Literalsinnorientierte muslimische und christliche Konvertitinnen im interreligiösen Vergleich [1 ed.] 9783737010702, 9783847110705


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Literalsinnorientierte muslimische und christliche Konvertitinnen im interreligiösen Vergleich [1 ed.]
 9783737010702, 9783847110705

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Kirche – Konfession – Religion

Band 75

Herausgegeben vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes unter Mitarbeit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen von Dagmar Heller in Verbindung mit Andreas Feldtkeller, Miriam Rose und Gury Schneider-Ludorff

Amrei Sander

Literalsinnorientierte muslimische und christliche Konvertitinnen im interreligiösen Vergleich

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Deutschen Gesellschaft fþr Missionswissenschaft. Zgl. Dissertation, Theologische FakultÐt der Humboldt-UniversitÐt zu Berlin, 2018  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Waldweg,  Prof. Dr. Andreas Feldtkeller Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-1507 ISBN 978-3-7370-1070-2

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Formale Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Geschichte der Konversionsforschung . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Konversionen zum Islam und zum Christentum – der aktuelle Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Konversion zum Islam – der Stand der deutschsprachigen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Konversion zum Christentum – der Stand der deutschsprachigen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Exkurs: Erkenntnistheoretische Positionierung . . . . . . . . . 1.5. Zur Definition von Konversion in dieser Arbeit . . . . . . . . .

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15 15 20

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99 99

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2. Zur Durchführung der Forschung . . . 2.1. Forschungsfrage und -ansatz . . . 2.2. Die Wahl der Forschungsmethode . 2.3. Die Wahl der Auswertungsmethode 2.4. Exkurs: Konversionsrhetoriken . .

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3. Die Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Forscherin und das Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die teilnehmende Beobachtung der literalsinnorientierten sunnitischen und freicharismatischen Gemeinden . . . . . 3.2.1. Die sunnitischen Gemeinden . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Die freicharismatischen Gemeinden . . . . . . . . .

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6

Inhalt

3.3. Die Interviews mit Konvertitinnen zum literalsinnorientierten sunnitischen und freicharismatischen Glauben . . . . . . . . . . 3.3.1. Die Interviewauswertungen des sunnitischen Samples . . . 3.3.1.1. Die Funktionenanalyse des sunnitischen Samples . A: »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B: »Strukturierung der Lebensführung« . . . . . . . C: »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft« . D: »Soziale Einbindung« . . . . . . . . . . . . . . . E: »Soziale Ressource« . . . . . . . . . . . . . . . . F: »Aufwertung der Mutterrolle« . . . . . . . . . . . G: »Kognitive und emotionale Konsonanz durch Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang« . . . . . . . . . . . . . . . . . H: »Aufwertung eigener Persönlichkeitsmerkmale«. I: »Fortführung sozialistischer Gesellschaftsstrukturen« . . . . . . . . . . . . . . . J: »Alternativkarriere« . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Die Interviewauswertungen des freicharismatischen Samples . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1. Die Funktionenanalyse des freicharismatischen Samples . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A: »Lebensstabilisierung durch Verbindung zu einer als transzendent empfundenen Entität« . . . . B: »Innerfamiliäre Positionierung/Abgrenzung von der Herkunftsfamilie« . . . . . . . . . . . . . . . . C: »Kognitive und emotionale Entlastung durch Annahme eines höheren Lebenssinns« . . . . . . . D: »Strukturierung von Geschlechterbeziehungen« . E: »Soziale Einbindung« . . . . . . . . . . . . . . . F: »Erhöhung der Bindungsfähigkeit« . . . . . . . . G: »Verbesserung belasteter zwischenmenschlicher Beziehungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Der interreligiöse Vergleich der beiden Samples . . . . . . . . . .

123 128 137 138 157 163 177 181 185

190 196 198 203 204 207 220 221 248 255 263 275 278 280 287

4. Endbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303 303 312

5. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

7

6. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legende zur Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

An erster Stelle möchte ich meinen Doktoreltern, Prof. Dr. Andreas Feldtkeller und Prof.in Dr.in Manja Stephan-Emmrich, ganz herzlich danken. Ohne ihre Betreuung und wertvollen Anregungen wäre das Entstehen dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Zudem erhielt ich durch Prof. Dr. Feldtkeller die große Chance, zwei Mal als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für RMÖ der Theologischen Fakultät der HU tätig zu werden und wichtige akademische Erfahrungen zu sammeln, die meinem Promotionsvorhaben förderlich waren. Er hatte immer ein offenes Sprechzimmer für meine Anliegen und die Zusammenarbeit mit ihm und seinem Team war menschlich wie fachlich sehr wertvoll für mich. Mein Dank gehört des Weiteren Prof.in Dr.in Judith Becker für das Vorsitzen in der Disputationskommission und allen Unterstützer_innen während und vor derselben. Farina F. hat mir verlässlich zur Seite gestanden, wenn ich aufgrund der Arbeit an der Dissertation andere Tätigkeiten nicht wahrnehmen konnte. Der Theologin Andrea V. und dem Kulturwissenschaftler Bernd J. bin ich hingegen für die kritische Diskussion meiner Arbeit sehr verbunden. Des Weiteren möchte ich allen Menschen danken, die mich in dieser Zeit ermutigt und an mich geglaubt haben, und nicht zuletzt meinen Vierbeinern, welche für die nötige Bewegung bzw. stille Gesellschaft beim Schreiben gesorgt haben. Abschließend möchte ich mich bei den Forscher_innen bedanken, deren Werke mich inspiriert haben, vor allem aber bei den Menschen, von denen diese Arbeit handelt: Danke, dass ich an Eurem Leben teilhaben durfte und dadurch viel gelernt habe.

Formale Hinweise

Zur Zitierweise Aufgrund der Debatten um Plagiate und ungenaues Zitieren bei Dissertationen möchte ich, um Missverständnissen vorzubeugen, meine Zitierweise näher erläutern. In meinem Fach, der Religionswissenschaft, hat sich aufgrund der zahlreichen Unterdisziplinen keine einheitliche Zitierweise durchgesetzt. Ich werde nachfolgend meine Zitierregeln darlegen und zur Illustration mit Beispielen versehen, wobei zur besseren Verständlichkeit die von anderen Autor_innen übernommenen Teile fett markiert sind: – Ich zitiere nach der deutschen Zitierweise mit Fußnoten, wobei ich, soweit möglich, Verfasser_in und Erscheinungsjahr angebe, wenn nötig mit Buchstaben versehen (z. B. Müller 1991a, Müller 1991b). – Alle Quellen sind im Literaturverzeichnis mit Auflage, Verlag und Erscheinungsort genannt; im Interesse der Lesbarkeit habe ich daher auf vollständige Quellenangaben im Text verzichtet. – Wenn sich die Fußnote nur auf ein wörtlich zitiertes Wort, Satzteil oder einen Satz bezieht, habe ich dies kenntlich gemacht, indem ich den wörtlich zitierten Teil in Anführungszeichen gesetzt habe (Die Frage ist: Kann man Konversion nicht »als kognitive Reorientierung«1 definieren?), und die Fußnote direkt hinter das Ausführungszeichen gesetzt habe. – Wenn ich in einem Satz eigene und fremde Satzteile kombiniert habe, der gesamte Satz jedoch dem Sinn nach zitiert, habe ich »Vgl.« gesetzt, die Anführungsstriche beziehen sich dann auf den wortwörtlich zitierten Part (In den späten 1980er Jahren rückte zunehmend der »konstruktive Charakter von Konversionserzählungen« in den Mittelpunkt der Forschung.2), wenn nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet. – Wenn ich nur dem Sinn nach zitiere, habe ich ebenfalls »Vgl.« gesetzt.

1 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 21. 2 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 67.

12

Formale Hinweise

– Die Fußnote hinter einem Satzzeichen bezieht sich im Falle eines vergleichenden Zitates auf den Text vor dem Satzzeichen; die Fußnote hinter einem Wort auf das Wort. – Wenn auf die Anführungszeichen nicht spätestens am Ende des Satzes eine Quellenangabe folgt, habe ich diese in modalisierender Funktion verwendet. – Auslassungszeichen habe ich ohne Leerzeichen zum Wort gesetzt, wenn Teile eines Wortes gekürzt wurden (wenn aus »in schönen Tagen« »in schöne[…] Tage[…]« wurde) und mit Leerzeichen, wenn die Auslassung erst nach einem Leerzeichen beginnt (im dargelegten Beispiel: »in […] Tagen«). – Manchmal war es notwendig, Groß- und Kleinschreibung zu ändern oder klärende Einschübe vorzunehmen, dies habe ich ebenfalls durch eckige Klammern kenntlich gemacht: aus »neuer Glaube« wird dann »[N]euer [christlicher] Glaube«. Ich hoffe, dass diese Darlegung meiner Zitierweise etwaigen Unklarheiten den Boden entzieht. Aus demselben Grund habe ich mich entschlossen, tatsächlich fast immer nach Sätzen und nicht nach Absätzen Fußnoten zu setzen, was die Anzahl der Fußnoten erhöht, die möglicher Missverständnisse aber hoffentlich verringert. Lediglich in wenigen Ausnahmefällen habe ich eine Fußnote für mehrere Sätze gesetzt und dies in selbiger eindeutig kenntlich gemacht. Zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache Bei der Auswahl der Sprachformen stellte sich das Problem, dass ich mich bei gemischtgeschlechtlichen Gruppen teils auf Menschen beziehe, von denen manche sich vermutlich außerhalb einer binären Einteilung in »Mann« und »Frau« verorten, als auch auf Personengruppen, in denen eine binäre Sichtweise vorherrscht (z. B. literalsinnorientierte Gläubige). Im Sinne der Einheitlichkeit habe ich dennoch durchgängig den Unterstrich verwendet (die Konvertit_innen) und im Interesse der Lesbarkeit im Singular nur den weiblichen Artikel verwendet, auch wenn alle Geschlechter gemeint sind (die Leser_in). Zu den Übersetzungen Alle Übersetzungen aus dem Englischen sind, wenn nicht auf andere Übersetzer_innen hingewiesen bzw. die deutsche Ausgabe verwendet wurde, durch mich erfolgt.

Formale Hinweise

13

Zu den Fremdwörtern Ich schreibe bereits in den deutschen Sprachgebrauch übergegangene Fremdwörter in der im Deutschen gebräuchlichsten Form (z. B. Koran), nicht-eingedeutschte Fremdwörter hingegen klein und kursiv (z. B. hijab).3

3 In Anlehnung an den Islamwissenschaftler Schneiders schreibe ich islamische Begriffe »an der deutschen Rechtschreibung orientiert« und ohne »diakritische Zeichen«, vgl. Schneiders (2014), S. 24.

1.

Einleitung

Nach einer kurzen Hinführung zum Gegenstand meines Forschungsinteresses möchte ich insbesondere die theoretischen Grundlagen meiner Arbeit darlegen. Dafür beginne ich mit einem Überblick über die Entwicklung der Konversionsforschung und resümiere anschließend den derzeitigen Forschungsstand in Bezug auf meine Forschungsgebiete. Ich schließe dieses einleitende Kapitel mit meiner erkenntnistheoretischen Positionierung sowie der von mir verwendeten Definition von Konversion.

1.1. Hinführung Konversion: Ein Thema, welches Unbehagen auslöst. Nicht nur in der Konversionsforschung geistern Bilder quasi fremdbestimmter, »gehirngewaschener« Konvertit_innen durch die Köpfe derer, die mit diesem Phänomen konfrontiert werden. Religion ist an sich schon ein umstrittenes Thema in der deutschen Gesellschaft;4 der Konversion haftet jedoch zudem der Ruch des Offensiven, Manipulativen, der plötzlichen Willensaufgabe und des religiösen Fanatismus an. Sind nicht die radikalsten Religiösen oft Konvertierte? Kennt man die Geschichten nicht in zig Variationen aus den Medien, von der vorher unauffälligen, lebenslustigen Nachbarin oder dem feierfreudigen Freund, der urplötzlich gläubig wird und eine völlige Umkehr vollzieht, die bisherigen Freund_innen verleugnet und den kompletten Lebenswandel ändert? Konversion bringt das Thema Religion in das Leben von Menschen, die vorher anders- oder sogar gar nicht gläubig waren – und in deren Umfeld, welches oft wenig affirmativ reagiert. 4 Nach dem Bertelsmann Religionsmonitor (2013) bewerten zwar 60 % der Deutschen eine zunehmende »religiöse Vielfalt« als »kulturelle Bereicherung«, 64 % sehen sie jedoch als »Ursache von Konflikten«. Besonders groß sind hierbei die Vorbehalte gegenüber dem Islam: 51 % sehen diesen »eher als Bedrohung« an, vgl. Bertelsmann Religionsmonitor (2013), S. 3. Nur 57 % der Deutschen bezeichnen sich als »sehr«, »ziemlich« oder »mittel« religiös, wodurch Deutschland im europäischen Mittelfeld liegt, vgl. ebd., S. 8.

16

Einleitung

Konversion ist zudem oft das Ergebnis von Mission; Mission ist aber wegen des aktiven Einbringens religiöser Themen in das weitgehend säkularisierte deutsche Umfeld zusätzlich negativ besetzt. Besonders kontrovers erscheint es dabei, wenn Menschen zu gesamtgesellschaftlich umstrittenen Religionsauslegungen konvertieren, wie zum traditionalistischen oder literalsinnorientierten5 Islam oder aber zum freikirchlichen, oft ebenfalls literalsinnorientierten6 Christentum. Sind die Konvertierten Frauen, rücken zudem noch geschlechterspezifische Fragen in den Vordergrund, haben doch zeitgenössische Diskussionen um Religionen, besonders um den Islam, oft Geschlechterrollen und Frauenrechte zum Inhalt. Dabei wird häufig argumentiert, dass der Islam wie auch das Christentum patriarchal geprägt seien und bestimmte, literalsinnorientierte Religionsauslegungen daher automatisch eine Ungleich- oder gar Schlechterbehandlung von Frauen implizierten.7 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Konversion von Frauen zu diesen Religionsauslegungen die Gesellschaft vor ein doppeltes Rätsel stellt: Das der 5 Literalsinnorientiert meint, dass die Auslegung der Quellen (Koran, Sunna) am wörtlichen Sinne orientiert vollzogen wird, was auch den weitgehenden Verzicht auf rechtsschulengebundene Auslegungen impliziert. Diese Strömungen werden von vielen anderen Autor_innen als salafistisch bzw. salafismusaffin bezeichnet. Ich habe in meiner Arbeit bewusst auf diese politisch und medial aufgeladenen Begriffe verzichtet, da sie nicht mehr vorurteilsfrei zu verwenden sind und es fraglich ist, ob sie sich überhaupt zur zutreffenden und präzisen Beschreibung der betreffenden Strömung eignen, zumal sie mittlerweile zumeist sehr auf eine bestimmte Spielart derselben verengt verwendet werden. Dazu kommt, dass sie von vielen der betreffenden Gemeinschaften und ihren Mitgliedern auch nicht (mehr) als Eigenbezeichnung verwendet werden. 6 Literalsinnorientiert meint, dass die Bibelauslegung am wörtlichen Sinne orientiert vollzogen wird, was auch den Verzicht auf kirchliche Tradition und historisch-kritische Exegese impliziert. Diese Strömung wird von vielen anderen Autor_innen als evangelikal bezeichnet. Ich habe in meiner Arbeit bewusst auf diesen politisch und medial aufgeladenen Begriff verzichtet, da er nicht mehr vorurteilsfrei zu verwenden ist und von vielen der betreffenden Gemeinschaften und ihren Mitgliedern auch nicht als Eigenbezeichnung gebraucht wird. 7 Zum Dilemma, vor dem feministische Forscherinnen bei dem Phänomen weiblicher Akteurinnen in »socioreligious movements that sustain principles of female subordination« stehen, vgl. Mahmood (2004), S. 5, die den Aspekt der »agency« der betreffenden Frauen, in dem von ihr untersuchten Fall ägyptischer Frauen im »Islamic Revival« (S. 3), betont (z. B. auf S. 6) und auf S. 14 schreibt: »I will suggest that it is crucial to detach the notion of agency from the goals of progressive politics«, da sie auf die Kontext- und Kulturgebundenheit von »agency« wie auch von »Freiheit« als ideellem Gut verweist: »It is quite clear that the idea of freedom and liberty as the political ideal is relatively new in modern history« (ebd.). Allerdings bezieht sie ihre Analyse auf den spezifischen kulturellen Kontext Ägyptens: »The kind of agency I am exploring here does not belong to the women themselves, but is a product of the historically contingent discursive traditions in which they are located« (S. 32). Die interessante Frage, die sich hier stellt, ist: An welche diskursiven Traditionen knüpfen europäische Akteurinnen an, wenn sie sich in den hier erforschten modernen islamischen Bewegungen engagieren, die im Rahmen einer anderen Tradition, wenn auch in Auseinandersetzung mit und Aneignung von westlichen Diskursen entstanden sind? Vgl. zu dem letztgenannten Aspekt auch Bauer (2011), S. 57ff.

Hinführung

17

Konversion per se und das der Konversion als Frau. Dabei werden Ängste und Unsicherheiten der Gesellschaft, unabhängig von dem Grad ihrer Berechtigung, auf die Konvertitinnen projiziert und verhindern oft eine differenzierte Wahrnehmung der Betreffenden. Aber auch in der Konversionsforschung selber herrschen stark divergierende, oft sogar kontroverse Betrachtungsweisen des Phänomens Konversion vor. Zum einen vereint der Sammelbegriff »Konversionsforschung« zahlreiche religionswissenschaftliche (Teil-)Disziplinen, die sich aus unterschiedlichen Motivationen heraus und mit verschiedenen Blickwinkeln der Thematik des Übertritts zu einem anderen oder neuen Glauben gewidmet haben. In der Konversionsforschung treffen, um nur einige Bereiche der Religionswissenschaft zu nennen, (Religions-)Soziologie, (Religions-)Psychologie und (Religions-)Ethnologie zusammen, wobei die einzelnen Forscher_innen häufig den jeweiligen Mutterwissenschaften und nicht genuin der Religionswissenschaft entstammen. Zum anderen divergieren die Forschungsergebnisse und die Erklärungsansätze oft stark und spiegeln damit ein Stück Forschungsund Zeitgeschichte wider. Die Konversionsforschung tendierte bereits seit ihrer Gründung 1901 durch William James, den Vater der Konversionsforschung,8 dazu, Konversion als Bewältigungsstrategie persönlicher Krisen zu betrachten. Diese Sichtweise war lange Zeit vorherrschend in der Forschung. Zwar verschob sich die Perspektive der Forschenden in den 70er Jahren von der religionspsychologischen Betrachtung eher intrinsischer Faktoren für die Konversion hin zur der mehr soziologischen Untersuchung des Einflusses sozialer Faktoren,9 die Vorstellung von Konversion als Krisenbewältigungsstrategie blieb jedoch relativ konstant und findet sich bis heute. In den späten 1980er Jahren vollzog die Religionswissenschaft die »›diskursanalytische Wende‹« der Kulturwissenschaften nach,10 und der »konstruktive Charakter von Konversionserzählungen« rückte zunehmend in den Mittelpunkt der Konversionsforschung.11 In neuerer Zeit sowie im deutschsprachigen Raum sei im Bereich der Konversionsforschung vor allem Monika Wohlrab-Sahr erwähnt. Diese ging zwar ebenfalls von der Theorie aus, dass Konversion die Verarbeitung einer Krise darstelle, sie beschreitet jedoch in der Auswertung ihrer qualitativen Feldforschung einen m. E. sehr produktiven Mittelweg zwischen der 8 Vgl. Pollack (2009), S. 307, vgl. Baumann (2003), S. 57, vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 49, die ihn als »bekannteste[n] Vertreter« bezeichnet, aber auch Vorgänger wie Leiba, Coe und Starbuck nennt, vgl. abweichend dazu Morgenthaler (2012a), S. 40, der George Stanley Hall als ersten Religionspsychologen nennt. 9 Vgl. Sinn (2011), S. 216, vgl. Baumann (2003), S. 58, wobei sich Baumann auf Wiesberger beruft, und Morgenthaler (2012a), S. 43. Ähnliches hatte ich bereits in meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013) auf S. 19 postuliert. 10 Vgl. Feldtkeller (2014), S. 119ff., das Zitat ist S. 119 entnommen. 11 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 67.

18

Einleitung

Analyse von Konversionserzählungen als rein sozialen Konstruktionen und der Auffassung, diese seien »Faktenbeschreibungen«.12 Daher erwies sich ihre Arbeit für meine Forschung von großem Wert. Auf einige dieser Ansätze soll später detaillierter eingegangen werden; wichtig ist mir an dieser Stelle vor allem, deren Diversität anzudeuten. Es gibt also nicht den einen Ansatz, die eine Antwort auf die Frage, warum Menschen konvertieren – wie ich bereits bei meinen Vorarbeiten zum Thema Konversion und Mission feststellen konnte.13 Mir war klar, dass ich bei dem Versuch, eine eigene Antwort auf die Frage zu finden, warum Frauen konvertieren, diese Ansätze reflektieren und einige davon fruchtbar verknüpfen wollte. Kurz: dass ich interdisziplinär vorgehen und ein »integratives Modell aus den unterschiedlichen Ansätzen«14 entwerfen wollte. Mir war ebenfalls klar, dass ich einen interreligiösen Vergleich durchführen wollte und dass ein literalsinnorientiertes Christentum bzw. Islam die beiden religiösen Strömungen sein würden, bei denen ich die Forschung durchführen wollte. Dies hatte verschiedene Gründe; einer davon waren die Debatten insbesondere in politisch liberalen und linken Kreisen, bei denen Islamkritik und Christentumskritik schon nahezu reflexartig zusammengehören – ohne dass eine wirklich tiefergehende Auseinandersetzung mit einer der beiden Religionen erfolgen würde. Vor allem aber reizte es mich, herauszufinden, was Menschen – vorher oft atheistisch, agnostisch oder nur nominell religiös – dazu veranlasste, sich religiösen Strömungen zuzuwenden, welche nicht nur einen relativ schlechten Leumund in der Öffentlichkeit innehaben, sondern zudem das Leben der Mitglieder tiefgreifend verändern und ihnen, wenn sie weiblich sind, in der Regel eine religiös legitimierte Unterordnung auferlegen.15 Dieser Aspekt – die Übernahme eines Geschlechtermodells mit klaren Rollenzuschreibungen und einer zumindest in der Ehebeziehung geforderten Unterordnung der Frau – bei weiblichen Konvertitinnen war für mich ganz besonders interessant. Mir schien es recht eindeutig, dass es neben den gewichtigen theologischen Differenzen auch einige theologische und sehr viele Übereinstimmungen hinsichtlich der »idealen« Lebensführung zwischen den beiden Strömungen gibt; ein literalsinnorientiertes Christentum und ein entsprechender Islam ähneln

12 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20. 13 Das Interesse an dem Themenkomplex der Konversion begleitet mich bereits mein ganzes Masterstudium hindurch und hat sich in einigen unveröffentlichten, kürzeren und längeren universitären Arbeiten niedergeschlagen. 14 Morgenthaler (2012a), S. 48. 15 Selbstverständlich gilt dies nicht für ein liberales Christentum oder einen liberalen Islam, wohl aber für die von mir untersuchten Strömungen.

Hinführung

19

sich in manchen Aspekten mehr, als es vielen der jeweiligen Gläubigen lieb ist.16 Diese Differenzen und Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Menschen, die eben nicht in diese religiösen Strömungen hineingeboren wurden, sondern sich diesen freiwillig zugewandt hatten, herauszuarbeiten, war eine Aufgabe, die mich mit Forscherdrang und leidenschaftlichem Interesse erfüllte und der ich eine lange Phase intensiver Feldforschungen und extensiver Literaturstudien widmete.17 Das Singuläre meiner Arbeit, welches meinen Beitrag zur Religionswissenschaft im Allgemeinen und zur Konversionsforschung im Speziellen ausmacht, besteht in verschiedenen Aspekten. Zum einen ist Konversion zum literalsinnorientiert-freicharismatischen18 protestantischen Christentum in Deutschland meines Wissens noch fast gar nicht erforscht worden und im westlichen und insbesondere europäischen Kontext hauptsächlich, um allgemeingültige Aussagen über Konversion treffen zu können. Das Spezifische der Konversion zu den betreffenden christlichen Gemeinschaften ist jedoch bislang kaum analysiert worden. Gerade durch meinen interreligiösen Vergleich mit den Konversionen zum literalsinnorientierten sunnitischen Islam kann ich das Besondere der Konversionen zu dieser Strömung des Christentums noch besser herausarbeiten. Dieser interreligiöse Vergleich zwischen christlichen und muslimischen Konvertitinnen ist ebenfalls nach meinem Wissensstand bislang in dieser Form noch nicht durchgeführt worden, schon gar nicht im europäischen oder gar deutschen Kontext. Singulär ist meine Arbeit auch insofern, als sie von dem oft befolgten Paradigma der komplexitätsreduzierenden Erklärungsmodelle abweicht; Konversion wird zumeist mit Modellen erklärt, die entweder zwingende Kausalitäten 16 Theologisch unter anderem in ihrer Berufung auf die »Quellen« und deren Auslegung nach dem wörtlichen Sinn. In Bezug auf die Lebensführung insbesondere was Ehe- und Familienleben, Gemeindegestaltung und angestrebte gesellschaftliche Veränderungen anbelangt. 17 Ich habe zu diesem Thema auch eine nicht-veröffentlichte Vorstudie durchgeführt, deren Erkenntnisse für meine Dissertation von Nutzen waren. 18 Der Begriff »freicharismatisch«, ist in Anlehnung an Kern (1998), S. 33, gewählt. Er soll als Bezeichnung von Anfang an charismatisch geprägter, unabhängiger Gemeinden die Abgrenzung von der charismatischen Bewegung, d. h. innergemeindlichen/-kirchlichen charismatischen Bewegungen, welche innerhalb von nicht-charismatischen Volks- oder Freikirchen verblieben sind (z. B. gibt es auch eine charismatische Bewegung innerhalb der evangelischen Landeskirche oder der Katholischen Kirche), vollziehen. Alternativ dazu wäre auch die Bezeichnung »neopfingstlerisch« möglich (und wird von Kern auch synonym verwendet, ebd.), da es sich um unabhängige, neugegründete Gemeinden außerhalb der traditionellen Pfingstkirchen (z. B. den Assemblies of God) handelt. Allerdings passt die Bezeichnung »freicharismatisch« am besten zu den gewählten Selbstdefinitionen und auch zu den theologischen Inhalten der von mir beforschten Gemeinden, welche einige Abweichungen von traditionell pfingstlerischen Glaubensinhalten aufweisen, vgl. dazu mein Kapitel zu den Gemeinden, S. 104ff.

20

Einleitung

konstruieren, oder aber es werden »Typen« gebildet. Ich werde hingegen dem Facettenreichtum des Phänomens Rechnung tragen und daher weder kausale Erklärungsmuster postulieren noch Typen bilden – weder von Konvertitinnen noch von Funktionen der Konversion. Meine Arbeit wird daher eine inhaltliche und methodische Lücke in der deutschen Forschung schließen und hoffentlich Anregungen für künftige Forschungsvorhaben bieten. Jede Arbeit basiert jedoch bis zu einem gewissen Maße auf der kritischen Rezeption ihrer Vorgängerarbeiten – weswegen es mir geboten erscheint, zunächst einmal auf die Geschichte der Konversionsforschung einzugehen.

1.2. Geschichte der Konversionsforschung19 Wie bereits angedeutet wurde, beinhaltet die Konversionsforschung ein breites Spektrum an Disziplinen und Ansätzen mit historisch unterschiedlich gelagerten Schwerpunkten. Eine umfassende Darstellung der Geschichte der Konversionsforschung zu geben, würde den Rahmen dieser Arbeit erheblich sprengen. Es wird hier daher mehr darum gehen, einige Meilensteine in der Konversionsforschung und ihre Ansätze vorzustellen sowie einen Überblick über die Perspektiven(-wechsel) in selbiger zu geben. Dabei habe ich besonderes Augenmerk auf solche Arbeiten gelegt, die sich auch für mein Forschungsvorhaben in verschiedener Hinsicht als relevant erwiesen oder Denkanstöße geliefert haben. Auf viele dieser Autor_innen bin ich zuerst bei Monika Wohlrab-Sahrs Überblick über die Geschichte der Konversionsforschung gestoßen und habe bei eingehender Lektüre von deren Arbeiten feststellen können, weswegen sie den Eingang in Wohlrab-Sahrs »Best of« gefunden haben.20 Als bekanntester Gründer der Konversionsforschung, die in ihren Anfängen stark psychologisch geprägt war, wird zumeist der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James bezeichnet, der 1901/1902 seine »Gifford Lectures« über Konversionen hielt.21 James legte den Schwerpunkt seiner reli19 Einige Absätze dieses Kapitels sind in Teilen an Passagen meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013) angelehnt, in der ich mich mit der Geschichte, den Prämissen und wichtigen Forscher_innen der Konversionsforschung beschäftigt habe. Fast wörtlich übernommen ist der Abschnitt um James und Starbuck und die daran anschließenden Ausführungen zu den 50er-, 60er- und 70er-Jahren (S. 17ff. meiner Masterarbeit). Die anderen Passagen hingegen wurden stark überarbeitet, umgeschrieben und substanziell erweitert. Es handelt sich hierbei um die Ausführungen zu Lofland/Stark (S. 19–20), zu Heirich (S. 20–21), zu Snow/ Machalek (S. 21–22) und Ulmer (S. 22–23), die Seitenzahlen beziehen sich auf meine unveröffentlichte Masterarbeit. 20 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 49–89. 21 Vgl. Pollack (2009), S. 307, vgl. Baumann (2003), S. 57, vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 49, die ihn als »bekannteste[n] Vertreter« bezeichnet, aber auch Vorgänger wie Leiba, Coe und

Geschichte der Konversionsforschung

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gionspsychologischen Konversionstheorien auf das individuelle Erleben der Konvertierten; dabei unterschied er zwischen den psychisch stabilen »Einmalgeborenen« und den depressiven, krisengeschüttelten, innerlich zerrissenen »Zweimalgeborenen«, welche durch eine Konversion persönlichen Halt, innere Einheit und Stabilität suchen (und finden) würden.22 Religion sei dabei einer »von vielen Wegen«, um innere Einheit zu erreichen,23 andere Optionen wären z. B. »love, ambition, cupidity, revenge, or patriotic devotion«24. Dabei beruhen seine Forschungen stark auf den spontanen Konversionen innerhalb der damaligen US-amerikanischen Erweckungsbewegungen,25 was sich schon an der Terminologie der Wiedergeburt zeigt. James’ Thesen werden bis heute in der religionspsychologischen Konversionsforschung rezipiert.26 James’ Zeitgenosse Edwin Starbuck versuchte zu zeigen, dass besonders Menschen in der Adoleszenz konvertieren würden, eine These, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts von Johnson bestätigt wurde, der ein durchschnittliches Konversionsalter von 15,2 Jahren ermittelte.27 Diese Tendenz zur Konversion in einem von psychischen Umbrüchen und dem Wunsch nach (Neu-)Orientierung gekennzeichneten Lebensabschnitt wie der Adoleszenz erhärtete die These der Konversion im Zusammenhang mit persönlichen Krisenerfahrungen.28 Ebenfalls auf die religionspsychologische Konversionsforschung geht die Untersuchung von Bindungen, insbesondere zu den Eltern, und deren Einfluss auf die Konversion zurück. Dabei wurde anhand verschiedener Studien ein Zusammenhang zwischen spannungsreichen Vaterbeziehungen und Konversion herausgearbeitet.29 In ähnlicher Weise auf psychische Problematiken der Kon-

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Starbuck nennt, vgl. abweichend dazu Morgenthaler (2012a), S. 40, der George Stanley Hall als ersten Religionspsychologen nennt. Vgl. James (1902a), http://www.authorama.com/varieties-of-religious-experience-7.html, im Original als »once-born« und »twice-born« bezeichnet, und James (1902b), unter http:// www.authorama.com/varieties-of-religious-experience-8.html: »To be converted, to be regenerated, to receive grace, to experience religion, to gain an assurance, are so many phrases which denote the process, gradual or sudden, by which a self hitherto divided, and consciously wrong inferior and unhappy, becomes unified and consciously right superior and happy«. Vgl. dazu auch Pollack (2009), S. 307. Hier könnte man durchaus davon sprechen, dass James implizit eine Funktion von Religion und deren funktionale Äquivalente benennt. Vgl. James (1902a), ebd. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 49. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 52ff. Vgl. Morgenthaler (2012a), S. 42. Vgl. Morgenthaler (2012a), S. 42, zu dem Wunsch nach Orientierung in der Adoleszenz. Vgl. Morgenthaler (2012a), S. 42. Morgenthaler beruft sich dabei auf eine Studie von Ullmann, laut der 80 % der Konvertierten eine »extrem stressbeladene« Vaterbeziehung »berichteten«. Allerdings wäre in diesem Zusammenhang angesichts klassischer Rollenmodelle, welche die Vaterbeziehung nachhaltig schwächen und belasten können, interessant zu

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vertit_innen zielten die religionspsychologischen und psychoanalytischen Untersuchungen der 1950er und -60er Jahre, welche die Ursache von Konversion wahlweise in der »Betonung der individuellen Defizite der Konvertiten« oder der manipulativen Wirkung Dritter sahen, insgesamt also eine stark negative Perspektive auf Konversion einnahmen.30 Gleichzeitig begann jedoch ab 1965 eine neue Ära der Konversionsforschung mit einer Fokussierung auf die religionssoziologischen Aspekte von Konversion –31 und damit ein Perspektivwechsel weg von der individualistischen religionspsychologischen Betrachtung von Konversion hin zu der Analyse sozialer Faktoren.32 John Loflands und Rodney Starks »Becoming a World-Saver: A Theory of Conversion to a Deviant Perspective« von 1965 stellt eine wichtige Pionierarbeit für den »Ansatz zu einer eigenständigen soziologischen Konversionsforschung« dar.33 Sie postulierten, dass Konversion die Aufgabe einer »perspective or ordered view of the world for another«34 darstelle, und untersuchten, welche Faktoren dazu führten, dass Menschen zu einer Religion konvertierten. Ihre Studie einer kleinen, christlich beeinflussten millenaristischen Gruppierung erhob dabei keineswegs den Anspruch, auf jede religiöse Gemeinschaft anwendbar zu sein, sondern sollte als modifizierbare Grundlage für weitere Forschungen dienen.35 Diese und andere Einschränkungen wurden bei Folgeforschungen bedauerlicherweise außer Acht gelassen.36 Lofland und Stark stellten ein siebenstufiges Modell auf; nur, wer alle sieben Stufen durchliefe, verwandele sich tatsächlich in einen »total convert«.37 Sie nahmen bereits auf Konversionsrhetoriken im Sinne einer Abwertung des vorherigen und Aufwertung des Lebens nach der Konversion Bezug und postulierten daher, dass die Selbstaussagen der Konvertierten nicht ausreichend seien, um von »total converts« zu sprechen; diese müssten auch durch ihr Verhalten ihr »commitment« ausdrücken.38

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eruieren, wie viel Prozent der Nicht-Konvertierten ebenfalls eine stressbeladene Vaterbeziehung aufweisen. Als Soziologin erscheint mir ein solcher einfacher und monokausaler Zusammenhang etwas zu verkürzt. Vgl. Baumann (2003), S. 58. Vgl. Baumann (2003), S. 58, wobei sich Baumann auf Wiesberger beruft, und Morgenthaler (2012a), S. 43. Vgl. Sinn (2011), S. 216. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 60. Lofland/Stark (1965), S. 862. Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 874f. Zu dem Problem, dass die Studie von Lofland/Stark als »›qualitatives Prozeßmodell‹« intendiert war, jedoch zum »Kausalfaktorenmodell objektiviert« wurde, vgl. Wohlrab-Sahr (1999), S. 61. Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 873f. Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 863f., die wörtlichen Zitate sind S. 864 entnommen, im Original ist »total converts« kursiv, die Kursivsetzung bei »Verhalten« hingegen von der Autorin.

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Um überhaupt für eine Konversion empfänglich zu sein, müssten die potentiellen Konvertit_innen zunächst einmal unter Spannungen leiden. Den ersten Faktor für eine Konversion stelle also eine (An-)Spannung (»Tension«) im Sinne einer akuten und starken Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben dar. Zweitens müsse unter allen denkbaren »Problem Solving Perspective[s]« ausgerechnet die religiöse in Betracht gezogen werden – in Abgrenzung von den beiden anderen denkbaren, dem »psychiatric« und dem »political« Lösungsmodell.39 Als dritte Stufe und daraus resultierend kommt nun die religiöse »Seekership« ins Spiel, die dazu führe, dass, wenn viertens ein »Turning Point« (die Autoren nennen als Beispiel berufliches Scheitern oder Wohnortwechsel) im Leben der potenziellen Konvertit_innen eintritt und sie mehr oder weniger zeitgleich der Religionsgemeinschaft begegnen, sie fünftens »Cult Affective Bonds« zu Gläubigen derselben eingehen.40 Diese engen zwischenmenschlichen Beziehungen führten in Kombination mit dem sechsten Faktor, den nur unzureichend ausgeprägten »Extra-Cult Affective Bonds«, d. h. nur schwachen oder distanzierten Beziehungen zu Menschen außerhalb der besagten Religionsgemeinschaft, dazu, dass siebtens eine »Intensive Interaction« mit der Gemeinde und ihren Anhänger_innen entstehe, welche durch räumliche und zwischenmenschliche Nähe zur kompletten Konversion führe.41 Lofland selber gestand 1978 ein, dass die Beschreibung einiger Faktoren »zu allgemein und damit zu wenig aussagekräftig gewesen seien«.42 Dennoch darf die Bedeutung dieser Studie nicht unterschätzt werden, zumal sie einige für die spätere Konversionsforschung relevante Aspekte als eine der ersten andeuten bzw. erwähnen, z. B. den der Interpretation sämtlicher innerer und äußerer Geschehnisse mithilfe dessen, was von späteren Forschern als »Annahme eines [einzigen] allgemeingültigen Kausalzusammenhangs«43 bezeichnet wurde – auch wenn sie diesen Terminus noch nicht verwenden.44 Des Weiteren beschreiben sie die Funktion von Religion als Problemlösungsmodell und bringen 39 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 864ff., der Begriff der »Tension« ist S. 864, die restlichen wörtlichen Zitate sind S. 867 entnommen. Im Zuge einer Mertonschen Analyse würde man die beiden anderen Problemlösungsmodelle als funktionale Alternativen bezeichnen, vgl. Merton (1995), S. 31ff. und S. 50. Im Original sind alle Zitate kursiv. 40 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 868ff., die jeweils zitierten Begriffe sind S. 868, S. 870 und S. 871 entnommen und im Original kursiv. 41 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 872ff., die jeweils zitierten Begriffe sind S. 872 und S. 873 entnommen und im Original kursiv. 42 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 61. 43 Snow/Machalek (1983), S. 269, im Original »Master Attribution Scheme«, Übersetzung d. Autorin, im Original kursiv. Wohlrab-Sahr hingegen verwendet in Anlehnung an Luckmann die Übersetzung »Übernahme eines Generalschlüssels für die Wirklichkeit«, Wohlrab-Sahr (1999a), S. 70, im Original kursiv. 44 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 869 zu einem Universalschema zur Deutung der Wirklichkeit, welches die besagte Religionsgemeinschaft bereitstellt.

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– wenn auch implizit – die funktionalen Äquivalente zu Religion ins Spiel, führen also im Grunde bereits in Ansätzen eine funktionale Analyse von religiöser Konversion durch. Wichtig erscheint mir auch die Betonung der sozialen Komponente für die Konversion, während ich den Aspekt der starken Spannung bzw. Unzufriedenheit kritisch sehe; hier müsste anhand einer nicht-konvertierten Kontrollgruppe untersucht werden, inwieweit diese tatsächlich stärker ist als in der Durchschnittsbevölkerung.45 Zudem ist die Art des untersuchten Kultes sehr speziell, und es ist fraglich, ob sich alle Befunde auf andere religiöse Strömungen übertragen lassen. Obschon nicht der eigentlichen Konversionsforschung zuzurechnen, soll die Konversionsbeschreibung und -definition von Peter L. Berger und Thomas Luckmann hier Erwähnung finden, antizipieren sie in ihrem bahnbrechenden Werk von 1966, »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« doch nicht nur die spätere »konstruktivistische Wende in der Soziologie der Konversion«46, sondern haben durch den von ihnen maßgeblich geprägten Sozialkonstruktivismus sogar einen Grundstein dafür gelegt. Sie unterscheiden zwischen »primäre[r]« und »sekundäre[r]« Sozialisation; bei ersterer, die ab der Geburt einsetze, erfolge die Übernahme von Perspektiven auf die Welt und ihre Wirklichkeit wie auch die Entwicklung der eigenen Identität, beides zunächst vermittelt durch »signifikante[…] Andere«, d. h. enge Bezugspersonen, die irgendwann zu einem »generalisierte[n] Andere[n]« abstrahiert würden.47 Aufgrund der engen emotionalen Verbindung und Abhängigkeit des Kindes von seinen Bezugspersonen »internalisiert [es] die Welt seiner signifikanten Anderen nicht als eine unter vielen möglichen Welten, sondern als die Welt schlechthin, die einzig vorhandene und faßbare« – daraus erklärt sich, dass das, »was an Welt in der primären Sozialisation internalisiert wird, so viel fester im Bewußtsein verschanzt [ist] als Welten, die auf dem Wege sekundärer Sozialisation internalisiert werden«.48 Die spätere sekundäre Sozialisation ist demgegenüber von größerer Distanz geprägt und umfasst lediglich Teilbereiche; sie stelle die »Internalisierung institutionaler […] ›Subwelten‹« dar, z. B. Schulwissen oder arbeits- oder subkulturspezifisches Wissen und die dazugehörige »Wirklichkeitsbestimmung«; sie sei weniger tiefgreifend und zerbrechlicher und baue auf der primären auf.49 45 Diese Kritik wurde z. B. auch von Heirich (1973) geäußert, z. B. auf S. 7f. 46 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 67. 47 Berger/Luckmann (2010), S. 140ff., die Begriffe der primären bzw. sekundären Sozialisation stammen von S. 141, die Ausführungen zu den signifikanten Anderen S 141ff., zu den generalisierten Anderen insb. S. 143. 48 Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 145. 49 Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 148–174, das wörtliche Zitat stammt von S. 148, der Begriff der »Wirklichkeitsbestimmung« findet sich z. B. auf S. 114.

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Radikale Änderungen der Wirklichkeitsbestimmung (von Berger/Luckmann als »Verwandlung« bezeichnet), wie sie z. B. die Konversion darstelle, müssen, um eine »Auflösung früherer nomischer Strukturen der subjektiven Wirklichkeit« zu erreichen, Strukturen der primären Sozialisation kopieren: »Diese Plausibilitätsstruktur muß dem Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kommen muß. Ohne diese Identifikation ist keine radikale Transformation der subjektiven Wirklichkeit – einschließlich natürlich der Identität – möglich«.50 Für die neue religiöse Existenz ist der Beitritt zu einer Gemeinschaft zwingend erforderlich; zudem müsse »die neue Plausibilitätsstruktur […] die Welt des Menschen werden, die alle anderen Welten und besonders die, welche er vor seiner Konversion ›bewohnte‹, verdrängt«.51 Konversion, wie Berger und Luckmann sie verstehen, ist als ein Wechsel der »symbolischen Sinnwelt« zu definieren, wodurch die »Wirklichkeitsbestimmung« der Betreffenden eine andere wird.52 Damit dieser Prozess erfolgreich bliebe, müsse ein Rückzug (symbolischer oder materieller Natur) vom vorherigen gesellschaftlichen Umfeld erfolgen, und bei »Rückfallgefahr« halte die neue Gemeinschaft – ob religiös oder nicht, denn Berger und Luckmann übertragen die Struktur des Konversionsprozesses analog auf die Annahme anderer Ideologien inklusive der Psychotherapie – entsprechende Maßnahmen bzw. »therapeutische Verfahren« bereit.53 Von Seiten der Konvertierten wiederum ist ein »Legitimationsapparat« sowohl für die »neue Wirklichkeit« als auch für das Konversionsgeschehen im Kontext der eigenen Lebensgeschichte und den daraus erfolgenden Bruch mit der vorherigen »Wirklichkeit« notwendig.54 Die eigene Biographie werde von den Konvertierten auf die Konversion hin gedeutet, indem z. B. die Unwissenheit und Verderbtheit des damaligen Zustandes mit der erhellten Gegenwart verglichen oder die spätere Erkenntnis bereits als in Grundzügen erahnt dargestellt werde: »Die biographische Bruchstelle wird so zur kognitiven Scheidung von Dunkelheit und Licht«.55 Dieser Perspektivenwechsel auf die eigene Vorgeschichte erschöpfe sich jedoch nicht in nachträglichen Umdeutungen, sondern reiche bis hin zur Erfindung von »Ereignisse[n]«, welche man – wenn auch ohne bewusste Täuschungsabsicht – einfüge, »wo immer sie gebraucht werden, um Erinnerung und neue Wirklichkeit aufeinander abzustimmen«; dies sei einfacher, als unpassende Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 167ff., die wörtlichen Zitate stammt von S. 168. Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 169, Kursivsetzung im Original. Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 114f., wörtliche Zitate von S. 114. Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 169f., das wörtliche Zitat stammt von S. 170, erste Anführungszeichen in modalisierender Funktion. 54 Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 170. 55 Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 171.

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Ereignisse komplett zu verdrängen.56 Daraus schlussfolgern die Autoren, dass bei der »Resozialisation […] die Vergangenheit uminterpretiert [wird], um ihr die gegenwärtige Wirklichkeit anzupassen, wobei sogar Elemente in die Vergangenheit eingeschmuggelt werden, die seinerzeit [sic!] subjektiv nicht möglich waren«57. Wie wir nachfolgend feststellen werden, klingen hier verschiedene Motive der späteren Konversionsforschung an. Expliziter und generalisierter als bei Lofland und Stark wird hier auf die Verfälschung der eigenen Vorgeschichte, auf die Verwendung von Konversionsrhetoriken durch die Konvertit_innen sowie auf die zeitliche Gliederung in bestimmte Lebensphasen Bezug genommen. Gleichzeitig wird – wie allerdings auch generell auf das Sozialisationsphänomen bezogen – ein eher passives Bild der Konvertierten entworfen, welche durch den sozialen Einfluss in der Bezugsgruppe und nicht anders als manipulativ zu nennende Strategien der betreffenden signifikanten Anderen ihre symbolische Sinnwelt, ihre Wirklichkeitsbestimmung und damit einhergehend auch ihr soziales Umfeld und ihre Biographie zumindest teilweise austauschen bzw. umschreiben würden. Psychologisch gesehen, könnte man kritisieren, dass zumindest nach dem neuesten Stand der Psychologie Verdrängen oder Verändern tatsächlich einfacher ist als das komplette Neuerfinden von vergangenen Ereignissen.58 Zudem unterlegen sie ihre Analyse durch keinerlei empirische Befunde, wiewohl man vermuten kann, dass sie unter anderem Lofland und Stark rezipiert haben werden. Ungefähr zehn Jahre nach Lofland/Stark und Berger/Luckmann versuchte Max Heirich, methodologischen Mängeln seiner Vorgänger abzuhelfen (darunter auch denen von Lofland/Stark), und startete eine vergleichende Untersuchung von konvertierten katholischen Pfingstler_innen und Katholik_innen, welche nicht zum Pfingstlertum konvertiert waren. Seine drei Forschungsfragen waren: »1) [T]o what extent are converts subject to the kinds of influences which social scientists have said account for what had happened to them? 2) Is this coincidence? […] 3) Just how important an influence on conversion are the various social factors being studied?«59 Er zählt die gängigen Erklärungsmuster für Konversion auf – Problembewältigung, frühkindliche Prägung, zwischen56 57 58 59

Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 171. Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 174. Gespräch mit einer mir bekannten Psychologin. Heirich (1973), S. 3f., »important« im Original unterstrichen. Heirich benutzt immer wieder Termini, die kein genaues Äquivalent im Deutschen haben bzw. bei deren Übersetzung Bedeutungsnuancen verloren gehen. Ich habe mich daher entschlossen, nicht nur zusammenhängende Zitate, sondern gelegentlich auch Fragmente oder einzelne Wörter unübersetzt zu lassen und mich für wissenschaftliche Genauigkeit zulasten sprachlicher Eleganz entschieden.

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menschliche Beziehungen zu Gläubigen – und verwirft sie aufgrund methodologischer Mängel der korrespondierenden Studien, vor allem wegen des Fehlens von Kontrollgruppen.60 »Stress« zum Beispiel als Konversionsfaktor zu klassifizieren, sei nicht aussagekräftig ohne den Vergleich Konvertierter mit Nicht-Konvertierten und solange man nicht wisse, wie viele Menschen insgesamt in der Bevölkerung unter Stress litten. Dies gelte für alle bislang von der Forschung benannten Konversionsfaktoren; das Vorhandensein eines bestimmten Faktors unter Konvertierten beweise nichts, solange man nicht die »distribution of converts and nonconverts among persons who possess the trait in question and among those who do not« vergleiche.61 Er versuchte mit der von ihm vorgeschlagenen Methodik, den Anteil von Konvertierten unter Merkmalsträger_innen zu erfassen, d. h. den Einfluss von Stress, Sozialisation und sozialen Kontakten bei der Konversion zu untersuchen. Basierend auf seinen Forschungsergebnissen, verwarf er die These, dass Stress einen signifikanten Einfluss auf die Konversion habe.62 Hingegen fand er einen gewissen Einfluss der Sozialisation vor: »Women, the pious, those who attend mass frequently are found disproportionately represented among the converts.«63 Der aussagekräftigste Faktor war der häufige Messebesuch vor der Konversion – ein Faktor, von dem Heirich selber einräumte, dass er möglicherweise nicht unbedingt durch kindliche Sozialisation erworben, sondern erst im Laufe des späteren Lebens zur Gewohnheit geworden sein könne, was sich auch durch weitere Auswertungen bestätigte.64 Bei der Überprüfung, inwieweit zwischenmenschliche Beziehungen zu gläubigen Pfingstler_innen relevant für eine Konversion sein könnten, ergab sich der Befund, dass diese tatsächlich eine Rolle spielten: »These data give strong support to the argument that positive social reinforcement encourages conversion«65. Allerdings zeigte sich auch: »A crude first test of arguments about the process by which social influence reshapes world-view suggests that encapsulation (a selective shift in social reinforcement) encourages conversion but happens to only a minority of those who actually convert«66. Damit lieferte Heirich Argumente gegen einige der gängigen Theorien der damaligen Konversionsforschung, darunter zumindest teilweise auch die von Lofland und

60 Vgl. Heirich (1973), S. 4ff. 61 Heirich (1973), S. 7f., Fußnote bezieht sich auch auf den vorhergehenden Satz, erstes Anführungszeichen in modalisierender Funktion, wörtliches Zitat von S. 8. 62 Vgl. Heirich (1973), S. 18ff. 63 Vgl. Heirich (1973), S. 24. 64 Vgl. Heirich (1973), S. 26ff. 65 Heirich (1973), S. 33. 66 Heirich (1973), S. 43.

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Stark. Heirich selber formulierte den vorsichtigen Versuch eines eigenen multikausalen Modells: »[T]he Pentecostal movement’s claims become more believable when reinforced by trusted persons in one’s immediate environment. Given a consistent religious upbringing (whether devout or not) and a current ›seeking‹ orientation, such reinforcement is not necessary. Only under fairly rigorous combinations of social upbringing and immediate social reinforcement are such social influences likely to produce serious encounter with the claims of religion among persons not already actively ›seeking‹. One’s upbringing and one’s psychological state are not always irrelevant, but are of only minor help for predicting who will be a convert.«67

In einer späteren Bearbeitung seiner Forschungsergebnisse von 1977 legte Heirich zudem einige bedeutsame Ansätze für eine Neuorientierung der Konversionsforschung vor. Unter anderem kritisierte er, dass bei selbiger die Frage, »warum irgendeine spezifische Perspektive für potentielle Konvertiten attraktiv sein sollte«, durch den Versuch, ein auf alle Formen von »veränderter Anschauung oder Verhalten« anwendbares Erklärungsmodell zu finden, unbeantwortet bliebe.68 Er stellte ein verfeinertes multikausales Modell auf, welches unter Kombination mehrerer Faktoren eine bis zu hundertprozentige Konversionsquote (unter denen, die bereits Kontakt zur Bewegung hatten), ergibt (»all who faced the following circumstances converted: not previously frequent in their attendance of Mass, they were introduced to the Pentecostals by a teacher or spiritual adviser, were middle or youngest children, and had Pentecostal friends«).69 Dennoch betont er, dass der Fokus auf anderen Aspekten liegen müsse, denn: »The impact of social networks ist striking indeed – for those already oriented toward a religious quest.«70 Berechtigterweise folgert er daraus, dass man untersuchen müsse, wie dieser »religious quest« entstünde, der dann schließlich zum »›change of heart‹« führe. Grundlegend für Konversionen sei das menschliche Bedürfnis der »assertion of a sense of ultimate grounding – one that provides a clear basis for understanding reality, that provides meaning and orientation for understanding one’s situation and acting in relation to it« führe.71 Er definiert Konversion im Anschluss an diese Überlegung als »process of changing a sense of root reality«72. Zudem wirft 67 68 69 70 71 72

Heirich (1973), S. 55. Vgl. Heirich (1977), S. 657. Übersetzung von der Autorin dieser Arbeit. Vgl. Heirich (1977), S. 671f., das wörtliche Zitat stammt von S. 672. Vgl. Heirich (1977), S. 673. Vgl. Heirich (1977), S. 673. Was wortwörtlich als »Ursprungsrealität« übersetzt werden müsste, wäre wohl sinngemäß eher als »Grundannahme, wie Realität beschaffen ist« oder als »die Basiswirklichkeit« im Sinne des Fundamentes, welches dem eigenen Wirklichkeitsempfinden zugrunde liegt, zu verstehen.

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er die weiterführenden Fragestellungen nach dem Grund, weswegen die alte »root reality« verworfen würde und was die neue attraktiv machen würde, auf – dabei zeichnet er ein Bild sich bewusst entscheidender (»conscious shift«) Konvertit_innen.73 Die erste Frage nach dem Grund für die Verwerfung der vorhergehenden »root reality« beantwortet er dahingehend, dass »Erfahrungen oder Begegnungen«, welche mit den alten »explanatory schemes« nicht bewältigt werden könnten, bzw. unangenehme Konsequenzen, die bevorstünden, falls sich das »gegenwärtige Verständnis« von »root reality« als »korrekt« erwiese, möglicherweise zu dieser Neuausrichtung führen könnten.74 Daraus ergibt sich für Heirich als notwendige Konsequenz eine »Ausweitung der Spannbreite an Faktoren«, die für eine Konversion eine Rolle spielen, und die Validierung dieser Faktoren durch Überprüfung der Brauchbarkeit der neuen Weltsicht zur Bewältigung des zur Konversion führenden Problems: »[T]he ›new‹ reality used by converts should speak directly to the problem they have encountered and should explain it more successfully than its earlier competitor. Thus the content of a new vision should provide one clear criterion for judging the theoretical value of a causal account of conversion. If the new vision does not offer a solution for the particular experiences that have broken the hold of past explanations, why should it be any more attractive than alternative possibilities for responding to stress? To be convincing, any causal argument should have to show links between content and experience.«75

Zur Beantwortung der zweiten Frage hingegen schlägt er neben dem Rückgriff auf Konzepte des Paradigmenwechsels vor allem die Fokussierung auf die »circumstances that make its perspective viable to onlookers« und auf »the mechanism used to find adherents«,76 also auf die Frage der Plausibilitätsvermittlung der Weltsicht der betreffenden religiösen Gruppierung und auf deren Missionsstrategien vor. Wichtig ist an Heirichs Ansatz vor allem, dass er als einer der ersten Forschenden auf die Verbindung konkreter Religionen und den von ihnen vertretenen »understandings of root reality« mit konkreten Erfahrungen und Problemstellungen der Konvertierten hinwies. Er greift damit zum einen einer Spezialisierung vor, die wegführt von dem früheren Ansatz, aus Konversionen zu bestimmten Gruppierungen allgemeingültige Aussagen zu Konversion schlechthin ableiten zu wollen, zum anderen aber weist er darauf hin, dass Konversion nicht mit den gängigen mono- oder 73 Vgl. Heirich (1977), S. 674, das erste Zitat beginnt auf S. 673. 74 Vgl. Heirich (1977), S. 674f., die ersten drei Zitate stammen von S. 674, die letzten drei von S. 675. Die Übersetzungen stammen von der Autorin dieser Arbeit, im Original steht »Verständnis« im Plural: »understandings of root reality«. 75 Heirich (1977), S. 675. Übersetzung des ersten Zitates durch die Autorin dieser Arbeit. 76 Beide wörtlichen Zitate sind aus Heirich (1977), S. 676.

