinösen Prozesses (wie Thomas Burnet behauptet hatte)? Damit komme ich zu einer ersten These: Der Diskurs des Erhabenen war im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert derart mit der ›Entdeckung‹ der Alpen verknüpft worden, daß die Verbindung mit der Geologie insgesamt nur ein letzter Schritt war. Die Theorie von der alten Erde (Thomas Burnet) und die Katastrophentheorie (vertreten vor allem von Georges Cuvier) passen genau in die Entwicklung des Diskurses über das Erhabene. Das zeigt sich sehr deutlich in der nachfolgenden Entwicklung, in der sich gerade naturkundliche Autoren ganz explizit auf diesen Diskurs beziehen und so nach Kants und Schillers Doppelung des Erhabenen (in das Mathematisch-Erhabene bzw. Theoretisch-Erhabene und das DynamischErhabene bzw. Praktisch-Erhabene) eine dritte Variante des Erhabenen generieren: Die unermeßlichen Zeiträume, welche nicht das Anschauungsvermögen des Menschen in quantitativer Hinsicht überfordern (wie beim Mathematisch-Erhabenen Kants) oder seine Selbsterhaltung bedrohen (wie beim Dynamisch-Erhabenen), sondern ihn in der zeitlichen Dimension nahezu annihilieren, wären der Ausgangspunkt für das Geologisch-Erhabene; wobei in der Konsequenz zu fragen wäre, worin dann in diesem dritten Falle jeweils die ›erhebende‹ Reaktion des Subjekts liege. Unter den vielen Vertretern des Geologisch-Erhabenen der Jahrzehnte nach 1800 seien drei hervorgehoben: Alexander von Humboldt, Carl Gustav Carus und Gotthilf Heinrich Schubert. Alexander von Humboldt greift in seinem Hauptwerk Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung und in seinen Ansichten der Natur 33 und den in diesen […] Daher wird die höchste Bewunderung für alle Elemente und für die Mannigfaltigkeit der Natur durch die Berge erweckt« (Frühe Zeugnisse der Alpenbegeisterung, hg. von Helmuth Zebhauser, München 1986). 31 Vgl. Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen« – Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987. 32 John Dennis: Letter describing his crossing the Alps, dated from Turin, Oct. 25, 1688 [1693], zit. n. ebd., 86 f. 33 Alexander von Humboldt: Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 4 Bde, Stuttgart/ Augsburg 1845–1858; ders: Ansichten der Natur, Tübingen 1808 [2. Ausg. 1826; 3. Ausg. 1849].

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Werken von ihm unternommenen Versuchen, die Natur der Erde in einer Gesamtschau darzustellen, immer wieder auf die Kategorie des Erhabenen zurück.34 – Carl Gustav Carus, der sich in seinen Zwölf Briefen über das Erdleben von 1841 als holistisch denkender Geologe zeigt, hatte schon in seinen Briefen über Landschaftsmalerei von 1831 zur Fundierung seiner ästhetischen Ansichten dezidiert auf die erdgeschichtlichen Mechanismen hingewiesen, nach denen die Landschaft ihre aktuelle Gestalt gewonnen hat35 – Prozesse, die in ihren Ausmaßen dem Menschen zeigen, wie klein er im Kontext der geologischen Dimensionen eigentlich ist. Und in diesem Zusammenhang greift Carus auch auf die Kategorie des Erhabenen zurück36: »Indem ich nun aber wieder überlese, was ich geschrieben habe, fällt mir noch bei, daß aus alle dem Vorigen auch wol ein Misverständnis andrer Art hervorgehen könnte, dem ich auch sogleich begegnen muß. Es könnte nämlich, was von solchen Erdlebenbildern gesagt ist, auch wol gedeutet werden, als sollten nun lauter gigantische Scenen im größten Format dargebildet werden, als sollten nur Schilderungen der Alpenwelt, Seestürme, große Gebirgswaldungen, Vulkane und Wasserstürze der Vorwurf solcher Erdlebensbilder sein. – Das aber ist nun meine Meinung keinesweges, und wenn ich auch nicht anstehe zu behaupten, daß jene Scenen, recht gefaßt, das Erhabenste der Erdlebenbildkunst darbieten würden, so ist doch jede, auch die stillste und einfachste Seite des Erdlebens, wenn nur ihr eigentlicher Sinn, die in ihr verborgene göttliche Idee richtig erfaßt ist, ein würdiger und schöner Gegenstand der Kunst.« Gotthilf Heinrich Schubert schließlich thematisiert in seiner Schrift Das Weltgebäude, die Erde, und die Zeiten des Menschen auf der Erde von 1852 ganz deutlich die

Vgl. Humboldt: Kosmos I [Anm. 33], 19 f. – Vgl. hierzu auch allgemein Daniel Tobias Seger: »… die wunderbar aneignende Kraft des menschlichen Gemüthes …« – Alexander von Humboldt und das Erhabene, in: Scientia Poetica 6 (2002), 59-76. 35 Vgl. Carl Gustav Carus: Briefe über Landschaftsmalerei, Leipzig 21835 [Repr. 1972], 28 f.: »[D]as Wechseln der Tages= und Jahreszeiten, den Wolkenzug und alle Farbenpracht des Himmels, das Ebben und Fluten des Meeres, das langsame, aber unaufhaltsam fortschreitende Verwandeln der Erdoberfläche, das Verwittern nackter Felsgipfel, deren Körner, alsbald herabgeschwemmt, allmälig fruchtbares Land erzeugen, das Entstehen der Quellen, nach den Richtungen der Gebirgszüge sich zu Bächen und endlich zu Strömen zusammenfindend, Alles folgt stillen und ewigen Gesetzen, deren Herrschaft wir zwar selbst mit untergeben sind, die uns trotz jedem Widerstreben zwar mit sich fortziehen, und, indem sie uns mit geheimer Macht die Blicke auf einen großen, ja ungeheuern Kreis von Naturereignissen zu wenden nöthigen, uns von uns selbst abziehen, die eigene Kleinheit und Schwäche uns empfinden lassend, deren Betrachtung jedoch zugleich auch die innern Stürme besänftigend und auf alle Weise beruhigend wirken muß. Tritt denn hin auf den Gipfel des Gebirges, schau hin über die langen Hügelreihen, betrachte das Fortziehen der Ströme und alle Herrlichkeit, welche Deinem Blicke sich aufthut, und welches Gefühl ergreift Dich? – es ist eine stille Andacht in Dir, Du selbst verlierst Dich im unbegrenzten Raume, Dein ganzes Wesen erfährt eine stille Läuterung, Du bist nichts, Gott ist alles.« – Die Parallelen zu Adalbert Stifters ›sanftem Gesetz‹ liegen auf der Hand. 36 Ebd., 118 f. 34

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Konsequenzen für menschliche Subjektivität37: »So begegnet unserem Geiste, wenn er nach dem Anfang jenes endlos forttönenden Liedes der Schöpfung forschet, allenthalben eine Vergangenheit, welche zu dem Menschen saget: ich kenne dich nicht; und schon diese Nachbarberge, an denen die Ströme der Völker und ihre Geschichte seit Jahrtausenden vorüberzogen, ohne an ihren Felsenhäuptern eine bleibende Spur zu lassen, scheinen mein Geschlecht zu fragen: wo warst du, als wir gegründet wurden; wo warst du, als unsre Morgensterne zuerst diese annoch jugendlichen Höhen beschienen? […] Der Geist des Menschen erschrickt dennoch nicht vor jenen dunklen Tiefen seiner Vergangenheit und Gegenwart.« Damit läßt sich zunächst einmal zusammenfassen: a) Leitmotiv der Debatten in der Geologie der ›heroischen Zeit‹ ist der Bedeutungsverlust des Menschen, sein ephemerer Aufenthalt auf dem Planeten, seine zeitliche Marginalisierung. b) Der Diskurs des Erhabenen hat seit der Antike eine große Nähe zu den Gegenständen der Geologie aufzuweisen. Speziell gewaltsame Naturprozesse werden unter diesem Titel thematisiert. c) Der Grundgedanke der Theorien des Erhabenen vor Kants Kritik der Urteilskraft (1790) ist die Kleinheit des Menschen, sein Bedroht- und Ausgesetzt-Sein. d) Die geologischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts legen dieselbe Tendenz nahe (selbst in denjenigen Fällen, in denen sie nicht gegen die biblische Schöpfungsgeschichte gerichtet sind): Der Mensch ist nur ein Epiphänomen des Erdgeschehens. e) Ansatzweise schon bei Thomas Burnet, dann aber vor allem bei Kant selbst, findet sich eine doppelte Bewegung unter dem Titel des Erhabenen verhandelt: ein Scheitern und dann ein Sich-Erheben über das Scheitern. f) Auf der Seite der Geologie-Diskurse finden sich ähnliche (doppelte) Argumentationsfiguren (etwa bei Carus und Schubert), die allerdings mehr auf den Trostgedanken abzielen (so auch bereits Lichtenberg).38 g) Das spezifisch Geologisch-Erhabene ergibt sich nun aber nicht primär aus gewaltsamen Naturprozessen oder der Unendlichkeit der Räume, sondern aus der Unermeßlichkeit der Zeiträume, die zur Debatte stehen: Die – mit Kant gesprochen – mathematische und die dynamische Variante des Erhabenen, also die Überforderung des Menschen in quantitativer Hinsicht, die Überforderung seiner Wahrnehmung einerseits und die physische Bedrohung seiner Existenz andererseits, erhielt mit dem – so Buffons schon zitiertes Wort – »dunklen Abgrund der Zeit« eine dritte Variante an die Seite gestellt: Die ungeheure Relativierung durch die unendlichen Zeiträume, die sich im heroischen Zeitalter der Geologie auftun. Es Gotthilf Heinrich Schubert: Das Weltgebäude, die Erde, und die Zeiten des Menschen auf der Erde, Erlangen 1852, 4. 38 Vgl. hierzu Braungart: Apokalypse in der Urzeit [Anm. 5], 108-110. 37

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geht also um die radikale Infragestellung des Menschen in seiner zeitlichen Anschauungsform. V. Schiller, das Erhabene und die Naturkunde Die zuletzt genannten Beispiele stammen bereits aus einer Zeit nach dem Tode Schillers, und es ist nicht zu leugnen, daß die ganz entscheidenden Debatten, jedenfalls in der Breite, nicht schon in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts stattfinden. Dennoch: Schillers Freund Goethe nimmt sie schon früh wahr und rezipiert vor allem die französische Diskussion in erheblichem Umfang. Eines der geheimnisvollsten Projekte Goethes in den 80er Jahren war sein Roman über das Weltall, der allerdings nie geschrieben wurde. Am 7. Dezember 1781 heißt es in einem Brief an Charlotte von Stein39: »Meinen neuen Roman über das Weltall hab ich unterwegs noch durchgedacht und gewünscht daß ich Dir ihn diktieren könnte es gäbe eine Unterhaltung und das Werk käme zu Papier.« Keineswegs nur unterhaltsam war der Gegenstand dieses Projekts, er rührte an die Fundamente des damaligen Weltbildes. Am 2. April 1780 hatte sich Goethe den – wie er schreibt – »neuen Buffon« vorgenommen, dessen 1778 erschienenes Werk Epoques de la nature, in dem Buffon seine Vorstellungen über das hohe Alter der Welt formuliert. Fünf Tage später schreibt Goethe an den Freund Merck, neben Charlotte von Stein der wichtigste Gesprächspartner in Stein-Sachen40: »Die Epochen de la nature von Buffon sind ganz vortrefflich. Ich akquiesziere dabei, und leide nicht, daß Jemand sagt, es sei eine Hypothese oder ein Roman. […] Es soll mir keiner etwas gegen ihn im Einzelnen sagen, als der ein größeres und zusammenhängenderes Ganze machen kann. Wenigstens scheint mir das Buch weniger Hypothese etc. als das erste Kapitel Mosis zu sein.« Diese Äußerung ist durchaus provokant. Geht es doch um den Konflikt zwischen Genesis und Geologie – und macht Goethe doch leichthändig die Bibel zur Fiktion. Denn natürlich ist der ›Roman‹ Buffons für ihn von durchaus größerer Evidenz als die Bibel. Goethes Passion für Steine, Mineralien und alles Geologische ist bekannt und gut erforscht jetzt vor allem durch das große Werk Wolf von Engelhardts.41 Sie ist in seiner Umgebung so allgegenwärtig, daß sie Schiller gar nicht entgehen konnte. Der Weimarer ›Klatschreporter‹ Karl August Böttiger berichtet im Rückblick über Weimarer Beschäftigungen um 178042: »Eine der lächerlichsten Genieperioden war die bergmännische in Weimar, als die Bergwerke in Ilmenau wieder gangbar gemacht werden sollten. Da war der Mensch gar nichts, der Stein alles. Goethe fand in 39 Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft, Leopoldina-Ausgabe [im folgenden: LA] II/7, hg. von Wolf von Engelhardt, Weimar 1989, 305. 40 Ebd., 286. 41 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde – Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, Weimar 2003. 42 LA II/7, 300.

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der Organisation des Granits die göttliche Dreieinigkeit, die nur durch ein Mysterium erklärt werden könne! Damals hatte Goethe an Knebel einen Schildknappen. Alles mineralogisierte; selbst die Damen fanden in den Steinen einen hohen Sinn, und legten sich Kabinette an, zum Beispiel die Göchhausen. Noch jetzt ekeln Herdern alle Steingespräche seit dieser Periode an.« Selbst diese etwas unseriöse Quelle offenbart einen tieferen Sinn, denn tatsächlich kann man sich Goethes Faszination durch die Gegenstände der Erdgeschichte nur so erklären: Hier findet er Elemente seiner Religion, die mit der biblischen nicht gerade viel zu tun hatte. Besonders eindrücklich wird das etwa bei jenen Erfahrungen, die er in seinen eigenen Berichten und dichterischen Verarbeitungen unmittelbar mit der Kategorie des Erhabenen in Verbindung brachte, also etwa die Harzreisen oder die Begegnung mit den Alpen in der Schweiz. Und die Konkurrenz zum christlichen Schöpfungsmythos spürt noch Jahrzehnte später der Berichterstatter Böttiger. Als Schiller 1787 nach Weimar kam, war Goethe zwar in Italien; aber von dessen Gesteinspassion mußte er in den folgenden Jahren zwangsläufig Kenntnis erhalten haben. Er konnte an der entstehenden Geologie und ihrer Brisanz eigentlich nicht vorbeischauen. Und doch, so die nun zu erläuternde Beobachtung, schien er das Thema zu ignorieren.43 Im Briefwechsel mit Goethe – aber auch in anderen Briefwechseln – finden sich Anknüpfungspunkte in Fülle. Schiller greift sie nicht auf. Caroline von Beulwitz schreibt an ihn am 10. Februar 178944: »In den nächsten Tagen werd’ ich den Moriz lesen, ich war eben wieder über den Buffon gerathen und er zog mich so an, daß ich mich nicht von ihm scheiden konnte.« Und das ist nicht die einzige Erwähnung in Carolines Briefen. – Schiller sagt dazu: nichts. Alexander von Humboldt schreibt ihm am 6. August 1794 auf die Anfrage wegen der Mitarbeit an den Horen45: »Nie habe ich von einem literarischen Unternehmen mehr erwartet als von dem Ihrigen, wo grosse Kräfte eine grosse Wirkung hoffen lassen. Es freut mich unendlich, daß Sie die Naturkunde aus Ihrem Plane nicht ausschliessen.« In diesem Brief malt Humboldt für Schiller mit lebhaften Farben das Projekt einer Naturgeschichte, die mehr biete als die Taxonomie durch »unsere elenden Registratoren der Natur«.46 Es geht ihm um Natur als einen dynamischen Entwicklungszusammenhang vom Stein bis zum Menschen und seiner Kultur. Eine direkte Reaktion Schillers auf diese Pläne habe ich nicht nachweisen können. Geht man diejenigen Schriften Schillers durch, welche in der Kant-Nachfolge das Erhabene erörtern, findet man natürlich die überkommene Thematik der Gebirge und Vulkane durchaus, aber sie scheint bei Schiller tatsächlich rein topisch zu 43 In Schillers Werken und Briefen (in der Nationalausgabe) erscheint beispielsweise der Name Buffon nicht. 44 NA XXXIII/1, 301. 45 NA XXXV, 36 f. 46 NA XXXV, 37

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sein. Ich zitiere eine Stelle aus der früheren Schrift Vom Erhabenen von 1793 etwas ausführlicher47: »Ein Abgrund, der sich zu unsern Füßen aufthut, ein Gewitter, ein brennender Vulkan, eine Felsenmasse, die über uns herabhängt, als wenn sie eben niederstürzen wollte, ein Sturm auf dem Meere, ein rauher Winter der Polargegend, ein Sommer der heißen Zone, reissende oder giftige Thiere, eine Ueberschwemmung u. d. gl. sind solche Mächte der Natur, gegen welche unser Widerstehendes Vermögen für nichts zu rechnen ist, und die mit unsrer physischen Existenz doch im Widerspruche stehen. Selbst gewisse idealische Gegenstände, wie z. B. die Zeit, als eine Macht betrachtet, die still aber unerbittlich wirkt, die Notwendigkeit, deren strengem Gesetze kein Naturwesen sich entziehen kann, selbst die moralische Idee der Pflicht, die sich nicht selten gegen unsre physische Existenz als eine feindliche Macht verhält, sind furchtbare Gegenstände, sobald die Einbildungskraft sie auf den Erhaltungstrieb bezieht; und sie werden erhaben, sobald die Vernunft sie auf ihre höchsten Gesetze anwendet.« Interessant an dieser Stelle ist nicht primär die Topik der Naturgefahren und der großen, menschenfeindlichen erdgeschichtlichen Prozesse, sondern besonders der Zusammenhang der Zeit, in den Schiller die Erfahrung der Nichtigkeit des Menschen stellt. – Hier befindet er sich übrigens nicht nur bereits im Horizont der Geologie mit ihrem ›dunklen Abgrund der Zeit‹, sondern auch in der guten Gesellschaft des vorkritischen Kant, der in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 lapidar sagt48: »Eine lange Dauer ist erhaben.« In den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände von 1793/ 94 führt Schiller Gedanken aus der Schrift Vom Erhabenen weiter. Er erwähnt neben einem Erhabenen »des allgegenwärtigen Raums« auch ein Erhabenes »der nimmerendenden Zeit«.49 Dagegen scheint Schiller gegen Ende derselben Schrift nur ein Erhabenes des Raums gelten lassen zu wollen.50 Und in der Schrift Über das Erhabene von 1801 schließlich finden sich Passagen, welche den Gegensatz von menschlicher und naturgeschichtlicher Perspektive explizieren51: »Eben der Umstand, daß die Natur im Großen angesehen, aller Regeln, die wir durch unsern Verstand ihr vorschreiben, spottet, daß sie auf ihrem eigenwilligen freyen Gang die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher Achtlosigkeit in den Staub tritt, daß sie das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit sich fortreißt, daß sie hier eine Ameisenwelt erhält, dort ihr herrlichstes Geschöpf den Menschen in ihre Riesenarme faßt und zerschmettert, […] macht die absolute Unmöglichkeit sichtbar, durch Naturgesetze die Natur selbst zu erklären.« Sehr charakteristisch für das völlige Fehlen einer Faszination für die Naturgeschichte und speziell für die Erdgeschichte bei Schiller, wie sie sonst bei so vielen 47 48 49 50 51

NA XX, 187 f. (»Das Kontemplativerhabene der Macht«). Kant: Werke II [Anm. 27], 210 (»Erster Abschnitt«). NA XXI, 203 (nur im Erstdruck). Vgl. NA XX, 238-240. NA XXI, 50.

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seiner Zeitgenossen zu finden ist, ist ein zwar nicht bedeutender, aber sehr charakteristischer Text von Schiller: eine kleine Rezension des esoterischen Romans DyaNa-Sore (1787) von Friedrich Wilhelm von Meyern, der von den Zeitgenossen viel gelesen, dann aber erst von Arno Schmidt wieder entdeckt wurde. In dieser Rezension – am 29. April 1788 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung veröffentlicht – schreibt Schiller folgendes52: »Vier Söhne verlassen ihren Vater und ihre Heimat, um eine Wanderung zum Heiligtum der Urzeit anzutreten, das Land der Wahrheit und Glückseligkeit zu suchen. Der Weg dahin ist eine beschwerliche und gefahrvolle Reise durch menschenleere Wüsten, Abgründe, über steile Gebirge und reißende Ströme; dieses gibt dem V. Gelegenheit, ein schreckliches Naturgemälde auf das andere zu häufen, deren Monotonie unendlich ermüdend ist, obgleich die Beschreibungen selbst Dichtergeist verraten.« Die Verständnislosigkeit Schillers gegenüber dem Steinreich wird an einer ganz anderen Stelle viele Jahre früher schon deutlich, in der ersten, abgelehnten Dissertation, der Philosophie der Physiologie von 1779. Im elften Paragraphen, »Empfindungen des geistigen Lebens«, heißt es dort53: »Ich sehe den Sonnen-Himmel, den SternenHimmel, ich sehe einen verwirrten Haufen Steine. Ich höre eine Quelle murmeln, ein Saitenspiel erschallen. Ich höre das Gekrächz eines Raben. In allen diesen Verwandlungen meines Zustands ist etwas allgemeines, die Vorstellung eines äußern Gegenstands. Aber wie sehr verschieden ist nicht auf der andern Seite mein Zustand bei jeder dieser Vorstellungen. Den Sonnenhimmel sehe ich gern. Den Sternenhimmel sehe ich noch gerner. Von dem Steinhauffen kehre ich mein Auge weg.« Begibt man sich ein wenig auf Spurensuche in Schillers Ausbildungsgang, findet man in den Akten der Hohen Karlsschule, deren Lehrprogramm Schiller in den Jahren zwischen 1773 und 1781 ja zur Gänze wahrnahm, einige wenige Hinweise auf ein auch im Bildungssystem erwachendes Interesse an der Naturkunde neuer Prägung, wobei das Neue daran gar nicht leicht ausfindig zu machen ist. In einer verdienstvollen Studie hat Kai Torsten Kanz den Naturkundeunterricht an der Hohen Karlsschule zwischen 1772 und 1794 rekonstruiert.54 Dabei wird zwar deutlich, daß ein Vergleich etwa mit Göttingen (wo Blumenbach und Lichtenberg lehrten) natürlich nicht angebracht ist. Kanz zeigt aber, wie vor allem in den späteren 70er und besonders den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts – wohl nicht zuletzt durch Nützlichkeitserwägungen des Herzogs gefördert – eine Fülle von Bemühungen zu beobachten ist, den Naturkundeunterricht an der Karlsschule breiter zu etablieren und zu institutionalisieren. Sehr bedeutend war er zu Schillers Zeiten dort noch nicht, erst nach seinem Weggang nimmt er deutlich zu. Dennoch, es gab ihn. NA XXII, 196. NA XX, 28 f. – Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Lutz-Henning Pietsch. 54 Vgl. Kai Torsten Kanz: Die Naturgeschichte (Botanik, Zoologie, Mineralogie) an der Hohen Karlsschule in Stuttgart (1772-1794), in: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg 148 (1993), 5-23. 52 53

Das Erhabene und die Geologie

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Ein bisher unbekanntes und ungedrucktes Dokument55 aus dem Jahre 1773 (dem Jahr, in dem Schiller in die Hohe Karlsschule – damals noch auf der Solitude – eintrat), wirft etwas Licht auf die Szene. Am 26. Dezember 1773 schrieb der 1772 als Professor der Osteologie und Naturgeschichte an der Karlsschule angestellte Gottlieb Konrad Christian Storr ein unter den Akten der Karlsschule verwahrtes Gutachten, in dem er seine Vorstellungen vom Naturkundeunterricht an diesem Institut entwickelt: Hofmedicus D. Storr legt Seiner Herzoglichen Durchlaucht einen unterthänigsten Entwurf über den ihm Gnädigst angetragenen Unterricht in der Naturgeschichte, bei Herzoglicher Militairischer Akademie unterthänigst zu Füssen. In diesem achtseitigen handschriftlichen Text wird der prekäre Status der Naturkunde etwa daran deutlich, daß es einerseits eine enge Zweckbindung an die Berufsausübung späterer Jäger/Förster und Gärtner in herzoglichen Diensten gab, daß aber andererseits diese Gegenstände für andere Berufe nicht so ernst zu nehmen seien: »Ein Unterricht von der Art hat mehr die Erlustigung als die Anstrengung zum Zweck.« In der Systematik wird von den herkömmlichen drei Reichen der Natur ausgegangen, wobei – eigentlich unerklärlicherweise, schaut man etwa nach Freiberg, nach Tirol und in andere Bergbaugebiete – es über das dritte der Reiche heißt, daß »das Steinreich aber ganz übergangen werde[n]« solle. In seiner Eingabe bittet Storr – der übrigens über den Eleven Schiller bei dessen Eintritt das Gesundheits- und Allgemeinzustands-Zeugnis ausgefertigt hatte – den Landesherrn darum, die herzogliche Bibliothek in Ludwigsburg zu diesem Zwecke benutzen zu dürfen. Ausdrücklich erwähnt werden dabei »vornehmlich« die Werke von »de Buffon, Schäfer und dergleichen«. Und immerhin wird im Zusammenhang dieses Entwurfs dann doch auch darauf hingewiesen, daß die Naturkunde auch für diejenigen, die »für die Staatswirthschaft bestimmt sind«, einige Bedeutung habe. Das ist der Begriff von Natur und Naturkunde, wie er dem Karlsschüler und später dann angehenden Mediziner Schiller zunächst einmal nahe gebracht wurde. Im Vergleich zu den anderen Fächern (alte Sprachen, Geschichte, Recht, auch Völkerrecht) nimmt die Naturkunde, der man ihren bevorstehenden Umbruch hier noch nicht ansieht, einen recht geringen Raum ein. Etwas informativer ist ein Blick in die von Schillers Lehrer Balthasar Haug ab 1774 herausgegebenen Gelehrten Ergözlichkeiten und Nachrichten bzw. dann – ab 1775 – in dessen Schwäbisches Magazin von gelehrten Sachen, das zu Schillers Lektüre gehörte. Dort wurden mehrfach Werke von Buffon angezeigt. 1778 (Schiller ist inzwischen mitten im Medizinstudium) findet sich ein umfangreicher Aufsatz Von Entstehung der Bausteine in dem Erdboden (»von G. zu H. in Schwaben«). Ausgehend von einer rein technischen Perspektive wird unversehens die Historizität des ›Steinreichs‹ deutlich56: »Anfangs waren alle Steine ein weicher Teig, davon nicht nur das Hautpstaatsarchiv Stuttgart, Akten der Hohen Karlsschule (A 272, Bü 81, Nr. 71-74). Von Entstehung der Bausteine in dem Erdboden von G. zu H. in Schwaben, in: Schwäbisches Magazin von gelehrten Sachen auf das Jahr 1778, 6. Stück, 413-425, hier 415 f. 55 56

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Meer, sondern auch die Erde einen unerschöpflichen Vorrath hat, welcher bei der Bildung unsers zu bewohnenden Planeten nach und nach erhärtet, und es läßt sich die Entstehung der ersten Steine auf keine vernünftige Art anderst erklären. Unter einer Menge von hohen Felsengebürgen, welche vor der Sündfluth schon vorhanden waren, sind die karpatischen Gebürge, der Roßtrapp und Rheinstein Beweise hievon. Sie würden sicher ganz, und nicht die Dammerde auf solchen allein von ihrer Lage geflöset worden seyn, wenn nicht das Wasser an dem Gestein derselben Widerstand gefunden hätte. Die Floßgebürge, welche von der Dammerde derselben entstanden, erkennen sie für ihre Mutter, und das ganze Kieselgeschlecht beweiset einen ältern Ursprung und grössere Veränderung in der Erde, als seit unserer Bewohnung auf solcher vorgegangen.« Noch etwas deutlicher sichtbar wird die entstehende Debatte über die Geschichte der Erde in Gottlieb Storrs 1777 erschienenem Entwurf einer Folge von Unterhaltungen zur Einleitung in die Naturgeschichte. Es ist bei den engen Beziehungen zwischen Storr und dem Karlsschul-Eleven Schiller sehr wahrscheinlich, daß dieser den Text kannte. Bei Storr findet sich auf fünf Seiten ein höchst aufschlußreiches Kapitel mit dem Titel »Abentheuer des Erdballs«. Und wie bei der zeitgenössischen Diskussion über Buffons Epochen der Natur kommt auch hier schon in der Titelgebung der Vorwurf des Spekulativen, Romanhaften latent ins Spiel. Der Stoff ist brisant, die vorsichtig-distanzierte Diktion verrät es57: »Die Geschichte des Erdballs nun bei dem Ursprung dieses grossen Geschöpfes anzufangen, wäre der wissenschaftlichen Ordnung gemäs. Es war ein Versuch, dessen Künheit, wenn sie schon zu weit ging, doch dem erhabenen Flug der glühenden Köpfe Ehre macht, die die Vermessenheit hatten, sich an das Rätsel zu wagen, wie der Urheber der Dinge zu Werk gegangen seie, als er diesen wunderreichen Ball in das Seyn rief. Die älteste Urkunde des menschlichen Geschlechts, deren heiliger Verfasser ihr ein gedoppeltes Ansehen gibt, fangt mit einer Schilderung der Geburt unsres Erdballs an; diese mag wol vielen zu einer Unternehmung Muth gemacht haben, die auserdem niemals von Geistern zu erwarten war, welche eine aufmerksame Besuchung der Werkstätte der täglich zerstörenden und bauenden Natur längst hätte belehren sollen, daß ihre Geheimnisse nie tiefer verborgen seien, als, wenn sie den Anfang eines Dings, die Grundlage seiner Schiksale bewirkt, wenn sie erzeugt. Wie sehr aber der uralte und morgenländische Schwung der Sprache und die übrige Vorzüge vor unsern Geschichtbüchern, das Mosaische Gemälde über die Fähigkeiten unsrer grösten Geister erheben, davon zeugen die fruchtlose Bemühungen unsrer Schöpfungs=beschreiber, und die wunderbare Verblendung, die die Urheber der entgegengeseztesten Meinungen überredet hat, als hätte ieder von ihnen ausschliessender Weise das Glük gehabt, in seinem physischen Lehrgebäude den Schlüssel der Schöpfung zu finden, und ohngefehr eben das gesagt, was der heilige Geschichtschreiber auf seine Weise habe sagen wollen.« Gottlieb Konrad Christian Storr: Entwurf einer Folge von Unterhaltungen zur Einleitung in die Naturgeschichte I, Frankfurt/Leipzig 1777, 32 f. 57

Das Erhabene und die Geologie

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Nach und nach werden die wichtigsten Theorien der Erdentstehung – jenseits des Buchs Genesis – gemustert: William Whiston, Thomas Burnet, Leibniz und zuletzt auch Buffon58: »Zugleich fand ieder die schönste Uebereinstimmung seines Welt=Romans mit dem Bau und der Beschaffenheit der Bestandtheile unsres Planeten; Er mochte ihn aus der allmäligen Ordnung, die der günstige Einflus der Sonne in den verwirrten Dunstkrais eines roh gebildeten Wandelsterns, zur Zeit seiner Annäherung, durch Einlenkung seiner Bahn, hervorgebracht habe, entstehen lassen; [William Whiston: A New Theory of the Earth (zuerst 1696; hier verwendet: London 1708)] oder er mochte, nach Voraussezung eines ordnungslosen Gemischs von ieder Art der Bestandtheile, durch Senkung der schwersten Theile, sich einen Bodensaz und zugleich den Kern des Erdballs bilden, zwischen welchem eine, aus den ölichten und den leichtesten Erdtheilgen aufgeschwommene und zusammengebakkene Rinde das Wasser so lange eingeschlossen habe, bis es zur Zeit der Sündflut hervorgebrochen seie; [Burnet] oder, wenn ein anderer ihn, als ein, durch Entzündung, zur Sonne, und widerum, durch Aufzehrung des Feuerzunders, und die, damit verbundene, Verlöschung, zum Irrstern gewordenes, Wechsel=gestirn ansahe; [Leibniz] oder, noch ein anderer, einen Cometen auf die Sonne fallen lies, der dieses Gestirn aus der Lage gebracht, und eine Ergiessung seines kochenden Brennstofs veranlast habe, woraus die allmälige Erkaltung die Erde, und alle Irrsterne unsres Wirbels gebildet habe, die, von ihrer Herausströmung her, die Umwälzung um die Sonne beibehalten […] [Buffon]« Und die Konsequenz aus dieser Revue spekulativer Erdentstehungstheorien, welche nicht zuletzt auch mit der Bibel in Konflikt stehen, lautet – Ignoramus59: »Feuer, Luft und Wasser wirken auf die vielfältigste Weise zusammen, und scheinen gemeinschaftlich gegen die Erde zu wüten. Diese immerwährende Umänderung wird zum Beweise wider die Möglichkeit, die ursprüngliche Beschaffenheit und selbst die Umstände bey der Erzeugung des Erdballs, aus seiner gegenwärtigen Beschaffenheit zu errathen. Und, wie dieses auserhalb des Bezirks unsres Wissens gelegen ist, so ist der Zusammenhang und die Zeitfolge iener umändernden Begebenheiten, ebenfalls unter der gar sehr grossen Menge von Gegenständen, wovon wir weder etwas richtiges wissen, noch wissen können, deren Untersuchung also, neben dem Verdrus über verlohrne Mühe, noch den Schaden verursacht, daß die Bearbeitung mehr fruchtbarer Felder dadurch aufgehalten wird. Wir betrachten demnach unsre Erde, so, wie sie ist, ohne zu entziffern, wie sie so geworden ist.« – Bliebe noch zu erwähnen, daß Storr 1781 auch eine Alpenreise unternahm, deren Beobachtungen er 1784 in einem Buch publizierte.60 – 58 59 60

Ebd., 33-35. Ebd., 36. Gottlieb Konrad Christian Storr: Alpenreise vom Jahre 1781, erster Teil, Leipzig 1784.

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VI. Schluß Schiller konnte also, das sollten diese wenigen Hinweise zeigen, in seiner Karlsschulzeit durchaus den Horizont eines Naturbegriffs erkennen, der mehr als eine bloße Beschreibung des statisch Gegebenen implizierte. Er konnte, sofern er es wollte, die Anfänge der Historisierung der Natur in Deutschland erleben, das ›Ende der Naturgeschichte‹ in der traditionellen, klassifikatorisch-statischen Form – um noch einmal an Lepenies zu erinnern. Doch mein Eindruck ist: Er tat es nicht. Seine Behandlung des Erhabenen läßt nichts von der aktuellen Debatte erkennen, wie sie um ihn herum im Gange war. Und auch sonst in seinem Werk sehe ich nirgends einen Ansatzpunkt, ein genuines Interesse für die neuere Naturforschung, wie sie seinen Freund Goethe umtrieb, zu erkennen. Bleibt es also bei der herkömmlichen typologischen Gegenüberstellung, der Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung ja selbst schon Vorschub leistete? Trifft das Klischee doch zu, daß Goethe eben nichts mit Geschichtsphilosophie und Schiller nichts mit Naturwissenschaft anfangen konnte? Der Mediziner Schiller? Damit komme ich zum Schluß, und zugleich zu einer letzten These, die ich als Frage formulieren möchte: Könnte man den genannten Befund in den Kontext eines latenten (oder auch virulenten) Konflikts zwischen Anthropologie (in Schillers Fall: des Mediziners) einerseits und Geologie bzw. Naturforschung mit transhumaner Perspektive andererseits einordnen? Könnte man Schillers (und Kants) zweistufige Theorie des Erhabenen, die nicht bei der Annihilierung des Menschen, beim Befund seiner Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit angesichts der Weite der Natur und angesichts der Bedrohung durch ihre Gewalten, stehen bleibt, möglicherweise als eine bewußte Behauptung der anthropozentrischen Perspektive interpretieren, die durch die einsetzenden Debatten um urzeitliche Katastrophen und unendliche Zeiträume, um die zeitliche Marginalität des Menschen, bereits bedroht war? Das 19. Jahrhundert wird sich, wie angedeutet, auf diesen Weg begeben, und Kant-Schillers Idee des Erhabenen in ihrer spezifischen – und aus der Tradition des Konzepts herausfallenden – Ausprägung wäre ein letzter Versuch, die Sonderstellung des Menschen angesichts drohender Kränkungen (erinnert sei noch einmal an die Erdbeben-Aufsätze des jungen Kant) zu retten. Die Tatsache, daß sich bei Schiller, anders als noch bei Kant (in der Kritik der Urteilskraft), das Erhabene gänzlich im Bereich menschlichen Handelns abspielt, fände so eine wissenschaftsgeschichtliche Erklärung.