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multikausalen Modellen universell erklärbar ist, sondern dass spezifische religiöse Perspektiven mit bestimmten Erfahrungen und Problemlagen im weiteren Sinne korrespondieren. Im Grunde schlägt er eine Differenzierung und eine eingehende Betrachtung spezieller Gruppierungen von Konvertit_innen vor und legt damit den Grundstein für spätere Forschungen wie die von Wohlrab-Sahr, die über 20 Jahre später die Frage nach der »Funktion, die religiöse Konversion im Rahmen von Biographien erfüllt« sowie nach der »Rekonstruktion des Problems, auf das die Konversion bezogen ist« und der »Herausarbeitung der Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet«, stellen sollte.77 Alle diese Arbeiten, mit Ausnahme der nicht-empirischen von Berger/Luckmann, hatten jedoch gemeinsam, dass sie sich hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Selbstaussagen der Konvertierten beriefen. Nicht lange nach der Veröffentlichung wichtiger soziologischer Konversionsstudien erfolgte das, was man als »konstruktivistische Wende in der Soziologie der Konversion«78 bezeichnen könnte: »Konversionserzählungen, so formulieren Taylor (1976, S. 18) und nach ihm viele andere, könnten nicht als Daten über präkonversionelle Bedingungen und Identität, sondern allein als Daten über postkonversionelle Identität herangezogen werden«79. Als Meilenstein der konstruktivistischen Konversionsforschung kann die von David A. Snow/Richard Machalek im Jahre 1983 veröffentlichte Studie »The Convert as a Social Type« betrachtet werden. In sozialkonstruktivistischer Weise stellten sie Kriterien auf, wie bzw. woran man Konvertierte erkennen könne. Diese Kriterien leiteten sie aus den Selbstaussagen der Betreffenden ab, die sie jedoch nicht als Tatsachenbeschreibung verstanden wissen wollten;80 vielmehr ging es ihnen dezidiert darum, charakteristische Konversionsrhetoriken herauszuarbeiten, an denen sich die Konversion festmachen ließ: »Konvertit ist derjenige, der als Konvertit redet«81. Sie deuteten dabei Konversion unter Rückgriff auf Mead als Wechsel des »Diskursuniversums«.82 Das erste der vier Kriterien, um den »Convert as Social Type« zu identifizieren, stelle die »Biographical Reconstruction« dar : Die Darstellung einer Zäsur zwischen dem Leben vor und nach der Konversion, wobei das alte Leben abgewertet und im Lichte der neuen Wahrheit betrachtet werde.83 Das zweite Kriterium sei das der »Adoption of a Master Attribution Scheme«, was Wohlrab77 78 79 80 81 82 83

Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20, im Original kursiv. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 67. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 68. Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 280. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 70. Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 265. Übersetzung d. Autorin, Kursivsetzung im Original. Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 265ff. Der Begriff der »Biographical Reconstruction« ist S. 266 entnommen und im Original kursiv.

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Sahr in Anlehnung an Luckmann als »Übernahme eines Generalschlüssels für die Wirklichkeit«84 bezeichnet und was ich als »Annahme eines [einzigen] allgemeingültigen Kausalzusammenhangs« übersetzen würde. Damit ist gemeint, dass Menschen »ihr eigenes und fremdes Verhalten« sowie »Geschehnisse in der Welt um sie herum« entweder als durch »interne oder externe Faktoren« kausal bedingt deuten.85 Die Aufstellung von Kausalzusammenhängen stelle eine allgemein menschliche Eigenschaft dar ; Konvertierte hingegen würden einen »[einzigen] allgemeingültigen Kausalzusammenhang« annehmen: »Consequently, causal inferences remain constant despite variation in situations«.86 Interessant ist hierbei vor allem, dass die Autoren darauf hinweisen, dass nicht nur eine Verengung hin auf ein allgemeingültiges Schema hin erfolge, sondern auch eine Veränderung der Faktorengewichtung: während politische Bewegungen den Kausalzusammenhang primär auf äußere Faktoren hin verschöben (»systemblaming« – die Gesellschaft ist schuld an den Problemen ihrer Mitglieder), führe die religiöse Konversion dazu, die Schuld bzw. Verantwortung für Geschehnisse bei sich selber zu suchen.87 Das dritte Kriterium stelle die »Suspension of Analogical Reasoning« dar. Damit ist gemeint, dass Konvertierte nur noch »iconic metaphors« und keine »[a]nalogical metaphors« mehr verwenden würden: Da die Religion, zu der man konvertiert ist, einzigartig sei, könne ihre Begriffswelt mit nichts anderem verglichen werden.88 In der Sprache der Konvertierten hieße das also: Christus ist das Licht (»iconic metaphor«), aber nicht wie das Licht (»[a]nalogical metaphor«). Das letzte Kriterium ist das des »Embracement of a Master Role«89. Damit ist gemeint, dass die Konvertierten-Rolle an die Stelle von »various situationally specific roles« tritt und mit Begeisterung nach außen getragen wird; die Konvertit_in wird zur ständigen Repräsentant_in ihrer Religion.90 Snow und Machaleks Studie gibt als erste einen Überblick über die Merkmale, an denen man Konvertierte erkennen kann. Trotzdem man kritisch diskutieren kann, inwieweit eine solche Aufstellung universal gültiger Erkennungszeichen empirisch haltbar ist, kann sie daher mit Fug und Recht als eine Untersuchung bezeichnet werden, die einen »Mangel der bis dahin dominanten Konversionsforschung […], nämlich über der Untersuchung der Ursachen von Konversion 84 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 70, im Original kursiv. 85 Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 269. Die Fußnote bezieht sich auf beide vorhergehenden Sätze. »Adoption of a Master Attribution Scheme« ist im Original kursiv. 86 Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 270. 87 Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 271ff., das wörtliche Zitat ist S. 272 entnommen. 88 Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 273f. Die Fußnote bezieht sich auch auf den vorhergehenden Satz, die wörtlichen Zitate sind S. 273 entnommen, »Suspension of Analogical Reasoning« ist im Original kursiv. 89 Snow/Machalek (1983), S. 275, im Original kursiv. 90 Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 277.

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zu vernachlässigen, was Konversion und Konvertiten als solche eigentlich charakterisiert«91, behob. Eine Studie, die sich ebenfalls in sozialkonstruktivistischer Weise mit Konversionsrhetorik befasst, stellt Bernd Ulmers Untersuchung »Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung« dar. Ulmer ging es darum, zu analysieren, wie Konversionserzählungen als »rekonstruktive kommunikative Gattung«, ein Begriff, der von Luckmann entlehnt ist, funktionieren. Dabei definierte Ulmer »rekonstruktive Gattung« als diejenigen »kommunikativen Vorgänge, in denen vergangene Ereignisse und Erlebnisse nach gesellschaftlich verfestigten und intersubjektiv verbindlich vorgeprägten kommunikativen Mustern rekonstruiert werden.«92 Wie hier schon ersichtlich wird, wollte Ulmer untersuchen, ob Konversionserzählungen einem nicht nur intersubjektiv, sondern auch interreligiös ähnlichem Schema folgen, und wie dieses beschaffen sei. Anhand der von ihm untersuchten Konversionserzählungen bestätigte er seine Annahmen und arbeitete verschiedene Charakteristika von Konversionserzählungen heraus. Das erste stellt die »dreigliedrige Zeitstruktur« dar, womit gemeint ist, dass die Aufteilung »in einen ›Wendepunkt‹, eine ›Zeit davor‹ [und] ›eine Zeit danach‹ […] das zeitliche Grundgerüst für die gesamte Konversionserzählung« darstelle.93 Bei der Beschreibung der Zeit vor der Konversion ließe sich eine »zurückhaltend negative Beurteilung der vorkonversionellen Lebensphase« finden,94 und es werde »eine biographische Krise als Anlaß für die Konversion dargestellt«, bei der gesellschaftlich übliche Bewältigungsmodelle nicht erfolgreich gewesen seien.95 Hier findet sich also der Befund wieder, den Lofland und Stark in ihrer Studie herausgearbeitet und Heirich partiell widerlegt hatte, allerdings schließt Ulmer anders als erstgenannte aus der Darstellung der Befragten nicht automatisch, dass es diese Krise auch tatsächlich gegeben hat, sondern zunächst nur, dass das Beschreiben einer präkonversionellen Krise zur erzählerischen Darstellung von Konversionen gehöre. Die beschriebenen Krisen ähneln den von Lofland und Stark benannten Stressfaktoren: »Trennung vom Lebenspartner, Frustrationen und soziale Diskriminierungen in der Schule, Minderwertigkeitskomplexe usw.«96. Hingegen greift Ulmer bei der Beschreibung des Ergebnisses der Konversion implizit auf Snow und Machalek zurück, wenn er postuliert, »daß der Konvertit mit der Konversion einen neuen Schlüssel

91 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 70. 92 Vgl. Ulmer (1988), S. 20. »Rekonstruktive kommunikative Gattung« ist im Original fett gedruckt. 93 Vgl. Ulmer (1988), S. 22, Kursivsetzung im Original. 94 Vgl. Ulmer (1988), S. 23. 95 Vgl. Ulmer (1988), S. 24, Kursivsetzung im Original. 96 Ulmer (1988), S. 24.

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für die Deutung seiner Biographie erworben hat«97. Als weiteres Merkmal für Konversionserzählungen nennt er »die Verinnerlichung der biographischen Krise«, während bei der nachfolgenden Darstellung der Konversion die Schwierigkeit entstehe, dass Nicht-Erzählbare erzählbar zu machen.98 Als Charakteristikum der Erzählung des Konversionszeitpunktes selber arbeitet er folgendes zeitlich aufeinanderfolgendes Schema heraus: »[D]ie Öffnung des Konvertiten auf das Religiöse«, die »Schilderung eines außergewöhnlichen Ereignisses«, die »emotionelle Erschütterung« und die »Entscheidungssequenz«, bei welcher sich zeige, dass von nun an die »religiöse Konversionserfahrung als ein Geschehen gedeutet [werde], das für den Bereich der alltäglichen Erfahrungswirklichkeit des Konvertiten von grundlegender Bedeutung« sei.99 Hingegen werde in der Beschreibung der Zeit nach der Konversion das Augenmerk zuerst auf die »Darstellung der unmittelbaren Auswirkungen der Konversion«, und dann auf die »biographischen Veränderungen« gelegt.100 Ulmers Fazit ist, dass »das zentrale kommunikative Problem bei Konversionserzählungen darin besteht, die persönliche religiöse Erfahrung […] auf plausible und glaubwürdige Weise darzustellen und intersubjektiv zu vermitteln«, ein Problem, welches durch die von ihm beschriebene Zeitstruktur gelöst werde, bei der »sich die vor- und nachkonversionelle Biographie im Bereich der äußeren alltäglichen Wirklichkeit abspielt, […] [während] die Konversion selbst in der Innenwelt des Konvertiten statt[finde]«.101 Ulmers Verdienst besteht fraglos darin, von anderen Autor_innen entwickelte Charakteristika von Konversionsrhetoriken präzisiert und erweitert zu haben. Allerdings scheint mir sein Anspruch, mit nur 10 Interviews, von denen sieben mit Christ_innen durchgeführt wurden, eine universell und interreligiös gültige Darstellung von Konversionserzählungen erarbeiten zu wollen, zumindest gewagt. Eine Abkehr von der konstruktivistischen Perspektive hin zu einer Erforschung des Zusammenhangs von persönlichen Erfahrungen und Problemen mit der gewählten religiösen Perspektive bietet Peter G. Strombergs (sozial-)psychologisch ausgerichtete Studie über Konversionen. Anhand einer Fallstudie über einen Konvertiten zum literalsinnorientierten Christentum versucht er exemplarisch aufzuzeigen, wie über religiöse Symboliken persönliche Problemstellungen bewältigbar werden. Kernpunkt ist dabei, dass Symbole »für 97 Ulmer (1988), S. 25. 98 Vgl. Ulmer (1988), erstes wörtliches Zitat von S. 25 (Kursivsetzung im Original), der Rest ist an S. 26f. angelehnt. 99 Vgl. Ulmer (1988), die ersten drei Zitate sind S. 28 entnommen, das vierte und fünfte S. 29, Kursivsetzungen im Original. 100 Vgl. Ulmer (1988), S. 30, Kursivsetzungen im Original. 101 Vgl. Ulmer (1988), S. 31.

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etwas«, d. h. »referenzielle« Symbole, gleichzeitig auch (in unterschiedlichem Maße) situationsbestimmend (»constitutive«) sind; letzteres ergebe sich daraus, dass »Kontext und Symbol untrennbar sind«.102 Was ist damit gemeint? Ein Wort ist zuerst einmal ein Symbol für etwas; in bestimmten Zusammenhängen wird dieses Symbol (das Wort) jedoch die Situation erst erschaffen. Stromberg gibt als Beispiel die Unterscheidung zwischen »Sie« und »du«, welche abhängig von dem Verhältnis der Interaktionspartner_innen getroffen wird, aber gleichzeitig dieses Verhältnis auch herstellt.103 Auf Konversionen bezogen führt Stromberg aus, dass zumeist die religiösen Symbole, die vorher für etwas standen, also »referenziell« waren, zu »konstitutiven« würden: »[F]or the symbol does not label or merely parallel but, rather, constitutes his or her experience. The symbol becomes an aspect of experience, and the believer becomes committed to a cultural system to which he or she feels a connection on the most personal level«. Die Verbindung zwischen »Erfahrung« und »kulturellem Symbol« ist vollzogen, wenn selbst »unwillkürliche Aspekte seines Verhaltens [gemeint ist der Konvertit, Anm. der Autorin] wie Träume und Erzählstil anfangen, den Einfluss dieser Symbole wiederzuspiegeln«.104 Ich verstehe Stromberg dahingehend so, dass die Konvertit_innen sich eine Religion aussuchen, in der es ihnen möglich ist, referenzielle Symbole für ihre Erfahrungen und Problemstellungen zu finden, sich diese jedoch im Zuge der wachsenden Verbundenheit mit der Religion in konstitutive transformieren und somit Teil des Erfahrungshorizontes der Konvertierten werden. »Persönliche Transformation geschieht dort, wo ein religiöses Symbol eine Erfahrung des Konvertiten formulierbar macht, die er bisher nicht adäquat oder nicht legitim formulieren konnte«105, resümiert eine Konversionsforscherin Strombergs Ansatz. Abgesehen davon, dass mir auch hier wieder die Generalisierbarkeit seiner Fallstudien zweifelhaft erscheint, da er sich nur mit Konvertit_innen zum literalsinnorientierten Christentum befasst, stützt er seine Theorie auf einen sehr speziellen Fall, in welchem der Konvertit seinen Träumen, in denen er christliche Symboliken vorfindet und die er als z. T. empowernd empfindet, große Bedeu102 Vgl. Stromberg (1991), S. 103f., die ersten Anführungsstriche stammen von mir und stellen eine angelehnte Übersetzung von Strombergs »symbol to ›stand for‹« dar (S. 103), die wörtlichen Zitate sind von mir übersetzt, das erste (»referenzielle«, im Original »referential«), stammt von S. 103 und ist dort kursiv gedruckt, die anderen Zitate stammen von S. 104. 103 Vgl. Stromberg (1991), S. 104. »[M]y choice of formal or informal pronoun not only depends upon, but also constitutes the social relationship between my interlocutor and me«. 104 Vgl. Stromberg (1991), S. 123f., die Fußnote bezieht sich auch auf den vorhergehenden Satz. Das lange wörtliche Zitat auf Englisch findet sich auf S. 123–124, die anderen auf S. 123. 105 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 86.

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tung beimisst. Ob das ein generalisierbares Merkmal von Konvertit_innen darstellt bzw. wie sich genannte Transformationen manifestieren, wenn sich »Träume und Erzählstil«106 nicht verändern, lässt der Autor leider unbeantwortet. Mir scheint sein Ansatz vor allem insofern bedeutsam, als er die Fragen nach dem Zusammenhang zwischen »Erfahrung des Konvertiten« und »Inhalt der neuen Weltsicht«, die Heirich aufgeworfen hatte, zumindest partiell beantwortet.107 Allerdings tut er dies, ohne darauf einzugehen, welche anderen Erkennungsmerkmale für Konversion es noch gibt und wie es überhaupt soweit kommt, dass Konvertit_innen sich einer bestimmten Religion zuwenden bzw. in dieser eine Bewältigungsmethode für ihre Problemstellungen zu finden glauben. Auch erläutert er nicht näher, welche Funktion dieser Transformation der Symbole konkret zukommt, abgesehen davon, dass er die enger werdende Bindung und die Möglichkeit der Symbolisierung von Gefühlen erklärt. Monika Wohlrab-Sahr, die sich hauptsächlich mit Konversion zum Islam beschäftigt hat, möchte in ihren Arbeiten (u. a. in ihrer Habilitationsschrift von 1999), auch eine Anregung geben, in der gesamten Konversionsforschung eine konstruktive Brücke zwischen einer konstruktivistischen Konversionsforschung und der klassischen »realistischen« Ursachenforschung zu schlagen. Dazu versucht sie, die »zwei Engführungen«, die ihrer Ansicht nach die Konversionsforschung prägen, zu vermeiden: »[D]ie eine besteht darin, Erzählungen von Konvertiten als Faktenbeschreibungen aufzufassen und dabei ihren konstruktiven Charakter zu vernachlässigen; die andere besteht darin, nur noch die Konstruktion als solche in den Blick zu nehmen und jeglichen Bezug auf biographische Erfahrungen abzuschneiden«.108 Ihr Ansatz besteht darin, in Anlehnung an Robert K. Merton und Niklas Luhmann die biographische Funktion von Konversion zu erforschen: »Es geht dabei um die Rekonstruktion des Problems, auf das die Konversion bezogen ist und um die Herausarbeitung der Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet«.109 Allerdings kann man angesichts der langjährigen Fixierung der Konversionsforschung auf psychische und soziale Probleme von Konvertit_innen leicht auf den Gedanken kommen, dass auch hier der Fokus auf aus gesamtgesellschaftlicher Sicht »problematische« oder durch besondere Krisen und Erschütterungen gekennzeichnete Biographien liegt, ein Eindruck, der sich verfestigt, wenn man die zum Teil dramatischen Lebensläufe der von WohlrabSahr Befragten betrachtet.

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Stromberg (1991), S. 123. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 85. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20. Im Original ist der wörtlich zitierte Abschnitt kursiv gesetzt.

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Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass in der von besagter Forscherin für die Auswertung angewandten Objektiven Hermeneutik die »Krise« als »Normalfall« angesehen wird: »Für die Sequenzanalyse [der Objektiven Hermeneutik, Anm. der Autorin dieser Arbeit] aber ist in scharfer Differenz zur Perspektive der Alltagspraxis nicht die Routine, sondern die Krise der Normalfall und nicht die Krise, sondern die Routine der Grenzfall«110. In diesem Sinne des Problems bzw. der Krise als Regelfall, geraten alle Menschen immer wieder in »Krisensituation[en]«, in welchen sie – bewusst oder unbewusst – Problemlösungsstrategien anwenden, welche mit der Zeit zur Routine werden.111 Wohlrab-Sahr bildet anhand der jeweils dominanten Funktion der Problemlösung drei verschiedene Typen.112 Sie schafft es meines Erachtens tatsächlich, biographische Funktionen von Konversion jenseits standardisierter Konversionsrhetoriken herauszuarbeiten und überzeugende Typisierungen vorzunehmen. Diese lassen sich sicherlich nicht ohne weiteres auf andere Religionen übertragen, ihre Vorgehensweise könnte jedoch ein Vorbild für ähnliche Forschungen liefern. Kritisch ließe sich allerdings untersuchen, inwieweit es tatsächlich immer eine dominante Funktion der Konversion gibt, ohne die eine Typenbildung nicht möglich ist – dies erscheint mir als der größte Kritikpunkt an ihrer Arbeit. Ein »back to the roots« oder zumindest zu prä-konstruktivistischen Forschungen stellt der Ansatz dar, den Lewis R. Rambo und Charles Farhadian Ende der Neunziger vorlegten, wobei Rambo sich auf eigene Vorarbeiten bezieht. In diesem Modell wird Konversion als Prozess verstanden und in sieben Etappen113 aufgeteilt: Der »Kontext«, welcher »Wechsel entweder erleichtert oder bremst«, die Etappe der »Krise«, die der »Suche«, die der »Begegnung« zwischen der »suchenden Person und dem Fürsprecher einer neue Alternative«, die der »Interaktion«, die des »commitment« und die der »Konsequenzen« – damit sind »kumulative Effekte verschiedener Erfahrungen, Handlungen und Glaubenssätze, die Konversion entweder ermöglichen oder verhindern«, gemeint.114 Dabei betonen die Autoren, dass das Modell keinen universellen Geltungsanspruch erhebe, es »heuristisch« und die Reihenfolge der Etappen variabel sei.115 Ein Verdienst der Autoren ist, die Vielfalt möglicher Konversionsformen sowie der Ausprägung der Etappen zu betonen und auch auf die nach religiöser 110 111 112 113 114

Oevermann (2002), S. 9. Vgl. dazu Oevermann (2002), S. 9f. Wörtliches Zitat von S. 10. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 120f. »Stages« im englischen Original. Rambo/Farhadian (1999), S. 23f. Die ersten fünf wörtlichen Zitate sind S. 23 entnommen, das sechste findet sich auf beiden Seiten, die anderen auf S. 24. Auf Englisch heißen die Etappen context, crisis, quest, encounter, interaction, commitment und consequences und sind kursiv gesetzt. 115 Vgl. Rambo/Farhadian (1999), S. 24.

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Gruppierung variablen Missionsstrategien und Konversionsrhetoriken einzugehen.116 Indes bleibt das Modell trotz sehr diverser praktischer Beispiele für mein Empfinden zu sehr den universalistischen Ansätzen insbesondere Lofland und Starks sowie der Krisenfokussierung der älteren Konversionsforschung verhaftet. Einen neueren Ansatz, der wie der von Wohlrab-Sahr versucht, einen Zusammenhang zwischen der gewählten Religion und der spezifischen Erfahrungs- und Lebensgeschichte der Betreffenden herzustellen, bietet die religionsübergreifende Betrachtung von Konvertit_innen von Ines Wenger Jindra. Sie versucht in ihrer religionssoziologischen und -psychologischen Arbeit117, anhand empirischer Untersuchungen von Konvertit_innen die »Ausgangslagen zu und Effekte von Konversionen in Zusammenhang mit dem Inhalt des Deutungssystems, zu dem konvertiert wird, dem biographischen Hintergrund/ Persönlichkeitsfaktoren und dem religiösen Urteil«118 bzw. dessen Veränderung im Zuge der Konversion zu analysieren. Dabei liegt ihr besonderes Augenmerk neben den persönlichkeitsformenden Faktoren der Befragten auf deren Einordnung hinsichtlich »Orientierung an Autonomie vs. Bindung« in Anlehnung an das Stufenmodell von Robert Kegan bzw. dem »Verhältnis von Stufentransformationen und Konversionen oder Apostasie«, wobei sie sich hier auf das »Stufenmodell des religiösen Urteils nach Oser und Gmünder« stützt.119 Beide Modelle gehen von bestimmten Entwicklungsstufen aus, bei denen das religiöse Urteil differenzierter wird (weg von einem omnipotenten, vermenschlichten Gottesbild hin zu einem autonomeren Verständnis von Gott, bis in den letzten Stufen »Religion […] als Bedingung des Seins« empfunden wird) bzw. idealerweise eine ausgewogene Balance vom »Streben nach Autonomie« und »der Suche nach Bindung« erreicht wird.120 Ihren Auswertungen zufolge hängen höhere Stufen in beiden Bereichen meist zusammen; zudem formuliert sie, »dass Konversionen […] eine Abwendung vom Alten bedeuten; man suchte nach etwas, was man in der eigenen Kindheit vermisst hatte«.121 Aufgrund ihrer Forschungsergebnisse stellt sie sieben Typen von Konvertit_innen mit diversen Untertypen auf. Diese unterscheiden sich nach Enge bzw. Weite des Herkunftsmilieus und der neuen Religion, der Stufe des religiösen Urteils und

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Vgl. Rambo/Farhadian (1999), S. 28ff. Zur Einordnung vgl. ihr CV unter http://anthropology.nd.edu/assets/83290/. Wenger Jindra (2005), S. 48, im Original fettgedruckt. Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 57ff., das erste wörtliche Zitat stammt von S. 57, das zweite von S. 65, das dritte von S. 59 (dieses ist im Original fettgedruckt). 120 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 53ff., das erste wörtliche Zitat stammt von S. 62, das zweite und dritte von S. 57. 121 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 303f., das wörtliche Zitat stammt von S. 376.

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dessen (erfolgter oder nicht-erfolgter) Veränderung durch die Konversion sowie der »Autonomie- vs. Bindungsorientierung«.122 Zudem resümiert sie: »[Es] zeigte sich ein Zusammenhang zwischen dem Umstand, dass jemand nominal gläubige Eltern oder/und negative Beziehungen zu den Eltern oder auch nur einem Elternteil hatte, sowie der Unzufriedenheit mit der Lebenswelt, in der die Person aufwuchs, und Konversionen im Allgemeinen. […] Eine wichtige und auch überraschende Beobachtung […] liegt darin, dass es bei den Konversionserlebnissen (konzentriert man sich auf die vergleichende Analyse von Konversionen zu unterschiedlichen Religionen) ums Milieu/die Lebenswelt als Ganzes geht.«123

Sicherlich am kontroversesten zu diskutieren ist jedoch Wenger-Jindras Befund, dass Konversionen zu bestimmten Religionen, etwa dem Islam oder den Zeugen Jehovas, mit einem niedrigen Stufenurteil und wenig ausgeprägtem Reflexionsvermögen zusammenhängen: »Ein tiefer Grad an Selbstreflexivität trat in den meisten Fällen zusammen mit einer relativ tiefen Stufe des religiösen Urteils und einem geringen Ausmass [sic] an Autonomie im zwischenmenschlichen Bereich auf und umgekehrt«.124 Dabei stuft sie diese Religionen als »eher regelorientiert« ein und koppelt den Befund an »Erfahrungen fehlender Struktur« und sonstige problematische Lebenserfahrungen – die Konvertierten würden, wie sie ja auch in ihrem Resümee betont, nach dem suchen, was ihnen früher gefehlt habe.125 Ihre Forschungsergebnisse sind insofern interessant und auch wegweisend, weil sie als eine der wenigen Konversionsforscher_innen zwar Konvertit_innen zu verschiedenen Religionen gemeinsam untersucht, dabei jedoch die Differenzierung vornimmt, den Zusammenhang zwischen Konvertit_innentypen und den angenommenen Religionen und damit auch zwischen bestimmten Ausgangsproblematiken und der jeweils gewählten Religion herzustellen. Allerdings ist ihr Befund auch kritisch einzuschätzen. Obgleich sie den Forschungsstand der konstruktivistischen Konversionsforschung rezipiert und mehrfach Konversionsrhetoriken thematisiert,126 hinterfragt sie meiner Ansicht nach typische Konversionsrhetoriken (z. B. die Formulierung, dass die alte Religion schon immer inhaltsleer erschienen sei oder dass sich mit der Konversion plötzlich alles sinnvoll füge) immer wieder nur ungenügend. Dazu er122 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 12ff., (das Inhaltsverzeichnis mit der Beschreibung der einzelnen Typen und ihrer Charakteristika), das wörtliche Zitat stammt von S. 13. 123 Wenger Jindra (2005), S. 372. 124 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 375ff., das wörtliche Zitat stammt von S. 375. 125 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 376ff., das erste wörtliche Zitat stammt von S. 376, das zweite von S. 378. Sie zählt allerdings »z.T auch Christentum« unter die regelorientierten Religionen und führt dafür einen Konvertiten zum literalsinnorientierten Christentum an. 126 Z. B. auf S. 81, wo sie sich mit den methodologischen Schwierigkeiten ihrer Studie auseinandersetzt.

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achte ich es als fraglich, ob man bestimmte Entwicklungsstufen (sei es des religiösen Urteils oder der Persönlichkeitsentwicklung)127 tatsächlich an bestimmte Religionen koppeln kann. Selbst wenn es eine Tendenz dahingehend geben sollte, dass Konvertit_innen mit bestimmten Ausgangsproblemlagen bestimmte Religionen eher wählen und damit bestimmte »Entwicklungsstufen« einhergehen (ein Konzept, was an sich schon kritisch zu betrachten ist), stellt sich die Frage, ob dieses Phänomen wirklich in der Religion als solche begründet liegt. Es könnte ja z. B. auch sein, dass Menschen in westlichen Ländern den Islam als besonders regelgeleitet wahrnehmen und daher Personen mit einem Hang zu straffen Vorschriften a priori interessierter an einer Konversion zum Islam sind. Zudem scheint es mir schwierig, Pauschalaussagen über eine weltweit verbreitete Religion zu treffen, ohne nach Strömungen zu differenzieren. In jedem Fall aber ist die Herangehensweise, bestimmte Religionen bzw. die jeweils davon vorgefundenen Strömungen und den von ihnen angezogenen Typus von Konvertit_innen miteinander in Korrelation zu setzen und interreligiös zu vergleichen, eine vielversprechende und weist letzten Endes auch Parallelen zu meinem Forschungsansatz auf. Ich selber werde in meiner Forschung in Anlehnung an Robert K. Mertons Funktionenmodell Funktionen der Konversion für die Betreffenden herausarbeiten. Dabei werde ich jedoch in Abgrenzung von den bislang meist (mono-) kausalen Modellen wie auch von der Typenbildung anhand einer dominanten Funktion, wie sie Wohlrab-Sahr vollzieht, ein multifunktionales Modell von Konversion erstellen. Details zu dieser Vorgehensweise, welche also von prävalenten Ansätzen der Konversionsforschung differiert, werde ich im Kapitel über die Durchführung meiner Forschung darlegen.

1.3. Konversionen zum Islam und zum Christentum – der aktuelle Forschungsstand Nach diesem Überblick über die wichtigsten Entwicklungen der Konversionsforschung möchte ich nachfolgend einen kurzen Überblick über den Stand der Forschung hinsichtlich der konkreten von mir beforschten religiösen Strömungen geben. Dabei wird das Augenmerk, soweit möglich, auf den deutschsprachigen Stand der Forschung gelegt – die Arbeiten zu Konversionen im 127 Dabei sei noch erwähnt, dass nach Aussage der Autorin »tiefere Stufen des religiösen Urteils nicht als schlechter angesehen werden können als höhere Stufen«; diese Verneinung einer Hierarchie wird jedoch eigentlich sofort de facto widerlegt, wenn Wenger Jindra postuliert, dass »im Bereich des religiösen Urteilens eine Entwicklung in Richtung einer höheren Stufe erwünscht [sei]«, Wenger Jindra (2005), S. 381.

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deutschsprachigen Raum sind in der Regel auch auf Deutsch erschienen. Wenn man mit Heirich davon ausgeht, dass »experiences or encounters«128 die Entscheidung für die Konversion maßgeblich prägen, bzw. dass auch die individuellen Problem- und Fragestellungen je nach gesellschaftlichem Kontext grundlegend differieren, ergibt es meines Erachtens Sinn, sich hauptsächlich auf die deutschsprachigen Forschungen zu fokussieren. Man kann nämlich davon ausgehen, dass Erfahrungen, Frage- und Problemstellungen, aber auch Problemlösungen gravierende Differenzen je nach kulturellem Umfeld der (potentiellen) Konvertitinnen aufweisen. Finanzielle Schwierigkeiten oder Armut haben eine andere existenzielle Bedeutung in einem Land, in dem ein einigermaßen funktionierendes Sozialsystem existiert, als in einem, wo der mögliche Hungertod droht. Die Frage nach der sozialen Einbindung stellt sich dringlicher in einer individualisierten und mobilen Gesellschaft als in einer ruralen mit wenig Mobilität. Ob Psychotherapie oder religiöse Hingabe als gesellschaftlich anerkannte Form der Lebensbewältigung betrachtet werden,129 differiert ebenso wie der gesellschaftliche Stellenwert weiblicher Erwerbsarbeit, das jeweils übliche oder angestrebte Familienmodell oder die vorherrschende Sexualmoral. Hinzu kommt der Umstand, dass diese Faktoren je nach Milieu oder Subkultur gravierende Schwankungen aufweisen können; es ist also eine Vertrautheit mit einer Gesellschaft sowie ihren »symbolischen Sinnwelt[en]«130, um mit Berger und Luckmann zu sprechen, notwendig, um die mit der Konversion einhergehenden Transformationen der Weltsicht wie auch die sich aus der Konversion ergebenden Funktionen wirklich nachvollziehen zu können. Um Forschungen über Konversion betreiben zu können, ist meines Erachtens also auch immer Wissen über den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext gefragt – und der Kontext, mit dem ich mich als Forscherin am besten auskenne, ist der westliche oder, genauer gesagt, der deutschsprachige.131

1.3.1. Konversion zum Islam – der Stand der deutschsprachigen Forschung Konversion zum Islam stellt zwar ein Thema dar, welches in der Öffentlichkeit gerne und ausführlich behandelt wird, hat jedoch von Seiten der deutschsprachigen Forscher_innen bis dato eine eher geringe Aufmerksamkeit erfahren. Abgesehen von einer Studie von Barbara Zschoch, den schon erwähnten Arbeiten von Gabriele Hofmann und Monika Wohlrab-Sahr, den Dissertationen 128 129 130 131

Heirich (1977), S. 674. Vgl. dazu Berger/Luckmann (2010), S. 186f. Berger/Luckmann (2010), der Begriff »symbolische Sinnwelt« stammt von S. 114. Vgl. dazu auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 106f.

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von Maria Baumann und Caroline A. Neumüller und der Neuerscheinung von Nina Käsehage wird Konversion zum Islam meines Wissens, wenn überhaupt, nur noch im Rahmen allgemeiner Konversionsstudien oder in kürzeren Artikeln behandelt.132 Fest steht jedoch, dass es immer mehr Muslim_innen gibt, welche zum Islam konvertiert sind, ohne über muslimische Wurzeln zu verfügen. Maria Baumann spricht von ca. 12.000 Konvertit_innen zum Islam in Deutschland und beziffert die Anzahl der Neu-Konvertierten auf 250 bis 300 pro Jahr, eine Schätzung, bei der allerdings Zurückhaltung angebracht ist.133 Unabhängig von der genauen Zahl nehmen die Betreffenden nicht selten eine Schlüsselrolle in ihren Communities, aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung ein, da ihnen wahlweise eine positiv integrierende Brückenfunktion zwischen Geburtsmuslim_innen und Mehrheitsgesellschaft oder aber ein besonderer Fanatismus nachgesagt wird.134 Die erste mir bekannte Studie zu Konversion zum Islam in Deutschland ist die der Ethnologin und Soziologin Barbara Zschoch »Deutsche Muslime. Biographische Erzählungen über die Konversion zum fundamentalistischen Islam« von 1994. Zschoch interviewte 12 deutschstämmige Konvertit_innen zum Islam. Dabei definierte sie – analog zur gängigen Fundamentalismusdefinition für den christlichen Glauben – denjenigen Islam als fundamentalistisch, »der sich nur an Koran und Sunna als Fundamenten orientiert, ihre Aussagen als obligatorische Lebensregeln begreift«135. Ihre Arbeit untersucht sowohl die erzählerische Darstellung des Konversionsgeschehens an sich, als auch deren »indirekte Thematisierung durch die Darstellung von Veränderung bzw. Kontinuität über die drei Zeitabschnitte [vor, während und nach der Konversion, Anm. der Autorin]« und versucht zudem, »die Frage nach den Kontexten der Darstellung […] zu beantworten«.136 Zschochs Werk kommt zweifelsohne der Verdienst zu, die erste mir bekannte veröffentlichte Studie zu sein, die sich ausschließlich mit der 132 Zu diesem Thema sind mir auch noch andere Arbeiten begegnet, z. B. eine Studienarbeit oder journalistische Werke, doch ich habe mich auf eigenständige wissenschaftliche Forschungen beschränkt. Der Fokus liegt hierbei zudem in der Regel auf Frauen; Konversion zum Islam durch Männer wurde bislang noch weniger erforscht. Allerdings erschien zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit (also Anfang 2018) eine nicht auf eine Fachleser_innenschaft ausgelegte Publikation zu Konversion zum Islam in Deutschland. Dabei handelt es sich um Kaiser, Susanne (2018): Die neuen Muslime. Warum junge Menschen zum Islam konvertieren. Wien: Promedia. 133 Vgl. Baumann (2003), S. 1. Diese Zahlen stammen von einer nicht-wissenschaftlichen islamischen Einrichtung; Zweifel melden z. B. Müssig/Vardar (2011), S. 31, oder Spiewak (2007), http://www.zeit.de/2007/17/B-Islam an. 134 Vgl. dazu z. B. Müssig/Vardar (2011), S. 28 und 34. 135 Zschoch (1994), S. 3. Allerdings wird hierbei nicht ganz klar, ob sie damit einen rechtsschulenungebundenen literalsinnorientierten Islam oder einen traditionalistisch-konservativen meint. 136 Vgl. Zschoch (1994), S. 16.

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Konversion von nicht-muslimischstämmigen Deutschen zum Islam beschäftigt. Sie thematisiert Konversionsrhetoriken und stellt idealtypische Erzählmuster dar. Auch geht sie ausführlich auf die Verknüpfung von Kontinuität und Wandel in den Erzählungen der Befragten ein,137 ein Aspekt, der sich auch beispielsweise in der späteren Arbeit von Hofmann und Wohlrab-Sahr findet.138 Allerdings fehlt trotz der ausführlichen Darstellung von Konversionsrhetoriken der Analyseschritt, diese von der Funktion bzw. den Funktionen, welche die Konversion vor dem Hintergrund der speziellen Biographie innehat, zu separieren. Daher bleibt die Analyse meines Erachtens an einigen Stellen oberflächlich und den Konversionsrhetoriken der Eigendarstellungen verhaftet, etwa, wenn Zweifel an christlichen Inhalten oder die Rationalität des Islam von der Autorin als Ursachen der Konversion benannt werden.139 Kurz darauf erschien eine weitere ethnologische Arbeit zum Thema der Konversion zum Islam, diesmal alleinig auf Frauen bezogen: Gabriele Hofmanns »Muslimin werden« aus dem Jahre 1997. Ihre von dem Aspekt der Geschlechterdifferenz getragene Arbeit bewegt sich hauptsächlich auf der deskriptiven Ebene. Sie greift auf Ulmers idealtypische Konstruktion von Konversionserzählungen zurück, möchte jedoch dabei die aktive Rolle der Konvertierten bei der »Gestaltung der Deutungsmuster« nicht vernachlässigt wissen.140 Hofmann orientiert sich stark an Ulmers idealtypischer Darstellung, die von einem zentralen Moment der Krise mit voneinander abgegrenzten Phasen ausgeht. Sie hebt hervor, dass sie aus »der Gesamtheit der […] [ihr] vorliegenden Interviews eine idealtypische Konversionsgeschichte« zusammenstellen könnte, »die vollständig die von Ulmer genannten Strukturen« enthielte.141 Dabei weist sie besonders darauf hin, dass die von ihr befragten Frauen vor ihrer Konversion eine zumeist negativ besetzte Außenseiterposition eingenommen hätten; nach der Konversion sei diese Rolle beibehalten, jedoch positiv besetzt worden.142 »Das Gefühl der Besonderheit setzt sich mit der Konversion

137 Zschoch (1994), S. 51ff. 138 Zu »Kontinuität und Wandel« in den Erzählungen der Befragten vgl. Hofmann (1997), S. 157f., vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88, vgl. dazu auch ebd., S. 129. Allerdings bezieht diese sich hierbei auf biographische Strukturen der Problemlösung, welche von außen erkennbar sind, und nicht auf die Selbstdarstellung der Befragten. Hofmann geht allerdings auf S. 159ff. ebenfalls auf die Kontinuität bestimmter lebensstruktureller Aspekte ein. 139 Vgl. Zschoch (1994), S. 59f. 140 Vgl. Hofmann (1997), S. 26f. 141 Vgl. Hofmann (1997), S. 24. Diese Argumentation vermag mich nicht zu überzeugen; bei einer genügend großen Menge an Interviewten ist es sicher machbar, idealtypische Konversionsgeschichten aus Versatzstücken einzelner Erzählungen zu konstruieren. Es bleibt jedoch fraglich, ob dies nicht auch bei anderen Theorien möglich wäre und ob ein solcher Zusammenschnitt tatsächlich repräsentativ ist. 142 Vgl. Hofmann (1997), S. 159ff.

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fort, erhält aber eine andere Qualität.«143 Im Zeichen dieser bewusst gelebten und positiv aufgewerteten »Andersartigkeit« sei auch das Transportieren islamischer Inhalte in nicht-islamische Räume wie Familie, Beruf etc. sowie die Sichtbarmachung durch das Kopftuch zu verstehen.144 Zudem habe die Konversion für psychische Stabilität, eigenverantwortliches Handeln und innere Zufriedenheit gesorgt, das leitet zumindest Hofmann aus den Erzählungen der Konvertitinnen ab.145 Als weiteren Faktor für die Konversion biete das islamische Geschlechterbild die Möglichkeit, gesellschaftliche Widersprüche – z. B. die Doppelbelastung der Frau als Arbeitnehmerin und Mutter und die Abwertung einer reinen Hausfrauentätigkeit – durch die Positivbewertung der Mutterrolle und klare Aufgabenteilungen zwischen den Geschlechtern aufzulösen.146 »Auf dieser Ebene kann ein positives Selbstbild auf der Basis von Mütterlichkeit entstehen«147, konstatiert die Autorin der Studie.148 Ihre Arbeit enthält viele interessante Ansätze; allerdings ist mir nicht ganz begreiflich, weshalb die Autorin zwar immer wieder auf Konversionsrhetoriken verweist, aber bei ihrer Analyse oft auf deren Ebene verbleibt und sie als Faktengeschichten interpretiert.149 Der große Mehrwert ihrer Studie liegt daher für mich primär in ihrer Beschreibung der Attraktivität des »islamischen Geschlechterkonzeptes« für die Konvertitinnen und dessen Anknüpfungsfähigkeit an gesellschaftlich bereits vorhandene Geschlechterbilder, aber auch die dadurch resultierende Auflösung von Problemen und Widersprüchen hin zu einem konservativen, auf Weiblichkeit und Mütterlichkeit ausgerichteten Frauenbild (und dem dazugehörigen komplementären Männerbild).150 Monika Wohlrab-Sahr hat mit ihrer Habilitation »Konversion zum Islam in Deutschland und den USA« von 1999 die wohl tiefgehendste und umfassendste 143 Hofmann (1997), S. 159. 144 Vgl. Hofmann (1997), S. 167. Dabei wäre jedoch einzuwenden, dass zumindest bei einer strengeren Islamauslegung das Kopftuch eine Pflicht und keine beliebig ablegbare Wahlmöglichkeit darstellt. 145 Vgl. Hofmann (1997), S. 161ff. und S. 184. Es bleibt für mich unklar, weswegen sie ausgerechnet hier die Erzählungen der Konvertitinnen unhinterfragt akzeptiert, wo doch gerade das Vorher-Nachher-Schema von verschiedener Seite (vgl. die Studien von Ulmer und Snow/Machalek) als typische Konversionsrhetorik beschrieben wurde. Vgl. dazu auch die Kritik von Wohlrab-Sahr (1999a), S. 143f., Fußnote 2. 146 Vgl. Hofmann (1997), S. 187–207. 147 Hofmann (1997), S. 206. 148 Der Abschnitt zu Hofmann ist bis zu dieser Fußnote fast unverändert meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013), S. 24f., entnommen. 149 Z. B. auf S. 141ff., wenn es um die »[i]ntellektuelle Faszination« des Islam geht. 150 Hofmann (1997), S. 187–265. Das wörtliche Zitat enstammt S. 231, zur Anknüpfung an bestehende gesellschaftliche Geschlechterbilder vgl. vor allem S. 187–215, zur Aufwertung von Familie insbesondere S. 215–250, zur islamischen Kleidung und der Kritik an geltenden Schönheitsnormen sowie zu Stereotypen weiblicher und männlicher Sexualität besonders S. 250–265.

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Analyse über deutsche Islamkonvertit_innen vorgelegt. Dabei stützt sie sich auf narrative Interviews mit ca. 40 Konvertit_innen in Deutschland und den USA,151 die sie u. a. mit der Auswertungsmethode der Objektiven Hermeneutik untersucht. Ausgehend von der »biographischen Funktion« von Konversion versucht sie die Analyse auf soziale Gruppen und schließlich auf eine »umfassendere kulturelle Ebene« auszuweiten.152 Dabei sieht sie die Konversion als eine mögliche Form, biographische Krisen zu meistern: »Es geht dabei um die Rekonstruktion des Problems, auf das die Konversion bezogen ist und um die Herausarbeitung der Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet.«153 Getreu den Prämissen der Objektiven Hermeneutik versucht sie über die Betrachtung des Einzelfalls zu generalisierten Aussagen über Konversion zum Islam als eine mögliche Form der Problemlösung zu kommen.154 Sie arbeitet die »Implementation von Geschlechtsehre«, die »Methodisierung der Lebensführung« sowie »symbolische Emigration« bzw. »symbolische[n] Kampf«155 als die drei Hauptkategorien der Problemlösung heraus. »Implementation von Geschlechtsehre« bedeutet nach Wohlrab-Sahr, dass »der Rekurs auf ein im Islam verankertes Modell von partikularer Geschlechtsidentität und darauf basierender Geschlechtsehre biographisch als Mittel der Problemlösung dient«156. Dagegen würden bei der zweiten Funktion der Konversion »Phasen der Destabilisierung« beendet und »Bildungs- und Berufsverläufe« erfolgreich aufgenommen bzw. geändert.157 Beim dritten Typus von Konversion diene der Islam primär als Mittel der Abgrenzung vom eigenen (kulturellen) Kontext, zu dem die »Zugehörigkeit« aus verschiedenen Gründen als »prekär[…]« empfunden werde.158 Wichtig erscheint mir neben dieser präzisen Typisierung vor allem ihr Fazit, dass »Konversion keine beliebig reversible Änderung der Weltsicht, sondern eine Neustrukturierung der Lebensführung mit starken Bindungswirkungen«159 darstelle.160 In Maria Baumanns Arbeit von 2003 »Frauenwege zum Islam. Analyse religiöser Lebensgeschichten deutscher Muslimas« fehlen solche Interpretationen weitestgehend; obschon auch sie sich auf Ulmers Schema von Konversionserzählungen stützt, hinterfragt sie die Erzählungen ihrer Gesprächspartnerinnen 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160

Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 92. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 119. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20. Im Original ist dieser Abschnitt kursiv gesetzt. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 5ff. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 143. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 224. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 291. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 361. Der Abschnitt über Wohlrab-Sahr ist meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013), S. 25f., entnommen.

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m. E. kaum. Sie zieht das Fazit, dass bei den Frauen eine Krise ausschlaggebend für die Konversion war, allerdings nur, wenn man den Krisenbegriff auf eine »Sinn- und Identitätssuche« ausdehne.161 Außerdem verweist sie auf die »identitätsstabilisierend[e]« Komponente und die Sinnstiftung durch die Konversion;162 sie begreift die Entscheidung für den Islam als »individuelle[…] Selbstsozialisation« im Gegensatz zu Konversionsmodellen, die lediglich »soziale und biographische« Faktoren in den Vordergrund stellen würden.163 Dagegen hebt Susanne Leuenberger 2012 in ihrer Einzelfallstudie der Schweizer Konvertitin Mona die Funktion des Islam innerhalb der problematischen Bindung an die Familie hervor. Die Konversion Monas verschaffe ihr einen »›Zwischenraum‹ zur Artikulierung der biographisch dominanten Problematik familiärer Zugehörigkeit«.164 Mona gelinge es, sich durch ihre Konversion von ihrer Schweizer Adoptivfamilie abzugrenzen und neue Bindungen zu der Familie ihres (vorher weitgehend abwesenden) leiblichen türkisch-muslimischen Vaters herzustellen.165 Dabei betont Leuenberger, dass der Islam eine »›heimelige‹« Religion für viele Konvertit_innen darstelle.166 Caroline A. Neumüllers 2014 erschienene Arbeit »Konversion zum Islam im 21. Jahrhundert. Deutschland und Großbritannien im Vergleich« befasst sich mit der Auswertung von Interviews und Fragebögen, mit deren Hilfe 24 britische und 52 deutsche Islamkonvertit_innen unterschiedlicher Strömungen befragt wurden. Hauptaugenmerk stellen dabei die Sammlung der »Konversionserfahrungen der Teilnehmer«, die Erforschung von deren Motivationen für die Konversion, der Interaktion mit ihrem Umfeld sowie die Veränderungen der Lebensweise dar, wobei die betreffenden Aspekte auch im Hinblick auf die Nationalität verglichen werden.167 Neumüllers Arbeit bietet einen interessanten und für eine qualitative Arbeit recht breit angelegten Überblick über die Ansichten der Teilnehmer_innen zu kontroversen islamischen Themen sowie über die Veränderung des Lebensstils und der familiären und freundschaftlichen Beziehungen der Konvertierten. Zudem weist ihr Vergleich zwischen deutschen und britischen Muslim_innen sowie zu einer Kontrollgruppe von Geburtsmuslim_innen auf interessante länder- und sozialisationsspezifische Unterschiede hin, was die Schwierigkeiten universalistischer Ansätze von Konversi161 Vgl. Baumann (2003), S. 209. Der Abschnitt über Baumann ist meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013), S. 25, entnommen. 162 Vgl. Baumann (2003), S. 211. 163 Vgl. Baumann (2003), S. 213. 164 Vgl. Leuenberger (2012), S. 115. 165 Vgl. Leuenberger (2012), S. 137ff. 166 Vgl. Leuenberger (2012), S. 138. Der Abschnitt über Leuenberger ist meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013), S. 26, entnommen. 167 Vgl. Neumüller (2014), S. 23.

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onsforschung und die Notwendigkeit länder- und milieuspezifischer Kontextualisierung durch Forscher_innen bestätigt. Da Neumüller jedoch weder einen konstruktivistischen Ansatz verfolgt noch Biographieforschung betreibt, liefert ihre Arbeit hinsichtlich der Beweggründe der Konvertit_innen für die Konversion meines Erachtens hauptsächlich eine aufschlussreiche Sammlung von standardisierten Elementen islamischer Konversionserzählungen, d. h. von Konversionsrhetoriken, ohne dass sie diese jedoch als solche benennen würde. Zudem fällt auf, dass manche Passagen des Werkes – vermutlich aufgrund der Übersetzung aus dem Englischen –168 uneindeutig oder schwer verständlich sind. 2016 erschien das Buch von Nina Käsehage: »Konversion zum Islam innerhalb Deutschlands. Unter besonderer Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Fragen«. Die Religionswissenschaftlerin erörtert darin großflächig Kollisionspunkte zwischen Islamischem Recht und Grundgesetz und hat von ihren Interviews mit insgesamt 38 Gesprächspartner_innen »zwei Interviews zwecks Analyse ausgewählt«169, aus denen sie wiederum zwei Typen an Konvertierten herausarbeitet. Diese sind Typus I, deren Vertreter_innen einem gemäßigten oder liberalen Islam angehören, und Typus II, unter dem salafismusaffine Konvertit_innen zusammengefasst sind. Dabei stellt sie die Typen anhand der jeweils ausgewählten Interviews vor und analysiert sie vor allem im Hinblick auf die Positionierung zu demokratischen Prinzipien. Typus I, den sie einem bildungsnäheren Milieu zuordnet, habe dabei »über einen intellektuellen Zugang zum Islam gefunden«, Typus II, den sie in einem bildungsferneren und weniger gut gestellten Milieu verortet, hingegen über »einen spirituellen Zugang«.170 Ohne Zweifel ist die Autorin sehr gut vertraut mit der von ihr als »salafistisch« bezeichneten Szene (durch Typus II verkörpert), in der sie derzeit für ihre Dissertation forscht. Zudem arbeitet sie gründlich mögliche Konfliktpunkte zwischen Islamischem Recht und Grundgesetz heraus und erläutert die juristischen Implikationen dieser Unverträglichkeiten. Dennoch weist ihre Arbeit meines Erachtens einige inhaltlich und methodologisch problematische Aspekte auf. Selbstverständlich weisen die Auslegungen der Scharia bzw. auch das Islamische Recht, wie es in vielen islamischen Ländern kodifiziert ist bzw. angewandt wird, gravierende Unvereinbarkeiten mit dem deutschen Grundgesetz, 168 Die Dissertation erschien erstmalig 2012 auf Englisch. Wer die Arbeit ins Deutsche übersetzt hat und welche Änderungen vorgenommen wurden, ist aus der deutschen Ausgabe nicht ersichtlich. Stichproben erweckten in mir den Eindruck, dass es einige Differenzen zu der englischen Dissertation gab (zum Beispiel gibt es in dieser einen Anhang zum Thema Körperstrafen, welcher in der deutschen Fassung fehlt). Die englische Arbeit ist unter https://ore.exeter.ac.uk/repository/handle/10871/8406 abrufbar. 169 Käsehage (2016), S. 79. 170 Vgl. Käsehage (2016), das erste der wörtlichen Zitate ist S. 80, das zweite S. 101 entnommen, Kursivsetzung im Original.

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insbesondere dem Gleichbehandlungsgrundsatz der Geschlechter, dem Verbot von Körperstrafen sowie der Garantie der Religionsfreiheit auf. Allerdings könnte man stärker auf reformislamische Ansätze der Interpretation schariatischer Vorschriften eingehen – oder auch auf die Bejahung demokratischer Werte durch die Mehrheit deutscher Muslim_innen – anstatt vorwiegend ein Gegensatzpaar aufzubauen, welches sicherlich im Bewusstsein vieler, zumal salafismusaffiner, Muslim_innen171 existiert, aber keineswegs auf alle deutschen Muslim_innen übertragen werden kann. Es erscheint mir zudem nicht ganz schlüssig, in welchem Bezug die Diskrepanz zwischen Scharia/Islamischem Recht und Grundgesetz sowie das Phänomen der Konversion zueinander stehen. Der Aufbau der Arbeit legt den Schluss nahe, dass (auch) untersucht werden soll, inwiefern eine Konversion zum Islam mit der Annahme demokratiefeindlicher oder grundgesetzkonträrer Ansichten korreliert. Hierbei wird jedoch außer Acht gelassen, dass Gedankengut, welches konträr zu Grundgesetz oder demokratischen Werten steht, keineswegs auf muslimische Kreise beschränkt ist. Ohne die gravierende Ungleichbehandlung von Frauen und Minderheiten, welche in den meisten theoretischen und nahezu allen praktischen Auslegungen Islamischen Rechtes vorherrscht, beschönigen zu wollen, erscheinen doch manche praktischen Beispiele der Verfasserin zumindest diskussionswürdig.172 Obwohl die Autorin angibt, sie orientiere sich »an den Vorgaben der beiden Standardwerke aus diesem Forschungsbereich«173 – gemeint sind die Arbeiten von Wohlrab-Sahr und Hofmann, welche weiter 171 Ich habe in meiner Arbeit die Form »Muslimin« statt »Muslima« verwendet, da es nur mit ersterer möglich ist, einen geschlechtergerechten Plural zu bilden, wenn es um gemischtgeschlechtliche Gruppen geht. 172 Etwa, wenn sie die biologistischen Ansichten einer salafistischen Konvertitin als Verstoß gegen den »Gleichbehandlungsgrundsatz« wertet (S. 112), obwohl diese zumindest in Teilen durchaus dem Gedankengut eines gesellschaftlichen Mainstreams entsprechen, vgl. dazu auch Hofmann (1997), S. 207, oder wenn sie deren Befürwortung der Todesstrafe für »Kinderschänder…und Vergewaltiger« als Beweis für »Radikalismus und Islamismus« wertet (S. 118), Kursivsetzungen von Käsehage. Die Forderung der Todesstrafe für Sexualverbrecher stößt auf Zustimmung auch außerhalb religiöser Kreise, und zwar nicht nur im rechtspopulistischen Milieu. Vgl. dazu diese Studie: »Trotz sinkender Zahl von Morden und Totschlägen in Deutschland wächst bei jungen Juristen offenbar der Wunsch nach immer drakonischeren Strafen. Ein Drittel von ihnen findet, dass selbst eine lebenslange Haft bei manchen Straftaten noch zu mild ist. Die Hälfte der Befragten würde einen Verdächtigen foltern, wenn damit ein Menschenleben gerettet werden könnte. Ein Drittel spricht sich sogar für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus«, Ergebnis einer Langzeitstudie von 1989–2012, bei der »etwa 3100 Jura-Studenten befragt [wurden], die gerade mit ihrem Studium begonnen hatten«, Menkens (2014), unter https://www.welt.de/politik/deutschland/ article134799279/Warum-jetzt-viele-Deutsche-die-Todesstrafe-fordern.html. Die Zustimmungswerte der Jurist_innen überschreiten dabei laut diesem Artikel diejenigen der Gesamtbevölkerung (bei der sie bei 25 % liegt), was angesichts der eigentlich erwartbaren Verfassungskonformität von Jurist_innen nachdenklich stimmt. 173 Käsehage (2016), S. 79, Fußnote 424.

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oben bereits ausführlich diskutiert wurden – lässt die Arbeit m. E. die kritische Auseinandersetzung mit Konversionsrhetoriken wie auch die von ihr angestrebte Analyse der Funktionen der Konversion weitgehend vermissen.174 Zudem fallen ihre meinem Empfinden nach zum Teil wertend klingenden Formulierungen auf.175 Insgesamt hat dieser Überblick deutlich werden lassen, dass die beiden wichtigsten Werke zu Konversion zum Islam bereits vor über 15 Jahren erschienen sind und nachfolgende Arbeiten deren Analysen nicht substanziell zu erweitern vermochten. Es erscheint mir daher geboten, mich bei einer Analyse von Konversionen zum Islam in Deutschland weiterhin primär an diesen beiden Autorinnen, vor allem an Monika Wohlrab-Sahr, zu orientieren. Man könnte nun natürlich die Frage aufwerfen, inwieweit die besagte Literatur für mein Forschungsvorhaben überhaupt verwendbar ist, da nicht bei allen Autorinnen Konversionen zum literalsinnorientierten Islam untersucht wurden. Tatsächlich hat, um die erste der beiden von mir am meisten rezipierten Autorinnen anzuführen, Gabriele Hofmann Frauen verschiedener islamischer Strömungen interviewt; das Gros ihrer Interviewpartnerinnen entstammt jedoch einem Netzwerk »deutschsprachiger Muslime«, »die sich ihren eigenen Angaben nach auf einen ›Urislam‹ berufen« und für die »die historische Entwicklung des Islam eine Verfälschung der reinen Religion mit ›kulturellen Traditionalismen‹ sowie nichtzulässigen Interpretationen« darstellt. »Ihr Ideal ist ein Islam der Frühzeit, in dem sie nicht nur die Regeln des Koran, sondern vor allem auch seine – wie sie es wahrnehmen – freiheitlichen und weltoffenen Prinzipien verwirklicht glau-

174 Käsehage schreibt auf S. 77, sie wolle in Anlehnung an Wohlrab-Sahr eine »funktionale Perspektive« auf die Konversionen einnehmen und deren Problemlösungsbezug analysieren. Die Unterteilung in zwei »Funktionstypen« (S. 78, Kursivsetzung der Autorin) je nach Radikalität und die daraus resultierende Unterscheidung der zwei Zugänge zur neuen Religion überzeugen mich hierbei nicht, da dennoch nicht deutlich wird, welche Funktion die Konversion denn schlussendlich für die Befragten innehat und welche Probleme gelöst wurden/werden. Auch die unhinterfragte Annahme der Darstellung der Befragten von Typus I, dass sie sich aus intellektuellen/rationalen Gründen für den Islam entschieden haben, bewegt sich auf der Ebene standardisierter islamischer Konversionsrhetorik. Die Frage wäre also eher, ob die höhergebildeten Befragten im Einklang mit ihrem Selbstbild und durch fundierte Kenntnisse des Islam und dazugehöriger Konversionsrhetorik diesen Aspekt besonders betonen. Vgl. dazu Wohlrab-Sahr, S. 364f. 175 Dies äußert sich beispielsweise in Formulierungen wie dieser : »Leider vermisst man bei dieser ansonsten sehr gebildeten […] Probandin in diesen Aspekten das stets von ihr postulierte rationale und logische Handeln, was keine subjektive Wertung von individuellem Verhalten beinhalten sollte« (S. 99) – und es m. E. eben doch beinhaltet –, der Aussage, die Erklärung einer Konvertitin sei »[a]bsurd« (S. 111), oder dem Fazit: »Im Hinblick auf ihr Alter kann man nur hoffen, dass sie sich zurzeit in der von James erwähnten ›Sturmund-Drang-Phase‹ junger Menschen befindet und im Laufe der Zeit zu einer moderateren Sichtweise zurückkehren wird« (S. 118).

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ben«176. Ohne dass sie diese Bewegung in irgendeiner Form labeln würde, wird ersichtlich, dass es sich um Mitglieder derselben literalsinnorientierten Strömung handelt, die auch ich befragt habe. Bei Monika Wohlrab-Sahr hingegen ist das Sample heterogener ; wie aus den Lebensläufen ersichtlich wird, sind viele ihrer Befragten zu einem rechtsschulenorientiert-traditionalistischen177, oft kulturell-ethnisch geprägten Islam und manche sogar zum Sufismus konvertiert.178 Trotz fundamentaler theologischer Unterschiede gehe ich jedoch davon aus, dass es viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich der möglichen Konversionsfunktionen zwischen Konvertitinnen zu einem rechtsschulengeprägt-traditionalistischen Islam und einem reformistisch-literalsinnorientierten gibt. Die Rückbesinnung auf einen Islam der Frühzeit führt zwar auch zu Neuauslegungen hinsichtlich der Glaubens- und Lebenspraxen, dennoch bleiben wichtige Elemente wie ein binäres und hierarchisches Geschlechtermodell oder eine Strukturierung des Alltags in modifizierter Form erhalten.179 Hingegen werden andere Elemente, die theoretisch ebenfalls in beiden Strömungen vorhanden sind, deren Umsetzung in einem traditionalistischen Islam aber oft scheitern – wie das Ideal einer Gemeinschaft der Gläubigen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg – im reformistisch-literalsinnorientierten Islam eher verwirklicht, da trennende Aspekte wie nach Ländern variierende Traditionen, ethnische Differenzen oder auch die unterschiedlichen Auslegungen der Rechtsschulen entfallen.

1.3.2. Konversion zum Christentum – der Stand der deutschsprachigen Forschung Der Stand der deutschsprachigen Forschung, die sich explizit mit Konversionen zum Christentum oder gar mit Konversionen zum literalsinnorientiert-charismatischen Zweig derselben beschäftigt, ist schnell zusammengefasst, da sehr überschaubar. Entweder wird, wie bei Ulmer (1988), die Konversion zum 176 Hofmann (1997), S. 80. Die Fußnote bezieht sich auch auf alle wörtlichen Zitate im Satz davor. 177 Damit bezeichne ich den traditionalistischen Islam, welcher nicht mystisch geprägt ist. 178 Von ihren 19 deutschen Befragten waren vier Sufis, vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 92, deren Lebenswege nach der Konversion substanzielle Unterschiede zu den Personen aufwiesen, die zum »skripturalistischen« Islam konvertiert waren (S. 226), insbesondere, was die Bildungsverläufe anbelangt (S. 225f.). Zum Unterschied zwischen Konvertitinnen zum Sufismus und anderen Islam-Konvertitinnen vgl. auch Hofmann (1997), S. 81f. 179 Dabei ergeben sich z. B. hinsichtlich des Geschlechtermodells oft Verschärfungen der Geschlechtertrennung und der Bekleidungsvorschriften insbesondere für Frauen, aber auch gestärkte Rechte der betreffenden Frauen, da bestimmte eher kulturell geprägte Vorschriften infragegestellt und für nicht islamkonform erklärt werden.

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Christentum nicht in ihrer Spezifizität, sondern als paradigmatisch für Konversion schlechthin untersucht, oder aber es wird die Konversion von Menschen aus oder in anderen Kulturkreisen untersucht.180 Dass ältere Studien meistens nicht zwischen der Konversion zu unterschiedlichen Religionen bzw. religiösen Strömungen differenzieren, sondern Konversionen zu christlichen Gemeinschaften als Exempel für Konversion an sich analysieren, stellt ein Problem dar, welches weiter oben ausführlich behandelt wurde. Warum sich aber auch im Zuge der zunehmenden Spezialisierung der Konversionsforschung auf einzelne religiöse Gruppierungen kaum Forschungsinteresse an Konversionen zu christlichen Bewegungen innerhalb Deutschlands (oder selbst Europas) einstellte, vermag ich mir nur damit zu erklären, dass die Faszination des Fremden, wie sie Konversionen zu als »exotisch« gelesenen Religionen umweht, bei Konversionen zum Christentum nur ungenügend vorhanden ist. Freilich hätte sich dies mit dem Erstarken freikirchlicher literalsinnorientierter und gerade pfingstlicher bzw. (frei-)charismatischer Gruppierungen eigentlich ändern können, weichen doch vor allem letztere sehr von der gewohnten volkskirchlichen Frömmigkeit ab. Eine Ausnahme im europäischen Kontext bildet in dieser Hinsicht die Studie von Simon Coleman, welcher sich mit Konversion zum (frei-)charismatischen Christentum in Schweden beschäftigt und in seiner Arbeit eine ethnographische Darstellung der Mitglieder einer freicharismatischen Gemeinde (nahezu alle konvertiert) bietet. Seine Beobachtungen liefern wertvolle Beschreibungen des Gemeindelebens, zudem arbeitet er heraus, dass trotz gegenläufiger Konversionsrhetoriken der »spontanen Transformation« Konversion in der Praxis einen »fortschreitenden Prozess« darstelle.181 Interessant ist zudem seine Schlussfolgerung, dass die gemeindespezifischen Rhetoriken, die auf Verkündigung und Mission abzielen, das Gefühl, »das Selbst in die Welt 180 Vgl. z. B. die Studie von Sabine Jaggi zur Konversion tamilischer Menschen in der Schweiz (2012), die von Rudolf von Sinner zu Konversion in Brasilien (2012) oder die von Erich Bryner zu Konversion in Russland (2012), allesamt erschienen im Sammelband von Lienemann-Perrin/Lienemann (Hrsg.): Religiöse Grenzüberschreitungen. Studien zu Bekehrung, Konfessions- und Religionswechsel/Crossing Religious Borders. Studies on Conversion and Religious Belonging, Wiesbaden: Harrassowitz. Es gibt freilich eine Studie zu religiöser Konversion zur evangelischen Landeskirche, die im Auftrag des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald durchgeführt wurde. Gemeint ist diese Studie von 2010: Zimmermann/Schröder (Hrsg.): Wie finden Erwachsene zum Glauben? Einführung und Ergebnisse der Greifswalder Studie, Neukirchen-Vluyn: Aussaat. Diese Arbeit verfolgt jedoch eine ganz klare Zielorientierung auf erfolgreiche Mission hin; zudem wird von den Autor_innen selber angegeben, sie hätten »auf eine klare Trennung von empirischer Wahrnehmung und theologischer Interpretation zugunsten einer stärker thematisch orientierten Gliederung verzichtet«, vgl. Zimmermann/ Herbst/Schröder/Hempelmann/Clausen (2010), S. 57. 181 Vgl. Coleman (2003), S. 17. Im Original als »ongoing process« tituliert.

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auszudehnen«, artikulieren und eine Form der »Identitätsmarkierung und -bildung« darstellen.182 Allerdings weist er selber auf einen großen Angriffspunkt seiner Studie hin: Die meisten der Neukonvertierten waren vorher christlich, zumeist pfingstlerisch, ob man also tatsächlich von einer »Konversion« sprechen kann, bleibt fraglich.183 Michael A. Schmiedel hat sich in seiner 2014 erschienenen Arbeit zwar unter anderem Konversionsprozessen innerhalb einer pfingstlerischen Gemeinde gewidmet, da sein Fokus jedoch auf der »Passung zwischen individuellen [religiösen] Entwürfen« und »religiösen Angeboten« liegt und dafür insbesondere die dargelegten Wertvorstellungen der Interviewteilnehmer_innen dokumentiert wurden, stellte sich die Arbeit als für mein Forschungsvorhaben nicht verwendbar heraus.184 Fakt ist jedenfalls, dass der Forschungsstand in Deutschland und selbst Europa so schmal ist, dass ich im weiteren Verlauf meiner Arbeit gelegentlich auf Forschungen zurückgreifen werde, die im außereuropäischen Raum, namentlich in den USA, durchgeführt wurden. Aufgrund der Tatsache, dass Konversionsforschung zunächst im US-amerikanischen Raum durchgeführt wurde und angesichts der damals kaum erfolgten Globalisierung, waren ja die Anfänge der Konversionsforschung strenggenommen Forschungen zu Konversion zum Christentum, meist zum literalsinnorientierten. Vermutlich stellt dies den Grund dafür dar, dass die Erforschung von Konversionen zum Christentum in den USA niemals komplett aufgehört hat, auch wenn dort ebenfalls in großem Ausmaß das Phänomen vorfindbar ist, dass diese Konversionen zur Erstellung allgemeingültiger Theoriemodelle zu Konversion schlechthin genutzt wurden.

1.4. Exkurs: Erkenntnistheoretische Positionierung Nach dieser allgemeinen Darstellung der Entwicklung der Konversionsforschung möchte ich nun einen Überblick über weitere theoretische Grundlagen meiner eigenen Forschung geben. Da die erkenntnistheoretische Positionierung gewissermaßen die Basis für die gesamte Forschungsarbeit bietet, sei diese hier vorangestellt. 182 Vgl. Coleman (2003), S. 23. 183 Vgl. Coleman (2003), S. 19. Die Parallelen der untersuchten Gemeinschaft zum Pfingstlertum sind m. E. so groß, dass man noch nicht einmal von einer »Inversion« im Feldtkellerschen Sinne sprechen könnte. 184 Vgl. Schmiedel (2014), zu den befragten Religionsgemeinschaften S. 106, die wörtlichen Zitate stammen von S. 85, die Auswertungen des pfingstlerischen Samples finden sich auf S. 128–159.

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Diese Arbeit ist weder eine philosophische noch eine sozialtheoretische. Viele empirische (religions-)soziologische Arbeiten werden geschrieben, ohne dass überhaupt ersichtlich wird, welchem erkenntnistheoretischen Zugang die Autor_in sich zuneigt, bzw. ob sie_er sich überhaupt diesbezüglich positionieren möchte. Einen Rückschluss kann man in diesem Fall, wenn überhaupt, meist lediglich über die Auswertungsmethodik ziehen. Dennoch scheint es mir wichtig, offenzulegen, von welchen erkenntnistheoretischen Positionen ich ausgehe. Dabei werde ich grundsätzliche Überlegungen zur Erkenntnistheorie nur dort darlegen, wo es unumgänglich scheint, und mich ansonsten eher mit der forschungspraktischen Anwendung erkenntnistheoretischer Prämissen, vor allem in Bezug auf die empirische Konversionsforschung, beschäftigen. Die Grundfrage der Erkenntnistheorie ist, inwieweit eine »Realität« jenseits menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen existiert, und, falls sie existiert, ob der Mensch diese erkennen bzw. sich deren Erkenntnis annähern kann. Dabei stehen, zumindest in der modernen westlichen Wissenschaft und Philosophie, diverse Konstruktivismen dem Realismus/Kritischen Rationalismus gegenüber.185 Die meisten empirischen Forschungen lassen sich entweder dem konstruktivistischen oder dem gemäßigt-realistischen bzw. kritisch-rationalistischen Lager zurechnen, wobei letzteres eine Präferenz für die Falsifikation von Theorien mithilfe von standardisierten quantitativen Verfahren hegt.186 Dahinter steht bei dem Realismus bzw. Kritischen Rationalismus der Gedanke, dass man sich einer bzw. »der« gegebenen Realität mithilfe von wissenschaftlichen Methoden zumindest schritt- und/oder näherungsweise annähern kann.187 Ein konsequenter radikaler Konstruktivismus (sei er psychologisch/neurowissenschaftlich oder sozialtheoretisch begründet) hingegen würde davon ausgehen, dass die Existenz einer Realität irrelevant ist, insofern man sich an diese nicht annähern kann: »Die Konstruiertheit von Erkenntnis impliziert ontologische Abstinenz oder Agnostik (nicht: Verneinung von Realität!)«188. Oder, wie die Soziologin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Knorr-Cetina resümiert: »Das Kriterium von ›Wissen‹ und ›Erkenntnis‹ kann bei diesem Modell […] nicht die Korrespondenz des Wissensinhaltes mit der Welt sein«189. Beobachtbar ist konsequenterweise daher für einen radikalen Konstruktivismus 185 »Unter R. [Realismus, Anm. der Autorin] bezüglich eines Bereichs B versteht man die ontologische These, daß sich die in einer Theorie über B verwendeten Namen oder Termini auf Dinge beziehen, die unabhängig vom menschlichen Denken existieren«, Kober (2008), S. 72. 186 Vgl. dazu Scholl (2011), S. 162ff. und vgl. Wenger Jindra (2005), S. 21. 187 »Im Sinne des krit. R. [kritischen Rationalismus, Anm. der Autorin] fordert Popper daher, bei der Suche nach der wahren Beschreibung der Wirklichkeit so konsequent wie möglich Fehler zu vermeiden«, Fricke (2008), S. 48. 188 Scholl (2011), S. 163. 189 Knorr-Cetina (1989), S. 89.

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lediglich die Interaktion von Forschenden und Beforschten; ein Erkenntnisgewinn über die Erkenntnis hinaus, wie diese Interaktionsprozesse ablaufen, wird unabhängig von der Methodenwahl verneint.190 Allerdings wäre es auch stark vereinfachend, von dem Konstruktivismus zu sprechen. Korrekter wäre es, »die Konstruktivismen« zu schreiben, um den teilweise divergierenden Strömungen, die unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, gerecht zu werden. Jenseits der mehr erkenntnistheoretisch-philosophischen Frage, ob es eine Realität jenseits der durch die Wahrnehmenden selber konstruierten gibt, haben andere Disziplinen, z. B. die Soziologie oder die Gender Studies, konstruktivistische Strömungen aufgenommen. So unterscheidet beispielsweise Karin Knorr-Cetina den »Sozialkonstruktivismus bei Berger und Luckmann«, den »kognitionstheoretische[n] (erkenntnistheoretische[n]) Konstruktivismus« – das wäre die vorher erwähnte Form eines radikalen Konstruktivismus, die jedwede Erkenntnis einer Realität jenseits der durch die Beobachtenden selber neurologisch und psychologisch subjektiv konstruierten verneint – und das »empirische Programm des Konstruktivismus«.191 Die Soziologen Berger und Luckmann, die von Knorr-Cetina als Vertreter des »Sozialkonstruktivismus« genannt werden und die sich auch mit Konversionsforschung beschäftigt haben, lehnen es explizit ab, zu erkenntnistheoretischen Fragen Stellung zu beziehen,192 und befassen sich stattdessen damit, wie innerhalb der Gesellschaft »subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird«193. Sie zeigen auf, wie über die Triade »Externalisierung«, »Objektivation« und »Internalisierung« der »Mensch […] und seine gesellschaftliche Welt […] miteinander in Wechselwirkung« treten, was sie in den Merksätzen »Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt« zusammenfassen.194 Dabei untersuchen sie die Rolle von (Alltags-)wissen für die Herstellung, Festigung und Verinnerlichung von Gesellschaft. Wichtig ist ihnen dabei nicht nur, dass Wissen und Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert sind und die Gesellschaft dabei wiederum ebenfalls ein menschliches Konstrukt darstellt, sondern dass diese Konstruktionen auch von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich ausfallen,

190 Vgl. Scholl (2011), S. 168–173. Allerdings ist, konsequent argumentiert, die Beobachtung bzw. die Analyse der Interaktion ja auch wiederum ein Konstrukt. 191 Knorr-Cetina (1989). Die wörtlichen Zitate sind bei ihr jeweils als Kapitelüberschriften zu finden (S. 87, S. 88 und S. 91) und fett gedruckt. 192 Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 15. 193 Berger/Luckmann (2010), S. 20, Kursivsetzung im Original. 194 Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 65.

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deswegen aber nicht minder »wahr« sind – im Rahmen ihrer jeweiligen, ebenfalls gesellschaftlich erzeugten »Sinnwelt«.195 Allerdings verneinen sie, im Gegensatz zu vielen späteren Konstruktivist_innen, keinesfalls eine »reale« und nicht gesellschaftlich konstruierte Existenz biologischer Grundlagen menschlichen Seins jenseits der sozial erzeugten Identität, wenn sie die »harten Tatsachen der Biologie« bei der Frage nach der möglichen Gebärfähigkeit von Männern ins Feld führen, von »biologischen Trieben« des Menschen oder von »genetischen Voraussetzungen für das Selbst« sprechen.196 Obschon sie feststellen: »Die gesellschaftlichen Vorgänge, die auch die Vollendung des Organismus bestimmen, produzieren das Selbst in seiner besonderen und kulturrelevanten Eigenart«, gehen sie andererseits von einer »Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft« aus.197 Obwohl Berger und Luckmann, wie oben dargelegt, eine erkenntnistheoretische Positionierung ablehnen, klingt hier doch an, dass sie jenseits der gesellschaftlich konstruierten von einer faktisch vorhandenen Wirklichkeit ausgehen, die zumindest in Form der als gegeben angenommenen Natur, aber auch in anderen naturwissenschaftlichen Fakten, ansatzweise »erkennbar« ist.198 Dies ist etwas, dem die späteren Konstruktivist_innen, gerade in den Gender Studies, aber auch in der Psychologie, vehement widersprechen würden. Berger und Luckmanns Konstruktivismus ist also ein sozialwissenschaftlicher und damit noch nicht den Weg des Radikalen Konstruktivismus gegangen, der jedwede Erkenntnismöglichkeit oder Annäherung an eine »Realität« negiert. Der empirische Konstruktivismus, wie Karen Knorr-Cetina ihn hier beschreibt, stellt meines Erachtens nichts weiter als die Anwendung des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus auf die empirische Forschung dar. Denn untersucht werden die »Konstruktionsmaschinerie von Wirklichkeit« und die »Konstruktionsprozesse der Teilnehmer«.199 Damit positioniert sich auch diese Form des Konstruktivismus gegen jedweden Essentialismus: »(Soziale) Realität hat keinen ›Kern‹, keine ›Essenz‹, die man unabhängig von den sie konstituie195 Vgl. Berger/Luckmann (2010). Zur Konstruktion von Wirklichkeit S. 63ff., zur Unterschiedlichkeit kultureller Prägung S. 51, zur Konstruiertheit menschlicher »Gesellschaftsordnung« S. 55, zur »von Gesellschaft zu Gesellschaft« variierenden Wissensbildung S. 75, zur »symbolische[n] Sinnwelt« S. 103 und zu deren unterschiedlichen Gestaltung je nach Gesellschaft S. 118ff., zur Gesellschaftsabhängigkeit von Sozialisation/Internalisierung von Gesellschaft S. 147f. und von Psychologie und Identität S. 186ff., zur Dialektik von Organismus und Gesellschaft S. 192ff. 196 Vgl. Berger/Luckmann (2010), das erste Anführungszeichen um »reale« ist modalisierend, das erste wörtliche Zitat stammt von S. 192, das zweite von S. 193, das dritte von S. 53. 197 Berger/Luckmann (2010), erstes Zitat von S. 53, zweites von S. 192. 198 Z. B. sprechen Berger/Luckmann (2010) von der »kosmischen Zeit«, S. 29. Anführungsstriche in modalisierender Funktion. 199 Vgl. Knorr-Cetina (1989), S. 91, Kursivsetzung im Original.

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renden Mechanismen identifizieren könnte«200. Weit verbreitet sind diese Annahmen beispielsweise in den Gender Studies, wo davon ausgegangen wird, dass z. B. die Kategorie Geschlecht durch »doing gender«, also in Prozessen der »Darstellung, Wahrnehmung und Zuschreibung« konstruiert wird,201 und wo jedwedes Vorhandensein »essenzialistischer« Kategorien (also auch der biologischen Fakten des Menschseins bzw. Mannseins, wie Berger/Luckmann sie formulieren) verneint wird. Während Knorr-Cetina die »Erweiterung von Welt« statt der »zunehmend verbesserten Abbildung von Wirklichkeit« als empirisch-konstruktivistisches Forschungsanliegen benennt und dafür die Wichtigkeit von »Nähe zu einem Untersuchungsfeld« hervorhebt (und somit standardisierte Verfahren tendenziell verwirft),202 argumentiert Armin Scholl meines Erachtens konsequenter konstruktivistisch, wenn er hervorhebt, dass, wenn ohnehin jede Erkenntnis konstruiert ist, dies genauso für standardisierte Verfahren gilt, weswegen jegliche Methodenanwendung im Konstruktivismus möglich ist.203 Standardisierte Methoden als für den Konstruktivismus nicht adäquat zu verwerfen, hieße nämlich folgerichtig, den »Universalitätsanspruch des Konstruktivismus« zu negieren.204 Programmatisch für den empirischen Konstruktivismus ist zudem, dass »dieser Konstruktivismus von der Frage WAS bzw. WARUM zunächst auf die Frage WIE übergeht«205. Damit ist das »Wie« der Erzeugung gesellschaftlicher Konstrukte gemeint, d. h. wie durch Interaktion und in Diskursen gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert wird. Was bedeutet aber die Annahme einer konstruktivistischen Perspektive, wie sie in der Soziologie oder den Gender Studies, aber auch und gerade in der Konversionsforschung seit einigen Jahrzehnten üblich geworden ist,206 für die Durchführung von Forschung? Auf die empirische Sozialforschung übertragen hieße das, dass keine Theorien formuliert werden könnten, die über Annahmen streng auf die Konstruktion des Forschungsobjekts oder auf die Diskurse über das betreffende Thema bezogen hinausgingen, denn Rückschlüsse auf eine »Wirklichkeit« jenseits der der konkreten (kommunikativen) Interaktion zu

200 Knorr-Cetina (1989), S. 92. 201 Vgl. Wobbe/Nunner-Winkler (2007), S. 293, die damit Theorien von Kessler/McKenna (1978) zusammenfassen. 202 Vgl. Knorr-Cetina (2005), S. 94, Kursivsetzungen im Original. 203 Vgl. Scholl (2011), S. 168f. 204 Vgl. Scholl (2011), S. 169. 205 Knorr-Cetina (2005), S. 92. 206 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), welche auf S. 67 von der »[k]onstruktivistische[n] Wende in der Soziologie der Konversion« und vgl. Feldtkeller (2014), S. 119ff., der über die »›diskursanalytische Wende‹« in der Religionswissenschaft schreibt.

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ziehen, wäre unmöglich – lediglich die Weise, in der Ereignisse, Gefühle, Motive kommuniziert würden, wäre analysierbar.207 Nicht, was religiöse Konversion (um beim Thema dieser Arbeit zu bleiben) ausmacht, auch nicht, warum sie erfolgt, sondern lediglich, wie sie in kommunikativen und performativen Akten von Seiten der Interagierenden (und das wären dann, folgt man oben dargelegter Prämisse, nicht nur die Konvertierten, sondern auch die Forschenden) konstruiert wird, wäre dann also relevant, sowie in welchen gesellschaftlichen Diskursen Konversion erzeugt wird und welche Machstrukturen und Ausschlüsse damit geschaffen würden. Damit würde sich die Untersuchung von Konversion auf die Analyse der kommunikativen Konstruktion von und Diskursen über Konversion beschränken.208 Ich stimme den konstruktivistischen Ansätzen hinsichtlich der Auswertung der empirischen Daten insofern zu, als die Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten einen Aspekt darstellt, welchen man unbedingt berücksichtigen muss. Ein konkretes Beispiel aus der Konversionsforschung wäre der Einsatz von Konversionsrhetorik von Seiten der Konvertit_innen. Radikal konstruktivistisch argumentiert, würde jedoch diese Konversionsrhetorik nur einen Teil der Gesamtkonstruktion (diese Gesamtkonstruktion wäre die Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten) ausmachen, und zwar den Teil, anhand dessen man die Existenz einer Konversion ablesen könnte. »Nicht warum Personen zu Konvertiten werden, noch wie sie sich als Konvertiten verhalten, interessiert, sondern mit welchen Strategien sie sich durch religiöse Rede als Konvertiten produzieren«209 fasst Wohlrab-Sahr Taylors konstruktivistische Perspektive auf Konversion zusammen.

207 Vgl. dazu auch Siebel (2016), S. 38f. Der Soziologe beschreibt dieses Dilemma eindringlich: »Jedes Klassifikationsschema verzerrt die Wirklichkeit, indem es fließende Übergänge zerschneidet. […] Ohne solche Differenzierungen wäre Denken nicht möglich. Insofern hat die Kritik des Konstruktivismus an der exklusiven Funktion sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung immer recht. Wird sie so weit radikalisiert, daß jeder Versuch einer Definition von Kultur zurückgewiesen wird, […] wird diese Kritik unergiebig. […] Einem radikalisierten Konstruktivismus bleibt nur das ironische Spiel mit der Sprache. Empirische Forschung kann nicht anders, als an einer prinizipiell erkennbaren Wirklichkeit festzuhalten, und muß dabei in Rechnung stellen, daß sie diese Wirklichkeit stets auch konstruiert hat: Sie bekommt immer nur den Ausschnitt der Wirklichkeit zu sehen, den sie mit ihrer Fragestellung aus der unübersehbaren Fülle des Beobachtbaren ausgewählt hat, und innerhalb dieses kleinen Ausschnitts gerät ihr nur das in den Blick, was ihre Kategorien zu sehen erlauben.« 208 Zum Paradigmenwechsel der Religionswissenschaft hin zur Diskursanalyse vgl. Feldtkeller (2014), S. 119ff. Zu der Problematik, dass bei konsequenter Anwendung nur noch Untersuchungen der »›Diskurse über…‹« (S. 17) möglich wären, vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 16f. 209 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 489, Kursivsetzung im Original.

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Muss also aus der Beobachtung, dass Konvertit_innen sich oft standardisierter Konversionsrhetorik bedienen, das Fazit folgen, dass es tatsächlich lediglich möglich ist, das »Wie« der sozialen Konstruktion von Konversionsprozessen (und zwar, wenn man konsequent konstruktivistisch argumentiert, nicht nur in der Form von Rhetoriken, sondern innerhalb der gesamten Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten) nachzuvollziehen, über das »Warum« jedoch keinerlei Aussagen möglich sind?210 Können also, insgesamt gesehen, keine Annahmen über eine wie auch immer geartete Realität hinter der unmittelbaren Interaktion getroffen werden? Eine solche Forschung ist möglich, für mich persönlich aber nur von sehr eingeschränktem Erkenntnisgewinn. Denn lediglich Interaktionen oder Diskurse zu Konversion zu untersuchen,211 ist zwar sicherlich ebenfalls ein lohnenswertes Untersuchungsfeld, gibt jedoch wenig Aufschluss darüber, weshalb Menschen sich bestimmten religiösen Strömungen zuwenden, welche Bedürfnisse sie dadurch erfüllt sehen und welche biographischen Entwicklungen zu dieser Konversion geführt haben. »[E]in Verständnis von Konversion als ausschließlich in der Kommunikation erzeugtes Ereignis bedeutet, dass dieses Ereignis willkürlich entworfen sein könnte und keinen Anhalt an den Erfahrungen des Individuums haben müsste.«212 Kurzum, Ursachen- und Wirkungsforschung213 wäre obsolet und praktisch nicht mehr durchführbar. Dies gilt im Übrigen auch für andere erforschbare Phänomene, deren Komponenten in die (lebensgeschichtliche) Vergangenheit weisen – und das sind meines Erachtens fast alle, die für die empirische Sozialforschung von Belang sind. Zu schlussfolgern, dass jeder Rückschluss auf reale biographische Ereignisse von vorneherein unmöglich ist, stellt meines Erachtens nicht nur eine »Engführung«214 von Forschung dar, sondern gewissermaßen auch eine Entmündigung der Beforschten, denen jegliche Möglichkeit, eine, wenn auch subjektiv gefärbte und verzerrte Realität, wiederzugeben, abgesprochen wird. Wenn jedwede Form von 210 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999b), S. 483–494, welche in diesem Aufsatz in Bezug auf Konversion insbesondere auf S. 490 die Fragen nach dem Was, Warum und Wie aufwirft. 211 Zur Fokussierung auf Diskurse am Beispiel des Islam vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 16, zu dem, was Feldtkeller als »›diskursanalytischen Wende‹« (S. 119) der Religionswissenschaft als Folge der Definition selbiger als Kulturwissenschaft bezeichnet vgl. Feldtkeller (2014), S. 124. 212 Pollack (2009), S. 314. »Ein derart prinzipieller Konstruktivismus ist indes nicht radikal genug, denn er vermeidet es, systematisch der Frage nachzugehen, worin die die Konstruktion beeinflussenden Faktoren bestehen, zu denen eben nicht nur umweltliche Bedingungen gehören, sondern auch die Erfahrungen des konvertierenden Individuums selbst.« (Ebd.) 213 Denn die Konversion entspringt nicht nur bestimmten Ursachen, sondern entfaltet, wenn sie dauerhaft ist, auch bestimmte Wirkungen, die eine Funktion im Leben der Konvertierten einnehmen. 214 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 489.

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Forschung keine Annäherung an eine wie auch immer geartete Erkenntnis von Realität bedeuten kann, sondern nur eine spezifische Form sozialer Konstruktion (und zwar derjenigen von Forschung bzw. Forschungsinteraktionen) abbildet, stellt sich für mich die Frage, wie relevant oder notwendig Theorienbildung noch für die soziale Wirklichkeit sein kann.215 Oder anders formuliert: »Sie [gemeint ist »die Differenz zwischen dem Ereignis und der Darstellung des Ereignisses«, Anm. der Autorin dieser Arbeit unter Zitation eines vorhergehenden Satzes der zitierten Autorin] allerdings zu verabsolutieren, würde Sozialforschung […] prinzipiell unmöglich machen und Soziologie auf Sozialphilosophie reduzieren»216. Gleichzeitig ist es jedoch meiner Meinung nach auch wichtig, nicht in einen uneingeschränkten Realismus zu verfallen, wie ihn z. B. Maria Elisabeth Baumann oder, in eingeschränkterem Maße, Gabriele Hofmann in ihren Arbeiten praktizieren, indem sie die Erzählungen der Konvertitinnen inklusive der von diesen verwendeten Konversionsrhetoriken weitgehend als Tatsachenerzählungen deuten. Konkret auf die Konversion zum Islam bezogen hieße das, dass das Forschungsergebnis, überspitzt ausgedrückt, ergeben würde, dass sämtliche Konvertit_innen konvertieren, weil sie schon immer an der Dreifaltigkeit und Jesu Gottessohnschaft gezweifelt haben. Ein solcher Ansatz ignoriert sämtliche Erkenntnisse und Denkanstöße des Konstruktivismus und stellt tatsächlich keinerlei Erkenntnisgewinn dar. Was ist also der Ausweg aus dem Konflikt zwischen Konstruktivismus und Realismus? Gibt es eine Möglichkeit, diese zur Synthese zu bringen? Kann ich, um auf konkrete Fragen zu rekurrieren, annehmen, dass gesellschaftliche Ordnung konstruiert ist, und dennoch davon ausgehen, dass man sich einer Realität »hinter dieser Ordnung«, in diesem Falle in der Form von biographischen »Fakten«, zumindest annähern kann? Kann ich Konversionsforschung betreiben, ohne standardisierten Konversionsrhetoriken »aufzusitzen«, und ohne jedoch von vorneherein jegliche Möglichkeit der Herausarbeitung eines »Warum« oder eines biographischen Hintergrundes zu verwerfen? Es gestaltet sich als äußerst schwierig, Theoretiker_innen zu finden, welche keinem der beiden, oft radikal getrennten Lager angehören bzw. diesen Graben zu überwinden suchen. Ein fruchtbares Denkmodell hat der Religionswissenschaftler und Theologe Andreas Feldtkeller vorgelegt. In diesem vollzieht er eine Synthese des für mich unleugbaren Faktums, dass ein Teil unserer Wirklichkeit durch soziale und kognitive Konstruktionsprozesse erzeugt wird, mit der für mich ebenso unstrittigen Tatsache, dass es jenseits von Konstruktionsprozessen 215 Diesen Satz habe ich an meine unveröffentlichte Masterarbeit (2013), S. 10, Fußnote 37, angelehnt. 216 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 486.

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eine materielle Welt gibt, die in Teilen erfassbar und tatsächlich vorhanden ist. Er weist darauf hin, dass »sich die menschliche Erfahrung von Wirklichkeit sozusagen in vier ›Quadranten‹ [unterteilt]: Bewusstsein, Kommunikation, (eigener) Körper und materielle Welt«, und betont: »Nur alle vier Quadranten gemeinsam machen das aus, was Menschen als Wirklichkeit erfahren«217. Diese vier Quadranten haben jeweils ihre eigene Kodierung von Wirklichkeit; diese erfahren wir Menschen z. B. durch »Nervensignale, Botenstoffe und Verschaltungen von Neuronen« (eigener Körper), »Lichtwellen, Schallwellen, Schwerkraft und Duftstoffe« (materielle Welt), »Sinneseindrücke, Gefühle, Gedanken und Erinnerungen« (Bewusstsein), und in »Sprache, Gesten, Symbolen, Schriftzeichen oder Bildern« (Kommunikation).218 Jeder Versuch, Wirklichkeit als Produkt nur eines der Quadranten zu begreifen, würde voraussetzen, dass man die »jeweils anderen drei Quadranten schlüssig aus dem in eigener Position privilegierten Quadranten her[…]leiten« könnte – etwas, was, wie Feldtkeller deutlich macht, eine weltanschauliche und keine wissenschaftlich beweisbare Entscheidung darstellt.219 Jedwedes Primat einer bestimmten erkenntnistheoretischen Positionierung wäre damit obsolet, ohne dass in diesem Modell negiert wird, dass es die vom Konstruktivismus angenommenen Wirklichkeitskonstruktionen im eigenen Gehirn wie auch die kommunikativen und interaktiven Konstruktionen durch die Gesellschaft ebenso gibt wie eine materielle Welt oder den eigenen Körper, auch wenn wir auf letztere nur in Kombination mit ersteren Zugriff haben – und vice versa.220 Im Grunde entspricht dieses Modell dem, was auch dem Alltags-»common sense« einleuchtend erscheint: Dass Kommunikation bzw. Interaktion auch Realität schafft (gerade auch gesellschaftliche) und dass wir nicht Nicht-Kommunizieren können, ja, dass Kommunikation es überhaupt erst möglich macht, eine Wirklichkeit zu beschreiben,221 dürfte spätestens nach dem Siegeszug des (kommunikativen) Konstruktivismus unhinterfragbar sein. Umgekehrt setzt Kommunikation ein Bewusstsein voraus, und dieses wiederum einen physischen Leib, zumindest, wenn man nicht radikal-konstruktivistisch argumentiert. Gleichzeitig wäre es wohl nicht möglich, bestimmte Sinneseindrücke mit 217 218 219 220

Feldtkeller (2014), erstes Zitat von S. 163, zweites von S. 164. Vgl. Feldtkeller (2014), S. 165. Vgl. Feldtkeller (2014), S. 170f., das wörtliche Zitat ist ebenfalls von S. 170f. Wie Feldtkeller (2014) auf S. 164f. und S. 171 darlegt, ist menschliche »Wirklichkeitswahrnehmung« (S. 164) ohne Kommunikation mit anderen Menschen nicht vorstellbar. Aber aus seinen Ausführungen erschließt sich auch, dass ein – wie auch immer geartetes Bewusstsein – sowie ein Körper und eine materielle Welt für diese Wirklichtswahnehmung notwendig sind. 221 Dass wir überhaupt Begriffe für Wirklichkeitswahrnehmung finden, ist ja etwas, was uns kommunikativ beigebracht wurde. Selbst, wenn keine verbale Kommunikation möglich ist, kommunizieren wir.

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nicht-menschlichen Wesen zu teilen, handelte es sich bei »der« Wirklichkeit nur um ein zwischenmenschlich-kommunikatives Konstrukt und gäbe es keine materielle Welt außerhalb des eigenen Bewusstseins.222 Dass aber wiederum erfahrbare Wirklichkeit stark von den Gegebenheiten des eigenen Körpers abhängt, verrät ein Blick auf Lebewesen, die sich mit Schallwellen oder Infrarotlicht orientieren oder darüber kommunizieren. Ich gehe also mit Andreas Feldtkeller davon aus, dass es eine Engführung darstellen würde, aus weltanschaulichen Gründen einem der vier Quadranten den Vorzug zu geben. »[D]as Zusammenspiel der vier Quadranten zu beschreiben und zu erklären, wie es ›funktioniert‹«, stellt jedoch wiederum eine Herausforderung dar, mit welcher unterschiedliche Kulturen und ihre Philosoph_innen und religiösen Expert_innen sich seit Jahrtausenden beschäftigen und welche zu lösen ich mir nicht anmaßen kann.223 Es geht jedoch im Falle meiner Arbeit, welche eine religionswissenschaftliche und keine philosophische ist, weniger darum, dieses Zusammenspiel zu erklären, als darum, aus dieser Annahme gleichrangiger Quadranten der Wirklichkeitswahrnehmung Prämissen für meine Forschung abzuleiten. Die erste Prämisse ist diejenige, dass ich das Nebeneinander einer gesellschaftlich und kognitiv konstruierten Wirklichkeitswahrnehmung und einer von uns nur durch diese aufbereitet wahrnehmbaren, aber dennoch jenseits unseres Bewusstseins vorhandenen »materiellen Welt« annehme. Oder, um mit Feldtkellers Modell zu sprechen: Ich gehe davon aus, dass eine materielle Welt existiert, welche sich zusammen mit Kommunikation, Bewusstsein und unserem eigenen Körper zu dem zusammensetzt, was wir als »Wirklichkeit« wahrnehmen. Feldtkeller lässt offen, inwieweit wir uns dieser materiellen Welt annähern können; denn auch wenn er schreibt, dass das »menschliche Gehirn trickst und täuscht beim Synthetisieren von Wahrnehmungen in einer Weise, die es dem Bewusstsein weitgehend unmöglich macht, sich ein ›objektives‹ Bild von der Umwelt zu verschaffen«224, schließt er damit die Möglichkeit, sich dieser mit naturwissenschaftlichen Methoden anzunähern, zumindest nicht aus. Alleine, dass er auf diese Diskrepanz zwischen menschlichem Bewusstsein und materieller Umwelt 222 Dass z. B. Tiere auf Sinnesreize reagieren, die ich ebenfalls wahrnehmen kann, ist ebenso eine alltäglich machbare Erfahrung wie die begründete Annahme, dass sich die Art dieser Eindrücke, ihre Wahrnehmung und Verarbeitung vermutlich sehr weit von meiner unterscheidet; etwas, was bereits für die Wirklichkeitswahrnehmung anderer Menschen gilt. Dinge, die für mich unbestreitbar und »objektiv« grün (oder rot) sind, werden jemandem mit einer Rot-Grün-Schwäche sicherlich als keines von beidem erscheinen – eine für mich schwer vorstellbare Tatsache. Ganz radikal konstruktivistisch könnte man natürlich gegenargumentieren, dass es sich auch bei anderen Lebewesen lediglich um Konstrukte des eigenen Bewusstseins handelt. 223 Vgl. Feldtkeller (2014), S. 167. 224 Feldtkeller (2014), S. 168.

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verweist, impliziert ja, dass man diese Diskrepanz überhaupt benennen kann, dass es also Methoden gibt, sich dieser materiellen Umwelt weitgehender anzunähern, als dies nur mit unseren Sinneseindrücken bzw. unserem Bewusstsein möglich ist. Dass ich diese materielle Wirklichkeit – zu der ich auch die leiblichen Erfahrungen eines Individuums zähle – als gegeben annehme, widerspricht jedenfalls bereits dem von Scholl geforderten »Agnostizismus«225 in dieser Hinsicht und macht eine Positionierung als radikale Konstruktivistin unmöglich. Genauso wenig kann ich jedoch einer realistischen bzw. rationalistischen Annahme folgen, dass Wirklichkeit jemals ganz erfasst werden wird können. Gesellschaftliche und kognitive Konstruktionen und materielle Welt und eigener Körper schließen sich jedoch – folgt man Feldtkellers Modell – eben nicht aus, sondern bilden gleichberechtigt miteinander unsere Notion von Wirklichkeit.226 Ich versuche also im Grunde eine Synthese soziologischer konstruktivistischer Gesellschafts- und Forschungsansätze und -kritik mit einem gemäßigten Realismus zu vereinen. Was bedeutet diese Positionierung nun für die ganz konkrete Erforschung von Konversion anhand der biographischen Selbstbeschreibungen der Konvertierten und meiner Teilnehmenden Beobachtung? Meines Erachtens hat Monika Wohlrab-Sahr in ihrem grundlegenden Werk »Konversion zum Islam in Deutschland und den USA« sowie in ihrem wegweisenden Artikel »Biographieforschung jenseits des Konstruktivismus« Möglichkeiten aufgezeigt, um einen Ausweg aus dem Dilemma ausschließlich konstruktivistischer bzw. realistischer Ansätze zu finden. Wie Wenger Jindra es in Bezug auf Wohlrab-Sahr 225 Modalisierende Anführungszeichen, Scholl (2011) selber spricht von »Agnostik« (S. 163). 226 Vgl. Berger/Luckmann (2010), S. 192. Auch, wenn die Gesellschaft und ihre Kategorien (und Kommunikation) m. E. ein soziales Konstrukt darstellen, existieren daneben eben auch noch die beiden anderen Quadranten, nämlich der eigene Körper und die materielle Welt, denen man sich annähern kann. Ich gehe also im Berger- und Luckmannschen Sinne davon aus, dass Gesellschaft und die daraus resultierenden Wirklichkeiten, beispielsweise die Kategorie Geschlecht, sozial konstruiert sind. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Menschen bestimmte »objektiv« vorhandene Körpermerkmale (z. B. das, was wir kommunikativ als Vaginen oder Penisse definieren) haben, auch wenn die Wahrnehmung derselben eben immer auch eine Wahrnehmung durch Kognition und Kommunikation ist. Gesellschaftlich konstruiert ist meines Erachtens die zwangsweise Zuschreibung der Kategorie »Frau« bzw. »Mann« an Menschen mit diesen Körpermerkmalen, weshalb ich dem Urteil der beiden Soziologen, Männer könnten keine Kinder gebären, widersprechen würde. Die Kategorie »Mann« stellt ja einen Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeit dar und ist nicht naturgegeben, differiert zudem von Gesellschaft zu Gesellschaft, wie sich an Gesellschaften zeigt, die Menschen nicht nach ihren Genitalien in soziale Kategorien einordnen oder mehr als zwei Geschlechter kennen. Nicht konstruiert im Sinne von alleine durch gesellschaftliche Wahrnehmung konstituiert ist jedoch meines Erachtens der Körper selber – diesem wohnt eine physisch erfassbare »Realität« jenseits der gesellschaftlichen Zuschreibung inne, in dem Sinne, dass er einen Bestandteil der materiellen Welt darstellt.

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formuliert, ist es »[b]emerkenswert […], dass die Autorin trotz der Kritik an der konstruktivistischen Konversionsforschung nicht hinter deren Stand zurückfällt«227 – eine Meinung, der ich mich nur anschließen kann. Wohlrab-Sahr kritisiert die konstruktivistische Prämisse, »daß die vergangene Erfahrung aus der Gegenwart heraus grundsätzlich nicht rekapituliert werden kann«.228 Selbstverständlich stellt sich auch Wohlrab-Sahr die erkenntnistheoretische Frage, ob es möglich ist, einen Bezug zu realen Geschehnissen der Vergangenheit jenseits gegenwärtiger Konstruktionen in der Interaktion herauszufinden – eine Frage, die sie ausdrücklich bejaht. »M.E. [In diesem Text sind alle Abkürzungen ohne Leerzeichen, Anm. der Autorin] liegt das über den Konstruktivismus Hinausweisende interpretativer Verfahren […] in der Rekonstruktion von Handlungsproblemen und darauf bezogenen Lösungen […]. Dies gilt nicht nur für die synchrone Perspektive, d. h. im Hinblick auf die jeweilige Kommunikationssituation und das in ihr zu lösende ›kommunikative Problem‹, sondern auch für die diachrone Perspektive, d. h. im Hinblick auf die Zeitlichkeit der Biographie und die in ihr zum Ausdruck kommenden Prozeßstrukturen.«229

Was bedeutet die Bejahung dieser Schlussfolgerungen konkret für die Forschung? Dass es sehr wohl möglich ist, der Tatsache von interaktiven und intrasubjektiven Konstruktionsprozessen Rechnung zu tragen, ohne bei ihnen jedoch »jeglichen Bezug auf biographische Erfahrungen abzuschneiden«230. Ich möchte hierzu anmerken, dass, wenn man Feldtkellers Modell folgt, diese vergangenen Erfahrungen selbstverständlich (auch) kognitiv und kommunikativ erlebt wurden und damit auch Konstrukte sind – so, wie die nachträglichen Kommunikationsprozesse darüber mit der Forscherin. Sein Modell lässt jedoch zu, dass man neben diesen Quadranten von Wirklichkeit (Kognition und Kommunikation) auch eine materielle Welt, in denen die Betreffenden sich real bewegen und manche jener Erfahrungen, die sie kognitiv und kommunikativ als »wahr« empfinden, auch materiell-leiblich (also mit den anderen beiden Quadranten) machen bzw. gemacht haben, überhaupt annehmen kann. Denn wenn man davon ausginge, dass alle Erfahrungen lediglich kommunikative und/oder soziale Konstrukte darstellen, dann wird die Unterscheidung zwischen gedachten/eingebildeten/geträumten Erfahrungen und dem, was wir als »real« oder »materiell« erlebt klassifizieren, bedeutungslos.231 Nur durch dieses Ne-

227 228 229 230 231

Wenger Jindra (2005), S. 32. Vgl. Wohlrab-Sahr (1999b), S. 487. Wohlrab-Sahr (1999b), S. 492, Kursivsetzungen im Original. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20. Bis zu einem gewissen Grad ist es natürlich so, wie das Thomas-Theorem eindrucksvoll zeigt. Aber wenn man daraus die Prämisse ableitet, dass eine Korrespondenz zwischen Erzählung und materieller Welt, wie codiert diese auch immer sein mag, grundsätzlich

Exkurs: Erkenntnistheoretische Positionierung

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beneinander der vier Quadranten ist es m. E. überhaupt denkbar, biographische Fakten rekonstruieren zu können, ohne die Existenz kommunikativer und kognitiver Konstruktionen negieren zu wollen. Speziell auf die Konversionsforschung bezogen, unternimmt Wohlrab-Sahr in ihrer empirischen Untersuchung zu Konversionen noch einen weiteren Versuch, »[e]ine gewisse Synthese zwischen >Konstruktivismus< und >Objektivismuskonstruktivistische< Perspektive, insofern es beim Paradigma um eine von einer Gruppe geteilte Weltsicht geht. Darin enthalten ist aber auch eine >realistische< Perspektive, insofern mit einem neuen Paradigma auch neue Formen der Problemlösung verbunden sind«.232

Es geht also um die Integration zweier Aspekte: dem der Weltsicht, welche eine von anderen Mitgliedern geteilte Wirklichkeitskonstruktion (inklusive kommunikativer Figuren wie z. B. Konversionsrhetoriken) darstellt, und dem der biographischen Geschichte, welche (nach Ansicht der Autorin) in irgendeiner Form tatsächlich und jenseits von Konstruktionen existiert und rekonstruierbar ist und auf deren Problemstellungen je nach Weltsicht unterschiedlich bzw. neu (und/oder ähnlich bzw. althergebracht, denn bei »Konversionsprozessen« gibt es ein »Zusammenspiel von Wandel und Kontinuität«233) reagiert wurde und wird. Ich denke zwar nicht, dass es sich um eine genuine Synthese von Konstruktivismus und Objektivismus bzw. Realismus als erkenntnistheoretische Positionierungen handelt, da im Grunde jegliche Annahme einer Realität außerhalb vom Subjekt vorgenommener Wirklichkeitskonstruktionen bereits den grundsätzlichen Prämissen eines radikalen Konstruktivismus widerspricht. Allerdings ist hierbei auch wieder zu betonen, dass der soziologisch geprägte Sozialkonstruktivismus (z. B. von Berger/Luckmann) nicht unbedingt einen radikalen Konstruktivismus im philosophischen Sinne implizieren muss. Ich möchte die praktische Umsetzung von Wohlrab-Sahrs Überlegungen anhand der idealtypischen Konversionsgeschichte einer muslimischen Konvertitin darlegen. Die Befragte antwortet, nach ihrer Konversion befragt, mit der Darlegung ihrer Zweifel an Trinität und Gottessohnschaft und beschreibt ihre langjährige Suche nach der passenden Religion, bis sie im Islam die logisch nicht gegeben ist, wird die Unterscheidung zwischen »erfunden« und »erfahren«, zwischen »wahr« und »erlogen« obsolet. 232 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 87. Kursivsetzungen von der Autorin. 233 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 129, zu Kontinuität und Wandel vgl. auch Hofmann (1997), S. 157, die diese allerdings als erzählerische Elemente in den biographischen Erzählungen der Befragten herausarbeitet und auf S. 159ff. lediglich auf Apekte der Kontinuität lebensstruktureller Aspekte eingeht.

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schlüssige Antwort findet.234 Konstruktivistisch gesehen, könnte ich es dabei bewenden lassen, diese charakteristischen Elemente der Interaktion Konvertitin – Gesprächspartnerin herauszuarbeiten, da ich ohnehin jeden Zugang zu der Vergangenheit der Gesprächspartnerin mittels ihrer Erzählung verneinen müsste; naiv-realistisch betrachtet (und auch in der Tradition gewisser Zweige feministischer Sozialforschung) würde ich ihre angegebenen Motivationen als »reale« Gründe interpretieren und keine Ursachenforschung darüber hinaus betreiben. Tatsächlich gehe ich jedoch darüber hinaus und rekonstruiere aus ihrer Erzählung beispielsweise das Bedürfnis, einen starken sozialen Zusammenhalt, wie ihn die Betreffende in ihrer Kindheit erlebt und nach der Adoleszenz verloren hatte, im Islam wiederzufinden, und leite daraus eine der Funktionen, die die Konversion für sie hatte und hat, ab. Ich gehe also davon aus, dass ich ein »Warum« jenseits der Interaktion geschuldeter Formeln herausarbeiten kann, und dass diesem Warum biographische Ereignisse zugrunde liegen – freilich ist dabei das subjektive Erleben und die Interpretation der Betreffenden für dieses »Warum« entscheidend. Ob der soziale Zusammenhalt, den die Konvertitin als Kind erlebt hat, tatsächlich so solidarisch und verbindlich war, wie sie es beschreibt, kann ich nämlich nur eingeschränkt und indirekt (z. B. durch mein Wissen um bestimmte soziale Kontexte) nachprüfen und deckt sich möglicherweise auch nicht mit meiner Perspektive. Wichtig ist jedoch, dass die Betreffende es so empfunden und abgespeichert hat und dass diese (erinnerte) Tatsache, welche sie in der sozialen Gemeinschaft ihrer neuen Religion wiederfindet, eine (mehr oder weniger unbewusste) Funktion ihrer Entscheidung für den Islam darstellt. In der interpretativen Sozial- und speziell Konversionsforschung, wie Wohlrab-Sahr sie vorschlägt, findet die »Erfassung der subjektiven Aufbereitung dieser Ereignisreihen, also deren früherer ›Bedeutung‹, zu der sich der Sprecher aus heutiger Perspektive ins Verhältnis setzt«235, statt. Hier würde es also um die »Art der kognitiven Aufbereitung« gehen, »die seinerzeit [sic!] auch die Erfahrung selbst strukturiert hat«,236 und um das Herausfinden des »latente[n] Sinn[s]«237 im Gegensatz zum »subjektiv gemeinten«238. Wäre es im Grunde dabei nicht sogar komplett irrelevant, ob das Ereignis sich so überhaupt zugetragen hat, sondern nur wichtig, dass es so erinnert wird? 234 Ich habe hier »klassische« Elemente der Konversionsrhetorik zusammengetragen, vgl. dazu auch Hofmann (1997), S. 125ff. und vgl. Wohlrab-Sahr (1999), S. 364ff. 235 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 487f. 236 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 487, Kursivsetzungen im Original. 237 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 100. 238 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 488, die sich laut ihren Quellenangaben in ihrer Aussage auf Oevermann et al. (1979), S. 381, bezieht. Die genaue Quellenangabe fehlt jedoch im Quellenverzeichnis, Kursivsetzungen im Original.