Schiller Die Dämonie der Natur und die Kehrseite des aufgeklärten Denkens Von Helmut Koopmann

Im Frühjahr 1793 unternimmt Schiller einen Spaziergang durch »eine schöne Landschaft in der Abendröthe«.1 Vor sich hat er »das unendlich wechselnde Spiel des Lichts«; er sieht, wie die Gegenstände mit »leichte[m] Flor« umkleidet sind, und was er um sich erblickt, ist eine »Harmonie der Farben«. Zu den angenehmen Empfindungen kommt das »sanfte Geräusch eines Wasserfalls« hinzu, das freilich nicht so stark ist, daß es das »Schlagen der Nachtigallen« übertönen könnte. Eine heile Welt. Schiller wird diesen Spaziergang wiederholen – und wieder ist es der Abend, der ihn verlockt. »An dem Himmel herauf mit leisen Schritten / Kommt die duftende Nacht« – ist das nicht Eichendorff oder auch Kleist? Nein, es ist Schiller, zwei Jahre später.2 Noch ein paar Jahre danach, 1799, erwartet er wieder die Nacht, die holde, und wieder ist es ein Sonnenuntergang mit einem »purpurrothen Flor«, flüstern Stimmen leise, zieht ein Schwan seine Kreise durch den Teich, und erneut ist ein Wasserfall zu hören, wieder »mit angenehmem Rauschen«. Dann kommt der Mond strahlend herauf, öffnen sich »die Kelche« der Blumen.3 Wenn die Farben erblassen, kann sich der Blick allerdings täuschen, und erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß das schimmernde Weiß im Park nicht ein »seidnes Gewand« ist, sondern nur das »Flimmern« einer Säule an einer »dunkeln Taxuswand«. Die Konturen verschwimmen, auch das Ohr erliegt Täuschungen: Was sich wie Tritte im Laubengang anhört, ist nur der Fall einer überreifen Frucht. Schöne Natur, bukolische Szenerien: Sie begegnen bei Schiller immer wieder, und in ihnen begegnet uns der empfindsame Schiller. Erlebt davon ist nichts, sondern alles auf flüchtige Weise imaginiert. Und so gibt es diverse Ungereimtheiten. Daß sich im holden Dämmerlicht »kühn« die Kelche öffnen, ist wider die Natur: Blumen schließen sich bekanntlich beim Einbruch der Nacht. Wenn vorher vom »purpurrothen Flor des Abends« die Rede ist, kann der Mond nicht »strahlend« aufgehen, und wenn Dämmerlicht herrscht, kann der Schwan nicht seine Kreise Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. (im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische Ziffer gibt die Seitenzahl an). Hier: Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände, NA XX, 225. 2 Der Abend, nach einem Gemählde, NA I, 238. 3 Die Erwartung, NA II/1, 201 f. 1

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durch den »Silberteich« ziehen; denn das setzt voraus, daß der Mond schon hoch am Himmel steht – aber in diesem Gedicht geht die Sonne erst zwei Strophen später unter und der Mond dann erst auf. Es gibt sogar haarsträubende Widersprüche. Auf die Vermutung, daß da flüsternde Stimmen seien, ist die Rede von einem Schwan, der seine Kreise zieht – eine akustische Frage wird gleichsam optisch beantwortet. »Die Traube winkt« – »hinter Blättern«, die sie verdecken; die »Pfirsche« lauscht zum Genuß, die Luft trinkt Glut. Mit dem »holden Schweigen« im Park verträgt es sich nicht, daß die Früchte geräuschvoll vom Baum fallen; trotz dunkler Nacht sind die »Rosenwangen« der »Anmuthstrahlende[n]« zu erkennen, und wenn es auch bis auf einen aufgeschreckten Vogel still ist – das Ohr des Betrachters »umtönt ein Harmonieenfluß«. Der wird auch nicht durch des Windes Wehen gestört, das durch die Pappeln »schwirrt«. Eine Phantasiekonstruktion, dieses Erlebnis des sinkenden Tages und der einbrechenden Nacht, und bei dem Gedicht Der Abend, in dem mit leisen Schritten die duftende Nacht am Himmel heraufkommt, gibt sich der Verfasser auch gar keine Mühe, das Dargestellte zu kaschieren: Das Gedicht trägt den Untertitel nach einem Gemählde. Ob ein wirkliches Gemälde Anlaß zu dieser Abendschilderung gegeben hat, ist fraglich; bekannt ist keines, aber wahrscheinlicher ist ohnehin, daß Literarisches im Hintergrund steht: Ovids Metamorphosen, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, vielleicht auch Wielands Oberon. Was immer sich an lieblicher Natur bei Schiller präsentiert, ist unglaubwürdig, Gedankenkonstrukt, und besonders dort ist Mißtrauen angebracht, wo von Harmonie die Rede ist, von sanften Geräuschen und holdem Schweigen, von süßen Empfindungen und von Ruhe, von angenehmer Rührung und ergötzten Sinnen: Bezeichnend ist, daß diese empfindsamen Naturschilderungen immer von Musikalischem begleitet sind, denn in der Musik kommt Harmonisches für Schiller am unmittelbarsten zum Ausdruck. Wir merken nur zu bald: Diese Landschaftsbilder sind Rhetorikgemälde, in die antike Mythologie und einiges aus der Idyllentradition eingeschwärzt ist; Selbstwert haben diese Naturdarstellungen nicht. Manchmal dienen sie dazu, einzustimmen auf das, was mit dem Abend für Schiller verbunden ist: »die süße Liebe«4, wie es in dem Abendgedicht von 1795 heißt, oder auch »die Erwartung«5 wie im Gedicht von 1799. Auch dort ist alles nur Vorspiel, damit »die Stunde des Glückes«6 erscheint, und so wird denn die Landschaft zur verheißungsvollen Kulisse, und wenn jenes, das Glück, nicht näher beschrieben ist, so wird dieses, die Einstimmung, um so wortreicher ausgemalt. Bukolische Dutzendware. Aber es bleibt nicht immer dabei – in nicht wenigen Naturbeschreibungen hat es mit der Harmonie ein plötzliches Ende. In Schillers Idyllen kann etwas hereinbrechen, was sie im Nachhinein noch unglaubwürdiger werden läßt, als sie es ohne4 5 6

NA I, 238. NA II/1, 201. Ebd., 202.

Die Dämonie der Natur

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hin schon sind. In die schöne Landschaft mit der Abendröte etwa kommt aus buchstäblich heiterem Himmel ein Ungewitter7: »Auf einmal erhebt sich ein Sturm, der den Himmel und die ganze Landschaft verfinstert, der alle andere Töne überstimmt oder schweigen macht, und uns alle jene Vergnügungen plötzlich raubt. Pechschwarze Wolken umziehen den Horizont, betäubende Donnerschläge fallen nieder, Blitz folgt auf Blitz, und unser Gesicht wie unser Gehör wird auf das widrigste gerührt. Der Blitz leuchtet nur, um uns das Schreckliche der Nacht desto sichtbarer zu machen; wir sehen, wie er einschlägt, ja wir fangen an zu fürchten, daß er auch uns treffen möchte.« Nichts ist unglaubwürdiger als dieser plötzliche Sturm, und wir ahnen: Hier wird ein Theaterereignis inszeniert. Die Regie aber führt kein anderer als der Philosoph Friedrich Schiller. Und er will uns demonstrieren, daß die »plötzliche Lufterschütterung durch den Donner, so wie die plötzliche Lufterleuchtung durch den Blitz«, die eigentlich allem widerspricht, was wir als schön empfinden, daß, mit anderen Worten, »die plötzliche Abwechselung von Dunkelheit und Licht, von dem Knallen des Donners zur Stille«, ästhetisch gesehen ein Graus sind – »und dennoch nichts weniger sind als eine anziehende Erscheinung«.8 Denn was wir da erleben, ist zwar alles andere als »schön«9 – aber es ist etwas »Erhabenes«10. Das Unwetter mag schrecklich sein, aber es ist hier instrumentalisiert und dient keinem anderen Zweck als der Demonstration dessen, was das fürchterliche Naturgeschehen im Menschen bewirken kann. Schillers Beispiel vom plötzlich heraufziehenden Sturm ist kein genuin lyrisches Thema; dieses hier findet sich bekanntlich in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände, Vorlesungsstoff, den er für seine Vorlesungen über Ästhetik brauchte, wie er sie im Winter 1792/93 hielt. Es sind Fingerübungen zu philosophischen Etüden, und die Partitur schrieb Kant – Schiller, der akademische Lehrer, ist hier auf die Schulbank gerückt. Jeder, der die Schrift einmal gelesen hat, erinnert sich an das abschreckend-langweilige Beispiel, das er seinerseits seinen akademischen Zuhörern zugemutet hat, wenn er umständlich das Beispiel eines Turmes zitiert11: »Der Thurm, den ich vor mir sehe, ist eine Größe. Er ist zweihundert Ellen hoch. Er ist hoch. Er ist ein hoher (erhabener) Gegenstand.« Schiller selbst hat die Anlehnung an die Kritik der Urteilskraft als offenbar so stark empfunden, daß er bei der späteren Aufnahme des Aufsatzes in die Kleineren prosaischen Schriften eine längere Passage gestrichen hat – sie ist, was das Erhabene angeht, allenfalls von erhabener Langeweile. 7 8 9 10 11

NA XX, 225. Ebd. Ebd. Ebd., 229. Ebd., 230.

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Was es eigentlich mit dem Erhabenen auf sich hat – und zu dessen Demonstration dient so manches Naturbeispiel –, hat er anderswo überzeugender gesagt, etwa in der Schrift Vom Erhabenen mit dem Untertitel Zur weitern Ausführung einiger kantischen Ideen, die er für seine Neue Thalia zu brauchen gedachte. Und hier wird auch deutlich, wozu die Schrecknisse der Natur gut sind: Nur wo die Natur furchtbar ist, kann sie die Wirkung des Erhabenen auslösen.12 Dahinter steht die Vorstellung, daß unsere »Vernunftbestimmung« uns eine »praktische Unabhängigkeit von der Natur« gewissermaßen garantiert.13 Allerdings: Ein Schiff, das durch »seine künstliche Einrichtung im Stand ist, allem Ungestüm des wilden Elements zu trotzen«,14 erweckt noch kein Gefühl des Erhabenen. Mit Schillers Worten15: »Die physische Ueberlegenheit des Menschen über die Naturkräfte ist also so wenig ein Grund des Erhabenen, daß sie fast überall, wo sie angetroffen wird, die Erhabenheit des Gegenstands schwächt oder ganz vernichtet.« Erhaben ist die Natur nur da, wo sie furchtbar ist – und dazu auffordert, sich davon nicht überwältigen zu lassen. Das Erhabene hat mit unserer inneren Freiheit zu tun, mit unserem »intelligible[n] Selbst«, also mit dem in uns, »was nicht Natur ist«,16 und so ist denn das Erhabene nicht Eigenschaft einer Sache oder eines Naturvorganges, sondern die durch das Furchtbare etwa der Natur erst möglich gewordene Entscheidung des Menschen, sich dem nicht zu beugen. In Schillers definitorischem Satz17: »Groß ist, wer das Furchtbare überwindet. Erhaben ist, wer es, auch selbst unterliegend, nicht fürchtet.« Natur ist also nichts anderes als ein Medium, ein Eigenleben hat sie bei Schiller nicht. Schillers Absicht ist eindeutig: Es geht ihm um die Demonstration der menschlichen Autonomie, derer er sich vergewissern muß, um nicht vom Schicksal, von der Natur, von Gewalt, vom schlechten Leben, von den Verhältnissen unterjocht zu werden. Dem dient in seiner Argumentation auch die Vorstellung von einem Gewitter, das dem Menschen seine physische Ohnmacht vor Augen führt – und zugleich ein Anlaß ist, ihm seine innere Freiheit bewußt zu machen. Bilder einer schönen Natur werden denn auch vor allem dann gebraucht, wenn sie von Bildern einer schrecklichen Natur abgelöst werden. Das Idyllische: nur zu rasch hinweggewischt, Bukolik ist trügerisch, die Wirklichkeit der Natur grausam. Aber auch hier gilt, was für Schillers freundliche Spaziergang-Bilder bezeichnend ist: Erlebt davon ist nichts – alle diese Bilder von Naturkatastrophen sind Gedankenspiele. Sie sollen immer wieder das Gleiche demonstrieren: daß gerade Katastrophen den Menschen frei machen können.

12 13 14 15 16 17

Vgl. ebd., 178. Ebd., 176. Ebd. Ebd., 178. Ebd., 184. Ebd., 185.

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Menschliche Ohnmacht hatte auch schon der junge Schiller empfunden – aber es war damals eine fromme Ohnmacht angesichts der Herrlichkeit der Schöpfung, wie er sie in seinem frühen Gedicht Die Gröse der Welt beschrieben hatte.18 Das Chaos war gewesen, früher einmal, vor dem schaffenden Geist; die Natur war, auch wo sie überwältigend war, nichts anderes als ein Sinnbild für die unendliche Größe Gottes. Extreme Bilder auch dort schon, etwa in der Hymne an den Unendlichen: »Wolken thürmen […] sich zu Stürmen«, der »Orkan« spricht »Zebaoths Namen« aus.19 Aber in dieser frühen Lyrik erscheint die Natur überall nur als Spiegel Gottes, ist von einer universellen Sympathie die Rede; da schreiben eigentlich Brockes, Haller und Klopstock mit. Eigenwert haben schon diese frühen Naturschilderungen nicht, so wenig wie Natur irgendwo sonst erlebt worden ist. Aber immer ist sie gewaltig. Landschaften werden geschildert, die fast nicht mehr vorstellbar sind: Die Wolken sind ungeheure Gebirge, »neblichte Riesen«,20 die Wasser sind unabsehbar, die Erde selbst »ein Grabeshügel«;21 da ragt ein »Zackenfels« zwischen Himmel und Erde, »orgelt« der »Gewittersturm«, schreibt der »Griffel des Blitzes«,22 brennt »Sonnenaufgangsglut«, wird der Sonne Pracht im Meer der »Todennacht« gelöscht, bläst der Wind »[r]egenbogenfarbigtes Geschäume« fort,23 wird die »blühende Natur« zum »welken Leichnam«.24 Hier gibt es keine liebliche Natur, sondern nur eine kolossalische, und nicht weniger kolossalisch ist diese Rhetorik der Natur – eine Chiffrensprache, die der Verständigung über Ungewöhnliches, Großes, Erhabenes dient. Natur ist, wie T. S. Eliot derartiges benannt hatte, ein »objective correlative«.25 Von den Gottesgemälden wird Schiller sich freilich schon bald verabschieden, aber eines wird bleiben: die Bilder einer extremen Natur. Der »Donner Rollen« hallt durch das Gebirge, ein »langes Klippenheer« steht in »grausenvollen Felsenwüsten«,26 über einer Schlacht hängt eine »Wetterwolke«,27 und wenn sich ein lieblicher Hang zeigt, »rast« plötzlich der »Sturm« und zerknickt die »Rosenblum«,28 das Meer ist nicht ruhig, sondern empört,29 und auch menschliche Prospekte sind düster30: »Deiner Wangen wallendes Rund / Werden rauhe Winterstürme pflügen /

18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. NA I, 102. Ebd., 101. An die Sonne, NA I, 51. Ebd., 52. Hymne an den Unendlichen, ebd., 101. Melancholie an Laura, ebd., 114. Resignation – Eine Phantasie, ebd., 167. T. S. Eliot: Hamlet and His Problems, in: Ders.: Selected Essays, London 1932, 141-146, hier 145. Die Herrlichkeit der Schöpfung – Eine Phantasie, NA I, 55, 56, Vs. 1, 34. In einer Bataille von einem Offizier, ebd., 70. Ein Vater an seinen Sohn, ebd., 95. Vgl. Gruppe aus dem Tartarus, ebd., 109. Ebd., 114.

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Düstrer Jahre Nebelschein / Wird der Jugend Silberquelle trüben«, heißt es in der Melancholie an Laura. Vielleicht war es gar nicht einmal ein so weiter Weg von den quasi barocken Bildern der lyrischen Frühzeit in die Bilder einer katastrophalen Natur, wie sie sich in der klassischen Lyrik immer wieder finden, wenn es um die Menschheit und ihre traurige Blöße geht31: »Ueber diesen grauenvollen Schlund / Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen / Und kein Anker findet Grund.« Natur aber wird nun anders gewertet, und von der Sprache Gottes durch die Natur ist nicht mehr die Rede. Natur ist zunehmend nicht länger mehr Demonstrationsmittel, sondern bekommt ein angsterregendes Eigenleben. In Das Ideal und das Leben spricht »der Natur furchtbare Stimme«.32 Immer wieder Gebirgsbilder bei Schiller33: »Brausend stürzt der Gießbach herab durch die Rinne des Felsen, / Unter den Wurzeln des Baums bricht er entrüstet sich Bahn. / Wild ist es hier und schauerlich öd’.« Fromme Natur? Nicht mehr in diesen Schillerschen Bildern. Natur ist allem entgegengesetzt, was idealisch ist, und was es mit der Natur wirklich auf sich hat, zeigt etwa die Ballade vom Taucher. Die Natur ist dort auf besonders grausame Weise zerstörerisch, kalt, feindlich, mörderisch, die »strudelnden Trichter« öffnen den Weg in einen »Höllenraum«.34 Schiller bemüht das ganze Arsenal seiner furchtschaffenden Bilder, um zu zeigen, was es mit diesem wilden Meer auf sich hat: Feuer vermengt sich mit Wasser, so ist wiederholt zu lesen. Hier sind »Nacht und Grauen«,35 ein wildflutender »reissender Quell«, ein »Höllenrachen«, ist »traurige Oede«,36 und am Schluß vernichtet sie den Jüngling. Eine lebensbedrohliche Natur auch in der Ballade von der Bürgschaft: Des »Stromes Wuth« bedroht den Freund, und wenn der auch dem Wasser schließlich entkommen ist, so droht der Sonne »glühende[r] Brand«37 ihn zu versengen. Das Lied von der Glocke berichtet, wie es wird, wenn die »freie Tochter der Natur«38 losgelassen worden ist: eine Weltuntergangsvision, Feuer und Blitze, der Himmel »[r]oth wie Blut«, »Sturm« und eine »Feuersäule«,39 und in den »öden Fensterhöhlen« wohnt am Ende »das Grauen«.40 Auch wenn einmal vom »ewgen Sonnenschein« auf »jenen Höhen« die Rede ist, braust des »Stromes Toben« dazwischen,41 und ein Ende hat es mit dem Bild einer 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Das Ideal und das Leben, NA II, 399. Ebd., 400. Der Spaziergang, ebd., 313. Ebd., 373. Ebd., 374. Ebd. Ebd., 422 f. NA II/1, 231. Ebd., 232. Ebd., 233. Sehnsucht, ebd., 197.

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harmonischen Idylle. In der Ballade von Hero und Leander ist die Natur zunächst dem Geschlecht des Menschen konfrontiert: Dieses ist »falsch«, treulos, lügend – doch, so heißt es zum Meer, »du bist mild und gütig«.42 Aber dann kehrt sich das um: Das Ende ist gräßlich, das Gewässer bietet Schrecken, des »Stromes Toben«43 wächst, alle Greuel der Natur sind losgelassen, und am Schluß stehen Tod und Zerstörung: Die Stille des Pontus »war nur des Verraths Hülle, / Einem Spiegel warst du gleich, / Tückisch ruhten deine Wogen, / Bis du ihn heraus betrogen / In Dein falsches Lügenreich. / Jezt in Deines Stromes Mitte / Da die Rückkehr sich verschloß, / Lässest Du auf den Verrathnen / Alle Deine Schrecken los.«44 Anderswo sind Blitze und Funken die zerstörerischen Gaben der Natur, über Ilion hängen »des Donners Wolken […] / Schwer herab«.45 Tod und Verderben überall, wo von der Natur die Rede ist. Nimmt man zusammen, was sich in Schillers Werken spätestens seit den neunziger Jahren durch Natur präsentiert, so ist nur zu deutlich: Natur ist so gut wie immer, sieht man von den imaginierten Garten- und Spaziergangs-Idyllen ab, gewalttätig und zerstörerisch. Natur sprengt alle Maße, ist unberechenbar, gesetzlos, anarchisch, todbringend, und sie begegnet immer wieder als extreme Natur. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Unwetter, Meeresstürme: Eine feindliche Natur stellt den Menschen auf die Probe. So kann es nur darum gehen, sich von dieser Natur zu befreien, und die Menschheitsgeschichte ist denn auch als Befreiungsgeschichte immer zugleich eine Geschichte der Befreiung von der Natur. Hier wird die Kehrseite eines aufgeklärten Denkens sichtbar. Denn die hier als vernichtend und gewalttätig erscheinende Natur war nicht mehr die gesetzmäßig organisierte Natur, wie sie in Schillers Dissertation und auch noch in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung begegnet war. Dort war noch zu lesen gewesen46: »Die Geschichte der Welt ist sich selbst gleich wie die Gesetze der Natur, und einfach wie die Seele des Menschen. Dieselben Bedingungen bringen dieselben Erscheinungen zurück.« Das war 1788 geschrieben. Natur bedeutete bis dahin Regelhaftigkeit, und die war allgegenwärtig. Schon in seiner dritten Dissertation folgte die »Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts« den Regeln von »Naturgeschichte und Physik«.47 Hinter allem standen »Naturgesetze«,48 und die Naturgesetzlichkeit ragte ungebrochen in die Universalgeschichte hinein: Sie zeichnete »Nothwendigkeit« aus, war als »System« zu begrei-

47

Ebd., 262. Ebd., 264. Ebd. Kassandra, ebd., 258. NA XVII, 21. Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, NA XX,

48

Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, NA XVII,

42 43 44 45 46

55. 373.

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fen, als »vernunftmäßig zusammenhängendes Ganzes«:49 Eben so war die Welt organisiert, und an der Allmacht der Naturgesetze konnte kein Zweifel bestehen. Da war anfangs bei Schiller also noch ungebrochenes Aufklärungsdenken, und eines kam der Natur mit Sicherheit nicht zu: Eigengesetzlichkeit oder gar Gesetzlosigkeit. Aggregat und System, Ursache und Wirkung, Mittel und Absicht waren die Kategorien, die für ihn (wie für Kant und Schloezer) den »Gang der Welt«50 bestimmten; Schiller sprach nicht zufällig immer wieder von der »Weltordnung«.51 Natur gab es freilich auch als »Naturtrieb« – aber der war zu überwinden, und die Geschichte der Menschheit, so stellte sich das Schiller noch in seiner Vorlesung Etwas über die erste Menschengesellschaft dar, war die Geschichte einer Emanzipation, wurde doch der Mensch »aus einem Sklaven des Naturtriebes ein freihandelndes Geschöpf, aus einem Automat ein sittliches Wesen, und mit diesem Schritt trat er zuerst auf die Leiter, die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtausenden zur Selbstherrschaft führen wird«.52 Zwar war da auch eine gefährliche Natur, war die Wildnis; bereits die erste Menschengesellschaft hatte »den Grimm wilder Thiere und eine stürmische Natur«53 zu bekämpfen. Doch damit war fertig zu werden. Und so wurde denn die Geschichte aller feindlichen Natur zum Trotze zur Fortschrittsgeschichte, und was Schiller allein interessierte, war der Weg von der Natur zur Kultur; daß die Natur bedrohlich war, war bei der Darstellung der Kultur zu vernachlässigen und paßte im übrigen nicht in das aufgeklärte Denken hinein: In der Geschichte der Menschheit war selbst eine bedrohlich erscheinende Natur überschaubar, und, weil überschaubar, auch beherrschbar. Die Natur brachte es manchmal zu Kuriositäten, aber die waren eher Anlaß zur Heiterkeit; so machte Schiller sich schon in seiner ersten Dissertation über Lavaters Physiognomische Fragmente lustig: Lavater, der die »launichten Spiele der Natur, die Bildungen, mit denen sie stiefmütterlich bestraft, und mütterlich beschenkt hat«, beschrieben habe – er möge sich hüten, daß er »über der ungeheuern und kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm vorkommenden Originale nicht selbst eines werde«.54 Eine freche Bemerkung mit einem ernsten Kern: Individualität, auch solche in der Natur, war irrelevant, interessant war der Mensch, sind nicht die Menschen, und so sehr die Menschheitsgeschichte, wie Schiller sie hier entwarf, naturwissenschaftliche Grundlagen hat, so wenig ging es um den Widerstreit von Natur und Menschengeschlecht – der war mit dem Aufkommen der ersten Menschengesellschaft, war mit den Staatengründungen für den Universalhistoriker Schiller erledigt. Und mehr als das: Es gab zwar »Naturzweckmäßigkeit«,55 aber wichtiger war die moralische Zweckmäßigkeit; und wenn auch »diese rohen Natur49 50 51 52 53 54 55

Ebd. Ebd., 374. Vgl. z. B. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, NA XVIII, 347. Etwas über die erste Menschengesellschaft, NA XVII, 400. Ebd. Philosophie der Physiologie, NA XX, 17. Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, ebd., 140.

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gefühle« im Menschen tätig waren – höher rangierte die »Würde der menschlichen Natur«.56 Aber dann erscheinen plötzlich die Bilder einer wilden, chaotischen, unbezähmbaren, zerstörerischen Natur – vor allem in der Schrift Über das Erhabene. Die physische Schöpfung: eine »wilde Bizarrerie«. Die Natur: »dieses gesetzlose Chaos von Erscheinungen«.57 Schillers Schrift über das Erhabene ist ein einziger Widerruf der Aufklärungstheorien, die er selbst so nachdrücklich vertreten hatte. »Wer freylich die große Haushaltung der Natur«, so schreibt Schiller, »mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet, und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint.«58 Und dann folgt der Widerruf der eigenen Feststellung, daß durch Naturgesetze die Natur zu erklären sei, folgt die Einsicht in die »furchtbare und zerstörende Natur«59: »Eben der Umstand, daß die Natur im Großen angesehen, aller Regeln, die wir durch unsern Verstand ihr vorschreiben, spottet, daß sie auf ihrem eigenwilligen freyen Gang die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher Achtlosigkeit in den Staub tritt, daß sie das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit sich fortreißt, daß sie hier eine Ameisenwelt erhält, dort ihr herrlichstes Geschöpf den Menschen in ihre Riesenarme faßt und zerschmettert, daß sie ihre mühsamsten Erwerbungen oft in einer leichtsinnigen Stunde verschwendet, und an einem Werk der Thorheit oft jahrhundertelang baut – mit einem Wort – dieser Abfall der Natur im Großen von den Erkenntnisregeln, denen sie in ihren einzelnen Erscheinungen sich unterwirft, macht die absolute Unmöglichkeit sichtbar, durch Naturgesetze die Natur selbst zu erklären.« Die »zerstörende Natur«! Hier ist nichts mehr zu spüren von Schillers Aufklärungsoptimismus, ist aller Enthusiasmus begraben, hier gibt es keine vernünftigen Zwecke mehr, keine chain of being oder universalgeschichtliche Leiter, hier wird Natur bestenfalls zum Schicksal, und zwar zum blinden. Da ist ein alles überschwemmender Pessimismus, der Glaube an jegliche Gesetzlichkeit in der Natur über Bord gespült. Die so betrachtete Naturmisere läßt nur eine einzige Hoffnung offen: daß diese »physische Welt« zu überwinden sei, und zwar dadurch, daß der Mensch ertragen lerne, »was er nicht ändern kann, um das mit Würde preiszugeben, was er nicht retten kann«.60 Woher erklärt sich diese Verdüsterung in seinen Anschauungen von Welt, Natur, Geschichte? Woher begründet sich das Ende des Aufklärungsdenkens bei Schiller? Oder genauer gefragt: Wo und warum erscheint die Natur nicht mehr nur als Demonstrationsmittel, sondern plötzlich in ihrer tatsächlichen Wildheit und Unbe56 57 58 59 60

Ebd., 149. NA XXI, 48. Ebd. Ebd., 50. Ebd., 51.

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zähmbarkeit? Die Frage beantwortet Schillers Elegie. Wenn dort »im Sturm die Anker« des Menschen reißen, ihn der »flutende Strom« »mächtig« faßt und ins »Unendliche« reißt, die »Küste verschwindet«, der Kahn »entmastet« auf der Fluten hohem Gebirge treibt und »hinter Wolken erlöschen des Wagens beharrliche Sterne / Bleibend ist nichts mehr«61 – dann wird hier deutlich, was auch in der Geschichte sichtbar geworden war: In der terreur nach der Französischen Revolution waren Naturkräfte entfesselt worden, die alles Maß übertrafen. Schillers satirischer Blick auf das französische Ereignis: »Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriß er / Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der Schaam! / Freyheit heischt die Vernunft, Freyheit ruft die wilde Begierde, / Von der heil’gen Natur ringen sie lüstern sich los.«62 Heilige Natur? Daß die Natur heilig sei, war ein Glaubensbekenntnis, das eher Goethe als Schiller formuliert hatte – die Wirklichkeit sah anders aus, denn die Natur erschien »auf einmal als Wildniß«, wie es in Schillers Brief an Humboldt vom 29. und 30. November 1795 heißt.63 Die Konsequenz, die der Mensch zu ziehen hat, ist dringlicher denn je: Es gilt, »der Macht der Natur zu widerstehen«,64 ihr also zuvorzukommen – und »Natur« erscheint hier für irdisches Schicksal überhaupt, ist ihr sichtbarster Ausdruck. So bleibt dem Menschen, »zu ertragen, was er nicht ändern kann«,65 und Schiller hat das in die Formel gebracht, daß der Mensch lernen müsse, sich mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen. Nur wer so reagiert, kann das unvermeidliche Schicksal »seiner Bösartigkeit«66 berauben. Aber wenn es auch gelingen mag, sich derart innere Freiheit zu geben: Die Natur bleibt zerstörerisch. Die neue Sicht auf die Natur, die Natur als Chaos, Unglück, Verhängnis, Katastrophe – sie geht parallel zur Abwendung von der menschlichen Geschichte als Fortschrittsgeschichte. Zum ersten Mal, etwas zaghaft noch, hatte Schiller seine Fortschrittsideen in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung über Bord geworfen. Dort hieß es67: »Die Weltgeschichte rollt der Zufall«, und: »des Fatums unsichtbare Hand führte den abgedrückten Pfeil in einem höhern Bogen und nach einer ganz anderen Richtung fort, als ihm von der Sehne gegeben war«. Und in der Schrift Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde konnte man zwei Jahre später von der »überhandnehmenden Unordnung der ersten Gesellschaft«68 lesen und davon, daß »Gewalt und Glück und eine schlagfertige Miliz«69 den Gang der frühen Geschichte be61 62 63 64 65 66 67 68 69

NA II/1, 312. Ebd. NA XXVIII, 116. Über das Erhabene, NA XXI, 51. Ebd. Ebd. NA XVII, 21. Ebd., 410. Ebd., 413.

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stimmt hatten. Schillers Geschichts-Resümee70: »So widersprechend erscheint sie der Vernunft und allen Erfahrungen.« Das sind Hinweise darauf, daß die Geschichte sich bei Schiller wie die Natur allmählich einer aufgeklärten Betrachtung entzieht, daß es dunkle Zonen gibt, in denen der Zufall regiert, wie dort, in der Natur, die Willkür. Gegen Ende der neunziger Jahre scheint der Geschichtspessimismus wie die endgültige Absage an die »heilige Natur« manifest geworden zu sein. In der Geschichte des dreißigjährigen Kriegs begegnet ein Wallenstein, der in seinem Charakter, in seinem zweideutigen Wesen das Undurchschaubare und das Rätselhafte der Geschichte und die Macht einer wilden, zerstörerischen Natur gleichsam in seiner Person verkörpert. Beides war widerspruchsvoll, wie Wallenstein selbst es war. Wallenstein ist, so sagt es schon die Geschichte des dreißigjährigen Kriegs, »ein gleich undurchdringliches Geheimnis für Freund und Feind«.71 Aber nicht weniger undurchdringlich sind die Geheimnisse der Natur, und nur eines ist sicher: Eine freundliche Natur gibt es nicht mehr. In der Geschichte wie in der Natur herrscht Gleiches, nämlich Zerstörerisches, und in beidem offenbart sich eine Welt, aus der sich die Aufklärung verabschiedet hat. Mochte das Unwetter in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände noch ein Gedankenexperiment gewesen sein, ein Spiel mit Vorstellungen, so zieht hier das Unwetter über Wallenstein herauf, nicht nur vergleichsweise, sondern wirklich: Ihn bedroht die »Schwärze des Gewitterhimmels«,72 er ist dem »tückschen Mars«, dem alten »Schadenstifter« ausgeliefert, der »Malefico« alles andere als »unschädlich, machtlos, in cadente domo«;73 »ein greulich Zeichen« im »Haus des Lebens« wird sichtbar, ein »Unhold« umlauert Wallensteins strahlenden Stern, und so stehen denn am Ende »die Zeichen […] grausenhaft«.74 Und da er von dieser Natur überrascht wird, ist er gegen Leiden und Untergang auch nicht gewappnet und kann sich nicht, wie Schiller es formulierte, mit Freiheit in die Notwendigkeit fügen. Ist hier auch Schillers Glaube an die Autonomie des Menschen an ein Ende gekommen? Nur einmal noch in Schillers späten Dramen versucht jemand, sich mit Freiheit in die Notwendigkeit zu fügen: Maria Stuart. Aber ihre Blutschuld bleibt, und aus eigener Macht gelingt diese Entscheidung auch nicht: Die Religion muß nachhelfen. Die Schreckensgeschichte wird dadurch nicht aufgehalten. So chaotisch und zerstörerisch die Natur beim späten Schiller ist, so undurchdringlich, zerstörerisch, undeutbar ist die Geschichte. Natura non loquitur – die Natur spricht nicht mehr, jedenfalls nicht mehr verständlich. Aber auch: Historia non loquitur, die Geschichte spricht ebenfalls nicht mehr. Sie ist dunkel, sie kennt keine Ordnung, und wo sie wiederhergestellt zu sein scheint, ist sie fragwürdig geworden. 70 71 72 73 74

Ebd., 11. NA XVIII, 302. Wallensteins Tod, NA VIII, 332. Ebd., 177-178. Ebd., 340.

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Das Aufkommen von Bildern einer zerstörerischen Natur, die Rede vom »gesetzlose[n] Chaos von Erscheinungen«75 und von den wilden Bizarrerien der physischen Schöpfung geht auffällig genug einher mit Vorstellungen einer zerstörerischen Geschichte. Eben das bringt der Aufsatz Über das Erhabene auch zum Ausdruck. »Die Welt, als historischer Gegenstand«, so schreibt Schiller, »ist im Grunde nichts anders als der Konflikt der Naturkräfte unter einander selbst und mit der Freiheit des Menschen.«76 Daraus spricht noch nicht Resignation. Aber dann folgt die ernüchterte Feststellung77: »Nähert man sich nur der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntniß – wie sehr findet man sich da getäuscht!« Der »furchtbare[n] und zerstörende[n] Natur«78 in Schillers Aufsatz entsprechen Verrat, Heuchelei, Abtrünnigkeit, Aufruhr in der Geschichte. Mehr noch: Einer zerstörerischen Natur entspricht die Vorstellung von einer zerstörten Menschheit, und wenn in seiner Elegie hinter den Wolken die Sterne, die Orientierung geben können, erlöschen, dann entspricht dem die Klage, daß aus dem Gespräch »die Wahrheit, Glauben und Treue / Aus dem Leben« verschwunden sind,79 und zwar, so will es das Gedicht, auf Jahrhunderte. Gegenbilder: Die »geliebten Triften«, die »traulich stillen Täler« in Johannas Welt,80 bevor sie die Naturidylle verläßt. Eine bukolische Welt, aber sie ist, nicht nur sinnbildlich, verlassen. Eine Naturutopie auch noch in der Rede Karls an Agnes Sorel81: »Wir gehen in ein glücklicheres Land. / Da lacht ein milder nie bewölkter Himmel / Und leichtre Lüfte wehn, und sanftre Sitten / Empfangen uns, da wohnen die Gesänge / Und schöner blüht das Leben und die Liebe« – aber sie ist irreal wie jede Utopie. Eine Idylle die Szenerie zu Beginn des Wilhelm Tell – wie »[i]m Paradieß«.82 Aber fast gleichzeitig schon der Bericht des Alpenjägers von den Feldern von Eis, vom »neblichte[n] Meer« unter den Füßen, und dann ein aufziehendes Unwetter83: »Der graue Thalvogt kommt, dumpf brüllt der Firn, / Der Mytenstein zieht seine Haube an / Und kalt her bläßt es aus dem Wetterloch / Der Sturm, ich meyn’, wird da seyn, eh’ wir’s denken.« Eine Idylle, die gleich wieder zerstört wird. Vom Goldenen Zeitalter ist nicht mehr die Rede, und wenn am Ende der Elegie auch die fromme Natur beschworen wird, schließlich gar die Sonne Homers lächelt, dann ist das Stoff einer Idylle, von der wir nur zu gut wissen, daß sie sich nie ereignen wird; weil von ihr in einer Elegie die Rede ist, wird deutlich, daß sie ein verlorenes Ideal ist. Eine freundliche Natur, die Gemälde der Idyllen sind Lüge. Schiller 75 76 77 78 79 80 81 82 83

NA XXI, 48. Ebd., 49. Ebd. Ebd., 50. NA II/1, 312. Die Jungfrau von Orleans, NA IX, 180. Ebd., 200. NA X, 131. Ebd., 132.

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rechnet erbarmungslos damit ab84: »Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der Nothwendigkeit einen Schleyer wirft, und um sich bey den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlseyn und dem Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen.« Wenn Schiller sich auch um die wirkliche Natur kaum kümmerte, so kümmerten sich andere um ihn, wenn es um Gefahren der Natur ging. Einer von ihnen war der Tübinger Verleger Johann Friedrich Cotta. Der konnte am Himmelfahrtsabend des Jahres 1798 »keinen Augenblick schlafen«, und das hatte seinen quasi natürlichen Grund: Bei ihm ging gerade ein Gewitter nieder, und Cotta fürchtete, daß ein Blitz seinen Lieblingsautor zuschanden machen könnte, der, wie Cotta wohl wußte, gerne sich in dem hochgelegenen Gartenhäuschen bei Jena aufhielt. Und so bestellte er am folgenden Tag einen Blitzableiter für Schillers Häuschen und schrieb an Schiller, er möge ihm »die Kosten zu tragen erlauben«85. Schiller war sichtlich gerührt – und blieb von Blitzen verschont.

84 85

Über das Erhabene, NA XXI, 51 f. NA XXXVII 1, 297 (Brief Cottas an Schiller vom 20. Mai 1798).

Das Theater als Ort der Präsentation ›ganzer‹ Natur (Die Kraniche des Ibycus, Die Jungfrau von Orleans) Von Bernhard Greiner

Im Umfeld von Schillers Theaterarbeit hat der Begriff ›Natur‹ einen negativen Gehalt, mimetisch steht er für ungebrochenes Eindringen ›realer Handlung‹,1 des ›Weltstoffes‹2 in die Kunst, dem rezeptionsästhetisch vollständige Illusionierung entspräche. Beides wäre ›Naturalisieren‹, das Schiller, wie bekannt, entschieden zurückweist, z. B. im Vorwort zur Braut von Messina, in dem er als seine Absicht verkündet, »dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären«.3 Das Theater soll für Schiller durchaus ›Natur‹ zeigen, die leidende Natur, d. h. das vielfältig bedingte und hierdurch Leiden machende menschliche Handeln, aber diese Natur soll als zu bewältigende gezeigt werden – »Darstellung der leidenden Natur [und] Darstellung der moralischen Selbständigkeit im Leiden«4 – , wobei eingeräumt werden muß, daß jedes Kunstwerk, mithin auch ein Theaterstück, durch seine ästhetische Ordnung eine Bewältigung der gezeigten Natur schon immer geleistet hat. Eine Öffnung für Natur in der literarischen und theatralischen Ordnung des Dramas, sie mag quantitativ noch so gesteigert sein, insofern dem Helden oder Leser »die ganze volle Ladung des Leidens«5 gegeben wird, erfüllt mithin Kants Bedingung des Erhabenen nicht, d. i. mit einem nicht zu Bewältigenden zu konfrontieren, um dadurch im Menschen das Vermögen zu Ideen wachzurufen, in dessen Innesein der Mensch sich dann über den vollständigen Zusammenbruch seiner Auffassungsvermögen zu ›erheben‹ vermöchte.6 Kant hatte daraus den Schluß gezogen, daß es ein Erhabenes der Kunst nicht bzw. nur unter der Bedingung der »Übereinstimmung mit der Natur«7 geben könne. Schiller versucht, diesen fundamentalen Einwand gegen sein Konzept des ›Pathetischerhabenen‹ zu überspielen, indem er den Hinweis Kants stark macht, zur erhabenen Wende sei nur fähig, wer von dem Unfaßlichen, mit dem er konfrontiert werde, nicht unmittelbar bedroht 1 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Vgl. NA X, 10. 2 Vgl. ebd., 9. 3 Ebd., 11. 4 Vom Erhabenen, NA XX, 195. 5 Ebd., 197. 6 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1974 (im folgenden: KdU), §§ 23-29 (erster Teil, zweites Buch: »Analytik des Erhabenen«). 7 Ebd., 76 (Angabe der Seitenzahl nach der Ausgabe der zweiten Auflage, in der o. a. Ausgabe als Marginalie).