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Einerseits ja, denn in der Erarbeitung der Fallstruktur spielt zwar nicht nur eine Rolle, »was an Ereignissen dargestellt und wie es dargestellt wurde, sondern auch«, gedankenexperimentell zu rekonstruieren, »was nicht und wie etwas nicht dargestellt wurde, aber prinzipiell […] hätte dargestellt werden können« –239 dieser Ansatz greift im Grunde aber genauso, wenn die erinnerten und dargestellten Ereignisse fiktiv sind und lediglich in der Erinnerung der Befragten stattgefunden haben. Andererseits unterscheidet sich dieser Ansatz von einem rein konstruktivistischen aber dennoch darin, dass zumindest ein biographischer »Kern«240 (also Erfahrungen, die nach Feldtkellers Modell der leiblichen bzw. materiellen Welt und der Interaktion mit dem sich in ihr bewegenden, sich erinnernden Individuum zuzuschreiben wären) der erinnerten Ereignisse angenommen wird.241

1.5. Zur Definition von Konversion in dieser Arbeit Nach diesem Exkurs zu meiner erkenntnistheroretischen Positionierung möchte ich nun nachfolgend die Definition von Konversion darlegen, welche ich für meine Forschung entwickelt habe. Wie diejenigen, die sich schon einmal ausgiebig mit soziologischer Arbeit beschäftigt haben, vermutlich nachvollziehen können, steht vor den meisten Forschungen die Findung der passenden Definition. Die Definitionen von Konversion sind eng an die Entwicklung der Konversionsforschung geknüpft. Neben den bereits im Kapitel über Konversionsforschung genannten Konversionsdefinitionen wurde Konversion wahlweise auch als »reorientation of the soul of an individual, his deliberate turning from indifference or from an earlier form of piety to another, a turning which implies a consciousness that a great change is involved, that the old was wrong and the new is right«242, als Aufgabe einer »perspective or ordered view of the world for another«243, als »Form eines Übergangs, ein ›Sich-Abwenden und Zuwen-

239 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999b), S. 487, Kursivsetzungen im Original. 240 Konstruktivist_innen gehen eben genau davon aus, dass es diesen »Kern« nicht gibt: »(Soziale) Realität hat keinen ›Kern‹, keine ›Essenz‹, die man unabhängig von den sie konstituierenden Mechanismen identifizieren könnte. Dies heißt nicht, daß diese Realität sich ständig und notwendigerweise verändert […]. Aber es heißt, daß auch stabil erscheinende Realität reproduziert werden muß und insofern Konstruktionsarbeit enthält«, Knorr Cetina 1989, S. 92. Diese Passage zitiert auch Wohlrab-Sahr (1999b), S. 484. 241 Vgl. dazu auch Wohlrab-Sahrs Rekonstruktionen biographischer Konversionsfunktionen in Wohlrab-Sahr (1999b), S. 491. 242 Nock (1933), S. 7. 243 Lofland/Stark (1965), S. 862.

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den‹«244, oder als »Veränderung in der religiösen Orientierung und Praxis«245 definiert. Wohlrab-Sahr schlägt die Definition von Konversion als »Übernahme eines neuen Paradigmas im Sinne einer radikalen Transformation der Weltsicht einer Person und der damit verbundenen Formen konkreter Problemlösung, die Bezug nimmt auf einen bestimmten, mit einer Weltanschauungsgruppe assoziierten Kanon im Sinne verbindlicher Wissensbestände« vor. Dabei definiert sie Paradigma als »eine von einer Gruppe geteilte Weltsicht«.246 Durch die WohlrabSahrsche Definition ausgeschlossen werden Transformationsprozesse, die lediglich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (und die Übernahme ihrer Weltsicht) verstärken oder neue Elemente inkorporieren. Andreas Feldtkeller unterscheidet in seinem Modell der »Veränderungen religiöser Bindungen« zwischen »Intensivierung«, »Extensivierung«, »Inversion« und »Conversion«, wobei bei ersterer die »Intensität der Bindung erhöht wird«, während bei zweiterer eine »Aufnahme von Überzeugungsgehalten, Symbolen oder Ähnlichem aus einer bisher fremden Religion zusätzlich zur schon bestehenden religiösen Bindung« erfolge. »Inversion« hingegen definiert er als die »weitreichende Veränderung bei der Auswahl aus den innerhalb einer Religion zur Verfügung stehenden Überzeugungsgehalten, was normalerweise den Positionswechsel in einem systeminternen Konflikt bedeutet« und »Conversion« als »Wechsel der religiösen Bindung zu einem fremden Religionssystem, wobei die Bindung an das bisherige Religionssystem aufgegeben und durch eine ablehnende Haltung ersetzt wird«.247 »Konversion« im Wohlrab-Sahrschen Sinne würde also »Conversion« und »Inversion« nach Feldtkeller beinhalten. Wohlrab-Sahr führt weiter aus, dass eine Konversion den »Höhe- und Umschlagpunkt einer Krise markiert« und »>funktional< auf diese Krise bezogen« sein wird.248 Ihre Definition vereint also die Beschreibung des Prozesses mit der der Funktion bzw. des Effektes der Konversion: Die Konversion fungiert als Problemlösungsstrategie. Ich finde diese Definition grundsätzlich sinnvoll, insofern sie verdeutlicht, dass die Konversion, so sie dauerhaft ist, eine Funktion, bzw. mehrere Funktionen, im Leben der Betreffenden einnimmt bzw. einneh-

244 Austin-Broos (2003), S. 1, im Original in Anlehnung an Taylor und Rambo als »›turning from and to‹« definiert. 245 Morgenthaler (2012b), S. 194. 246 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), die Fußnote bezieht sich auf beide Sätze. Das Zitat im vorhergehenden Satz ist von S. 87f., das zweite von S. 87. Kursivsetzung der Autorin. 247 Vgl. Feldtkeller (1993), S. 38f. Die Fußnote gilt für beide Sätze. »Veränderungen religiöser Bindungen« ist im Original kursiv und findet sich auf S. 38, die anderen Zitate stammen von S. 39. 248 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88.

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men muss.249 Allerdings möchte ich den zwingenden Bezug auf eine Krise im Leben der Betreffenden hier nicht übernehmen; mir erscheint die Krisenfokussierung in der Konversionsforschung als eine Engführung, die ich vermeiden möchte. Konversion als »Problemlösung« anzusehen, ist meines Erachtens nur dann statthaft, wenn im Sinne des von Wohlrab-Sahr rezipierten Oevermann »die Krise de[n] Normalfall und nicht die Krise, sondern die Routine de[n] Grenzfall«250 darstellt. Problemlösung wäre dann nicht die Lösung einer un- oder außergewöhnlichen Krise, sondern im Grunde Lebenslösungsstrategie; eine Form, mit den Frage- und Problemstellungen im Leben umzugehen, mit denen sich jeder Mensch immer wieder konfrontiert sieht und die nichts mit einer »Krise« im Alltags- oder auch im psychologischen Verständnis gemein haben müssen. In Rückgriff auf Robert K. Merton kann man dies dahingehend interpretieren, dass die Konversion bestimmte (für die Betreffenden positive) Funktionen251 zeitigt, dadurch Bedürfnisse erfüllt, ob diese nun aus einer Krise resultieren oder nicht, und somit zur Lebensbewältigung beiträgt. Ich werde daher den expliziten und, wenn man nicht mit der Oevermannschen Krisendefinition vertraut ist, meines Erachtens auch schnell missverständlichen Krisenbegriff aufgeben und in Anlehnung an Wohlrab-Sahr und Feldtkeller folgende Definition von Konversion verwenden: Konversion stellt eine »radikale[…] Transformation der Weltsicht einer Person« dar, wobei diese Transformation »Bezug nimmt auf einen bestimmten, mit einer [religiösen] Weltanschauungsgruppe assoziierten Kanon im Sinne verbindlicher Wissensbestände«252. Dabei wird entweder auf eine konkurrierende Weltsicht innerhalb desselben Religionssystems oder aber innerhalb eines anderen religiösen Systems zurückgegriffen.253 Dabei gehe ich mit Merton davon aus, dass eine in diesem 249 Ansonsten bleibt die Konversion womöglich auf den Akt des Konvertierens beschränkt, ohne wirklich zu einer dauerhaften Änderung der Weltsicht zu führen und langfristige Funktionen zu entfalten. Beispiele hierfür sind z. B. Konversionen aus einer spontanen Begeisterung, die rasch wieder verebbt, heraus. Andererseits kann eine Konversion eine durchaus langanhaltende Funktion (im Sinne Mertons, der unter Funktionen die positiven »beobachteten Folgen« eines »Phänomen[s]« versteht, vgl. Merton [1995], S. 48) für die Betreffenden erfüllen, ohne mit einer Änderung der Weltsicht einherzugehen. Ein Beispiel hierfür wäre die strategische Konversion, um bestimmte Ämter antreten oder Privilegien genießen zu können, oder eine Konversion »auf dem Papier« (z. B., um jemanden heiraten oder bestimmte Länder bereisen zu können). Da ich hierbei jedoch nicht oder nur sehr beschränkt die spezifischen Folgen religiöser Inhalte für die Konvertierten untersuchen könnte, habe ich solche Konversionen aus meinem Sample ausgeklammert. 250 Oevermann (2002), S. 9. Allerdings bezieht er sich dabei primär auf den Vorgang der Analyse. 251 Funktionen sind die (positiven) »objektiven Folgen von Einstellungen, Überzeugungen und Verhalten«, vgl. Merton (1995), S. 48. 252 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88, Kursivsetzung von mir. 253 Vgl. Feldtkeller (1993), S. 39.

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Sinne definierte Konversion immer Funktionen, d. h. objektive Folgen (erwartet oder unerwartet, bewusst oder unbewusst) entfaltet,254 welche bestimmte Bedürfnisse erfüllen.

254 Diese Unterscheidung besagt, dass das Motiv (»das subjektiv ins Auge gefaßte Ziel«) und die »objektive Folge« gleich sein können, aber nicht müssen. Fallen sie zusammen, spricht er von »[m]anifeste[n] Funktionen«, während »[l]atente Funktionen […] weder beabsichtigt sind, noch erkannt werden«. Merton (1995), S. 49, Kursivsetzungen im Original.

2.

Zur Durchführung der Forschung

Ich habe in dem vorhergehenden Kapitel die theoretischen Grundlagen meiner Forschung dargelegt. In diesem Kapitel soll es nun um die Wahl der methodischen Ansätze für die Durchführung meines konkretes Forschungsvorhabens gehen. Beginnen möchte ich dabei mit meiner Forschungsfrage und mit der Beschreibung des Forschungsansatzes, der mir am geeignetsten schien, um diese zu beantworten.

2.1. Forschungsfrage und -ansatz Zunächst möchte ich hier meine Forschungsfrage vorstellen, von der ausgehend ich eine bestimmte Analysemethode ausgewählt habe. Wie ich bereits in der Einleitung dargelegt habe, interessierte mich bei meiner Forschung primär die Frage nach dem »Warum«255 von Konversion als dauerhafter Veränderung. Ich wollte also weniger untersuchen, mit welchen (u. a. rhetorischen) Mitteln Konversion in der Interaktion hergestellt wird, wie man also Konvertit_innen erkennt bzw. wie Konversion als soziale Praxis erzeugt wird (dies wäre die konstruktivistische Vorgehensweise bei der Konversionsforschung), sondern, warum manche Menschen konvertieren und an dieser Entscheidung festhalten. Das bedeutet freilich »nicht im strengen Sinne kausale Ursachenforschung«256, da einfache Kausalerklärungen für Konversion diesem komplexen Phänomen nicht gerecht werden können und sich auch bereits in der Vergangenheit als unzuverlässig erwiesen haben. 255 Vgl. dazu Wohlrab-Sahr (1999b), S. 490: »Ich plädiere daher dafür, nach dem Ausschöpfen der Wie-Frage [gemeint ist damit die Erforschung der Selbstdarstellung als Konvertit_in durch Konversionsrhetoriken] die Frage nach dem Was und dem Warum unbedingt in die Analyse mit einzubeziehen.« 256 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 490, zur Dekonstruktion von einfachen deterministischen Monokausalmodellen vgl. z. B. Heirich (1973, 1977), der allerdings selber ein Multikausalmodell aufstellte.

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Zur Durchführung der Forschung

»Die Tatsache allerdings, daß nur vergleichsweise wenige Personen konvertieren und zudem nicht jede Form der Religion für jede Person gleichermaßen attraktiv ist, provoziert die Frage, wie Personen überhaupt dahin gelangen, sich glaubwürdig als Konvertit präsentieren zu müssen. Warum aber im Rahmen einer Biographie die Entscheidung für die eine und nicht für die andere Weltanschauung oder überhaupt die Entscheidung zur Konversion anstelle einer Option für den Alkoholismus, die Politik oder die Therapie getroffen wird, und welchen spezifischen Sinn diese Entscheidung im Unterschied zu anderen macht [sic!], läßt sich mit einer konstruktivistischen Perspektive nicht beantworten. Für die Biographieforschung sind solche Fragen allerdings von großer Bedeutung.«257

Ich nähere mich also der Frage nach dem »Warum« in der Annahme, dass Konversionsprozesse in der Lebensgeschichte nicht zufällig erfolgen, sondern, wie im Zitat formuliert, einen »spezifischen Sinn« für die Konvertierten erfüllen, und zwar einen, welcher zumindest teilweise auch jenseits der ihr von der Mehrheit der Konvertierten selber zugeschriebenen religiösen Erfüllung liegt. Wie aber kann man diese Frage nach dem Sinn der Konversion im Leben der Betreffenden beantworten? An dieser Stelle greife ich auf den in meiner Konversionsdefinition erwähnten und in der Konversionsforschung bereits erfolgreich verwendeten Ansatz des Soziologen Merton zurück,258 welcher zwischen Motiv und Funktion unterscheidet.259 Diese Unterscheidung besagt, dass bei einem »soziologische[n] Phänomen«260 das Motiv (»das subjektiv ins Auge gefaßte Ziel«) und die »objektive Folge« gleich sein können, aber nicht müssen. Fallen sie zusammen, spricht er von »[m]anifeste[n] Funktionen«, während »[l]atente Funktionen […] weder beabsichtigt sind, noch erkannt werden«.261 Mit der Frage nach dem »spezifischen Sinn«262 bzw. nach den Funktionen, die diesen ergeben, geht also eine Perspektivenverschiebung hinsichtlich der in der Konversionsliteratur bislang vorherrschenden Suche nach der »Motivation« oder den »Motiven« einher, welche sich nur allzu oft auf die bewussten Gründe für die Konversion beschränkt hat und dabei zumeist lediglich auf die dazu abgegebenen Erklärungen der Konvertit_innen rekurrierte (oder aber einfache Kausalzusammenhänge aufstellte). Der Grund, weswegen ich diesen schon äl257 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 490. 258 Auf Merton stützen sich z. B. Wohlrab-Sahr, die dessen Ansatz mit dem von Luhmann kombiniert, auf Wohlrab-Sahr beruft sich wiederum Käsehage, auch wenn sie deren Modell im Grunde nicht anwendet. 259 Vgl. Merton (1995), S. 48. 260 Merton (1995), S. 48. Wie man sich unschwer denken kann, fällt nahezu alles, was in irgendeiner Form mit Menschen und ihrem Verhalten zu tun hat, unter die Kategorie soziologisches Phänomen. 261 Merton (1995), S. 49, Kursivsetzungen im Original. Diese Fußnote bezieht sich auch auf den vorangehenden Satz. 262 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 490.

Forschungsfrage und -ansatz

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teren Ansatz gewählt habe, liegt darin, dass er mir wie kein anderer geeignet schien, die Diskrepanz zwischen den mir erzählten, oft sehr stark von Konversionsrhetoriken geprägten Motiven, und den tatsächlichen positiven Folgen, welche die Konversion für die Betreffenden mit sich bringt, fundiert zu untersuchen. Mir geht es also darum, zu analysieren, welche Folgen, d. h. welche Funktionen, die Konversion für die Betreffenden entfaltet hat. Es kann und muss zwar bedacht werden, dass die von Merton beschriebenen objektiven Folgen auch negative sein können, also auch Dysfunktionen auftreten können;263 im Zuge einer Konversion denkbare wären beispielsweise Diskriminierungen oder der Verlust der alten Peergroup. Ich werde mich jedoch primär auf die positiven Folgen konzentrieren. Man kann davon ausgehen, dass eine solche folgenreiche Entscheidung nicht ohne signifikante positive Folgen, d. h. Funktionen, für die Betreffenden beibehalten wird.264 In dieser Hinsicht stellt sich auch die Frage, wie beurteilt werden soll, was funktional und was dysfunktional ist und von welcher Warte aus: Von der der Gesamtgesellschaft aus, von der der Konvertitinnen oder von einer ideologischen, z. B. der feministischen, aus? Ich habe mich entschieden, dieses Problem dahingehend zu lösen, dass ich die Konversion und ihre Folgen im Hinblick auf die Funktionalität für die Betreffenden untersuche. Das heißt: Die Konversion entfaltet Folgen, die im Leben der Konvertitinnen Problem- und Fragestellungen lösen, sprich: Bedürfnisse erfüllen. Ob die Gesellschaft, ich als Forscherin oder eine hinzugezogene Psychologin diese Funktionen positiv bewerten würden, spielt hinsichtlich der Funktionalität für die Betreffenden keine Rolle – wichtig ist, dass diese Funktionen dafür sorgen, dass die Konvertitinnen der Religion verbunden bleiben. Was bedeuten diese Prämissen jedoch für die Forschungspraxis? Ich möchte für die Analyse von Funktionen ein Beispiel geben: Wenn jemand einem Gesangsverein beitritt, um singen zu lernen, und diese Person tatsächlich singen lernt, fallen ihr Motiv und die objektive Folge zusammen; es handelt sich um eine manifeste Funktion. Möglicherweise erfüllt jedoch der Gesangsverein auch weitere Funktionen: etwa die des sozialen Zusammentreffens. Dies lag aber unter Umständen weder in der Absicht der betreffenden Person, noch wird es von ihr erkannt – es würde sich dann um eine latente Funktion handeln. Nun ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand bereits vorher darüber informiert ist, dass wie auch immer geartete Freizeitvereine auch eine soziale Funktion neben ihrer 263 Vgl. Merton (1995), S. 48, im Original kursiv. 264 Selbstverständlich wäre auch denkbar, dass die Betroffenen aus Zwang in den Gemeinschaften verbleiben. Zumindest bei den von mir befragten Frauen traf dies jedoch meines Erachtens nicht zu.

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Zur Durchführung der Forschung

»offiziellen« erfüllen, relativ hoch – es wäre also durchaus möglich, dass wir bei der betreffenden Person gar keine latenten, sondern nur manifeste Funktionen ausfindig machen könnten. Anders sieht es jedoch bei religiösen Konversionen aus; bereits das Vorliegen umfänglicher Konversionsrhetoriken liefert einen Hinweis darauf, dass diese Entscheidung in viel stärkerem Maße einem Rechtfertigungsdruck unterliegt als z. B. die Entscheidung, einem Gesangsverein beizutreten. Zudem handelt es sich bei religiösen Konversionen um etwas, was mit dem Nimbus des Außeralltäglichen, ja Außerweltlichen aufgeladen ist;265 ihr daher Motive oder Funktionen jenseits der religiösen zuzuweisen, wäre nicht nur ein Bruch mit den Konventionen der jeweiligen religiösen Gemeinschaften, sondern stellt etwas dar, was vielen Konvertierten vermutlich selber nicht oder nur eingeschränkt bewusst ist. Von Ausnahmefällen abgesehen, muss das »Motiv« einer Konversion für die Betreffenden wie für die religiöse Gemeinschaft also ein nicht-weltliches sein, sei es, dass die Konvertierten von Gott zu dieser Entscheidung geführt wurden oder aber durch Meditation, Lektüre der Heiligen Schriften oder spontane Erweckungserlebnisse zum Glauben fanden. Es ist deswegen eher unwahrscheinlich, dass beispielsweise soziale Funktionen als manifeste Funktionen auftreten. Dabei ist selbstverständlich nicht auszuschließen, dass die eine oder andere Konvertitin sich dennoch bewusst ist, dass sie bei ihrer Konversion auch weltliche Motive hegte oder die Konversion zumindest auch einen weltlichen »Output« hatte oder hat. Es ist jedoch zumeist eher unwahrscheinlich, dass sie dies Dritten gegenüber äußern würde, weswegen ich bei meiner Analyse nur in Ausnahmefällen zwischen manifesten und latenten Funktionen unterscheiden werde. Ich kann also nicht immer mit Gewissheit ausschließen, dass es sich nicht doch um eine manifeste (also eine, bei der sich von der Konvertitin gehegte weltliche Motive erfüllen) Funktion handeln könnte, gehe jedoch davon aus, dass es sich tatsächlich in den meisten Fällen um latente Funktionen, die weder antizipiert wurden noch den Betreffenden bewusst sind, handelt. Um etwaigen Vorwürfen zu begegnen, ich würde den Erzählenden ihre Deutungshoheit absprechen, sei an dieser Stelle jedoch auch darauf verwiesen, dass sich aus den meisten tiefgreifenden Entscheidungen aller Menschen, nicht nur denen von Konvertit_innen, jenseits der bewussten Motive latente Funktionen ergeben, etwas, was ich in meinem Fazit noch näher ausführen werde. Dazu sei das vorher bereits erwähnte Beispiel einer typischen Konversionserzählung angeführt, bei der eine Funktion der Konversion für eine Konvertitin die soziale Einbindung in eine starke und solidarische Gemeinschaft wäre, die 265 Vgl. Ulmer (1988), der auf S. 26ff. die Schwierigkeiten für Konvertierte, ihr Konversionsgeschehen sprachlich zu fassen, darlegt, und vgl. Snow/Machalek (1983), S. 273f., die auf die Unzulänglichkeit bestimmter Metaphern für religiöse Termini hinweisen.

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sie aus ihrer Kindheit kannte, in ihrer Erwachsenenzeit verloren hatte und die sie in dieser Dichte erst in einer religiösen Gemeinde wiedergefunden hat. Möglicherweise hat die Betreffende selber schon einmal darüber nachgedacht, dass sie in ihrer neuen Gemeinde die geborgenen und engen sozialen Strukturen ihrer Kindheit wiedergefunden hat. Allerdings könnte sie eine solche lebensweltliche Funktion nur schwerlich einer externen Beobachterin oder anderen Gemeindemitgliedern gegenüber äußern. Möglicherweise kann sie das noch nicht einmal sich selber gegenüber, würde sie doch damit eine unzulässige Analogie ziehen und die Einzigartigkeit ihrer Religion schmälern sowie ihre eigenen Beweggründe verweltlichen. In diesem Kontext sei auf die Unzulässigkeit von »[a]nalogical metaphors« im Zuge religiöser Konversionserzählungen hingewiesen.266 Wenn ich manifeste und latente Funktionen der Konversion für die betreffenden Frauen untersuche, kann ich selbstverständlich nur wissenschaftlich erfassbare Funktionen herausarbeiten. Ob die Konversion die Konvertierten zu besseren und gottgefälligeren Menschen macht oder das Seelenheil der Betreffenden sichert, also die manifesten Funktionen erfüllt, die ihr von Seiten der Gemeinschaften wie der Konvertierten primär zugeschrieben wird, kann ich weder erfassen, noch kann ich ein Urteil darüber abgeben. Ich kann jedoch die gleichsam »irdischen« Folgen bzw. Funktionen von Konversion herausarbeiten. Die Untersuchung auf Funktionen hin bietet den Vorteil, dass ich nicht einfach Ursachen, sondern primär Wirkungen untersuche; diese rekonstruiere ich aus den biographischen Erzählungen der Befragten, aber auch aus meiner eigenen Feldforschung, was einen nicht zu unterschätzenden Aspekt der Verifikation der aus den Selbstaussagen erschlossenen Funktionen impliziert. Diese Vorgehensweise sei anhand eines Beispiels erläutert: Eine Konvertitin berichtet, sie habe sich bekehrt, weil sie sich schon immer auf einer spirituellen Suche befunden habe, der Islam aber als einzige Religion logische Antworten auf ihre existenziellen Fragen präsentieren habe können. Nun könnte man diese Erklärung, die standardisierten islamischen Konversionsrhetoriken folgt,267 entweder als solche stehen lassen oder aber versuchen, zwingende Kausalzusammenhänge zu konstruieren. Der dritte, von mir gewählte Weg, besteht darin, im Hinblick auf die erzählte Lebensgeschichte die Frage- oder Problemstellungen268 herauszuarbeiten, auf die der Islam eine Antwort bzw. eine Problemlösung in Form von Funktionen,

266 Vgl. Snow/Machalek (1983), S. 273f., die wörtlichen Zitate sind S. 273 entnommen. 267 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 364f. 268 Ich ziehe den Begriff der »Fragestellung« im Allgemeinen dem der »Problemlagen«, wie er von Wohlrab-Sahr (1999a) verwendet wird (S. 20) vor, auch wenn es in manchen Fällen tatsächlich sinnvoll ist, von Problemlagen bzw. -stellungen zu sprechen.

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die er erfüllt, bietet.269 Dabei stellt sich die Frage, wie sich »der vollzogene >Paradigmenwechsel< und die damit einhergehende >Reorganisation der Welt< […] zu lebensgeschichtlich herausgebildeten biographischen Strukturen« verhält.270 Wohlrab-Sahr geht in ihrer Arbeit davon aus, dass sich bestimmte Problemstränge teilweise bis in die Kindheit hinein verfolgen lassen, und dass Konversion im Erwachsenenalter nicht unbedingt die Antwort auf eine akut neu auftretende und nie da gewesene Krisensituation sein muss, sondern sich auch auf ein im Grunde »altes«, in der Lebensgeschichte »mitgeschlepptes« und immer wieder zum Ausdruck kommendes Problem beziehen kann.271 Eindrucksvoll belegt sie dies am Fall der Brigitte Haltun, bei der sich die Problematik sexuell konnotierter Grenzüberschreitungen im Nahbereich ab der Kindheit an durch die gesamte Biographie zieht. Der Konversion kommt die Funktion zu, diese Problematik zu transformieren, indem sie sich durch die islamischen Geschlechtervorgaben einerseits von destruktiver Sexualität abgrenzen kann; andererseits »verweist« ihre Heirat eines deutlich älteren Muslims auf »die prekären Grenzen zwischen Tochter und Vater, gibt dem Problem aber gleichzeitig eine legitime Ausdrucksform«.272 Ich selber möchte, wie bereits in der Darlegung meiner Konversionsdefinition angeklungen, statt dem Krisen- oder Problembegriff lieber den der »Problemoder Fragestellungen« verwenden. Selbstverständlich stellen z. B. sexualisierte Grenzüberschreitungen in der Kindheit eine schwerwiegende Problematik dar, deren häufige Fortsetzung in der weiteren Biographie mir auch aus meiner feministischen Arbeit bestens bekannt ist. Nun haben – zum Glück – jedoch viele Konvertitinnen keine schweren Gewalterfahrungen oder andere Traumata erlebt. Die direkte Kopplung von traumatischen Erfahrungen bzw. psychischen Problemen mit der Konversion ist zudem mittlerweile hinreichend wissenschaftlich infragegestellt worden. Wenn man jedoch statt von »Problemen« oder »Krisen« von Problem- und Fragestellungen spricht, fallen darunter nicht nur allgemein als problematisch definierte Ereignisse wie Trennung, Gewalt, Tod von Angehörigen oder Arbeitsplatzverlust, sondern auch lebensgeschichtlich erklärbare Fragestellungen, welche sich entweder durch die Biographie ziehen oder mit punktuellen Er269 »Was […] untersucht werden soll, ist die Funktion, die religiöse Konversion im Rahmen von Biographien erfüllt. Es geht dabei um die Rekonstruktion des Problems, auf das die Konversion bezogen ist und um die Herausarbeitung der Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet«, Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20, im Original komplett kursiv. Bereits Lofland/Stark hatten den Terminus der »Problem-Solving Perspective« verwendet, Lofland/ Stark (1965), S. 867, im Original kursiv. 270 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88. 271 Modalisierende Anführungszeichen. 272 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 126ff., das wörtliche Zitat ist von S. 137, wo sie auch schreibt: »Dieses Problem wird in der Konversion gleichermaßen >präsentiert< wie transformiert«.

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eignissen gekoppelt sind und in deren Rahmen die Konversion eine oder mehrere Funktionen erfüllt. Dies kann der Wechsel des sozialen Umfelds oder des politischen Systems ein, oder auch der Verlust geborgenheitsspendender Strukturen aus der Kindheit – zumindest theoretisch ist die Liste beliebig verlängerbar. Auf die speziell hier untersuchten Funktionen der Konversion angewandt hieße das, dass man untersucht, welche Frage- oder Problemstellungen durch die Konversion gelöst werden (welche Funktionen sie also erfüllt) – das könnten in diesem Fall innerfamiliäre religiöse Differenzen und in einem anderen z. B. Probleme mit der Erfahrung instabiler Geschlechterbeziehungen sein – und wo sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu bisherigen Problemlösungsstrategien ergeben.273 Bewusst habe ich daher von Wohlrab-Sahrs Definition von Konversion als »radikale[…] Transformation der Weltsicht einer Person und der damit verbundenen Formen konkreter Problemlösung«274 den Aspekt der Transformation der konkreten Problemlösung(en) in meiner Konversionsdefinition nicht übernommen, da die Transformation der Weltsicht für mich nicht zwingend mit einer Transformation der Problemlösungen zusammenhängen muss.275 In Mertons Terminologie übersetzt würde dies bedeuten, dass die Konversion mehr oder, den vorher dargelegten Überlegungen gemäß, eher weniger bewusst Menschen bei der Bewältigung offener Frage- oder Problemstellungen hilft. Dabei kann die Konversion als Problemlösungsstrategie Funktionen erfüllen, die die Betreffenden bislang nicht benötigt hatten (z. B. wäre die latente Funktion einer Gemeinde, die Betreuung werdender Mütter zu gewährleisten, nur relevant, wenn man ein Kind bekommen hat oder bekommen will) oder ein »funktionale[s] Äquivalent[…]«276 zu ihren vorherigen Problemlösungsstrategien darstellen. Möglicherweise finden die Konvertierten aber auch durch die Konversion überhaupt erstmal eine Lösungsstrategie, die Funktionen im Hinblick auf lebensgeschichtlich relevante Probleme und Fragestellungen entfaltet. Dieser Methode folgend würde man die Funktionen, die den »spezifischen Sinn« der Konversion für die Betreffenden ergeben, herausarbeiten können. Statt einen einfachen Kausalzusammenhang / la: »Fehlende Vaterfigur, deswe273 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 129. 274 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88. 275 Kursivsetzung von mir. Tatsächlich widersprechen auch Wohlrab-Sahrs eigene Forschungsergebnisse dieser Definition. So konstatiert sie, dass bei dem von ihr ausgewerteten Fall der Brigitte Haltun »auffällige Veränderungsprozesse« und »deutliche Kontinuitäten nebeneinander[stehen]«, Wohlrab-Sahr (1999a), S. 129, Kursivsetzung der Autorin. 276 Merton (1995), S. 50, im Original kursiv. Zu anderen Problemlösungsmodellen vgl. Lofland/Stark (1965), S. 867, die neben dem religiösen das politische und das psychiatrische aufzählen. Zu (Dis-)Kontinuitäten vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 129.

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Zur Durchführung der Forschung

gen Konversion zum christlichen Glauben mit starkem Gottvater« zu konstruieren, wird also gefragt: »Welche Funktionen kommen der Konversion im Leben der Befragten zu?« Möglicherweise hängen die Funktionen der Konversion in so einem Fall tatsächlich mit einer durch dysfunktionale Familienstrukturen geprägten Lebensgeschichte mit ihren spezifischen Problematiken zusammen; möglicherweise jedoch verweisen die Funktionen auf andere Frage- oder Problemstellungen – dies erschließt sich jedoch erst bei der Analyse. Definiert man Funktionen (oder Dysfunktionen) als objektive, oder wie ich es angesichts der heutigen Diskussionen um sogenannte »Objektivität« nennen würde: beobachtbare Folgen einer Konversion, kann selbstverständlich nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sämtliche Folgen mit lebensgeschichtlichen Problem- und Fragestellungen, die bereits in der präkonversionellen Vergangenheit vorhanden waren, verknüpfbar sind. Gerade im Hinblick auf Dysfunktionen der Konversion (z. B. Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen aufgrund von Islamfeindlichkeit) kann man sogar im Gegenteil annehmen, dass diese Folgen nicht unbedingt mit vorangegangenen biographischen Problem- und Fragestellungen verknüpft sein müssen.277 Der Grund dafür, dass ich meinen Fokus auf lebensgeschichtliche Frage- und Problemstellungen lege, mit denen die Konversion funktional verknüpft ist, ist, dass dies diejenigen sind, auf die ich durch meine empirische Forschung Zugriff habe, wie ich im Kapitel über die Auswertungsmethodik noch näher erläutern werde.278 Während Merton zumindest in den von ihm aufgeführten Beispielen die Auffassung zu vertreten scheint, dass ein bestimmtes »soziologisches Phänomen«279 für ein bestimmtes Sample (in diesem Fall wären das z. B. Konvertitinnen zum literalsinnorientierten Christentum) überindividuell die gleichen Funktionen entfaltet, gehe ich davon aus, dass Funktionen sich zwar wiederholen, jedoch nicht immer dieselben für alle an dem Phänomen partizipierenden 277 Nun gibt es sicher einzelne Konvertitinnen, für die eine gesellschaftliche Aus- (und Ab-)grenzung tatsächlich eine Funktion und keine Dysfunktion darstellt, zumindest in deren persönlicher Bewertung. Da jedoch nahezu jede Muslimin mit hijab mir von solchen Problemen berichtet hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich zumeist um eine Funktion, sondern in den meisten Fällen um eine Dysfunktion handelt – und zwar um eine manifeste, denn Diskriminierung qua hijab ist bedauerlicherweise eine erwartbare und erkannte Folge. 278 Kurz gesagt: Ich leite Funktionen daraus ab, dass bestimmte, sich durch die Biographie ziehende Frage- und Problemstellungen erfolgreich bewältigt wurden. Wenn ich keine in der Vergangenheit bereits auftretenden Fragestellungen, zu deren »Lösung« die Konversion in irgendeiner Form beigetragen hat, herausarbeiten kann, kann ich den »Ist-Zustand« auch nicht als »Funktion« der Konversion definieren. Beispielsweise ist »soziale Einbindung« keine Funktion der Konversion, wenn die Betreffende seit ihrer Kindheit immer gut sozial eingebunden war und sich dies durch die Konversion nicht verbessert hat (eine Verschlechterung wäre eine Dysfunktion). 279 Merton (1995), S. 48.

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Individuen sein müssen. Der »spezifische Sinn«, der durch Funktionen der Konversion für die Konvertitinnen erfüllt wird, fällt meines Erachtens je nach Individuum und Lebensgeschichte unterschiedlich aus. Neben der Perspektivveränderung in Bezug auf die bisher meist vorgenommenen Motiv(ations)suche, findet also auch eine bezüglich der vorherrschenden monokausalen bzw. monofunktionalen Modelle statt. Diese führen Konversionen für das untersuchte Sample entweder auf einen Grund oder ein Bündel von Gründen zurück, und zwar stets auf dieselben Gründe – oder aber bilden Typen nach vorherrschenden Merkmalen, z. B. Typen der wichtigsten Funktion der Konversion.280 Meine Annahme, dass die Konversion multifaktoriell – oder, um in Mertons Terminologie zu bleiben, multifunktional – ist und dass bei jeder Konvertitin eine individuelle Mischung an mehreren wichtigen Funktionen vorzufinden ist, kristallisierte sich bereits bei meinen Vorarbeiten zu dieser Dissertation heraus. Mir erschien und erscheint es als unzulässige Komplexitätsreduktion, zwingende Kausalitäten zu konstruieren oder aber stets eine dominante Funktion herausarbeiten zu müssen. Diese Vorgehensweise würde der Vielschichtigkeit von Funktionen und Biographien, im Rahmen derer Funktionen erklärbar werden, nicht gerecht werden. Dabei stellt sich auch die interessante Frage, inwieweit die Transformation der Weltsicht und die Funktionen, die die Konversion im Hinblick auf bestimmte Frage- oder Problemstellungen erfüllt, gekoppelt sind. Denkbar wäre ja durchaus, dass sich die Weltsicht verändert, aber die Problemlösung überkommenen Strukturen folgt, da verschiedene Weltsichten durchaus strukturell ähnliche Funktionen (d. h. funktionale Äquivalente) bieten können. Im Zuge der neueren Konversionsforschung wurde die Frage nach der Verbindung von persönlichen Erfahrungen, Charaktereigenschaften oder Problemstellungen der Konvertit_innen und der jeweils gewählten religiösen Option aufgeworfen.281 Zum Beispiel könnte die Funktion der sozialen Einbindung durch eine muslimische wie eine pagane Gemeinde erfüllt werden, obschon die Weltsicht eine andere wäre. Dann wiederum gibt es mögliche Funktionen der Religion, für die es in der paganen Religion kein Pendant gäbe – die der klaren Geschlechterrollenverteilung beispielsweise. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Frage hinweisen, ob Konversionen eigentlich bei ähnlichen Gemeindestrukturen, aber verschiedenen Theologien ähnliche Funktionen für die Konvertitinnen erfüllen – ob also soziale Struktur oder religiöser Inhalt die Konversionsfunktionen ausmachen. Die Gemeinden, die ich beforschen wollte, weisen hohe Übereinstimmungen in der Ausgestaltung der sozialen Gemeindestruktur und in der – religiös begründe280 Für eine Typenbildung stehen z. B. die Arbeiten von Wenger Jindra oder Wohlrab-Sahr. 281 Z. B. von Heirich oder Wohlrab-Sahr.

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Zur Durchführung der Forschung

ten – Lebensgestaltung auf. Religionssoziologisch kann man daher viele Parallelen ziehen. Theologisch freilich unterscheiden sich die Inhalte substanziell. So zeigen sich, um nur zwei Beispiele zu nennen, eklatante Differenzen zwischen dem freicharismatischen Monotheismusverständnis mit seiner Dreifaltigkeitslehre282 und dem strengen Monotheismus des literalsinnorientierten Islam. Ebenso verschieden ist das Konzept des Wohlstandsevangeliums (und der daraus resultierenden Zusammenhang von Frömmigkeit und Belohnung) von der islamischen Lehrmeinung der Unergründlichkeit von Gottes Ratschluss unter Betonung der Dankbarkeit für noch so kleine materielle Güter und der Prüfung283 des (gläubigen) Menschen durch Krankheit, Armut oder Tod. Es stellt sich die Frage: Konvertieren Menschen aus ähnlichen Problemstellungen heraus zu beiden Religionen, ergeben also die (wenn auch religiös begründete) Sozialstruktur bzw. die Lebensführung die entscheidenden Funktionen »der Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet«284, oder sind es bestimmte Theologien, aus welchen diese Funktionen resultieren? In letzterem Falle müssten sich die Funktionen, die die Konversion im Leben der Befragten ergibt, substanziell unterscheiden – da die Theologien voneinander verschieden sind –, in ersterem sehr ähneln, da die Sozialstruktur große Parallelen aufweist. Möglicherweise variiert jedoch die Beantwortung dieser Frage je nach den Frage- oder Problemstellungen der Konvertitinnen – es mag Frage- und Problemstellungen geben, für deren Beantwortung eine Konversion zum Islam genauso funktional sinnvoll ist wie eine zum Christentum, und wieder andere, in denen nur eine der beiden Religionen eine für die Konvertierten zufriedenstellende Problemlösung zu geben vermag. Hier scheint auch eine mögliche Antwort auf ein Phänomen durch, welches sich immer wieder in der Forschung vorfinden lässt: nämlich darauf, dass sich manche Konvertit_innen im Laufe ihres Lebens nacheinander entweder verschiedenen Ideologien, oder aber verschiedenen Religionen zuwenden. Je nachdem, welche Funktionen die Konversion erfüllt, gibt es unterschiedliche – oder auch keine – funktionalen Äquivalente in anderen religiösen oder auch weltlichen Systemen. Für den bereits dargelegten exemplarischen Fall einer Konvertitin mit der Sehnsucht nach einer starken sozialen Einbindung hätte möglicherweise eine differenzfeministische Frauenkommune oder eine Klostergemeinschaft ähnlich gute Dienste geleistet. Für eine andere hingegen, für die die Konversion die Möglichkeit bietet, sich von der Mehrheitsgesellschaft sichtbar abzugrenzen, wäre hingegen eher eine optisch auffällige Subkultur in282 Jesus Christus und der Heilige Geist treten sehr oft als eigenständig handelnde Akteure auf, der Aspekt der »tres personae« wird m. E. mehr betont als bei den Volkskirchen. 283 Manchmal auch Bestrafung. 284 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20, im Original kursiv.

Die Wahl der Forschungsmethode

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frage gekommen – nur, dass sie aufgrund ihrer Biographie mit dem Islam und nicht mit dieser in Berührung kam. Eine Kommune oder ein Frauenkloster hätten für sie dieses Bedürfnis nicht erfüllen können. Dabei arbeite ich nicht nur lebensweltliche Funktionen (welche durch die theologischen Inhalte und/oder die Sozialstruktur bedingt sein können), sondern auch spezifisch religiöse heraus. Bei meinen Vorstudien konnte ich feststellen, dass es nicht nur lebensweltliche, sondern auch religiöse Funktionen der Konversion gibt. Neben lebensweltlichen Bedürfnissen, die durch Konversion befriedigt werden können – wie sozialer Einbindung oder der Konsolidierung von Geschlechterrollen – kann es auch ein religiöses Bedürfnis nach Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang geben. Dabei definiere ich Religion mit Feldtkeller als »zwischenmenschliche Verständigungen über Wirklichkeit […], wenn sie den Zusammenhalt des Ganzen der Wirklichkeit durch eine Größe verbürgt sehen, die selbst nicht einem der vier Quadranten menschlicher Wirklichkeitserfahrung [dies sind Bewusstsein, Kommunikation, eigener Körper und materielle Welt, Anm. der Autorin] zugeordnet werden kann, sondern eine allen vier Quadranten gegenüber ›transzendentale‹ Position zugeschrieben bekommt«285.

Dieses Bedürfnis, sich in einen Sinnzusammenhang eingebettet zu sehen, welcher durch eine transzendente Größe – in diesem Fall Gott – verbürgt wird, ist nach diesem Modell als »religiös« zu bezeichnen. Welche Religion dieses Bedürfnis zu erfüllen vermochte, das freilich folgte einem bestimmten Muster, welches ich als Forscherin nicht mit dem Wahrheitsgehalt der Religion oder göttlicher Fügung erklären kann und will, sondern das ebenfalls aus der Biographie der Betreffenden erschließbar ist.

2.2. Die Wahl der Forschungsmethode Nach der Frage, welcher Ansatz am besten geeignet schien, um meine Forschungsfrage(n) zu beantworten, stellte sich die Frage, welche Methode sich am passendsten zum Herausarbeiten von Funktionen erweisen könnte. Dies schien mir nur durch empirische Forschung und hier wiederum nur durch qualitative Sozialforschung möglich, zumal ich diese Methode bereits in Vorarbeiten erfolgreich angewandt hatte. Quantitative Methoden hätten meines Erachtens bei standardisierten Abfragen von Konversionsfolgen lediglich Konversionsrhetorik zu Tage fördern können.

285 Feldtkeller (2014), S. 172f.

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Zur Durchführung der Forschung

Die bekannten qualitativen Sozialforschungsmethoden teilen bestimmte Prämissen: u. a. die Festlegung auf offene Methoden, die Flexibilität bei der Datenerhebung, die Kommunikation mit den Informant_innen, die Reflexivität, und die Auffassung der Forschung als einem »fortgesetzte[m] Interaktionsprozess mit den Akteuren im Feld«.286 Zudem gilt die Relativität von Erkenntnis abhängig von der eigenen Positionierung (hermeneutischer Zirkel); Realitätsbeschreibungen sind daher kontingent und Bedeutungen immer zugeschrieben – auch in der wissenschaftlichen Arbeit.287 Zuletzt sind Forscher_innen wie Beforschte Teil der »Sozialwelt«, wodurch keine starre Grenze zwischen Alltagswissen und wissenschaftlicher Erkenntnis gezogen werden kann; beide beeinflussen sich wechselseitig und stehen in einem Austauschprozess.288 In der qualitativen Forschung gibt es verschiedene Forschungsmethoden; doch nur wenige erschienen mir für mein Vorhaben geeignet und umsetzbar. Eine Dokumentation von Konversionsvorgängen beispielsweise ist ohne Interviews kaum durchführbar ; ein Versuch, den Prozess der Konversion und dessen psychologische Folgen in mehreren Stadien zu erforschen, vorgenommen von einer deutschen Forschungsgruppe um den Religionswissenschaftler Michael A. Schmiedel, musste schlussendlich auch primär auf Interviews mit den Betreffenden und damit auf deren biographische Rekonstruktionen rekurrieren.289 Ich habe mich daher für eine Kombination aus teilnehmender Beobachtung und Interviews mit Konvertitinnen in ausgewählten literalsinnorientierten christlichen und islamischen Gemeinden entschieden. Hinter meiner Entscheidung, Interviews mit der teilnehmenden Beobachtung zu kombinieren, steht der Gedanke, dass ich auch die sozialen Strukturen der religiösen Strömungen, zu denen die Frauen konvertiert sind, kennen muss, um tatsächlich eine Antwort auf die Frage finden zu können, weswegen sie für die Konvertitinnen attraktiv waren und sind und welche Funktionen sie erfüllen (können). Selbst, wenn die Gemeinde, in der die Konvertitin sich heute bewegte, eine andere war als diejenige, in der sie ursprünglich konvertiert war, wiesen nämlich dennoch zumindest meiner Erfahrung nach die theologischen wie sozialen Strukturen der Gemeinden innerhalb der betreffenden Strömungen große 286 Vgl. Strübing (2013), S. 20f. Das wörtliche Zitat stammt von Seite 21. 287 Vgl. Strübing (2013), S. 21. Dies würde ich unabhängig von meiner erkenntnistheoretischen Positionierung durchaus bejahen. Vgl. dazu Siebel (2016), S. 39: »Empirische Forschung kann nicht anders, als an einer prinizipiell erkennbaren Wirklichkeit festzuhalten, und muß dabei in Rechnung stellen, daß sie diese Wirklichkeit stets auch konstruiert hat: Sie bekommt immer nur den Ausschnitt der Wirklichkeit zu sehen, den sie mit ihrer Fragestellung aus der unübersehbaren Fülle des Beobachtbaren ausgewählt hat, und innerhalb dieses kleinen Ausschnitts gerät ihr nur das in den Blick, was ihre Kategorien zu sehen erlauben.« 288 Vgl. Strübing (2013), S. 21f., wörtliches Zitat von S. 21. Dieser Absatz ist fast unverändert meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013), S. 9f., entnommen. 289 Vgl. Schmiedel (2014), S. 105ff.

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Parallelen auf. Mir war klar, dass ich die teilnehmende Beobachtung offen durchführen würde, d. h., dass ich mich als Außenstehende mit einem wissenschaftlichen Interesse an Glaubenstransformation(en) zu erkennen geben würde, was forschungsethische wie auch -praktische Gründe hatte. Bei der Methodenwahl stellte sich auch die Frage, welche Art von Interviews ich durchführen wollte. Hätte ich die Konvertitinnen einfach nach den Folgen ihrer Konversion befragt, hätte ich wohl nur einen geringen Teil der Funktionen erschließen können, und zwar wenn überhaupt nur die manifesten, dafür aber viel Konversionsrhetorik erzählt bekommen. Wohlrab-Sahr konstatiert zu ihren eigenen Interviews, »daß es verfestigte subjektive Theorien und fixierte Geschichten zum Thema der eigenen Konversion gibt, in denen gewisse Details beleuchtet werden, andere dagegen völlig ausgespart bleiben«290. Zudem stellte sich ihr das Problem, dass bei öffentlich stark präsenten konvertierten Gesprächspartner_innen die »biographische Erzählung […] bereits weitgehend zur Konversionsgeschichte >umgeschriebenvielsagenden< Versprecher«, aber auch Missverständnisse.308 Damit ist gemeint, dass der subjektive und der latente Sinn (bzw. die »protokollierbare Spur«309, also das, was z. B. in einem Transkript stünde) auseinanderklaffen können – so, wie bei Merton das Motiv einer Handlung und deren Folgen deckungsgleich sein können, es aber oft nicht sind. Um auszuschließen, dass man einen latenten Sinn fälschlicherweise in das Gesagte hineininterpretiert, muss sich dieser latente Sinn daher auch in späteren Sequenzen erneut auffinden lassen – dann kann man nämlich nach der »Ebene (A) der latenten Sinnstruktur« und der »Ebene (B)« der subjektiv intendierten »Bedeutungen« die »dritte Ebene (C)«, die der Fallstruktur, herausarbeiten.310 Auf der vierten Ebene (D) wird der »Fall in seiner Geschichte« analysiert; »[b]ezogen auf Lebensgeschichten hieße das, die biographischen Daten daraufhin zu interpretieren, wie eine bestimmte Struktur sich im Verlauf der Biographie herausbildet«.311 Oevermann legt Wert darauf, dass jedes Protokoll sequentiell untersucht wird: »Dabei wird unter Sequentialität nicht ein triviales zeitliches oder räumliches Nacheinander bzw. Hintereinander verstanden, sondern die mit jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle sich von neuem vollziehende, durch Erzeugungsregeln generierte Schließung vorausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft«312. Damit ist nicht nur der sprachliche Aspekt gemeint, wie etwa, dass in einem Interview die Sprecherin aus einem Reigen an formell gültigen Möglichkeiten aufgrund ihrer persönlichen Disposition eine Option der Fortsetzung einer (sprachlichen) Sequenz auswählt und andere verwirft.313 Nach Oevermann bedeutet überhaupt jede Handlung, sich mehr oder weniger bewusst für eine Option zu entscheiden und andere zu verwerfen – zur Verfügung stünden dabei, um die Parallele zu Merton 308 Vgl. Wohlrab Sahr (1999a), S. 102. 309 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 101. 310 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), erstes Zitat von S. 102, die Versatzstücke zu Ebene B beginnen ebenfalls auf S. 102 und setzen sich auf S. 103 fort, die Zitate zu Ebene C finden sich auf S. 103. 311 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 104. 312 Oevermann (2002), S. 6. Im Original sind »Schließung vorausgehend eröffneter Möglichkeiten« und »Öffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft« unterstrichen. 313 Oevermann (2002), formuliert dies so: »Dieses Gesamt an Sequenzierungsregeln erzeugt an jeder Sequenzstelle je von Neuem einen Spielraum von Optionen und Möglichkeiten, aus denen dann die in diesem Praxis-Raum anwesenden Handlungsinstanzen per Entscheidung eine Möglichkeit auswählen müssen.« (S. 7).

Die Wahl der Auswertungsmethode

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zu ziehen, auch andere funktionale Äquivalente.314 Welche Optionen zur Auswahl stehen, wird dabei sowohl ganz allgemein von der Umwelt bestimmt, aber auch durch spezifisch die agierende Person betreffende Umstände. Oevermann stellt zwei Parameter auf: einen allgemeinen, welcher durch die vielfältigen Regelwerke der Umwelt bestimmt wird (soziale, sprachliche, etc.), und einen spezifischen, »zweite[n] Parameter von Auswahlprinzipien und -faktoren, der alle Komponenten und Elemente der Disponiertheit der verschiedenen beteiligten Lebenspraxen oder Handlungsinstanzen umfaßt«.315 Um dies zu erläutern: Eine klassische Sequenzstelle, die auch Oevermann anführt, wäre die Begrüßung. Wenn mir jemand entgegenkommt, den ich kenne, verfüge ich über eine große Palette möglicher Handlungsoptionen (d. h. funktionaler Äquivalente), welche theoretisch gesamtgesellschaftlich möglich wären. Möglicherweise sind meine subjektiven Möglichkeiten jedoch weitaus eingeschränkter : Wenn ich z. B. die Sprache der zu begrüßenden Person nicht spreche, aufgrund eines Unfalls nicht aufstehen kann oder aus einem Milieu stamme, in dem bestimmte Begrüßungsoptionen (wie etwa der Handkuss) unbekannt sind. Für die Analyse ist daher das Wissen um und »die Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Kontext einer Handlung relevant«.316 Der äußere Kontext bestimmt, welche Möglichkeiten der Fortsetzung in einer bestimmten Sequenzstelle denkbar sind und impliziert »notwendigerweise eine Menge an empirischem und theoretischem Wissen über bestimmte Sachlagen« von Seiten der Forscher_innen, während »die Lebensgeschichte selbst als individualspezifische Kontextbedingung« den »inneren Kontext« bildet, in welchem »sich […] die Selektivität des Falls aus[drückt], die spezifische Art und Weise, auf die er sich innerhalb eines Möglichkeitsraumes seine Bahn schafft«.317 Dies bedeutet für die Analyse: die Forscher_in muss also über ein umfassendes Wissen über diesen »Möglichkeitsraum« verfügen, um die erfolgten Selektionen, die die Fallstruktur bilden, in ihrer Spezifizität verstehen zu können; gleichzeitig kann und muss im voranschreitenden Prozess der Erschließung der Fallstruktur der Fall selber zu seiner eigenen Auslegung herangezogen werden.318 In Mertons Terminologie übersetzt hieße das: Nur, wenn die Forscher_in sich mit den in der jeweiligen Gesellschaft zu Verfügung stehenden funktionalen Äquivalenten für eine Handlung auskennt, kann sie auch eine sinnvolle Fallstruktur und das Spezifische der gewählten Handlungsoption erarbeiten. Meines Erachtens (und 314 Vgl. Oevermann (2002), S. 7, zu den Parallelen von Objektiver Hermeneutik und Funktionalismus auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 117f. 315 Vgl. Oevermann (2002), S. 7. Im Original ist »zweite[n] Parameter von Auswahlprinzipien und -faktoren« unterstrichen. 316 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 106. 317 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 107. 318 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 107.

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Zur Durchführung der Forschung

im Sinne derjenigen Forscher_innen, die die Objektive Hermeneutik nicht nur auf die Interviewsituation selber, sondern auch auf das Erzählte anwenden) kann man diese Form der sequentiellen Analyse unter Einbeziehung funktionaler Äquivalente im Falle eines schriftlichen Protokolls nämlich nicht nur auf die Wortwahl (also die Sprachhandlung und die darin zum Ausdruck kommenden ergriffenen und verworfenen Optionen) anwenden, sondern auch auf die Handlungen, von denen die sprechende Person erzählt und die anhand des Interviews rekonstruiert werden. Praktisch läuft die Analyse mittels Objektiver Hermeneutik also so ab, dass zunächst gedankenexperimentell mögliche Fortsetzungen einer bestimmten Sequenzstelle entworfen werden (1. Parameter), d. h. verschiedene funktionale Äquivalente in Betracht gezogen werden,319 um dann mit der realen Entscheidung des beforschten Subjektes abgeglichen zu werden (2. Parameter).320 Nach und nach baut man also eine Fallrekonstruktion auf, die jederzeit dadurch falsifiziert werden kann, dass die Entscheidung an der »nächsten Sequenzstelle« anders ausfällt als erwartet, woraufhin die Rekonstruktion korrigiert werden muss.321 Dabei legt Oevermann großen Wert darauf, dass die Fallstruktur aus dem Text erschlossen und nicht von außen an diesen herangetragen wird.322 Oevermann ist häufig unterstellt worden, er ginge von einem starren oder gar »deterministische[n] Strukturbegriff[…]« aus.323 Demgegenüber formuliert Oevermann selber die zwar von Subjekt zu Subjekt variierende, aber dennoch vorhandene autonome Handlungsfähigkeit des Subjekts: »Lebenspraxen, konkrete Handlungsinstanzen mit einer Subjektivität sind jeweils historisch-konkrete Gebilde, die sich – wie dieser Begriff schon bezeichnet – in einem je individuierenden Bildungsprozeß entwickelt sowie eine Identität ausgebildet haben und sich durch Strukturtransformation tendenziell immer noch in eine offene Zukunft weiterbilden und entfalten können. In diesem Bildungsprozeß formen sich Fallstrukturen mit einer je eigenen Fallstrukturgesetzlichkeit, in der zugleich die grundsätzliche Potentialität einer mehr oder weniger stark entwickelten Autonomie jeder Lebenspraxis als Freisetzung von äußerer Determiniertheit oder Fremdbestimmtheit konkret zur Bestimmung kommt.«324

Oevermann sticht durch seine Kritik sämtlicher anderer qualitativer Verfahren hervor, die er mit großer Schärfe kritisiert und denen er eine Gleichrangigkeit zu seiner Methodik abspricht.325 Der außenstehenden Wissenschaftler_in fällt hier 319 320 321 322 323 324 325

Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 117. Vgl. Oevermann (2002), S. 9, der von »Parameter[…] I« und »Parameter II« spricht. Vgl. Oevermann (2002), S. 9. Vgl. Oevermann (2002), S. 19ff. Vgl. Strübing (2013), S. 134. Oevermann (2002), S. 11. »Autonomie jeder Lebenspraxis« im Original unterstrichen. Vgl. z. B. Oevermann, S. 6.

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jedoch eine Parallele zu Schütze auf, der in Abhängigkeit von der Determiniertheit bzw. Autonomie der Handelnden bzw. davon, »welche (aktive oder reaktive) Haltung die Subjekte ihrer Biographie gegenüber einnehmen«, vier verschiedene »idealtypische Prozessstrukturen des individuellen Lebensablaufs« unterscheidet.326 Beim institutionellen Ablaufmuster »muss das Individuum sich zunächst einer biographischen Institution überantworten sowie während des Verbleibs soziale Normen einhalten«; in letzterem kommt wieder eine Handlungsautonomie zum Tragen, auch wenn der Grad der Freiwilligkeit der Überantwortung schwankt (z. B. Grundschule vs. Studium).327 Beim biographischen Handlungsmuster handelt es sich hingegen um eine »selbst initiierte und gesteuerte Entwicklung«, zum Beispiel, wenn jemand den Job kündigt und auswandert oder mit Absicht das Studium abbricht.328 Greift man also auf das Mertonsche Funktionenmodell zurück, kann man postulieren, dass sich in beiden Fällen selbstverständlich Funktionen zeigen. Allerdings ist nur bei einem Teil der institutionellen Handlungsmuster (bei denen, die mehr von der aktiven Auswahl der Personen abhängen und daher ein »Motiv« vorhanden ist), jedoch bei allen biographischen Handlungsmustern ein Abgleich des Motivs mit den manifesten bzw. latenten Funktionen sinnvoll. Da, wo die Handelnden äußerem Zwang ausgesetzt sind oder gar nicht handlungsmündig sind, kann auch kein Motiv mit den Folgen verglichen werden. Dies trifft auch auf das dritte Muster zu, das der Verlaufskurve: Hiermit bezeichnet Schütze »das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz«329, ein Beispiel wäre der Verlust der eigenen Wohnung durch widrige externe Umstände (wäre die Ursache hingegen eine selbstinitiierte Entscheidung, etwa Wohnung und Arbeit zu kündigen und ohne Geld Deutschland zu durchwandern, läge ein biographisches Handlungsmuster bzw. eine manifeste Funktion vor). An dieser Stelle muss jedoch angemerkt werden, dass es auch positive Verlaufskurven gibt. In Mertons Konzept übertragen hieße das wieder, dass im Falle einer Verlaufskurve 326 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 69. »Prozessstrukturen« und »Lebensablaufs« im Original andersfarbig. Die vier Muster sind: »Institutionelles Ablaufmuster«, »Biographisches Handlungsmuster«, »Verlaufskurve« und »Biographischer Wandlungsprozess«, im Original sind die ersten drei andersfarbig gedruckt. S. dazu auch Schütze (1983), S. 284: »Ich möchte die These vertreten, daß es sinnvoll ist, die Frage nach Prozeßstrukturen des individuellen Lebenslaufs zu stellen und davon auszugehen, daß es elementare Formen dieser Prozeßstrukturen gibt, die im Prinzip (wenn auch z. T. nur spurenweise) in allen Lebensabläufen anzutreffen sind.« 327 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 70. 328 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 70f. Wörtliches Zitat von S. 70, s. auch ebd.: »Institutionalisierte Vorgaben sind entweder nicht klar vorgegeben oder werden umgangen«. 329 Schütze (1983), S. 288.

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kein Motiv der handelnden Person vorliegt, wohl aber (funktionale oder dysfunktionale) Folgen. Das vierte Muster, der biographische Wandlungsprozess, folgt hingegen oft der negativen Verlaufkurve und beendet jene; auch dieser Wandlungsprozess wird jedoch nicht durch das Subjekt selber initiiert, »sondern ist von außen induziert«.330 Ein Beispiel wäre oben genannte wohnungslose Person, der durch einen Freund ohne eigenes Zutun eine neue Wohnung vermittelt wird.331 Dabei geht es in der Klassifizierung nicht um die positiven oder negativen Endresultate für das Subjekt, sondern darum, ob diese Prozesse von diesem als »selbst gewählt[…]« oder aber von »außen induziert« empfunden wurden.332 Hier findet sich also eine praxisbezogene Anwendung und Differenzierung von dem, was Oevermann als »mehr oder weniger stark entwickelten Autonomie jeder Lebenspraxis als Freisetzung von äußerer Determiniertheit oder Fremdbestimmtheit«333 bezeichnet. Freilich rückt Schütze hier die Selbstwahrnehmung und -einordnung der Befragten in den Vordergrund, während die Objektive Hermeneutik beansprucht, aus der Außenperspektive Autonomie bzw. Determiniertheit ablesen zu können; letzten Endes muss die Objektive Hermeneutik, zumindest, insofern sie Erzählungen oder Interviews analysiert, jedoch ebenfalls auf die Selbstdarstellung der Betreffenden zurückgreifen. Wie X sich in einer bestimmten Situation (»Sequenzstelle«) entschieden hat, lässt sich ja – wenn die Forscher_in nicht selber anwesend war – auch nur aufgrund der Eigendarstellung rekonstruieren. Es gibt daher auch tatsächlich Wissenschaftler_innen, welche die Objektive Hermeneutik bei Interviews vor allem oder sogar ausschließlich im Hinblick auf die Interaktion zwischen Interviewer_in und befragter Person und die »Rekonstruktion [dort] handlungsleitender Regeln« angewandt wissen wollen.334 Dies lässt sich sicherlich mit der allgemeinen kulturwissenschaftlichen Wende hin zur Diskurs- und Interaktionsanalyse erklären,335 bzw. überhaupt mit einem kommunikativen Konstruktivismus. Im Gegensatz dazu gehe ich jedoch mit einer großen Anzahl von anders vorgehenden Wissenschaftler_innen davon aus, 330 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 72. 331 Hier würde man jedoch interessanterweise nach Mertons Modell von einer »manifesten Funktion« sprechen, zumindest, wenn das Motiv, das Angebot des Freundes anzunehmen, das Erlangen einer eigenen Unterkunft war, vgl. Merton (1995), S. 49. 332 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 72. 333 Oevermann (2002), S. 11, »Autonomie jeder Lebenspraxis« im Original unterstrichen. 334 Vgl. Strübing (2013), S. 139. Er schreibt allerdings auch (ebd.): »Regeln, die das im Interview thematisierte vergangene Handeln hervorgebracht haben, werden also durch die Interviewhandlungen gebrochen im Protokolltext dokumentiert und sind so nur indirekt der Interpretation zugänglich« – was aber impliziert, dass es trotz genannter Einschränkungen möglich ist, auch das »Handeln« der Befragten retrospektiv zu analysieren. 335 Vgl. dazu auch Feldtkeller (2014), S. 124.

Die Wahl der Auswertungsmethode

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dass auch die in Interviews erhobenen biographischen Daten selber mit der Methodik der Objektiven Hermeneutik untersucht werden können,336 auch wenn den Verzerrungen durch die Interaktion zwischen Forscher_in und beforschter Person selbstverständlich Rechnung getragen werden muss. Dies bedeutet konkret für die Forschungsarbeit und für mein hermeneutische Verständnis, dass ich mit Oevermann davon ausgehe, dass Sinnstrukturen jenseits subjektiver Sinngebungen aus den Aussagen der Interviewten »herauslesbar« sind, dass erstere nur aus der wissenschaftlichen Reflexion heraus tiefergehend erschließbar sind und dass man von Fallstrukturen sprechen kann, die sich aus der Analyse ableiten lassen. Auch in der subjektiv gefärbten biographischen Erzählung findet sich demnach ein Kern biographischer Fakten, welche auf ihre Fallstrukturgesetzlichkeit hin erschlossen werden können. Wie bei der Objektiven Hermeneutik erfolgt auch bei der Narrationsanalyse die Auswertung sequenziell, und bei der »Einzelfallanalyse werden thematisch gleiche Sequenzen fallimmanent verglichen, um an vorherigen Sequenzen gewonnene Lesarten zu überprüfen«337. Diese Vereinbarkeit der beiden Methodiken ist für mich als Forscherin insofern relevant, als ich mich unter anderem der öfters vorgeschlagenen Kombination von Narrationsanalyse und Objektiver Hermeneutik bedienen möchte und auch schon in der Vergangenheit bedient habe. Die Objektive Hermeneutik setzt nämlich dort an, wo es der Narrationsanalyse an »Methodik«338 fehlt: bei der Analyse davon, »welche sozialen Deutungen und Orientierungen seinem [gemeint ist der Befragte, Anmerkung der Autorin] Verhalten zugrunde liegen«339. Bei beiden Methoden erfolgt die Theorienbildung aus der Auswertung der Fälle heraus, anstatt dass Theorien von außen herangetragen werden.340 Die Narrationsanalyse versucht, aus dem Vergleich maximal und minimal kontrastierender Fälle »Unterschiede respektive Gemeinsamkeiten« abzuleiten und in einen sinnvollen Bezug zueinander im Hinblick auf bestimmte »Dimensionen« zu setzen.341 Verglichen werden auch die Fälle in der Objektiven Hermeneutik; hier geht es jedoch eher darum, bestimmte Typen zu konstruieren.342 In dieser Hinsicht weiche ich jedoch von den Vorgaben der Objektiven Hermeneutik ab. Wie ich bereits im vorhergehenden Kapitel angedeutet habe, 336 337 338 339

Vgl. Bahrs/Frede/Litzba (1994), S. 247–280, vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), z. B. auf S. 118f. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 106. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 106. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 90, zur Ergänzung der Narrationsanalyse durch die Methode der Objektiven Hermeneutik vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 103 und S. 106. 340 Vgl. Oevermann (2002), S. 19ff., und vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 98. 341 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 100. 342 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 149.

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Zur Durchführung der Forschung

wurde mir schon bei Voranalysen zu dieser Arbeit klar, dass ich eine Typenbildung, womöglich unter Herausarbeitung einer dominanten Funktion,343 nicht vornehmen würde, da es sich so gut wie immer um ein Funktionenkonglomerat handelt. Dass die Befragten bei ihrer Entscheidung geblieben waren und sich nicht für – religiöse oder nicht-religiöse – funktionale Äquivalente entschieden hatten, hatte seinen Grund zumeist darin, dass die Konversion mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllte, die in dieser Kombination zumeist nur schwerlich durch ein Äquivalent hätten erfüllt werden können. Daher ergeben sich zwar wiederkehrende Funktionen, aber ganz unterschiedliche Funktionskombinationen, bei denen mitnichten immer eine dominierende, sondern zumeist mehrere gleichrangige Funktionen in Kombination vorzufinden sind. Jedoch auch im Hinblick auf Schütze ergeben sich Abweichungen; hat dieser doch nicht nur eine Auswertungs-, sondern auch eine Erhebungsmethode als ganzheitliche Kombination gedacht, wobei ich – wie vorher dargelegt – dieser Erhebungsmethode nicht zur Gänze zu folgen gedenke, zum Beispiel werde ich keine maximal und minimal kontrastierenden Fälle vergleichen. Ich möchte ohnehin darauf hinweisen, dass ich mich zwar im Hinblick auf das Vorgehen bei der eigentlichen Fallrekonstruktion primär an diesen beiden Auswertungsmethoden orientiert habe; was jedoch die grundlegende Analyse der Transkripte auf dem Weg bis zur Fallrekonstruktion anbelangt, habe ich die Entscheidung getroffen, Methoden sinnvoll miteinander zu kombinieren. Oder, um mit Kleemann/Krähnke/Matuschek zu sprechen, die interpretativen Methoden wie einen »›Werkzeugkasten‹« zu verwenden, »dem man – je nach Forschungsfrage und -kontext – geeignete Untersuchungsinstrumente entnehmen kann.«344 Schließlich teilen die gängigen qualitativen Forschungsmethoden trotz aller Differenzen in der theoretischen Begründung bestimmte grundlegende methodische Prinzipien bei der Auswertung: »Textbasiertheit der Interpretation und Datentranskription, formalanalytisches Vorgehen und sequenzielle Analyse, kontrollierter Umgang mit eigenem Alltagswissen, reflexiver Umgang mit Daten und Prinzip der Offenheit [und] Rekonstruktion von Sinnstrukturen«.345 Daraus ergibt sich eine sinnvolle Kombination von Auswertungsschritten: »formalsprachliche Analyse«, »gedankenexperimentelle Wortlaut- und Kontextvariationen« und ein »empirischer Vergleich von Textsequenzen« werden zum Einsatz kommen.346 Konkret bedeutet das, dass ich bei der »formalsprachliche[n] Analyse« die Schritte der »Interaktionskontrolle«, »Sequenzie343 344 345 346

Wie Wohlrab-Sahr dies tut. Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 208. Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 203. Alltagswissen im Original andersfarbig. Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 204.

Exkurs: Konversionsrhetoriken

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rung« und »Textsortenanalyse« vorgenommen habe,347 bei den »Gedankenexperimenten« sowohl mit »Wortlautvariationen« wie auch mit »Kontextvariationen« gearbeitet habe,348 um schließlich bei der »vergleichende[n] Analyse von unterschiedlichen Sequenzen« bereits erfolgte Interpretationen zu erhärten oder auch zu modifizieren.349

2.4. Exkurs: Konversionsrhetoriken An dieser Stelle scheint mir ein kurzer Exkurs über die bereits mehrfach erwähnten Konversionsrhetoriken geboten; wie ich bereits dargelegt habe, ist deren Kenntnis wichtig, um Funktionen in Abgrenzung von den erzählten Motiven, die sehr oft standardisierter Konversionsrhetorik folgen, herausarbeiten zu können. Dieser Exkurs steht an der Schnittstelle zwischen den methodischen Grundlagen meiner Forschung und den Forschungsergebnissen, da ich zur Identifikation von Konversionsrhetoriken nicht nur auf die die Erkenntnisse anderer Forscher_innen zurückgegriffen habe, sondern teilweise auch eigene (Vor-)Analysen durchführen musste. Ulmer hat als einer der ersten Autor_innen darauf hingewiesen, dass Konversionserzählungen einem bestimmten Muster folgten und nicht als Tatsachenerzählungen anzusehen seien. Dabei fokussierte er sich in seiner Studie, die den Anspruch hatte, ein interreligiös gültiges Modell von Konversionserzählungen aufzustellen, insbesondere auf die »dreigliedrige Zeitstruktur«, womit die Aufteilung »in einen ›Wendepunkt‹, eine ›Zeit davor‹ [und] ›eine Zeit‹« gemeint ist.350 Bei der Beschreibung der Zeit vor der Konversion ließe sich dabei eine »zurückhaltend negative Beurteilung der vorkonversionellen Lebensphase« finden,351 und es werde »eine biographische Krise als Anlaß für die Konversion dargestellt«, bei der gesellschaftlich übliche Bewältigungsmodelle nicht erfolgreich gewesen seien.352 Ähnlich gingen etwa auch seine Vorgänger Snow und Machalek vor, die untersuchten, mit welchen sprachlichen Mitteln Konversion hergestellt wird, und dabei ebenfalls von einer interreligiösen Vergleichbarkeit ausgingen. Wohlrab-Sahr weist jedoch zu Recht darauf hin, dass es schwierig ist, von einer universellen »Gattung Konversionserzählung« unabhängig vom spe347 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), erstes Zitat von S. 209, die anderen Zitate von S. 210, »Sequenzierung« im Original andersfarbig. 348 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 220, »Gedankenexperimenten« im Original andersfarbig. 349 Vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 225. 350 Vgl. Ulmer (1988), S. 22. Kursivsetzung im Original. 351 Vgl. Ulmer (1988), S. 23. 352 Vgl. Ulmer (1988), S. 24, Kursivsetzung im Original.

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Zur Durchführung der Forschung

zifischen Charakter der Religion, zu der konvertiert wird, auszugehen.353 »Es scheint insofern angebracht, die Möglichkeit offenzulassen, daß unterschiedliche Weltanschauungsgruppen (vielleicht auch aus Gründen wechselseitiger Konkurrenz und Abgrenzung) divergierende Konversionserzählungen hervorbringen, die wiederum möglicherweise je spezifisch >anschlußfähig< sind an die Erfahrungen von Präkonvertiten.«354 Wenn also nachfolgend in meiner Analyse von Befragungen von Konvertitinnen standardisierte rhetorische Figuren herausgefiltert werden müssen, ist es hilfreich, diese spezifischen Konversionsrhetoriken für beide Konvertitinnengruppen identifizieren zu können. Ich gehe zwar durchaus davon aus, dass einige der genannten, von den Autor_innen als »universell« gültig formulierten Charakteristika von Konversionserzählungen auch bei »meinen« Konversionserzählungen vorzufinden sein könnten. Noch wichtiger für die Funktionensuche erscheint es mir jedoch, die religionsspezifische Konversionsrhetorik zu kennen – da diese viel »konkreter« ist, d. h. weniger allgemeine Erzählstrukturen, sondern oft Handlungserklärungen betrifft und daher leichter mit »Funktionen« verwechselt werden kann. Dabei gehe ich davon aus, dass religiöse Strömungen bestimmte, von ihnen als zentral erachtete Aspekte ihrer Religion in ihren standardisierten Konversionsskripten aufnehmen und spiegeln. Im islamischen Bereich wird vor allem die Rationalität der Entscheidung für den Islam betont. Dieses Motiv findet sich auch bei Studien mit/über Konvertit_innen zum Islam und wird dort von den Forschenden oft unkritisch für »real« gehalten, was Wohlrab-Sahr zu der treffenden Anmerkung veranlasst: »Worüber er [gemeint ist der Wissenschaftler Ali Köse, der Konversion zum Islam in Großbritannien untersucht hat] also faktisch etwas aussagt, ist, daß es ein islamisches ›Skript‹ der Konversionserzählung gibt, in dem die rationale, oft auch wissenschaftliche Legitimation der Konversion eine große Rolle spielt«355. Im Zusammenhang mit der Rationalität des Islam wird auch gerne die Sure 96, 1–5, die erste Sure, die nach islamischer Überlieferung an Mohammed diktiert wurde, angeführt: »Lies im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen erschaffen hat aus einem Embryo. Lies. Dein Herr ist der Edelmütigste, der durch das Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste«356. In ihrer imperativischen Aufforderung zu »lesen« sowie in der Feststellung, dass Gott über den geschriebenen Text »lehrt«, findet sich nach Ansicht vieler Muslim_innen ein rational-argumentatives Element: Gott ist zwar dem Menschen »näher als die Halsschlagader«357, er möchte aber auch Zugang 353 354 355 356 357

Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 74. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 75. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 365. Der Koran (2015), übersetzt von Khoury, S. 578. Der Koran (2015), übersetzt von Khoury, S. 479. Diese Stelle findet sich in Sure 50, 16.

Exkurs: Konversionsrhetoriken

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zu dessen Verstand finden. Während Mohammed selber nach seinem ersten Offenbarungserlebnis psychisch angeschlagen und voller Zweifel war, überzeugt ihn die erste Konvertitin zum Islam – seine Ehefrau Khadidja – von der Richtigkeit seiner Sendung und »konvertiert« gewissermaßen auch Mohammed. Auch hier findet sich wieder das argumentative, rational überzeugende Element, welches in der islamischen Konversionsrhetorik solch eine große Rolle spielt. Dabei wird der Islam, in dessen Lehren nach manchen zeitgenössischen (besonders gerne auch literalsinnorientierten) Lesarten bereits moderne wissenschaftliche Entdeckungen wie Atome, Embryonalentwicklung etc. angelegt sind,358 in Konversionserzählungen wie auch in anderen Verlautbarungen, seien sie von Gelehrten verfasst oder von Lai_innen als Statements im Internet veröffentlicht, immer wieder zum rationalen »Gegenentwurf« des »unlogischen« oder gar »irrationalen« Christentums stilisiert. Als Marker für diese »Irrationalität«359 dienen besonders die Dreifaltigkeit und die Gottessohnschaft Jesu Christi,360 aber auch die »mangelnde Authentizität der Bibel«361. Außerdem werden auch die Kirchen selber, besonders der Marienkult, aber auch »die Beichte, das Zölibat und […] die Rolle des Priesters als Vermittler zwischen Mensch und Gott« kritisiert.362 Ob diese Kritik oder auch Zweifel, welche bei den genannten Punkten auch von vielen nicht zum Islam konvertierten Personen, sogar christlichen, geäußert werden, tatsächlich konversionsrelevant sind, halte ich bei einem Großteil der Fälle für unwahrscheinlich.363 Vielmehr trifft zumeist zu, »daß diese Art der Interpretation erst nach der Konversion im Zuge der Integration in einen muslimische Kontext relevant wird« – etwa, wenn tatsächlich empfundene Zweifel erinnert und rückwirkend mit Bedeutung aufgeladen werden, weil »eine Entscheidung zur Konversion aus anderen Gründen bereits gefallen ist und nun in Übereinstimmung mit der Doktrin der neuen Bezugsgruppe legitimiert und an die eigenen biographischen Erfahrungen angeschlossen werden muß«.364 Als gute Übersicht für islamische Konversionsrhetoriken dient die Arbeit von Caroline A. Neumüller ; in deren Kurzübersicht über die von ihr befragten Konvertit_innen finden sich die Sparten »Erster Kontakt mit dem Islam« und 358 Insbesondere im Koran sollen sich bereits sehr viele Erkenntnisse finden lassen. 359 Anführungsstriche in modalisierender Funktion. 360 Diese werden auch massiv wegen des vermeintlichen christlichen Polytheismus kritisiert. Vgl. zu den von den Konvertieren rückwirkend benannten Problemen mit »Trinitätslehre oder der Gottessohnschaft Christi« auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 365, und vgl. zur Trinität und Gottessohnschaft auch Hofmann (1997), S. 125. 361 Vgl. Hofmann (1997), S. 125. 362 Vgl. Hofmann (1997), S. 126. 363 Wenn schon, sind diese Zweifel eher für die Abwendung vom vorher ausgeübten Glauben relevant. 364 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 365, Kursivsetzung der Autorin.

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Zur Durchführung der Forschung

»Auslöser der Konvertierung«, in welchen sich viele Elemente der vorher dargelegten rhetorischen Elemente finden lassen. Bei den 52 deutschen Befragten fand sich 15 Mal der Topos, dass die rezipierten Informationen zum Islam von der Richtigkeit der Religion überzeugt hätten (hier scheint wieder das Motiv der vernunftgeleiteten Beschäftigung mit der Religion auf), 8 Mal wurden Zweifel am Christentum, insbesondere an dessen Rationalität, genannt, und das Motiv der Überzeugung durch die Logik bzw. Rationalität von Islam und Koran wurde ebenfalls 8 Mal erwähnt. Soviel zur spezifisch islamischen Konversionsrhetorik – ansonsten fand sich interessanterweise 9 Mal das Motiv der relativ spontanen Konversion durch Zeichen, emotionale Überwältigung oder plötzliche Einsichten, worin man möglicherweise Einflüsse des durch christliche Konversionserzählungen in die Allgemeingesellschaft übernommenen Topos der plötzlichen, emotionalen Konversion ablesen kann.365 Ein weiteres, 8 Mal genanntes Motiv war das der lebenslangen bzw. langjährigen Suche nach religiöser Wahrheit.366 Diese letztgenannten Erzählungen folgten eher dem allgemeinen Skript von Konversionserzählungen, wie es z. B. von Ulmer beschrieben wird. Spezifisch islamische Konversionsrhetoriken stellen jedoch hingegen die Rationalität des Islam/Koran, die intellektuelle (Wahrheits-)Suche sowie, insbesondere bei vormals christlichen Konvertierten, die Abgrenzung vom »irrationalen« Christentum in den Vordergrund. Davon verschieden – entsprechend der religiösen Inhalte der Strömung selber – ist die Konversionsrhetorik im christlich-literalsinnorientierten Rahmen. Es liegt zunächst nahe, anzunehmen, dass in einer Religion, in deren Heiliger Schrift spontane Konversionen eine große Rolle spielen, auch eine andere Konversionsrhetorik als im islamischen Kontext üblich ist. Es ist mir jedoch wichtig zu betonen, dass sich neben spontanen Konversionen wie die von Paulus in Apg. 9 oder die der ersten Jünger in Mt. 4,19,367 um nur einmal zwei Beispiele zu nennen, auch durchaus reichlich biblische Belegstellen finden lassen, in denen Jesus argumentativ zu überzeugen versucht, z. B. in Lk. 20, 1–40 oder 21, 37–38. Gerade im literalsinnorientierten, insbesondere charismatischen Rahmen wird jedoch die Bekehrung bzw. das Ereignis der sogenannten »Wiedergeburt« stark emotional aufgeladen; dabei steht die göttlich induzierte Überwältigung und nicht die rationale Erkenntnis im Vordergrund. Wenger Jindra, deren 365 Möglicherweise spielen hier manchmal auch divergierende Skripte von Konversionserzählungen innerhalb sufistischer Strömungen des Islam eine Rolle. 366 Vgl. Neumüller (2014), S. 378–403. Die Fußnote bezieht sich auch auf die vorhergehenden Sätze. Das Motiv der »Suche« ging oft in das der »rationalen« Beschäftigung mit verschiedenenen Religionen, bei denen der Islam die »rationalste« war, über. 367 Parallelen zur Paulinischen Konversion bei christlichen Konversionsgeschichten zieht auch Wenger Jindra (2005), S. 184. Auch Morgenthaler (2012a) nimmt auf S. 52 darauf Bezug.

Exkurs: Konversionsrhetoriken

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Forschungsergebnisse sich meiner Ansicht nach in dieser Hinsicht tatsächlich bis zu einem gewissen Grad gut auf den deutschen Raum übertragen lassen, beschreibt dies so: »[I]m Unterschied zu den Konvertiten zu den Zeugen Jehovas und zum Islam wird die Konversion von Typ 3) [hauptsächlich Konvertit_innen zum Christentum, Anm. der Autorin dieser Arbeit] als emotionales und in den meisten Fällen als plötzliches Erlebnis oder als graduelle Veränderung mit intensiven Höhepunkten beschrieben«368. Auch Coleman beschreibt die »Rhetorik der spontanen Transformation« bei den von ihm untersuchten Konvertit_innen zum freicharismatischen Christentum.369 Dies deckt sich mit den Konversionsrhetoriken, die sich in den Bekehrungsberichten in Schriften literalsinnorientierter Autoritäten wie auch in entsprechenden Foren finden lässt. Wenger Jindra schreibt weiter unter Berufung auf Smith: »Konversionserzählungen zum evangelikalen Christentum [weisen] eine bestimmte narrative Struktur auf […], [und] bestehen aus einer Erlösungsgeschichte, wie sie in der Bibel dargestellt wird. Wichtige Elemente sind das Eingeständnis der eigenen Sündhaftigkeit, der Glaube an Jesus Christus, die Erlösung durch ihn und die dadurch wiederhergestellte Bindung an Gott« sowie damit verknüpft das Element der Vergebung.370 Außerdem stellt Wenger-Jindra die These auf, dass es Unterschiede »zwischen der narrativen Struktur der Erzählungen evangelikaler oder charismatischer Christen« und denen von anderen christlichen Konvertierten, in Deutschland wären dies volkskirchliche, gibt; sie nimmt an, dass »die charismatischen und evangelikalen Christen die emotionalen Komponenten ihrer Konversion stärker hervorheben«.371 Dies entspricht auch der Glaubenspraxis deutschen pfingstlerischen und freicharismatischen Christentums; es wird viel Wert darauf gelegt, das »Herz« anzusprechen, bzw. auch im Gottesdienst einen Zugang zur Emotionalität zu schaffen. »Verzückung« als uneingeschränkte emotionale Hinwendung zu Gott wird als erstrebenswerter Zustand angesehen. Da zudem, wie auch in den meisten anderen literalsinnorientierten Gemeinschaften, theologische Traditionen und die gesamte etablierte Theologie als »Geisteswissenschaften« in Abgrenzung zu der auf den wortwörtlichen Sinn fokussierten »Bibelwissenschaft« oft abgelehnt werden,372 wird ein stark emotionaler Zugang zur Religion für positiver erachtet als ein argumentativer bzw. intellektuell hinterfragender.

368 369 370 371 372

Wenger Jindra (2005), S. 184. Coleman (2003), S. 17. Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 184. Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 184, in der Fußnote 33. Zumindest in den freicharismatischen/neopfingstlerischen Gemeinden. In den traditionellen Pfingstkirchen finden sich oft mehr theologische Auseinandersetzungen und gelegentlich auch historisch-kritische Ansätze.

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Zur Durchführung der Forschung

Wie auch Wenger-Jindras Ausführungen bestätigen, sind die vorhergehenden konversionsrhetorischen Elemente nicht auf freicharismatische oder pfingstliche Strömungen beschränkt, sondern auch in anderen literalsinnorientierten Zweigen des Christentums anzutreffen. Ein standardisiertes Element speziell freicharismatischer Konversionserzählungen hingegen sind berichtete Schwierigkeiten, Jesu oder Gottes Namen auszusprechen, was auf »dämonische« Verstrickungen bzw. »Bindungen« der noch nicht Bekehrten zurückgeführt wird, sowie das mehrfache Auftreten als göttlich gelenkt empfundener Zeichen, beispielsweise, dass mehrere Personen voneinander getrennt die (Prä-)Konvertierten auf denselben Sachverhalt aufmerksam machen oder diese wiederholt dasselbe »Zeichen« empfangen. Auch markante Bibelverse als Antwort auf drängende Fragen oder Unsicherheiten, durch zufälliges Blättern oder Aufschlagen der Bibel entdeckt, stellen ein solches Zeichen dar. Hier wird der insbesondere im charismatischen Flügel literalsinnorientierten Christentums sehr präsente Gedanken der permanenten Führung durch Gott in einer seiner »personae« sichtbar, ebenso wie die Kehrseite dieser dichotomen Weltanschauung, bei der Menschen im Falle sündigen Verhalten von Dämonen besessen werden. Jedenfalls sind Gott wie auch seine Gegenspieler keine entrückten Entitäten, sondern im Alltag präsent und erfahrbar. Es ist also ersichtlich, dass sich die Konversionsrhetoriken zwischen muslimischen und christlichen Konvertit_innen substanziell unterscheiden; ob und wie weit sich diese unterschiedlichen Rhetoriken in den ausgewerteten Interviews vorfinden lassen werden, wird sich im Laufe meiner Auswertung zeigen.

3.

Die Forschungsergebnisse

Nachdem ich in der gebotenen Ausführlichkeit die theoretischen Grundlagen meiner Arbeit sowie das methodische Vorgehen dargelegt habe, sollen nun die Ergebnisse meiner Forschung präsentiert werden.

3.1. Die Forscherin und das Feld Bevor ich mit der Darlegung meiner Forschungsergebnisse beginne, möchte ich zunächst kurz reflektieren, was die Forschung mit mir als Forscherin »gemacht« hat. Mit den in aller Kürze dargelegten kontroversen Denkansätzen gerüstet, betrat ich in der finalen Phase meines Masterstudiums an der Theologischen Fakultät das Feld der empirischen Konversionsforschung. Das Phänomen Konversion, welches auch mir durchaus kontrovers erschien, hatte mich nach wiederholter Beschäftigung damit im Rahmen meines gesamten Studiums schnell in seinen Bann gezogen. Dabei teilte ich das gesamtgesellschaftliche und spezifisch religionswissenschaftliche Interesse an den besonders prägnanten Fällen von Religionswechsel:373 dem Übertritt zu Religionsströmungen, die liberalen Auslegungen ablehnend gegenüberstehen und eine literalsinnorientierte Quellenauslegung vornehmen. Wie ich bereits angedeutet habe, gab es für mein Interesse an genau diesen beiden religiösen Strömungen verschiedene Motive. Ein wichtiges war das Interesse daran, was Menschen zum Glauben bewegt, und zwar gerade in einer 373 Tatsächlich unterscheiden viele Wissenschaftler_innen zwischen den Konversionen, die »radikale[…] Transformationen implizieren« und den »Alternation[en]«, Wohlrab-Sahr (1999a), S. 89. Abweichend dazu das Modell von Feldtkeller (1993), S. 38f., der bei »biographische[n] Veränderungen religiöser Bindungen« (S. 38, im Original kursiv) zwischen »Intensivierung«, »Extensivierung«, »Inversion« und »Conversion« unterscheidet (S. 39), wobei »Conversion« und »Inversion« in etwa unter die Wohlrab-Sahrsche Definition der Konversion fallen würden. Ich habe in meiner Konversionsdefinition eine Synthese von beiden Modellen versucht.

100

Die Forschungsergebnisse

Gesellschaft, welche Religion eher kritisch bis ablehnend gegenübersteht. Als Feministin, die sich viel mit feministischer Bibel- und Koranauslegung beschäftigt hatte, wollte ich zudem nachvollziehen, was andere Frauen gerade an diesen Religionsströmungen faszinierte, welchen persönlichen Gewinn sie aus den Geschlechtermodellen der jeweiligen Gemeinden zogen oder ob sie dieses nur um anderer Vorteile willen in Kauf nahmen. Und ein drittes, gewissermaßen dem Alltag einer sich mit Religion beschäftigenden Forscherin entspringendes Motiv war der reflexartige und formelhafte Verweis auf »das« Christentum, wenn »der« Islam kritisiert wurde. Ein Verweis, der auch unter Wissenschaftler_innen nicht unüblich war und ist und dessen Richtigkeit mir durchaus, mit gewissen Einschränkungen und Differenzierungen, plausibel erschien, den ich jedoch gerne wissenschaftlich überprüfen wollte, gerade im Hinblick auf die literalsinnorientierten Flügel beider Religionen, anstatt ihn aus einem reflexartigen Verteidigungsmechanismus rassistisch diskriminierten Minderheiten oder einer generellen Skepsis (neo-)konservativen religiösen Strömungen gegenüber einfach zu bejahen. Der Auswertung der Daten ging freilich eine lange Zeit der Feldforschungen voran. Dabei sah ich mich mit zwar befürchteten und vorausgesehenen, doch nicht minder zermürbenden Schwierigkeiten konfrontiert. Einzelne Personen oder auch ganze Gemeinden reagierten misstrauisch, wollten mit wissenschaftlicher Feldforschung nichts zu tun haben oder keine »Un-« oder »Andersgläubigen« in ihrer Mitte dulden.374 Vertrauen aufzubauen gelang nur über intensive Kontaktaufnahme und ein gewisses emotionales commitment von Seiten der Forscherin, und selbst dann war es oft nicht einfach, Interviewpartnerinnen zu finden. Viele Menschen haben Scheu davor, »öffentlich« zu sprechen und aufgezeichnet zu werden, selbst, wenn der Rahmen informell ist, eine Schwierigkeit, die mir bereits aus empirischen Forschungen während meines Masterstudiums bekannt war. Dazu kam, dass ich immer wieder vor dem Problem stand, dass sich Menschen zu Interviews bereiterklärten, welche nicht in meine Auswahlkriterien fielen. Dies zu erklären, war nicht immer leicht – so ergab sich manchmal die Situation, dass ich engagierte Gesprächspartnerinnen ablehnen musste, weil sie nicht in meine Auswahlkriterien passten.375 Je nach Vertrautheit der betreffenden Personen mit den Kriterien für wissenschaftliche Samplebildung war diese Ablehnung einfacher oder schwieriger zu erklären. Einzelne Personen kennenzulernen und über diese nach dem Schneeballprinzip weitere Interviewpartnerinnen zu finden, erwies sich als der erfolgreichste Weg. 374 In welche der beiden Kategorien ich einsortiert wurde, hing nicht nur von der jeweiligen Gemeinde ab, sondern divergierte auch oft je nach Gemeindemitglied. Besonders schwierig gestaltete sich die Vertrauensbildung in den christlich-literalsinnorientierten Gemeinden. 375 Eine detaillierte Schilderung der Auswahlkriterien erfolgt an späterer Stelle.

Die Forscherin und das Feld

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In allen diesen Fällen waren jedoch oft diffizile Kontaktaufnahmen, viel zeitliches und räumliches Entgegenkommen und sensibles und behutsames Nahebringen des Forschungsvorhabens, welches zu dieser Zeit zudem noch nicht vollständig an Gestalt gewonnen hatte, notwendig. Zudem ergab sich manchmal die Schwierigkeit, universitäre Vorgehensweisen Menschen zu erklären, die nicht mit Sozialforschung vertraut waren. Andererseits wurde ich, war der Kontakt erst einmal aufgebaut, oft mit großer Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft aufgenommen. An dieser Stelle erscheint es mir angebracht, die feministische Praxis der eigenen Positionierung aufzugreifen.376 Ich habe durch Teile meiner Familie einen südeuropäischen Migrationshintergrund und bin auch größtenteils in Südeuropa aufgewachsen, werde jedoch zumeist als deutsch (und deutschstämmig) gelesen. Außerdem definiere ich mich als Cis-Frau377 und als feministische, sozial und ökologisch orientierte Forscherin mit einem gesellschaftskritischen Ansatz. Ich teilte mit den von mir Befragten zwar nicht die ideologische und religiöse Perspektive, aber viele andere Strukturmerkmale; race, gender, ability, die Zugehörigkeit zu einer ähnlichen Alterskohorte (die meisten Mitglieder waren ungefähr in meinem Alter, d. h. zwischen Ende zwanzig und Mitte vierzig) und vor allem im Falle der muslimischen Frauen oft auch eine hohe formale Bildung. Auch mein mehrkultureller, südeuropäischer Migrationshintergrund sorgte besonders bei den muslimischen Gesprächspartnerinnen, die in ihrer großen Mehrheit in bi- oder mehrkulturellen Partnerschaften lebten, für den Aufbau von Vertrauen und die Annahme eines tatsächlichen oder vermuteten gemeinsamen Erfahrungsschatzes und eines größeren Wissens um Schwierigkeiten und Vorteile des Aufeinandertreffens verschiedener Kulturen und Mentalitäten von Seiten der Autorin.378

376 Die eigene Positionierung deutlich zu machen, macht es u. a. für Außenstehende einfacher, die Perspektiven und Vorannahmen der Forscher_in sowie deren Zugang zum Feld und die Reaktionen desselben nachzuvollziehen. In der feministischen Praxis geht es dabei zudem oft um die Offenlegung, welche strukturellen Privilegien bzw. Diskriminierungen jemand genießt/erfährt. Mir war jedoch für diese Arbeit insbesondere der erste Aspekt wichtig. 377 Person, die bei der Geburt als Frau gelesen und als Frau sozialisiert wurde und sich auch als solche definiert (oder, im Falle eines Cis-Mannes, als Mann gelesen und sozialisiert wurde und sich als solcher definiert), im Gegensatz z. B. zur Transfrau, die als Mann sozialisiert wurde, sich selber aber als Frau definiert. Diese Einordnung hat nichts mit Sexualität zu tun – ein schwuler Mann oder eine bisexuelle oder queere Frau (falls sie ihre Sexualität und nicht ihre Identität als solche definiert) können dennoch Cis-Frauen oder -Männer sein. 378 Auch wenn die Frauen deutschstämmig waren, hatten deren Ehemänner zumeist einen muslimischen Migrationshintergrund. Dementsprechend war die Atmosphäre von Mehrkulturalität geprägt – übrigens auch die der christlichen Gemeinden, auch wenn in jenen die ethnischen Gruppen oft stärker »unter sich« blieben. Interessant war in diesem Kontext auch, dass die Musliminnen nicht nur in der Außenperspektive oft als »nicht mehr deutsch«

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Die Forschungsergebnisse

Diese geteilten Kategorien stellten sich, wenn ich erst einmal die Hürde der »Aufnahme« in die Gemeinden geschafft hatte, als »vertrauensbildende« Faktoren heraus. Das hatte ich mir vorher auch so erhofft; weniger klar war mir jedoch gewesen, dass intensive Kontakte über einen längeren Zeitraum auch bedeuten, mit Problemen, Sehnsüchten und Ängsten der Gemeindemitglieder jenseits religiöser Thematiken konfrontiert zu werden, und dass Interviewsituationen, in denen qualitativ geforscht wird, Menschen dazu auffordern, auch teilweise tragische Lebensgeschichten und Schicksalsschläge zu offenbaren. Ich glaube, dass neben den »Zugzwängen des Erzählens«379 auch gerade mein externer und doch vertrauter Status die Gemeindemitglieder dazu animierte, mir private Dinge anzuvertrauen, auch solche, die ihr Ansehen in der Gemeinde möglicherweise geschwächt hätten und die sie einer »Externen« unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen konnten. Immer wieder wurden mir solche Erfahrungen, Zweifel und Ängste im Anschluss an das qualitative Interview anvertraut – bei ausgeschaltetem Mikrophon, weswegen ich sie selbstverständlich nicht verwendete. Neben dieser oft berührenden, manchmal auch belastenden Situation, Vertrauensperson für die Gesprächspartnerinnen zu sein, kam als weiterer erschwerender Umstand hinzu, dass der intensive Kontakt mit den Gemeindemitgliedern für mich eine ständige Gratwanderung zwischen meiner Rolle als mehr oder minder zurückhaltenden Forscherin und der als Privatperson mit Meinungen und Positionen bedeutete. Ich war mit Menschen konfrontiert, die ein Religionsverständnis vertraten und lebten, das von dem liberalen Religionsverständnis meines gewohnten Umfeldes, so dieses religiös ist, sehr weit entfernt war. Viele der in den Gemeinden vertretenen Ansichten und Glaubensgrundsätze waren und sind meinem Verständnis von Emanzipation, Gleichheit und (Geschlechter-)Gerechtigkeit entgegengesetzt. Ich, die ich mich selbst als Feministin bezeichne und mich seit Jahren für Gleichstellung engagiere, die ich mich ausgiebig mit feministischer islamischer und auch christlicher Theologie beschäftigt habe, begegnete hier Menschen, die Homosexualität ablehnten oder die Unterordnung der (Ehe-)Frau unter den Mann postulierten. Menschen, die Kreationist_innen waren und vieles von dem, was für mich und mein soziales Umfeld zur Freizeitgestaltung dazugehört – beispielsweise das Hören bestimmter Musikgenres oder überhaupt von Musik – als »sündhaft« betrachteten. Viele dieser Menschen lehnten andere Religionen oder deren Angehörige ab, erzogen ihre Kinder zum Teil in einer Weise religiös, die ich oft nicht bejahen bzw. fremd gelesen wurden, sondern sich auch in der Innenansicht oft als mehrkulturell definierten. 379 Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 66.

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konnte, und vertraten kurzum ein Weltbild, welches sich von meinem sehr unterschied. Dazu kamen noch gewisse Gemeindestrukturen, die meines Erachtens Machtstrukturen Vorschub leisten. Denn in Gemeinden, die sich so stark gegen Anfeindungen von außen zu Wehr setzen müssen, in der die Mitglieder so viel aufgegeben und sich oft sehr weit von ihrem früheren Umwelt distanziert haben, kommt der Schritt aus den Gemeinden einem sozialen Radikalschnitt nahe, auch ohne dass der Austritt an sich in irgendeiner Form durch Repressalien sanktioniert werden würde. In Kombination mit den oft ausgeprägten Hierarchien, die in den Gemeinden herrschten, fand ich diese Strukturen im Hinblick auf mögliche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse teilweise kritisch. Mit dieser Wahrnehmung stand ich innerhalb der Gemeinden meist nicht alleine da – doch wurden solche Problematiken meist nur »innergemeindlich« diskutiert, selten wurde der Schritt heraus aus den Gemeinden erwogen und dazu geraten, professionelle Hilfe hinzuzuziehen. Als gleichstellungspolitisch Engagierte, die sich auch mit Macht- und Abhängigkeitsstrukturen befasst, verursachte mir dieser Umgang mit innergemeindlichen Problematiken Unbehagen. Aber es gab auch die andere Seite: Ich war gemeinden- und religionenübergreifend immer wieder überwältigt von der Herzlichkeit, dem sozialen Zusammenhalt und Engagement der Gemeindemitglieder. Tatsächlich waren diese mit einer Selbstverständlichkeit füreinander da, welche mir eine Ahnung davon vermittelte, wie attraktiv ein solcher Rückhalt in einer individualisierten Gesellschaft wie der unseren erscheinen musste. Die engmaschige soziale Kontrolle der Gemeinden, in denen »jeder über jeden« Bescheid wusste, fand ihre positive Kehrseite in der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung in allen möglichen Lebenslagen – sei es durch Gebete, Besuche, die Pflege von Erkrankten und deren Kindern oder materielle Leistungen. Auch ich war immer wieder gerührt und manchmal geradezu beschämt von der Großzügigkeit, mit der mir Wohnungen und Herzen geöffnet wurden, von den zahllosen Gebeten für mich und meine gelegentlichen Erkrankungen, von der oft ungekünstelten Gastfreundschaft und Herzlichkeit. Hätte ich das Gefühl gehabt, dass dies alles nur mit dem Hintergedanken erfolgt wäre, mich zur Konversion zu bewegen,380 hätte ich mich vermutlich mehr davon abgegrenzt – dies war jedoch meistens nicht der Fall. So fand ich mich in mehrfachen Ambivalenzen wieder : dem Dilemma, mit Menschen in Kontakt zu stehen, die eine gesellschaftliche Transformation wünschen, wie ich sie aus politischer Hinsicht nicht befürworten kann, und die sich trotzdem im alltäglichen Leben oft als rücksichtsvoller, sozial engagierter 380 Der Fachbegriff dafür ist »Love-Bombing«, bei dem potentielle oder neugewonnene Gemeindemitglieder mit mit »intensive[r] Zuwendung« und »warmer Herzlichkeit« bedacht werden. Vgl. Kern (1998), S. 65.

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und hilfsbereiter erweisen als ihre säkularen Mitmenschen. Dem Dilemma, Menschen für die Forschung zu gewinnen, ohne eigene Prinzipien zu verleugnen noch forschungsethische Grundsätze zu verletzen, und dem Dilemma, meine eigene Meinung nur begrenzt vertreten zu können, auch bei für mich problematischen Aussagen, und dennoch mir selber treu sein zu wollen und müssen. Diese Dilemmata brachten mich teilweise in emotionale Konflikte und trugen dazu bei, dass ich mich oft psychisch erschöpft und in meiner Identität erschüttert fühlte. Dabei blieb es nicht aus, dass auch ich im Dialog und auf Nachfrage Teile meiner Lebensgeschichte und meines Lebensalltags offenbarte. Dies mag den Vorstellungen einiger Wissenschaftler_innen widersprechen, die davon ausgehen, dass Forschung möglich und vor allem wünschenswert ist mit einer nur einseitigen Öffnung der Beforschten. Letzteres ist vielleicht möglich bei der Beschränkung auf Interviews, ganz sicher bei standardisierten Forschungsmethoden, doch ein aussichtsloses Unterfangen, wenn man wirklich zahlreiche Tage und Stunden miteinander verbringt. Dennoch würde ich diese Erfahrung als nicht nur wissenschaftlich, sondern auch menschlich horizonterweiternd bezeichnen. Ich habe Einblicke gewonnen, die die meisten Menschen meiner gesellschaftlichen und politischen Positionierung sonst wohl schwerlich machen würden und Einsichten in gesellschaftliche Defizite erlangt, auf die diese Form von religiösen Gemeinschaften eine Antwort bieten. Vor allem aber durfte ich Menschen kennenlernen und begleiten, denen ich sonst wohl schwerlich begegnet wäre. An dieser Stelle möchte ich mich daher ganz herzlich bei meinen Interviewpartnerinnen bedanken. Ich habe versucht, stets so respektvoll, verschwiegen und ethisch korrekt mit meinen Kontaktpersonen umzugehen, wie ich mir das auch selber in umgekehrter Position wünschen würde. Dazu gehört auch, dass ich an manchen Stellen nicht weitergefragt habe, obwohl die Antwort vielleicht forschungspraktisch interessant gewesen wäre, dass ich sehr stark auf Vertraulichkeit und Anonymität geachtet habe und dass ich trotz der Diskrepanzen zu meiner eigenen Weltanschauung den Ansichten meiner Gegenüber respektvoll zugehört habe. Ich kann mich in diesem Zusammenhang nur Monika Wohlrab-Sahr anschließen, wenn sie in ihrem Buch über islamische Konvertit_innen schreibt: »[M]anchen unter ihnen, die dieses Buch lesen werden, wird meine Art der Darstellung vermutlich fremd erscheinen. Ihre subjektiven Theorien und meine Rekonstruktionen werden oft nicht dieselben sein. […] Ich hoffe allerdings, daß die Rekonstruktionen in diesem Buch so ausgefallen sind, daß sie das Erzählte, wenn auch entfremden, so doch an keiner Stelle diskreditieren«381.

381 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 11f.

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Da Forschung nicht objektiv ist und sein kann und die Vorannahmen der Forscherin ebenso wie ihre eigene Positionierung und ihre persönlichen Erfahrungen im Feld in die Forschung einfließen – bei allem eigenen Anspruch, möglichst wertungsfrei zu arbeiten – schien es mir geboten, zunächst kurz meinen eigenen Hintergrund sowie meine eigenen Erfahrungen zu schildern, bevor ich die wissenschaftlichen Ergebnisse meiner Forschung darlege.

3.2. Die teilnehmende Beobachtung der literalsinnorientierten sunnitischen und freicharismatischen Gemeinden Den im theoretischen Teil dargelegten Prämissen folgend, besuchte ich mehrere literalsinnorientiert-freicharismatische und literalsinnorientiert-sunnitische Gemeinden in verschiedenen deutschen Großstädten. Literalsinnorientiert meint, wie vorher dargelegt, dass die Gemeinden einer wörtlichen Schriftenbzw. Quellenauslegung folgen und ihre Glaubens- und Lebenspraxis nah an ihrem dementsprechenden Schriftverständnis orientieren. Ich habe diesen Begriff, wie ich in der Einleitung dargelegt habe, in Abgrenzung zu oft pejorativen, meines Erachtens ungenauen und durch Medien und Alltagsverständnis beeinflussten, sonst für diese religiösen Strömungen üblichen Termini gewählt,382 da er mir möglichst genau und gleichzeitig wertungsfrei(er) erschien. Ich nahm regelmäßig am Gemeindeleben der besagten Gemeinden teil. Bei der Durchführung der teilnehmenden Beobachtung habe ich mich unter anderem an Edith Franke und Verena Maske sowie an Andreas Feldtkeller orientiert.383 Meine teilnehmende Beobachtung war offen und unstrukturiert. Ich partizipierte an weitgehend allen Praktiken, insofern sie nicht ein explizites Bekenntnis zur jeweiligen Religion bzw. religiösen Strömung erforderten, von daher war das Kriterium der Teilnahme erfüllt. Besonders wichtig war mir die Trennung von Bewertung und Beurteilung; dafür erwies sich Feldtkellers Ansatz, die eigenen Gefühle nicht »auszublenden«, sondern diese wahrzunehmen, zu analysieren und sich »in einem zweiten Schritt« von diesen zu distanzieren, als sehr brauchbar.384 Zudem habe ich Recherchen in und über die betreffenden Gemeinden durchgeführt und durch Lektüre der von diesen empfohlenen Literatur von Büchern bis Erbauungsschriften und Broschüren sowie Internetpräsenzen und 382 So werden solche Strömungen auf islamischer Seite gerne als »salafistisch« oder »salafismusaffin«, auf christlicher als »evangelikal« bezeichnet. 383 Maske/Franke (2011), S. 105–134, und Feldtkeller (2013), S. 187–202, sowie zahlreiche Inhalte in seinen Lehrveranstaltungen. 384 Vgl. Feldtkeller (2013), S. 200, erstes Anführungszeichen in modalisierender Funktion.

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-foren weitere wertvolle Informationen gewinnen können. Nachfolgend seien zuerst einmal die Beobachtungen über die Gemeinden in ihren theologischen und strukturellen Grundzügen nach Religion geordnet dargelegt. Aufgrund der dringend gebotenen Anonymität muss auf konkrete Angaben zu Namen, Standorten und Mitgliedern der von mir beforschten Gemeinden verzichtet werden. Aus demselben Grund können an dieser Stelle viele Beobachtungen nicht explizit dargelegt werden; ihre Resultate sind jedoch indirekt in die Auswertung eingeflossen und waren von immensem Wert bei der Erschließung der Funktionen. Es soll aber versucht werden, die Gemeinden so genau wie möglich zu umreißen, und zwar zunächst in ihren religiösen Inhalten und anschließend in ihrer Organisations- und Sozialstruktur.

3.2.1. Die sunnitischen Gemeinden Ich habe für die Feldforschung sich inhaltlich und strukturell nahestehende sunnitische Gemeinden in deutschen Großstädten besucht sowie deren Mitglieder und Sympathisant_innen interviewt. Aus Gründen der Anonymität sind hier die Darstellungen zusammenfassend und allgemein gehalten. Die beforschten Gemeinden positionieren sich rechtsschulenungebunden und fühlen sich nach eigenen Aussagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet. Sie folgen nicht nur einer rechtsschulenungebundenen, sondern auch einer literalsinnorientierten Islamauslegung. Rechtsschulenungebunden heißt, dass eine Neuauslegung der Quellen, insbesondere des Koran und der Sunna, vorgenommen wird und die etablierten Auslegungen der madhahib, die islamischen Rechtsschulen, nicht angewandt werden. Die Gemeinden befinden sich damit in dem Spektrum des reformistischen Islam, welcher eine kritische Distanz bis völlige Ablehnung gegenüber den klassischen Rechtsschulen und den Wunsch, sich primär bis ausschließlich an den frühesten Quellen (Koran und Sunna) zu orientieren, hegt, und damit einhergehend die Forderung nach einem neuen idschtihad385 stellt. Dabei kann diese Ablehnung der traditionellen Rechtsschulen sowie des taqlid, der unhinterfragten Befolgung von deren Vorschriften, innerhalb der genannten Strömung(en) eine streng wortwörtliche (also literalsinnorientierte) Anwendung 385 Die selbstständige Ableitung islamischer (Rechts-)Normen aus den Quellen bzw., wenn diese nicht vorhanden sind, das Finden eigenständiger Beurteilungen, vgl. Ramadan (2004), S. 43: »This personal effort undertaken by the jurist in order to understand the source and deduce the rules or, in absence of a clear textual guidance, formulate independent judgements«. Im traditionalistischen, rechtsschulenkonformen Islam gilt dieser Prozess seit längerer Zeit als weitgehend abgeschlossen.