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sei.8 Das wird zu einem Argument für die Möglichkeit eines Erhabenen der Kunst gewendet, da diese kein wirkliches, sondern ein ›künstliches Unglück‹ gebe.9 Das Problem bleibt jedoch bestehen, daß das durch das Kunstwerk Vorgestellte kein schlechthin Überwältigendes sein kann, da es durch die künstlerische Organisation des Werkes schon immer bewältigt ist. Zwei mögliche Reaktionen auf dieses Dilemma sind denkbar, die dann auch beide in Schillers literarischen Arbeiten nach seinen philosophischen Schriften vorzufinden sind. Die eine besteht darin, das Tragödienkonzept des Pathetischerhabenen zu einem ganz anderen Konzept hinüberzuspielen, d. i. zu einer Tragödie des Nicht-Erreichens des ästhetischen Zustands.10 Die andere Reaktion besteht in Experimenten, die herausbringen sollen, wie ein Kunstwerk, das als Kunstwerk schon immer eine Bewältigungsordnung vorgibt, den Rezipienten gleichwohl mit einer nicht zu bewältigenden Natur konfrontieren kann, damit dieser in Antwort hierauf eine erhabene Wirkung bei sich selbst hervorbringt und nicht eine am Helden vorgeführte nur nachahmt. Dieser zweite Weg steht hier zur Debatte, mithin die Frage, wie es möglich sei, die Kunst so für Natur zu öffnen, daß die Bewältigung unterlaufen wird, die im künstlerischen Akt immer schon geleistet ist. In der Zeit der Arbeit am Wallenstein unternimmt Schiller ein bemerkenswertes Experiment zu dieser Frage. Es ist nicht auf dem Feld des Dramas resp. des Theaters angelegt, vielmehr auf dem der Ballade, allerdings einer Ballade, die von Theater handelt und auf eine Strategie hin perspektiviert ist, die dramaturgisch nutzbar gemacht werden kann: Die Kraniche des Ibycus, geschrieben im Sommer 1797 (die endgültige Fassung schickte Schiller am 22. September 1797 an Goethe). Kristallisationspunkt des Experiments ist der Chor, damit die Größe, von der Schiller sich später besonders viel für die Sicherung des antinaturalistischen Charakters der Kunst erhoffen wird. Nicht erst in der Zeit der Arbeit an der Braut von Messina, sondern schon 1797, wenige Monate nach Abschluß der Ibycus-Ballade, bekundet Schiller seine hohen Erwartungen an den Chor, wie dies sein bekannter Brief an Goethe vom 29. Dezember 1797 festhält11: »Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, daß aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edleren Gestalt sich loswickeln sollte.« In der Ibycus-Ballade steht nicht der Entwurf einer neuen Art Tragödie zur Debatte, wohl aber der einer besonderen Art von Theater, zugleich – ein Thema

Vgl. ebd., 104. Vgl. Über das Erhabene, NA XXI, 51. 10 Vgl. hierzu Verf.: Tragödie als Negativ des ›ästhetischen Zustands‹ – Schillers Tragödienentwurf jenseits des ›Pathetischerhabenen‹ in ›Maria Stuart‹, in: Geschichtserfahrung im Spiegel der Literatur – Festschrift für Jürgen Schröder zum 65. Geburtstag, hg. von Cornelia Blasberg und Franz-Josef Deiters, Tübingen 2000, 89-107. 11 NA XXIX, 197. 8 9

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Schillers seit seiner Dissertation12 – die Verbindung des Physischen und des Moralischen. Naturwesen, die Kraniche, werden zu Anklägern ungesühnten Unrechts im Rahmen einer theatralischen Veranstaltung. Um dies plausibel zu machen, mußte Schiller zum einen die Kraniche als Naturzeichen umcodieren – seit der Antike stehen sie für Glück, langes Leben oder Unsterblichkeit, auch für Wachsamkeit13 – zum andern mußte er einen spezifischen Umgang mit Theater entwerfen. Der Leser wird in die Zeit der griechischen Antike versetzt, vorgestellt wird eine Aufführung von Aischylos’ Orestie; als Wirkung der Tragödie auf das Publikum wird aber nicht Katharsis gezeigt – das wäre, als Reinigung von Affekten, Reinigung von naturhaftem Gebunden-Sein –, sondern der Selbstverrat der bei der Aufführung anwesenden Ibycus-Mörder als eine ›Fehlleistung‹,14 d. h. als ein unwillkürlicher Akt, was nichts anderes besagt als Verstrickung in naturhaft gebundenes Handeln. Die Bildung der Kraniche zum Zeichen erfolgt willkürlich. Zwei Geschehnisreihen – Raubmord am Sänger und Flug der Kraniche als Zugvögel –, die je für sich autonom sind, keine sachliche Gemeinsamkeit haben, werden durch den Zufall, daß sie gleichzeitig stattfinden, aufeinander bezogen15: Von euch ihr Kraniche dort oben! Wenn keine andre Stimme spricht, Sei meines Mordes Klag erhoben! Der Naturvorgang wird zum moralischen Gedächtnisraum. Seine Wiederholung entläßt den in ihn eingelagerten moralischen Gehalt, aber nicht im Aufstieg zu moralischem Handeln, sondern – mit dem ungewollten Selbstverrat der Mörder – als Rückbiegung in den Raum des Unwillkürlichen, in diesem Sinne der Natur. Diese ›Wandlung des künstlichen Zeichens in ein natürliches‹16 ist aber weder den Zeichenträgern (den Kranichen) geschuldet noch den Objekten der Zeichenbildung (den beiden Mördern), vielmehr der ablaufenden Theatervorstellung. Das Spiel ist beim dritten Teil der Orestie, den Eumeniden, an der Szene angelangt, da der Chor, der hier von den Erinnyen gebildet wird, erstmals auftritt und die furchtbar anzuschauenden Wesen ihr unerbittliches Rächeramt beschreiben. Schiller hat, wie bekannt, in dieser Textpassage sehr drastische Bildvorstellungen aus Wilhelm von 12 Hier die dritte, an der Karlsschule dann 1780 auch angenommene Dissertation über das Thema Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. 13 Wegen ihrer spektakulären Balztänze haben sie auch eine sinnliche Komponente; nach einer Sage sollen die Kraniche während einer Flugpause eine Wache aufstellen, die einen Stein in der Kralle hält, um nicht einzuschlafen. So wurde der Kranich bei den Kirchenvätern und in der Emblematik zum Sinnbild der vigilantia, der Wachsamkeit. Vgl. Lexikon der Symbole, hg. von Manfred Lurker, Stuttgart 1988, 389 f. 14 Im Sinne von Freuds Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901). 15 NA I, 386 (Vs. 45-47). 16 Vgl. dazu Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe XI/1, hg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt a. M. 1987, 609 f. (Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769).

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Humboldts Übersetzung dieses Liedes aus der Orestie übernommen.17 Der Sprechende in der Ballade, der Inhaber also der von der Ballade geschaffenen Erzählinstanz, berichtet, daß die gesamte Zuschauermenge vom Auftritt des Chors völlig in Bann geschlagen worden sei, gipfelnd in einer neuen Präsenzerfahrung (»Als ob die Gottheit nahe wär’«).18 Das aber ist nichts weniger als eine Umkehrung dessen, was die Entwicklungsgeschichte der Tragödie ausmacht. Sie entstand daraus, daß die kultische Zitation des Gottes in die Gegenwart distanziert wurde durch Überführung in Spiel: ein Akt der Säkularisation, in dem der Mensch sich aus dem Bann übermächtiger Gewalten – absolut über ihn verfügender Götter wie einer ihn überwältigenden Natur – löste. Der Sprechende der Ballade berichtet diesen Effekt einer Umkehrung des Weges der Tragödie aber nicht nur von den Zuschauern der erzählten Geschichte, auch seine eigene Rede scheint hiervon betroffen. Denn sie folgt dem gleichen Prinzip, dem sich in der berichteten Theaterszene die Wirkung des Chorauftritts verdankt, d. i. die Aufmerksamkeit auf nur einen Teil der Szene zu beschränken und so den Zusammenhang der vorgestellten Tragödienaufführung zu unterbrechen. Für den Erzähler der Ballade, der auf das Geschehen aus der Distanz zurückblickt, ist solcher Mitvollzug des Banns, in den der Chor versetzt, nicht zwingend, sondern gewollte Erzählperspektive, d. h. willkürlich. Auf dem Theater ist in der erzählten Szene eine andere Konstellation gegeben, als der Erzählende referiert. Er sieht und beschreibt nur den Chor der gräßlich anzusehenden Frauen und deren Drohung, daß kein Schuldiger je ihrem Rachewillen entkommen werde. In der dargestellten Szene gibt es hierzu jedoch ein starkes Gegengewicht. Wir sehen den von den Erinnyen verfolgten Orest am Altar der Athene, wo er vor dem Zugriff der Furien sicher ist; zuvor ist er schon als des Beistandes von Apollon teilhaftig gezeigt worden, und nach der Szene wird Athene auftreten und als Beschützerin und Anwältin Orests agieren. Daß Orest diesen mächtigen Beistand hat, weiß der Zuschauer schon, wenn der Chor mit seinem Gesang einzieht. Nimmt man die Szene als ganze, d. h. alle Figuren und auch das vorausliegende Geschehen in den Blick, so wird deutlich, daß die Macht der Erinnyen, wenn sie ihre furchterregende Selbstcharakteristik vortragen, nicht grenzenlos ist, daß es durchaus Möglichkeiten gibt, ihnen zu entkommen. Weiter läßt der Titel des dritten Teils der Trilogie, Die Eumeniden, durch das fürchterliche Antlitz der Rachegöttinnen hindurch schon deren anderes Gesicht als ›Wohlmeinende‹ erkennen. Die bisher genannte Distanzierung des Schreckens, die in der berichteten Szene bei Aischylos gesetzt ist, wird durch die Anwesenheit verschiedener Figurengruppen auf der Bühne geleistet. Zu dieser Distanzierung tritt eine zweite durch die literarische Ordnung der Tragödie. Das Lied zum Einzug des Chors ist eingebettet 17 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Die Eumeniden – Ein Chor aus dem Griechischen des Aeschylos, in: Berlinische Monatsschrift 22 (1793), 149-156; die einschlägigen Passagen dieser Vorlage werden in der Schiller-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags zitiert: vgl. Friedrich Schiller: Werke und Briefe I, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt a. M. 1992, 908. 18 NA I, 389 (Vs. 140).

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in eine vorausliegende Handlung, deren Träger Gegenpart des Chores sind, weiter werden auf das Chorlied – entsprechend der Formvorgabe für die Tragödie, die der Zuschauer kennt – Dialoge zwischen Chorführer(in) und Protagonist oder Antagonist folgen, die gleichfalls – schon rein formal – eine Gegenposition zum Chor markieren. Wenn im Auftritt des Chors absolute, jegliche Distanznahme durch Strukturierung verweigernde Gewalt der Rache aufscheint, so ist es eben die Leistung der Tragödie, im Berufen solch absoluter Macht diese durch die vorgestellte Spiel-Handlung und durch deren literarische Ordnung umzuwandeln in eine handhabbare Größe. Eben dieser Prozeß aber, die Zitation des Absoluten in die Gegenwart umzuwandeln in tragisches Spiel, wird hier aufgehalten und umgekehrt: durch die Unterbrechung des Kontinuums der Szene (nur ein Teil der Bühne wird gesehen), des Kontinuums der Handlung (der Einzug des Chors wird seines Gegengewichts in der bisherigen Apollon-Orest-Handlung beraubt) und durch die Unterbrechung der literarischen Ordnung (die Balance, die das Einzugslied des Chors in anderen Formpartien hat, ist aufgehoben). Die Unterbrechung gibt die Gewalt frei, die die Tragödie als ein Akt der Säkularisation distanziert; gebunden wird diese Gewalt dann konsequenterweise an die Figuren, auf die bezogen die Unterbrechung statthat, eben die Erinnyen. Als Verfahren, im literarischen Werk übermächtige Gewalt, sei es Gottes oder der Natur, zu vergegenwärtigen, jenseits der Distanzierung, die eine literarische Ordnung schon immer geleistet hat, entwirft Schiller in seiner Ballade das Strategem, kulturell vorfindbare Konzepte der Transformation und Distanzierung solcher Gewalt, hier die dramatisch-theatralische Einrichtung der Tragödie, aufzugreifen und deren regelhaften Verlauf zu unterbrechen. Das schafft einen Zugang zu der Gewalt, die im jeweiligen Prozeß der Transformation gebändigt wird, also diesem inhärent ist. Etwa zur selben Zeit, da Friedrich Schlegel an Aristophanes’ Komödien das Prinzip der Parekbase feiert, d. i. der Grenzübertretung, was er dann zu einem romantischen Prinzip erheben wird, entdeckt Schiller die Unterbrechung als dramaturgisches Prinzip und setzt es in einem Zusammenhang ein, der ein Wissen um die Gewalt voraussetzt, die die Tragödie als ein Akt der Säkularisation bindet. Denn für die Theaterszene seiner Ballade wählt er eben die Tragödie, den dritten Teil der Orestie, die die Transformation absoluter Gewalt der Rache, verkörpert in den Erinnyen, in Schutzgottheiten des Menschen, die Eumeniden, zum Thema hat und so die Entwicklungsgeschichte der Tragödie selbst abbildet, indem sie sie vollzieht. Den Akt der Unterbrechung stellt die Ballade aber nicht nur in der erzählten Welt dar, der Sprechende der Ballade praktiziert dieses Prinzip vielmehr auch im Hier und Jetzt seines Sprechens, d. h. auf der Ebene des literarischen Diskurses. Das verleiht der hier gezeigten Freisetzung von Gewalt, als einer Freisetzung auch von ihrer Distanzierung durch die literarische Ordnung, ihre besondere Evidenz.19 UnHeinz Politzer hatte ein Gespür für diese präsentisch gemachte Gewalt, rückte den vorgestellten theatralischen Akt daher in die Nähe von Artauds Theorem eines »Theaters der Grau19

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terbrechung praktiziert der Sprechende der Ballade zum einen, indem er sich vom kulturell tradierten Bildfeld der Kraniche abkehrt. Statt auf Glück, langes Leben und Liebe sind die Kraniche hier auf Verbrechen und Strafe bezogen. Das ist durch die antike Quelle, die Schiller durch Böttiger vermittelt worden war, vorgegeben. Aber diese Vorgabe schließt nicht aus, daß das ungewöhnliche Bildfeld weitere intertextuelle Bezugnahmen beim Leser abrufen konnte oder gar sollte. Für die zeitgenössischen Leser Schillers und Goethes ist hier allererst an Dante zu denken, an die Geschichte des berühmten Liebespaares Francesca da Rimini und Paolo Malatesta, die Dante in der Divina Comedia im fünften Gesang des Inferno berichtet. Dante befindet sich dort im zweiten Kreis der Hölle, in dem für sündige Liebe gebüßt wird. Im Wirbelsturm der Hölle schweben die Verdammten durch die Luft20: Und wie die Kranich’ ihre Klage singen, Die Luft durchschneidend in gestreckter Reih’ So kamen jetzt auf jenes Sturmes Schwingen Schatten daher mit kläglichem Geschrei. Dante läßt sich von Francesca die Geschichte ihrer und Paolos Liebe berichten, wovon viele wichtige Aspekte im Kontext der Ibycus-Ballade ohne Bedeutung sind (etwa, daß das Paar ehebrecherische Schuld büßt und doch in seiner Liebe ewig vereint bleibt, daß seine Liebe so verdammt und zugleich anerkannt wird). Bedeutsam ist hier, wie die beiden der verbotenen Liebe verfallen sind; es geschah, wie bekannt, durch die Lektüre des Lanzelot-Buches21: Oft hatten schon die Augen sich gefunden Bei diesem Lesen, oft erblaßten wir, Doch e i n e Stelle hat uns überwunden: Da wo das heißersehnte Lächeln ihr Zuerst geküßt wird von dem hohen Streiter, Da küßte bebend meine Lippe mir Dieser, hinfort mein ewiger Begleiter. Was Francesca und Paolo im Buch lesen, daß Galahat für die bis dahin verborgen gebliebene Liebe zwischen Lanzelot und Ginevra den Vermittler spielt, das geschieht ihnen in ihrer Wirklichkeit. So kann Francesca sagen22: »Galeotto war das Buch und der es schrieb«. Das Buch selbst hat in ihrer Liebe den Vermittler gespielt, hat die Liebe über sie hereinbrechen lassen. Dante fällt nach dieser Erzählung ›wie tot‹ zu Boden, ein körperlicher Nachvollzug dessen, was er gerade erfahren samkeit«, vgl. Heinz Politzer: Szene und Tribunal – Schillers Theater der Grausamkeit, in: Ders.: Das Schweigen der Sirenen – Studien zur deutschen und österreichischen Literatur, Stuttgart 1968, 234-253. 20 Dante Alighieri: Göttliche Komödie, übers. von Otto Gildemeister, Stuttgart/Berlin 1914, 58. 21 Ebd., 60 f. 22 Ebd., 61.

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hat: die Gewalt, die Bücher ausüben können. Freigesetzt wurde diese Gewalt auch hier durch Unterbrechung, die der berühmte Vers anzeigt23: »An jenem Tage lasen wir nicht weiter.« Eine analoge Gewalt entfaltete in Schillers Ballade ein anderes ›Buch‹, die Orestie, die nicht gelesen, sondern auf dem Theater aufgeführt wird. Ein weiterer Akt der Unterbrechung des Erzählzusammenhangs der Ballade ist darin zu erkennen, daß die erwartbare Abfolge des Geschehens gestört wird. Der sterbende Ibycus hatte die Anklage in seinem Mordfall an die Kraniche übertragen, so ist zu erwarten, daß zuerst die Kraniche erscheinen und dann die Anklage erfolgt. Der Erzähler berichtet jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Nach dem Einzugslied des Chors, das alle Zuschauer in Bann geschlagen hat, redet zuerst der Mörder und erscheinen hierauf die Kraniche24: Da hört man auf den höchsten Stufen Auf einmal eine Stimme rufen: »Sieh da! Sieh da, Timotheus, Die Kraniche des Ibycus!« Und finster plötzlich wird der Himmel, Und über dem Theater hin, Sieht man, in schwärzlichtem Gewimmel Ein Kranichheer vorüberziehn. Das ist der Wirklichkeit schaffenden Macht von Büchern, des Lanzelot-Romans wie der Orestie, analog: Zuerst sind die Worte da, als deren Effekt erscheint das Naturphänomen, die Kraniche, die auf eine Liebe verweisen, die sich über alle Schranken hinwegsetzt, oder auf eine Rache, die sich als jede ihr gesetzte Schranke überwindend darstellt. Oder aber der Redende hat eine Metapher gebildet, d. h. er ist gebannt von den Erinnyen und sieht in diesen die Kraniche, denen die Verfolgung im Mordfall aufgetragen ist. Die Gewalt, die durch die Unterbrechung der Theaterszene freigesetzt worden ist, wäre dann in diese Metaphernbildung eingegangen. Damit handelte die Ballade auch von der Implementierung undistanzierter Naturgewalt in die Formen der Poesie, womit sie sich zugleich – ›romantisch‹ avant la lettre – als Transzendentalpoesie der Ballade selbst erwiese. Wird Schillers Ballade so der Entwurf einer ›Poetik der Unterbrechung‹ abgelesen, ist der Blick ohne Zweifel durch spätere Theoriebildungen geprägt, etwa durch Freuds Theorie der Verdrängung oder durch Benjamins Aufforderung an den Historiker in den geschichtsphilosophischen Thesen, dem Kontinuum der Geschichte als einer Kette der Sieger einen Schock zu erteilen.25 Ziel dieser Konzeptionen ist, einen Zugang zu dem zu finden, was in der Konstruktion solcher Kontinua unterdrückt ist, hier das Unbewußte bzw. das im Geschichtsprozeß Unterlegene. Schillers 23 24 25

Ebd. NA I, 389 (Vs. 153-160). Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften I/2,

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›Poetik der Unterbrechung‹, so zeigt die Ibycus-Ballade, zielt demgegenüber primär nicht auf die Objekte dieser Unterdrückung, vielmehr auf die an ihr beteiligten Kräfte. Sie will die Gewalt, gegen die die strukturierenden Mächte aufgeboten werden, freisetzen, um sie dann, als undistanzierte Natur, literarisch nutzbar zu machen. Ist die hier herausgearbeitete Poetik der Unterbrechung als Zugang zu einer Natur vor deren Distanzierung durch menschliche Verfügung an den Text herangetragen oder zeitgenössischem Denken naheliegend? Schon verwiesen wurde darauf, daß Friedrich Schlegel etwa gleichzeitig an der griechischen Komödie das Prinzip der Unterbrechung herausstellt, um es wenig später dann dem zentralen romantischen Prinzip, der Ironie, zuzuschlagen. Novalis gelangt zu einer eigenen Poetik der Unterbrechung über seine naturwissenschaftlichen Studien, was hier, wo es um Zugang zu ›ganzer‹ Natur geht, noch mehr interessieren mag.26 »Lebendige Reflexion«,27 als Medium, das Absolute (den Einheitsgrund des Empirischen und des Ideellen, von Körper und Geist) sinnlich darzustellen, konzipiert Novalis in Analogie zu spontanen, d. h. selbstorganisierten Stoffverbindungen in der Chemie. Als Lehre der Verwandtschaften und als Stoffbereitungskunst fungiert die Chemie, gerade für die spekulative Naturbetrachtung, als beliebtes Feld der Analogiebildung. Innerhalb dieses Feldes ist es besonders die Mineralogie, die Novalis’ Aufmerksamkeit anzieht. Gestaltbildungsprozesse im Gehirn, vorgestellt als selbstorganisierte Bildung auf der Grundlage einer frei tätigen Einbildungskraft, denkt er analog zu spontanen Strukturbildungen bei der Kristallisation. Zur Analogiebildung lädt insbesondere die synthetisierende Leistung der Kristallisation ein; denn diese bringt zusammen und schafft Übergänge zwischen dem Festen und dem Flüssigen, der Figuration und der Auflösung, der toten Materie und dem lebendigen Organischen. Analog wird der ›lebendigen Reflexion‹ zuerkannt, zusammenzubringen und Übergänge zu schaffen zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Fremden und dem Vertrauten. Entsprechend notiert sich Novalis28: »Sollte alle Kryst[allisation] ächt synth[ethische], Harmonische Verbindung von Solidum und liquidum seyn und daher d[ie] Krystalle ein ächt Substantielles geniales Wesen?« hg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, 691-704, bes. 696 f., 701 f. (7. und 15. These). 26 Diese Zusammenhänge werden in der demnächst erscheinenden Habilitationsschrift von Barbara Thums ausführlicher dargelegt: Barbara Thums: Aufmerksamkeit und Diätetik – Ästhetisierungen von Wahrnehmung und Selbstbegründung im 18. und 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift, Tübingen 2005. 27 Novalis’ Schriften werden zitiert nach der Ausgabe: Novalis: Schriften – Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1960-1988 (im folgenden: HKA; die römische Ziffer gibt die Bandzahl, die arabische die Seitenzahl an). Hier: HKA II, 525. 28 HKA III, 163.

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Für die »die »[h]öchste Darstellung des Unbegreiflichen […] – Vereinigung des Unvereinbaren – Setzen des Widerspruchs, als Nichtwiderspruchs«,29 soll daher »[m]it den Krystallen […] der Anfang gemacht werden«.30 In diesem Kontext wird Novalis das Moment der Störung beim Gestaltaufbau der Kristalle durch äußere, eventuell gewollt herbeigeführte Einflüsse, besonders wichtig. Die Störung des Bildungsprozesses führt zu Abweichungen von der regelmäßigen Gestalt, die besonderen Einblick in das Gesetz der Gestaltbildung zu geben vermögen. Emphatisch wird daher die Brechung zur Bedingung der Figuration erhoben. In der Übertragung auf die Bewußtseinsphilosophie wird der Einbildungskraft dieser Part zuerkannt, den steten Fluß von Anschauung und Vorstellung zu unterbrechen, wodurch die Realität entsteht31: »Die Einbild[ungs]Kr[aft] äußert sich, als Einfalls oder Hemmkraft. A[nschauung] und V[orstellung] sind, für sich genommen, stätig. Ihre Unterbrechung giebt ihnen erst Realität – insofern nemlich Realität aus der identischen Mischung von A[nschauung] und Vorstell[ung] besteht. Kraft d[er] Freyheit – freye Kraft. Sie müssen aber unterbrochen seyn, sonst sind sie nicht.« So hat im zeitlichen Umfeld der Entstehung von Schillers Ballade das Prinzip der Unterbrechung – poetologisch wie naturwissenschaftlich und gerade auch in der Kombination von beidem – durchaus Konjunktur. Der Akt der Unterbrechung ist im Re-Flexionsbegriff der Fichteschen Wissenschaftslehre zentral, in deren Horizont sich Novalis notieren kann32: »[ J]ede Reflexion […] ist Eine Handlung des Brechens«. Novalis universalisiert dieses Prinzip, indem er Gesetze der Mineralogie mit Vorgängen im Bewußtsein analog setzt. Sein Favorisieren des Prinzips der Unterbrechung ist dabei darstellungsästhetisch motiviert, d. h. auf das Ziel einer Repräsentation des Absoluten gerichtet. In Schillers Ballade zeigte sich das Prinzip der Unterbrechung demgegenüber wirkungsästhetisch perspektiviert, gerichtet auf ein Freisetzen der Natur vor ihrer Strukturierung durch das menschliche Bewußtsein, um so einen Zugang zu gewinnen zu der Gewalt, die im Akt der Strukturierung gebändigt wird, und um diese Gewalt dann zu gebrauchen, z. B. als Nötigung, ihr die erhabene Selbstbegründung des Menschen entgegenzusetzen. Die Poetik der Unterbrechung, die Schiller in seiner Ballade entwirft, ist auf eine erzählte Theaterszene bezogen. Zu fragen bleibt, ob die hier entwickelte Konzeption der Unterbrechung für Schiller auch dramaturgisch produktiv wurde. Das Drama Schillers, das geradezu auf den Vorgang der Unterbrechung hin konzipiert zu sein scheint, ist Die Jungfrau von Orleans. Johanna macht sich einen theopolitischen Auftrag zu eigen. Ihre Beteiligung am Krieg gegen die englischen Eroberer, um so die Freiheit – für ihr Volk – in die Wirklichkeit zu bringen, versteht sie als von Gott befohlen. Sie bestimmt sich als 29 30 31 32

HKA II, 111. HKA III, 157. HKA II, 190. Ebd., 213.

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»Gefäß«33 eines göttlichen Auftraggebers, als ergriffen von dessen »Geist«,34 der aus ihr rede. Das ist zuerst der Gott des Alten Testaments (»der Schlachten Gott«,35 der Gott, der Moses erschienen ist36). Dieser habe ihr befohlen, das Land, von dem die Kreuzzugsidee ausgegangen sei,37 von den fremden Besatzern zu befreien und weiter den einheimischen König zu inthronisieren, der für die Idee des Königtums als Repräsentation der Civitas Dei auf Erden steht (»der König, der nie stirbt«).38 Dieser Gott verlangt Panzerung der Brust, wörtlich und übertragen (als Verbot irdischer Liebe), verspricht hierfür »kriegerische Ehren«,39 d. h. den Sieg im neuen Kreuzzug. Vor dem Dauphin beruft sich Johanna demgegenüber auf Maria als Auftraggeberin, deren Auftrag allerdings recht martialisch klingt (»vertilge meines Volkes Feinde«,40 das heißt besiege sie nicht nur, sondern lösche sie aus) und selektiv, als sei nur der französische und nicht jeder König als Stellvertreter Christi auf Erden anzusehen (»führe deines Herren [d. i. Christi] Sohn nach Reims«).41 Theologisch wenig stimmig ist dabei, daß sich diese Maria als göttlich ausgibt (»göttlich bin ich selbst«).42 Der reklamierte Auftraggeber Johannas mag problematisch sein, ihr subjektives religiöses Sendungsbewußtsein ist jedoch als echt hinzunehmen, mag es auch in Selbstsuggestion gründen. Grausam, ja barbarisch wird der Auftrag ausgeführt (ihr Panzer decke kein Herz, läßt sie Montgomery wissen, ehe sie ihn tötet, ein Krokodil, ein Tiger oder ein Löwe zeige eher Barmherzigkeit als sie).43 Moralisch kann ihr dies nicht zur Last gelegt werden, so lange sie sich als vollständig determiniert bezeugt, z. B.44: »ich m u ß – mich treibt die Götterstimme, nicht / Eignes Gelüsten,– e u c h zu bitterm Harm, m i r nicht / Zur Freude, ein Gespenst des Schreckens würgend gehn«, oder45: »Ein blindes Werkzeug fodert Gott«. Die Verwirklichung der Idee (der Freiheit) erscheint hier fragwürdig im Maße der dabei zu leistenden Unterwerfung der Natur: als Formierung des Affekts der Aggression nach außen wie als Unterdrückung der eigenen Natur. Die Unterbrechung dieser formierten Verwirklichung der Idee durch die Begegnung mit dem Schwarzen Ritter (III,9) und mit Lionel (III,10) bringt dann selbstverständlich eine andere, eine nicht formierte Natur zur Geltung bzw. das Sich-Geltend-Machen dieser anNA IX, 253 (III,4, Vs. 2248) (die römische Ziffer in Klammern gibt den Akt, die arabische die Szene an). 34 Ebd., 233 (II,10, Vs. 1723). 35 Ebd., 178 (Pr. 3, Vs. 324) (die Ziffer nach ›Pr.‹ gibt den jeweiligen Auftritt des Prologs an). 36 Vgl. ebd., 180 (Pr. 4, Vs. 401). 37 Vgl. ebd., 178 (Pr. 3, Vs. 339). 38 Ebd., 179 (Pr. 3, Vs. 346). 39 Ebd., 181 (Pr. 4, Vs. 416). 40 Ebd., 207 (I,10, Vs. 1081). 41 Ebd. (I,10, Vs. 1082). 42 Ebd. (I,10, Vs. 1092). 43 Vgl. ebd., 228 (II,7). 44 Ebd., 230 (II,7, Vs. 1660-62). 45 Ebd., 270 (IV,1, Vs. 2578). 33

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deren Natur ist die Unterbrechung. In der Ökonomie der Handlung wie poetologisch der Entfaltung von Tragik haben diese beiden Szenen die Funktion, Handlungsalternativen an Johanna heranzutragen (der Schwarze Ritter ruft Johanna auf, vom Kampf abzulassen, die Liebesbegegnung mit Lionel eröffnet die Möglichkeit eines anderen Umgangs mit dem Feind). Erst damit wird Johannas Handlung frei, womit auch Tragik für sie erst möglich wird. Die Unterbrechung leistet aber noch mehr. Sie wandelt die bis hierhin maßgebliche Relation von Idee und Natur von Grund auf. Natur war bis dahin dem Strategem, die Idee (der Freiheit) in die geschichtliche Wirklichkeit zu bringen, völlig unterworfen. Wenn die Unterbrechung damit erklärt wird, daß die unterdrückte Natur sich geltend mache, bleibt diese weiter von der Idee her definiert. Psychologisch besagte dies, die kriegerische Jungfrau würde von ihrer ›Natur‹, d. i. ihrem Liebesbedürfnis, eingeholt; da ihr Auftrag ihr aber verbietet, ihrer Natur zu folgen, kann sie diese nur unter Hereinnahme des Verbots zulassen, was nichts anderes bedeutet, als einen Mann auf der Seite des Feindes zu lieben. Die in der Unterbrechung zum Durchbruch gelangende Natur bleibt in solchen Deutungen rein negativ bestimmt. Auf diesem Wege kann nicht erklärt werden, wie die Unterbrechung die Gewalt paralysieren kann, die bis dahin eine vollständige Formierung aller Affekte geleistet hat. Die Unterbrechung macht jedoch, über das Sich-GeltendMachen der unterdrückten Natur hinaus, noch einen anderen Aspekt der Protagonistin stark, d. i. die vielperspektivische Anlage der Hauptfigur, die es unmöglich erscheinen läßt, sie auf einen Gehalt festzulegen. Das erinnert sehr an das Entsprechungsverhältnis zwischen der Unmöglichkeit, Ideen der Vernunft angemessen zur Anschauung, und das heißt zur Wirklichkeit, zu bringen und der entgegengesetzt gerichteten Unmöglichkeit, das Schöne (eine ästhetische Idee) auf einen bestimmten Begriff zu bringen, wie dies Kant in der Kritik der Urteilskraft darlegt.46 Das Inexponible der ›ästhetischen‹ Idee, so Kant, sei ein »Pendant« des Indemonstrablen der Vernunftidee; darum kann die eine Relation (von Vorstellung und Begriff) zum Zeichen für die andere (von Idee und Anschauung) werden und so der Vernunftidee doch, wenn auch nur in zeichenhafter Verweisung, zu einer Anschauung verhelfen.47 Analog wird mit den Szenen der Unterbrechung in Schillers Drama dem Vorgang der Unterdrückung der Natur im Zuge der Verwirklichung der Idee der Freiheit eine ›Ästhetisierung‹ der Natur (der Heldin) entgegesetzt, die jede begriffliche Festlegung transzendiert. Inwiefern aber manifestieren gerade die Szenen der Unterbrechung diesen Vorgang der Ästhetisierung? Die Figur Johanna ist generell als eine vielperspektivische Kunstfigur angelegt. Sie zeigt sich als ein Zitatenfeld divergierender Mythen, literarischer Werke, ästhetischer Stile und zeitgenössischer (französich revolutionär-patriotischer) Parolen, z. B.: 46 47

Vgl. KdU, § 49. Vgl. ebd., § 59.

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Johanna beruft sich auf Maria und Christus, ebenso auch auf den alttestamentarischen Gott. Sie erinnert die Geschichte Gideons (Richter 6), der, wie Johanna, unter einer Eiche vom Engel des Herrn den Auftrag erhält, Israel von den Midanitern zu befreien. Als Gefesselte, die ihre Fesseln sprengen und gegen ihre Feinde wüten wird, zitiert sie Simson, der mit seinem Tod Tausenden Philistern den Tod bereitete (Richter 13-16). Aber Simson kämpfte nicht nur gegen die Philister, sondern verband sich auch mit Frauen aus diesem Volk, und eine dieser Frauen wurde zuletzt sein Verderben. Weiter zitiert Johanna Figuren der griechischen Mythologie. Wie Achill den Lykaon (Ilias, XXI. Gesang) tötet Johanna den unbewaffnet um sein Leben bittenden Montgomery, als Jungfrau mit behelmtem Haupt, den Krieg wie den Frieden betreibend, zitiert sie Athene. Ihr Abschied von ihrer Heimat erinnert an den des Philoktet, der in Sophokles’ Tragödie allerdings als mißbrauchter Kämpfer im Trojanischen Krieg gezeigt wird. Den Auftritt des Schwarzen Ritters stellt Johanna selbst in den Horizont der Versuchung Christi durch den Teufel, wenn sie den Ritter als »doppelzüngig falsches Wesen«48 anspricht; zuletzt zitiert Johanna sogar Christi Worte am Kreuz, allerdings im entgegengesetzten Sinn49: »Gott! Gott! So sehr wirst du mich nicht verlassen!« Die Begegnung mit dem Schwarzen Ritter und die Liebesbegegnung mit Lionel fügen den Anspielungen, die diese Figur versammelt und die bis dahin sich vielleicht noch zu einer kohärenten Figuration vereinigen lassen, eine Fülle divergierender intertextueller Bezüge hinzu, die eine begriffliche Festlegung unmöglich machen. Der Kampf gegen Lionel und der Liebes-Augen-Blick zitieren deutlich die Tankred-Chlorinde-Konstellation aus Tassos Befreitem Jerusalem, wobei Johanna allerdings in der Position Chlorindes wie der Tankreds erscheint, gewissermaßen als ›eine in sich selbst unterschiedene‹.50 Wie Johanna kämpft Chlorinde in Männerrüstung, aber ihr Kampf ist gegen christliche Invasoren gerichtet, während Johannas Kampf mit dem ersten Kreuzzug in Verbindung gebracht wird. Chlorinde hat bei ihrem Kampf tatsächlich ›den [religiösen] Feind im Herzen‹, wie dies Thibaut zu Unrecht Johanna unterstellt;51 denn vor ihrem letzten Kampf erfährt Chlorinde, daß sie aus einem äthiopischen Fürstenhaus stammt, das sich »dem Glauben an Mariens Sohn« ergab.52 Vor ihrem letzten Kampf tauscht Chlorinde ihre silberhelle Rüstung mit einer schwarzen,53 so ist sie auch ein ›schwarzer Ritter‹, begegnet Johanna, Chlorinde zitierend, im ›schwarzen Ritter‹ sich selbst. Aber Johanna zitiert NA IX, 262 (III,9, Vs. 2440). Ebd., 310 (V,11, Vs. 3449). 50 Vgl. im Sinne Hölderlins, der hierbei einen Ausspruch Heraklits zitiert: Friedrich Hölderlin, Hyperion: in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe II, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1994, 9-276, hier 94. 51 Vgl. NA IX, 289 (IV,11 Vs. 3022 f.). 52 Torquato Tasso: Das Befreite Jerusalem, nach der Übersetzung von J.D. Gries, hg. und neu bearbeitet von Wolfgang Kraus, München 1963, 12. Gesang, 235. 53 Vgl. ebd., 12. Gesang, 234. 48 49

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auch Tankred, den Kreuzzugshelden, der die Muslime aus ihrem Land vertreiben will. Er hat in einer früheren Kampfesszene Chlorinde das Visier vom Haupt gerissen; ihr Antlitz erblickend und indem ihr Blick ihn erreicht, kann er nicht mehr kämpfen, da er in seinem Gegenüber die Frau erkennt, die er liebt54: Sie dringt auf ihn, er kann nicht wieder hauen, nicht so bedacht auf Schutz und Widerstand, als ihr ins Auge, Angesicht zu schauen, wo Amor nie umsonst den Bogen spannt. Analog reißt Johanna Lionel den Helmbusch herunter und kann, sein Antlitz erblickend, nicht mehr kämpfen. Wie Tankred gegenüber Chlorinde, bekennt sie daraufhin dem ›Feind‹ ihre Liebe. Später klagt sie, fast wörtlich aus dem Befreiten Jerusalem zitierend55: Warum mußt ich ihm in die Augen sehn! Die Züge schaun des edlen Angesichts! Später wird Tankred, unwissentlich, erneut gegen Chlorinde kämpfen, die ihm, verkleidet in schwarzer Männerrüstung, entgegengetreten ist. Er wird sie besiegen und, indem er ihr das Angesicht enthüllt, erkennen, daß er getötet hat, was er liebt. Johanna ist Chlorinde und zugleich Tankred, aber sie wird den Feind nicht töten, dem sie in Liebe verfallen ist, so ist sie auch ein ›anderer‹ Tankred und eine ›andere‹ Clorinde. Mit Motiven aus dem Befreiten Jerusalem und insbesondere mit der TankredChlorinde-Konstellation ruft Johanna aber zugleich noch einen anderen Text auf, der ebenfalls im Bann dieses Epos steht: Wilhelm Meisters Lehrjahre,56 dessen Entstehung Schiller mit ausführlichen Kommentaren an Goethe begleitet hat. Wilhelm selbst deutet seine Liebe zu Mariane in der Tankred-Chlorinde-Konstellation, bestimmend für sein Geschick wird dann seine Liebe zu einer ›schönen Amazone‹. Die intertextuellen Bezüge der Johanna-Figur zu Tassos Epos werden in neue Richtungen gewendet durch Bezüge zu Goethes Drama über den Dichter Tasso. Antonio erinnert den zernichteten Tasso in der letzten Szene57: »Du bist so elend nicht, als wie du glaubst«, analog äußert die verjagte Johanna gegenüber Raimond58: »Und ich bin nicht so elend, als du glaubst«; Tasso hatte der Prinzessin, diese selbst

Ebd., 3. Gesang, 55. NA IX, 270 (IV,1, Vs. 2575). 56 Die umfassenden Bezüge des Romans zum Befreitem Jerusalem hat Hans-Jürgen Schings herausgearbeitet: vgl. Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), 141-206. 57 Goethes Torquato Tasso wird nach dem fünften Band der Hamburger Ausgabe zitiert: Johann Wolfgang Goethe: Werke V, hg. von Erich Trunz, Hamburg 61964, 166 (V,5, Vs. 3405). 58 NA IX, 297 (V,4, Vs. 3167). 54 55

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meinend, gestanden59: »Mit meinen Augen hab’ ich es gesehn, / Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne«, um dann alsbald auf sein Liebespaar Tankred und Chlorinde zu sprechen zu kommen; Johanna erklärt Raimond60: »Ich habe das Unsterbliche mit Augen / Gesehn«; Tasso fragt die Prinzessin61: »So willst du mich nicht ganz und gar verstoßen?«, Johanna ruft Maria mit den Worten an62: »Hast du mich ganz aus deiner Huld verstoßen? / Kein Gott erscheint«, die Prinzessin antwortet Tasso63: »Mein Auge blickt umher, ob nicht ein Gott / Uns Hilfe reichen möchte«. Mit dem Eintritt in die Welt von Goethes Tasso-Tragödie wechselt Schillers Johanna-Figur metonymisch von Bezügen zu den gedichteten epischen Figuren Tankred und Chlorinde zu Bezügen zu dem gedichteten Dichter dieser Figuren. So ist Johanna beides, das Gedichtete und dessen Dichter, Schöpfer und Geschaffenes, das aber heißt absolut in ihrem dichterischen Wesen und so beste Verkörperung einer ›ästhetischen Idee‹. Mit den Szenen der Unterbrechung stellt das Drama zwei Naturverhältnisse gegenüber: Auf der einen Seite zeigt es Natur unter der Gewalt ideeller Formierung. Die Idee der Freiheit in die politische Wirklichkeit (Frankreichs) zu bringen, verlangt Unterdrückung der Natur. Mit der Unterbrechung gelangt die unterdrückte Natur zum Durchbruch, die distanzierte Gewalt der Naturunterdrückung wird aber mit Johannas freiem Akt der Selbstnegation (bei dem Verhör durch den Vater) restituiert, jetzt nicht mehr als eine auferlegte, sondern als selbst gewählte, und nachfolgend wieder nach außen gewendet. Daß eine solche Johanna, die ihre Selbstnegation neu bekräftigt hat, alle Fesseln sprengen und das Charisma der Führerin im Kampf um die Verwirklichung der Idee der Freiheit wiedergewinnen könnte, wäre in sich widersprüchlich. Der unter der Forderung der Idee negierten Natur, die auf der Ebene der Handlung gezeigt wird, stellen die Szenen der Unterbrechung jedoch auf der Ebene des literarischen Diskurses, d. h. in der Art, wie die Figur hier konzipiert ist, einen Durchbruch der Natur entgegen, der die Heldin als ästhetische Idee präsentiert. Die in diesem Sinne ›ästhetisierte‹ Natur kann erst zum eigenständigen Gegenpart der ideell unterdrückten Natur werden. Als ästhetischer Idee kommt der Figur die Kraft zu, jede Festlegung auf ein Bestimmtes, mithin jede Begrenzung, und das heißt Fessel, zu transzendieren. Diese überschießende Kraft des Ästhetischen kann hinübergespielt werden zur überschießenden Kraft der Vernunftidee, die über jeden Widerstand der Wirklichkeit hinausgreift, was eben das Charisma der Freiheitskämpferin ausmacht. Indem die Szenen der Unterbrechung das zweite, das ästhetisierte Naturverhältnis, begründen und auf das erste, den Prozeß der Unterdrückung der Natur, beziehen, vergegenwärtigen sie ganze Natur, 59 60 61 62 63

Goethe: Werke V [Anm. 57], 103 (II,1, Vs. 1097 f.). NA IX, 298 (V,4, Vs. 3191 f.). Goethe: Werke V [Anm. 57], 159 (V,4, Vs. 3185). NA IX, 301 (V,6, Vs. 3243 f.). Goethe: Werke V [Anm. 57], 160 (V,4, Vs. 3214 f.).

Das Theater als Ort der Präsentation ›ganzer‹ Natur

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nicht gegenständlich, sondern als komplementäre Entsprechung von zwei Naturrelationen. Das Entsprechungsverhältnis ist keine Balance, zeigt vielmehr eine Disproportion an. Die transzendierende Kraft der ästhetisierten Natur wird nicht zum Zeichen der überschießenden Kraft der Vernunftidee im Prozeß ihrer versuchten Verwirklichung, vielmehr zum Indikator der hierfür aufzuwendenden Unterdrükkung von Natur. Sie kann dieses Gewaltverhältnis nicht ausgleichen, wohl aber überstrahlen, da performativ, im Hier und Jetzt des geglückten Kunstwerks, eine alle Begrenzung transzendierende Kraft glänzend bestätigt wird. Schillers Drama Die Jungfrau von Orleans endet nicht mit der Apotheose Johannas, sondern mit der Apotheose der Kunst, die Natur als ›ästhetische Idee‹ entfaltet.

natur als gegenstand und wirkungsfe ld im me nsche n: affe kte und de ren strukturie rung in de r lyrik und im drama

Exaltationen der Natur Friedrich Schillers Semele als Poetik tödlicher Ekstase Von Günter Oesterle

I. Einleitung Es ist nichts Ungewöhnliches in der Literaturgeschichte, daß bestimmte Werke, die eine eminente zeitgenössische Wirkung gehabt haben, andere gleichzeitig entstandene Werke desselben Dichters vollkommen überschatten, ja sogar in Vergessenheit geraten lassen. Bis heute hat sich in der allgemeinen Vorstellung von Schillers Auftritt in der zeitgenössischen literarischen Szene um 1782 eine solche einseitige Belichtung erhalten. Schillers »Schauspiel« Die Räuber mit seiner faszinierenden Räuberromantik, provokanten Neuformulierung materialistisch philosophischer Bosheit und dem angeblich politischen Aufbegehren gegen den Spätabsolutismus hatte eine derart lang anhaltende fulminante Wirkmächtigkeit gezeigt, daß andere subtilere, gleichzeitig durchgeführte literarästhetische Erprobungen nur als Gelegenheitsarbeiten eingestuft wurden. Die dem Sturm-und-Drang-Bild gemäße Rezeption des wilden Shakespeare in den Räubern1 ließ den Gedanken gar nicht erst aufkommen, daß Die Räuber nur eine Seite des anthropologischen und dramaturgischen Debütprojekts von Schiller gewesen seien – die andere Seite aber, Schillers Umschrift eines Textes aus der römischen Antike, die Semele-Episode aus Ovids Metamorphosen wurde erst gar nicht in den Blick genommen. Beide dramatischen Versuche sind in der Wahl des literarischen Genres denkbar verschieden: Die Räuber werden als »ein Schauspiel«, die Semele als »lyrische Operette von zwo Scenen«2 untertitelt. Und doch lassen sich beide auf das anthropologische ästhetische Projekt des jungen, medizinisch und philosophisch geschulten Friedrich Schiller beziehen. Dieses anthropologische Projekt besteht bekanntlich in dem Versuch, den Menschen neu zu bestimmen, nämlich als »Mittelding von Vieh und Engel«.3 Um dieses 1 In der Rezeption des Dramas Die Räuber spielte die von Schiller vorgenommene Adaption einer dargebotenen antiken Szene (zweiter Akt, zweite Szene) im Gedicht Hektors Abschied nur eine periphere Rolle. Vgl. Dieter Borchmeyer: Hektors Abschied – Schillers Aneignung einer homerischen Szene, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), 277-298. 2 Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. (im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische Ziffer gibt die Seitenzahl an). Hier: NA V N, 196. 3 Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, NA XX, 47. Schiller zitiert aus Albrecht von Hallers Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben. Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985, 118.

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»Mittelding« zwischen zwei Extremen, nämlich Engel und Vieh, auszumachen, bedurfte es ästhetischer Grenzziehungstests: in den Räubern nach unten zum Menschen als potenziertem Vieh und in der Semele nach oben zum Menschen als gottoder götterähnlichem Wesen. Diese beiden Grenzziehungstests ließen sich methodisch einerseits mit Durkheim und Link als Problem des Normalismus und seiner Abweichungen,4 andererseits mit Iser als »extensionale Anthropologie«5 und d. h. als eine dem Menschen anthropologisch einwohnende Selbstüberschreitung beschreiben. Das Bündnis von Anthropologie und Ästhetik hat also die Funktion einer Selbstfindung des Menschen zwischen Extremen. Es ist geleitet von dem Wissen, daß diese Selbstfindung des Menschen im Austarieren zwischen »Engel« und »Vieh« nicht statisch und ein für allemal feststehend, sondern dynamisch und historisch veränderbar ist. Unter anderem dürfte die Veränderung der Parameter der Extreme bei der Umschrift der Semele – statt vom Vieh zum Engel vom Vieh zum antiken Gott – mit der Ausweitung des Textes in neue und brisante Grenzbereiche zusammenhängen. Die »lyrische Operette« Semele erscheint zum ersten Mal in der von Schiller anonym herausgegebenen Lyriksammlung Anthologie auf das Jahr 1782. Es scheint also geboten, zunächst einleitend das gesamte Theoriespektrum des frühen Schillers in Bezug zur Anthologie im Ganzen zu setzen, bevor die Aufmerksamkeit der Semele-Operette zugewendet werden kann. Im Blick auf das theoretische Frühwerk Schillers kann man – orientierungshalber – drei Forschungspositionen abgrenzen und ihren jeweiligen Ertrag für das poetische Frühwerk damit zugleich prüfen. Die erste Position versuchte (in der Forschungsgeschichte zum Frühwerk Schillers bahnbrechend) mit Schillers theosophischem Ansatz eine Königstheorie zu konturieren. Schillers frühe poetische Produktion wurde dann entweder als ihr angemessen und mit ihr korrespondierend dargestellt (z. B. die Lyrik der Anthologie von 1782) oder, wie im Falle von Schillers Drama Die Räuber, als »experimentelle[r] Generalangriff«6 auf das Konzept der chain of love, d. h. als eine radikale »Störung dieser Liebes-Ordnung« durch den Universalhaß von Franz Moor angesehen.7 Die zweite Forschungsposition betont zwar den »Kontrast«8 der verschiedenen Theorieansätze, insbesondere zwischen den theosophischen und den medizinisch inspirierten anthropologischen Schriften; widmet ihre Aufmerksamkeit dann aber den möglichen Verbindungsstellen und Brücken – etwa im Verweis auf Schillers Einführung des Entwicklungsgedankens.9 Der dritte, Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Wiesbaden 1999. Wolfgang Iser: Toward a Literary Anthropology, in: Ders.: Prospecting – From Reader Response to Literary Anthropolgy, Baltimore/London 1989, 262-284, hier 270. 6 Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses – ›Die Räuber‹ im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I), in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81), 71-95, hier 94 f. 7 Ebd., 90. 8 Riedel: Anthropologie des jungen Schiller [Anm. 3], 154. 9 Vgl. ebd., 120. 4 5

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hier unternommene Versuch legt den Akzent auf die Differenzen der verschiedenen, von Schiller aufgegriffenen Theorieansätze und rückt damit Schillers frühes theoretisches Werk in die Nähe eines Eklektizismus. Diese Zuordnung zum Eklektizismus erfolgt freilich weniger in theoretisch-philosophischem Interesse, sondern im Blick auf Schillers frühe poetische Produktion. Die These lautet, daß jenes, was im Theoriefeld nicht oder nur begrenzt möglich ist – nämlich inkompatible theoretische Versatzstücke miteinander ins Spiel zu bringen – im poetischen Experimentierfeld nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist.

II. Freude als »schöner Götterfunke« oder tödliche Ekstase. Wie theoretisch unvereinbare Ansätze in einem poetischen Experimentierraum fruchtbar gemacht werden können Schiller ist Experte in der theoretischen Erfassung und poetischen Darstellung von »Exaltation[en] menschlicher Natur«.10 Sein anthropologisches und ästhetisches Interesse an Extremsituationen ist allerdings im Frühwerk keineswegs einseitig ausgerichtet auf das Schreckliche, Fürchterliche, den Hyperschmerz und das Monströse des großen Verbrechers; es gilt nicht weniger dem außerordentlichen Zustand extremer Freude. Im dritten und von den Gutachtern schließlich akzeptierten Dissertationsprojekt Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen werden zwei Formen von extremen Ausnahmezuständen menschlicher Natur analysiert: die des Schmerzes und die der Freude. Beide gelten als »Exzess der Gesundheit«,11 beide, der Horror und die freudige »Ekstase«, führen zum »Ruin«, zum Kollaps und Tod des Organismus. In Paragraph 16 der Dissertation unter der Überschrift »Ausnahmen« heißt es12: »Die Freude tödet, wenn sie zur Ekstasi hinaufsteigt, die Natur erträgt den Schwung nicht, in den in einem Moment das ganze Nervengebäude geräth«. Die These des Doktoranden Schiller, die Freude führe in der Form der »Ekstase« zum Tod, verwundert – angesichts des weltweit wohl berühmtesten Gedichts von Schiller An die Freude (1785). In der Anthologie auf das Jahr 1782 findet sich eine Reihe von Gedichten (Die Freundschaft, Der Triumph der Liebe), die in ihrem hymnischen Lob der Freude und Liebe als Vorformen des Gedichts Freude schöner Götterfunken gelten können. In der Anthologie finden sich aber auch eine ganze Reihe von Gedichten und Werken, wie die vorab genannte »lyrische Operette« Semele und zwei Laura-Gedichte, in der die tödlichen Folgen der freudigerotischen Ekstase thematisiert werden. Diese alternative Darstellung von ins Außerordentliche gesteigerter Liebe und Freude, einmal als lebensspendende, das andere Mal als tödliche Ekstase, hat im Frühwerk Schillers eine theoretische Entspre10 11 12

Der Geisterseher – Aus den Memoires des Grafen von O**, NA XVI, 82. NA XX, 73. Ebd., 61 f.

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chung. In der Frühschrift zur Theosophie Raphael an Julius bedeutet die ekstatische Liebe das unverzichtbare Energiezentrum der Harmonie der Natur und Welt, Voraussetzung für die für den Menschen angestrebte Vervollkommnung.13 Ein gänzlich anderer Denkhorizont beherrscht Schillers dritte Dissertation. Die Theosophie mit ihrer Vorstellung der Sympathie aller Wesen, ihrer Vorstellung einer Kette des Seins und Kette der Liebe (chain of being und chain of love), wird von dem medizinischen Befund des Versuchs radikal in Frage gestellt. An die Stelle einer theosophisch inspirierten Dynamik eines Geisterreichs, die nach dem Prinzip der Gradation und Vervollkommnung »Vergötterung« des Menschen verheißt,14 tritt der nüchterne Blick für die Grenzen physischer Extremaktionen, die auf die geistigen zurückwirken. Anders als der Metaphysiker Schiller konstatiert Schiller als medizinisch geschulter Anthropologe die Grenzen und Schranken des Menschen. In der Dissertation stellt er nüchtern fest: Gottähnlichkeit würde zum Tod führen, denn »die höchste augenblikliche Vollkommenheit«15 kann der Mensch psychophysisch nicht aushalten und ertragen; es führt zum »Ruin der Maschine«,16 zu Kollaps und Tod. Schiller testet in seiner Dissertation das unterstellte commercium zwischen Körper und Geist an der in extremen Ausnahmesituationen von Freude und Schmerz sichtbaren psychophysischen Belastbarkeit. Während aus theosophischer Sicht gerade die aufs höchste gesteigerte Freude als »schöner Götterfunken« fungiert und das harmonisch sympathetische Überströmen des Ganzen der Welt zu verkörpern scheint,17 zeitigt ekstatische Freude für die medizinische Anthropologie fatale Folgen. Ich zitiere den eingangs auszugsweise genannten Text aus der Dissertation nun vollständig18: »Die Freude tödet, wenn sie zur Ekstasi hinaufsteigt, die Natur erträgt den Schwung nicht, in den in einem Moment das ganze Nervengebäude geräth; die Bewegung des Gehirns ist nicht Harmonie mehr, sie ist Konvulsion; ein höchster augenbliklicher Vigor, der aber auch gleich in den Ruin der Maschine übergeht, weil er über die Grenzlinie der Gesundheit gewichen ist […].« Während die Theosophie im »Ueberschwung«19 auf die Prinzipien der Gradation, der Kontinuität und der Fülle der Natur setzt, verweist die anthropologisch argumentierende Medizin auf die Grenzen des Schwungs und die »Schranken«20 der Belastbarkeit, d. h. auf »Konvulsion«21, den Kollaps des Organismus und den Tod als »Erbfeindin« der »Natur«.22 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. Schings: Philosophie der Liebe [Anm. 6], 88. Vgl. Riedel: Anthropologie des jungen Schiller [Anm. 3], 157. Versuch über den Zusammenhang, NA XX, 73. Ebd., 62. Vgl. Schings: Philosophie der Liebe [Anm. 6], 83. Versuch über den Zusammenhang, NA I, 61-62. Fantasie – An Laura, NA I, 47. NA XX, 62. Ebd., 61. Widmung zur Anthologie auf das Jahr 1782, NA XXII, 83.

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Es scheint mir keineswegs eine bloß performative Geste zu sein, daß Schiller die von ihm herausgegebene Anthologie von 1782 »meinem Prinzipal dem Tod zugeschrieben«23 und dem (wie er untertitelt) »unergründlichen Nimmersatt in der ganzen Natur«24 gewidmet hat – sie hängt mit der Problemvorgabe der medizinischen Anthropologie zusammen. Ich fasse die bisherigen Überlegungen zusammen: Der junge Schiller versucht die Bestimmungen des Menschen in seiner Doppelnatur dadurch auszuloten, daß er verschiedene, unvereinbare theoretische Modelle und Konzepte menschlicher Natur gegeneinander führt, um sie sich gegenseitig begrenzen zu lassen. Der theosophischen Figur einer sich bis zur »Vergötterung« vervollkommnenden Gradation tritt die medizinisch-anthropologische Stopregel mit der insistierenden Frage entgegen, wann im Schmerz und in der Freude die aushaltbare Extremgrenze erreicht ist. Neben die Frage nach der anthropologischen Mitte zwischen Vieh und Engel tritt die nicht weniger brisante Frage nach der Grenzziehung im Extrem: der Götterähnlichkeit und der notwendigen Götterunähnlichkeit. Wenn die Konkurrenz verschiedener kontrastiver Modelle der Natur das Koordinatenkreuz des Menschenmöglichen und -unmöglichen erst freilegt, liegt es nahe, daß dies auch ästhetische Konsequenzen zeitigt. Das läßt sich an der Konzeption der Anthologie von 1782 belegen. Ihre Vieläugigkeit, ihr großes Tönespektrum verdankt sie den korrespondierenden, komplexen, auf Unvereinbarkeit angelegten Theoriestücken. Die in der Anthologie publizierten Texte sind freilich nicht Illustrationen unterschiedlicher theoretischer Versatzstücke, sondern poetische Experimentierräume, welche diese ansonsten inkompatiblen Theoriemodelle gegeneinander in Stellung bringen, ihre Konkurrenz ausspielen, labile Konnexe, Überlagerungen und Kreuzungen schaffen, schließlich Dilemmalösungen ausprobieren. Die Folge der Laura-Gedichte konstituiert sich als Zyklus, indem das Spiel des Aufrufens verschiedener theoretischer Versatzstücke, ihre Desavouierung, ihre Überkreuzung und Dilemmalösung vorgeführt wird. Bestätigt wird diese These von der produktiven Konkurrenz verschiedener kontrastiver Modelle innerhalb poetischer Produktion durch eine Briefnotiz Schillers an Göschen. Als Schiller 1785 die zwei Gedichte Freigeisterei der Leidenschaft und Resignation an den Verleger sandte, schrieb er dazu25: »[…] ich habe zwar sehr wichtige Gründe, diese 2 Gedichte bekannt zu machen, weil ich sie in einem andern gänzlich widerlege.« Schillers Laura-Zyklus läßt sich als »eine turbulente Reihung situativer Gegensinnigkeiten«26 lesen, also als ein lyrisches ›Imbroglio‹ (wie Beaumarchais im Vorwort seines Barbier von Sevilla es

Ebd. Ebd. 25 NA XXIV, 31 (Brief an Göschen vom 18. bis 21. Dezember 1785). 26 Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie, in: Das Komische, hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München 1976 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 7), 279-333, hier 293. 23 24

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formuliert hat),27 in dem sich theosophische, medizinisch-anthropologische und zynisch-melancholische Konzepte und Stimmen ablösen und überkreuzen. Dieses intrikate Spiel mit verschiedenen theoretischen Modellen in Schillers Anthologiebeiträgen läßt sich bis in die dort verwendete Metaphorik verfolgen. Während auf der einen Seite, theosophisch inspiriert und mit Newtonanspielungen gestützt, die spirituelle Sympathie der kosmischen Sphären, die »Geister in umarmenden Systemen«28 beschworen werden, wird auf der anderen Seite in Anspielung auf körperliche Vereinigungsemphase geradezu die ›Revolution‹29 der Gestirne aufgerufen30: »aus den Angeln drehten wir Planeten« oder »Wenn dann, wie gehoben aus den Achsen / Zwei Gestirn, in Körper Körper wachsen«31. Eine Strophe aus dem Gedicht An einen Moralisten macht die Genese dieser Metaphorik aus der Synchronisation zweier in der damaligen Zeit aktuell diskutierter Diskurselemente ersichtlich: Da ist einmal die auch von Immanuel Kant diskutierte, je verschiedene »Verrükkung der Achse« der Planeten durch die Wirkung »der Überwucht«,32 da ist zum anderen das zeitgenössisch registrierbare hohe medizinische Interesse an »Schwindelerfahrungen«.33 Die Strophe aus dem als »Fragment« untertitelten Gedicht An einen Moralisten lautet34: Ha Seladon! wenn damals aus den Achsen Gewichen wär so Erd als Sonnenball, Im Wirbelschwung mit Julien verwachsen, Du hättest überhört den Fall. Das Spiel mit dem Gegensinn wird so weit getrieben, daß das jeweils andere Naturkonzept (das theosophische bzw. das anthropologisch-medizinische) ironisch zitiert wird, um es inversiv ins eigene System zu integrieren. So endet das »folternde Entzücken« des Freundschaftsenthusiasten im theosophisch inspirierten Gedicht Freundschaft nicht im tödlichen Kollaps, sondern wird abgefangen in den Blicken des Freundes: Sein Blick meint nur noch metaphorisch ein »wollüstges Grab« zu Vgl. Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais: Lettre modérée sur la chute et la critique du Barbier de Séville, in: Théâtre de Beaumarchais, publ. par Maurice Rat, Paris 1956, 17-35, hier 23. 28 Die Freundschaft (aus den Briefen Julius an Raphael; einem noch ungedruckten Roman), NA I, 110. 29 Karl Griewank hat begiffsgeschichtlich die Herkunft des Begriffs ›Revolution‹ aus der Kosmologie nachgewiesen. Vgl. Karl Griewank: Die Französische Revolution 1789-1799, Köln/Wien 5 1973. 30 Das Geheimniss der Reminiszenz – An Laura, NA I, 105. 31 Die seeligen Augenblike – an Laura, NA I, 64. 32 Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt, in: Ders.: Werke in sechs Bänden I, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1960, 219396, hier 307. 33 Schwindelerfahrungen – Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms, hg. von Rolf-Peter Janz, Fabian Stoermer und Andreas Hiepko, Amsterdam 2003. 34 NA I, 86 f. 27

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sein.35 Eine vergleichbare Figur der Inversion – nur in umgekehrter Tendenz – läßt sich in Schillers lyrischer Operette Semele feststellen. Ihrer Anlage nach läßt sich diese Operette als poetische Explikation der schon mehrfach zitierten Stelle aus der Dissertation lesen: »die Freude tödet, wenn sie zur Ekstasi hinaufsteigt«. Die Operette betreibt aber zugleich die Desavouierung des substantialistischen Konzepts der chain of being, wenn Jupiter verächtlich das gesamte Firmament als unbeseelt charakterisiert36 und dann, von Semele in Beweisnot gebracht, die gesamte Naturleiter wie einen Budenzauber auf- und abruft.

III. Schillers theatralische Umschrift der Ovidschen Vorlage ›Semele‹ Im Falle der Ovidschen Vorlage handelt es sich – zumal in der der Zeit um 1780 – um ein brisantes Thema, nämlich um die ›Götterwollust‹ des Menschen. Mit guten Gründen hat Schillers älterer, württembergischer Schriftstellerkollege Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner lyrischen Bearbeitung der Ovidschen Vorlage die dort thematisierte sexuelle Götterlust des Menschen vermieden und abgeschwächt, indem er das biblische Verbot, Gott zu sehen, zum Thema gemacht hat.37 Schiller hingegen behält das brisante Problem bei, exponiert und steigert es sogar, um es erst danach im Menschheitlichen aufzuheben. Schiller spart das in Ovids Text zentrale Motiv von Junos Wut gegenüber einer ihr selbst verwehrten Schwangerschaft aus, um sich ganz und gar auf Junos perfide Strategie zu konzentrieren, nämlich Semele durch den Beischlaf ihres göttlichen Geliebten zu vernichten. Juno verwandelt sich zu diesem Zweck in die Amme von Semele, um in dieser vertrauenswürdigen Gestalt die junge Frau zu betören. Sie flüstert ihr ein, um sicher zu gehen, daß ihr Geliebter wirklich ein Gott und nicht ein Betrüger sei, solle sie seine göttliche Qualität und Potenz prüfen, indem sie ihm unter Schwur eine vorab nicht genannte Bitte zu erfüllen abverlange. Diese von Juno heimtückisch inszenierte Bitte lautet in der Ovidschen Fassung38: »er soll dich umarmen groß und gewaltig, wie ihn empfängt die erhabene Juno.« Die Umschrift zeugt von Schillers theatralischer Genialität. Nahe lag es, die Ovidsche Vorgabe der Verstellung Junos und Betörung Semeles so zu steigern, daß die zeitgenössische höfische Kunst der simulatio und dissimualtio voll ausgespielt werden konnte.39 Dramaturgisch schwieriger war es, die in der Ovidschen Vorlage angelegte Asymmetrie Ebd., 111. Vgl. NA V N, 232. 37 Vgl. Christian Friedrich Daniel Schubart: Jupiter und Semele, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe II, hg. von Gerhard Kluge, Frankfurt a. M. 1988, 1508-1511, hier 1509 f.: »Wirf diese Hülle ab, und zeige dich / In deiner Gottheit furchtbarn Majestät!« 38 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. von Erich Rösch, München 111988, Buch III, 103. 39 Vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung – Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, 51, 67. 35 36

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zwischen der alle Fäden der Intrige in der Hand haltenden Juno und dem naiven Gänschen Semele in eine gleichberechtigte symmetrische Dialogstruktur zu überführen. Nur durch eine unscheinbare Erweiterung der Insinuation Junos gelang dies. Juno übertrumpft nämlich ihren perfiden Vorschlag, Semele solle von ihrem geliebten Gott die erotische Gleichberechtigung mit dessen göttlicher Ehefrau einfordern, durch den Hinweis, diese würde dann »vor Neid zerbersten«.40 Diese insinuierte Steilvorlage des Konkurrenzspiels zwischen den zwei Frauen übertrumpft nun ihrerseits Semele, indem sie nicht nur die ochsenäugige Häßlichkeit von Juno betont,41 sondern auch von Jupiters Klagen über die allnächtliche Nymphomanie seiner Ehefrau Juno zu berichten weiß.42 Wer kann es der als Amme verkleideten Juno verdenken, daß sie mit größter Wut diese Beleidigung und Verletzung zu rächen weiß, indem sie nun als neuartiges Motiv ihrer Verführung den tiefversteckten zweiten Wunsch von Semele aus ihr herauslockt, nämlich im Angesicht ganz Griechenlands als Göttin zum Olymp aufzusteigen. Man hat diesen Wunsch nach einer Epiphanie als Hybris eingestuft, der bald die Abstrafung folgen mußte.43 Man hat dabei aber übersehen, daß Schiller viel raffinierter die Perspektive einer menschlich fühlenden Frau und zugleich einen menschheitsgeschichtlich fälligen Vorgriff auf das nachgriechische Zeitalter des Mitleids und der Menschlichkeit – also eine Wende in der Zivilisationsgeschichte – mitgestaltet. Auf Junos visionär verführerisches Schlußbild44: »Und auf dampfenden Altären / Werden sie [d. h. die Sterblichen und die Götter; G.Oe.] dich göttlich ehren –« antwortet Semele »begeistert«: »Und erhören will ich sie! / Seinen [d. h. Jupiters; G.Oe.] Grimm mit Bitten söhnen, / Löschen seinen Blitz in Tränen! / Glücklich glücklich machen will ich sie!« Worauf Juno böse und rachsüchtig den vorgenannten Wunsch ihrer Konkurrentin im Reim vernichtend »vor sich« hinspricht: »Armes Ding! Das wirst du nie! –« Die dynamisch in dramatischer Steigerung aufgebaute erste Szene mit den vier Schritten a) Ausforschung und dissimulatio b) vorgespielte Simulationsszene der ›Versuchung Jupiters‹ c) verdeckte Eifersuchtsszene d) simulierte Szene einer Epiphanie Semeles erhält ihren abschließenden Höhepunkt in der von Juno mit Ekstase vorgetragenen Vision des Verbrennungstodes von Semele, bedingt durch die göttliche Umarmung Jupiters. Die von Semele erhoffte und erwünschte Verbindung von göttergleichem NA V N, 224. Vgl. ebd., 220. 42 Vgl. ebd., 222. 43 Vgl. Christa Vaerst-Pfarr: Semele – Die Huldigung der Künste, in: Schillers Dramen – Neue Interpretationen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1979, 294-315, hier 297. 44 NA V N, 224. 40 41

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Orgasmus und Epiphanie vom Menschen zur Göttin erhält in der ekstatischen Rachevision der Juno ein schreckliches Gegenbild45: […] Ha! (in rasender Entzükung.) Wenn nun ihr wächserner sterblicher Leib Unter des Feuertriefenden Armen Niederschmilzt, wie vor der Sonne Glut Flockigter Schnee, – der Meineidige Statt der sanften, weicharmigten Braut, Seinen eignen Schrecken umhalßt, – […] Dieser Kunstgriff am Ende der ersten Szene, in der Vision der Konkurrentin den Tod von Semele simulativ vorwegzunehmen, hat den Effekt, daß die dramatischen Handlungen schon ausgespielt sind, bevor die zweite Szene beginnt. Damit wird in der zweiten Szene Platz für ganz andere, Ovid unbekannte moderne Figuren und Tonlagen geschaffen: Da wird Gott als Betrüger und Gotteslästerer verdächtigt, als Pygmalion inszeniert, als Maschinendirektor des Weltgefüges vorgeführt – alles freilich, um auf höchst reflektierte und kritische Weise die Beweisnot und Ohnmacht der Götter offenzulegen. Und doch gelingt Schiller trotz dieses sentimentalischen Spektakels einer Entgötterung am Ende des Theaterstücks eine eindrückliche, gestische Inszenierung göttlich-menschlicher Liebe – nämlich einer »Elisiumssekunde«.46 Die kühne Vorstellung, daß ein Mensch mit einem Gott nicht menschlich, sondern göttlich schlafe, wird als temporales Ereignis pantomimisch vor- und durchgespielt. Gebunden an seinen Eid, sich selbst verfluchend, ruft Jupiter verzweifelt aus47: »nichts – nichts vermag Dich mehr zu retten Semele!« – um dann die in der zweiten Szene permanent vorgetragene Prüffrage Semeles nach seiner individuellen Liebesfähigkeit auf ganz eigene – neue Weise zu beantworten. In höchster Verzweiflung ruft Zeus als Individuum leidend aus »ich bin dein Zevs«48 – um zugleich den Vorgang zu erwartender, tödlicher Ekstase abrupt und resigniert abzubrechen mit der Formulierung49: »Auch das nicht mehr – Geh – «. In der Operette wird pantomimisch ausagiert, was in Schillers Dissertation theoretisch bedacht wird: Die Ekstase der Freude wie des Schmerzes ist beim Menschen immer notwendig tödlich – möglich ist allein eine ›Lustsekunde‹ – die Verdichtung »in einem Moment«50 »höchste[r] augenblikliche[r] Vollkommenheit«51. Die Pointe ist freilich, daß diese »Elisiumssekunde« auf dem Theater nur als Geste, als freibleibende Lücke, als Bindestrich darstellbar ist. 45 46 47 48 49 50 51

Ebd., 226. Die seeligen Augenblike – an Laura, NA I, 65. NA V N, 242. Ebd. Ebd. Versuch über den Zusammenhang, NA XX, 61. Ebd., 73.