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des Korans und das Verbot von Neuerungen (bid’a386) nach sich ziehen oder aber eine in Ansätzen historisch-kritische Neuinterpretation von Koran und Sunna bedeuten. In den von mir beforschten Gemeinden, die ja literalsinnorientiert sind, lässt sich eher ersteres feststellen. Dabei wird eine Orientierung an den Frühzeiten des Islam angestrebt, insbesondere an den ersten Anhänger_innen des Propheten Mohammed, den alsalaf al-salih387, die als nachahmenswertes Vorbild gelten,388 woraus sich auch die Ablehnung späterer Quellenauslegungen (beispielsweise durch die Rechtsschulen), die ja nach dieser Frühzeit erfolgt sind, logisch ableiten lässt. Unter Berufung auf einen Hadith, welcher bei al-Buchari und al-Hadschdschadsch gleichermaßen überliefert wird, werden zumeist die ersten drei Generationen des Frühislam unter die al-salaf al-salih gezählt.389 Auch hier hängt es selbstverständlich wiederum vom Blickwinkel der oder des Auslegenden ab, wie diese ideale Gesellschaft der Altvorderen imaginiert und rekonstruiert wird. Das Spektrum reicht von dem Wunsch der Wiederherstellung einer Gemeinschaft, in denen Frauen sehr viel weitergehende Rechte als in heutigen islamischen Gesellschaften zugestanden haben sollen,390 bis hin zur Ablehnung sämtlicher Neuerungen (also sog. bid’a) und Reformen, die nicht wortwörtlich dem Koran und den Hadithen zu entnehmen sind, was zu einer Theologie und Glaubenspraxis führt, die von außen als »konservativ« bzw. »antimodern« wahrgenommen wird, jedoch ein genuines Kind der Moderne darstellt und keinesfalls mit einem traditionalistischen oder orthodoxen Islam gleichzusetzen ist.391

386 Der Plural von bid’a wäre bida’. 387 Bei der Übernahme arabischer Begriffe in lateinische Umschrift ergibt sich eine Vielzahl uneinheitlicher Schreibweisen. Ich schreibe bereits in den deutschen Sprachgebrauch übergegangenen Eigennamen und Begriffe wie der Prophet Mohammed, der Koran, die Hadithe in der im Deutschen gebräuchlichsten Form. Fremdwörter wie salaf, niqab, madhab hingegen klein, kursiv und in Anlehnung an den Islamwissenschaftler Schneiders »an der deutschen Rechtschreibung orientiert«, und ohne »diakritische Zeichen«, Schneiders 2014, S. 24. 388 Vgl. Ramadan (2004), S. 25. 389 Vgl. Schneiders (2014), S. 13. 390 Ein Beispiel für diese Denkrichtung wäre z. B. Amina Wadud, die Methoden dieser Strömung anwendet, um ihren »gender jihad«, ihren Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter, zu führen. 391 Vgl. dazu Bauer (2011), der in der modernen Hinwendung zu einer islamischen Frühzeit eine Reaktion auf die Konfrontation mit der westlichen Moderne und den Ausdruck einer »antitraditionalistischen, ambuguitätsifeindlichen Haltung« sieht, S. 58ff., wörtliches Zitat von S. 61. Dabei verortet er die Motivlage dahinter in einer Ambivalenz oder Ablehnung der »eigenen Geschichte« gegenüber, die zu einer »Ambiguitätsintoleranz« führe, »die mit den ambuigitätsintoleranten Elementen der westlichen Moderne korrespondiert und deshalb weit besser als die traditionelle Position imstande ist, mit westlichen Positionen zu kommunizieren« – sei es diesen gegenüber positiv oder negativ eingestellt, vgl. S. 59.

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Der idealen islamischen Urgemeinschaft gegenüber gestellt wird zumeist die dschahiliya. Damit ist grundsätzlich erst einmal die Zeit der Unwissenheit und Ungläubigkeit vor dem Erscheinen Mohammeds gemeint, manchmal wird der Begriff aber auch auf die gegenwärtige Situation in den muslimischen Ländern angewandt, wo sich nach Ansichten mancher Reformer_innen der Mainstream nicht islamisch »korrekt« verhält und auch der Staat selber unislamisch gelenkt wird. Der traditionelle Islam und damit der praktizierte Islam in den meisten islamischen Ländern wird nicht nur wegen der Rechtsschulengebundenheit und des taqlid abgelehnt. Besonders der sufistische und Volksislam mit Heiligenund Gräberverehrung wird scharf kritisiert, da diese Praktiken shirk, also die Beigesellung anderer Götter zu Allah, darstellen. Dem entgegengesetzt ist das zentrale Schlüsselprinzip des tawhid, der absoluten Einheit Gottes. Sogar noch stärker abgelehnt werden meiner Erfahrung nach allerdings liberal-reformistische Islamströmungen, welche sich um eine historisch-kritische Quellenauslegung bemühen, sowie die diversen schiitischen Strömungen. Zudem spielt in der genannten Strömung und auch in den von mir beforschten Gemeinden die da’wa, die Mission, eine Rolle. Ziel der Mission sind dabei nicht nur Atheist_innen und Andersgläubige, sondern auch und gerade traditionell- und kulturislamisch geprägte (sunnitische) Menschen, denen es nach Ansicht der Missionierenden oft an »richtiger« Frömmigkeit mangelt. Allerdings wird die von manchen literalsinnorientierten Predigern durchgeführte Praxis, andere Muslim_innen zu kuffar, Ungläubigen, zu erklären, in den von mir beforschten Gemeinden meist kritisch betrachtet, weil der Akt des takfir392 eine Anmaßung darstelle, da nur Gott selber dem Menschen ins Herz schauen und dessen Gesinnung ermitteln kann. Ohnehin wird mehr darauf geachtet, muslimische Menschen auf den richtigen Weg zu bringen, anstatt sie einfach zu verurteilen;393 sie werden zwar kri392 Der Akt, eine Person als »ungläubig« bzw. vom Islam abgefallen zu erklären. 393 Nach meinen Beobachtungen zeigen die Ermahnungen, islamische Pflichten nicht zu vernachlässigen, und das Androhen teils drakonischer Strafen im Jenseits bei muslimisch sozialisierten, aber wenig oder gar nicht praktizierenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen große Wirkung. Im Gegensatz zum traditionellen Islam ihrer Herkunftsgemeinden und -familien wird hier nämlich nicht über sozialen Druck und simple Vorschriften gearbeitet, die nicht hinterfragt werden dürfen und oft eher Widerspruchsgeist herausfordern. Stattdessen wird, in sehr modern-individualistischer Form, an das Gewissen jeder und jedes Einzelnen appelliert. Ich habe muslimischstämmige, wenig praktizierende junge Menschen erlebt, die nach einer bewegenden Ansprache darüber, dass niemand Externes vorschreiben könne, sich an die Gebote zu halten, sondern dass es die Gewissenentscheidung jeder einzelnen Muslim_in sei, anfingen, in Tränen der Reue auszubrechen und die Befolgung der islamischen Pflichten zu geloben. So wird die Befolgung der Gebote zur persönlichen Entscheidung und entspringt nicht mehr dem Gehorsam gegenüber Eltern und Imamen. Gleichzeitig wirkt die Unterlegung durch Suren und Hadithe, die leicht einsehbar sind, überzeugender als das Postulieren von Vorschriften, deren

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tisiert, es wird jedoch auch klar gemacht, dass zu tiefe Gräben dem weltweiten (sunnitischen) Islam mehr schaden als nützen. In den von mir geführten Gesprächen bezeichneten sich tatsächlich auch einige der Frauen als Anhängerinnen einer der vier Rechtsschulen, meist der des Landes, dem die ersten muslimischen Kontaktpersonen bzw. Ehepartner angehörten, wobei jedoch im Gespräch oft ergänzend hinzugefügt wurde, dass dies eher ein »Tendieren« zu einer bestimmten Rechtsschule denn ein hauptsächliches oder alleiniges Befolgen einer solchen darstelle.394 Ganz klar positionieren sich die Gemeinden auch gegen Streitigkeiten und Rivalitäten zwischen den Rechtsschulen und ihren Vertreter_innen wie auch gegen einen »ethnischen« Islam; einend sei die Identität »Muslim_in« und nicht die Affinität zu einer der madhabib oder gar zu einer Ethnie. Generell wird also von Seiten der Gemeindeleitung wie auch der Mitglieder versucht, einen kultur- und rechtsschulenübergreifenden Islam zu propagieren, der sich an den Frühzeiten des Islam orientiert und von der Tradition weitgehend losgelöst ist. Rezipierte Autor_innen gehören zumeist dem literalsinnorientierten reformistischen Flügel des Islam an; auch Prediger und Lehrer entstammen fast immer diesem Spektrum. Letzere propagieren je nach individueller Ausrichtung eine strikte Glaubens- und Lebenspraxis, welche sich an einer literalsinnorientierten Quellenauslegung orientiert, aber aktiv Allianzen mit anderen Religionen und politisch eher wertkonservativ gesonnenen Kräften sucht und bei der zu gesamtgesellschaftliches Engegament aufgefordert wird, oder aber eine friedliche, jedoch klar von Nicht-Muslim_innen getrennte Koexistenz, wobei die Übergänge fließend sind. Insgesamt kann gesagt werden, dass sich die zuständigen Imame immer wieder klar gegen einen politischen dschihad und Gewalt positionieren. Ein zentrales Anliegen der religiösen Leitungsfiguren stellt die Aufforderung der Hinwendung bzw. Rückkehr zu einem gläubigen, gottgefälligen Leben dar, dabei setzen die Gemeindeleitungen zumeist auf die Kontrolle durch das eigene Gewissen in Abgrenzung zu der externen Kontrolle durch Familie oder Gemeinde und untermauern ihre Vorgaben durch passende Koranund Hadithzitate. Aus diesen sowie aus der Berufung auf die al-salaf al-salih und Herkunft oft nicht nachvollziehbar ist – entweder, weil diejenigen, die sie verordnen, selber nicht um deren Begründung wissen (z. B. im Falle der Weitergabe eines traditionalistischen Islam durch die Familie), oder aber, weil sie es nicht für nötig halten, diese mitzugeben (z. B. bei der religiösen Unterweisung in vielen Moscheen). Zudem kann sich jede_r schnell, vielfach sogar online, von der Richtigkeit von Suren und Hadithen überzeugen bzw. diese zitieren; der aufwendigere Weg über Rechtsgelehrte, Rechtsschulen und deren fatwas entfällt hierbei, oft werden im Schnellverfahren von den betreffenden Gelehrten eigene fatwas ausgestellt. 394 Möglicherweise dienten solche Aussagen manchmal auch der Herstellung eines eheinternen Konsens’ – in der Praxis war nämlich von einer Orientierung an den Rechtsschulen oft wenig zu merken.

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die Wegbereiter und zeitgenössischen Vertreter des literalsinnorientierten reformistischen Islam leiten sie die energische Verurteilung von shirk und bida’ ab, betonen jedoch die Notwendigkeit einer friedlichen Überzeugung und Missionierung von Muslim_innen und Andersgläubigen und rufen dazu auf, auch nicht-muslimische Menschen mit Respekt zu behandeln. Nach diesem kurzen Überblick über die religiösen Inhalte der Gemeinden möchte ich nun deren äußere Struktur beschreiben. Die muslimischen Gemeinden verfügen neben Moscheen oder Räumen, die als Moschee genutzt werden, zumeist auch über Räumlichkeiten, die als Treffpunkt und Unterrichtsort dienen. Die Gemeinden werden durch Spenden und Mitgliedsbeiträge ihrer Mitglieder, aber auch von Organisationen und Einzelpersonen aus In- und Ausland finanziert, teilweise auch durch Sachspenden. Die Gemeinden verfügen in unterschiedlichen Größenordnungen über Unterrichtsräume, Büros, und Räume für das gesellige Beisammensein. In den Gemeinden, in denen ich Feldforschung betrieb, wurden oft neben Vorträgen und/oder Kursen für Erwachsene in islamischer Lehre und Lebensführung auch Veranstaltungen und/ oder Freizeitangebote nur für Frauen oder Männer sowie teilweise auch für Kinder oder Jugendliche, letztere nach Geschlechtern getrennt, angeboten. Die Gemeinden versuchen offensichtlich, ein möglichst breites Spektrum an Bedürfnissen ihrer Mitglieder islamisch konform abzudecken. Dabei wird auf die Vernetzung der Mitglieder viel Wert gelegt, gleichzeitig wird versucht, den meisten Veranstaltungen einen islamischen Inhalt zu geben. Es gibt sowohl geschlechtergetrennte Veranstaltungen wie auch geschlechtergemischte, bei denen allerdings in der Regel eine räumliche Trennung vollzogen wird, auch in den Moscheen werden Männer und Frauen unabhängig von ihrem Verhältnis zueinander getrennt. Die Mitgliederzahl ist in der Regel schwer zu ermitteln, da die Anzahl der offiziellen Mitglieder geringer ist als diejenige der regulären Nutzer_innen. Zudem nutzen viele Mitglieder und Sympathisant_innen lediglich einen Teil der Angebote, z. B. entweder die geselligen Zusammenkünfte, oder die Vorträge oder Predigten in der Moschee. Ich würde jedoch die Zahl der Teilhabenden, Kinder mit eingerechnet, je nach Gemeinde auf ca. 80 bis 250 schätzen. Auffällig ist in allen Gemeinden der hohe Anteil deutschstämmiger Konvertierter, insbesondere von Frauen. Die Geburtsmuslim_innen haben bei beiden Geschlechtern oft einen »Re-Islamisierungs«-Prozess hinter sich, d. h., sie waren vorher traditionelle bzw. Kulturmuslim_innen und haben durch ihre Teilnahme am Gemeindeleben einen Transformationsprozess durchlaufen, der teilweise schon einer Konversion ähnelt, bzw. der nach Andreas Feldtkellers Modell als »Inversion« zu bezeichnen wäre. Die Mehrzahl der Partizipierenden ist unter 45; fast alle Gemeindemitglieder sind verheiratet, was sicherlich auch am Verbot vorehelicher sexueller Bezie-

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hungen liegt, und die Mehrheit hat Kinder. Dabei sind die meisten weiblichen Konvertierten mit Geburtsmuslimen, meist mit Migranten der ersten Generation, verheiratet, die männlichen deutschstämmigen Konvertiten hingegen oft mit anderen deutschen Konvertitinnen. Ehen von Mitgliedern und Sympathisant_innen der von mir besuchten Gemeinden mit Andersgläubigen sind mir nicht bekannt – im Falle der Musliminnen wäre dies nach der MainstreamMeinung im Islam ohnehin verboten. Männliche Muslime dürften zwar theoretisch gläubige Christinnen oder Jüdinnen heiraten, aber auch diese Fälle sind mir nicht begegnet, wiewohl einige der anwesenden Konvertitinnen erst nach ihrer Verehelichung zum Islam konvertiert und vorher praktizierende Christinnen gewesen waren.

3.2.2. Die freicharismatischen Gemeinden Nach dieser Beschreibung der islamischen Strömung sowie der von mir konkret beforschten Gemeinden möchte ich nun zu der christlichen Hälfte meines Dissertationsprojektes übergehen. Da Gemeinden mit sehr großen strukturellen, inhaltlichen und theologischen Übereinstimmungen gewählt wurden, werden nachfolgend alle Aussagen über »die Gemeinden« im Plural getroffen. Es handelt sich in allen Fällen um unabhängige und großstädtische Gemeinden, die in den Achtzigern gegründet wurden und dem literalsinnorientierten und zugleich freicharismatischen evangelischen Spektrum angehören. Literalsinnorientiert heißt, dass sie sich an dem wörtlichen Sinn der Bibel orientieren und eine historisch-kritische Exegese weitgehend ablehnen. Hinweise auf die literalsinnorientierte Theologie der Gemeinden finden sich bereits auf deren Homepages, die die Ausrichtung am biblischen Wort betonen. Ich kann nach dem Hören vieler Predigten, den Gesprächen mit Gemeindemitgliedern und der Sichtung der empfohlenen bzw. käuflich zu erwerbenden Literatur diese ersten Eindrücke bestätigen. Zwar gibt es gelegentlich Ansätze zu historisch-kritischer Exegese, aber in einem sehr begrenzten Rahmen und oft eher auf bestimmte historische Daten oder einige Bibelstellen bezogen, die nicht zu den theologischen Grundsätzen der Gemeinden passen (z. B. Jesu kritische Aussagen zu Reichtum oder das Verbot für Frauen, zu predigen). Ansonsten gibt es unter den Gemeindemitgliedern Abstufungen hinsichtlich des Grades der Ablehnung historisch-kritischer Exegese; während einige durchaus zustimmen, dass gewisse Aussagen historisch oder symbolisch gelesen werden müssen, tendieren gerade hochrangige Gemeindemitglieder oft eher zu einer strikten Orientierung an der Wortwörtlichkeit der Bibel. Dies äußert sich beispielsweise auch darin, dass nahezu alle Mitglieder Kreationist_innen sind.

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Gleichzeitig sind die Gemeinden, wie bereits erwähnt, charismatisch ausgerichtet, was bedeutet, dass sie pfingstlerisch beeinflusst sind und »Charismen« praktizieren. Dabei bezeichnen die Charismen im entsprechenden Sprachgebrauch »bestimmte Formen von geistgewirkten, wunderhaften Phänomenen«, die insbesondere in Pauli 1. Korintherbrief und dem Römerbrief erwähnt werden.395 Darüber hinaus werden vor allem in den hier untersuchten freicharismatischen396 Bewegungen noch andere, von Paulus nicht erwähnte Charismen praktiziert bzw. anerkannt. Umgekehrt spielen nicht alle von Paulus aufgelisteten Charismen gleichermaßen eine Rolle in der charismatischen Bewegung.397 An dieser Stelle sei, um Begriffsverwirrungen vorzubeugen, erwähnt, dass es neben der klassischen Pfingstbewegung, der ältesten charismatischen Bewegung überhaupt, und den selbstständigen charismatischen (»freicharismatischen«) Gemeinden auch eine pfingstlerisch inspirierte charismatische Bewegung innerhalb eigentlich nicht-charismatischer Volks- wie auch Freikirchen gibt. Die charismatische Bewegung als Ganzes, die alle vorher genannten Strömungen umfasst, ist also nicht immer literalsinnorientert (es gibt bspw. auch innerhalb der Katholischen Kirche eine charismatische Bewegung), die freicharismatischen Gemeinden sind es jedoch in der Regel schon. Außerdem sind die charismatischen Bewegungen, die innerhalb ihrer Mutterkirchen bzw. -gemeinden verbleiben, in ihrer Theologie an diese gebunden, während die Freicharismatiker autonom agieren (können). Um die einen von den anderen abzugrenzen, sei nachfolgend der Terminus »charismatisch« verwendet, um die gesamte Bewegung zu bezeichnen, die Charismen praktiziert (d. h. inklusive der innerkirchlichen/-gemeindlichen charismatischen Bewegungen und der Pfingstkirchen), und »freicharismatisch«, um die explizit charismatischen, unabhängigen Gemeindegründungen innerhalb der dritten charismatischen Welle zu charakterisieren,398 die keiner Mutterkirche zugeordnet sind und autonom agieren.399 395 Vgl. Kern (1998), S. 46. Die bei Paulus genannten Charismen bzw. »Gaben des Geistes« umfassen »Weisheit zu vermitteln«, »Erkenntnis zu vermitteln«, »Glaubenskraft«, die »Gabe, Krankheiten zu heilen«, »Wunderkräfte«, »prophetisches Reden«, die »Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden«, »verschiedene Arten von Zungenrede« und die »Gabe, sie [die Zungenrede, Anm. der Autorin] zu deuten« (1. Kor. 12, 8–10), vgl. die Bibel, Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift ( (2007), S. 1277, aber auch die »Gabe des Dienens«, die zum »Lehren«, zum »Trösten und Ermahnen« sowie zum Geben, Vorstehen und zur »Barmherzigkeit« (Röm. 12, 6–8), vgl. die Bibel, Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (2007), S. 1262. 396 Gemeinden, die von Mutterkirchen unabhängig sind, bezeichnet Kern in Abgrenzung zu etablierten Pfingstkirchen wie auch innerkirchlichen charismatischen Bewegungen als »freicharismatisch« bzw. »neopfingstlerisch«, vgl. Kern (1998), S. 33. 397 An dieser Stelle ist mit »charismatischer Bewegung« die Gesamtheit der Bewegungen gemeint, die Charismen praktiziert, also auch die innerkirchlichen/-gemeindlichen. 398 Vgl. dazu auch Storck (2008), S. 16 und S. 28. Nach Zimmerling (2001) hingegen würden sie unter die Kategorie »[u]nabhängige neopfingstlerische und charismatische Gemeinden

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Die von mir beforschten Gemeinden gehören der letzten Gruppe an, weswegen ich sie als freicharismatisch definiere. Dies deckt sich auch am besten mit dem nach außen hin präsentierten und nach innen hin gelebten Selbstverständnis der Gemeinden. Sich selber bezeichnen die Gemeinden wahlweise als evangelisch, freikirchlich und/oder charismatisch, manchmal auch als evangelikal, stellen aber trotz nachfolgend genannter Differenzen auch gelegentlich implizite und explizite Bezüge zur Pfingstbewegung her. In Abgrenzung zu den klassischen Pfingstkirchen, die einen mehrstufigen Heilsweg vertreten,400 und für die zumeist die Zungenrede (bzw. je nach pfingstlerischem Zweig auch andere Charismen) zum Kriterium für die Geistestaufe (d. h. die Taufe/Erfüllung durch den Heiligen Geist in Abgrenzung zur Wassertaufe) wurde,401 wird in den von mir beforschten Gemeinden die Zungenrede nicht als Charakteristikum der Geistestaufe verstanden, und es wird auch kein mehrstufiger Heilsweg gepredigt. Die Geistestaufe wird in den von mir besuchten Gemeinden zwar bejaht – und zumindest intern auch als Geistestaufe und Werke« (im Original kursiv) fallen, die er von denen der »Dritten Welle« unterscheidet, wiewohl er konstatiert, dass die »Grenzen zwischen den unabhängigen neopfingstlerischen und charismatischen Gemeinden und Werken und denen der ›Dritten Welle‹ […] fließend« seien. 399 Die pfingstlerische Bewegung hat als die ältere in den etablierten Denominationen und Kirchen zur Entstehung von innerkirchlichen/-gemeindlichen »charismatischen Bewegungen« geführt, auch in der Landeskirche. Jung sieht, wie auch andere Expert_innen, den Unterschied zwischen beiden Strömungen darin, dass die Pfingstbewegung eine eigenständige theologische, von den traditionellen Kirchen losgelöste Bewegung darstelle, während die charismatische Bewegung als »transkonfessionelle Bewegung« (S. 157) versuche, innerhalb der jeweiligen Mutterkirche (z. B. der evangelischen Landeskirche) pfingstlerische Einflüsse einzubringen, ohne die Anbindung an diese aufzugeben, vgl. Jung (2001), S. 153ff. Die insbesondere in den Achtzigern entstandenen neue Gemeindegründungen, die sich keiner der beiden Definitionen mehr zuordnen ließen, stuft Thomas Kern wegen ihrer Struktur und ihrer Unabhängigkeit von einer Mutterkirche als »freicharismatisch« bzw. »neopfingstlerisch« ein, vgl. Kern (1998), S. 33. 400 Der Terminus des Heilsweges stammt von Hollenweger (1969), S. 26. Das für die (große Mehrheit der) Pfingstler_innen wichtige Konzept des stufenweisen »Heilsweges« umfasst die Komponenten »Bekehrung«/»Wiedergeburt«, »Heiligung« und »Geistestaufe«, Hollenweger (1969), ebd., im Original sind alle Begriffe außer »Wiedergeburt« kursiv. Theologisch wurde bis »etwa 1908« ein dreistufiges Schema gelehrt, bei dem neben den auch in nicht-pfingstlerischen »Heiligungskirchen« gelehrten Stufen Bekehrung bzw. Wiedergeburt (diese beiden Begriffe werden von deutschsprachigen Autoren synonym verwendet, vgl. Hollenweger [1969], S. 26, und Jung [2001], S. 159), und Heiligung als dritte Stufe auf dem Weg zu Gott die Geistestaufe hinzugefügt wurde, vgl. Hollenweger (1969), S. 25. Bald darauf spaltete sich die Pfingstbewegung, als der geistgetaufte Prediger Durham »unter baptistischem Einfluß« postulierte, dass der Mensch durch seine Bekehrung auch geheiligt würde, es also nur zwei Stufen: Bekehrung und Geistestaufe, gäbe, vgl. Hollenweger (1969), S. 25. Durhams Zweistufenschema wurde im Laufe der Zeit zum Mehrheitscredo innerhalb der pfingstlerischen Bewegung, vgl. Jung (2001), S. 159f. 401 Vgl. Jung (2001), S. 161, der die Verantwortung dafür bei Durhams Schüler Parham sieht.

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bezeichnet402 – aber zeitlich nicht näher eingegrenzt: sie kann das Moment der Bekehrung markieren, aber auch von diesem durch einen längeren Zeitraum getrennt sein. Entscheidend ist das, was im literalsinnorientierten christlichen Spektrum klassischerweise als »Bekehrung/Wiedergeburt« bezeichnet wird, nämlich die bewusste Hinwendung zu Gott. Hierin folgen die Gemeinden einem in vielen literalsinnorientierten Kreisen verbreiteten Schema.403 Zudem wird im Gegensatz zu den meisten klassischen pfingstlerischen und vielen literalsinnorientierten Denominationen die Erwachsenentaufe zwar favorisiert, aber nicht verbindlich gefordert – ehemalige Mitglieder der Landeskirche beispielsweise lassen sich meist, aber nicht immer erneut taufen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die von mir beforschten Gemeinden zum charismatischen Flügel innerhalb des evangelischen literalsinnorientierten Spektrums gehören,404 und hier wiederum zum freicharismatischen, da sie keinen Teil der innerkirchlichen bzw. innergemeindlichen charismatischen Bewegung darstellen. Was die Eigendarstellung nach außen hin anbelangt, fällt auf, dass explizit charismatisch geprägtes Vokabular im Dialog mit anderen Denominationen zumeist eher sparsam verwendet wird. Ein Grund dafür könnte sein, dass keine faktischen oder angestrebten Allianzen mit nicht-charismatischen Freikirchen gefährdet werden sollen.405 Allerdings finden diese Allianzbestrebungen ihre Grenzen bei strikt anticharismatischen Denominationen wie den Brüdergemeinden, die als stete Abgrenzungsfolie herangezogen werden, während die Landeskirchen, insbesondere die Katholische Kirche, zumeist nicht als valide Allianzpartner oder gerade im Falle der letzteren oft gar nicht mehr als christlich wahrgenommen werden. Ob Mitglieder nicht-literalsinnorientierter Kirchen überhaupt als Christ_innen bezeichnet werden, hängt nicht von der Erwach402 Tatsächlich werden Termini, die bei anderen literalsinnorientierten Christ_innen auf Ablehnung stoßen, in öffentlichen Statements weitgehend vermieden. 403 Vgl. dazu auch Jung (2001), S. 160f. 404 Die deutsche literalsinnorientierte Bewegung steht der Frage, ob explizit pfingstlerische und charismatische Denominationen oder Gemeinden Teil der literalsinnorientierten Bewegung sind, ambivalent gegenüber. Das steht im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, wo diese Einbettung als selbstverständlich empfunden wird. Einen Grund dafür stellt die Berliner Erklärung von 1909 dar, in der die aufkommende Pfingstbewegung von Seiten literalsinnorientierter Christ_innen scharf verurteilt wurde, vgl. Jung (2001), S. 159. Dieser plädiert jedoch dafür, die Pfingstbewegung wie auch die diversen charismatischen Bewegungen »wegen ihrer theologischen Grundpositionen, die sich weitgehend mit denen der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) decken« (ebd., S. 153), zu dem zu zählen, was er als »evangelikales« Christentum bezeichnet und ich als »literalsinnorientiertes« definiere. 405 Zu den Problemen der literalsinnorientierten nicht-charismatischen Freikirchen mit »den (klassischen) Pfingstlern« (S. 163) und der vorsichtigen Annäherung an die charismatischen Gemeinden, die im Mülheimer Verband organisiert sind (diesem gehören Gemeinden an, die kein Stufenschema vertreten, von der klassischen Pfingstbewegung differierende Ansichten zur Geistestaufe hegen und daher mit der restlichen literalsinnorientierten Bewegung kompatibler sind), vgl. Jung (2001), S. 160ff.

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senentaufe, sondern von der Ernsthaftigkeit und Strenge deren Glaubens ab, letztere werden jedoch oft eher angezweifelt. Überhaupt sieht man sich eher in Allianz mit charismatikerfreundlichen literalsinnorientierten Denominationen und Gemeinden oder deren innergemeindlichen charismatischen Bewegungen als mit der volkskirchlichen charismatischen Bewegung. Als Gegenspieler wird vor allem der Islam wahrgenommen, der als direkte Konkurrenz und zumeist als dämonisch geleitet empfunden wird. Eines der Hauptziele der von mir besuchten Gemeinden ist die Mission unter Muslim_innen, aber auch die Mission unter Atheist_innen, während das Interesse an innerchristlicher Missionierung eher gering ist, entweder, weil diese bereits literalsinnorientiert und damit gerettet, oder aber nach Ansicht vieler Gemeindemitglieder lediglich nominell-christlich und damit verloren sind.406 Insgesamt speist sich das Missionsverständnis aus der Auffassung, dass nur die bewusste Hinwendung zu Gott zählt und »individuelles Heil ausschließlich durch das Bekenntnis zu Jesus Christus erlangt werden«407 kann, daher liegt die Wichtigkeit der Mission auf der Hand. Tatsächlich wird diese als unbedingte Notwendigkeit und primäres Anliegen sowie als wichtigster Dienst am Mitmenschen verstanden;408 soziale bzw. karitative Tätigkeiten geraten dabei tendenziell in den Hintergrund. In den von mir besuchten Gemeinden finden sich oft Lehrmeinungen, die dem prosperity gospel entnommen sind, bei einigen Prediger_innen finden sich zudem Anleihen einer Word of Faith-Theologie. Meine Deutung hinsichtlich der theologischen Ausrichtung der Gemeinschaften wird durch eine Analyse der empfohlenen Literatur erhärtet; hierbei handelt es sich oft um Übersetzungen US-amerikanischer Autor_innen. Besonders beliebt scheinen Joyce Meyer, Bill Johnson, Kenneth Hagin, John Elredge, Derek Prince, Beni Johnson, Tim Ruthven und Cindy Jacobs zu sein, also Autor_innen aus dem literalsinnorientiert-charismatischen Spektrum, die zumeist dem prosperity gospel bzw. der Word of Faith-Theologie nahestehen. Gersch definiert den prosperity gospel als eine »Subkultur […], der sich Gläubige aus verschiedenen Denominationen anschließen können«;409 er stelle also eine transdenominationale »Strömung

406 Christ_innen, die denken, dass sie einfach nur durch Zugehörigkeit zu einer Kirche bzw. durch die Kindertaufe gerettet sind, haben nach Ansicht dieser literalsinnorientierten Gemeinden zumeist gar keinen Ansporn, etwas zu ändern. 407 Petzke (2013), S. 302, Kursivsetzung im Original. 408 Vgl. zu der Priorisierung von »Evangelisation« Petzke (2013), S. 303, der diese grundlegende Missionsorientierung der literalsinnorientierten Bewegung mit deren eigenen Absichtserklärungen belegt, z. B. den »Deklarationen von Wheaton (1966) und Frankfurt (1970)«. 409 Vgl. Gersch (2013), S. 8. Denomination »bezeichnet in den USA eine religiöse Gemeinschaft«, ebd., Fußnote 5.

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innerhalb des evangelikalen Protestantismus« dar.410 Im Endeffekt bezeichnet prosperity gospel nichts anderes als die Vorstellung, dass Christ_innen nicht nur auf Gnade im diesseitigen, materiellen Sinne hoffen können, sondern dass ihnen diese sogar zusteht, und sie diese durch Glauben und positives Denken erlangen können.411 Das Word of Faith-Konzept ist dem prosperity gospel nahe verwandt (und wird daher von manchen Autor_innen mit diesem gleichgesetzt) und besagt, dass Worte, die ausgesprochen werden, Realität erschaffen (können); wer z. B. verkündet, dass er_sie gesund ist, wird auch gesund. Allerdings werden diese Konzepte in den von mir besuchten Gemeinden zumeist nicht explizit dargelegt bzw. befolgt, sondern es lassen sich eher indirekt Einflüsse durch Predigtinhalte oder Literaturempfehlungen feststellen.412 So werden geistiges und materielles Wohlergehen für die gläubigen Christ_innen zwar verheißen,413 gerade im Punkt materiellen Reichtums wird jedoch mit mehr Zurückhaltung gepredigt als bspw. in US-amerikanischen Denominationen bzw. Gemeinden. Mit dem attraktiven diesseitigen Heilsversprechen des prosperity gospel verwandt ist die Lösung des Theodizee-Problems auf eine einfache, aber dennoch nicht unwidersprüchliche Weise,414 wie sie in vielen freicharismatischen, auch den von mir beforschten, Gemeinden vorgenommen wird. Gott ist uneingeschränkt gut und den Gläubigen gegenüber wohlwollend gesonnen. Alles, was in der Welt von Übel ist und was den Gläubigen an Schlechtem widerfahren kann, wird Gottes Gegenspielern angelastet, dem Teufel und/oder Dämonen.415 Freilich ist damit das eigentliche Theodizee-Problem nicht gelöst, denn die Frage, wie Gott allmächtig sein kann, wenn er Böses zulässt, wird hier nicht beantwortet, interessanterweise nach meiner Erfahrung jedoch auch nicht aufgeworfen. Dafür wird das Versprechen eines stets gütigen Gottes – der im (neo-)pfingstlerischen Sprachgebrauch auch gerne als »Papa« bezeichnet wird – gegeben, der dadurch widerspruchsfrei geliebt werden kann, da er weder bestraft noch für Schlechtes verantwortlich ist. Zudem wird Gott sehr stark personalisiert: »Charismatische Christen besitzen einen übernatürlichen Bezie-

410 Vgl. Gersch (2013), S. 7. 411 Vgl. Gersch (2013), S. 8ff. 412 Dahinter stehen sicherlich auch Erwägungen, möglichst anschlußfähig für andere christlich-literalsinnorientierte Gemeinschaften zu sein, bei denen oft eher Sparsamkeit, Nächstenliebe und kritische Distanz gegenüber materiellen Werten gepredigt werden. 413 Vgl. auch Storck (2008), S. 136. 414 Interessanterweise hat sich die akademische Theologie der Pfingstbewegung des Theodizee-Problems bislang so gut wie gar nicht in expliziter Weise angenommen; vgl. Haustein/ Maltese (2014), S. 35f., Fußnote 70. Vgl. zur Theodizee-Frage auch Storck (2008), S. 120. 415 Vgl. Storck (2008), S. 120f., der in Bezug auf die von ihm erforschte Gemeinde schreibt: »Bei den charismatischen Christen in Heidelberg ist Gott ›nur‹ gut, alle problematischen Aspekte werden auf dämonische Mächte übertragen« (S. 120).

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hungspartner, der die Attribute eines ›perfekten‹ Vaters besitzt«416. In dieser Hinsicht kontrastiert das (neo-)pfingstlerische Gottesbild nicht nur mit dem der Landeskirchen, sondern auch mit dem derjenigen literalsinnorientierten Kirchen und Gemeinden, die an dem Bild des auch strafenden Gottes festhalten und/oder aber die Lehren des prosperity gospel wie auch den Anspruch auf physische Gesundheit der Gläubigen ablehnen – ein Beispiel hierfür bilden die Brüdergemeinden.417 Es muss betont werden, dass Aspekte der Lehre vom prosperity gospel auch in pfingstlerischen Kreisen kritisch diskutiert werden;418 dennoch kann festgestellt werden, dass zumindest die ganzheitliche Auffassung von Heil als Koppelung von seelischem und physischem Heil und Heilung ein wichtiges theologisches Element der alten wie der neuen Pfingst- und freicharismatischen Bewegung darstellt und auch in den von mir beforschten Gemeinden vorzufinden ist.419 Daraus resultiert ein sehr spezielles Krankheits- und Heilungsverständnis, welches mit dem der Landes- wie auch vieler Freikirchen kontrastiert, da Leid, Krankheit und andere Schicksalsschläge nach dieser Auffassung nicht Teil von Gottes Plan sind und daher auch nicht – wie in manchen anderen Konfessionen oder Denominationen – einen Aspekt von Gottes »unergründlichem Ratschluss« darstellen oder aber gar zur »Prüfung« der Gläubigen dienen. Um das Dilemma des dennoch kaum negierbaren Vorhandenseins von Krankheiten auch bei gläubigen Christ_innen aufzulösen, wird oft, wie bereits erwähnt, auf die Dämonenlehre zurückgegriffen. Die Dämonenlehre beruht auf dem Gedanken, dass die meisten, wenn nicht alle Entwicklungen, welche gesellschaftlich (z. B. politische Veränderungen, die nicht gottgefällig im Sinne der Gemeinden sind) oder individuell (z. B. Krankheiten) schädlich sind, dämonisch induziert sind. Das angenommene Ausmaß dessen, wie sehr Dämonen für Unglück verantwortlich sind, differiert dabei nicht nur von Gemeinde zu Gemeinde und Gemeindemitglied zu Gemeinde416 Storck (2008), S. 119. 417 Bei diesen Aussagen stütze ich mich auch auf Gespräche mit Mitgliedern von Brüdergemeinden. Zur Kontrastierung der »gesetzlichen« literalsinnorientierten Gottesbilder mit den charismatischen vgl. auch Storck (2008), S. 120. 418 Vgl. Haustein/Maltese (2014), S. 36. 419 Vgl. Haustein/Maltese (2014), S. 35. Dabei können zwei Modelle unterschieden werden: Ein »wesleyanisch-pfingstliches Heilungsmodell, das Heilung als Vorwegnahme der noch ausstehenden Vollendung der Erlösung im Eschaton ansieht, und ein finished-work-Modell, das Heilung als Aktualisierung der bereits am Kreuz vollendeten Erlösung auffasst«. Bei ersterem könnten »Heil und Erlösung […] als ein ständiger Prozess verstanden werden, der zwar durch Christus begründet wurde, aber durch den Heiligen Geist vollendet wird«, so dass eine »ausbleibende Heilung als Prüfung der eigenen Standhaftigkeit im Glauben und der Krankheitstod des Gläubigen als Bestehen jener Prüfung gedeutet« wird. Bei letzterem würden hingegen »Krankheit und ihre Symptome geleugnet oder kontrafaktisch als überwunden deklariert«, was eher dem Verständnis der von mir beforschten Gemeinden entspricht.

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mitglied, sondern auch innerhalb der geistlichen Autoritäten. Verfrühtes Ableben, wie auch altersuntypische schwere Krankheiten und Unfälle, beruhen also nach der dortigen Lehrmeinung zumeist auf, oft selbstverschuldeter, dämonischer Einwirkung. Eine große Rolle spielen hierbei sogenannte »Bindungen« – Verstrickungen von Personen mit dämonischen Kräften –, welche als Eintrittspforte zumeist ein sündiges Verhalten der »gebundenen« Person brauchen, wobei dieses lange zurückliegen kann. Allerdings können auch unbescholtene Christ_innen dämonisch verursachtem Unglück zum Opfer fallen. Durch Gebet oder ggf. Exorzismen wird versucht, dagegen vorzugehen. Dabei wird in manchen Gemeinden nicht nur für nach Ansicht der Gemeindemitglieder besessene Einzelpersonen oder Personengruppen gebetet, sondern auch für physische Gebiete – dies können Länder, Bundesländer, Stadtteile oder auch öffentliche oder private Gebäude sein. Anlässe für diese Gebete können kritisierte politische Entscheidungen und »Fehlentwicklungen«, Naturkatastrophen, aber eben auch persönliches Unglück sein. Teilweise werden auch Gewalterfahrungen auf die Gebundenheit der Betroffenen zurückgeführt. Wegen der hohen Bereitschaft, Unglücksfälle, Krankheiten oder andere unangenehme Ereignisse auf dämonischen Einfluss zurückzuführen (und diese wiederum oft auf sündiges Verhalten), kommt es teilweise zu einer gewissen Distanz gegenüber etablierten medizinischen und vor allem psychologisch-psychiatrischen Heilungsmethoden. In den von mir besuchten Gemeinden werden viele Charismen praktiziert; darunter vor allem die Zungenrede, die prophetischen Eindrücke und Heilungsveranstaltungen. Wie oben bereits erwähnt, nimmt die Geistestaufe einen gewissen Stellenwert ein, wird jedoch nicht zwingend an die Zungenrede, sondern eher an ein Gefühl der Erfüllung mit dem Heiligen Geist als Kriterium gekoppelt. Dabei entzieht sich die Geistestaufe der direkten menschlichen Einwirkung, da es sich eben nicht um einen menschlichen, sondern einen geistgewirkten Akt handelt. Allerdings versuchen die Gläubigen, dessen Eintreten durch das Schaffen entsprechender Bedingungen wie Gruppen- oder Einzelgebet und Handauflegen zu begünstigen.420 Für manche Menschen kommt der Akt der Geistestaufe allerdings spontan, stellt dann oft den Beginn einer Zuwendung zum charismatischen Glauben dar und fällt somit gelegentlich mit der Bekehrung bzw. Wiedergeburt zusammen. Der Empfang der spontanen Geistestaufe stellt insbesondere Mitglieder charismatikerkritischer literalsinnorientierter oder evangelischer Gemeinden mitunter vor schwere Glaubenszweifel, die dann oft erst Jahre später in einer Abwendung von der ursprünglichen Gemeinde und einer Hinwendung zum charismatischen Christentum münden. Nach der Geistestaufe berichten Gläubige von einer Erfüllung mit einer neuen Kraftquelle 420 Vor allem das inbrünstige Gebet wurde von den Gläubigen im Gespräch stets sehr hervorgehoben. Vgl. dazu auch Kern (1998), S. 74.

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und einer beständigen Leitung durch den Heiligen Geist: dem »Leben im Geist«421. Nicht alle Gemeindemitglieder in den von mir beforschten Gemeinden hatten die Geistestaufe empfangen; diese wurde wie gesagt als wertvoll, aber nicht unabdingbar erachtet. Das Zungenreden, welches auch in Form von Gesang auftreten kann und von den Gemeindemitgliedern meist als »in Sprachen reden/beten« bezeichnet wird, findet auch unabhängig von der Geistestaufe im Einzelgebet oder auch in Gebetsgruppen oder als Teil des Gottesdienstes statt. Ich selber habe oft erlebt, dass einzelne Gläubige vor der Gruppe in Sprachen beteten oder sangen, während andere entweder ebenfalls in Sprachengebete und -gesänge verfielen oder aber sich schweigend dazu bewegten. Einen weiteren wichtigen Teil gemeindlichen Lebens stellen die Heilungen dar, wobei Heilungsveranstaltungen je nach angenommener Ursache auch mit dem Versuch gekoppelt sein können, gegen dämonische Kräfte vorzugehen. In Gottesdiensten wird nicht nur für Kranke gebetet, sondern auch versucht, Heilungen vorzunehmen – sei es durch Handauflegen von Pastor_innen und Laien oder kollektives und individuelles Gebet. In manchen Gemeinden werden auch spezielle Heilungsveranstaltungen organisiert. Bei diesen können nicht nur Kranke persönlich vorbeikommen, sondern gelegentlich werden auch Gegenstände erkrankter Personen (oder aber Geschenke für diese) mitgebracht und quasi mit »Heilung« aufgeladen – unter Umständen auch ohne Wissen der betreffenden Person. Als Prophetien, Worte der Erkenntnis bzw. Eindrücke422 werden je nachdem in der Zukunft liegende Geschehnisse, geistgewirkte »Analysen« der Gegenwart, bzw. »jene[r] Bewußtseinszustand [bezeichnet], den die Charismatiker als göttliche Führung im Alltag erleben«.423 Zum Beispiel sprechen Personen mit der Gabe der Erkenntnis bzw. Prophetie im Gottesdienst ein bestimmtes Problem, ein vergangenes Erlebnis oder einen (meist negativen) Gemütszustand eines – ihnen bekannten oder meist sogar unbekannten – Gemeindemitglieds oder von Besucher_innen an, oder aber sie machen Vorhersagen für die Zukunft, oft ebenfalls personengebunden. Worte der Erkenntnis bzw. Prophetien nehmen oft die Form von Bildern an, welche die betreffende Person dann meist detailreich schildert, wodurch die Aussagen an Kredibilität gewinnen. Ein an den von mir erlebten Gemeindealltag angelehntes Beispiel wäre, dass ein Pastor oder ein Gemeindemitglied erwähnt, dass eine Person im Gottesdienst anwesend ist, welche an chronischen Schmerzen oder Eheproblemen verzweifelt. Meist wird 421 Kern (1998), S. 77. 422 Ich folge mit dieser Zusammenfassung der drei Aspekte Kern (1998), S. 157, im Original sind die drei Begriffe kursiv gedruckt. 423 Vgl. Kern (1998), S. 157. Anführungszeichen bei »Analysen« in modalisierender Funktion.

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im Anschluss Heilung oder Tröstung versprochen oder aber zum Gebet für diese Person aufgerufen. Prophetien wie auch Worte der Erkenntnis nehmen in den von mir besuchten Gottesdiensten einen breiten Raum ein und führen, wenn sie als zutreffend empfunden werden, bei Besucher_innen gelegentlich zu Konversionen. Eng verwandt damit sind die Eindrücke. Auch diese sind für das Alltagsleben der Charismatiker_innen höchst bedeutsam, stellt doch die permanente Führung durch den Heiligen Geist einen zentralen Aspekt des gläubigen Lebens dar. Dabei wird die Leitung durch den Heiligen Geist auch bei kleineren Angelegenheiten des Alltags erbeten und erfühlt. Hier decken sich meine Beobachtungen mit denen Kerns, der schreibt, »dass sich Gott [nicht] ausschließlich auf übernatürlichem Wege mitteilt; die göttliche Stimme kann auf viele Weisen sprechen, zum Beispiel über Lebensumstände, Situationen, Gespräche, Bücher, Träume, biblische Textpassagen etc.«424. Auch wenn theologische Differenzierungen zwischen diesen drei Konzepten existieren, werden sie in der Praxis meist vermischt erlebt und angewendet.425 Nach diesem kurzen Überblick über die religiösen Inhalte der Gemeinden sei nun deren äußere Struktur beschrieben. Die Gemeinden befinden sich in deutschen Großstädten und werden jeweils von Pastor_innen (in manchen Gemeinden finden sich weibliche) und Gemeinde- bzw. Ältestenräten geleitet, welche in der Regel hauptsächlich oder ausschließlich männlich besetzt sind, selbst wenn Frauen befugt sind, darin mitzuwirken. Die Gemeindegröße ist nur schwer ermittelbar, da nicht alle Teilnehmenden Mitglieder sind (im Gegensatz zu vielen landeskirchlichen Gemeinden gibt es hingegen kaum inaktive Mitgliedschaften). Ich würde jedoch die Zahl der aktiv Partizipierenden je nach Gemeinde auf ca. 100 bis 250 schätzen. Die Gemeinden verfügen über eigene Kirchen- und Gemeinderäume, die dem Bibelunterricht, dem Beisammensein, dem Musizieren oder Beten dienen. Die Gemeinden halten wöchentliche Gottesdienste, in der Regel mit wechselnden Prediger_innen, ab. Diese ähneln sich zumeist, dauern in der Regel ca. 100–120 Minuten und bestehen aus einem Predigtteil sowie Lobpreis- und Anbetungsliedern, Gebetsaufrufen, prophetischen Eindrücken und teilweise auch Filmsequenzen, etwa von Missionsprojekten oder ausländischen Partnergemeinden. Gottesdienste werden bunt und interaktiv gestaltet; das Vokabular ist modern, die Musik eingängig und einfach. Während der Gottesdienste werden Kinderbetreuungen angeboten, damit die Eltern ungestört dem Gottesdienst beiwohnen können.

424 Kern (1998), S. 161, Kursivsetzung im Original. 425 Vgl. dazu Kern (1998), S. 157.

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Außerdem bieten die Gemeinden Heilungsveranstaltungen und/oder Thementage bzw. Unterrichte zu christlichen Themen an. Es gibt hauseigene Bands und Musikprojekte, Jugendgottesdienste und Veranstaltungen für spezifische Zielgruppen, etwa Frauen, Kinder, Senior_innen, Eltern oder zukünftige Eheleute. Neben diesen zentralisierten Veranstaltungen bilden jedoch Hauskreise die Kerneinheiten der Gemeinden. Diese umfassen meist 5–15 Personen und werden von einer Person in deren Privathaushalt, seltener auch in Vereinsräumen o. ä., geleitet. Ziel ist es, eine enge Einbindung der Gemeindemitglieder in das Gemeindeleben zu erreichen, weshalb die Hauskreise in möglichst vielen verschiedenen Teilen der jeweiligen Städte angeboten werden. Dabei ist in den freicharismatischen Gemeinden auffällig, dass zwar angestrebt wird, sorgfältig ausgewähltes biblisches Wissen zu vermitteln, theologische Feinheiten aber eher wenig erörtert werden. Alle von mir befragten Gemeindemitglieder besuchten Hauskreise; dennoch waren explizitere Kenntnisse anderer christlicher Konfessionen oder christlicher Theologie außerhalb der von den jeweiligen Gemeindeleitungen gesetzten Schwerpunkte Gnadenlehre, Mission und Lebensführung oft nur wenig vorhanden. Tatsächlich wird, soweit ich das beobachten konnte, viel Wert auf die religiöse Bildung der Mitglieder gelegt; diese fokussiert sich aber zumeist auf das Lesen und Erlernen relevanter Bibelstellen, die Vermittlung gemeindekonformer Lebensführung mit besonderer Betonung auf Sexual- und Familienethik sowie Gebets-, Anbetungs-, Heilungs- und Missionspraktiken. Damit stellen die Gemeinden innerhalb des charismatischen und pfingstlerischen Spektrums jedoch keineswegs eine Ausnahme dar.426 Die Gemeinden bemühen sich insgesamt sehr, ihre Angebote niedrigschwellig und gut zugänglich zu halten, was sich insbesondere im Umgang mit Interessent_innen und in der Sprachwahl zeigt. Begriffe wie »Ehrengast« für Neuankömmlinge, Freigetränke oder Willkommensgeschenke für Neubesucher_innen nehmen letzteren etwaige Berührungsängste. Besucher_innen des Gottesdienstes werden oft persönlich begrüßt, Bibeltexte und Liedtexte laufen zum Teil auf Deutsch und/oder Englisch auf Leinwänden mit, manchmal werden auch Übersetzungen in andere Sprachen bereitgehalten. Insgesamt wird die Kontaktschwelle für Besucher_innen so niedrig wie möglich gehalten; die Gemeindemitglieder haben offensichtlich den Anspruch, jederzeit als Ansprechpartner_innen zu fungieren. Die zahlreichen Strategien, um Besucher_innen zu

426 Vgl. Petzke (2013), S. 310. Petzke, der sich dabei auf Reimer stützt, sieht unter anderem in der Individualisierung des Glaubens die Ursache für die wenig ausgeprägte pfingstlerische Theologie, s. auch S. 309: »Die Zentralität des persönlichen Glaubens, der über theologischer Expertise, Dogmatik und konfessionellen Grenzen steht, hat hier ebenso ihren Ursprung wie die Emphase auf intensives Gemeinschaftsleben im Zirkel von Gläubigen«.

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integrieren und möglichst effektiv neue Mitglieder zu gewinnen, führe ich auf starke Einflüsse der Gemeindewachstumsbewegung zurück.427 Die Gemeinden finanzieren sich über Spenden, welche auch direkt im Gottesdienst eingesammelt werden. Die von mir beobachtete Spendenfreudigkeit ist dabei extrem hoch, als Zielvorgabe wird in der Regel der »Zehnte« von der Gemeindeleitung genannt. Dieser Richtwert wird m. E. von den meisten Mitgliedern auch beherzigt, wenn nicht gar überschritten. Insgesamt wird der Betrieb sämtlicher Angebote durch ehrenamtliche Arbeit der Mitglieder ermöglicht, welche sich in Begrüßungsteams, im Verkauf von Getränken, Speisen und christlichen Schriften, in der Kinderbetreuung oder in den gemeindeigenen Bands engagieren. Die Mitglieder der betreffenden Gemeinden sind in der Mehrheit weiß, deutsch, der (unteren) Mittelschicht hinsichtlich Einkommen und Bildungsstand zugehörig, zwischen 20–40 Jahre alt und meist verheiratet und Eltern, was vermutlich auch daran liegt, dass außereheliche Beziehungen verboten sind und daher viele Gemeindemitglieder relativ jung heiraten. Meistens sind beide Ehepartner_innen Mitglieder der Gemeinden, entweder, weil sie sich dort kennengelernt haben, gemeinsam dorthin konvertiert sind oder eine_r der oder dem anderen nachgefolgt ist. Gelegentlich gibt es Ehen mit Partner_innen anderer christlicher Konfessionen oder gar mit Atheist_innen.428 Diese Ehen wurden in allen mir bekannten Fällen vor der Konversion einer der beteiligten Personen geschlossen und sind meist sehr krisengezeichnet. Der durchschnittliche Bildungsgrad auf Schulabschlüsse bezogen ist mittel (Realschulabschluss) bis hoch ([Fach-]Hochschulreife); Ausbildungsberufe wie Studienabschlüsse halten sich in etwa die Waage. Ich bin nur wenigen Ausreißern nach »unten« oder »oben« begegnet; Ungelernte bzw. Menschen ohne Schulabschluss sind ebenso wie Promovierte kaum vertreten.429 Geschätzte 15– 20 % der Mitglieder und Sympathisant_innen der Gemeinden sind Menschen, die in erster Generation nach Deutschland migriert sind oder sich temporär hier aufhalten; dabei überwiegen Menschen aus Afrika und Lateinamerika, also aus klassisch pfingstlerischen Missionsgebieten. Trotz der Betonung des gemein427 Vgl. Kern (1998), S. 96f. Der Begründer dieser Bewegung, der literalsinnorientierte Missionar Donald McGavran, versuchte durch eingehende Analysen Faktoren für das Wachstum von christlichen Gemeinden herauszuarbeiten und »Programme« für erfolgreiches Wachstum aufzustellen, wobei diese »Konzepte […] große Nähe zu populären Unternehmens- und Managementstrategien [sic!]« aufwiesen, wörtliche Zitate von S. 96, bei dem letzten S. 96f. 428 Ähnliche soziale Strukturen fanden Forscher_innen bei sozialstrukturellen Erhebungen im Schweizer literalsinnorientierten Milieu vor, vgl. Huber/Stolz (2017), S. 278ff., welche sich u. a. auf Studien von Stolz/Favre et al (2014a) und Stolz/Könemann et al. (2014b) berufen. 429 Dies ist auch insofern interessant, als die Pfingstbewegung traditionell eher eine Bewegung für ärmere und bildungsferne Schichten war.

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samen Glaubens tendieren die nationalen Gruppen dazu, unter sich zu bleiben, was auch für die deutschen Mitglieder gilt. Frauen und Männer sind in etwa gleich stark vertreten; es gibt keine Geschlechtertrennung in den Gottesdiensten oder Gemeindeveranstaltungen, die meisten Mitglieder sitzen nach Familien geordnet.

3.3. Die Interviews mit Konvertitinnen zum literalsinnorientierten sunnitischen und freicharismatischen Glauben Im vorigen Abschnitt habe ich die Resultate der teilnehmenden Beobachtung dargelegt, insbesondere, was Struktur und Inhalte der betreffenden Gemeinden anbelangt. Kern- und Mittelpunkt meiner Forschung waren jedoch die Interviews mit den Befragten, die aufgenommen und ohne sprachliche oder inhaltliche Glättungen transkribiert wurden. Die Interviews fanden mit deutschsprachigen, in Deutschland sozialisierten Konvertitinnen zum literalsinnorientiert-freicharismatischen Christentum und literalsinnorientiert-sunnitischen Islam aus den jeweils vorhergehend beschriebenen, sowohl intra- als auch interreligiös strukturell stark übereinstimmenden Gemeinden in verschiedenen deutschen Großstädten statt. Die Kriterien, nach welchen ich die Interviewpartnerinnen auswählte, seien hier aufgelistet. Die Interviewpartnerinnen mussten hauptsächlich in Deutschland sozialisiert worden sein, um zu gewährleisten, dass sie sich während ihrer Sozialisation in dem kulturellen Rahmen bewegt hatten, mit dem ich am besten vertraut bin. Man »muß […] etwas über kulturelle und subkulturelle Normalitätsfolien wissen, um erkennen zu können, was das Besondere an einem Fall ist«430. Zudem durften die Betreffenden erst als volljährige Personen endgültig konvertiert bzw. invertiert sein, womit mir gewährleistet schien, dass eine echte Konversion und nicht etwa die Übernahme elterlicher religiöser Vorstellungen gegeben war. Sie mussten also eine Konversion bzw. Inversion im Sinne meiner Konversionsdefinition, d. h. eine »radikale[…] Transformation der Weltsicht«431 vollzogen haben.432 Eine bloße äußerliche Zugehörigkeit bzw. der formale Akt der Konversion sind dabei

430 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 107. Auf S. 106f. geht sie ausführlich auf das notwendige Hintergrundwissen der Forscher_in für die Analyse der Fallstrukturen ein. 431 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88. 432 In diesem Zusammenhang habe ich Interviews verworfen, in denen lediglich formale Konversionen einem Partner zuliebe stattgefunden hatten oder solche, die auf spontanen Entscheidungen fußten, wenn diese keine Veränderung in der Glaubens- und Lebenspraxis der betreffenden Person nach sich gezogen hatten.