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Daß Zeus die Folgen von Semeles Götterlust nicht mehr in antikisch mythischer Form einer körperlichen Überintensität, nämlich einer Verbrennung, sondern als temporal inszenierten Sekundenaugenblick zu gestalten vermag, verdankt er einer modernen, die Relativität der Zeit im Kosmos bedenkenden Einsicht seines Dramaturgen Friedrich Schiller. Dieser könnte durch eine Spekulation Immanuel Kants über die möglichen Bewohner anderer Gestirne52 und deren intensivere, das heißt kürzere Zeiterfahrung angeregt worden sein. Ausgangspunkt der Kantschen Annahme ist, daß sich die Vollkommenheit und Trefflichkeit der »denkenden Naturen« aus dem »Verhältnis des Abstandes ihrer Wohnplätze von der Sonne«53 ergibt. Aus solchen Überlegungen ergibt sich eine Korrespondenz von Anthropologie und Kosmogonie; in beiden Bereichen nimmt der Mensch »in der Leiter der Wesen gleichsam die mittelste Sprosse«54 ein. Eine solche Gradationslehre schließt freilich nicht aus, daß es auch weitere, die Zeit intensiver erfahrende Bewohner anderer Gestirne geben könnte. »Die Sehröhre lehren uns«, schreibt Kant, »daß die Abwechselung des Tages und der Nacht im Jupiter in 10 Stunden geschehe.«55 Kant fragt auf Grund dieses empirischen Befundes56: »Was würde der Bewohner der Erde, wenn er in diesen Planeten gesetzt würde, bei dieser Einteilung wohl anfangen?« – um dann im Blick auf die andere intensivere Zeiterfahrung der Bewohner des Jupiters fortzufahren57: »[…] wenn Jupiter von vollkommneren Kreaturen bewohnet ist, die mit einer feinern Bildung mehr elastische Kräfte, und eine größere Behendigkeit in der Ausübung verbinden: so kann man glauben, daß diese 5 Stunden ihnen eben dasselbe und mehr sind, als was die 12 Stunden des Tages vor die niedrige Klasse der Menschen betragen. Wir wissen, daß das Bedürfnis der Zeit etwas Relatives ist […]. Daher eben dieselbe Zeit, die vor eine Art der Geschöpfe gleichsam nur ein Augenblick ist, vor eine andere eine lange Periode sein kann.«

Vgl. Kant: Theorie des Himmels [Anm. 32], 377-394 (dritter Teil, Anhang: »Von den Bewohnern der Gestirne«). 53 Ebd., 386. 54 Ebd. 55 Ebd., 388. 56 Ebd. 57 Ebd., 388 f. 52

Exaltationen der Natur

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IV. Die wortlose Bewegung im »Übertritt des Menschen in den Gott« Ludwig Finscher hat auf eindrückliche Weise gezeigt, daß alle bislang unternommenen Versuche, Schillers »lyrische Operette« Semele in die Tradition des Singspiels einzuordnen, scheiterten.58 Auch der probeweise unternommene Versuch, diese »Operette« eher in die Gattungstradition einer höfischen ›Serenata‹ im Sinne von Metastasio, also einer zwei Szenen umfassenden Huldigungs- bzw. Festoper zu stellen, mußte verworfen werden. Wenn man die formale Meisterschaft von Schillers Semele-Operette mit Finscher betont und damit eine Abwertung als »mißglückt« ausschließt, bleibt fast nur noch die Möglichkeit, in der Semele »den verwegenen Versuch« zu sehen, »die sinnliche Macht der Musik in Worte und Verse umzusetzen«, und sie im Sinne von Thomas Mann als musikalisches Drama zu charakterisieren.59 In diese Interpretationstendenz fügt sich ein, Schillers Semele in die Nähe von »Klopstocks Poetik der Wortbewegung«60 zu rücken. Winfried Menninghaus hat in einer wegweisenden Studie zeigen können, wie Klopstock das rhetorische, an die persuasio gebundene movere in eine »autonome Evokation« von »Bewegungsenergien« übersetzt61 und damit in der Lage ist, die Grenzen des sprachlich Darstellbaren zu überschreiten. Man kann den Schlußdialog der völlig naiven, sich auf dem Höhepunkt ihres Glückes wähnenden Semele und dem schockierten, die tödlichen Konsequenzen ihres Wunsches realisierenden Zeus als virtuosen Versuch lesen, einerseits durch Nutzung von Zäsuren und damit einhergehend Sich-gegenseitig-ins-Wort-Fallen, andererseits durch die metrisch eingesetzten Redepausen (die im Druckbild als Bindestrich erscheinen) dem orgiastischen, in Sekunden gefaßten Tod Semeles, also dem Nicht-mehr-Darstellbaren, dem Wortlosen physiognomisch Ausdruck zu geben. Später – 1795 – wird Schiller erneut »den höchsten poetischen Effekt« in dem ohne Pathos dargestellten »Übertritt des Menschen in den Gott« sehen wollen.62 Am Beispiel der »Vermählung des Herkules mit der Hebe« stellt er sich die Darstellung einer Idylle als Höhepunkt »sentimentalische[r] Poesie« vor.63 Sie ist gekennzeichnet durch die äußerste Grenze des Darstellbaren64: »Über diesen Stoff hinaus gibt es keinen mehr für den Poeten, denn dieser darf die menschliche Natur nicht verlassen […]. Die Hauptfiguren wären zwar schon Götter, aber durch Herkules kann ich sie noch an die Menschheit anknüpfen und eine Vgl. Ludwig Finscher: Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers ›Semele‹, in: Schiller und die höfische Welt, hg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack, Tübingen 1990, 148-155. 59 Ebd., 153. 60 Winfried Menninghaus: Dichtung als Tanz – Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung, in: Comparatio 2/3 (1991), 129-150, hier 135. 61 Ebd., 134. 62 NA XXVIII, 119 (Brief an Wilhelm von Humboldt vom 29. und 30. November 1795). 63 Ebd. 64 Ebd. 58

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Bewegung in das Gemälde bringen.« Dieses poetische Projekt hat Schiller nicht realisieren können. Im Frühwerk aber hat er genau diese Darstellung des »Übertritts des Menschen in den Gott«65 als »wortlose Bewegung«66 darzustellen versucht. Die damals gewählte Konstellation, die Verbindung von Orgasmus und Epiphanie in einer »Elisiumssekunde«, konnte der klassisch gewordene Schiller nur noch folgendermaßen kommentieren: »Mögen mirs Apoll und seine Neun Musen vergeben, dass ich mich so gröblich an ihnen versündigt habe!«67

Ebd. Menninghaus: Dichtung als Tanz [Anm. 60], 135. 67 NA XXV, 251 f. (Brief an Caroline von Beulwitz und Charlotte von Lengefeld vom 30. April 1789). 65 66

Entzauberte Natur und Tod in Schillers ›Klage der Ceres‹ 1 Von Dorothea von Mücke

Für Miriam Similon Dem klassischen Schiller sind Blumen das Symbol der Schönheit und der Dichtung par excellence. Doch kann es sich bei ihnen nicht, wie etwa für Kant, um Naturschönheit handeln. Schillers Blumen sind Produkte der Kunst. So beschreibt Schillers Gedicht Das Mädchen aus der Fremde, wie die allegorische Titelgestalt zu Beginn der Sommerzeit ihren Gästen Früchte und Blumen beschert. Dabei wird betont, daß diese Gaben nicht lokale Naturprodukte sind, sondern »Gereift auf einer andern Flur, / In einem andern Sonnenlichte, / In einer glücklichern Natur«.2 Was mit dieser »glücklichern Natur« in der Fremde gemeint ist, wird wesentlich deutlicher in dem in der Ausgabe von 1804 direkt auf dieses folgenden Gedicht, Klage der Ceres, in dem der Vergleich der Dichtkunst mit Acker- und Gartenbau weiter entfaltet wird.3 Die prominente Position der beiden Gedichte am Anfang der Sammlung unterstreicht ihre programmatische Funktion. Die folgende Analyse der Klage der Ceres unternimmt daher den Versuch, ein für Schiller zentrales Modell von Schönheitsproduktion und dichterischem Schaffen nachzuzeichnen. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche Aspekte der antiken Überlieferung Schiller benutzt, um das Verhältnis der Göttin Ceres zum Ackerbau zu charakterisieren: Wie wird Acker- und Gartenbau als eine Kunst und Kulturtechnik eingeführt, die die vorgefundene Natur nicht nur zu beherrschen, sondern auch zu überbieten weiß?4 Gleich beim ersten Lesen des Gedichts wird deutlich, daß die Sprecherin in Schillers Klage der Ceres nicht die Göttin ist, die wir aus der antiken Mythologie kennen. Sie ist nicht die gewaltige Fruchtbarkeitsgöttin, die aus Wut und Trauer über den Raub ihrer Tochter alles Wachstum auf Erden einstellt und die Natur erst dann wieder zum Leben erweckt, als Jupiter für sie mit der Unterwelt einen KomIch danke Kelly Barry und Gerrit Jackson für anregende Gespräche und konstruktive Kritik. Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Hier: NA I, 275. 3 In der Ausgabe von 1804 sind viele Gedichte mit einem thematisch verwandten Gedicht gepaart, das das vorausgehende Gedicht erläutert oder modifiziert. 4 In Das Eleusische Fest, das in der Ausgabe letzter Hand direkt auf Klage der Ceres folgt, ist Ceres die zentrale kulturstiftende Göttin, die das Blutopfer abschafft und den Ackerbau einführt, »[d]aß der Mensch zum Menschen werde« (NA II/1, 377). 1 2

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promiß ausgehandelt hat. Ja, Schiller beraubt Ceres nicht nur ihrer Macht über Leben und Wachstum in der Natur, sondern läßt sie sogar die Menschen um ihre Sterblichkeit beneiden5: Stürzt mich in die Nacht der Nächte Aus des Himmels goldnem Saal, Ehret nicht der Göttinn Rechte, Ach! sie sind der Mutter Qual!

In diesem Todeswunsch zeigt sich die Göttin hilfloser noch als die Sterblichen, denen zumindest nach ihrem Ableben der Zugang zur Unterwelt nicht verwehrt ist. Während die antike Überlieferung die Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin zunächst beim Blumenpflücken mit ihren Gespielinnen zeigt, um dann ihre brutale Entführung durch den Gott der Unterwelt zu schildern, läßt Schillers Gedicht diese der Trauer der Ceres vorausgehende Erzählung fort. Statt dessen wird der Raub der Proserpina bei Schiller auf eine Metapher für den frühzeitigen Tod des Mädchens reduziert. Die Trennung von der Tochter ist somit nicht mehr, wie im antiken Mythos, auch mit dem Erwachsenwerden, der Geschlechtsreife und der Verehelichung der Tochter assoziiert.6 Die Proserpina in diesem Gedicht Schillers verkörpert ausschließlich das plötzlich verstorbene Kind.7 Diese Lesart des Gedichts als Ausdruck der Trauer um das verlorene Kind äußert sich in einem Brief von Sophie von La Roche an Schiller vom 17. Januar 1797, in dem sie beschreibt, wie die Klage der Ceres ihr eine »süsse wehmut« im Gedanken an ihren 1791 verstorbenen Sohn Franz und an »die pflanzen […], welche über seiner Hülle wachsen«,8 eingeflößt habe. La Roches identifikatorische Lektüre bezeugt Schillers Vermenschlichung der Göttin als trauernder Mutter. Auch läßt sich La Roches Brief als Beleg für die von Philippe Ariès so eindringlich beschriebene Ästhetisierung des Todes anführen.9 Allerdings wäre es fehlgeleitet, wollte man Schillers Gedicht ganz auf diesen Trend reduzieren. Zwar charakterisiert Schiller Ceres als tief trauernde Mutter, doch darf man den zweiten Teil des Gedichts, der damit NA I, 280 (Vs. 45-48). Vgl. The Homeric Hymn to Demeter – Translation, Commentary and Interpretive Essays, ed. by Helene Foley, Princeton (N.J.) 1993; besonders den einführenden Aufsatz der Herausgeberin (ebd., 79-178), in dem Helene Foley die erstaunliche Menschennähe und Menschenähnlichkeit der Göttin hinsichtlich der Todeserfahrung sowie der Auseinandersetzung mit der Verheiratung der Tochter betont. 7 Dies ist nicht der Fall in Das Reich der Schatten (vgl. NA I, 247-251), das beim Rekurs in der zweiten Strophe auf den Proserpina-Mythos an die im Mittelalter etablierte Assoziation von Sündenfall und Raub der Proserpina anknüpft. Für eine detaillierte Aufarbeitung dieser Rezeptionsgeschichte vgl. Herbert Anton: Der Raub der Proserpina – Literarische Traditionen eines erotischen Sinnbildes und mythischen Symbols, Heidelberg 1967. 8 NA II/2 A, 311. 9 Vgl. das Kapitel »Die Zeit der schönen Tode«, in Philippe Ariès: Geschichte des Todes, übers. von Hans-Horst Henschen und Una Pfau, München 1980, 521-602. 5 6

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endet, daß Ceres die Blumen des Frühlings freudig willkommen heißt, nicht mit einem Lob auf die im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert noch neue Kunst der Friedhofsgärtnerei verwechseln. Der zweite Teil der Klage der Ceres ist in seiner semiologischen und poetologischen Dimension wesentlich komplexer. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, schildert Schiller die Göttin in der Rolle der tief trauernden Mutter, um in ihr eine Künstlerfigur zu schaffen, die gerade im Durchgang durch ihre verzweifelte Hilflosigkeit und in der Konfrontation mit der Endgültigkeit des Todes einen neuen Zugang zur Sprache entwickelt, an den sie die Symbolisierung und Ästhetisierung ihrer Trauerarbeit anknüpft. Ovids Fasten gelten zu Recht als wichtigste Quelle für Schillers Gedicht, denn nur in diesem Text der antiken Überlieferung wie dann auch bei Schiller äußert die Göttin den Wunsch, in den Orkus zu gehen. Bei Ovid findet sich der Todeswunsch der Göttin ganz am Ende der etwa 300 Verse langen Erzählung10: »(Da) [d. h. im Moment, als der Bote berichtet, daß Proserpina nicht nüchtern geblieben sei] ergriff ein Schmerz die gramgequälte Mutter, nicht anders, als ob (die Tochter ihr) eben erst entrissen worden wäre, nur mit Mühe und erst spät erholte sie sich und sprach: ›Ich will auch nicht mehr im Himmel wohnen. Gib auch mir den Zutritt zum Tal des Taenaros [d. h. zum Orkus] frei!‹ Und sie hätte (ihren Willen) ausgeführt, wenn Iupiter nicht versprochen hätte, daß sie (Proserpina) sechs Monate (im Jahr) im Himmel bleiben sollte. Da erst hellte sich die Miene der Ceres wieder auf, und sie faßte neuen Mut: Sie drückte ihren Ährenkranz aufs Haar – und auf der Flur, die brach gelegen hatte, sproß eine reiche Ernte, und die Scheuern faßten kaum den eingebrachten Segen.« Die ersten beiden Verse dieser Passage dramatisieren einen entscheidenden Moment in der Trauer der Mutter um die verlorene Tochter: und zwar den Moment, als die Hoffnung auf eine Rückkehr des Kindes endgültig zu zerbrechen scheint. Einigen Interpreten der Klage der Ceres scheint zu entgehen, daß Schiller nicht den gesamten Ceresmythos in sein Gedicht nacherzählend aufnimmt, sondern genau diese Passage aus den Fasten isoliert und zum Ausgangspunkt für sein Gedicht macht.11 Doch während die Klage der Göttin, der Ausdruck ihrer verzweifelten Hoffnungslosigkeit, die die Form eines Todeswunsches annimmt, in den Fasten als Selbstmorddrohung gegenüber dem mächtigen Bruder geäußert wird, ist sie bei Schiller Teil des Reflexionsprozesses der Göttin auf die eigene Beschränktheit und die EndgülPublius Ovidius Naso: Die Fasten I, hg., übersetzt und kommentiert von Franz Bömer, Heidelberg 1957, 207. 11 Vgl. Gert Theile: Vermeintliche Freiheit, in: Interpretationen – Gedichte von Friedrich Schiller, hg. von Norbert Oellers, Stuttgart 1996, 183-195. Theile bemerkt zwar, daß Schiller nicht alle Elemente des antiken Mythos übernimmt, deutet aber die Sprechsituation des Gedichts völlig anders, nicht als Selbstreflexion der Ceres, als ihre Auseinandersetzung mit der Endgültigkeit des Todes, sondern als handle es sich um eine Erzählung in der ersten Person Singular von der verzweifelten Suche der Ceres nach ihrem Kind, die dann im zweiten Teil im ästhetischen Sinnstiftungsprozeß Kompensation findet. 10

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tigkeit des Todes. Und während in den Fasten die Klage der Ceres (ihre verzweifelt ausgestoßene Selbstmorddrohung) tatsächlich die Ausgangslage zu ändern vermag, indem sie die regelmäßige Wiedervereinigung mit der Tochter erzwingt, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis der zweite Teil von Schillers Gedicht, die poetologisch-semiologische Reflexion, sowohl zur vorausgehenden Klage als auch zur Situation der Einleitungsstrophe steht. Inwiefern erzielt sie Veränderung, inwiefern läßt sie sich als Resignation, inwiefern als Kompensation verstehen? Zunächst zur Ausgangslage: Ovids Erzählung berichtet, wie die Göttin überall nach der Tochter fahndet, dann Ersatz sucht im menschlichen Kind, das sie unsterblich machen will, und schließlich, nachdem dies alles mißlingt, den Bruder zu zwingen vermag, ihr zumindest ein Teilsorgerecht über die Tochter einzuräumen. Ja, man könnte geradezu sagen, daß dieser Teil des Ceresmythos das Beispiel einer ungewöhnlich hartnäckigen Weigerung darstellt, die Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren, die zudem noch von Erfolg gekrönt wird. Auch Schillers Gedicht spricht diese Hoffnung auf eine Überwindung des Todes gleich in der ersten Strophe an: Solange sich die Natur erneuert, gibt es Hoffnung auf die Wiederkehr des Lebens. Doch die Einleitungsstrophe nimmt diese Erwartung, sobald sie geweckt ist, gleich wieder zurück: Die Wiederbelebung der Natur heißt nicht, daß alles wiederhergestellt wird. Die zyklische Natur des jährlich erneuerten Wachstums steht bei Schiller im Kontrast zur Endgültigkeit des Todes der geliebten Person, wenn die Oreade der Göttin in den letzten beiden Versen der ersten Strophe lakonisch mitteilt12: Deine Blumen kehren wieder, Deine Tochter kehret nicht.

Die lapidare Feststellung der Oreade unterbricht die ihr vorangestellte personifizierende Naturbeschreibung. Wenn die vorangehenden Verse die wiederbelebende Kraft der Frühlingswärme im Bild des lachenden Gottes beschreiben, der sein »unbewölktes« Gesicht in den tauenden Strömen spiegelt, und die visuelle Dimension dieses Bildes mit dem Hinweis auf die sichtbaren Ansätze der neuen Triebe an den Zweigen schließt, so enthüllt ein aufmerksameres Lesen diese Blick- und Augenbildlichkeit als Trug13: »Aus der Ströme blauem Spiegel / Lacht der unbewölkte Zeus, / Milder wehen Zephyrs Flügel, / Augen treibt das junge Reis.« Denn die Augen des Reises können nichts sehen, sind nur blinde Triebe, und das Spiegelverhältnis von Flüssen und blauem Himmel ist rein mechanisch-optisch und steht so im strengen Gegensatz zu der Figur des beseelten, liebenden Wechselblicks, wie er in der fünften Strophe als Wunschprojektion der trauernden Mutter von der Wiedervereinigung mit ihrer Tochter erscheint. Somit wäre die personifizierende Sprache dieser Einleitungsstrophe eine fromme Illusion, die in den lapidaren Versen der Oreade entblößt wird. Der sonnige Frühlingstag vermag zwar das Wiederkommen 12 13

NA I, 279 (Vs. 11 f.). Ebd. (Vs. 5-8).

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der Blumen, doch nicht auch das der Tochter zu versprechen. Die Natur in der Einleitungsstrophe von Klage der Ceres zeigt sich als gleichgültig und radikal entzaubert.14 An dieser Stelle lohnt es sich, den Blick auf die letzte Strophe von Schillers Gedicht zu lenken, in der die Göttin die Blumen des Frühlings begrüßen will und den Wunsch äußert, ihnen die schönsten Regenbogenfarben zu geben, damit jedermann in ihnen ihren Schmerz und ihre Lust lesen könne. Das heißt allerdings nicht, daß am Ende des Gedichts jenes eingangs postulierte Verhältnis von Betrachter und Natur wiederhergestellt ist. Denn am Ende finden wir keine belebte Natur, in der jedermann Kompensation für seine eigenen Verluste und Enttäuschungen finden könnte, sondern eine Natur, an der die Affekte einer anderen, der Göttin, ablesbar werden. Weiterhin handelt es sich nicht einfach um die sich von selbst organisch reproduzierende Natur, die in der Eingangangsstrophe den Frühling bringt, sondern um isolierte, spezifische Naturerscheinungen, die von der Göttin zunächst einmal kultiviert und künstlerisch bearbeitet werden mußten. Das Gedicht Klage der Ceres läßt sich somit auch als Darstellung eines Selbstfindungsprozesses charakterisieren, der im Zusichkommen der Göttin als Künstlerin kulminiert. In diesem Kontext ist es bemerkenswert, daß die das gesamte Gedicht prägende erste Person Singular, das Ich der Klage der Göttin, erst in der zweiten Strophe auftaucht. In der ersten Strophe wird das trauernde, von der Regeneration der Natur unterschiedene Subjekt allein durch die Anrede der Oreade als »Du« konstituiert. Erst im Bruch mit der vermeintlichen Harmonie mit der Natur wird Ceres eindeutig zur Sprecherin. Der an die Einleitungsstrophe anschließende Monolog der Göttin zerfällt in zwei gleich lange Teile von jeweils fünf Strophen. Während der erste von der Klage um den Verlust der Tochter und dem Versuch, ihn rückgängig zu machen, bestimmt ist, steht im Mittelpunkt des zweiten Teils Ceres’ Entdeckung der sie mit ihrer Tochter verbindenden Sprache. Die Schwierigkeit des Gedichts liegt nicht in dieser Makrostruktur, sondern in der Sequenz der einzelnen Strophen. Dabei läßt sich das Fortschreiten der Trauerarbeit im ersten Teil noch etwas leichter nachzeichnen als die Evolution des Sprachbewußtseins der sich zur Künstlerin bildenden Göttin im zweiten Teil. Diese Schwierigkeit rührt nicht zuletzt daher, daß das Gedicht sich zwar auf eine wohlbekannte Fabel stützt und sogar viele zentrale Elemente dieser Fabel erwähnt, dabei selbst jedoch keineswegs erzählend verfährt.15 Im folgenden soll die Logik der Sequenz der einzelnen Strophen etwas genauer analysiert werden. Diese Vorstellung von einer radikal entzauberten Natur durchzieht Schillers Gesamtwerk. Man denke nur an Die Götter Griechenlandes, wo das abstrakte Naturverständnis der modernen Naturwissenschaft und die Sinnenfeindlichkeit des Christentums dafür verantwortlich gemacht werden. Man denke aber auch an die wilde, gräßliche Natur im Taucher, die als solche in den Bereich der Latenz verbannt bleiben soll, da sie der menschlichen Wahrnehmung zuzumuten unziemlich ist. Vgl. zu diesem Aspekt auch den Beitrag von Helmut Koopmann in diesem Band. 15 Siehe Emil Staigers Beobachtungen zu den Schwierigkeiten dieses Gedichts, das sich nicht 14

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Was die Trauerarbeit angeht, so beschreibt die Klage der Ceres eine zuletzt als vergeblich anerkannte Suche der Göttin, mit der Tochter Blicke und Tränen auszutauschen. Alle ihre Vorstellungen von einer Kontaktaufnahme mit der Tochter spielen sich im visuellen Bereich ab. Indem sie den Verlust ihres Kindes allein als ein Einander-nicht-sehen-Können beklagt, vermag Ceres zunächst einmal die Endgültigkeit des Todes zu leugnen. Denn aus dieser Perspektive muß sie nicht sagen, Proserpina ›war‹, sondern kann sich sagen, sie ›ist‹, wenn auch nicht im Reich des Lichts und der Sichtbarkeit, sondern in dem der Nacht. Diese Strategie der Leugnung des Todes wird von Schiller in der ersten Strophe, wie schon erwähnt, zunächst einmal in Form einer als täuschende Projektion enthüllten Spiegel- und Blickbildlichkeit eingeführt. Identitäten werden über diese Spiegelungsverfahren gleichsam in einer zeitlosen Gegenwart fixiert. Wenngleich diese Projektion auf die Natur schon eingangs durch den Einspruch der Oreade als illusorisch kritisiert wird, klammert sich doch die trauernde Mutter weiterhin an diese Strategie. Statt ihre Hoffnung, ihre Tochter wiedersehen zu können, in der Natur bestätigt zu sehen, sucht sie sie kraft ihrer Einbildungskraft zu verwirklichen16: Wo sie mit dem finstern Gatten Freudlos thronet, stieg ich hin, Träte mit den leisen Schatten Leise vor die Herrscherinn. Ach ihr Auge, trüb von Zähren, Sucht umsonst das goldne Licht, Irret nach entfernten Sphären, Auf die Mutter fällt es nicht, Bis die Freude sie entdecket, Bis sich Brust mit Brust vereint, Und zum Mitgefühl erwecket, Selbst der rauhe Orkus weint.

Sie leugnet den unwiederbringlichen Verlust der Tochter, indem sie die Abwesenheit der Tochter letztlich auf ein Problem der Beleuchtung und des Blickaustauschs reduziert, als gälte es nur, die Tochter in der Schattenwelt aufzusuchen, um dann mit ihr freudig wieder vereint zu sein. Die imaginäre Verwirklichung ihres Wunsches vertraut auf die Macht des Blickaustauschs und der Identifikation: So hofft die von ihr vorgestellte Szene einerseits auf die den Tod besiegende Macht des belebenden, beseelenden Wechselblicks der Liebe zwischen Mutter und Tochter. Andererseits ist diese Wunschphantasie als eine imaginäre Inszenierung markiert, die auf die den Zuschauer zutiefst bewegende Macht des Theaters baut. Die Macht der in ein narratives Schema zwängen läßt: Schillers ›Klage der Ceres‹, in: Weltbewohner und Weimaraner, hg. von Benno Reifenberg und Emil Staiger, Zürich 1960, 265-279. 16 NA I, 280 (Vs. 49-60).

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gezeigten Gefühle soll selbst den rauhen Orkus mit Mitgefühl überwältigen. Frei nach Orpheus inszeniert Ceres somit die empfindsame Neuauflage einer Wiedererkennungszene, die gemäß der Wirkungsästhetik des bürgerlichen Trauerspiels im pantomimischen Tableau, der ein jedes Publikumsmitglied unmittelbar ansprechenden Szene, kulminiert. Das wiederholte »leise« unterstreicht den rein visuellen Charakter dieser Szene, als einer, die sich gewissermaßen im vorsprachlichen Imaginären einer zeitlosen Gegenwart abspielt. Wie wird der Umschlag von der Weigerung, den Tod der Tochter hinzunehmen, zur Akzeptanz der Endgültigkeit des Verlustes motiviert und artikuliert? Was veranlaßt die Göttin, die zunächst geäußerte Wunschphantasie von einer Wiedervereinigung mit ihrer Tochter im Orkus als prinzipiell unerfüllbar zu verwerfen und damit den endgültigen Verlust der Tochter anzunehmen? Die Vergeblichkeit ihrer Wunschphantasie wird der Göttin im Blick auf die von ihr bislang ignorierte Dimension der Zeit bewußt17: Eitler Wunsch! Verlorne Klagen! Ruhig in dem gleichen Pfad Rollt des Tages sichrer Wagen, Fest bestehet Jovis Rath. Weg von jenen Finsternissen Wandt’ er sein beglücktes Haupt […]

Die Formulierung »des Tages sichrer Wagen« bestimmt die Zeit sowohl als einsinniges Fortschreiten als auch als rhythmisch-gleichmäßiges Alternieren von Tag und Nacht. Die Attribute ruhig, gleich, sicher, fest, die sich auf das Rollen, den Rhythmus und die einsinnige Richtung der fortschreitenden Zeit beziehen lassen, werden allerdings zusätzlich mit der stabilen Autorität Jupiters (»Jovis Rath«) verknüpft. Im Kontrast zur vorausgehenden Strophe erscheint somit im Bild dieser Gesetzmäßigkeit der Zeit und des Tages eine Tageswirklichkeit, die für ein anzuerkennendes, da unabänderliches Realitätsprinzip steht. Die Anerkennung dieses Realitätsprinzips hat folgende Konsequenzen: Zunächst erzwingt sie den endgültigen Abschied von der Tochter als einer, die nicht mehr im Präsens sichtbar oder unsichtbar ›ist‹, sondern ›war‹. Solange dieses Realitätsprinzip gilt, können die beiden Sphären des Tages und der Nacht weder einander durchdringen noch nebeneinander bestehen; die eine schließt die andere aus; beide lösen sich voneinander ab. Im Bild eines Gottes, der sein olympisches Glück und seine unbewölkte Heiterkeit gerade in der Abwendung vom Reich der Schatten und der Finsternis bewahrt, wird die als Objektivität anzuerkennende Tageswirklichkeit, die auf der strengen Trennung der Bereiche des Lichts und des Schattens besteht, allerdings dann auch in ihrer Indifferenz und Unempfindlichkeit kritisiert. Diese Andeutung einer kritischen Perspektive auf die Tageswirklichkeit der Realität wirft 17

Ebd. (Vs. 61-66).

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zumindest implizit die Frage auf, ob es neben der Unterwerfung unter dieses Realitätsprinzip noch ein anderes Verhältnis zum Tod, zum Verlust und zu einer entseelten, entzauberten Natur geben kann. Muß die Göttin den Tod der Tochter angesichts einer einsinnig voranschreitenden Zeit als unumkehrbar anerkennen, so stellt sie sich zuletzt allerdings auch das Ende dieser Zeit vor18: Einmal in die Nacht gerissen Bleibt sie ewig mir geraubt, Bis des dunkeln Stromes Welle Von Aurorens Farben glüht, Iris mitten durch die Hölle Ihren schönen Bogen zieht.

Die Göttin akzeptiert die Realität des Todes ihrer Tochter nur, indem sie die Tagesrealität relativiert und eine andere Zeitrechnung vom Ende der Zeit heraufbeschwört. Sie malt sich allerdings nicht die tatsächliche Wiederauferstehung der Geliebten am Ende der Zeit aus (wie dies zum Beispiel, ganz dem christlich-heilsgeschichtlichen Schema folgend, in Klopstocks An Fanny geschieht), sondern allein die Szene der Erfüllung ihrer Sehnsucht. Auch wird die Szene nicht einfach taghell und klar erleuchtet, sondern bunt. Die Farben erscheinen im Wasser gebrochen. Die Unterwelt wird nicht in eine Oberwelt transformiert, sondern die strenge Trennung zwischen den beiden Bereichen wird aufgehoben. Wichtig erscheint dies vor allem auch im Hinblick auf die zuvor kritisierte kalte, helle Tageswirklichkeit, die in dieser Vorstellung genau wie die düstere Unterwelt ganz entschieden verbessert wird. Doch letztlich gilt es festzuhalten, so tröstlich diese Vision sein mag: Sie wird nicht eigentlich in der Zukunft angesiedelt, sondern aus der weltlichen Zeitrechnung heraus auf eine »ewige« Zukunft aufgeschoben. Dem zweiten Teil der Klage der Ceres, in dem es um den graduellen Selbstfindungsprozess der Ceres als Künstlerin geht, sei folgende Beobachtung vorausgeschickt: Während die erste Gedichthälfte auf der strengen Trennung zwischen Tag und Nacht, zwischen Unter- und Oberwelt, Gegenwart und Vergangenheit, Lebenden und Toten als der einzigen Wirklichkeit beharrt und jede Vermischung der beiden Sphären als müßigen Wunschtraum oder in unendliche Ferne gerückte Endzeiterwartung kennzeichnet, setzt sich der zweite Teil des Gedichts eben diese Vermischung zum Ziel. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß der zweite Teil die Begegnung der beiden Sphären nicht mehr wie der erste im Bereich des Imaginären, d. h. im ›Kopfkino‹ der halluzinatorischen Wunschbefriedigung, sondern im Bereich von sprachlicher Vermittlung und Symbolisierungsprozessen ansiedelt. Anders gesagt, was im ersten Teil nur müßiger Wunschtraum oder illusorische religiöse Hoffnung ist, wird im zweiten durch die Sprache im Bereich der Kunst 18

Ebd., 280 f. (Vs. 67-72).

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Wirklichkeit. Erst nachdem im ersten Teil die Tatsache akzeptiert ist, daß es diese Vermischung der beiden Bereiche in der Welt der naturgesetzlich bestimmten Lebensprozesse nicht gibt, kann in der Welt der Symbolisierungsprozesse und der Schönheit genau ein solches Zusammenspiel der beiden geschiedenen Bereiche gesucht werden. Zu fragen bleibt, was genauer mit der Sprache gemeint ist, in der die Göttin das Pfand des Bündnisses zwischen Lebenden und Toten sucht. Was heißt es, daß das Sprachverständnis der sich letztlich als Künstlerin entpuppenden Göttin in der Kunst des Ackerbaus geschenkt oder entdeckt wird? Während in der Einleitungsstrophe die Projektion von Hoffnungen und Wünschen auf die sich wieder belebende Frühlingslandschaft als Illusion entlarvt wird, geht es nun nicht um die einfach vorgefundene, sondern um die kultivierte Natur: Die Göttin senkt das goldene Samenkorn in die Erde, damit daraus eine Sprache entstehe. Die Kunst des Ackerbaus, die den Jahresrhythmus nutzbar zu machen versteht, erscheint in der achten Strophe als Technik der Temporalisierung. Sie erst ermöglicht es, die zuvor sistierten Gegensätze von Anwesenheit und Abwesenheit, Leben und Tod, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in sich gegenseitig voraussetzende und bedingende Stadien oder Phasen eines kontinuierlichen Verwandlungs- und Wachstumsprozesses zu transformieren. Auch die anschließende neunte Strophe, die das durch die Frühlingswärme hervorgerufene Keimen der Saat beschreibt, muß im Kontrast mit der Einleitungsstrophe des Gedichts gelesen werden. Die Bildlichkeit des sich in den tauenden Flüssen spiegelnden, unbewölkten Zeus aus der ersten Strophe steht im Kontrast zu der »Sonne Lebensblick«, der Unsichtbares, scheinbar Totes (»Keime, die dem Auge starben«) zum Leben erweckt.19 Ziel der Keime ist dabei nicht einfach das Licht, sondern das »Reich der Farben«,20 das wie gezeigt in diesem Gedicht als eine Brechung des Lichts und als Vermischung der beiden Reiche der Unter- und der Oberwelt verstanden wird. So schließt diese Strophe denn auch gemäß einer Logik, die auf das Zusammenspiel der beiden Bereiche setzt, mit einem Hinweis auf die notwendige Kooperation von Styx und Äther. Während die neunte Strophe das Aufkeimen der Saat als Zusammenarbeit von Licht- und Schattenwelt behandelt, beschreibt die anschließende zehnte Strophe die Semiotisierung dieses Prozesses. Wichtig scheint, daß die Göttin hier, im Kontrast zur Einleitungsstrophe, die Keime weder als indexikalische Zeichen auffaßt, die etwas Bevorstehendes ankündigen, noch als Emblem der Regenerationsfähigkeit der Natur. Statt dessen hört die Göttin in den Sprossen Stimmen, die ihr von der andauernden Liebe ihrer Tochter künden. Die Dominanz der Semantik des visuellen Bereichs ist für diese Strophe unterbrochen. Erst in einer als Rede aufgefaßten Sprache wird es der Göttin möglich, die Botschaft aus einem anderen Reich zu verneh19 20

Ebd., 281 (Vs. 100 f.). Ebd. (Vs. 103).

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men. Anders gesagt, Sprache als Rede macht den anderen nicht präsent, doch sie läßt ihn als anderen vernehmen. Als sei es ihr gelungen, durch dieses Sprachverständnis ihre Trauerarbeit zum Abschluß zu bringen, kann Ceres dann auch in der letzten Strophe die aufkeimenden Frühlingsblumen als »Kinder der verjüngten Au«21 begrüßen. Die aufkeimende Frühlingsnatur ist nun nicht mehr bloß ein Zeichen, in dem die Göttin Abwesenheit liest, ein Zeichen, das sie letztlich aber auf Tod und Vergangenheit verweist; vielmehr kann sie sich jetzt dieser Natur auch um ihrer selbst willen zuwenden und in sie Liebe investieren. Die semantischen Register der mütterlichen Sorge, der Gärtnerei und der Kunst werden miteinander vermischt, wenn die Zuwendung der Göttin als kostbare, reiche Nahrung und Erfrischung der Blumen in einem Farbenbad aus Tau und Licht beschrieben wird. Die mythopoetische Dimension dieser künstlerischen Verausgabung erscheint in den abschließenden Versen, wenn die sich erneuernde Schönheit der Natur als Zeugnis des Schmerzes und der Lust der Göttin markiert wird und das Gedicht sich so als Ätiologie des Ceresmythos ausgibt. Während die Natur sich am Anfang des Gedichts als radikal indifferent und entzaubert gezeigt hat, wird sie am Ende des Gedichts zu einer mythenbesetzen Natur. Schiller geht es hier allerdings nicht um ein Programm der Remythologisierung, um die Rückgängigmachung von moderner Wissenschaftsgeschichte und Aufklärung, sondern darum, daß eine mythenbesetzte Natur für eine die Sinneswahrnehmung des Einzelphänomens steigernde, nämlich durch die Künste kultivierte Natur steht. Das Regenbogenmotiv der farbigen Brechung des Lichts im Wasser setzt die idealisierende Dimension der Kunst als Alternative zur eschatologischen Endzeiterwartung. Dabei scheint es wichtig, daß Kunst erst dann diese Funktion übernehmen kann, wenn sie ihre grundlegende Unterschiedenheit von Naturgesetzlichkeit und Tageswirklichkeit sowie von müßigen Wunschbildern und Träumen akzeptiert. Gleich eingangs zwingt die Oreade die Göttin, davon abzusehen, ihre eigenen Wünsche auf die Natur zu projizieren. Ceres wird erst zum sprechenden Subjekt, nachdem sie die Natur als radikal entzaubert erfahren hat. Die Verzauberung der Natur am Ende des Gedichts ist reines Kunstprodukt. Denn darauf läuft die zweiphasige Trauerarbeit der Göttin hinaus, wenn sie darin besteht, zunächst die radikale Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren und dann ein auf diese Einsicht gegründetes Sprachverständnis zu entwickeln, das in der Sprache eine Technik der Verzeitlichung und damit der Vermittlung zwischen der Welt des Todes, der Vergangenheit und der Unsichtbarkeit einerseits und der der Lebens- und Tagesrealität andererseits sieht. Der Bereich der Sprache ist allerdings nicht automatisch als Kunst zu verstehen. Kunst bedarf eines zusätzlichen Prozesses, der im Gedicht als die farbige Ausgestaltung der Blüten gekennzeichnet wird. Dieses Bild betont zweierlei: Erstens hebt es einen zusätzlichen Prozeß der Differenzierung hervor, der gerade die Vermischung der beiden Bereiche, des Schattens und des Lichts, intensiviert 21

Ebd., 282 (Vs. 122).

Entzauberte Natur und Tod in Schillers ›Klage der Ceres‹

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und damit zu einer Wahrnehmungssteigerung führt; zweitens markiert es einen Prozeß der Spezifizierung und Aneignung, in dem in der aufblühenden und verwelkenden Blumenschönheit das Schicksal der Göttin Ceres als Künstlerin, ihre Lust und ihr Schmerz für jeden lesbar werden. Kunst operiert mit Zeichen, die ein emphatisches Verhältnis zu ihrem Zeichencharakter haben. Abschließend nur kurz folgende Beobachtungen: Noch weitere Gedichte Schillers behandeln ästhetische Fragestellungen innerhalb einer Todesthematik. So gehört zu diesem Themenkomplex auch Das Ideal und das Leben, das ebenfalls auf den Ceresmythos Bezug nimmt und ursprünglich Das Reich der Schatten betitelt war. Obwohl mit dem Reich der Schatten die Welt des ›schönen Scheins‹ und gerade nicht die Welt der Toten gemeint sein soll, ist doch bemerkenswert, daß auch in diesem Gedicht eingangs der Anlaß, diese Welt der Schönheit in einer Abkehr von der Welt der Körper und der Welt des Todes aufzusuchen, in Bezug auf den Proserpina-Mythos formuliert wird22: Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen, Frey seyn in des Todes Reichen, Brechet nicht von seines Gartens Frucht. An dem Scheine mag der Blick sich weiden, Des Genußes wandelbare Freuden Rächet schleunig der Begierde Flucht. Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet, Wehrt die Rückkehr Ceres Tochter nicht, Nach dem Apfel greift sie und es bindet Ewig sie des Orkus Pflicht.