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Die Forschungsergebnisse

nicht ausreichend, um die hier verwendete religionswissenschaftliche Definition von Konversion zu erfüllen.433 Dabei war es mir aufgrund des begrenzten Zeitraums und des relativ kleinen Pools an zugänglichen Konvertitinnen wichtig, zunächst einmal alle verfügbaren Interviewpartnerinnen auch tatsächlich zu befragen. Daher verwarf ich bereits vorab lediglich Konvertitinnen, von denen ich wusste, dass sie den Hauptteil ihrer Kindheit und Jugend außerhalb von Deutschland verbracht hatten, sowie Frauen, die noch keine Konversion vollzogen hatten, sondern lediglich interessiert waren, und führte mit den anderen Frauen die Gespräche ohne eingehende Vorprüfung. Von dem ursprünglichen Sample an Interviews konnte ich am Schluss intensiv mit 20 Interviews arbeiten, bei denen die Gesprächspartnerinnen auch nach einer ersten Vorauswertung alle von mir aufgestellten Kriterien erfüllten. Abgesehen von den Interviews, die ich aus dem Sample entnehmen musste, weil die Interviewten eines oder mehrere der vorher genannten Kriterien doch nicht erfüllten, konnten ein Teil der Interviews aufgrund technischer Schwierigkeiten434 nicht analysiert werden. Mein Ziel war es, jeweils ungefähr zehn verwendbare Interviews pro religiöser Strömung zu Verfügung zu haben. Nach dem Ausscheiden der vorher genannten Interviews aus dem Sample blieben noch zehn muslimische Frauen: Mara, Franziska, Martina, Raschida, Edith, Khadidja, Hawwa, Nur, Arifa, Aziza (Pseudonyme) und zehn christliche Frauen übrig: Esther, Stella, Lena, Grete, Gerlinde, Luise, Corinna, Sabine, Camilla und Daniela (Pseudonyme). Ich verfremdete ihre persönlichen Daten, die Daten von anderen in dem Interview erwähnten Personen sowie besonders identifizierbare Details ihrer Schilderungen in dem Maße, dass sie für Außenund Fernerstehende nicht mehr identifizierbar waren, und wies ihnen Pseudonyme zu. Da die Betreffenden sowohl von der Mehrheitsgesellschaft unter scharfer Beobachtung stehenden Gruppierungen, als auch kleinen, sehr eng verbundenen Communitys angehörten, musste der tatsächlichen Anonymität der Befragten besonders große Sorge getragen werden. Das Gros der muslimischen Interviewten war zwischen 27–37 Jahre alt, mit einigen Ausreißerinnen nach oben, nämlich zwei Frauen Ende vierzig und einer 433 An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass dieses mangelnde commitment nicht nur der außenstehenden Betrachterin nicht auffallen würde, sondern tatsächlich auch gemeindeintern weitgehend unbemerkt zu bleiben schien, wenn sich die Betreffenden bei gelegentlichen Besuchen den dort vorherrschenden Normen gut anpassten und in Gruppengesprächen zurückhielten, wodurch ihr fehlendes Wissen zur Religion auch nicht auffiel. Es gibt Partner, die sich mit einer solchen bloß »formalen« Zugehörigkeit bzw. mit der Tatsache, dass ihre Ehefrauen sie zur Gemeinde begleiten, zufrieden geben. 434 Z. B., dass die Aufnahmequalität zu schlecht war oder Teile des Interviews vom Aufnahmegerät nicht aufgenommen worden waren.

Die Interviews mit Konvertitinnen

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Mitte Sechzigjährigen. Sechs Frauen waren verheiratet, der Rest geschieden. Mit Ausnahme einer geschiedenen Frau hatten alle Befragten bereits Kinder. Die verheirateten Frauen lebten mit ihren Ehepartnern zusammen; zwei hatten ebenfalls konvertierte Männer geheiratet, vier waren mit Geburtsmuslimen verehelicht. Sechs der Frauen studierten zum Zeitpunkt der Interviews noch oder hatten ihr Studium bereits erfolgreich abgeschlossen, die anderen verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Verglichen mit der Gesamtbevölkerung war der Bildungsstand unter meinen Befragten eher überdurchschnittlich hoch,435 was nicht nur einer zufälligen Zusammensetzung der Stichprobe geschuldet war. Tatsächlich war der hohe Bildungsstand der Konvertitinnen in den von mir beforschten Gemeinden auffällig, weit über die Hälfte hatte studiert oder war noch im Studium begriffen. Keine der Frauen arbeitete Vollzeit, drei arbeiteten Teilzeit, von den anderen war eine berentet, drei waren Hausfrauen und die anderen drei befanden sich in Weiterbildung oder Studium. Hingegen war die Beschäftigungsquote bei den Frauen nach meinem Eindruck nicht nur im Sample niedriger als im bundesdeutschen Durchschnitt, was sicherlich auch der Bevorzugung eines traditionellen Rollenmodells geschuldet ist.436 Bezüglich der Selbstverortung hinsichtlich der religiösen Ausrichtung definierten sich sechs der zehn Befragten als weitgehend oder komplett rechtsschulenungebunden (manche wiesen nach eigenen Angaben noch Tendenzen zu einer Rechtsschule auf) bzw. einfach nur »sunnitisch«, drei als malikitisch und eine als hanafitisch. Dies ist nicht weiter verwunderlich angesichts des Anspruchs der Gemeinden, einen Abbau der Spaltung in Rechtsschulen voranzubringen und dem Sympathisieren mit literalsinnorientierten Reformbestrebungen. Alle Befragten waren bereits seit mindestens 4 Jahren konvertiert, was einen Hinweis darauf liefert, dass die Konversion über die Konversionsentscheidung an sich hinaus eine (oder mehrere) längerfristige Funktion(en) in ihrem Leben eingenommen hatte. Die Zeiträume, die seit dem formalen Akt des Übertritts ungefähr vergangen waren, waren bei fünf Konvertitinnen 4–10 Jahre, bei der anderen Hälfte 13–20 Jahre (manchmal konnten sich die Konvertitinnen 435 Zu den Schulabschlüssen s. Statistisches Bundesamt (o. J.), unter https://www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Bildungsstand/Tabellen/Bildungs abschluss.html (allerdings nicht nach Geschlechtern getrennt), und zu den beruflichen Abschlüssen ebd., unter https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon?sequenz=tabelle Ergebnis& selectionname=12211-0041& transponieren=true (nach Geschlechtern unterschieden). »Bei den 30- bis 39-Jährigen« verfügen 27 % der Deutschen über einen Hochschulabschluss, vgl. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungFor schungKultur/Bildungsstand/Aktuell.html. 436 74,5 % der Frauen in Deutschland zwischen 20–64 waren 2016 berufstätig, vgl. Statistisches Bundesamt (2018), unter https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/BevoelkerungSozia les/Arbeitsmarkt/ArbeitsmarktFrauen.html.

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nicht auf ein genaues Datum festlegen, was das Prozesshafte der Konversion unterstrich). Alle Konvertitinnen waren jedoch volljährig zum Zeitpunkt der Konversion. Bezüglich der vorherigen Religiosität ergibt sich ein heterogenes Bild. Sechs der Befragten waren vor der Konversion zum Islam unreligiös, zwei katholisch, eine gläubig, ohne sich auf eine Religion festlegen zu können, und eine evangelisch. Rein von der formellen Zugehörigkeit hingegen waren vor der Konversion drei evangelisch, drei katholisch437 und die übrigen keiner Kirche zugehörig. Soweit zum muslimischen Sample. Das Gros der christlichen Interviewten war zwischen 28–46 Jahre alt, mit einigen Ausreißerinnen nach oben, nämlich einer 68-Jährigen und zwei Frauen über siebzig. Neun Frauen waren verheiratet, eine geschieden. Sieben der Befragten hatten Kinder. Die verheirateten Frauen lebten mit ihren Ehepartnern zusammen; bis auf zwei waren alle mit freicharismatischen Christen verehelicht. Zwei der Frauen studierten zum Zeitpunkt der Interviews noch, eine hatte ihr Studium erfolgreich abgeschlossen, die anderen verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Verglichen mit der Gesamtbevölkerung war der Bildungsstand unter meinen Befragten und meiner Einschätzung nach auch unter den restlichen Gemeindemitgliedern damit durchschnittlich hoch.438 Zwei der Frauen waren in Vollzeit, eine in Teilzeit tätig, eine berentet, vier waren Hausfrauen und zwei studierten, die Erwerbstätigenquote war also auch hier geringer als im gesamtdeutschen Vergleich. Die Zeiträume, die seit dem formalen Akt des Übertritts ungefähr vergangen waren, waren drei Mal zwischen 3–9 Jahre, vier Mal zwischen 12–19 Jahre, sowie jeweils ein Mal über 20, über 30 und über 40 Jahre, allerdings konnten sich auch hier manche der Befragten nicht auf ein genaues Datum festlegen. Alle Konvertitinnen waren volljährig zum Zeitpunkt der Konversion bzw. Inversion. Bezüglich der vorherigen Religiosität ergibt sich ebenfalls ein heterogenes Bild. Sieben der Befragten waren vor der Konversion zum freicharismatischen 437 Dies widerspricht Neumüllers Forschungsergebnis, dass die meisten der deutschen Konvertierten einen katholischen Hintergrund haben, vgl. Neumüller (2014), S. 50. Dies ist möglicherweise auch der Kleinheit meines Samples geschuldet, wobei ich diesen Eindruck auch in den Gemeinden nicht bestätigen konnte. 438 Zu den Schulabschlüssen s. Statistisches Bundesamt (o. J.), unter https://www.destatis.de/ DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Bildungsstand/Tabellen/Bil dungsabschluss.html (allerdings nicht nach Geschlechtern getrennt), und zu den beruflichen Abschlüssen ebd., unter https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon?se quenz=tabelleErgebnis& selectionname=12211-0041& transponieren=true (nach Geschlechtern unterschieden). »Bei den 30- bis 39-Jährigen« verfügen 27 % der Deutschen über einen Hochschulabschluss, »bei den 40- bis 49-Jährigen waren es 21 %«, vgl. https:// www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Bildungs stand/Aktuell.html.

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Christentum unreligiös, zwei Esoterik bzw. Paganismus zugeneigt, eine evangelisch. Rein von der formellen Zugehörigkeit hingegen her waren vier evangelisch, zwei freikirchlich (anti-charismatisch) und die übrigen keiner Kirche zugehörig gewesen. Ich ließ mir die Erlaubnis, die Interviews oder Auszüge davon anonymisiert zu wissenschaftlichen Zwecken verwenden zu dürfen, von den Interviewpartnerinnen beider Samples schriftlich erteilen. Andere Personen – mit Ausnahmen von Säuglingen oder Kleinkindern der Befragten – waren nicht anwesend, da ich den Interviewten mitteilte, dass dies im Sinne des besseren, vertraulicheren und ungestörteren Gesprächsflusses sei. Dies wurde von den Frauen gut aufgenommen und konnte auch ohne Schwierigkeiten umgesetzt werden. Es kam jedoch gelegentlich vor, dass die Interviews von Besucher_innen unterbrochen wurden oder dass die Interviews wegen der Heimkehr der Ehemänner beendet werden mussten. Die Interviews dauerten im Schnitt 1–1,5 Stunden, wobei es Ausreißer nach unten (ca. 30 Minuten) und nach oben (über zwei Stunden) gab. Die Interviews wurden wortgetreu und nicht geglättet (d. h. auch mit Wiederholungen, »Ähs« und »Ähms«, Stottern oder abgebrochenen Wörtern) transkribiert. Dies war besonders wichtig, da die von mir bereits beschriebenen Auswertungsmethoden eben auch Versprecher, das Ringen nach Worten, Wortwiederholungen oder plötzliches Stottern mit in die Analyse mit einbeziehen. Die Legende zur Transkription findet sich im Anhang. Der Transkriptionsprozess selber gestaltete sich aufgrund der nicht immer guten Aufnahmequalität, den Stör- und Hintergrundgeräuschen, insbesondere durch Kinder, sowie das zum Teil sehr schnelle Sprechen der Befragten nicht immer einfach. Ich hatte mich dafür entschieden, die Interviews nicht mit einem speziellen Aufnahmegerät, sondern mit mobilen Endgeräten aufzunehmen, um die Situation entspannter zu gestalten und nicht zu verkünstlichen. Zwar trug für mein Empfinden diese Vorgehensweise tatsächlich zur Entspannung bei, leider war aber dadurch auch die Tonqualität teilweise erheblich vermindert. Den obengenannten Prämissen zur Auswertungsmethodik folgend, erstellte ich aus den teilweise über 40 Seiten langen Interviewtranskripten Fallauswertungen. Der größte Abschnitt war dabei dem Konversionsprozess sowie den daraus ableitbaren Funktionen der Konversion gewidmet, ein weiterer großer dem Geschlechterrollenverständnis der Betreffenden. Neben diesen beiden ausführlichen analytischen Teilen habe ich die Diskriminierungserfahrungen sowie die Änderungswünsche der Befragten an die Gesellschaft kurz deskriptiv dargelegt. Um diese Fallauswertungen exemplarisch darzustellen, sind bei den nach Samples unterschiedenen Analyseteilen jeweils eine komplette Fallauswertung einer Muslimin und einer Christin mit ihren verschiedenen Teilen in der vollen Länge abgedruckt. Davon abgesehen, wird jedoch in den beiden Kapiteln zur Auswertung lediglich die Funktionenanalyse ausführlich behan-

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delt; die anderen Teile der Fallauswertungen fließen in dieser Arbeit, bei welcher der Fokus auf Konversionsfunktionen liegt, lediglich implizit in die Forschungsergebnisse ein und werden nicht eigenständig behandelt. Es überraschte mich wenig, dass sich bestimmte Funktionen bei verschiedenen Konvertitinnen wiederholten. Diejenigen Funktionen, die komplett oder weitgehend deckungsgleich bei mehr als einer Konvertitin vorkamen, fasste ich zu übergeordneten Kategorien zusammen. Dabei versuchte ich, die Funktionen der Konversion im Leben der Befragten möglichst präzise und in meinen eigenen Worten zu definieren; es blieb aber dabei nicht aus, dass ich gelegentlich Resultate vorhergehender Forschungen wiederfand. Wo in diesen bereits besonders prägnante Begriffe für bestimmte Funktionskategorien gefunden worden waren, übernahm ich selbige gegebenenfalls. Ich habe allerdings – in Abgrenzung z. B. von Wohlrab-Sahrs Funktionskategorien – getreu meinem Leitsatz, möglichst viel Varianz abzubilden, möglichst verschiedene Facetten derselben Funktion darzustellen versucht und daher auch die Kategorienbegriffe so weit wie möglich gefasst, so dass sie als Oberbegriffe tauglich waren und dennoch nicht zu komplexitätsreduzierend wirkten. Je nachdem, wie vielschichtig die jeweiligen Funktionskategorien waren und wie umfassend ich sie beleuchten wollte, habe ich dabei einen Fall in größerer Länge dargelegt und/ oder aber mehrere kürzere Extrakte aus Fallauswertungen eingefügt, um die Varianz innerhalb einer Kategorie besser darstellen zu können. Bei jeder erstmaligen Vorstellung einer Konvertitin habe ich deren Namen fett gedruckt und eine kurze biographische Skizze der Betreffenden vorangestellt.

3.3.1. Die Interviewauswertungen des sunnitischen Samples Getreu der oben beschriebenen Vorgehensweise, ist hier vor der detaillierten Funktionenanalyse des sunnitisch-literalsinnorientierten Samples die Fallauswertung einer muslimischen Interviewpartnerin exemplarisch dargelegt. Martina Martina wird Mitte der Achtziger in der ehemaligen DDR geboren. Ihre Eltern, die beide nicht-akademischen Berufen nachgehen, lassen sich scheiden, als sie noch ein kleines Kind ist. Sie macht nach der Schule eine Ausbildung zur Arzthelferin. Martina kommt aus einem atheistischen Elternhaus und ist selber überzeugte Atheistin. Dann lernt sie verschiedene muslimische Personen kennen, die ihr, wiewohl selber kaum praktizierend, den Islam näherbringen. Nach kurzer Zeit, in der sie eine islamische Gemeinde besucht, konvertiert Martina. Später heiratet sie einen Muslim, mit dem sie zum Interviewzeitpunkt Zwillinge hat.

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Martinas Konversionsfunktionen Zunächst ist auffallend, dass Martina sich sehr stark auf den »Osten« als Referenzpunkt beruft (Z. 3, Z. 9). Offensichtlich ist eine Prägung durch die DDR präsent, obwohl Martina erst einige Jahre alt ist, als die Wende eintritt: »Genau, und dann.. ähm hab ich ganz normal Schule gemacht […] wollte kein Abitur machen, weil ich halt gerne arbeiten wollte und Geld verdienen wollte, wie man das so gelernt hat im Osten« (Z. 7–9). Das »man« als verallgemeinerndes Indefinitpronomen taucht auffallend häufig auf, wenn es um Martinas Handlungen, Entscheidungen und Meinungen geht (z. B. in Z. 8, Z. 38, Z. 39, Z. 41, Z. 47 usw.). Dabei erweckt sie den Eindruck einer (wenn auch eher positiven) Verlaufskurve, also »das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz«439. Sie hat offensichtlich gelernt – möglicherweise durch die kollektivbetonende DDR-geprägte Sozialisation – ihr Leben stets eingebunden in eine gedachte Allgemeinheit zu sehen, selbst, wenn es um sehr persönliche Gedanken und Entscheidungen geht: »Dass man sich auch bestimmte Dinge fragt. Was im Leben so passiert ist, Schicksal oder ähnliches, manches warum tritt es ein […]. [Ö]h, da hat man drüber nachgedacht, und ›Wieso, warum, was soll das?‹, und dann hat man’s wieder verworfen« (Z. 41–48).

Gleichzeitig scheint hier ein von Ulmer beschriebenes Phänomen auf, nämlich dass der postkonversionellen Deutung von Lebensereignissen unter Zuhilfenahme von dem, was er in impliziter Anlehnung an Snow/Machalek (1983) als »neuen Schlüssel für die Deutung der Biographie« bezeichnet: »Hier zeigt sich auf eine exemplarische Weise die Verschränkung und Überlagerung der Darstellungsperspektiven, die für [sic!] Rekonstruktion der vorkonversionellen Biographie insgesamt typisch ist. Dadurch, daß der Konvertit mit der Konversion einen neuen Schlüssel für die Deutung seiner Biographie erworben hat, steht er beim Erzählen seiner Konversionsgeschichte und insbesondere bei der Rekonstruktion seiner vorkonversionellen Biographie vor einer komplizierten Aufgabe. Alle vorkonversionellen biographischen Ereignisse müssen einerseits so geschildert werden, daß deren Deutung sichtbar wird, wie sie vor der Konversion Gültigkeit hatte. Andererseits aber muß auch die Revisionsbedürftigkeit dieser Interpretationsweise zum Ausdruck gebracht werden und die nach der Konversion favorisierte Deutung desselben Ereignisses zur Darstellung kommen.«440

439 Schütze (1983), S. 288. Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal darauf, dass die Einteilung nicht nach den positiven oder negativen Endresultaten für das Subjekt erfolgt, sondern entscheidend ist, ob diese Prozesse als »selbst gewählt[…]« oder von »außen induziert« empfunden wurden, vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 72. 440 Ulmer (1988), S. 25.

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Dieser Hang zur Einbindung in ein größeres soziales Ganzes wie auch die postkonversionelle Herstellung eines Sinnzusammenhangs zeigt sich auch, als Martina von ihrem Atheismus berichtet (Z. 34–35) und dann ergänzt: »Wobei ich schon, wie wahrscheinlich jeder, der mal konvertiert hat, der sucht, also […] Mhm, gerade wenn man Schule, und dann Berufsschule fertig, und dann steht man vor so nem: ›Und nun?‹« (Z. 35–39). Auch wenn das Motiv von der der Konversion vorhergehenden spirituellen Suche ein klassisches Element von Konversionserzählungen darstellt,441 fällt hier zum einen die Generalisierung auf und zum anderen, dass sie eigentlich sehr »irdische« Sinnsuchen anführt, nämlich die nach weiteren Zukunftsperspektiven nach dem Abschluss institutioneller Handlungsmuster.442 Hieraus könnte man schließen, dass es möglicherweise eher lebensweltliche Funktionen sind, die die Konversion entfaltet, z. B. hinsichtlich einer beruflichen und sozialen Ungewissheit in Form einer islamisch bedingten »Strukturierung der Lebensführung«. Eine weitere mögliche Funktion der Konversion, welche sich recht schnell abzuzeichnen beginnt, ist die Faszination für das »Fremde« bzw. die »Fremde«, also etwas, was ich als Funktion C, »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft«, bezeichnet habe: »[I]ch hatte immer äh.. Interesse an an an, äh Kontakt zu Ausländischen.. Also ich hatte auch mal einen griechischen Bekannten so in der Ausbildung damals. Fand ich immer interessanter als dieses äh ganze Deutsche halt (lächelnde Stimme), weil davon hat man viel mehr, ne? I: Mhm. M: Und da kann man so ein bisschen das Andere oder Neue halt.. ausleben (sehr leise)« (Z. 60–65).

Als sie in eine Großstadt mit einiger muslimischer Präsenz zieht, geht sie eine Verbindung mit einem gebürtigen Muslim ein, wobei der Charakter dieser Beziehung (wohl auch dem islamischen Narrativ der Verurteilung vorehelicher Sexualität geschuldet) nur vage angedeutet wird: »Dann.. ja, hatte man so ne Art Beziehung, was auch immer. Der war aber nicht praktizierend« (Z. 79). Auch ihr nächster Partner ist Muslim, der im Alltag nicht praktiziert und auch sonst ein wenig islamkonformes Leben führt (Z. 90–93), aber zum Ramadan fastet und Martina in sein Heimatland Tunesien mitnimmt. Auch hier bestätigt sich die 441 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999b), S. 490: »Konversionserzählungen müssen als hochgradig typisierte Formen der Erzählung angesehen werden, und das bleibt nicht ohne Einfluß auf die erzählten Inhalte. Dies wird man im Hinterkopf haben müssen, wenn Konvertiten von lieblosen Elternhäusern und problematischen Erfahrungen in der Kindheit berichten und die neue Religion als Lösung für Fragen und Probleme präsentieren, die sie immer schon hatten, die ihnen aber früher nicht so recht deutlich waren«. 442 Der Begriff stammt von Schütze; beim institutionellen Handlungsmuster »muss das Individuum sich zunächst einer biographischen Institution überantworten sowie während des Verbleibs soziale Normen einhalten«, Kleemann/Krähnke/Matuschek (2009), S. 70.

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anfängliche Deutung, dass soziale Aspekte und nicht religiöse bei Martina bestimmend sind; sie habe den Ramadan »einfach mitgemacht« (Z. 94), ohne über die religiösen Implikationen nachzudenken (Z. 95–96). Außerdem habe sie »die Gastfreundschaft auch da kennengelernt« (Z. 98), was offensichtlich das beliebte Motiv der Zuschreibung des gastfreundlichen Muslimen erfüllt.443 Diese kulturelle Faszination veranlasst eine muslimische Bekannte dazu, ihr den Besuch einer literalsinnorientierten muslimischen Gemeinde nahezulegen (Z. 99–108). Die Muslimin, die, obschon selber ebenfalls kaum praktizierend, alles daran setzt, sie vom Islam zu überzeugen, nimmt neben den männlichen Freunden die Rolle der signifikanten Anderen ein,444 die dazu beigetragen haben, dass eine »bestimmte Gelegenheitsstruktur […] [entstand], die den Islam in den Horizont der Betreffenden eingeführt hat«445. Auch in der folgenden Konversionsgeschichte bestätigt sich die These, dass es soziale Aspekte sind, die für Martinas Konversion entscheidend sind: »I: Und was hat dann so Dein Interesse für den Islam geweckt? M: Hmm, also ich bin meiner Meinung nach.. von dem Umgang mit den.. Leuten, also den Geschwistern untereinander, hat mich so, ich weiß nicht, sehr äh äh interessiert« (Z. 121–122).

Sie führt weiter aus, dass die Teilnehmerinnen »sehr vornehm« und zuvorkommend miteinander gesprochen hätten und sie sie für »gebildet« gehalten habe, was Martina tief beeindruckt und was sie mit dem eher rauen Ton ihres gewohnten Umfeldes kontrastiert (Z. 125–132), ein Vergleich, den sie mehrfach betont. Von den religiösen Inhalten der Gemeinde bekommt sie jedoch zunächst wenig mit: »Das [der Umgang der Gemeindemitglieder miteinander] hat mich so sehr.. Ich wusste gar nicht, dass es um irgendein, nen Gott ging oder Religion […]. Und das hat mich halt da sehr, ja, interessiert und und überhaupt so fasziniert halt auch (?). Nicht immer, vielleicht (leise), und äh ich hab mich sehr wohl gefühlt. Ich hab mich sehr wohl gefühlt, äh und bin dann auch meistens […] [mehrmals wöchentlich] hingegangen […]. Äh und.. äh, ja, hab dann auch irgendwann, ›Ah, okay, es geht hier um Gott, und hier, Prophet‹, und aber, das war alles so schlüssig […]. Ich war sehr so religiös interessiert. Dann so Buddhismus, Hinduismus, I: Mhm. M: Was man da so, ne? Diese neue Lebensweisen« (Z. 133–153).

In dieser Interviewpassage bündeln sich die meisten Funktionen von Martinas Konversion. Offensichtlich genießt sie es, zu einer Gruppe dazuzugehören, die sie als »vornehm« und »gebildet«, aber auch faszinierend fremd wahrnimmt – 443 Vgl. Käsehage (2016), S. 82. 444 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 170f. 445 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 170.

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was anscheinend einen Kontrast zu ihrem normalen Umfeld und damit Funktion C der »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft« darstellt und Funktion D der »Sozialen Einbindung« andeutet. Interessanterweise sind es auch primär »exotisch« und »fremd« besetzte Religionen wie Buddhismus oder Hinduismus, die sie anzusprechen vermochten, wobei sie diese als »Lebensweisen« rezipiert. Ihr Wohlgefühl und nicht die religiösen Inhalte, welche sie nach ihrer Aussage erst sehr spät erfasst, stellen für sie den Grund dar, die Gemeinde regelmäßig zu besuchen. Den endgültigen Ausschlag für die Konversion, die kurze Zeit nach dem ersten Besuch in der Gemeinde erfolgt (Z. 166–167), gibt ihre muslimische Freundin, die sie auf die Gefahr für ihr Seelenheil hinweist, wenn sie nicht konvertiere (Z. 167–180). Martinas Tendenz, Dinge eher als passiv Tuende denn als aktiv Agierende zu erleben, zeigt sich auch in dieser Situation. Sie sei sich trotz der neuerworbenen Kenntnisse zum Islam dieser Tatsache »nicht so bewusst gewesen« (Z. 183), denn »ich musste immer so ein bisschen auf Sachen gestoßen werden, um dann darüber nachzudenken, weil von selber kommt man ja nicht drauf« (Z. 183–185). Hierbei ist besonders interessant, dass sie am Schluss ihrer Aussage vom individualistischen »Ich« (»ich musste […] gestoßen werden«) wieder zum allgemeingültigen »man« wechselt: »weil von selber kommt man ja nicht drauf«. Im Grunde deuten sich hier erneut zumindest Züge einer Verlaufskurve446 an. In der sehr eng verbundenen Gemeinschaft der zumeist in Deutschland sozialisierten Muslim_innen findet sie, die so oft ihre Ostsozialisation betont, die enge soziale Einbindung – auch in ein soziales Regelwerk – als auch familienähnliche Strukturen wieder, die ihr offensichtlich sehr wichtig sind. Schließlich hat sie sich auch trotz ihrer Faszination für andere Länder nicht getraut, einen Auslandsaufenthalt zu machen, weil sie dort kein soziales Netz erwartet hätte: »[I]ch hab mich nicht so getraut, dann doch alleine in einem fremden Land und keine Familie und nichts« (Z. 273–274). Bei ihrer Konversion (sie spricht einer muslimischen Freundin gegenüber die shahada aus), ändert sich nach ihren eigenen Angaben noch nichts (Z. 190–198); sie kleidet sich wie gewohnt und führt das Verhältnis zu ihrem muslimischstämmigen Partner, der Alkohol trinkt und ein Partyleben führt, fort (Z. 218– 230). Martina tritt kurze Zeit später in die muslimische Gemeinde ein, wobei sie jedoch zunächst viele islamische Prinzipien weder kennt noch befolgt: Sie betet (noch) nicht (Z. 203), und kann ihrem Umfeld gegenüber nicht argumentativ begründen, warum sie konvertiert ist. Offensichtlich geht es Martina mehr um die Faszination des Andersdenkenden, Fremden, exotisch Besetzten, kurz: um eine positive Hervorhebung als um die Provokation oder Abgrenzung zur 446 »[D]as Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz«, Schütze (1983), S. 288.

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Mehrheitsgesellschaft. Deswegen braucht sie auch viel soziale Unterstützung von Seiten der muslimischen Community, um zu ihrer Entscheidung zu stehen – zumal sie aufgrund ihrer geringen Kenntnisse islamischer Inhalte wenig Argumente gegen Kritik von außen findet. Sie schreibt, sie sei dann erstmal »gegangen«, da sie der »Familie« und ihren »Freunde[n]« nicht habe erklären können, warum sie konvertiert sei. »[U]nd da war halt sehr viel Stress und mein Ausweg war einfach abzuhauen. I: Mhm. M: Was nicht das Richtige war, aber ich war einfach noch nicht so stark von den Argumenten, warum ich diese Sachen tue. Ich wusste nur, dass es richtig ist, aber ich wusste nicht genau warum« (Z. 257–264)

Nach der Veränderung durch den Islam befragt, antwortet sie: »Ja, das Umfeld, wie es einen wahrgenommen hat natürlich, weil ich hab dann schon, ich hab ja auch vor der Konvertierung schon so ein bisschen Kopftuch getragen« (Z. 246– 247) und »Dann bin ich erstmal weg. Und das war eigentlich die größte Veränderung dann auch« (Z. 264–265). Ganz offensichtlich ist es eher ein Wandel des Lebensstils – einhergehend mit einem des Kleidungsstils – als ein Werte- oder Bewusstseinswandel, welcher ihrer Umgebung auffällt. Martina, überfordert mit dem Rechtfertigungszwang gegenüber ihrem alten Umfeld, beendet die Beziehung mit ihrem Freund – offensichtlich helfen ihr die islamischen Prinzipien bei dieser Entscheidung – (Z. 238–241) und verlässt eine Zeitlang ihre Heimatstadt, was sie selber als Problemflucht (Z. 257–258) beschreibt. Nachdem sie konvertiert ist, traut sie sich nämlich aus Angst vor sozialem Gesichtsverlust zunächst nicht, wirklich zu praktizieren, sondern erst, als sie doch den Schritt in eine andere Umgebung wagt, wo sie ein weiteres muslimisches Netzwerk findet (bezeichnend ist hierbei wieder die Einbindung in eine enges soziales Gefüge). Allerdings setzt sich auch dort die Tendenz fort, dass Martina sich eher als Objekt denn als Subjekt der Geschehnisse wahrnimmt, was sich in Formulierungen wie dem passivischen »gelandet« oder in dem Eindruck, dass ihre Lebensgestaltung von äußeren Faktoren wie bürokratischen Vorgaben gesteuert wird, niederschlägt: »[I]ch bin dann irgendwann doch in […] [muslimischem Netzwerk] gelandet und dann hab ich angefangen zu praktizieren. Und dann hat sich für mich noch mehr geändert […]. [Beschreibt, wie sie aus administrativen Gründen in die Heimatstadt zurück muss und erst einmal nicht in die neue Stadt zurück kann]. [U]nd so musste ich dann hierbleiben und mich dann.. den Konfrontationen stellen mit der Familie. Mit den ehemaligen Freunden nicht mehr so, weil die gab’s dann irgendwie nicht mehr« (Z. 289–294).

Martinas Konversionsfunktionen sind primär lebensweltliche; die spätere Erläuterung, sie sei schon immer »so religiös interessiert« gewesen, kontrastiert

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mit der Tatsache, dass sie erst nach längerer Zeit bemerkt, dass es in der Gemeinde, in der sie konvertiert ist, »um Gott und hier, Prophet« geht. Martina ist auf der Suche nach einer Community, in der sie ihre Sehnsucht nach dem Fremden leben und sich in ein engmaschiges soziales Gefüge integrieren kann; etwas, was ihr vorheriges Umfeld wohl nur eingeschränkt bieten konnte. So disqualifiziert sie ihre vorherigen Freundschaften als »Zweckgemeinschaften« (Z. 696), welche sich hauptsächlich über gemeinsam geteilte Aktivitäten konstituiert hatten, aber die Belastungsprobe der Konversion nicht bestanden (Z. 704–719). Und sie, die offensichtlich zeit ihres Lebens nach stabiler Einbindung gesucht hat, findet im Islam Freundschaften, in denen sie sich um ihrer selbst willen geschätzt fühlt: »Und wir auch, wie gesagt, auch durch den Islam ja so viele Freunde jetzt haben, so richtig Freunde […]. [Die] etwas tun, ohne eine, ein, eine Gegenleistung dafür haben wollen, überhaupt gar nicht, oder überhaupt auch materiell nicht irgendwie.. viel wollen und.. ja, da ist dann auch, so viele Freunde braucht man auch gar nicht« (Z. 719– 740)

Interessanterweise stellt sie den Vergleich auf, dass eine echte Freundschaft eine Konversion ebenso aushalten müsse wie eine gute Familie die Ehe ihrer Kinder mit ausländischen Personen (Z. 698–701). Interessant ist dies deswegen, weil sie mit diesem Vergleich erneut auf die symbolische »Fremdheit« des Islam anspielt. Dies stellt einen weiteren Hinweis auf die Funktion der »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft« dar ; auch wenn diese Hervorhebung nicht nur positiv besetzt ist und ihr auch Angst macht, überwiegen dennoch die Vorteile für sie und führen zu einer Konsolidierung der Konversionsentscheidung. Im Gegensatz zu ihren Freund_innen nimmt ihre Familie mit der Zeit eine positive und stabilisierende Wirkung der Konversion auf Martina wahr : »Sie sehen zwar, man lebt sein Leben gut, weil das war alles vorher« (Z. 319–320). Martina beschreibt, dass ihre Familie sich vorher Sorgen um sie gemacht habe wegen ihres unsteten Lebenswandels, da sie etwas »verrückt« gelebt habe (Z. 321–323), und kontrastiert dies mit ihrem derzeitigen soliden Leben (im Übrigen eine Veränderung, die bei Konversionen zum Islam nicht unüblich ist, vergleiche später Funktion B): »[Die Familie sieht] ich bin […] irgendwie angekommen.. und bin vernünftiger geworden dann auch« (Z. 323–324). Bei Martina zeigen sich verschiedene lebensweltliche Konversionsfunktionen, von denen einige, angesichts ihrer relativ klaren Darstellung sozialer Motive, durchaus als manifest gelten können: Eine davon ist die Integration in eine neue, als höherwertig empfundene und durch einen gefühlten Bildungsaufstieg wie auch durch den Reiz des »Fremden« aufgewertete Bezugsgruppe, in der sie »so richtig Freunde« (Z. 720) und obendrein die engmaschige soziale Geborgenheit, aber auch die gemeinschaftliche Kontrolle ihrer Ostsozialisation (wie-

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der-)findet. Aber auch das, was von Wohlrab-Sahr als »Methodisierung«447 und von mir als »Strukturierung der Lebensführung« bezeichnet wird, entfaltet eine wichtige Bindewirkung. Der Islam dient hier als Stabilisierungs- und Entscheidungshilfe für Martina, die bislang wenig Kontinuität an den Tag gelegt hatte, sich ohnehin zeit ihres Lebens eher als von außen Gelenkte empfunden hat und Schwierigkeiten hatte, Entscheidungen zu treffen.448 Hier kann sie diese Subsumtion unter eine externe Gemeinschaft und deren Entscheidungsvorgaben religiös legitimieren und positiv besetzen: »[I]ch bin mit allem [islamische Werte, Anm. der Autorin] total einverstanden, weil wenn man sie […] erklärt bekommt, macht alles Sinn« (Z. 629–630), was Funktion H der »Aufwertung eigener Persönlichkeitsmerkmale« darstellt. Dies alles ist ohne eine besondere emotionale religiöse Ergriffenheit möglich – hier sei auf die Attraktivität des Islam für »diejenigen, die religiös >unmusikalisch< sind«, verwiesen.449 Funktionale Alternativen hätte es hinsichtlich der Faszination für das »Fremde« sicherlich auch in anderen religiösen und alternativen Gemeinschaften gegeben; die engmaschige Einbindung in ein gleichzeitig kontrollierendes und unterstützendes soziales Netzwerk wäre aber in liberaleren Communitys nur schwerlich zu finden gewesen. Eine literalsinnorientierte christliche Gemeinde wiederum hätte zwar die soziale Funktion bieten können, jedoch mehr emotionale Ergriffenheit eingefordert und die Faszination für das »Exotische« nicht erfüllen können. Martinas Geschlechterrollenverständnis Martina wächst im Osten auf, bekommt also zumindest hinsichtlich der formalen und beruflichen Gleichberechtigung der Geschlechter ein emanzipierteres Rollenbild mit als BRD-Sozialisierte.450 Ihre Eltern sind beide berufstätig und trennen sich, als Martina noch sehr klein ist (Z. 4–6 und Z. 22–24). Martina selber führt mehrere kürzere Beziehungen mit einem erhöhten Maß an Unverbindlichkeit. Danach befragt, wie sie die Beziehung mit ihrem feierfreudigen Freund nach der Konversion beendet habe, antwortet sie, dass dieser ohnehin nicht auf der Suche nach etwas Festem gewesen sei, und sie sich einfach nicht mehr mit ihm verabredet habe (Z. 238–241) – was dieser ohne weiteres Aufheben 447 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 224, vgl. zum Folgenden auch S. 283ff. 448 Vgl. ihre Aussage, dass ihre Familie ihre Konversion zunächst »belächelt«, weil sie »sehr viel ausprobiert habe im Leben« (Z. 252). 449 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 369. 450 Bereits 1969 hatte die DDR die BRD in vielen Aspekten juristischer und beruflicher Gleichstellung weit überholt, vgl. Der Spiegel (o. A., 1969) unter http://www.spiegel.de/spie gel/print/d-45562638.html. »Die Erwerbsquote der Frauen lag 1989 bei 78,1 Prozent, unter Berücksichtigung der in Ausbildung Befindlichen sogar bei 91,2 Prozent (Bundesrepublik ca. 50 Prozent)« schreibt die KAS (o. J) unter http://www.kas.de/wf/de/71.6586/.

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hinnimmt: »Und er hat sich glaub ich nie wieder gefragt irgendwas« (Z. 240). Diese Form der Trennung lässt auf ein hohes Maß an Unverbindlichkeit auf beiden Seiten schließen. Nun stellt sich die Frage, wie sie sich zu dem im literalsinnorientierten Islam festgelegten Geschlechtermodell und dem hohen Maß an vorgegebener Bindungsstabilität durch die Ehepflicht positionieren wird. Während es zu letzterer zumindest offiziell außer der kompletten Beziehungslosigkeit kaum eine gemeinschaftsverträgliche Option gibt (jedenfalls, wenn sie in ihrer literalsinnorientierten Gemeinde verbleiben möchte), bietet sich bei ersterem de facto ein größerer Spielraum. Da sich für Martina jedoch gerade die Entscheidungs- und Handlungsvorgaben des Islam als besonders attraktiv erweisen, kann vermutet werden, dass sie auch die Geschlechterrollen des Islam und die minutiös festgelegten Pflichten und Rechte der Geschlechter als entlastend empfindet. Tatsächlich folgt sie einem stark binären Geschlechterbild mit festen Zuschreibungen, welches sie interessanterweise hauptsächlich biologisch mit naturgegebener unterschiedlicher Emotionalität, Durchhaltevermögen, Ordnungssinn und Körperkraft der Geschlechter begründet (Z. 399–431). Dies verwundert zunächst; bald wird jedoch klar, dass dies auch ihrer eher geringen Kenntnis islamischer Argumente geschuldet ist;451 deswegen greift sie auf gesamtgesellschaftlich vorgegebene Erklärungsmuster zurück, d. h. »auf intersubjektiv geteiltes Wissen, auf sozio-kulturelle Selbstverständlichkeiten, die keiner Explikation bedürfen«452, um das islamisch vorgegebene Geschlechtermodell zu legitimieren. Dieses stellt für sie einen Teil des Gesamtpakets dar, weswegen sie es ohne Zögern befolgt – ohne dass es freilich einen herausragenderen Attraktivitätsfaktor bezüglich des Islam für sie dargestellt hätte als die anderen Regeln und Vorschriften. Martinas Diskriminierungserfahrungen Martina berichtet von diversen Diskriminierungserfahrungen im beruflichen Bereich (Z. 574–588). Außerdem ist sie einige Male mit abschätzigen Bemerkungen bedacht worden (Z. 588–600). Insgesamt schätzt sie jedoch das Aus451 Sie besitzt z. B. keine genaue Kenntnis, was Sure 4,34, die oft als Schlüsselsure des islamischen Geschlechterverhältnisses gilt, beinhaltet: »M: Was war’n 4,34? Ich find das immer nicht I: Äh, äh die Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor. M: Ah, okay. Genau also die Auslegungssache, es gibt ja immer verschiedene islamische Strömungen und Auslegungen. Und jede will sich immer seinen Teil zusammen basteln. Also jemand, der zum Beispiel in einer Strömung ist, die sagt: ›Okay, die Frauen kommen vor den Herd, und die Männer sind die, die sowieso die besseren sind‹« (Z. 455–460). 452 Hofmann (1997), S. 207.

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maß an Diskriminierung, dem sie sich ausgesetzt sah und sieht, als eher gering ein (Z. 593–613). Martinas Wünsche an die deutsche Gesellschaft Martina wünscht sich für die deutsche Gesellschaft »[m]ehr Wissen« (Z. 749), womit sie ein positives Wissen über den Islam zum Abbau von Vorurteilen meint (Z. 749–754). Zudem wünscht sie sich mehr interreligiöse Begegnungen (Z. 756– 766), mehr Sichtbarkeit des Islam (Z. 774) – obwohl sie explizit betont, dass dies nicht heiße, »dass alle Muslime werden« müssen (Z. 774–775) – und dass die Muslime »wieder zu dem Ursprung« (Z. 776) zurückfinden, worin sich die literalsinnorientierte Prägung ihrer Gemeinde wiederfindet. Resümee Wie aus der Fallanalyse ersichtlich geworden ist, handelt es sich bei Martinas Konversion um eine primär lebensweltliche; es sind hauptsächlich soziokulturelle Funktionen, welche die Konversion für sie erfüllt. Diese ermöglicht ihr, ihr gesamtes Leben nach einer übergeordneten neuen Weltsicht auszurichten, die ihr zu einer stabilen Lebensführung verhilft, bei der sich alle Teile an ihren Platz zu fügen scheinen. Die Funktionen von Martinas Konversion, wie sie aus der Fallauswertung abgeleitet werden können, sind: B: »Strukturierung der Lebensführung« C: »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft« D: »Soziale Einbindung« H: »Aufwertung eigener Persönlichkeitsmerkmale« I: »Fortführung sozialistischer Gesellschaftsstrukturen« Nachfolgend werde ich noch detaillierter auf die hier vorgefundenen Funktionen sowie weitere eingehen und diese mit Beispielen aus anderen Fallauswertungen illustrieren, aber um einen Gesamteindruck zu gewinnen, erschien es mir sinnvoller, zunächst eine komplette Fallauswertung darzustellen. Dabei kann auch das Ineinandergreifen verschiedener Funktionen gut beobachtet werden. 3.3.1.1. Die Funktionenanalyse des sunnitischen Samples Die Funktionen, die sich mehrfach innerhalb des Samples wiederholten, waren folgende (die Zahl markiert die Anzahl der Frauen, bei welchen diese Funktion vorzufinden war): A. »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität«: 7 B. »Strukturierung der Lebensführung«: 7 C. »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft«: 5

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»Soziale Einbindung«: 5 »Soziale Ressource«: 4 »Aufwertung der Mutterrolle«: 3 »Kognitive und emotionale Konsonanz durch Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang«: 3 H. »Aufwertung eigener Persönlichkeitsmerkmale«: 3 I. »Fortführung von sozialistischen Gesellschaftsstrukturen«: 2 J. »Alternativkarriere«453 2 Daneben gab es individuelle Funktionen, welche sehr spezifisch an die biographischen Strukturen der Konvertitinnen gekoppelt waren und daher nur bei jeweils einer Person vorzufinden waren. Diese waren: Die der »Abgrenzung von der Herkunftsfamilie«, der »Erhöhung von Bindungsfähigkeit durch Gott als personalem Gegenüber« und die »Abgrenzung/Positionierung zum Staatssozialismus«. Nachfolgend sind die Funktionen nach Häufigkeit geordnet im Detail dargelegt. Wie bereits weiter oben erwähnt, habe ich bei jeder erstmaligen Vorstellung einer Konvertitin deren Namen fett gedruckt und eine kurze biographische Skizze der Betreffenden vorangestellt. A: »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität« Die erste Kategorie war die der »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität« durch eine klare Geschlechterstruktur. Als Konsolidierung der eigenen Geschlechtsidentität möchte ich nachfolgend die Akzeptanz und Festigung der gesellschaftlich zugeschriebenen Identität als Frau bezeichnen, eine Identität, mit der sich die Betreffenden in manchen Fällen vorher nur ungenügend oder gar nicht identifizieren konnten. Hingegen meine ich mit »Geschlechterrolle« das Verhalten, welches an diese Identität geknüpft ist. Geht es bei der Geschlechtsidentität eher um Selbstbild und -akzeptanz, ist die Geschlechterrolle im Sinne des »doing gender« (allerdings nicht in der oft gebräuchlichen, m. E. verengten Perspektive, in der »Gender« auf ein reines Tun reduziert wird) der Ausdruck der Geschlechtsidentität im individuellen Handeln, insbesondere auch in der Interaktion mit anderen. Der Gedanke, dass den klaren Geschlechterrollen und -regeln des Islam in seinen traditionellen wie auch reformistisch-literalsinnorientierten Ausprägungen ein Attraktivitätsfaktor bei der Konversion zukommt, findet sich in der Konversionsforschung öfters wieder. Hofmann widmet diesem Faktor ein ganzes Kapitel,454 Wohlrab-Sahr arbeitet die »Implementation von Geschlechtseh453 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 281. 454 Vgl. Hofmann (1997), S. 187–273.

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re«455 als eine der drei möglichen zentralen Funktionen von Konversion heraus. Bei der Analyse gewann ich jedoch den Eindruck, dass die Eingrenzung auf »Geschlechtsehre« zumindest bezüglich der von mir befragten Konvertitinnen zu kurz griff. Dieser Aspekt, beispielsweise im Hinblick auf eine Abgrenzung von zu »lockerem« Umgang mit Männern, spielte zwar bei einigen Konvertitinnen durchaus eine Rolle. Weitaus stärker standen aber die Attraktivität klarer und eindeutiger Geschlechterrollen und -regeln im Vordergrund sowie die Festigung bzw. überhaupt erst einmal Etablierung der eigenen Geschlechterrolle, manchmal auch der eigenen Geschlechtsidentität.456 Männern und Frauen werden dabei in der hier vertretenen Islamauslegung qua Geschlecht unterschiedliche Stärken und Schwächen zugeschrieben, wobei Frauen meist mehr Emotionalität, Irrationalität und eine angeborene Kompetenz für soziale Beziehungen, Care-Arbeit an Familie und Nächsten, Männern hingegen unter anderem Rationalität, Stärke und Durchsetzungsfähigkeit zuerkannt werden. Als Kehrseite wird Männern oft eine verminderte Befähigung zu Empathie, sozialer Kompetenz, aber auch zu Tätigkeiten wie z. B. Kindererziehung oder Pflegearbeit im Allgemeinen zugeschrieben. Diese Geschlechterstereotypen sind selbstverständlich nicht nur auf islamische, religiöse oder allgemein wertkonservative Kontexte beschränkt,457 sondern finden sich auch im gesellschaftlichen Mainstream und in der Mehrheit der Subkulturen. Hier im spezifisch islamisch-religiösen Kontext werden diese Geschlechterzuschreibungen, die gesamtgesellschaftlich durch feministische und Gleichstellungspolitik zumindest erschüttert worden sind und nicht mehr unhinterfragbar gelten, als göttlich gegeben bzw. gewollt angesehen und erfahren dadurch eine Aufwertung und Verstärkung.458 Hinzu kommt die durch religiöse Richtlinien verstärkte »klassische« Rollenaufteilung, die Männern den außerhäuslichen, Frauen den häuslichen Bereich zuweist. Wert wird zudem auf Geschlechterbinarität und Heterosexualität gelegt; Abweichungen von traditionellen Geschlechternormen wie Homo- und Bisexualität, geschlechtsuntypischem Ver-

455 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 143–223. 456 Von der Attraktivität des Islam für Konvertierte, die »Probleme mit ungeregelten Geschlechterverhältnissen und Sexualität« haben, berichtet auch Wenger-Jindra (2005), S. 157 (und ff.). 457 Vgl. dazu Wobbe/Nunner-Winkler (2007), S. 293 und 296 und Hofmann (1997), S. 207. 458 Interessanterweise mischen sich bei den muslimischen Konvertitinnen oft biologistische Erklärungen für die Geschlechterdifferenz unter die religiösen Argumentationen. Möglicherweise ist dies sowohl ein Zeichen dafür, dass die Konvertitinnen sich durchaus bewusst sind, dass eine rein religiöse Argumentation in der Mainstreamgesellschaft prekär bleibt, aber auch dafür, dass die Betreffenden so sehr von dem Primat angeblich »objektiver« Naturwissenschaften geprägt sind, dass sie auch für die interne Kredibilität religiöse und biologistische Erklärungsansätze koppeln.

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halten oder Transsexualität kommen als Negativfolien eine rollen- und identitätsstabilisierende Wirkung zu. Während die vorher genannten Aspekte der klaren Geschlechterstruktur in ähnlicher Form in vielen wertkonservativen Ideologien zu finden sind, werden sie im spezifisch islamischen Kontext459 noch um die religiös legitimierte Unterordnung der (Ehe-)Frau sowie eine restriktive Sexualmoral erweitert, die außer- und voreheliche Sexualität verbietet. Diese ganzen Aspekte habe ich unter »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität« subsumiert. Tatsächlich handelte es sich um eine der häufigsten Funktionen der Konversion; bei mehr als der Hälfte der Befragten, nämlich sieben Frauen, spielte sie eine mehr oder minder wichtige Rolle. Wohlrab-Sahr macht in ihrer Arbeit unter anderem massive Verunsicherungen in Bezug auf Geschlecht und Geschlechtlichkeit, z. B. Entwertungserfahrungen durch häufig wechselnde Sexualkontakte oder gar grenzüberschreitende bzw. missbräuchliche Strukturen in der Kindheit als Faktoren für die Attraktivität ihrer Funktion der »Implementation von Geschlechtsehre« aus.460 Ich konnte jedoch solche Erfahrungen unter meinen Befragten nicht feststellen. Eher schon waren es destabilisierte Elternbeziehungen, welche das Geschlechtermodell des Islam für die Befragten attraktiv machte. Mit Ausnahme von Aziza, die sich als Jugendliche in eine problematische Beziehung mit einem erwachsenen Mann flüchtet, und von Mara, die neben den als traumatisch empfundenen Trennungen der Mutter auch eine eigene, krisenhafte Trennung erlebt hat, berichteten die Befragten nicht von eigenen vorkonversionellen Beziehungsstrukturen, die als auffällig einzustufen waren. Interessanterweise kommen die Betreffenden dabei durchaus nicht aus Umfeldern, in denen eine konservative Geschlechterstruktur prägend war, zumeist ganz im Gegenteil. Selbst bei denen, die vorher religiös waren, fielen die Elternhäuser nicht durch eine besonders ausgeprägte wertkonservative Sexualmoral oder traditionelle Rollenzuschreibungen auf. Eine Ausnahme bildete hierbei lediglich Franziska, die aus einem Elternhaus entstammte, in der die für die DDR untypische Hausfrauenehe gelebt wurde, und deren Aussagen sich entnehmen lässt, dass sie im Hinblick auf Geschlechterrollen eher konservativ erzogen wurde. Andere Frauen hingegen entstammten einem Umfeld, welches 459 Zumindest in der hier untersuchten literalsinnorientierten Strömung des Islam wie auch im Mainstreamislam und den meisten anderen Strömungen. Nur im liberalen Islam, der derzeit eine Minorität darstellt, werden abweichende Geschlechterrollen und -identitäten sowie alternative Lebens- und Partnerschaftsmodelle inklusive Homosexualität akzeptiert. Seltener finden sich Mischformen, bei denen z. B. außer- und voreheliche Sexualität negativ sanktioniert werden, jedoch das Recht für Homosexuelle, monogame Ehen schließen zu dürfen, gefordert wird. 460 Vgl. dazu den Fall der Brigitte Haltun, S. 126ff., oder den der Elvira Berger, S. 152ff.

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entweder eher feministisch geprägt war, wie im Falle von Mara, oder gar von sozialer Ausgrenzung aufgrund abweichender Geschlechtermoral und/oder Rollenverteilung der Eltern gezeichnet war, so bei Hawwa und Khadidja. Hawwa hatte als Kind einer alleinerziehenden Mutter in einem konservativen Umfeld starke Diskriminierungen zu erleiden. Khadidja hingegen war die Tochter einer Mutter, die ihre Familie verließ, weshalb Khadidja beim Vater aufwuchs – was zur damaligen Zeit einen massiven Bruch mit den vorgesehenen Geschlechterrollen bedeutete. Ohnehin ist es in diesem Kontext interessant, dass Khadidja wie auch Mara, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, massive Enttäuschungen durch ihre eher unkonventionellen Mütter erfuhren. Mara bemerkte und kritisierte eine Diskrepanz zwischen den feministischen Idealen der Mutter und deren realem Verhalten, während Khadidja ihrer Mutter deren »Selbstverwirklichung« auf Kosten der Familie (Z. 94) offensichtlich nicht wirklich verzeihen konnte. Für Aziza wiederum, deren wenig durchsetzungsfähige Mutter darin versagte, die Rechte ihrer Kinder gegenüber dem Vater zu schützen, erfüllten die klaren Geschlechterregeln des Islam die Funktion, für jedes Geschlecht Pflichten, aber auch Rechte festzulegen und sich mit ihrer Geschlechtsidentität auszusöhnen. Hier bestätigt sich in vielen Aspekten der Befund der Religionspsychologin und -soziologin Wenger Jindra, die schreibt: »Psychologisch betrachtet zeigt sich hier, dass Konversionen […] eine Abwendung vom Alten bedeuten; man suchte nach etwas, was man in der eigenen Kindheit vermisst hatte«461. Zwar bezieht Wenger Jindra diese Aussage auf die Wahl der Religion je nach dem, ob man das »sozio-kulturelle und/oder das religiöse Milieu, in dem man seine Kindheit zugebracht hatte, als einengend« oder als »desorganisiert« empfunden habe, dennoch erscheint mir hier ihre Aussage übertragbar, zumal ergänzt um ihre Analyse, dass die Konvertierten mehrheitlich ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt hätten.462 Festzustellen ist jedoch trotz der Häufung instabiler oder dysfunktionaler Partnerschaften zwischen den Elternteilen und den daraus resultierenden Konflikten in der Eltern-Kind-Beziehung, dass unterschiedliche Lebenswege und Erfahrungen als biographische Grundlagen für die Attraktivität des islamischen Geschlechtermodells gelten können. Auch hier findet sich wieder das Nebeneinander von »Kontinuität und Wandel«463, sowohl innerhalb des Samples 461 Wenger Jindra (2005), S. 376. 462 Vgl. Wenger Jindra (2005). Das wörtliche Zitat stammt von Seite 376, die Bemerkung zum schlechten Elternverhältnis von S. 372. 463 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88, vgl. dazu auch S. 129. Bei Hofmann (1997), S. 157ff., findet sich dieses Begriffspaar in Bezug auf die rhetorischen Elemente in den Erzählungen selber, aber sie arbeitet nachfolgend auch die Kontinuität bestimmter lebensstruktureller Aspekte heraus.