Die Welt des Scheins und damit der Kunst wird hier in doppelter Hinsicht gekennzeichnet; einerseits beschreibt Schiller die ästhetische Kontemplation, den Zustand des ›interesselosen Wohlgefallens‹ als einen Bereich der Triebsublimation, in dem das flüchtige Begehren stabilisiert wird. Der Trieb wird nicht direkt, sondern nur in einer Abwandlung des Ziels ›befriedigt‹, und zwar als Blick, für den die wirkliche Existenz des Objekts ohne Belang ist. Die direkte Triebbefriedigung des »Genußes« dagegen führt zur Abhängigkeit von einem nicht einholbaren, sich verflüchtigenden Begehren. Im Rekurs auf den Proserpina-Mythos formuliert Schiller in diesem Gedicht zwei Möglichkeiten, mit dem Tod umzugehen. In der einen, vergleichbar dem Zustand, in dem sich Proserpina befindet, als Pluto sie zwar entführt hat, doch bevor sie vom Granatapfel gekostet hat, kann die Macht des Todes durch die der Kunst relativiert werden; die andere, die erscheint, nachdem Proserpina ihrem sexuellen Begehren nachgegeben hat, wird mit endgültiger Todesverfallenheit gleichgesetzt. Wie auch in der Klage der Ceres erscheint im Reich der Schatten die Welt der Kunst und des Scheins als Alternative zu einer Welt des Todes wie zur indifferenten 22

Ebd., 247 (Vs. 21-30).

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Tageswirklichkeit. Doch während im Reich der Schatten die triebsublimierende, befreiende Wirkung der Kunst und des Scheins auf das betrachtende Subjekt des Rezipienten von Kunst im Mittelpunkt steht, konzentriert sich die Klage der Ceres auf die Herstellung genau dieser künstlerischen Welt des Scheins und der Schönheit. Zwar wird immer wieder gerade die künstlerische Arbeit selbst als Triebsublimation beschrieben, doch bei Schiller, zumindest in dem hier analysierten Gedicht, ist dies nicht der Fall. In der Klage der Ceres wählt Schiller die Trauer um den geliebten anderen als Modell für die Herstellung von Kunst. Wichtig erscheint mir in diesem Kontext, daß Schiller Trauer und Trauerarbeit ganz entschieden von der Melancholie abzutrennen weiß, indem er keine sterbliche Mutter, sondern eine Göttin als Protagonistin wählt. Das heißt nicht nur, daß der barocke Verweisungszusammenhang der vanitas und des memento mori abgeschnitten ist, sondern auch, daß die narzißtische Bedrohung, die gerade beim Tod der geliebten Person besonders groß ist, ausgeklammert wird. Die unsterbliche Ceres kann die Art von Trauerarbeit leisten, die Freud im Gegensatz zur Melancholie als erfolgreich gilt.23 Das Gedicht zeigt uns, wie Ceres letztlich die affektive Besetzung vom verlorenen geliebten Objekt zurückzuziehen, also den endgültigen Verlust ihrer Tochter zu akzeptieren vermag und die Liebe, die dieser galt, auf ein neues Objekt übertragen kann. Anders gesagt, und hierin liegt der theoretische Zugewinn dieses Gedichts im Hinblick auf Schillers ästhetische Theorie, ein beliebiges Objekt wird zum ästhetischen Objekt, wenn es in seiner Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit wie eine geliebte Person wahrnehmbar wird. Die Einzigartigkeit des ästhetischen Objekts rührt nach diesem Gedicht somit von der Übertragung einer ganz spezifischen affektiven Besetzung her. Dabei äußert sich die Liebe, die dem neuen Objekt geschenkt wird, als dessen Verschönerung. Indem die Göttin es nährend in Farben badet, wird es differenzierter wahrnehmbar. Wenn künstlerische Produktion in Analogie nicht, wie beim jungen Goethe, zu Liebe und erotischem Begehren, sondern zur erfolgreich geleisteten Trauerarbeit gesetzt wird, so betont Schiller auch, daß das neue Objekt, das Kunstprodukt keine imaginäre Verkörperung des Verlorenen und auch kein halluzinatorischer Ersatz sein kann. Im Gegenteil: Der ursprüngliche Verlust und die Erfahrung der radikalen Endlichkeit, die auch in einer Erfahrung der Trennung des Subjekts von der Natur und ihrer Regenerationsfähigkeit liegt, gilt als Voraussetzung für dieses Modell ästhetisch-poetischer Produktion.

Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie [1917], in: Studienausgabe III, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt a. M. 1975, 197-212. 23

Natur und Unnatur in Schillers Dramatik Von Klaus-Detlef Müller

»Ich habe grosse Rechte, gegen die Natur ungehalten zu seyn, und bey meiner Ehre! Ich will sie geltend machen.«1 Als Zweitgeborener vom Recht auf Herrschaft ausgeschlossen, durch seine groteske Häßlichkeit2 ohne die Möglichkeit, Liebe zu wecken, und vom Vater mißachtet, empört sich Franz Moor im Namen naturrechtlicher Gleichheit gegen seine Benachteiligung, freilich mit dem tyrannischen Anspruch, »Herr« sein zu wollen.3 Das impliziert die Aufkündigung »gewisser gemeinschaftlicher Pakta«,4 die im Gewissen internalisiert sind und zu denen der Grundsatz der ›Blutliebe‹ zählt: Vater und Bruder sind ihm im Wege. Er muß sie beseitigen, und er bedient sich dabei eines ›natürlichen‹ Mittels, inszeniert den Vatermord als perfektes Verbrechen5: »Ich möcht ihn nicht gern getödtet, aber abgelebt. Ich möcht es machen wie der gescheide Arzt, (nur umgekehrt.) – Nicht der Natur durch einen Queerstrich den Weg verrannt, sondern sie in ihrem eigenen Gange befördert.« Er hat gleichsam Schillers Dissertation Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen mit Verstand gelesen oder kennt zumindest deren Gewährsleute (Platner, Sulzer) und kann sie instrumentalisieren, um »den Körper vom Geist aus zu verderben«.6 Das Kalkül geht auf, indem Vater und Bruder zu Marionetten von Franz’ ›Entwürfen‹ werden: Aus Verzweiflung über die angebliche Verweigerung der väterlichen Verzeihung wird Karl, was Franz Die Räuber und alle anderen Werke Schillers werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goetheund Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Hier: NA III, 18. 2 Physiognomische Häßlichkeit ist für den jungen Schiller nicht eine beklagenswerte Ungunst der Natur, sondern Indiz eines moralischen Defekts: »Je mehr sich der Geist vom Ebenbild der Gottheit entfernet, desto näher scheint auch die äussere Bildung dem Viehe zu kommen« (Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, NA XX, 68). Die Mißgestalt von Franz Moor ist auf diese Weise nicht zu begründen: In seiner Selbstrezension läßt Schiller die Frage offen: »Unserm Jüngling, aufgewachsen im Kreis einer friedlichen, schuldlosen Familie – woher kam ihm eine so herzverderbliche Philosophie? Der Dichter läßt uns diese Frage ganz unbeantwortet« (NA XXII, 121 f.). 3 NA III, 20. 4 Ebd., 19. 5 Ebd., 38. 6 Ebd., 39. »Geistiger Schmerz untergräbt das Wohl der Maschine«, heißt es im Versuch über den Zusammenhang (NA XX, 59). Vgl. hierzu auch Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewußte – Die Inversionen des Franz Moor, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 37 (1993), 198-220; Hans Richard Brittnacher: Die Räuber, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1998, 326-353. 1

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dem Vater prophezeit hatte, Räuber.7 Und der Schreck über den angeblichen Tod Karls raubt dem alten Moor die Lebenskraft. Aber zum Vater- und Brudermörder wird Franz dann doch nur indirekt, insofern Karl vollbringt, was er geplant hat, gleichsam ein unfreiwilliges Werkzeug des Bruders: Der alte Moor stirbt erst, als er in Karl den Räuber erkennt, Franz bringt sich um, als die Häscher Karls erscheinen, und Amalia zwingt den Geliebten, sie zu töten, als er die Ansprüche der Bande nicht verweigern kann. Franz hat aber die Natur für seine Zwecke perfekt instrumentalisiert, ohne freilich sein Ziel zu erreichen. Für Karl ist das teuflische Kalkül des Bruders vernichtende Wahrheit. Es führt ihn nicht nur in die von Franz’ Alter ego Spiegelberg ersonnene Räuberexistenz, sondern es zerstört vor allem sein Grundvertrauen in die Weltordnung als eine göttliche Vaterordnung: Ihm wird »Blutliebe zur Verrätherinn, […] Vaterliebe zur Megäre«.8 Er wird zum gefallenen Engel, zum »heulenden Abbadona«9: – »die ganze Welt Ei ne Familie und ein Vater dort oben – M e i n Vater nicht.« Die Zurückweisung des reuigen Sohns durch den stets als gütig erfahrenen Vater ist für ihn Unnatur, und er hat damit sogar Recht, denn sie ist ja eine Fiktion des heimtückischen Bruders. Sie führt aber dazu, daß »die Privaterbitterung gegen den unzärtlichen Vater in einen Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht [auswütet]«.10 Die hier noch als Natur verstandene dreistufige Vaterordnung (Familienvater – Landesvater – Gottvater) hat in der Naturrechtsdiskussion des 18. Jahrhunderts längst ihre Verbindlichkeit verloren.11 Sie ist aber für das Drama als Vorstellung noch präsent,12 auch wenn sie nicht mehr realitätsgerecht ist: Der alte Moor ist zwar, wie Franz und Daniel bezeugen,13 ein gütiger Landesvater, aber er war lieblos gegen Franz und hat es gegenüber beiden Söhnen an der von seiner Rolle geforderten Autorität fehlen »Vielleicht Vater erlebet ihr noch die Freude, ihn an der Fronte eines Heeres zu erblicken, das in der heiligen Stille der Wälder residiret, und dem müden Wanderer seine Reise um die Hälfte der Bürde erleichtert« (NA III, 14). 8 Ebd., 31. 9 Ebd., 79. 10 NA XXII, 120 (Schillers Selbstrezension zu den Räubern). Zum Zusammenhang von Schillers universalistischer Liebesphilosophie mit diesem Universalhaß vgl. Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses – ›Die Räuber‹ im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I), in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81), 71-95. 11 Vgl. hierzu Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit – Der Patriarchalismus und das Drama des 18. Jahrhunderts, München 1984, 26-58, und Dieter Borchmeyer: Die Tragödie vom verlorenen Vater: Der Dramatiker Schiller und die Aufklärung – Das Beispiel der ›Räuber‹, in: Friedrich Schiller: Angebot und Diskurs – Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft, hg. von Helmut Brandt, Berlin/Weimar 1987, 161-184. 12 Daß Schiller mit einem solchen Verständnis der Vaterordnung sozialisiert wurde, hat Friedrich A. Kittler nachgewiesen: Carlos als Carlsschüler – Ein Familiengemälde in einem fürstlichen Hause, in: Unser Commercium – Goethes und Schillers Literaturpolitik, hg. von Wilfried Barner, Eberhard Lämmert und Norbert Oellers, Stuttgart 1984, 241-273. Schiller bestätigt das in seiner Ankündigung der Rheinischen Thalia (vgl. NA XXII, 93 f.). 13 Vgl. NA III, 52, 116. 7

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lassen. Nicht »zärtlich und schwach«, sondern »klagend und kindisch«,14 ist er ein hilfloses Werkzeug des bösen Sohns, der nicht einmal viel Verstand aufbringen muß, um ihn nach Belieben zu manipulieren. Wenn Karl die Vaterordnung als Natur und ihre Störung als Unnatur versteht, dann ist das ein realitätsfernes Wunschbild, das seine objektive Funktion vor allem darin hat, die im Wissen um die physische Natur des Menschen begründeten Schurkereien des Bruders im Hinblick auf die ethische Bestimmung der Menschennatur meßbar zu machen. In diesem Sinne bekennt sich Schiller dazu, »überzeugt zu sein, daß der Zustand des moralischen Übels im Gemüt eines Menschen ein schlechterdings gewaltsamer Zustand sei, welchen zu erreichen zuvörderst das Gleichgewicht der ganzen geistigen Organisation […] aufgehoben sein muß, so wie das ganze System der tierischen Haushaltung […] durcheinander geworfen sein [muß], eh die Natur einem Fieber oder Konvulsionen Raum gibt«.15 So gesehen ist Franz »das lebendige Konterfey« eines »Mißmenschen«, in dessen Darstellung »die Natur getroffen« ist.16 Es ist die ›gemischte Natur‹ des Menschen, die Natur und Unnatur gleichermaßen wirksam sein läßt. Obwohl Schiller zu sehr vom aufklärerischen Denken bestimmt ist, um die Vaterordnung im weiteren oder auch nur im engen Sinne einfach als natürlich zu verstehen, und obwohl er die falsche Anmaßung des absolutistischen Patriarchalismus nur zu genau kennt, ist die gestörte Vaterwelt in seinen Dramen toposhaft Sinnbild für die Verfehlung der menschlichen Bestimmung und damit für die Unnatur in der geschichtlichen Welt – nicht naturwidrig, aber Indiz einer moralischen Verfehlung. Der schurkische Vater Ferdinands, der korrupte Landesvater und selbst der tyrannische Vater Miller in Kabale und Liebe sind Verursacher einer tragischen Konstellation. In Don Carlos ist die natürliche Beziehung von Vater und Sohn durch den Zwang der politischen Rollen (König und Infant) von vornherein pervertiert: Philipp ist unfähig zu väterlichen Gefühlen für einen Sohn, der ihm als Siebenjähriger zum ersten Mal begegnet und in dem er nur den Rivalen um den Thron und dann auch um die Königin, die Carlos versprochen war, sehen kann. Der Despot kann nicht Vater sein. Und Max Piccolomini muß sich in der Wallenstein-Trilogie von seinen beiden Vätern, von dem natürlichen Vater Octavio Piccolomini und dem Übervater Wallenstein, lossagen, um seine Integrität zu wahren – um den Preis des Todes. Sein Untergang spricht der Welt der Entfremdung und der Unnatur das Urteil. Das sind drei Beispiele für das signifizierende Potential der Vaterordnung, deren tatsächliche Geltung Schiller nicht behauptet, die er aber als Kriterium des Falschen bewahrt. Neben der physischen, genauer physiologischen, und der moralischen Dimension hat der für das literarische Werk bestimmende Naturbegriff Schillers noch 14 15 16

NA XXII, 128 (Selbstrezension). Ebd., 121. NA III, 6.

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eine dritte semantische Ebene, die zwar in den ersten beiden begründet ist, aber eine eigene Qualität und Reichweite hat und mit ihrem ästhetischen Potential für die dramatische Produktion fruchtbar wird: die geschichtsphilosophische. In dieser Perspektive ist der unvollkommene oder sogar schlechte Gebrauch, den die Menschheit von ihren Möglichkeiten, von Vernunft und Willensfreiheit, gemacht hat, am Maßstab der »reinen Natur«17 objektivierbar und kritisierbar. Das rechtfertigt sogar vorübergehend die Täuschung, »daß wir das Prärogativ unserer Vernunft für einen Fluch und für ein Uebel halten, und über dem lebhaften Gefühl der Unvollkommenheit unseres wirklichen Leistens die Gerechtigkeit gegen unsere Anlage und Bestimmung aus den Augen setzen«.18 In Wahrheit ist aber der Sündenfall, die Verstoßung aus der Natur, für Schiller »ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschheitsgeschichte«.19 Daraus folgt die Notwendigkeit, daß der Mensch sich »allen Ü b e l n der Kultur […] mit freyer Resignation […] unterwerfen«, zugleich aber »das B ö s e derselben […] beklagen« muß.20 »Die N a t u r w i d r i g ke i t unsrer Verhältnisse, Zustände und Sitten«21 wird so zum Gegenstand des sentimentalischen Bewußtseins und damit der Dichtung, die sich der »moralischen und ästhetischen Verderbniß« widersetzt und die Dichter zu »R ä c h e r [ n ] der Natur« bestimmt.22 Zwar ist die ursprüngliche »Einfalt der Natur«23 durch den unvermeidlichen und unaufhebbaren Prozeß der Kultur verloren, aber sie wird nun zur regulativen Idee24: »unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zurückführen«. Das geschichtsphilosophische Konzept der Menschheitsgeschichte, das die Gattung auf höherer, reflektierter Stufe zur verlorenen Harmonie zurückführen soll, wird in der Jungfrau von Orleans exemplarisch in die Geschichte überführt. Dabei ist konsequenterweise »das historische überwunden, und doch […] in seinem möglichsten Umfang benutzt«,25 d. h. das historische Drama ist ins geschichtsphilosophische Drama aufgehoben. Auch wenn damit legendenhafte Elemente stark ins Spiel kommen, ist die Gegenständlichkeit doch durchgängig und konsequent geschichtlich, wenn auch nicht historisch. Das Drama thematisiert den mittleren Zustand der Menschheitsgeschichte im triadischen Modell: die Phase der Entzweiung, des Verlustes der Harmonie. Dafür steht historisch der 100jährige Krieg zwischen England und Frankreich in seiner entscheidenden Phase, die durch das Auftreten Johanna 17 18 19

Über naive und sentimentalische Dichtung, NA XX, 427. Ebd. Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, NA XVII,

399 f. 20 21 22 23 24 25

Über naive und sentimentalische Dichtung, NA XX, 428. Ebd., 430. Ebd., 432. NA XXVIII, 44 (Brief an Wilhelm von Humboldt vom 7. September 1795). Über naive und sentimentalische Dichtung, NA XX, 414. NA XXX, 224 (Brief an Goethe vom 24. Dezember 1800).

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d’Arcs bezeichnet ist. Krieg ist hier die Zerstörung einer als noch natürwüchsig verstandenen Ordnung und ihres legitimen Königtums. Der Anspruch der landfremden Eroberer auf das französische Territorium erscheint als Unnatur, und diese wird noch einmal gesteigert durch die Entartung des Krieges zum Bürgerkrieg, der ja das Menetekel des frühneuzeitlichen staatspolitischen Denkens war.26 Daß Krieg und Bürgerkrieg als naturwidrig verstanden werden, wird sinnfällig in der Zerstörung der Familienbeziehungen. Der »Bruderzwist«27 zwischen dem Dauphin und dem Herzog von Burgund eskaliert zum Landesverrat,28 und die Königin Isabeau wütet barbarisch gegen ihren Sohn: Ihre »unnatürlich rohe Tat«29 wird selbst von deren Nutznießern, dem Herzog von Burgund und Talbot, verabscheut30: »Was Ihr am Dauphin tut, / Ist weder menschlich gut, noch göttlich recht.« In diesen Bereich der Geschichte tritt Johanna mit ihrer göttlichen Mission ein. Sie ist schon in ihrem ländlichen Lebensraum eine fremde Gestalt, die gleichsam »aus andern Zeiten [stammt]«.31 Für sie, die in ihrer (geschichtlichen) Zeit noch nicht angekommen ist, bedeutet die Sendung eine doppelte Fremdbestimmung, die von ihrer Umgebung auch wahrgenommen wird. Die Jungfrau in Waffen und auf dem Schlachtfeld, das Mädchen, das Liebe und Ehe verweigert, das sich dem Willen ihres Vaters, dem Gebot der Kirche und dem Wunsch ihres Königs im Hinblick auf die Erfüllung ihrer weiblichen Bestimmung widersetzt, wird als unnatürlich wahrgenommen. Und Unnatur sind dann vollends die Bedingungen ihrer Sendung: Liebesverbot und Tötungsgebot, also die Kodifizierungen der Verhaltensstereotypen, die auch bei ihrem segensreichen Wirken noch Befremden hervorrufen. Es versteht sich, daß der Vorwurf der Unnatur nicht auf Johanna zurückfällt. Ihre Sendung und das ihr aufgenötigte Verhalten sind bestimmt durch die Perversion der geschichtlichen Welt, und sie machen diese meßbar. Die Wiederherstellung der guten Ordnung in dem Reich, »das Gott liebt, wie den Apfel seines Auges«, die Wiedereinsetzung des Königs, »der nie stirbt«,32 die Versöhnung Burgunds mit dem Dauphin (unter Berufung auf die Natur),33 die Krönung Karls VII. und die Vertreibung der Engländer aus Frankreich erscheinen, je nach Standpunkt, als Wunder oder als Teufelswerk, auf jeden Fall aber gegen alle Wahrscheinlichkeit und bleiben

26 Vgl. hierzu Reinhart Koselleck: Kritik und Krise – Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, München 1959, hier besonders 11 ff. Koselleck begründet die Entstehung der frühneuzeitlichen Staatsphilosophie und ihres Vertragsdenkens aus der Situation des religiösen Bürgerkriegs. 27 NA IX, 245. 28 Vgl. ebd., 215 f. Auch die Königin Isabeau bestätigt das: »Nur Frankreich konnte Frankreich überwinden« (ebd., 218). 29 Ebd., 195. 30 Ebd., 220. Nicht von ungefähr erinnert die Selbstwahrnehmung Karls im Geschlecht der Valois an den Tantalidenfluch und die Orestie (vgl. ebd., 195 f.). 31 Ebd., 170. 32 Ebd., 178 f. 33 Vgl. ebd., 238.

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deshalb unheimlich, zumal Johanna sich beharrlich weigert, als Weib wahrgenommen und geliebt zu werden. In der Figur Johannas greift die heillose geschichtliche Welt auf eine noch vorgeschichtliche, arkadisch-natürliche Existenzform zurück, die durch sie erinnert wird.34 Sie wird durch Krieg und Bürgerkrieg zur Unnatur entfremdet. Schon Thibaut sieht in der Verweigerung des väterlichen Heiratsgebots »eine schwere Irrung der Natur«.35 Und als tötende Schlachtenjungfrau handelt sie zwar ihrer Sendung gemäß und situationsgerecht im Kontext der geschichtlichen Konstellation, aber fremdbestimmt und im Sinne der menschlichen Bestimmung unmoralisch. Auch wenn ihr friedenbringendes Handeln die Naturbestimmung erfüllt, ist die tötende Frau unnatürlich. Das wird eindeutig, wenn sie dem flehenden Montgomery gegenüber ihr Menschsein leugnen muß: »dieser Panzer deckt kein Herz«.36 Die geschichtliche Sendung darf aber in Schillers geschichtsphilosophischer Perspektive nicht das Opfer der Person notwendig machen. In einer umgekehrten Perspektive37 hat er in den Ästhetischen Briefen festgehalten, daß ein richtiges Verständnis der Natur nicht den Schluß erlaubt, »der Mensch [könne] dazu bestimmt seyn, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen«38. Johanna hat deshalb einen Anspruch auf ihr Herz, d. h. auf Innerlichkeit und auf Moralität, auf die »Vollkommenheit […], welche uns die Vernunft durch [ihre Zwecke] zuschreibt«.39 Bezeichnenderweise kündigen diese Zwecke sich zuerst in der Verkehrtheit, also unter dem Gesetz der geschichtlichen Welt, an. Das scheint mir der Sinn der Begegnung mit dem Schwarzen Ritter zu sein. Johanna begegnet ihm außerhalb des Schlachtfelds, also losgelöst von ihrer Mission, und sie verfolgt ihn »wutentbrannt«40 und mit Haß, also bestimmt von Emotion und aus subjektivem Antrieb. Und so, auf problematische Weise zu sich selbst gekommen, wird sie in der Begegnung mit Lionel zur Liebenden, zur von ihrem Herzen bestimmten Frau. In der damit verbundenen doppelten 34 Zum Zusammenhang mit Schillers Idyllentheorie vgl. besonders Gert Sautermeister: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers – Zum geschichtlichen Ort seiner klassischen Dramen, Stuttgart u. a. 1971; Gerhard Kaiser: Johannas Sendung – Eine These zur ›Jungfrau von Orleans‹, in: Ders.: Von Arkadien nach Elysium – Schillerstudien, Göttingen 1978, 104-136. Der direkten Zuordnung zur Idyllentheorie hat schon Norbert Oellers widersprochen: Norbert Oellers: »Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war.« – Zu Schillers Tragödie ›Die Jungfrau von Orleans’, in: Brandt (Hg.): Friedrich Schiller [Anm. 11], 299-310, hier 303 ff. Dem folgen die meisten neueren Interpretationen. 35 NA IX, 169. 36 Ebd., 229. 37 Es geht in den Ästhetischen Briefen darum, daß die notwendige Vereinseitigung der Menschen durch den Prozeß der Arbeitsteilung nicht zu einem Verlust des Anspruchs auf Totalität als dem Anspruch der menschlichen Bestimmung führen darf. Es scheint mir nicht unzulässig, diesen Denkansatz auf die anders begründete Instrumentalisierung Johannas zu übertragen. 38 Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, NA XX, 328 (Sechster Brief). 39 Ebd. 40 NA IX, 261.

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Verletzung von Tötungsgebot und Liebesverbot erfährt sie sich als selbstentfremdet, tritt sie als Person in die geschichtliche Welt ein und vollzieht im Verlust der naiven Unschuld den Prozeß der Menschheitsgeschichte. Die aufgehobene Fremdbestimmung durch die Sendung endet also in der Selbstentfremdung als der die Welt bestimmenden Unnatur. Damit wird das Drama zur Tragödie. Denn der Versuch einer Selbstrechtfertigung erweist sich als Selbstbetrug, den Johanna freilich sofort durchschaut. Nicht aus Mitleid, also aus Menschlichkeit, hat sie Lionel verschont (»Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war? / Ist Mitleid Sünde?«),41 sondern bestimmt von Menschsein, aus Liebe. Wenn sie im Widerspruch zu ihrer Sendung, als Subjekt und Person, den einen verschont, dann hat sie alle, die sie zuvor getötet hat, ermordet, ist also im moralischen Sinne eine Schuldige. Rechtfertigen kann sie sich nun nur noch in einer erhabenen Handlung, in der Unterwerfung unter eine sie vernichtende ungerechtfertigte Schuldzuweisung, die ausgerechnet von ihrem Vater formuliert wird, also aus der durch die Sendung begründeten Verletzung der Vaterordnung hervorgeht. So konsequent von der Geschichtsphilosophie bestimmt wie die Jungfrau von Orleans ist kein anderes der Schillerschen Dramen und keines seiner Dramenprojekte. Im Wilhelm Tell, der gern zum Vergleich herangezogen wird,42 sind die Mängel der geschichtlichen Welt nicht die zwangsläufigen und letztlich unaufhebbaren Wunden der Kultur, sondern ein historischer Fall, konkret ein Fall von (verweigertem) Recht. Daß »ein schwaches Volk der Hirten« es wagt, »in Kampf zu gehen mit dem Herrn der Welt«,43 dem Kaiser, findet seine Rechtfertigung in der Art der Schweizer Staatwerdung, wie Stauffacher sie in der Ursprungslegende auf dem Rütli erinnert44: Die Vorfahren haben das Land einer wilden und gefährlichen Natur abgerungen, haben eine menschenleere Wildnis mühevoll kultiviert und ihre Freiheit durch Leistung begründet und niemals »fremdes Joch«45 getragen. Die Schweizer Freiheit ist, wie es dann auch Tell im gleichen Legendenton seinem Sohn erklärt, das Korrelat einer harten Natur, gegen die sich der Mensch behaupten muß, und zwar nicht ein- für allemal, sondern immer wieder. Angesichts der Bedrohlichkeit der Gletscher und Lawinen erscheint das flache Land paradiesisch »wie ein Garten«,46 aber seine Kehrseite ist die ganz und gar unidyllische Gesellschaftsstruktur der Eigentumsordnung, die Unfreiheit der Bewohner. Daß Freiheit zum Prinzip nationaler Identität werden konnte, ist in der Permanenz der SelbstbehaupEbd., 269. Schiller stellt den Bezug selbst her, wenn er im Brief an Körner vom 17. März 1802 die Entscheidung zur Beschäftigung mit dem Tell-Stoff statt der Weiterarbeit am Warbeck damit begründet, daß er dieses Sujet »getrost auf die Jungfrau von Orleans […] folgen laßen« könne (NA XXXI, 119). 43 NA X, 145. 44 Ebd., 181 ff. 45 Ebd., 183. 46 Ebd., 207. 41 42

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tung gegen die Natur begründet, die immer wieder erinnert und in den Unwittern auf dem See auch aktualisiert wird. Symptomatisch sind auch die Lebensbedingungen von Armgarts Mann, dem armen Wildheuer, dessen »elend und erbärmlich Leben« schon als solches »Strafe« ist.47 Mit gutem Grund wird das unmittelbar vor Tells Schuß auf Geßler erinnert. Die Eigenart des Stoffes sieht Schiller von Anfang an in der Zweigliedrigkeit von einerseits der »Staatsaction« und andererseits »Mährchen mit dem Hut und Apfel«,48 aber gerade daraus entwickelt er sein dramatisches Konzept49: »So […] steht der Tell selbst ziemlich für sich in dem Stück, seine Sache ist eine Privatsache, und bleibt es, bis sie am Schluss mit der öffentlichen Sache zusammengreift.« Die öffentliche Sache, die Staatsaktion, ist der naturrechtlich und menschenrechtlich50 begründete Kampf der Schweizer Urkantone um ihre Freiheitsgarantien, »um Freiheit als Ermöglichungsgrund von Menschheit und Bedingung der Menschennatur«.51 Es ist das geschichtsspezifische Moment des Machtanspruchs und Herrschaftsverlangens, das den Kaiser, weil er zugleich König von Österreich ist, dazu bestimmt, den Schweizern ihre Freiheitsbriefe zu verweigern,52 weil das kleine Land ihm die »Länderkette«53 seines Herrschaftsbereichs unterbricht. Konkret bedeutet das Rechtlosigkeit des Volkes gegenüber der Willkür der Landvögte, die sich exemplarisch in den Gewaltakten Wolfenschießens (versuchte Vergewaltigung von Baumgartens Frau) und Landenbergers (Blendung von Melchthals Vater als Rache für den Widerstand gegen eine gewaltsame Enteignung), aber auch in Geßlers Drohung gegenüber Stauffacher äußert54: »Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt, / Und will nicht, daß der Bauer Häuser baue / Auf seine eigne Hand, und also frey / Hinleb’, als ob er Herr wär in dem Lande, / Ich werd’ mich unterstehn, euch das zu wehren.« Im Rütli-Bund organisiert sich daraufhin das Volk zum Widerstand gegen die Verweigerung des Rechts, wobei diese zentrale Szene vor allem die kollektive Selbstvergewisserung über die Grundlagen der Schweizer Freiheit Ebd., 251. NA XXXI, 160 (Brief an Körner vom 9. September 1802). 49 NA XXXII, 89 (Brief an Iffland vom 5. Dezember 1803). 50 Vgl. hierzu grundlegend Maria Carolina Foi: Schillers ›Wilhelm Tell‹ – Menschenrechte, Menschenwürde und die Würde der Frauen, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), 193-224. Ähnlich auch Peter-André Alt: Schiller: Leben – Werk – Zeit I, München 2000, 572-580. Foi verweist insbesondere auf einen Nachlaßtext Schillers, in dem das Naturrecht neu begründet wird. Es läßt sich nicht aus Vernunft deduzieren, sondern muß der menschlichen Natur Rechnung tragen: »Der Mensch ist mächtig, gewaltsam, er ist listig und kann geistreich seyn lang eh er vernünftig wird. Aus dieser seiner Natur und nicht aus seiner vernünftigen müßte das Naturrecht und die Politik deduciert werden, wenn durch sie das Leben erklärt werden, und wenn sie einen wirksamen Einfluß aufs Leben haben sollten« (NA XXI, 90). 51 Gerhard Kaiser: Idylle und Revolution in ›Wilhelm Tell’, in: Ders.: Von Arkadien nach Elysium [Anm. 34], 167-205, hier 175. 52 Vgl. NA X, 187 f. 53 Ebd., 169. 54 Ebd., 142. 47 48

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und über die naturrechtliche Legitimation zur Revolte gegen tyrannische Gewalt zeigt. Denn mit dem geplanten Aufstand ist es nicht weit her. Nicht die ins Auge gefaßte organisierte militärische Aktion, sondern die Ermordung Geßlers durch Tell und des Kaisers durch Parricida führen zum Ziel des ›neuen Bundes‹, zur Wiederherstellung der Freiheit im Land. Es ist nicht ohne Ironie, daß sich Rudenz in IV/2 an die Spitze des Aufstands stellt, daß Melchthal ihn zur Führung auffordert, bevor der feierlich beschworene Zeitpunkt für das Losschlagen erreicht ist, derselbe Rudenz, der aus Liebe zu Berta von Bruneck die Schweizer Sache preisgegeben hatte und der nun, um die gegen seine Erwartung patriotisch gesinnte Geliebte vor dem Zugriff Geßlers zu retten, den Bund für sich instrumentalisiert.55 In seinem Falle wird die öffentliche zum Teil der privaten Sache, umgekehrt wie bei Tell. Zwar ist das eine vom anderen nicht zu trennen, aber der Rütli-Bund hatte sich ausdrücklich ohne den Adel des Landes konstituiert, so daß die Führerschaft von Rudenz zumindest bemerkenswert ist. Die Tell-Handlung wird als selbständige Parallelhandlung zunächst neben die Rütli-Handlung gestellt. Auch hier geht es um die Auseinandersetzung des freien Schweizers mit der Willkür des Landvogts, jedoch in gesteigerter und in jedem Sinne exemplarischer Zuspitzung. Tell ist unter den Freien der Freieste, der, wie es schon die erste Nebenhandlung um die Rettung des verfolgten Baumgarten zeigt, das Äußerste wagt, auch im Kampf mit der wilden Natur in der Lebenswelt des Landes. Als sein Widersacher ist Geßler in der gleichen exemplarischen Weise der gefährlichste der Vögte, dem nur durch seine Tötung beizukomen ist56: »Schwer ists und fast gefährlich, ihn zu schonen.« Er ist unfrei, ohne ererbten Besitz, »ein jüngrer Sohn nur seines Hauses«,57 der allein als Sachwalter des eigennützigen Kaisers Macht gewinnt und dementsprechend mit äußerster Härte dessen rechtswidrige Unterwerfungsansprüche durchsetzt. Umgekehrt wird Tell von Anfang an als Retter und Erlöser stilisiert. Die bange Frage: »Wann wird der Retter kommen diesem Lande?«58 richtet sich auf ihn, und als Geßler ihn in seine Gewalt bringt, scheint alles verloren, wie es die Entgegensetzung von ›frei‹ und ›in Fesseln‹ in Hedwigs Worten festhält, die Tells Verfassung mit der des Volkes engführen59: »Was könnt i h r schaffen ohne ihn? – Solang / Der Tell frei war, ja, d a war noch Hoffnung, […] / Euch alle rettete der Tell – Ihr alle / Zusammen könnt nicht s e i n e Fesseln lösen.« Im gleichen Sinne ist es ironisch, daß Uri, das »im Felde führen« sollte (ebd., 180), als letzter der Kantone seine Zwingburg schleift: »Die Feinde sind verjagt. Die Burgen sind erobert / Und wir im Lande Uri dulden noch / Auf unserm Boden das Tyrannenschloß? / Sind wir die lezten, die sich frei erklären?« (ebd., 256). Andererseits ist Tell, der die entscheidende Tat vollbracht hat, Bürger von Uri. 56 Ebd., 191. 57 Ebd., 143. 58 Ebd., 140. 59 Ebd., 235. 55

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Wie die anderen Vögte wird auch Geßler durch eine sinnfällige Untat charakterisiert: durch den Befehl zum Apfelschuß. Aber sein Vergehen hat eine andere Qualität als die Wolfenschießens und Landenbergers. Sie ist nicht gewalttätiger Übergriff, sondern kalkulierte Unnatur. Einen Vater in die Situation zu bringen, daß er das Leben seines Kindes und sein eigenes nur retten kann, wenn er das Risiko in Kauf nimmt, das eigene Kind zu töten, das ist nicht Machtmißbrauch, sondern ausdrücklich ein Vergehen gegen natürliches und göttliches Recht. Das Perfide liegt darin, daß das Opfer selbst zur Ausführung der widernatürlichen Handlung gezwungen wird, die Geßler ›nur‹ erdacht hat60: »Du liebst das Seltsame – Drum hab’ ich jezt / Ein eigen Wagstück für dich ausgesucht.« Damit entfremdet er Tell zur Unnatur, weshalb Hedwig nicht ohne Grund seine Väterlichkeit in Frage stellt, auch nachdem der Kindesmord vermieden ist. Dabei ist Geßlers Nötigung nicht nur eine tyrannische, sondern eine kalkuliert symbolische Handlung; sie ist ein Einspruch gegen die Freiheitsrechte der Schweizer61: »Man führt die Waffen nicht vergebens. / Gefährlich ists, ein Mordgewehr zu tragen, / Und auf den Schützen springt der Pfeil zurück. / Dieß stolze Recht, das sich der Bauer nimmt, / Beleidiget den höchsten Herrn des Landes. / Gewaffnet sei niemand, als wer gebietet.« In diesem Sinne sind alle Anmaßungen Geßlers symbolischer Natur. Das gilt schon für den erwähnten Einspruch gegen das Recht der ›Bauern‹, sich prächtige Häuser zu bauen, die »Edelsitzen«62 gleichen. Und das gilt besonders für das Unterwerfungssymbol des Hutes auf der Stange, dessen Bedeutung Geßler kurz vor seinem Tode in aller Deutlichkeit formuliert63: Ich hab’ den Hut nicht aufgesteckt zu Altorf Des Scherzes wegen, oder um die Herzen Des Volks zu prüfen, diese kenn ich längst. Ich hab ihn aufgesteckt, daß sie den Nacken Mir beugen lernen, den sie aufrecht tragen – Das U n b e q u e m e hab ich hingepflanzt Auf ihren Weg, wo sie vorbeigehn müssen, Daß sie drauf stoßen mit dem Aug, und sich Erinnern ihres Herrn, den sie vergessen.

Das Ansinnen ist so demütigend, daß sich selbst Geßlers Söldner, die den »Popanz« nur bewachen müssen, erniedrigt fühlen64: »Wir stehen hier am Pranger vor dem Hut, / ’s ist doch Schimpf für einen Reitersmann, / Schildwach zu stehn vor einem leeren Hut – / Und jeder rechte Kerl muß uns verachten.« Und auch die Errich60 61 62 63 64

Ebd., 213. Ebd., 216. Ebd., 142. Ebd., 249 f. Ebd., 205.

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tung der Feste Zwing-Uri hat die gleiche zeichenhafte Bedeutung. Sie ist, wie Walter Fürst ihren Sinn in einer präzisen Metapher faßt, »ein Grab der Freiheit«.65 Und wie Geßler Tell zum Vollstrecker des eigenen Todesurteils machen will, so bestimmt er die Bauleute dazu, das Gefängnis ihrer Freiheit selbst zu errichten66: »Das ist doch hart, daß wir die Steine selbst / zu unserm Twing und Kerker sollen fahren!« Es ist deshalb ein Sinnbild der wiedergewonnenen Freiheit, wenn sie gegen die Mahnungen des immer noch furchtsamen Walter Fürst ihr eigenes Bauwerk zerstören67: »Kein Stein bleib auf dem andern.« Wenn Geßler in dieser Weise nicht einer der Unterdrücker unter anderen ist, sondern der Inbegriff der Tyrannei, die in seinem Handeln nicht allein praktische, sondern vor allem zeichenhafte Gestalt annimmt, so ist umgekehrt Tell der Inbegriff der bedrohten und wiedergewonnen Freiheit, der »Retter« seines Volkes. Die Schweizer verstehen sich als ein »Volk von Hirten«,68 Geßler bezeichnet sie verächtlich stets als »Bauer[n]«,69 Tell aber ist ein Jäger, der sich den Gefahren der unberechenbaren Natur, aus der das Volk seine Identität und seinen Rechtsstatus gegenüber dem Kaiser herleitet, stets aufs neue aussetzt70: »Das ist ein unglückseliges Gewerb’, / Das halsgefährlich führt am Abgrund hin!« Seine in besonderer Weise freie Lebensart ist der Grund, weshalb er sich der Rütliverschwörung verweigert. Für ihn gilt deshalb nicht, was als Maxime des Bundes beschworen wird71: »Raub begeht am allgemeinen Gut, / Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache.« Aber zugleich ist seine Sache, der Aufstand gegen die Unnatur von Geßlers Handeln, nur vordergründig Privatsache. Die Tötung Geßlers ist für die Wiederherstellung der Schweizer Freiheit unverzichtbar. Um das zu verdeutlichen, muß Schiller Tell vor der Tat den großen Reflexionsmonolog zugestehen (III/3).72 So unvermeidlich die Tat auch ist, bleibt sie doch Mord und als solcher Unnatur dem Täter zutiefst wesensfremd. In tragischer Ironie ist es wiederum Geßler, der Tell zum Instrument der ihm aufgezwungenen Unnatur macht, allerdings um den Preis seines eigenen Lebens. Das widernatürliche, ausdrücklich ›teuflische‹ Begehren Geßlers bedeutet für Tell unaufhebbar Selbstentfremdung, auch wenn er sich als göttliches Werkzeug versteht. Das wird nicht zuletzt darin deutlich, daß er ohne seine Armbrust, das Zeichen seiner Identität, zu seiner Familie zurückkehrt: Sie ist zur Reliquie geworEbd., 155. Ebd., 147. 67 Ebd., 257. 68 Ebd., 238; vgl. ebd., 145, 163, 170. 69 Ebd., 142, 216. 70 Ebd., 194. 71 Ebd., 192. 72 Vgl. hierzu den Brief Körners vom 17. März 1804 (NA XL/1, 185 f.) und Schillers Entgegnung auf Ifflands Bedenken gegen den Monolog (NA X, 457 f.): »Tells Monolog, das beste im ganzen Stück, muß sich also selbst erklären und rechtfertigen.« Das Stück »wäre gar nicht gemacht worden, wenn nicht diese Situation und dieser Empfindungszustand, worinn Tell sich in diesem Monolog befindet, dazu bewogen hätten.« 65 66

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den, die »an heilger Stätte […] aufbewahrt« wird,73 ebenso wie der Hut, »das Denkmal der Tyrannemacht«, in »der Freiheit ewig Zeichen«74 transformiert wird. Ohne seine Armbrust ist aber Tell ein anderer, gezeichnet von der ihm aufgezwungenen Selbstentfremdung. Zugleich wird er aber in der Begegnung mit Johannes Parricida, der durch die Ermordung des Kaisers die unkriegerische Wiederherstellung der Schweizer Freiheit, wenn auch unbeabsichtigt, vollständig gemacht hat, in seine Integrität halbwegs zurückgeführt, insofern sich die beiden Mordtaten unterscheiden75: »Gerächt / Hab ich die heilige Natur, die d u / Geschändet – Nichts theil’ ich mit dir – Gemordet / Hast d u , i c h hab mein theuerstes vertheidigt.« Beide Taten sind geschichtlich begründet und insoweit natürlich: in der Revolte gegen das widerrechtliche Macht- und Herrschaftsstreben des Kaisers und im Naturrecht der Freien. Geßler hat aber das Unrecht des Kaisers überboten, hat das Unrecht zur Unnatur gesteigert. Der geplante Kindesmord hat deshalb eine andere Qualität als der Vatermord Parricidas. Zwar ist Parricida um sein Recht ebenso verkürzt wie die Schweizer. Trotzdem wird sein Handeln als eine Schändung der Natur verstanden, insofern es die zwar nicht mehr funktionierende, aber normativ immer noch verbindliche Vaterordnung verletzt. Geßler handelt zwar grundsätzlich im Sinne des Kaisers als eines auf fragwürdige Weise eigennützigen Landesvaters, aber die unmenschlichen Konsequenzen sind von ihm zu verantworten. Die Rechtsverletzung des Kaisers beleidigt die menschliche Natur, die für Schiller Freiheit fordert, die Unnatur Geßlers verletzt die göttliche Ordnung. Beides wird hier, wie grundsätzlich bei Schiller, enggeführt, aber zugleich kategorial getrennt. Insofern ist die Unterscheidung zwischen der historischen Rütli-Handlung und der symbolischen Tell-Handlung folgerichtig. Die Selbstrechtfertigung Tells und die naturrechtliche Legitimierung seines Handelns schließen jedoch nicht aus, daß auch er von der Mordtat unwiderruflich gezeichnet ist. Und damit bestätigt sich ein Befund, der für das Naturverständnis der Schillerschen Dramatik generell festgehalten werden kann: Natur ist letztlich ein ethisch bestimmtes Konzept. Reine Natur bedeutet Übereinstimmung mit der philosophisch und theologisch begründeten Vorstellung der menschlichen Bestimmung und der göttlichen Ordnung. Deren Verletzung etwa auf der Ebene der Familie, durch den Krieg oder durch die Verweigerung der Freiheit ist Unnatur, manifest in einzelnen Handlungen oder in exemplarischen Konstellationen.

73 74 75

Ebd., 270. Ebd., 260. Ebd., 272.

Die ›weibliche Natur‹ in ›Maria Stuart‹ »ein gebrechlich Wesen ist das Weib«1 Von Philippe Wellnitz

Mit dieser entschuldigenden Erklärung zur weiblichen Natur versucht in Schillers Drama Maria Stuart (1800) die Figur Talbot, Graf von Shrewsbury, bei seiner Königin, Elisabeth von England, Verständnis für ihre gefangene Rivalin, die schottische Königin Maria Stuart, zu erheischen. Talbots Bemerkung über die weibliche Schwäche Marias, die in der Natur der Frauen begründet liege, entspricht einer durchaus traditionellen Ansicht nicht nur dieser Zeit. Zwar darf man dramatische Figurenrede nicht unbedingt mit dem Standpunkt des Autors Friedrich Schiller gleichsetzen, doch findet sich diese männliche Sichtweise weiblicher Natur vielfach auch andernorts in seinen Texten, insbesondere in seinen Gedichten. Es sei an die bekannten Verse 106 bis 126 im Lied von der Glocke erinnert, das 1799, also zur gleichen Zeit wie Maria Stuart, entstand2: »Der Mann muß hinaus / In’s feindliche Leben, / Muß wirken und streben / Und pflanzen und schaffen« bzw. »Und drinnen waltet / Die züchtige Hausfrau, / Die Mutter der Kinder, / Und herrschet weise / Im häuslichen Kreise«.3 Noch viele andere Gedichte Schillers, die auch aus der Zeit nach der Auseinandersetzung mit Kant stammen, so z. B. das Epigramm Macht des Weibes (1797) oder das philosophische Gedicht Würde der Frauen (1796), belegen diese dichotomische Anschauung der menschlichen Natur bei Schiller.4 Helmut Fuhrmann hat diese Rollenverteilung der Geschlechter in Schillers Lyrik folgendermaßen zusammengefaßt5: »[D]ie Frau als Empfangende, als ›Kind‹ und ›Engel‹ besitzt von Natur, was der Mann als Schaffender, als Schuldiger und Ringender angestrengt sucht und nur annäherungsweise findet.« Schillers Werke werden nach der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Zusätzlich werden Akt, Szene und Vers in Klammern angegeben. Hier: NA IX, 52 (II,3, Vs. 1373). 2 NA II/1, 230 (Vs. 106-109, 116-120). 3 Man weiß um die Welle der Empörung, die das Fehlen eben dieses Gedichtes in der 1966 von Hans-Magnus Enzensberger edierten Insel-Ausgabe auslöste. 4 Zu dem generellen Gegensatz zwischen Natur (Frau) und Kultur (Mann) vgl. Sherry B. Ortner: Is Female to Male as Nature is to Culture ?, in: Woman, Culture and Society, ed. by Michelle Z. Rosaldo and Louise Lamphere, Stanford 1974, 67-88. Man könnte ebenso den Gegensatz Natur – Vernunft ausführen, der von einer größeren, im Sinne Schillers ›naiven‹ Verbundenheit der Frau mit der Natur ausgeht. 5 Helmut Fuhrmann: Revision des Parisurteils – ›Bild‹ und ›Gestalt‹ der Frau im Werk Friedrich Schillers, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), 316-366, hier 323. 1

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Es handelt sich also um eine Rechtfertigung sozialer Ungleichstellung, die diese Rollenverteilung von der unterschiedlichen ›Natur‹ der Frauen her begründet, eine »separate-but-equal ideology«, wie dies Susanne Kord6 in Anlehnung an Volker Hoffmann7 nennt. Silvia Bovenschen hat für die feministische Literaturinterpretation herausgearbeitet, was Schiller in diesem Punkt den Schriften Kants verdankt.8 Im Gegensatz zur These Hans Mayers9 hat Bovenschen den retrograden Charakter dieser Aussagen über die Natur der Frau als typisch selbst für die Epoche der Aufklärung beschrieben10: »Die Annahme, daß der ›aufgeklärte‹ Konsens über die natürliche Gleichheit aller Menschen die der Frauen einschloß, […] ist jedoch problemgeschichtlich nicht verifizierbar. […] so wird deutlich, daß das Weibliche in jenen grundlegenden Schriften, die das geschichtliche Selbstverständnis einer Epoche ausdrücken, gar nicht vorkommt, und daß die Schriften, in denen es beim Namen genannt ist, zumeist die Ausschließung der Frauen aus Emanzipationsprogrammen formulieren, indem sie eine ›natürliche‹ weibliche Unmündigkeit unterstellen.« Dieser globalen These von Bovenschen lassen sich aber die divergierenden Ansichten der Romantiker über Schillers erwähnte lyrische Werke entgegenhalten, z. B. August Wilhelm Schlegels 1796 verfaßte Parodie von Schillers Würde der Frauen (Schillers Lob der Frauen: Parodie – Erwiderung der Jungfrauen und Junggesellen) sowie die Briefe von Caroline von Schlegel im Jahre 1799, die mehrfach auf Das Lied von der Glocke reagieren.11 Für Schiller selbst zeigt der Rekurs auf sein dramati6 Susanne Kord: Performing Genders – Three Plays on the Power of Women, in: Monatshefte 86 (1994), Heft 1, 95-115, hier 96. 7 Vgl. Volker Hoffmann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten – Anmerkungen zur Geschlechtercharakteristik der Goethezeit, in: Klassik und Moderne – Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, hg. von Karl Richter und Jörg Schönert, Stuttgart 1983, 80-97. 8 Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit – Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979, 220-244. 9 »Nicht das höfische Mittelalter oder das 19. Jahrhundert waren den Frauen am günstigsten, sondern das 18. Jahrhundert, wo die Männer die Frauen als gleichberechtigt betrachteten« (Hans Mayer: Außenseiter, Frankfurt a. M. 1975, 40; auf Schillers Dramen bezogen führt Mayer diesen Gedanken auf den Seiten 45 ff. und 70 aus). 10 Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit [Anm. 8], 76. Trotz seiner anderen Ausrichtung pflichtet der Artikel von Helmut Fuhrmann dieser Feststellung Bovenschens zunächst bei: »Die bisher durch religiöse und gesellschaftliche Traditionen legitimierte Unterwerfung der Frau unter das Regiment des Hausvaters bedurfte, wenn die patriarchalische Herrschaft nicht gänzlich aufgehoben werden sollte, im Zeitalter der Aufklärung mit ihrer Idee der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, einer neuen Rechtfertigung. Diese wurde gefunden in der Ideologie eines ›natürlichen‹ Geschlechtergegensatzes […]« (Fuhrmann: Revision des Parisurteils [Anm. 5], 325). 11 »Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen« (Brief an ihre Tochter Auguste Böhmer vom 21. Oktober 1799); »Die Glocke hat uns einen schönen Mittag mit Lachen vom Tisch weg fast unter den Tisch gebracht« (Brief an Johann Diederich Gries vom 27. Dezember 1799). Beide Briefe in: Caroline

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sches Werk, daß die globale Feststellung Bovenschens ebenfalls nicht eindeutig zuzutreffen scheint.12 Um von Maria Stuart zu sprechen:13 Auf die eingangs zitierte Aussage Talbots folgt sogleich eine zurückweisende Replik der Königin Elisabeth14: »Das Weib ist nicht schwach. Es gibt starke Seelen / In dem Geschlecht – Ich will in meinem Beisein / Nichts von der Schwäche des Geschlechtes hören.« Zumindest dramenintern, auf der Ebene der Figurenrede, bleiben also diese traditionellen Schemata einer schwachen weiblichen Natur nicht unwidersprochen. Maria wie auch Elisabeth sind als Frauen die zentralen Figuren des Stückes, beide werden als Machtfiguren charakterisiert: Maria lebte vor ihrer Gefangenschaft völlig ihrer Sinnenlust und ordnete diesem Trieb jegliche politische Konvenienz unter, Elisabeth regiert in der Öffentlichkeit monoman als eine Art prüdes Mannweib, dem Anschein nach ohne Sinn für amouröse Ausschweifungen. Auf der äußeren Handlungsebene jedoch erleben wir am Ende des Stückes das Scheitern Elisabeths und Marias Tod. Die Frage stellt sich also, ob Schiller mit Maria Stuart ein Drama weiblicher Emanzipation verfaßt hat, wie es Helmut Fuhrmann in seiner Argumentation nahelegt,15 oder ob Schiller nicht doch in fine naturgegebene Unterschiede illustriert hat, wie es die feministische Interpretation behauptet.16 Auch kann man natürlich darüber streiten, ob dieses Drama als Staatsaktion einen politischen Konflikt oder, wie Brecht in seinen Übungsstücken für Schauspieler (1939) meinte, einen »Streit der Fischweiber«17 in den Mittelpunkt stellt. Fest steht aber, daß über die inhaltliche Bestimmung hinaus die Heteronomie-Diskussion dieser Zeit eine Rolle im Stück spielt und daß die ›Natur‹ der Frau dabei ein nicht unwesentlicher Diskussionspunkt ist. Schillers Stück Maria Stuart ist bewußt symmetrisch konstruiert, auf den Gegensatz beider Königinnen hin konzipiert, wobei beide Figuren von ihrer weiblichen Natur her definiert werden. Über die Figur der Maria Stuart, ihre lasterhafte Vergangenheit und ihre Wandlung bzw. ihre plötzliche Erhöhung ins Erhabene, ist bereits ausführlich geschrieben worden. Das literaturwissenschaftliche Interesse galt – Briefe aus der Frühromantik I, nach Georg Waitz vermehrt hg. von Erich Schmidt, Leipzig 1913, 570, 592. 12 Dies ist die Grundthese Fuhrmanns. 13 Fuhrmann zitiert weitaus mehr Beispiele, insbesondere den ›feministischen‹ Diskurs der Prinzessin Turandot (vgl. NA XIV, 41 f.). 14 NA IX, 52 (II,3, Vs. 1374-1376). 15 »In der Regel wurde überhaupt nicht entdeckt, ein wie tiefer, durchgehender Bruch das Frauenbild, das der Dichter in seiner Lyrik sowie in seinen Prosaschriften und Briefen entwirft, scheidet von der Frauengestalt, die uns handelnd in seinen Dramen entgegentritt« (Fuhrmann: Revision des Parisurteils [Anm. 5], 321). 16 Vgl. Kari Lokke: Schiller’s ›Maria Stuart‹ – The Historical Sublime and The Aesthetics of Gender, in: Monatshefte 82 (1990), Heft 2, 123-141. 17 Bertolt Brecht: Der Streit der Fischweiber – zu Schillers ›Maria Stuart‹, 3. Akt, in: Ders.: Werke XXII, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1993, 834-839.

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hingegen weitaus weniger häufig der Figur der Elisabeth,18 wohl weil sie weder in ihrer physischen Erscheinung noch in ihrer Gesittung, d. h. im Sinne Schillerscher Ästhetik, als ›schön‹ betrachtet wird. Marias physische Schönheit hingegen, von der allerorts im Drama die Rede ist und die in der kulminierenden Szene III,4 die ›weibliche Natur‹ über die ›politische Macht‹ triumphieren läßt, wird sogar von ihren Feinden anerkannt19: »Zu groß ist ihre Macht auf die Gemüter / Und ihrer Tränen weibliche Gewalt«, sagt ihr erbittertster Gegner Burleigh – ebenso rühmt Talbot ihre Schönheit,20 was Elisabeths zornigen Spott hervorruft (»Das müssen Reize sondergleichen sein, / Die einen Greis in solches Feuer setzen«).21 In der für das analytische Drama so typischen retrospektiven Erörterung vergangener Schuld spricht zunächst Marias Zofe, Hanna Kennedy, vom »Wahnsinn blinder Liebesglut«,22 vom Verführer, »der Euch durch Zaubertränke, / Durch Höllenkünste das Gemüt verwirrend / Erhitzte«.23 Eindeutig werden hier von Kennedy die wollüstige Hingabe wie die Verführbarkeit der Maria auf männliche Ränke zurückgeführt. Als ›naive‹ Frau habe sich Maria ihrer triebhaften Natur hingegeben bzw. dazu verleiten lassen, diese triebhafte Natur über die Vernunft zu stellen. Interessant ist Marias Antwort24: »Seine Künste waren keine andre / Als seine Männerkraft und meine Schwachheit.« Einerseits bestreitet also Maria ihre sinnlich-naive Hingabe nicht, andererseits führt sie diese triebhafte Neigung ihrer Lust auf ihre Schwachheit als Frau zurück, was man an der Opposition zu »Männerkraft« deutlich erkennt. Doch wird im Stück nicht allein diese weibliche Schwäche Marias, die Hingabe an ihre Lust, als bloße Wesensschwäche der Frau definiert, die sich per naturam ihren Gefühlen hingibt. Auch die heteronome Determinierung der weiblichen Sexualität durch die Gesellschaft wird in dem Stück erwähnt, und zwar von Marias Gegenspielerin Elisabeth. Als im zweiten Akt der französische König um ihre Hand werben läßt, erklärt Elisabeth, wie schwer es ihr falle, ihre »jungfräuliche Freiheit« der Staatsräson zu opfern25:

18 Einer der wenigen Beiträge, die sich auf diese Gestalt konzentrieren und ihr ein positives Interesse widmen, stammt von einem französischen Germanisten – Claude David: Le personnage de la Reine Elisabeth dans ›Maria Stuart‹ de Schiller, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung 4 (1961), 9-22. 19 NA IX, 38 (I,8, Vs. 991 f.). 20 Vgl. ebd., 52 (II,3, Vs. 1395-1397). 21 Ebd., 52 f. (II,3, Vs. 1400 f.). 22 Ebd., 15 (I,4, Vs. 325). 23 Ebd. (I,4, Vs. 329-331). 24 Ebd., 15 (I,4, Vs. 331 f.). 25 Ebd., 45 (II,2, Vs. 1166-1171).

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Auch meine jungfräuliche Freiheit soll ich, Mein höchstes Gut, hingeben für mein Volk, Und der Gebieter wird mir aufgedrungen. Es zeigt mir dadurch an, daß ich ihm nur Ein Weib bin, und ich meinte doch, regiert Zu haben, wie ein Mann und wie ein König.

Es ist also ihre Funktion als Regentin, die sie nur wie ein Mann ausüben darf, die ihr die wirkliche Macht versagt, nämlich die, als mündiger Mensch autodeterminiert zu handeln. Es ist paradoxerweise die gesellschaftliche Negierung ihrer Existenz als Frau, ihre männliche Königsrolle, die sie zwingt, doch nur ihrer ›Natur‹ gemäß Frau im Sinne einer gebärenden Gattin zu sein. Diese politische Pflicht zur Thronnachfolge, in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Determiniertheit ihres Schicksals als Frau, wird aber erstaunlicherweise auf illusionslos klarsichtige Weise von Elisabeth selbst auf die Natur der Frau zurückgeführt. Anders gesagt, werden gesellschaftliche Verhältnisse, die Heteronomie weiblichen Daseins, von ihr selbst durch den »Naturzweck« der Frau begründet. Elisabeth erinnert an die notwendige Befreiung der Frauen aus Klöstern26: »Wohl weiß ich, daß man Gott nicht dient, wenn man / Die Ordnung der Natur verläßt«. Die Ordnung der Natur verbietet also die von Elisabeth scheinbar gewünschte Enthaltsamkeit, obwohl sie als Königin hoffte, sie würde »[v]on dem Naturzweck ausgenommen sein, / Der eine Hälfte des Geschlechts der Menschen / Der andern unterwürfig macht – «.27 Man mag zunächst darüber im Zweifel sein, warum diese weibliche Figur selbstentfremdet von der Natur der Frau bzw. der Ordnung der Natur und dem daraus resultierenden »Naturzweck« spricht. Doch kann man nicht überhören, daß die Unterwerfung der Frau unter den Mann kritisiert wird. Allein hierüber zu sprechen, d. h. die ›Unterwerfung‹ zu thematisieren, hat bereits kritischen Charakter28: […] Hat die Königin doch nichts Voraus vor dem gemeinen Bürgerweibe! Das gleiche Zeichen weist auf gleiche Pflicht, Auf gleiche Dienstbarkeit – Der Ring macht Ehen, Und Ringe sinds, die eine Kette machen.

Nun redet aber einerseits Maria von der weiblichen Schwäche und andererseits Elisabeth von einem Naturzweck: Heißt dies, Schiller habe seinen Frauengestalten die Rechtfertigung ihrer heteronom determinierten Natur in den Mund gelegt?

26 27 28

Ebd. (II,2, Vs. 1172 f.). Ebd. (II,2, Vs. 1182-1184). Ebd., 46 (II,2, Vs. 1207-1211).

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Nicht unbedingt. Wie jegliche Rede im Drama sind diese Äußerungen der beiden Protagonistinnen stark an ihren dramatischen Kontext gebunden. Marias Äußerungen entsprechen dramenintern ihrem Schuldgefühl, ihrer psychologischen Charakterisierung, die extern für den Leser eine Gestalt begründet, die von Schiller ins Erhabene gesteigert wird. Auch Elisabeths konventionelle Sicht der Dinge läßt sich vom dramatischen Kontext her erklären: Sie antwortet dem französischen Botschafter in öffentlicher Rede auf ein Heiratsgesuch seines Königs. Elisabeth muß sich also an die Gepflogenheiten ihrer Zeit und ihres Standes halten. Die traditionelle Interpretation der beiden Hauptgestalten sieht meist in Maria eine ehemals leichtlebige, aber bußfertige Sünderin, der gerade darum im Angesicht des Todes der Sprung ins Erhabene gelingt. In Elisabeth hingegen sieht man gewöhnlich das doppelt aus ihrer (natürlichen) Rolle als Frau gefallene Mannweib: Elisabeth als Königin scheitere in ihrer natürlichen Bestimmung als Frau eben an ihrer weiblichen, unsentimentalischen Natur. Von der klassischen Ästhetik her gesehen, liegt Elisabeths Scheitern in ihrer mangelnden inneren Größe. Kein Zufall, daß Maria in ihrem Wandel zum Erhabenen stets »mit einer edeln Würde«29 auf Provokationen der Elisabeth reagiert und mit »edler Fassung«30 in den Tod geht. Auf Elisabeth bezogen endet das Stück mit der Didaskalie31: »Sie bezwingt sich und steht mit ruhiger Fassung da.« – Elisabeth scheitert zwar als Königin standesgemäß mit Fassung, aber eben nicht mit edler Fassung. Weitaus interessanter als diese scheinbar durch den Dramenverlauf belegte Zustimmung Schillers zur heteronom determinierten Natur der Frau in Maria Stuart scheinen uns im Hinblick auf das übergreifende Thema »Schillers Natur« all diejenigen Äußerungen der beiden Protagonistinnen zu sein, in denen sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Statt der von der Gesellschaft stipulierten weiblichen Schwäche, einem tieferen, ›naiven‹ weiblichen Wesen und der sozialen Rolle als Mutter, die also die soziale Rollenverteilung, d. h. eine Machthierarchie, in der ›Natur‹ der Frau zu begründen suchen, scheinen uns in der Tat auch noch ganz andere Elemente von Bedeutung zu sein. Möglicherweise haben die überkommene Klassikerrezeption, die Fixierung auf das Erhabene und der häufige Bezug der Interpreten auf Schillers ästhetische Schriften in diesem als Modell der Tragödie geltenden Drama den Blick für ein erstaunlich präsentes Phänomen verstellt: Beide Frauen geben privatissime ihrer Lust freien Ausdruck. Wir beschäftigen uns also mit dem Begriff ›Natur‹32 hier nicht nur im Sinne von Natur als ›Wesen‹ der Frau, sondern mit Natur als Synonym für das ungebändigte ›Es‹, eben die ›natürlichen‹ Triebe der Sexualität. Ebd., 92 (III,4, Regieanweisung vor Vs. 2421). Ebd., 136 (V,1, Vs. 3378); vgl. auch ebd., 23 (I,1, Vs. 564). 31 Ebd., 164. 32 Zur Vielfalt der Bedeutungen des Wortes »Natur« in Schillers Werken vgl. Hans Lutz: Schillers Anschauungen von Kultur und Natur, Berlin 1928. 29 30

Die ›weibliche Natur‹ in »Maria Stuart«

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Eindeutig tritt dies bei Elisabeth zutage, die Schiller als Figur mit doppelter Moral zeichnet, damit der Zuschauer für Maria Partei ergreift. Schon ihr Werben um Mortimer als Mörder Marias ist stark sexuell konnotiert33: […] Laßt es Euch nicht leid tun, Daß meine Dankbarkeit den Flor der Nacht Entlehnen muß – Das Schweigen ist der Gott Der Glücklichen – die engsten Bande sinds, Die zärtesten, die das Geheimnis stiftet!

Mortimer, der völlig im Wahn seiner Begierde für Maria aufgeht, deutet dies jedenfalls eindeutig auch als sexuelles Angebot34: »Erhöhen willst du mich – zeigst mir von ferne / Bedeutend einen kostbarn Preis – und wärst / Du selbst der Preis und deine Frauengunst!« In der letzten Szene des 2. Aktes, die auf die Begegnungsszene im dritten Akt hinarbeitet, in einer persönlicheren Unterredung mit Leicester, die dem Zuschauer, semiotisch eindeutig, durch den Übergang zu einer vertrauten Anrede in der zweiten Person Singular und den Vornamen »Dudley« als solche signalisiert wird, offenbart Elisabeth ihre wahren Neigungen und Ansichten35: Und wie beneid ich andre Weiber, Die das erhöhen dürfen, was sie lieben. […] Der Stuart wards vergönnt, Die Hand nach ihrer Neigung zu verschenken, Die hat sich jegliches erlaubt, sie hat Den vollen Kelch der Freuden ausgetrunken.

Wieder verbindet sich das Thema der freien weiblichen Neigung mit der Kritik ihrer Beschränkung durch die männliche Reduzierung und Ausbeutung der weiblichen Natur36: »Und doch gewann sie aller Männer Gunst, / Weil sie sich nur befliss, ein Weib zu sein, / […] So sind die Männer, Lüstlinge sind alle!« Zwar hat Elisabeth die Fremdbestimmung der weiblichen Natur als Lustobjekt erkannt, doch in (tragischer?) Verblendung läßt sich Elisabeth auf Leicesters Schmeicheleien ein und willigt in die fatale Begegnung mit Maria ein. Auch wenn man Schiller das Schicksal seiner Protagonistinnen als Bestätigung der herrschenden normativen Naturbegriffe vorhält, so erkennt man doch in Elisabeths Worten, wie stark eben diese Vorstellung weiblicher Natur durch die Äußerung weiblicher autonomer Begierde zur Diskussion gestellt wird. Doch selbst der hemmungslose, der ›natürliche‹ Ausdruck weiblicher Begierde und Triebe in Maria Stuart gerät in der Folge des dramatischen Geschehens wie33 34 35 36

NA IX, 61 (II,5, Vs. 1627-1631). Ebd., 62 (II,6, Vs. 1642-1644). Ebd., 75 (II,9, Vs. 1970-1977). Ebd. (II,9, Vs. 1985-1988).

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derum unter die soziale Kontrolle des Mannes. Nicht zu Unrecht, wenn auch reduzierend, hat Brecht 1939 die Begegnungsszene der beiden Königinnen (III,4) zu einem »Streit der Fischweiber« gestaltet. In der Tat ist diese Konfrontation kein politisches Duell, Elisabeth geht es allein darum, ihre Gegnerin als Frau zu übertrumpfen37: »Ja, es ist aus, Lady Maria. Ihr verführt / Mir keinen mehr.« Und die Szene des sexuellen Neides kulminiert in offenem Haß und in Verachtung38: Das also sind die Reizungen, Lord Leicester, Die ungestraft kein Mann erblickt, daneben Kein andres Weib sich wagen darf zu stellen! Fürwahr! Der Ruhm war wohlfeil zu erlangen, Es kostet nichts, die allgemeine Schönheit Zu sein, als die gemeine sein für alle! Klar ist, daß Elisabeth hier Maria zur Hure stempelt, obwohl sie selbst die gleichen Gelüste wie ihre Rivalin empfindet, wie man es am rückbezogenen Possessivpronomen erkennt: »Ihr verführt / mir […]«. Weitaus wichtiger ist für unseren Argumentationszusammenhang, daß Elisabeth den gemeinsamen Buhlen (Lord Leicester) als Zeugen ihres vermeintlichen Sieges mit einbezieht. Als nämlich entgegen aller Erwartung Maria über Elisabeth gesiegt hat und mit ihrer Zofe Hanna Kennedy wieder allein ist, triumphiert Maria mit den Worten39: »Vor Leicesters Augen hab ich sie erniedrigt! / Er sah es, er bezeugte meinen Sieg! / Wie ich sie niederschlug von ihrer Höhe, / Er stand dabei, mich stärkte seine Nähe!« Sowohl Elisabeths als auch Marias Gefühlswallungen, die ihrer tiefen Natur freien Lauf zu lassen scheinen, sind auch wieder nur heteronom konditionierte Reflexe: Sowohl Maria als auch Elisabeth handeln nicht autonom als Frauen, sie sind male-identified women.40 Das, was nach Affirmation weiblicher sexueller Autonomie klingen konnte, scheint auch wieder heterenom von konkurrierendem Leistungsdenken determiniert. Von daher scheint uns Gert Sautermeisters Formulierung in Bezug auf Marias erhabenes Ende, »Sittlichkeit ist zum Naturtrieb geworden«,41 kaum zuzutreffen. Genausowenig befriedigend wollen uns aber die feministischen Ansätze erscheinen, wenn z. B. Lokke schreibt42: »Schiller’s Mary rises to the moral challenge of death and violence at the hands of others despite her sex« – Schillers Maria sei trotz ihres Geschlechts der Herausforderung des Todes Ebd., 91 (III,4, Vs. 2407 f.). Ebd. (III,4, Vs. 2413-2418). 39 Ebd., 93 (III,5, Vs. 2464-2467). 40 Den Hinweis auf diesen Begriff der Gender Studies verdanke ich der fruchtbaren Diskussion mit Dorothea von Mücke. Vgl. auch Dorothea von Mücke: Virtue and the Veil of Illusion – Generic Innovation and the Pedagogical Project in Eighteenth-Century Literature, Stanford 1991. 41 Gert Sautermeister: ›Maria Stuart‹ – Ästhetik, Seelenkunde, historisch-gesellschaftlicher Ort, in: Schillers Dramen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1979, 174-216, hier 176. 42 Lokke: Schiller’s ›Maria Stuart‹ [Anm. 16], 129. 37 38

Die ›weibliche Natur‹ in »Maria Stuart«

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gewachsen. Noch weniger wird man dieser Art der Argumentation folgen mögen, wenn das Erhabene, das Maria am Ende nicht abgesprochen werden kann, als »clichéd transformation of seductress into saint and madonna«43 betrachtet wird. Implizit wird aber hier von den Vertretern der Gender Studies zugegeben, daß dieser Sprung ins Erhabene einer Frau möglich (gemacht) wurde, wie ja auch das ganze Stück, auf den ersten Blick zumindest, ›sentimentalisches‹ Handeln seitens der Frauen belegt. So sieht es jedenfalls auch Fuhrmann, wenn er schreibt44: »Unter den Frauengestalten Schillers findet sich kaum eine einzige, die im Sinne seiner ästhetischen Typologie als ›naiv‹ verstanden werden könnte. Der Dichter hat ›Naivität‹ als Vollkommenheit des ›weiblichen Geschlechtscharakters‹ offensichtlich nur theoretisch aufgestellt und lyrisch gefeiert, aber nicht dramatisch gestaltet. […] demgegenüber teilen die weiblichen Figuren Schillers mit seinen männlichen einen ›sentimentalischen‹ Grundzug.« Mit dieser Behauptung Fuhrmanns sind wir aber nur bedingt einverstanden, denn genauso wie die Gender Studies fokussiert Fuhrmann zu einseitig allein auf die Frauengestalten. Bei näherer Betrachtung scheinen die Männergestalten auch nicht in jeder Hinsicht den theoretischen Postulaten Schillers zu entsprechen, was die Forschung bislang wenig beschäftigt zu haben scheint. Sowohl Mortimer als auch Leicester entsprechen ganz und gar nicht dem ›sentimentalischen‹ Typus: Bei Mortimer deutet bereits seine »unbezwingliche Begierde«45 darauf hin, als er von Kunst und Religion spricht und dieser Diskurs langsam in eine kultisch-religiöse Verehrung des Bildes der Maria Stuart übergeht. Die Wahnsinnsszene (III,6), als sich Mortimer fast an Maria vergeht, läßt weder auf ›sentimentalische‹ Züge Mortimers noch auf ›Würde‹ schließen. Leicester aber, den mehr oder minder geschickten opportunistischen Intriganten, könnte man als pragmatisch Handelnden vielleicht idealistisch zum ›sentimentalischen‹ Typus stilisieren oder aber als Repräsentanten patriarchalischen Denkens charakterisieren. Weder die eine noch die andere Bestimmung der Natur Leicesters als ›typisch männlich‹ hält aber der genauen Konfrontation mit dem Text stand. Kurz vor Marias Tod sagt Leicester nämlich, es stehe ihm nicht an, »[i]n zartem Mitleid weibisch hinzuschmelzen«,46 doch schon wenige Zeilen später gesteht er in einem inneren Monolog: »Ich kann, ich kann das Schreckliche nicht schauen«,47 und zu guter Letzt wird er – Frauenstereotypen ähnlich – sogar ohnmächtig. Die ›weibliche Natur‹ in Schillers Maria Stuart läßt sich also nicht eindimensional festlegen: Weder entspricht sie völlig dem anderweitig bei Schiller theoretisch postulierten Bild der ›naiven‹ Natur der Frau noch ist diese ›Frauennatur‹ einzig und allein das Abbild internalisierter patriarchalischer Handlungs- und Verhaltens43 44 45 46 47

Ebd., 133. Fuhrmann: Revision des Parisurteils [Anm. 5], 346. NA IX, 18 (I,6, Vs. 412). Ebd., 155 (V,10, Vs. 3853). Ebd., 156 (V,10, Vs. 3862).

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muster, wie es die Gender Studies meinen. Eher trifft aber deren Feststellung zu, der Diskurs über die vermeintlich weibliche Natur, wie er filigran in den anfangs erwähnten Beispielen in Maria Stuart präsent ist, trage zu einer Fixierung geschlechtsspezifischer gesellschaftlicher Ungleichheiten bei, diene also als Legitimationsdiskurs regressiver Gesellschaftsstrukturen. Interessant im Zusammenhang mit der ›Natur‹ der Frauen bei Schiller bleibt aber das Sich-Artikulieren der weiblichen Sexualität als Ausdruck innerer Triebe und das für eine klassische Tragödie gewagte Formulieren dieser Lust an der Lust. Daß Schiller in Maria Stuart so leidenschaftliche Kritik an Männerlust und -laune seiner Figur Elisabeth in den Mund legt, die vehement ungerechte Geschlechterdifferenzen anprangert, verdient zumindest Beachtung. Was auffällt, ist aber die Tatsache, daß die Natur der Frauen in jedem Fall heteronom determiniert ist: sowohl gesellschaftlich, in dem Diskurs über den ›Naturzweck‹ der Frau, als auch individuell, in der vermeintlich so freien königlichen Lust beider Regentinnen. Auch hierin, scheint uns, nimmt Schiller an den Debatten seiner Zeit teil. Doch beschränkt sich Schiller, wie die Beispiele der Figuren Mortimer und Leicester belegen, nicht nur auf das eine Geschlecht, sondern stellt die Frage nach der menschlichen Natur als Urgrund möglicher Autonomie.

Schillers Schauspiel ›Wilhelm Tell‹ oder

Die Begründung eines natürlichen Rechtstaats als dramaturgisches Experiment Von Peter André Bloch

I. ›Wilhelm Tell‹ in der Kontroverse unterschiedlicher Staatsauffassungen Es ist kaum ein Werk Schillers in seinen differenzierten Strukturen so oberflächlich theatralisiert und in der Tiefe seiner politischen Visionen derart verkannt worden wie Wilhelm Tell.1 Seine vordergründige Volkstümlichkeit hat zu tun mit Schillers Glauben an die Unantastbarkeit der – im Sinne Rousseaus – als ›göttlich‹ bezeichneten Naturgesetze, die er auf der Bühne kämpferisch als naiv-redlichen Gegenpol zur abwegigen Tyrannei unfähig-dekadenter Machthaber einsetzte, gegen deren Mißbrauch der feudalen Strukturen absoluter Gefolgschaftstreue zur Erfüllung ihrer gewalttätigen Selbstsucht. Die egoistische Verkürzung des Freiheitsbegriffs auf die Vorstellungswelt eigenen Vorteils hat das Werk indes heute weitgehend in den Bereich überholter Folklore abgedrängt, die im Grunde nur noch parodistisch nachvollziehbar ist, weil vielen in der Moderne ein explizites – in sich interesseloses – Staats- und Gemeinschaftsengagement von vornherein als suspekt erscheint. Schillers Schauspiel lädt zu allen möglichen Lesarten ein, geht es doch nicht zuletzt auch um die Auseinandersetzung mit dem Problem der Begründung von staatlicher Macht und persönlicher Freiheit, um die Voraussetzungen demokratischer Selbstbestimmung und um die Frage der Berechtigung einer Selbstbefreiung durch Waffengewalt. Wer immer sich mit dem Werk auseinandersetzt, sieht sich in seinem Verhältnis zum eigenen Staatswesen und den damit zusammenhängenden Vorstellungen einer ›natürlichen Gesellschaft‹ gefordert, im Vergleich der eigenen Vorstellungen und Erfahrungen mit den in Schillers Drama angedeuteten und ausgeführten Positionen. In persönlicher Betroffenheit übersieht man einen großen Teil der damals emanzipatorischen Kraft der dramatischen Grundaussage, welche Schiller in Der vorliegende Aufsatz stellt die stark überarbeitete Fassung meines Beitrags am Kolloquium »Exemplarische AutorInnen und Texte der deutschen Literaturgeschichte in der interkulturellen Kommunikation« der Universität Leipzig dar, der demnächst im Bd. IV der Reihe Literatur und Kultur – Leipziger Texte erscheinen wird, hg. von Christa Grimm, Ilse Nagelschmidt und Ludwig Stockinger, Leipziger Universitätsverlag 2005. Einen Teil der Erkenntnisse habe ich in französischer Sprache für die Studenten des französischen Staatsexamens 2005 zusammengefaßt: La conception dramaturgique de ›Guillaume Tell‹ – Un drame de la liberté d’une bouleversante actualité, in: Friedrich Schiller – La modernité d’un classique, publ. par Roland Krebs, Paris 2004, 103-118. (Traduction de Roland Krebs.) 1

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der Darstellung, Zerstörung und Wiederherstellung einer vorerst naiven und schließlich bewußt als politisches Experiment konzipierten gesellschaftlichen Naturidylle anstrebte. II. Kritische Reaktionen auf die Uraufführung von 1804 Die Komplexität von Schillers Schauspiel spiegelt sich bereits in den verlegenen Reaktionen des Weimarer Hofes auf die Erstaufführung. Thema, Stoff, Quellen waren bekannt; jedermann wußte, daß es um Tyrannenmord und um die Auseinandersetzungen einer kleinen, ›naturhaften‹ Volksgemeinschaft mit Österreich ging, die 1291 zur Gründung der Eidgenossenschaft geführt hatten, die nun durch Napoleon aufgelöst und in neue Strukturen überführt worden war; auch daß Schiller durch die französischen Revolutionäre wegen seiner Räuber zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt worden war. Unterdessen war er zum Klassiker aufgestiegen; man erwartete also Stilisierung, Klassizität, ästhetische Formalisierung und stieß auf eine eigentümliche Mischung von anschaulich-verklärender Theatralik und heroisierender Mythisierung, mit stark opernhaften Zügen. Der Herzog schrieb unter dem Eindruck der Tell-Aufführung am 17. März 1804 an Mme de Staël einen entrüstet-ironischen Brief über Schillers mangelnden Respekt vor dem guten Geschmack: Er strapaziere die Geduld des Zuschauers, unterbreche andauernd den Handlungsverlauf durch überflüssige Beifügungen, vermische theatralische Traditionen und Gattungen.2 Goethe seinerseits wollte auf die Erwähnung des Kaisermords verzichten und strich deshalb bei den Weimarer Aufführungen große Teile des V. Aufzugs. Aus den gleichen politischen Bedenken ließ Iffland für die Berliner Erstaufführung vom 4. Juli zahlreiche Stellen weg, was er mit einem möglichst idyllischen Bühnenbild wettzumachen versuchte. Der Versuch des Verlegers Cotta, das gedruckte Werk feierlich der Eidgenössischen Tagsatzung zu widmen, zerschlug sich:3 In der Schweiz, von Napoleons Truppen besetzt und in ihren Strukturen von Grund auf verändert, verstanden viele das Werk als eine Glorifizierung der alten Eidgenossenschaft, als deren Festspiel es später denn auch immer wieder gegen un-

2 »Schiller vient de nous farcir avec une pièce bien ›selbständig‹ à l’allemande, car il y paraît que l’auteur s’y promène seul, y ayant fait assembler un public nombreux dont il use pour ses menus plaisirs; M. Benjamin y a fourni sa quote-part encore, il a transpiré depuis cinq heures et demie jusqu’à dix heures et demie, et il a partagé notre étonnement sur la manière aisée avec laquelle nos auteurs dramatiques se jouent du goût, de la patience et du temps communs des auditeurs. Il est inconcevable que Schiller, n’estimant guère le public, ne conserve du moins assez d’estime pour sa propre composition, en y ménageant la continuité du fil de sa trame, mais il interrompt dans ›Guillaume Tell‹ les scènes les plus intéressantes par des accessoires absolument inutiles« (Eleonore von Bojanowski: Luise Großherzogin von Sachsen-Weimar und ihre Beziehungen zu den Zeitgenossen, Stuttgart 1903, 205). 3 Vgl. Josef Schmidt: Friedrich Schiller: Wilhelm Tell – Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1991, 80.

Schillers Schauspiel ›Wilhelm Tell‹

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willkommene fremde Einflüsse und Veränderungsversuche eingesetzt wurde. Den einen erschien daher die Schillersche Theatralik zu rhetorisch, den anderen zu wirkungsbezogen-kunstlos. Man vermißte einen echten Konflikt; die einzelnen Positionen wirkten in ihrer Historizität zu bekannt, zu statisch, zu wenig hinterfragt; die Figuren in ihrer Typisierung zu plakativ.4

III. Schillers dramaturgische Konzeption des ›Wilhelm Tell‹ In den Gesprächen zwischen Goethe und Schiller war ursprünglich eher von einer Epopee die Rede, welche die Gefährdung und sodann den natürlichen Zusammenschluß einer kleinen Völkergemeinschaft zum demokratischen Rechtsstaat veranschaulichen sollte, mit naturgegebenen, idyllischen Grundstrukturen und entsprechenden autarken Begründungen, wie man sie damals in den so naiv wirkenden Berichten von Ägidi Tschudi, Johann Jacob Scheuchzer, Johannes Müller sowie Johann Conrad Faesi vorfand.5 Aufgrund der Komplexität der vorliegenden Unterlagen und unter dem Einfluß von Goethes Ratschlägen entschied sich Schiller indes für die Konzipierung eines Schauspiels,6 weil er darin die einzelnen Positionen nicht nur beschreiben, sondern in ihrer schicksalhaften Entwicklung prozeßhaft miteinander verbinden konnte. Ihn interessierten insbesondere das Ineinander-

4 Vgl. z. B. Der Freimüthige, Nr. 135, 7. Juli 1804; Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 103 (1805), 67-102; Ludwig Tieck: Dramaturgische Blätter II, in: Kritische Schriften IV, Leipzig 1852, 267-270; Ludwig Börne: Über den Charakter des Wilhelm Tell in Schillers Drama [1828], in: Sämtliche Schriften I, hg. von Inge und Peter Rippmann, Düsseldorf 1964, 397-403; Joseph von Eichendorff: Zur Geschichte des Dramas [1854], in: Sämtliche Werke VIII/2, hg. von Wolfram Mauser, Regensburg 1965, 247-424, hier 369. 5 Vgl. Ägidi Tschudi: Chronicon Helveticum, hg. von Johann Rudolf Iselin, Basel 1734-36; Johann Jacob Scheuchzer: Natur-Historie des Schweizerlandes, Zürich 1716-1718 (21752) (neu hg. von Johann Georg Sulzer u.d.T.: Natur-Geschichte des Schweitzerlandes, Zürich 1746); Johannes Müller: Der Geschichten schweizerischer Eidgenoßenschaft Erstes und Anderes Buch, Leipzig 1786; Johann Conrad Faesi: Genaue und vollständige Staats- und Erdbeschreibung der ganzen Helvetischen Eidgenoßschaft, Zürich 1765-68; Johann Gottfried Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz, Tübingen 1798-1802. 6 Vgl. Goethe zu Eckermann, 6.Mai 1827: »Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glanz der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusammenkünften über Brücken und Stegen. Von allem diesen erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu tun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewundernswürdiges Gedicht schrieb« (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werk XXXIX, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a. M. 1999, 614).

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wachsen der einzelnen Handlungsstränge und deren Verbindung mit Tells Befreiungstat. Es war ihm klar, daß es sich einerseits um die Tat eines Einzelnen handle, der sich selber gleichzeitig als Teil des Ganzen betrachtete, indem es ihm einesteils um persönliche Gründe der Notwehr und der Familienverteidigung ging, andernteils aber auch um den politischen Vollzug des natürlichen Notstandrechts, wie es sich – ohne Tells Beteiligung – im Rütlischwur formulierte, mit der Rechtfertigung durch alte Rechte und Verträge und dem ausdrücklichen Willen zum Verzicht auf Gewalt und Blutvergießen. Es ging den alten Eidgenossen um die Wiederherstellung der althergebrachten und verbrieften Traditionen, im Sinne einer patriarchalischen Gemeinschaftsstruktur. In Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Französischen Revolution wurde es Schiller mehr und mehr bewußt, daß es für ihn – wie damals in der Jungfrau von Orleans – in erster Linie um das Schaffen eines naiv-naturhaften Volkshelden ging, der aus seiner historischen Situation heraus wie von selbst aus Notwehr zum Handelnden wird. Hatte er den ersten Pfeil auf den Apfel auf dem Haupt seines Kindes in der Rolle des rettenden Vaters abgedrückt, in vollkommener Einheit mit sich selbst und seiner Verantwortung für die eigene Familie, im Sinne der eigenen Befreiung und Lebenserrettung, so zeichnete ihn Schiller vor der Verwendung des zweiten Pfeils in einer anderen, anspruchsvolleren und daher auch komplexeren Situation, in der er sich seines Rechts und seiner Verantwortung vorerst klar werden mußte. Der naive Naturbursche mußte zum sentimentalischen Helden gemacht werden, der seine Tat in allen ihren Konsequenzen mittragen konnte, im Sinne einer lebenserhaltenden Überzeugung. Wie er denn am Schluß seine Waffe auch endgültig zur Seite legt, weiterhin nur noch dem Leben dienend, nicht dem Tode. Tells Tat erscheint denn auch nicht etwa als revolutionärer Akt, sondern als der einzig mögliche – natürliche – Weg zur Wiederherstellung von Ordnung und Recht, im Namen des Volkes und der Obrigkeit, gegen Machtmißbrauch und Verrat. Daher der so umfassende Rechtfertigungsmonolog, aber auch die spätere Auseinandersetzung mit Johannes Parricida, der bloß in eigenem Interesse gehandelt, d. h. seine persönlichen Ziele über das Gemeinwohl gestellt hatte. Der Unterschied zwischen den beiden Handlungsmotivationen mußte in aller Klarheit herausgearbeitet werden, so daß es am Ende jedem Zuschauer bewußt werden sollte, in welchem Maße eine Demokratie sowohl in der idyllisch-antikisierenden Form als auch in der modern-aufgeklärten Konzeption höchste Ansprüche an die Verantwortung und den Opfersinn aller Beteiligten stellt. Ziel war die Darstellung der historischen Realisierung einer humanistisch-aufgeklärten Staatsvision, in der sich alle Bürger in gleicher Weise aufgehoben sahen: mit Rechten und Pflichten, die ihren Möglichkeiten entsprachen. Während der Ausarbeitung klagte Schiller vor allem über die Schwierigkeiten bei der Veranschaulichung der politischen Hintergründe und der Rechtfertigung von öffentlicher Gewalt und individuellen Handlungsmotivationen. Auf jeder Ebene wollte er die Frage nach Recht und Gesetz, nach Gerechtigkeit und Schuld, aufgrund unterschiedlicher Auffassungen, nach Stand, Charakter und

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Bewußtsein der einzelnen Figuren, erörtern, auch im Bezug auf die historische Wahrheit und das Wahrnehmungsvermögen des zeitgenössischen Publikums. Er suchte nach plausiblen Quellen und klaren Denkmustern in der Darstellung des Übergangs der mittelalterlich-feudalen Ordnung in diejenige eines demokratischen Rechtsstaates, in dem sich die unterschiedlichsten Stände und Auffassungen in gemeinsamen Aufgaben und Verantwortungen finden, im gemeinsamen Festhalten an der Vision einer naturgegebenen Gesellschaftsform in Gerechtigkeit und Freiheit. Die einzelnen Motivationen verband er möglichst logisch – nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung – zu einem schicksalhaften Handlungsverlauf, in dem jede Figur und jeder Gedanke in seiner ganzen dramaturgischen Relevanz durchschaubar und wirksam bleibt, nach dem Gesetz des angestrebten ästhetischen Bewußtseins des Zuschauers, im vollkommenen Ausgleich seiner emotionalen und geistigen Wahrnehmungskräfte.

IV. Tendenzen zur typisierenden Nachgestaltung des Natürlichen Bereits zu Beginn des ersten Aufzugs arbeitet Schiller mit ganz unterschiedlichen Darstellungsmodellen, um die umfassende Stoffülle in den Griff zu bekommen. Einerseits wählt er die ausladend sinnliche Veranschaulichung, anderseits den rückwärts gewandten, zusammenfassenden Bericht und schließlich den vorwärtstreibenden dramatischen Prozeß. Vorerst spielt er mit dem Einfall einer bildhaften Naturinszenierung: In der eingehenden Bühnenanweisung zeichnet er eine harmonische Landschaftsidylle, mit befahrenem See, grünen Matten, mit Dörfern und Höfen, alles von »helle[m] Sonnenschein«7 durchwirkt und von Herdengeläute und Kuhreihen erfüllt, umgeben von trutzhaftem Gebirge mit ewigem Schnee. In diesem kunstvoll hergestellten Naturraum besingen der Fischer, der Hirte und Jäger als Vertreter der Urberufe in oratorienhafter Typisierung ihre glückselige Verwurzelung in den ihnen vorgegebenen Naturzyklen, ihr Aufgehobensein in deren Gesetzen und Elementarmächten. Die Naturidylle wird als These bis zum Schluß den Hintergrund des ganzen dramatischen Geschehens bilden, in antithetischer Spannung zu den durch Zivilisation und kaiserliches Expansionsdenken gezeichneten Mächten ungerecht feudaler Unterdrückung. In der Folge werden denn auch Wolkenschatten und Theaterdonner die Idylle in ihr Gegenteil auflösen: in ein gefahrvolles, durch menschliche Aggression und Naturgewalten bedrohtes, am Schluß durch einen Trupp Landenbergischer Reiter sogar in Brand gesetztes Bild der Zerstörung. 7 Schillers Wilhelm Tell wird nach dem zehnten Band der Nationalausgabe zitiert: Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, hg. im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums in Weimar und der Deutschen Akademie, Weimar 1943 ff. [im folgenden: NA; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an]. Hier: NA X, 131.

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Die Berge erscheinen als symbolhaft verklärte Zeugen eines ewig währenden Schauspiels, hoch über allen menschlichen Zwängen und Redimensionierungen. Im Berglied,8 das Schiller ursprünglich für die Eröffnung des Dramas entwarf, beschwört er die Berge in ihrer göttlich distanzierten Erhabenheit als Hüter aller lebensbewahrenden Kräfte, der Wege und Wasserläufe, zum Schutz der ewigen Naturgesetze. In ihren Bereich gehört Tell, als freier Jäger und unabhängiger Bergler, Teil einer mythisch-göttlichen Grundharmonie, Familienvater und treuer Ehegatte. Wie die Jungfrau von Orleans in ihrer Gottesnähe innere Stimmen hört, die sie unbedingt zu befolgen hat, so kann Tell ganz auf die eigenen naturmythischen Kräfte vertrauen, in deren Namen er lebt und handelt, als Teil ihrer selbst. Während des ganzen Stücks werden die Bergkulissen ihre bannende Wirkung ausüben, als Zeichen der naiven Daseinsverbundenheit Tells, aber auch der Naturnähe aller Einheimischen, ihrer Vertrautheit mit den Naturzyklen, den Geheimnissen von Wetter und Jahreszeit, von Lebenskraft und absoluter Treue; im Gegensatz zu den Fremden, die den Prinzipien höfischer Karriere und Macht folgen, statt für Recht und Ordnung zu sorgen, wie es ihre eigentliche Aufgabe in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft wäre. Diese wird vorbildhaft vom Freiherrn von Attinghausen wahrgenommen, der mit seinen Untergebenen, sie väterlich segnend, Wein und Brot teilt, später, nach seiner Bekehrung durch Berta von Bruneck, auch von seinem Neffen Rudenz, der sich, mit seiner Frau, mit den Eidgenossen, im Zeichen eines gemeinsamen Treueversprechens, verbindet. Seine Worte beschließen die dramatische Handlung, mit der feierlichen Proklamation der Aufhebung der Leibeigenschaft, im öffentlichen Vollzug der politischen Freiheit für alle9: »Und frei erklär’ ich alle meine Knechte.« Dies – wohlvermerkt – im Jahr der Abschaffung der Sklaverei im Norden und Nordwesten der USA.10 Drei Kompositionsebenen verbinden sich in der politischen Strukturierung des Handlungsverlaufs: die mythische des Naturrechts, die feudalen Ansprüche des Adels und schließlich die sich entwickelnden Selbstverwaltungsansprüche der Landleute, aufgrund ihrer althergebrachten, verbrieften Rechte, welche der Kaiser – aus Habsburgischen Eigeninteressen – nicht mehr erneuern will. Wie die Natur den einen gegenüber freundlich, den andern indes bedrohlich erscheint, so gibt es Adlige, die sich verständnisvoll-gemeinschaftsfördernd oder aber repressiv-überheblich verhalten. Auch die Bevölkerung der alten Eidgenossenschaft ist in sich typologisch – nach Rang, Besitz, Bildung, Beruf, Alter, geschlechtlicher und landschaftlicher Zugehörigkeit, politischer Einsicht oder ständischer Abhängigkeit – strukturiert. Von der politischen Komplexität des kleinen Staatswesens wollte Schiller ein möglichst farbiges Bild aufzeigen, das sich aber im Widerstand gegen die unterdrückenVgl. NA II/1, 216 f. NA X, 277 (Vs. 3290). 10 Im Süden der USA wurde die Abschaffung der Sklaverei politisch erst am 1. Januar 1863 durch Präsident Lincoln durchgesetzt! 8 9

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den Feudalmächte zusammenschließt, die Devisen der Französischen Revolution antizipierend. Dies im Namen der Natur, im rousseauistischen Sinne verstanden als Inbegriff göttlicher Lebenskraft; nicht etwa der reinen Vernunft, welcher die Revolutionäre in Frankreich als Sinnbild säkularisiert göttlicher Schöpferkraft huldigten. So steht auf der Seite der Landsleute das Gefühl und die naturnahe Menschlichkeit, auf der Seite des Adels der überlegene Anspruch, der Wille zu ordnen und zu befehlen. Alles erscheint polarisiert: Die Ureinwohner bauen auf ihre verbrieften Rechte und Freiheitsansprüche, sie leben in Einfachheit und Sittenstrenge, während sich die als Eindringlinge abgelehnten Vertreter kaiserlicher Herrschaft auf Titel und Machtansprüche, Uniformen und Waffen berufen, auf lebensfeindliche Verbote und ein ihnen zustehendes ungehöriges, unsittliches Verhalten, typisch für ihre von Rousseau als dekadent bezeichnete zivilisatorische Naturferne.

V. Die politische Rolle der Frau Im Grunde halten sich denkerisch wie darstellerisch die Gegensätzlichkeiten in ihrer Statik die Waage. Alle Figuren erscheinen in ihrem vorgegebenen Netz von Bezügen, die Schiller von den beiden politisch entgegengesetzten Seiten her aufeinander zu eskalieren läßt, in einem wohlüberlegten, nach Ursache und Wirkung angelegten Spannungsfeld von Provokation und Widerstand, Unterdrückung und Freiheitsstreben. Dabei kommt den politisch und rollenmäßig weniger gebundenen, daher für neue Ideen und Lösungen offeneren Frauen die innovative Rolle zu. Während die männlichen Rollenträger zumeist ratlos ihre Notlage diskutieren, entwikkeln sich die Frauen im ersten Teil des Werks zu den verborgenen Drahtzieherinnen der dramatischen Handlung, werden so – in ihren natürlichen Lebensbereichen – zu eigentlichen Spielleiterinnen. Bertha von Bruneck versucht einerseits den notleidenden Landsleuten zu helfen, anderseits bringt sie Rudenz, der sich ihretwegen in ehrgeiziger Verblendung auf die österreichische Seite schlug, wieder auf den Boden der Eidgenossen zurück, so daß er nicht nur zum Verfechter ihrer Rechte wird, sondern am Ende, aus Dankbarkeit für die Mithilfe an der Befreiung seiner Braut, seine Untertanen als Patriarch für frei erklärt, als Nachfolger seines Oheims als ihr Schirm- und Bannerherr. Sie ist es auch, die Geßlers Gebot des Apfelschusses öffentlich als unmenschlich zu bezeichnen wagt. Gertrud Stauffacher als vertraute Partnerin und kluge Ratgeberin ihres Mannes kennt die Rechte und Pflichten der Bürger, rät zur Vereinigung mit Gleichgesinnten, um eine gemeinsame effiziente Lösung der politischen Bedrängnis zur erreichen. Ihr Rat ist die unerschrockene Anstiftung zur Konspiration. Wohl steht ihr Mann mit seiner politischen Verantwortung und Stellung in der Öffentlichkeit; sie selbst steht im Hintergrund, weise, überlegen, mit innovativen Ideen. Einige ihrer Kernsätze11: »Wüßt’ ich mein Herz 11

Ebd., 145 (Vs. 320 f., 325; 329).

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an zeitlich Gut gefesselt, / den Brand wärf ich hinein mit eigner Hand«; »Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich«; »Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei.« Hedwig, Tells Frau, wirkt als die Hüterin von Haus und Herd, ängstigt sich, wenn ihr Mann in die Berge auf die Jagd geht, mag es nicht, wenn die Kinder mit der Armbrust spielen. Sie warnt ihn vor der Rache des Landvogt, den Tell in Angst gesehen hatte. Stolz auf Tell als Retter des Landes wirft sie den Landsleuten vor, ihn im Stich gelassen zu haben12: »Wo waret ihr, da man den Trefflichen / in Bande schlug?« Glücklich kehrt sie an der Seite Tells, der inskünftig auf seine Waffe verzichtet, in die wieder gewonnene Familienidylle zurück, ihn in weiser Überlegenheit fraglos und weitherzig gewähren lassend. Als einzige Frau aus dem Volk tritt Elsbeth mit volkstümlicher Schlagfertigkeit Geßlers Söldnern entgegen, die beim Hut auf der Stange Wache halten13: »Wollt’s Gott, er gieng’ und ließ uns seinen Hut, / Es sollte drum nicht schlechter stehn ums Land!« Armgard, deren Mann seit Monaten ohne Gerichtsurteil im Gefängnis sitzt, hat als Kleinbäuerin nichts mehr zu verlieren; sie legt sich mit ihren Kindern Geßler in den Weg, getraut sich, ihm offen die Wahrheit zu sagen14: »Gerechtigkeit, Landvogt! Du bist der Richter / Im Lande an des Kaisers Statt und Gottes. / Thu deine Pflicht!«; »Oh, ich bin nur ein Weib! Wär’ ich ein Mann, / Ich wüßte wohl was besseres, als hier / Im Staub zu liegen – «.

VI. Der Entwurf des seinem Gewissen allein verpflichteten ›demokratischen‹ Staatsbürgers Tells Flucht wird von ihm selbst, in rhetorischer Manier, auf seine erstaunten Zuhörer hin anschaulich als ein Gnadenakt Gottes geschildert, indem sich ihm die Natur selbst rettend zur Seite stellt. Nach dem dramatischen Rückblick voller authentischer Details wird ebenso konkret, in seherischer Antizipation, die künftige Eidgenossenschaft gezeichnet, in ihrer Entwicklung zum blühenden Staatenbund, gegründet auf dem Eid der Bürger, gegen den die feudalen Mächte zum Scheitern verurteilt sind; dies alles formuliert in den Wortbildern des sterbenden Attinghausen, in einer gnadenhaft feierlichen Ekstase auf die Zukunft hin, vergleichbar der Vision vom gelobten Land durch Moses auf dem Berg Tabor. Schiller inszenierte beide Szenen mit den aufwendigen Mitteln seiner konkretisierenden Vergegenwärtigungstechnik: Unter dem Eindruck des Sturms, dann der Todesstille erfährt die Sprache ihre höchste kommunikative Konzentration, im endgültig formelhaften Glanz fast liturgischer Endgültigkeit, im pathetischen Aufruf zum höchsten gemeinschaftlichen Gut, zum Frieden in Einigkeit.15 12 13 14 15

Ebd., 234 (Vs. 2338 f.). Ebd., 205 (Vs. 1766 f.). Ebd., 251 (Vs. 2754-2756), 252 (Vs. 2771-2773). [Attinghausen:] »Es hebt die Freiheit siegend ihre Fahne. Walther Fürsts und Stauffachers Hände fassend

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Den rückblickenden Beschwörungen seiner Flucht sowie Attinghausens antizipatorischem Vorausblick folgt Tells entscheidender Blick nach innen. Schiller entwickelt dafür eine ganz neue Darstellungsebene: diejenige des individuellen Gewissens, wo die Verantwortung nicht mehr dem Schicksal oder Gott oder den Umständen übertragen, sondern einzig und allein und in vollkommener Selbständigkeit vom Individuum selbst übernommen wird. Tell ist von Felsen umschlossen, in der hohlen Gasse; es gibt nichts anderes mehr als die Rechtfertigung der Richtigkeit der im Grunde bereits beschlossenen Tat vor sich selbst. Er wechselt von der naiven Sprache des Handelns in den für ihn neuen Ton der Selbstauseinandersetzung, sich die Tat vergegenwärtigend, seine Chancen erwägend, die Folgen entwickelnd, sich an den früheren Seelenfrieden erinnernd, an seine Verwandlung zum potentiellen Mörder seines Kindes, als er in höchster Not gegenüber sich selbst und Gott einen Eid leistete, zum Beschützer der Kinder und Frauen zu werden und Geßlers mörderische Lust zu bestrafen. Er spricht auf der Ebene der persönlichen Erfahrung und Verantwortung, im Stile einer Selbstrechtfertigung: die eigene Situation und diejenige seines Gegners klar skizzierend, illusionslos, des Täters wie des Opfers, im Gegensatz zu allen andern Menschen, die sonst auf dieser Straße ziehen »bis ans End’ der Welt«. Er entwirft den Horizont seiner Existenz: die Familie, die Natur, das Gebirge, in deren Namen er seinen Meisterschuß tun will, um sich zu schützen, sich und die Unschuld selbst. Im Hintergrund nähert sich die »heitre Musik« einer Hochzeitsgesellschaft,16 Zeichen natürlichen Lebens; Geßler reitet mit kleinem Gefolge heran, Armgard stellt sich ihm mit ihren Kindern in den Weg, ihn um Gnade und Gerechtigkeit bittend. Geßler, entsetzt über so viel Provokation, will über sie hinwegreiten und »ein neu Gesetz in diesen Landen / Verkündigen«, um den »kecken Geist der Freiheit«17 zu beugen. Da trifft ihn Tells Geschoß – als ob des Tyrannen böser Geist selbst die Entscheidung in ihrer Endgültigkeit erzwungen habe. Mit seinem Tod erkennen sich die Landsleute als frei18: »Der Tyrann / Des Landes ist gefallen. Wir erdulden / Keine Gewalt mehr. Wir sind freie Menschen.« Die Waffenknechte fliehen nach Küßnacht, um des Kaisers Feste zu retten, und schon singen die Barmherzigen Brüder das Lied vom raschen Tod und dem folgenden Gottesgericht. Das heißt, hinter dem zeitlichen Geschehen zeigen sich die überzeitlich-existentiellen Dimensionen: das Göttliche sowie die naturhaft-mythischen Gegebenheiten der Schöpfung: gefaßt im Freiheits- und Selbsterhaltungstrieb der Menschen. Was sagte

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Drum haltet fest zusammen – fest und ewig – Kein Ort der Freiheit sei dem andern fremd – Hochwachten stellet aus auf euren Bergen, Dass sich der Bund zum Bunde rasch versammle – Seid einig – einig – einig –« (ebd., 238, Vs. 2446-2452). Ebd., 246 (Bühnenanweisung nach Vs. 2643). Ebd., 252 (Vs. 2784-2786). Ebd., 255 (Vs. 2818-2820).

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Tell in seinem Gespräch mit Stauffacher vor Zwing-Uri? »Was Hände bauten, können Hände stürzen / nach den Bergen zeigend, / Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet.«19 In den Bühnenanweisungen wird dieses übersprachlich-mythische Geschehen bildhaft vergegenwärtigt: Auf allen Bergen brennen Signalfeuer, es erklingen die Glocken, die Balken des Gerüstes von Zwing-Uri stürzen, das Horn von Uri wird mit Macht geblasen, Mädchen bringen den Hut auf einer Stange getragen; und es kommentiert Walter Fürst20: »Seht, welch ein Fest! Des Tages werden sich / Die Kinder spät als Greise noch erinnern.« Das Stück endet – seiner Anlage gemäß – ambivalent, mit zwei Schlüssen: mit der Freiheitsfeier, in welcher Tell zum Helden erkoren wird21: »Es lebe Tell! der Schütz und der Erretter!« Berta vermählt sich mit Rudenz, und dieser erklärt alle seine Knechte für frei, hebt die ›unnatürlich-künstlichen‹ Standesschranken auf. In dieser Hochstimmung erfährt man andererseits den Kaisermord: Tell kann im Gespräch mit Johannes Parricida die Rechtlichkeit seines Handelns erklären und den Kaisermörder vor den geistigen Richterstuhl des Papstes weisen. Vor dem Hintergrund der mythischen Bergwelt bleibt eine idyllischgewachsene Gemeinschaft erhalten, in natürlicher Achtung der menschlichen Grundrechte. VII. Einheitlichkeit in der Komplexität Die Einheit des Werks liegt in der Disparatheit der von Schiller sorgfältig entwikkelten, verborgenen Naturkraft des gemeinschaftlichen Gewissens. Jede Figur entwickelt aufgrund der eigenen Situation in der Gesellschaft, ihrer Stellung und ihrem Selbstverständnis eine je andere Auffassung der Verantwortlichkeiten dem Ganzen gegenüber. In dieser spezifischen Verbindlichkeit erkennt sie sich als das, was sie zum unverwechselbaren Individuum macht: einerseits in der gesellschaftsbezogenen Rollenhaftigkeit, anderseits im eigenen politischen Bewußtsein. Diese gemeinsamen Bezugsnetze erklären auch das typisch-prägnante Sprechen aller dramatischen Figuren, das etwas plakativ vereinfachte Argumentieren wie auch das etikettenhafte Verhalten in eigener Sache: als Parteigänger der Freiheit, als Vertreter verschiedener Berufe und familiärer Bereiche, als Bürger oder als Adlige, als Reichsverwalter oder Schirmherren. Die Frage nach der Berechtigung des Mordes wandelt sich zur Feier der eigenen Selbstverantwortlichkeit, des individuellen Beitrags eines jeden Einzelnen für die Gemeinschaft. Dieser Aspekt wurde von Schiller weniger in der hierarchisch-adligen Perspektive entwickelt als vielmehr in der Gegensicht der mündig gewordenen, der Demokratie fähigen Landsleute: mit Mehrheitsentscheiden und Konsensmöglichkeiten, in Übereinstimmung mit den Gesetzen 19 20 21

Ebd., 149 (Vs. 387 f.). Ebd., 260 (Vs. 2914 f.). Ebd., 277 (Vs. 3281).

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und noch zu schaffenden Verträgen. Freiheit wird in diesem Sinne relativ, d. h. abhängig von den jeweiligen Gegebenheiten, gelöst von Machtdenken, weil auf das allgemeine Gemeinwohl bezogen. Freiheit heißt Macht über sich selbst finden in der bewußten Selbstbestimmung, ohne Rücksicht auf fremde Motivationen und außerpersönliche Kriterien. In der Umkehr des Schicksalbegriffs vom Feudal-Hierarchischen ins Demokratisch-Relative liegt die große Leistung von Schillers Drama. Daher die Mehrschichtigkeit seiner Strukturen, die Auflösung des Absoluten im Besonderen, scheinbar Provinziell-Idyllischen. Die ›Urschweizer Lande‹ befinden sich als Staatsgebilde überall dort, wo die politischen Verantwortlichkeiten in der Volkssouveränität aufgehoben sind; da braucht es die gekrönten Häupter nur noch als Repräsentanten und Garanten des Bestehenden. Die unmenschliche Staatsideologie in der Durchsetzung unbeschränkten Herrschaftsrechts wird im Tell wohl mit all seinen Ansprüchen inszeniert, aber in parodistisch-provinzieller Überziehung und konsequenter Umdrehung der dramatischen Kräfte. Leuthold durchschaut in Shakespearescher Manier die Lächerlichkeit des eigenen Prangerstehens vor dem Hut auf der Stange, desgleichen später Rudolf der Harras und vollends der sich in seinem ganzen Elend offenbarende Herzog von Schwaben. Berta von Bruneck und Rudenz vertreten ganz andere Prioritäten: das Recht auf Liebe unter Verzicht auf höfische Ehren, dafür aber in Gleichheit und Freiheit mit den Landsleuten. Indem die repressiven Kräfte im Tell so grotesk verstiegen, derart unnatürlich-verwerflich erscheinen, steht der Zuschauer stets fraglos auf der Seite der Verschwörer, auf den die Verhältnisse retablierenden Umsturz wartend, weil die Zeiten des so negativ dargestellten Feudalismus in ihrer absurden Stil- und Geistlosigkeit fraglos vorbei sind. ›Helvetien‹ ist nicht die große Welt, sondern ein kleiner Staat des Übergangs, des Gotthard-Passes, der Eisgebirge und kargen Äcker, der Gefahren und Bedrohungen, wo nur Zusammenhalten und gegenseitige Hilfe ein Überleben überhaupt möglich machen: Fleiß und Ordentlichkeit, Verzicht auf Prunk und höfischen Glanz, Einfachheit und Schlichtheit, im Sinne rousseauscher Naturbegeisterung. Um dem Vorwurf der theatralischen Vereinfachung zu entgehen, stellte Schiller die Menschen nicht in Freiheit, sondern im leidenden Getrenntsein von ihr dar. Als Überwinder Kants interessierte er sich mehr für die neue These des selbständig denkenden, für sich selbst verantwortlichen Staatsbürgers als für dessen Antithese; Geßlers ›widernatürliche‹ Motivationen sind nur am Rande und Johannes Parricidas Handlungsimpulse nur in seiner Reue dargestellt. Dies macht die Stärke, aber auch die Schwäche des Stückes aus.

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VIII. Schillers Vision eines natürlichen Rechtsstaats Schiller hat Wilhelm Tell 1804 geschrieben, als französischer Ehrenbürger und ursprünglicher Anhänger der Ideen der Französischen Revolution, als hoch differenzierte Antwort auf die Ereignisse in Frankreich. In der Darstellung der Gründung eines Urstaates auf demokratisch-natürlicher Grundlage ging es ihm darum, im Vergleich mit den Ideen der Französischen Revolution, die Voraussetzungen eines modernen Staatswesens zu durchdenken, in Respekt vor den Traditionen, aber auch mit der Möglichkeit der Selbstfindung des Einzelnen, aufgrund der ihm zustehenden Menschenrechte: des Rechts auf Leben, Besitz und Denkfreiheit. Die Volksversammlung auf dem Rütli veranschaulicht eine Art Tagsatzung, wie er sie in den Quellen vorfand: mit der Möglichkeit der Selbstbestimmung aufgrund gewählter Delegierter, nach dem Prinzip der Repräsentation und der geteilten Verantwortung. Auf allen Ebenen des Dramas wird auf die Devisen von Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit angespielt: mit dem Bündnis, dem Verzicht Berthas auf ihre Vorrechte, der brisanten ›Tötung‹ anmaßender Machthaber. Zwing-Uri kann als Hinweis auf die Bastille verstanden werden, so wie für viele der Hut auf der Stange oder die Freiheitsfeuer auf den Bergen auf naturmythisch-revolutionäres Brauchtum hinweisen. Schiller liebte die dramatisch-anschauliche Aufladung sinnbildlicher Motive, die er kontextuell aus verschiedenen Blickwinkeln zu umspielen verstand, im dramaturgisch-poetischen Verwenden stofflicher, d. h. realistisch und historisch vorgegebener, Erscheinungen. Im Tell wird in der Wortwahl und den dazugehörigen Bedeutungsassoziationen bewußt auf die ständische, berufliche und auch intellektuelle Zugehörigkeit der Figuren angespielt, im Versuch, diese in ihrer natürlichen Vorstellungswelt typologisch zu fassen, in Berücksichtigung auch der Zeitbezogenheit ihrer Handlungs- und Erkenntnisperspektiven. Vor allem ging es ihm darum, die hinter den vordergründigen Erscheinungen befindlichen Gesetzlichkeiten sichtbar zu machen, welche in geradezu natürlicher Schicksalhaftigkeit von innen her das Leben durchdringen und die Handlungsabläufe mit vorwärts drängender Spannkraft erfüllen, mit den in ihnen unmittelbar wirkenden – geistig-moralisch-naturhaften – Kategorien, die es in der Überwindung rein naiver Intuition ins politische Bewußtsein umzusetzen gilt. ›Neu‹ ist der natur-religiöse Bezug der von Schiller bewußt eingeführten historischen Perspektive der damaligen Eidgenossenschaft von 1291: Auf dem Rütli wird im Namen Gottes und seiner Natur geschworen, in Paris angesichts der Göttin Vernunft. Selbst Parricida unterwirft sich der göttlichen Vergebung. Gott hat den Menschen ihr Land, die Schönheit der Naturlandschaft, Vernunft und Tugend gegeben, damit sie in Freiheit sich selber bestimmen können, aufgrund der in der Natur angelegten Rechte. Dieses ›Gottesrecht‹ holen sich die Eidgenossen mit den ihnen gegebenen Mitteln zurück, in einem in sich zwar anachronistischen, aber daher umso berührenderen Schauspiel politischer Verantwortung, in Akzeptierung der in der menschlichen Natur angelegten Grundrechte, in welcher Epoche man auch lebe.

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