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der Konvertierten, für die diese Funktion bedeutsam war und ist, als auch innerhalb der einzelnen Biographien. Diese Funktion ist bei Frauen wie Franziska anzutreffen, für die das islamische Geschlechtermodell letztlich eine Fortführung und Steigerung der Strukturen und Werte des Elternhauses darstellt, wobei diese hier um die Unanfechtbarkeit göttlicher Gebote ergänzt werden. Wo der Rechtfertigungsdruck für eine eigene Festlegung auf eine »konservative« Frauenrolle in den letzten Jahrzehnten gerade im akademischen Milieu enorm gewachsen ist, verschafft der Verweis auf göttliche Weisungen eine Sicherheit, die mit weltlichen Argumenten nicht so leicht zu entkräften ist. Zudem kommen die islamischen Geschlechterrollenvorgaben Franziskas Charakter entgegen, die eher harmoniebedürftig ist und den Wunsch hegt, unauffällig zu bleiben, etwas, was mit dem von diesen Strömungen propagierten Ideal der »demütigen und bescheidenen« Frau konform geht. Hingegen stellt die Zuwendung zum Islam für Frauen wie Mara oder Khadidja, die aus liberalen Elternhäusern kamen und vor der Konversion ein höchst autonomes Leben führten, einen radikalen Wandel der Weltanschauung wie auch der Lebensführung dar. Daneben gibt es Frauen wie Hawwa, die im Islam die als wohltuend empfundene Geschlechtersegregation ihrer katholischen Mädchenschule und eine Weiblichkeit, die gleichzeitig als konservativ und stark empfunden wurde, wiederfindet und unter anderen Vorzeichen fortsetzt, bei der also Wandel und Kontinuität zusammentreffen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das islamische Geschlechtermodell in den betreffenden Fällen die Funktion, also im Mertonschen Sinne die Folge, entfaltet, eine eigene Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle zu entwickeln oder zu festigen. Diese steht in manchen Fällen im Konflikt mit Prägungen und Wertvorstellungen des Elternhauses oder auch mit dem eigenen vorherigen Rollenverständnis, während sie in anderen Fällen eine religiös legitimierte und untermauerte Festigung einer bereits vorhandenen Identitätsstruktur darstellt. Auf jeden Fall steht hier die Selbstfindung als Frau im Vordergrund. Die hier untersuchten Strömungen des Islam liefern eine detaillierte Palette an vergeschlechtlichten Normen, Verhaltensregeln und Wertvorstellungen, die eine eigene Identitätsfindung und Rollenbildung erleichtern und sich daher stabilisierend bei Unsicherheiten hinsichtlich der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Identität und des eigenen Rollenverhaltens auswirken können. Hinzu kommt die Entlastung von als überfordernd empfundenen gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich der Kombination von Erwerbstätigkeit, Partnerinnenund Mutterschaft, bei welcher islamische Vorgaben klare und in vielen Fällen als befreiend empfundene Prioritäten bei der Care-Arbeit, sprich den häuslichen Tätigkeiten der Frau, setzen.464 464 Zur Überforderung durch gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, sich an als männlich

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Nachfolgend seien Ausschnitte aus der Fallanalyse der Konvertitin Aziza aufgeführt, bei der die Funktion der Konsolidierung der Geschlechterrolle und in ihrem Fall auch der Geschlechtsidentität besonders prägnant und facettenreich hervortritt. Aziza Aziza wird Ende der Siebziger in Westdeutschland geboren. Sie wächst in einer christlichen, aber nicht besonders gläubigen Familie auf. Ihre Mutter ist Krankenschwester, ihr Vater Handwerker. Das Verhältnis zu den Eltern ist nicht gut; den Vater beschreibt Aziza als autoritären Patriarchen, die Mutter scheint offensichtlich überfordert und nicht in der Lage, ihre drei Kinder vor dessen Dominanz zu schützen. Aziza interessiert sich nach eigenem Bekunden früh für andere Religionen und Kulturen, geht als junge Frau eine Beziehung mit einem Mann aus dem südamerikanischen Kulturkreis ein und beginnt eine Ausbildung. Die Beziehung verläuft unglücklich und scheitert nach einigen Jahren. In diese Zeit fällt auch ihr Interesse am Islam, welches durch Zufall geweckt wird. Sie konvertiert zum Islam und heiratet kurz darauf einen gebürtigen Muslim. Aziza beschließt nach einigen Jahren im Berufsleben, ein Studium zu beginnen, bekommt zwei Töchter und schließt ihr Studium erfolgreich ab. Aziza ist Hausfrau und arbeitet nebenbei ehrenamtlich. Für Azizas Konversion sind neben der klaren Geschlechterstruktur auch verschiedene andere Funktionen relevant, die hier nur am Rande gestreift werden sollen. Aziza ist nämlich eine Konvertitin, für die die Konversion eine relativ große Anzahl an Funktionen erfüllt. Diese sind unter anderem die »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft«, die »soziale Einbindung«, die »soziale Ressource« gegenüber ihrem Ehemann und die »Aufwertung der Mutterrolle«. Die Funktion, die hier jedoch besonders interessiert, ist die der »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität«, wobei bei Aziza primär die Festigung der Geschlechtsidentität im Vordergrund steht. Aziza scheint vor der Konversion große Probleme mit ihrer Geschlechtsidentität als »Frau« zu haben. Sie selber ringt als Kind um die Zuneigung des autoritären und patriarchalen Vaters, der Söhne vorzieht (Z. 798–805), während Aziza um seine »Anerkennung« (Z. 804) wirbt. Resultat dieses Konfliktes ist, dass Aziza ihre »Weiblichkeit« ablehnt und sich den Habitus aneignet, der gesellschaftlich dem anderen Geschlecht zugeschrieben wird. »Und, ich habe auch äh, irgendwie richtig Probleme gehabt […] mich weiblich zu geben […] und irgendwie war für mich empfundene Standards anzupassen, äußern sich auch die von Hofmann befragten Konvertitinnen, vgl. Hofmann (2012), S. 200f.

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das alles sehr negativ, ja, äh, geprägt« (Z. 805–808). Die Verwendung des Wortes »geprägt« zeigt jedoch noch eine weitere Kernproblematik auf: Das offensichtlich von männlicher Dominanz geprägte Geschlechterverhältnis465 der Herkunftsfamilie. Weiblichkeit bzw. Frauenrolle sind also doppelt negativ besetzt; von den Erwartungen des Vaters, der Männer bzw. Söhne vorzieht, wie auch von dem eher negativen Beispiel der Mutter. Aziza kann sich daher nicht mit den gesellschaftlich vorgegebenen Frauenrollen identifizieren. Erst mit der Konversion ändert sich das, als sie sich im Zuge ihrer vertiefenden Auseinandersetzung »mit dem Islam« (Z. 808) zeitgleich auch mit ihrer weiblichen Identität auseinandersetzt: »[Ich habe mich] mit dem Frau-Sein beschäftigt, und habe das dann auch immer mehr schätzen gelernt und als positiv erleben können, und äh, das ist auch gut ist, so wie man ist […] und dass es ja äh… auch so was Gottbestimmtes ist« (Z.809–812).

Der Islam mit seiner Betonung der »Annahme« bzw. der »Unterwerfung« unter den göttlichen Willen ermöglicht es aber nicht nur, wie es hier vordergründig scheint, die Geburt als »Frau« als Ausdruck göttlichen Willens zu akzeptieren – ein häufiges Motiv Konvertierter, die durch die Konversion zu positiver Selbstakzeptanz finden, weil sie sich und ihre Existenz als gottgewünscht und »richtig« empfinden lernen (die Aussage, dass man durch die Religion gelernt habe, dass es »gut sei, wie man ist« ist mir bei konvertierten Christinnen wie Musliminnen begegnet). »Frau-Sein« in einer traditionellen Ausprägung als Hausfrau und Mutter wird zudem im konservativen islamischen Kontext stark aufgewertet und positiv besetzt. Der Frau, insbesondere der Mutter, wird in ihrer »natürlichen« häuslichen Sphäre eine durchaus zentrale Rolle zugeschrieben.466 Diese Rolle unterscheidet sich diametral von der von Aziza erlebten Machtlosigkeit der Mutter in ihrer Herkunftsfamilie. Aber mehr noch: Der Islam in der literalsinnorientierten und puristischen Ausprägung, wie sie ihre Gemeinde vertritt, bietet die Möglichkeit, »Weiblichkeit« ohne äußerliche Attribute ausleben zu können. Die schlichte, Geschlechtlichkeit verhüllende Kleidung und die Ablehnung von Schminke und Schmuck, wie sie von den meisten Mitgliedern ihrer Gemeinde unter Berufung auf religiöse Vorschriften propagiert wird,467 465 Vgl. Z. 534–586, in der die Unfähigkeit der Mutter, sich gegen Azizas Vater zu behaupten, aufgezeigt wird. Die Mutter wird als wenig durchsetzungsfähige und überforderte Person gezeichnet, s. Z. 514–519. 466 Vgl. Hofmann (1997), S. 265ff. Sie zeigt in ihrer Analyse islamischer Weiblichkeitsbilder auf, wie »der« Islam von ihren Befragten als Mittel betrachtet wird, über eine Geschlechterdifferenzierung und eine Betonung der Mutterrolle Frauen zu einer Neuentdeckung ihrer Weiblichkeit zu bewegen. 467 So sollen aufgetragene Schminke, die meisten Haarfarben sowie Nagellack eine gültige rituelle Waschung unmöglich machen. Dazu kommt natürlich die Vorgabe, sich sexuell zurückhaltend zu geben und zu kleiden.

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ermöglicht es, Frauenrollen zu leben, ohne sich einen optisch dezidiert »weiblichen« Habitus aneignen zu müssen – etwas, was für einige Konvertitinnen, die ich kennenlernte, eine Rolle spielte. Wie oben bereits dargelegt wurde, empfindet Aziza das dichotome, auf eine Zweigeschlechtlichkeit mit klaren Rollenzuweisungen hin ausgelegte »islamische Geschlechtermodell« also keineswegs als Hindernis. Im Gegenteil, es stellt sogar eine wichtige Funktion der Konversion für sie dar. Aber wie sieht ihre persönliche Interpretation des islamischen Geschlechtermodells aus und wie setzt sie dieses in die Praxis um? Weiter oben wurde bereits analysiert, dass Aziza große Probleme mit ihrer »Geschlechtsidentität« als »Frau« hatte und im Islam eine Möglichkeit gefunden hat, sich mit dieser auszusöhnen. Aziza selber kommt aus einer Familie, in der, wie bereits geschildert wurde, ein patriarchales Machtgefälle zwischen dem autoritären Vater und der unsicheren Mutter herrscht (z. B. Z. 519–559). Denkbar wäre nun gewesen, dass Aziza sich entweder eine ähnliche Rollenverteilung sucht,468 oder aber eine radikale Abgrenzung vornimmt. Ihre erste feste Beziehung kann aufgrund der von ihr erwähnten Dominanz des Partners durchaus als »Fortsetzung« erlernter familiärer Muster verstanden werden. Auch ihr muslimischer Ehemann scheint zunächst in dieses Raster zu fallen und erteilt ihr Vorschriften und Verbote: »[D]a hatte ich dann auch ein paar Mal so Diskussionen, weil er dann ja, eher so traditionell orientiert war. Und, ja, ›Du musst das und das anziehen und Du musst das und das machen und das darf man nicht‹« (Z. 669–672).

Diesen Dominanzversuchen begegnet sie, die ihrem Mann an islamischer Bildung weit voraus ist, jedoch erfolgreich mit Argumenten aus dem Koran (zur Funktion von islamischem Wissen als sozialer Ressource für einige Konvertitinnen werde ich in Funktion E näher eingehen): »Da habe ich, dann habe ich ja schnell gelernt, irgendwie zu sagen: ›Dann zeige mir, wo das steht. Und dann schauen wir weiter.‹ Und irgendwann hat er es dann aufgegeben […] er kennt sich ja jetzt nicht so damit aus« (Z. 672–676).

Interessanterweise hat der Islam nun wieder die Funktion, Aziza Regeln vorzugeben, an denen sie sich orientieren kann und die als Handwerkszeug dienen, sich aus familiären Strukturen zu befreien. Sie, die gleichzeitig mit einer strukturlosen Familie, die im Endeffekt in der Vernachlässigung durch beide Elternteile gipfelte, und einer patriarchal-autoritären Geschlechterverteilung aufgewachsen ist, orientiert sich jetzt um. Anstelle einer männlichen Dominanz tritt nun die Vorstellung zweier gleichwertiger, aber voneinander verschiedener Rollen mit einer binären Zuweisung als »geschlechtsspezifisch« erachteter 468 Vgl. zur »Reproduktion von Vater-Tochter-Verhältnissen« in Beziehungen auch WohlrabSahr (1999a), S. 128.

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Verhaltensmuster. Konkret heißt das, dass eine islamisch konforme Aufteilung der innerfamiliären Aufgaben stattfindet, was Aziza in eine typisch islamische Geschlechterrhetorik kleidet: »[I]ch bin Innenminister, er ist Außenminister« (Z. 650). Offensichtlich ist genau diese eindeutige Rollenverteilung, welche sie nachfolgend weiter ausführt, Azizas Ausweg aus männlicher Dominanz und unklaren Strukturen. Eine frei aushandelbare Rollenverteilung feministischer Prägung würde Azizas Wunsch nach klaren Richtlinien widersprechen, die jedem der Geschlechter Grenzen und Pflichten auferlegt. Während Aziza in ihrer Kindheit die Abwertung des Weiblichen in Kombination mit Elternteilen, die beide ihrer Elternschaft nicht gerecht wurden, kennengelernt hat, gibt es in dem konservativen Islamverständnis Azizas genaue Regeln, denen sich keine_r entziehen kann. Aziza braucht und möchte äußere Vorgaben, einen Fahrplan gewissermaßen, der ihr hilft, ihr Leben in Strukturen zu lenken: »[D]ass es einen Weg gibt […], dass es da bestimmte Regeln gibt« (Z. 613–615).469 Wie wird diese Geschlechterordnung von Aziza begründet? Hauptsächlich biologisch: »Also, Männer und Frauen sind unterschiedlich, also einfach vom Biologischen, vom Kräfte her und so’n Zeug, ähm Ausnahmen gibt’s natürlich immer, aber einfach ähm, vom großen Ganzen gesehen her« (Z. 842–844), allerdings kritisiert sie eine Sozialisation auf bestimmte Rollen hin als »sehr extrem« (Z. 847). Hier wird deutlich, dass sie einen Spagat zwischen biologisch begründeter Geschlechterzuordnung und der Kritik an einer geschlechterspezifischen Erziehung versucht, die sich vermutlich auch aus ihrer eigenen »Jungenhaftigkeit« als Kind sowie ihrem Wunsch, ihre Töchter nicht aufgrund geschlechtlicher Zuweisungen einzuengen, speist. Zur islamischen Rollenverteilung gehört für sie auch die Kopftuchpflicht. Die Gemeinschaft mit anderen muslimischen Frauen und der Symbolgehalt des Kopftuchs als Erkennungs- und Zugehörigkeitsmerkmal sind für sie wichtige Aspekte; ausschlaggebend ist laut ihrer eigenen Aussage, dass es eine koranisch festgelegte Pflicht sei (Z. 358–362), die sie nicht hinterfragen möchte und bei der sie keine anderslautenden Interpretationen gelten lässt. Anders sieht dies bei Sure 4,34 aus. Auf diese Sure, in der die »Verantwortung« bzw. Vormundschaft des Mannes sowie dessen Züchtigungsrecht an der Ehefrau festgelegt, angesprochen, antwortet sie untypisch unentschlossen mit der Aussage, dass diese Koranstelle für ihre Lebenspraxis nicht relevant sei, da ihr Mann feinfühlig und sanftmütig (Z. 747–749) sei. Zudem interpretiert sie die Sure, die in ihrem Inhalt eigentlich eindeutiger ist als die umstrittenen Verschleierungs469 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 376, die darauf hinweist, dass die Konvertierten sich zu ihrem elterlichen Milieu konträre religiöse Strömungen bzw. Milieus suchen. In Azizas Fall wäre das eine strukturlose, von elterlichem Versagen wie auch von autoritärer väterlicher Dominanz geprägte Kindheit.

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suren, im Gegensatz zu diesen historisch-kritisch: »Und, äh, ansonsten ist ja dann auch immer noch die Frage, ist damit auch wirklich der Mann gemeint oder der Versorger oder sonst irgendwie so?« (Z. 749–751). Ihr Unbehagen mit dieser Sure ist offensichtlich: »[W]enn man es jetzt schon so irgendwie aus dem Zusammenhang nimmt und das so sieht, dann finde ich das jetzt auch nicht so positiv, also für mich. Also, […] man ist ja auch aufgewachsen und hat dann auch so seine Prägung und alles […]. Es wird da auch schon irgendwo, wird dann auch schon seine Gründe haben…« (Z. 752–757).

Interessant ist, wie sich ihre Argumentationslinie hier entwickelt. In der konservativen und literalsinnorientierten islamischen Literatur des Westens470 wird zumeist argumentiert, der Prophet habe selber seine Frauen nie geschlagen, und ein Schlag sollte, wenn überhaupt, mit einem miswak471 ausgeführt werden.472 Aziza hingegen bewertet diese Sure zunächst negativ und führt ihre »Prägung« an. Oberflächlich betrachtet, könnte man davon ausgehen, dass sie eine westlich-feministische Prägung meint, in der die Unterordnung von Frauen aus Gründen der Gleichberechtigung abgelehnt wird. Die Kombination mit dem »aufgewachsen« zeigt jedoch auf, dass sie genau das Gegenteil davon meint: Aziza ist bereits in einem von männlichem Machtmissbrauch geprägten Umfeld großgeworden. Daher hat sie besondere Schwierigkeiten, diese Aussage zu akzeptieren. Sie nicht zu akzeptieren, radikal umzudeuten oder aber auszusetzen,473 hieße jedoch, auch bei anderen koranischen Vorschriften Ermessensoder Handlungsspielräume zuzulassen. Das würde aber genau dieses feste Regelwerk, welches Aziza so wichtig ist, außer Kraft setzen. Also behilft sie sich mit der Unterwerfung unter Gottes Willen und mit der Annahme, dass dieser schon »seine Gründe haben« werde, diese Anordnungen zu treffen. »[Ä]h, und dass man dann eben auch nicht alles dann irgendwie durchanalysiert […], sondern es ist einfach so. Das steht da drin, und das wird dann irgendwie seine Gründe haben« (Z. 763–768). Hier geht es um Vorschriften, die Aziza weder direkt argumentativ begründen, noch wirklich akzeptieren kann. Die Wortwörtlichkeit des Koran anzuzweifeln, würde ihr jedoch die Sicherheit nehmen, die das klare islamische Regelsystem ihr vermittelt. Also akzeptiert sie diese Aussage, obwohl sie sie in Konflikte bringt, wenn es um häusliche Gewalt gegen Frauen geht: »Bringt mich 470 Prediger aus islamischen Ländern hingegen legitimieren eine Züchtigung aus triftigem Grund zumeist, vgl. dazu z. B. al-Qaradawi (1994), S. 174ff. Der Ehemann darf nach dessen Ansicht nur bei triftigen Gründen, etwa »Ungehorsam und Auflehnung« (S. 175), schlagen und nicht so, »daß es Schmerzen oder eine Verletzung hervorruft«, S. 174. 471 Zahnhölzchen, ein ca. handlanger Stab, mit dem die Zähne gereinigt werden. 472 Diese Aussage stellte auch den Konsens in ihrer Gemeinde dar. 473 Wie es z. B. Feministinnen wie Amina Wadud oder Asma Barlas tun.

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natürlich schon Probleme irgendwie« (Z. 771–772). In diesem Fall positioniert sich Aziza jedoch ganz eindeutig gegen das Recht auf männliche Gewaltausübung. Aziza löst die Dissonanz zwischen ihrer Lebenspraxis, in der sie Gewalt gegen Frauen, ob islamisch legitimiert oder nicht, verurteilt, und der strittigen Koranstelle auf, indem sie diese auf »Extremfälle« (Z. 769) begrenzt und sich dann auf anderslautende Koranstellen beruft. Aber der Zweifel, wie diese Aussage zu interpretieren sei, bleibt: »[U]nd habe dann auch wieder andere Stellen […] die dann irgendwie genau das Gegenteil, und die dann vielleicht für mich noch viel viel stärker sind« (Z. 781–783). Das »vielleicht« deutet den Zweifel an, welche der Koranstellen nun wirklich das Primat besitzen. Doch schlussendlich bleibt Aziza nur die Akzeptanz übrig, will sie keine Hintertür für mögliche Abweichungen von Struktur und Regelwerk öffnen. Ansonsten jedoch nimmt Aziza diejenige Deutung vor, die für die Argumentation wertkonservativer Muslime typisch ist und die mir auch in ihrer Gemeinde öfters begegnet ist: Nicht die Frau ist die Benachteiligte durch die Vormundschaft des Mannes und die Pflicht zur Kinderversorgung,474 sondern der Mann ist der eigentlich Leidtragende, dem die gesamte Verantwortung für die finanzielle Versorgung der Familie aufgebürdet wird: »Also… also für mich ist es schon so, dass eben… also für mich ist schon so der Mann auch so der Versorger, das heißt aber nicht, dass die Frau auch nicht irgendwie berufstätig sein kann […], das ist ja auch etwas was ich am Islam so ganz toll finde, wenn die Frau arbeitet, gehört das ganze Geld ja ihr, und der Mann muss ja für die Familie sorgen […] dann sag ich auch immer, also irgendwie tun einem die Männer ja schon so ein bisschen Leid, (räuspert sich), weil die so viel Verantwortung haben und soviel übernehmen müssen […] also das ist ja auch so wenn ich sage, ich möchte jetzt irgendwelche Kleidung haben […] dann muss der Mann das in der Pflicht, mir das zu kaufen… Aber ich kann ja mit meim Geld selber entscheiden, was ich mache…« (Z.869–881).

Von der Perspektive einer natur- oder gottgegebenen Geschlechterrollenzuschreibung aus erscheint diese Aussage natürlich und logisch. Die Frau bleibt immer der Dreh- und Angelpunkt des Familienlebens und der Kinder (»Verantwortung, auch jetzt zum Beispiel in der Familie […] Dass man da auch so eine zentrale Position auch hat«, Z. 829–830) und ist wegen festgelegter weiblicher Eigenschaften (»Wärme und Mütterlichkeit«, Z. 831) für die Mutterrolle prädestiniert. So würden ihre Töchter bei Problemen trotz einem liebevollen Verhältnis zum Vater immer nach der Mutter verlangen, so dass sie zu dem Schluß 474 Was nicht heißt, dass sie nicht arbeiten darf, sie ist aber nicht dazu verpflichtet, wohl aber zur Fürsorge für die Familie. Umgekehrt darf der Mann sich um die Kinder kümmern und soll es sogar, muss aber die wirtschaftliche Versorgung sicherstellen.

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kommt, dass eben zum Trösten und Auffangen das »Weibliche« (Z. 898) vonnöten wäre. Der Islam sei eine Religion, die hinsichtlich der Geschlechterrollenerwartungen an Frauen diese »Lebensrealität wider[spiegele]« (Z. 891–899). Andererseits korrespondiert mit dieser Verantwortung der Frau für die Familie diejenige des Mannes für das finanzielle Wohlergehen und für die gesamte Familie: »[I]ch bin Innenminister, er ist Außenminister« (Z. 650). Wenn man nicht das Auflösen von als einengend empfundenen Geschlechterrollen anstrebt, erscheint eine solche Aufgabenverteilung als gerecht und vor allem der »Lebensrealität« und den geschlechtertypischen Eigenschaften angepasst.475 Die beobachtete »Lebensrealität«, welche – zumindest aus einer feministisch-dekonstruktivistischen Perspektive – aufgrund bestimmter Zuschreibungen entsteht, dient dabei wieder als »Bestätigung« für ebenjene Zuschreibungen.476 Aziza findet durch den Islam also einen Weg, sich mit ihrem als »angeboren« empfundenen Geschlecht auszusöhnen, ohne sich in die Geschlechterrollen der Mehrheitsgesellschaft, die von ihr negativ besetzt werden, einfinden zu müssen. In diesem Zusammenhang ist ihre Antwort auf die Frage, was Frau-Sein für sie bedeute, relevant: »[Das] heißt für mich auch […] stark sein und äh, Verantwortung auch haben […] auch jetzt zum Beispiel in Familie« (Z. 828–830). FrauSein als Stark-Sein und Verantwortungsübernahme spiegelt deutlich den Gegenentwurf zur Mutter wieder, welche wiederholt in ihrer Schwäche beschrieben wurde. Freilich wäre es auch denkbar gewesen, dass Aziza in einem z. B. auf Selbstverwirklichung oder Karriere ausgelegten feministischen Modell diese Abgrenzung von der Mutter und damit auch von dem Lebensmodell der Herkunftsfamilie vollzogen hätte – nicht nur eine starke Mutterrolle hätte einen Gegenentwurf darstellen können. Aber die genannten Formen der Abgrenzung wären individualistische Gegenentwürfe gewesen und hätten zwar unter Umständen andere Funktionen erfüllen können, nicht jedoch die Einbindung in feste, auch geschlechterrollenregelnde, soziale Strukturen. Diese hätten jedenfalls erarbeitet werden müssen und wären nicht schon dem Lebensentwurf inhärent gewesen, wie es beim literalsinnorientierten Islam der Fall ist. Es erfolgt eine Aufwertung der traditionellen Frauenrolle, welche zwar für Aziza und andere Frauen auch zu einer persönlichen Stärkung führt,477 doch da sich »die Veränderung im Rahmen 475 Vgl. dazu auch Hofmanns Ausführungen, Hofmann (1997), S. 267f., modalisierende Anführungszeichen. 476 Modalisierende Anführungszeichen, vgl. dazu Hofmann (1997), S. 207: »[M]eine Gesprächspartnerinnen [bezogen sich] auf den Status quo, auf die Augenscheinlichkeit der bestehenden Ordnung, um zu beweisen, daß die Verhaltensweisen von Männern und Frauen in der Natur angelegt sind. Dabei beziehen sie sich auf intersubjektiv geteiltes Wissen, auf sozio-kulturelle Selbstverständlichkeiten, die keiner Explikation bedürfen.« 477 Vgl. Hofmann (1997), S. 268.

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der alten Geschlechterordnung bewegt, wird diese gestützt und nicht aufgebrochen«478. Bei Mara ist es der Verrat der Mutter an deren feministischen Idealen, welche sie zur Rebellion gegen diese bringt. Ihre Hinwendung zum Islam ist gleichermaßen eine Absage an das Weltbild die Mutter wie eine persönliche Abgrenzung gegenüber dieser : Mara Mara wird zu Beginn der Achtziger in einer westdeutschen Großstadt geboren. Ihre Mutter ist Feministin, beide Eltern sind akademisch gebildet. Sie lassen sich scheiden, als Mara noch ein Kind ist. Mara wächst mit ihren Geschwistern bei der Mutter und deren neuem Lebensgefährten auf. Als junge Frau verliebt sich Mara in einen Muslim und lernt durch die Beziehung den Islam kennen. Das Interesse vertieft sich trotz der Trennung von ihrem Partner, gleichzeitig durchlebt sie einige private Erschütterungen, die sie nach eigenen Aussagen empfänglich für religiösen Halt machen. Mara wird von einer muslimischen Freundin weiter mit dem Islam vertraut gemacht und konvertiert schlussendlich. Ihre Ehe mit einem muslimischen Mann scheitert nach einiger Zeit; das Paar lässt sich scheiden. Mara studiert und arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews. Maras Konversionsgeschichte ist insofern singulär innerhalb meines Samples, als sie selber im Laufe eines mehrjährigen Reflexionsprozesses dazu übergegangen ist, ihre Konversion auch lebensweltlichen Faktoren zuzuschreiben. Sie benennt klar die Verunsicherung durch persönliche, lebensweltliche Umstände – familiäre Erschütterungen sowie eine eigene Lebenskrise – als Motive für ihre Konversion, weswegen man in ihrem Fall zumindest partiell von »manifesten« Funktionen der Konversion sprechen kann.479 Daher wird sich die nachfolgende Untersuchung hauptsächlich darauf fokussieren, warum Mara von allen Religionen und Ideologien gerade den Islam gewählt hat und welche Funktionen dieser für sie erfüllt, sodass sie auch nach dem Überstehen ihrer Erschütterungen »am Ball geblieben« ist. Eine für sie wesentliche Funktion des Islam benennt Mara selber : Die Struktur, die ihr der literalsinnorientierte Islam durch seine Ritualisierung des Alltags vorgibt. Auf diese Funktion, die weiter unten anhand anderer Funktionsbeispiele ausführlich beschrieben werden wird, werde ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Eine weitere Funktion, die nur der Islam ihr bieten kann, 478 Hofmann (1997), S. 268. 479 D. h. von Folgen, die mit dem bewussten Motiv für eine bestimmte Handlung zusammenfallen.

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und die hier näher betrachtet werden soll, ist die der Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität – und zwar auch hier ganz klar in Abgrenzung gegenüber der Herkunftsfamilie. Diese Funktion deutet sich in der Erzählung von der feministischen Mutter (Z. 61) an, die ihre Prinzipien im Umgang mit Männern verrät und damit Maras »Weltbild […] erschüttert« (Z. 128–133). Dieses für sie sehr einschneidende Erlebnis lässt Mara den Glauben an ihre Mutter und den von ihr verkörperten Feminismus verlieren. Insofern ergibt es durchaus Sinn, dass sie sich einer Religion zuwendet, deren öffentliche Wahrnehmung gerade von ihrer Geschlechterungleichheit geprägt ist – auch in Anbetracht von Wenger-Jindras Befund.480 Tatsächlich erhärtet sich diese Deutung im Laufe des Interviews: Mara, die sich intensiv mit dem Geschlechterverhältnis im Islam beschäftigt hat (Z. 47), berichtet davon, wie die Mutter noch vor ihrer Konversion ihr Entsetzen angesichts der Vorstellung äußert, Mara könnte einen muslimischen Partner haben (Z. 281–283). Diese Befürchtung wird Mara später erfüllen – und in gewissem Sinne sogar übertreffen, denn ihre Ehe ist eine Vernunft- und keine Liebesehe (Z. 559–585). Auch an mehreren anderen Stellen wird die Opposition der Mutter gegen den Islam augenfällig (Z. 284–287, Z. 490– 493). Bezeichnend ist, dass Mara ihre Entscheidung für ihre Konversion ausgerechnet da trifft, wo eine intensive Beziehung in die Brüche geht. Der traditionalistische wie auch literalsinnorientierte Islam mit seinen strengen Reglementierungen von Liebesbeziehungen und der Priorisierung der arrangierten oder Vernunftehe bietet quasi das Kontrastprogramm zu der ungesteuerten, aber auch unsicheren Welt der romantischen »Lebensabschnittsbeziehungen«.481 Dabei kann ein direkter Zusammenhang dazu hergestellt werden, dass sie auch die Trennungen ihrer Eltern von den jeweiligen neuen Partner_innen (interessanterweise sind beide Eltern mit diesen nicht verheiratet) ebenfalls als zutiefst verstörend erlebt (z. B. Z. 108–110, Z. 121–133, Z. 135–139). Nicht umsonst versucht Mara es nach ihrer formellen Konversion mit einer islamisch arrangierten Vernunftehe ohne Gefühl: »Ähm, aber mir war schon bewusst, dass es eigentlich nicht derjenige ist, in den ich mich jetzt wirklich verliebt habe […]. Und dann hab ich’s trotzdem gemacht.« (Z. 567–571). Dabei benennt sie sogar die romantischen Enttäuschungen als Ursache, sie sei diesen Schritt gegangen, »weil vorher diese Liebe irgendwie nicht geklappt hat« (Z. 571–572). Mara grenzt sich also doppelt ab: Durch ihre Konversion wie durch ihre Ehe. Angesichts der stark feministischen Prägung der Mutter und der Rolle, die die Abgrenzung von 480 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 376, die darauf hinweist, dass die Konvertierten sich zu ihrem elterlichen Milieu konträre religiöse Strömungen bzw. Milieus suchen. 481 Vgl. zu der Tendenz konvertierter Musliminnen »einen gesellschaftlichen Wandel, der Trennungen zunehmend normalisiert«, als bedrohlich zu empfinden, auch Hofmann (1997), S. 212, zu dem Phänomen der Kurzlebigkeit romantischer Beziehungen bzw. der »Kritik an derzeitigen Geschlechterbeziehungen« auch ebd., S. 208 (ff.).

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dieser bei Maras Konversion gespielt hat, stellt sich die Frage, wie Mara sich in Bezug auf islamische Geschlechterrollen positioniert. Gedankenexperimentell482 sind mehrere Optionen feststellbar : 1. Mara vollzieht eine radikale Abkehr von den feministischen Werten der Mutter und wendet sich vollständig einem patriarchalen islamischen Geschlechtermodell zu. 2. Mara setzt den feministischen Kampf ihrer Mutter unter anderen Vorzeichen fort und lebt und propagiert, abweichend von den Geschlechtermodellen ihrer Strömung, eine feministische Reform im Islam. 3. Denkbar wäre auch noch eine »Mischform«: eine formale Bejahung islamischer Geschlechterrollenvorgaben ohne Umsetzung in der Praxis. Bei Mara sticht, wie bereits in der Analyse ihrer Konversion herausgearbeitet, ihre massive Enttäuschung und Verunsicherung hinsichtlich romantischer Beziehungen hervor – sowohl in Bezug auf diejenigen ihrer Eltern miteinander und mit deren neuen Partner_innen (z. B. Z. 108–110, Z. 121–133, Z. 135–139) als auch hinsichtlich ihrer eigenen (Z. 133–135, Z. 141–143). Es wurde ja schon dargelegt, dass das islamische Geschlechtermodell mit seiner Ablehnung außerehelicher Beziehungsformen und der Vorgabe formell abgesicherter Partnerschaften ihr in dieser Hinsicht eine ihr fehlende Stabilität verspricht. Jenseits dessen bejaht sie aber auch die Abgrenzung, die der Islam ihr gegenüber männlichen Personen ermöglicht. Dabei betont sie, dass der Islam ihr helfe, ihr inneres Gefühl zu artikulieren, und sie nicht etwa umgekehrt dieses zugunsten religiöser Vorschriften reglementieren müsse: »Ich hab dann halt versucht, möglichst irgendwie alles gleich umzusetzen. Äh, also gute männliche Freunde nicht mehr zu berühren […]. Also, wenn ich das jetzt mache, dann kann ich auch dahinterstehen und sagen, so: ›Ach ist irgendwie so angenehm [keinen Körperkontakt mit Männern zu teilen] oder‹, äh, dann ist das auch völlig okay.« (Z. 337–348). »Und das [Gebote zur Geschlechtertrennung halten] ist was, was, wo ich das Empfinden habe: ›Ah ich mach das so von aus innen, von innen heraus.‹« (Z. 598–599).

Dieser Effekt – die wirksame Abgrenzung von als unangenehm oder gar grenzüberschreitend empfundener körperlicher Nähe zu Männern – begegnete mir immer wieder bei Konvertitinnen, die, anders als viele gebürtige Musliminnen, den Vorher-Nachher-Effekt klarer zu benennen wussten. Dabei hilft das islamische Geschlechtermodell nicht nur, persönliche Grenzen zu wahren, sondern oft auch, Erfahrungen sexuell konnotierter Grenzüberschreitungen auf 482 In Anlehnung an Wohlrab-Sahr wende ich die Analyseform des Gedankenexperimentes nicht nur auf die Fortsetzung von Sequenzen, sondern auf den weiteren lebensgeschichtlichen Verlauf bzw. dessen Fortsetzung an, vgl. z. B. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 236ff.

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einer übergeordneten Ebene zu artikulieren bzw. symbolisch zu transformieren.483 Interessant ist, dass Mara die Frage nach dem idealen islamischen Mann ebenfalls sofort auf die persönliche Ebene transferiert: »Ähm, für mich persönlich, ähm, glaub ich… gehe ich gar nicht danach, wer der ideale islamische Mann ist, sondern wer wär der ideale.. Mann für mich« (Z. 532–533). Da Mara ein sehr hohes Reflexions- und Abstraktionsvermögen an den Tag legt, ist davon auszugehen, dass sie mit diesem Ausweichen auf die persönliche Ebene eine zu »allgemeingültige« Aussage und damit auch ein »ideologisches Statement« vermeiden möchte. Tatsächlich ist ihre erste Aussage über »ihren« persönlichen Idealmann eine, die der religiös vorgegebenen Gehorsamspflicht der Ehefrau diametral widerspricht: »Und das wär jemand, der […] mir nicht irgendwas vorschreibt« (Z. 535). Mara äußert ihr Bedürfnis, in einer Ehe nicht vom Partner eingeschränkt und bevormundet zu werden, an mehreren Stellen (Z. 548–549, Z. 551–553); damit liefert sie aber implizit das Statement, welches sie zu vermeiden sucht. Denn indirekt erkennt sie mit diesen Aussagen an, dass es im islamischen Mainstream (nicht nur in literalsinnorientierten Strömungen) durchaus teilweise religiös und sozial legitimiert wird, die Ehefrau auch in Fragen alltäglicher Autonomie zu reglementieren. Auf geteilte Vorstellungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft kann sie nämlich zumindest in diesem Punkt nicht Bezug nehmen.484 Nach dem weiblichen Pendant zum Idealmann, der idealen islamischen Frau befragt, tut sie zunächst ihr Unbehagen kund: »Ich find das genauso furchtbar es so zu beschreiben zu müssen. Ähm, weil es das meiner Meinung nach auch nicht gibt« (Z. 586–588). Nun gibt es im traditionalistischen wie auch literalsinnori483 Damit einher geht bei vielen der Frauen eine Entindividualisierung der Problematiken, die – ähnlich wie z. B. im Feminismus – als kollektiv-gesellschaftliche Phänomene begriffen und der individuellen Verantwortung enthoben werden. Dem Befund von Snow/Machalek (1983), S. 271ff., dass die Konversion dazu führe, dass die Konvertierten ihren Fokus von der Zuweisung von Verantwortung an die Gesellschaft hin zur Zuweisung von Verantwortung an sich selber verschöben, vermag ich daher in diesem Punkt nur partiell zuzustimmen. Zwar wird die eigene, in der Retrospektive als unzulänglich bewertete »Zurückhaltung« gegenüber Männern bzw. die früher »zu freizügige« eigene Bekleidung oft als (Mit-)Ursache für Grenzüberschreitungen bewertet, gleichzeitig wird aber auch oft die Unmöglichkeit einer solchen Abgrenzung außerhalb des islamischen Wertesystems betont, vgl. dazu auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 134ff. Der Begriff der »symbolischen Transformation«, Wohlrab-Sahr (1999a), S. 141, wurde von dieser der Theorie Susanne K. Langers entlehnt und in die Konversionsforschung eingebracht. Zur »Konversion […] als Lösung für Erfahrungen der Entwertung« im sexuellen Bereich (ebd., S. 142), vgl. auch ebd., S. 126ff. und S. 143ff. 484 Zur Übereinstimmung islamischer (konservativer) Geschlechtermodelle bzw. deren Inhalte mit gesamtgesellschaftlich geteilten Vorstellungen und Geschlechterbildern vgl. Hofmann (1997), S. 190ff. und insbesondere S. 207.

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entierten Islam sehr detaillierte Beschreibungen der »idealen« islamischen Frau; denkbar ist jedoch, dass diese Beschreibungen Maras Selbstverständnis widersprechen, wie auch, dass sie abstrakt nicht mit ihrer feministischen Prägung vereinbar sind, oder aber, dass diese ihr gegenüber der nicht-muslimischen Interviewerin unangenehm sind. Tatsächlich erläutert sie im nachfolgenden Abschnitt, dass die Gebote, auch die geschlechterspezifischen, eigentlich ihrem inneren Bedürfnis sowie der Rücksichtnahme auf andere entsprächen (Z. 589– 605). Damit legt sie gleichzeitig ein Bekenntnis zu den Geboten ab und streicht ihre Handlungsautonomie hervor; denn wer Gebote befolgt, die den eigenen Wünschen entsprechen, ordnet sich nicht unter, sondern verleiht der eigenen Persönlichkeit Ausdruck. Diese Argumentationslinie findet sich übrigens auch in ihrer Begründung wieder, warum sie den hijab trage (Z. 383–414). Offensichtlich kollidieren dabei für Mara verschiedene, gegensätzliche Diskurse: Der feministische, nach Selbstverwirklichung und Autonomie strebende, wie auch der islamische, der pluralistisch-kollektivistisch auf Grundlage relativ stark geschlechterdifferenzierender, komplementärer Geschlechterrollenvorgaben argumentiert. Diese Ambivalenz findet sich auch wieder, als Mara nach Geschlechterdifferenzen befragt wird: »Aber so diese.. ich, ich mag diese Vorstellung nicht, ähm, der Mann hat so und so zu sein, die Frau hat so und so zu sein I: Mhm. M: Weil ich glaube, das ist sehr, sehr, sehr individuell. Ähm… Klar, manchmal wenn ich so mit Schwestern rede, dann.. hab ich das Empfinden, dann redet man oft darüber, ja, viele.. deutsche, nicht-muslimische Männer und Frauen, da ist irgendwie das eventuell so, dass der Mann sich auch nicht mehr richtig als Mann gewertschätzt fühlt. […] Die Frau kann alles alleine machen. Der Mann braucht auch nicht zu heiraten, weil er alles kriegt, vorher. […] [E]s hat vielleicht nen gewissen Sinn, wenn man auch als Frau den Mann wertschätzt und wenn man als Mann auch die Frau bisschen.. äh, nicht nur als Kumpel behandelt I: Mhm. M: Sondern auch irgendwie.. äh.. viel dafür tut aber das hat, finde ich, nicht unbedingt was mit dem Glauben zu tun. […] Ich könnte auch nicht damit klarkommen, wenn ich meinen Mann irgendwie für alles um Erlaubnis fragen müsste (lacht). Find ich furchtbar. Ähm, für mich ist es ne Sache der Absprache, so… Na ja. Also für mich ist, ist es doch ganz wichtig ein partnerschaftliches Verhältnis zu haben« (Z. 614–634).

Hierbei zeigt sich sehr deutlich der Rekurs auf die von islamischen wie nichtislamischen Verfechter_innen geschlechterkonservativer Werte geteilte Vorstellung einer Komplementarität der Geschlechter, verbunden mit einer, wenn auch subtil (und über die Wiedergabe der Äußerungen Dritter) ausgeübten Kritik an dem gegenwärtigen Statusverlust der Männer. Dieser käme, so die Argumentation, durch eine zu große Selbstständigkeit der Frauen zustande.

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Umgekehrt beraubten sich diese durch ihre Autonomie der männlichen Wertschätzung und würden nur noch als »Kumpel behandelt«. Eingewoben darin ist der Diskurs, dass die neue sexuelle Freiheit zu Lasten der Frauen ginge, da Männer nicht zu heiraten brauchen, um Sexualität genießen zu können – mithin die Frau am Schluss als Verliererin dastünde.485 Auch hier findet sich wieder das, was man als »symbolische[…] Transformation« bezeichnen könnte, bei der »ein biographisches Problem gleichermaßen präsentiert wie auch transformiert« wird.486 Das biographische Problem stellt hier die Zerbrechlichkeit und Ungewissheit von heterosexuellen Paarbeziehungen dar,487 wobei dieses Problem eben nicht nur »präsentiert«, sondern auch in ein gesellschaftliches Grundproblem transformiert und damit auch persönlich umgedeutet wird. Dabei wird auf »sozio-kulturelle Selbstverständlichkeiten«488 hinsichtlich der Geschlechterzuschreibungen zurückgegriffen, allerdings um islamische Vorstellungen hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen erweitert.489 Mara relativiert diesen Argumentationsstrang, den man mit einiger Berechtigung als wertkonservativ, wenn nicht gar unfeministisch bezeichnen könnte, immer wieder durch Verweise auf die Individualität der Menschen – »sehr individuell« – wie auch dadurch, dass sie betont, wie wichtig ihr selber ein egalitäres Partnerschaftsmodell wäre, wobei sie den islamischen Begriff der Gleichwertigkeit und nicht den westlich-feministischen der Gleichberechtigung verwendet. Auf Sure 4,34 angesprochen, verweist sie auf den durch die weibliche Erwerbstätigkeit veränderten historischen und gesellschaftlichen Kontext, wobei sie jedoch interessanterweise einer in islamischen Diskursen häufig anzutreffenden Argumentationslinie folgt, wonach die islamischen Versorgungs- und 485 Vgl. dazu auch Hofmann (1997), S. 208ff., die bei ihren Interviewpartnerinnen ebenfalls oft einen Diskurs wahrnahm, bei dem Frauen als die Leidtragenden freizügiger Sexualität dargestellt werden. Bedingung für diese Schlussfolgerung ist jedoch eine geschlechterdifferenzierende Wahrnehmung von Sexualität und Nähe, wie die Autorin ebenfalls herausarbeitet. 486 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 138. Im Original sind »symbolische[…] Transformation«, »präsentiert« und »transformiert« kursiv geschrieben. 487 Hier finden sich Parallelen zu der von Wohlrab-Sahr (1999), ab S. 143 beschriebenen »Implementation von Geschlechtsehre«, S. 143, allerdings stellt die Transformation prekärer Geschlechterbeziehungen nur eine von mehreren Funktionen von Maras Konversion dar. 488 Hofmann (1997), S. 207. 489 Anders als die meist biologistisch begründeten Geschlechterzuschreibungen bzw. die Befürwortung traditioneller Familien- und Paarbeziehungen, die sich auch in anderen konservativen nicht-religiösen Ideologien bzw. im Falle ersterer auch im gesamten Mainstream der Gesellschaft finden lassen, stellt die unbedingte Betonung der Ehe und die strikte Ablehnung außerehelicher Sexualität ein Spezifikum wertkonservativer religiöser Strömungen dar.

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Erbregeln im Grunde zu Lasten der Männer gingen.490 Sicherlich handelt es sich hier auch um eine Narrative, die gerade von Interviewpartner_innen, die es gewohnt waren, sich des Öfteren gegenüber Außenstehenden zum Status der Frau im Islam rechtfertigen zu müssen, sehr häufig verwendet wurde. Auch beim Züchtigungsrecht des Mannes argumentiert sie in ähnlicher Weise, indem sie dieses als historisch zu betrachtende »Einschränkung« (Z. 673) schrankenloser Gewaltanwendung bezeichnet. Diese habe heutzutage an Gültigkeit verloren, gleichzeitig betont sie, dass sie wisse, »dass gewisse Dinge mal […] passieren können« (Z. 674–676), womit sie nicht nur auf physische, sondern auch auf verbale Entgleisungen bzw. allgemein unkonstruktives und konfrontatives Verhalten in Streitsituationen anspielt, wie sie nachfolgend ausführt. Offensichtlich klafft hier erneut eine Lücke zwischen persönlicher Einschätzung und allgemeingültiger Aussage. Anders, als man vielleicht erwarten würde, ist sie jedoch diejenige, die in ihrer Ehe bei Streitigkeiten vehement und konfrontativ auf ihrem Standpunkt beharrt hat (Z. 684–691), was im Grunde sowohl Mainstreamals auch islamischen Geschlechterrollenvorgaben widerspricht. Maras Ambivalenz hinsichtlich der Diskrepanz ihres eigenen Lebensentwurfes zu islamischen Normvorstellungen zeigt sich auch, wenn sie einerseits ihre Ablehnung islamischer Frauenliteratur kundtut: »Aber ich glaube das ging irgendwie zu nah, weil ich immer.. mich als Frau nicht zu sehr als.. Weibchen halt sehen wollte. […] Und in den meisten, meisten Frauenliteratur im Islam ist das also katastrophal« (Z. 721–724), andererseits aber oft Rhetoriken ebenjener Frauenliteratur des Islam wiedergibt. Im Grunde realisiert Mara hauptsächlich die gedankenexperimentell entworfene Möglichkeit 3: Sie bejaht islamische Geschlechterrollenvorgaben, setzt diese jedoch kaum in die Praxis um. Allerdings ist es interessant, dass sie da, wo sie es tut, diese Gebote bzw. Vorgaben als mit ihren eigenen Bedürfnissen konform artikuliert; hier finden sich Indizien dafür, dass Mara versucht, die Dissonanz zwischen einem feministisch geprägtem Individualismus und allgemeingültigen, überindividuell gültigen religiösen Geboten für sich stimmig zu überbrücken. An den Funktionsbeispielen lässt sich sehr klar erkennen, wie facettenreich und differenziert sich die Funktion darstellt, die ich als »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität« kategorisiert habe, nicht nur innerhalb des Samples, sondern auch in ihrer Ausprägung für die jeweilige Konvertitin. Der gemeinsame Nenner dieser Facetten, die letztlich etwas wie »Sub-Funktionen« darstellen, ist die Tatsache, dass es das spezifisch islamische Geschlechtermodell ist, welches konstituierend für diese Funktion ist. Ob und wieweit diese Funktion 490 Grundlage dafür bildet die Argumentationslinie, dass die Frauen arbeiten dürfen, aber nicht müssen, und im Falle einer Erwerbstätigkeit ihr gesamtes Geld behalten können, während Männer für die Versorgung der Familie zuständig seien.

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(bzw. ein ähnliches »Modell«, welches diese Funktion erfüllt) auch in anderen (neo-)konservativen religiösen Strömungen vorzufinden gewesen wäre – d. h. die Frage nach den »funktionale[n] Äquivalenten«491, wird in dem Kapitel über den Vergleich von konvertierten literalsinnorientierten Christinnen und Musliminnen zumindest teilweise beantwortet werden können. Schließlich ist ein literalsinnorientiertes Christentum das, was von der Struktur her in punkto klarer Geschlechterstrukturen einem entsprechenden Islam am nächsten kommt. B: »Strukturierung der Lebensführung« Die zweite Funktion war die der »Strukturierung der Lebensführung«. Diese Funktion ist an die von Wohlrab-Sahr in Berufung auf Max Weber beschriebene »Methodisierung der Lebensführung«492 angelehnt. Die Autorin beschreibt das Phänomen, dass der Islam als auch äußerlich strukturgebende bzw. -fordernde Religion bei manchen Konvertitinnen zur Strukturierung und Ordnung ihres Lebens beitrug. Allerdings bezieht sich Wohlrab-Sahr mehr auf das Phänomen, »daß viele Konvertiten sich dem Islam zu einem Zeitpunkt zuwenden, an dem ihre Bildungs- und Berufsverläufe destabilisiert sind und sie Mißerfolge in diesem Bereich zu verarbeiten haben. Gleichwohl gelingt es vielen, im Zuge der Konversion diese Phasen der Destabilisierung zu beenden«493. Dies führt Wohlrab-Sahr u. a. auf den Bildungsimperativ des Islam und dessen starke Strukturierung des Alltagslebens und die daraus resultierende »Selbstdisziplinierung« zurück, aber auch in Parallele zur von Weber beschriebenen protestantischen Ethik auf »ein religiöses Heilsstreben, dessen Erfüllung ungewiß ist und das gerade dadurch zu ständiger Anstrengung herausfordert«.494 Allerdings erschien mir bezüglich meiner Fallauswertungen der Rückgriff auf das von Weber entwickelte Konzept nur partiell zutreffend. Anders als in dem von Wohlrab-Sahr vorgelegten Fallbeispiel, war nämlich das, was für mich die Quintessenz von Webers »protestantischer Ethik« darstellt, bei den Muslim_innen nicht vorhanden: Die Entwicklung eines unerbittlichen Arbeitsethos und die Wertung des daraus resultierenden Arbeitsertrages als »Zeichen der Erwählung« angesichts einer Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Gnadenstandes, was zu einer »Systematisierung der ethischen Lebensführung« führte.495 491 492 493 494

Vgl. dazu Wohlrab-Sahr (1999a), S. 170. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 224. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 224. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 224, zum Bildungsimperativ S. 227, zur Strukturierung des Alltags S. 283ff., zur Selbstdisziplinierung S. 289, das wörtliche Zitat ist wiederum S. 245 entnommen. 495 Vgl. Weber (2006), S. 153ff., wobei das erste wörtliche Zitat S. 153, das zweite S. 159 entnommen ist.

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Diese Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Gnadenstandes konnte ich bei den Befragten nicht feststellen; vielmehr waren es die Vielzahl ethischer Vorgaben und Gebote im Islam, die sich strukturierend auf die gesamte Lebensgestaltung auswirkten. Hier seien etwa die fünfmaligen Gebete, die vor allem in den Morgen- und Nachtstunden viel Selbstdisziplin erfordern, aber auch die strengen Speisevorschriften oder das Fasten im Ramadan genannt. Daher erscheint mir der Begriff der »Strukturierung« angebrachter als der der »Methodisierung«, welcher auf eine im religiösen System selber zur Erlangung von Heilsgewissheit angelegte »Methodik« der Lebensführung anspielt.496 Ich möchte das von der Forscherin vorgelegte Konzept zudem gerne erweitern und von vorhergehenden Erfahrungen des Scheiterns entkoppeln. Zwar kam dieser Zusammenhang öfters vor, allerdings empfanden auch Konvertitinnen, deren berufliche Laufbahn stabil erschien, diese Ritualisierung und Strukturierung oft als hilfreich und wertvoll. Bei Wenger Jindra finden sich ebenfalls Hinweise auf die Orientierungsfunktion des Islam; sie schreibt: »[Sie] erlebten in ihrer Kindheit oder Jugend starke Gefühle der Desorientierung, die durch ein Herausgerissenwerden aus einem traditionellen […] Milieu (bei Konvertiten zu islamischen Gruppierungen), durch Verunsicherungen im Bereich der Geschlechterrollen (Konvertiten zu islamischen Gruppierungen) oder der familiären Verhältnisse (Konvertiten zu den Zeugen Jehovas und zu islamischen Gruppierungen) entstanden. […] Religion spielt die Rolle einer Ordnungsstifterin, gibt Menschen ein Gefühl ultimater Bedeutung und Ordnung, das ihnen infolge eines Abbruchs der Kommunikation mit signifikanten Anderen oder dem Herausgerissenwerden aus dem Herkunftsmilieu abhanden gekommen ist.«497

Im Grunde fasst Wenger Jindra hier meine Funktionen A (Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität), B (Methodisierung der Lebensführung) und D (Gegenentwurf Herkunftsfamilie) zu einem Typ zusammen, nämlich zu Typ zwei ihrer Analyse, der durch die Konversion aus als von ihr »weit« beschriebenen Herkunftsverhältnissen in ein »enges System« charakterisiert ist.498 Auch diese Funktion, die Strukturierung der Lebensführung, war eine der häufigsten des Samples; wie bei der Konsolidierung der Geschlechterrolle handelte es sich um eine Kategorie, die sieben Mal vorzufinden war. Anders als im sufistischen oder liberalen Islam legen die Autoritäten der von mir beforschten Strömung viel Wert auf die Einhaltung von Ritualen aller Art, auch 496 Vgl. Weber (2006), welcher auf S. 171 »die ›methodische‹ Systematik der Lebensführung zum Zweck der Erreichung der certitudo salutis« im Methodismus sowie dessen »Methodik« beschreibt. 497 Wenger Jindra (2005), S. 126, im Original fettgedruckt. 498 Vgl. Wenger Jindra (2005), S. 126ff., die ersten Anführungszeichen sind von mir, um einen von ihr sehr oft verwendeten Terminus hervorzuheben, die zweiten bezeichnen ein wörtliches Zitat (im Original fettgedruckt).

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über die Pflichtgebete hinaus. Letztere stellen zusammen mit dem Einhalten des Ramadan und anderer religiöser Feiertage natürlich die wichtigste, aber beileibe nicht die einzige Ritualisierung des (Alltags-)Lebens dar. Von den Gebetsformeln, die beispielsweise beim Betreten der Toilette oder vor wichtigen Unternehmungen aufzusagen waren, bis hin zu den Heil- und Segenssprüchen im Zusammenhang mit Aussagen zu erwünschten oder befürchteten Ereignissen – oder bei der Nennung Mohammeds – waren zum Beispiel verbale Rituale bei fast allen Mitgliedern der Gemeinden zu beobachten. Dazu kam noch die Einhaltung religiöser Speise- und Reinheitsvorschriften. Bei meinen Besuchen in den Gemeinden und bei Gemeindemitgliedern zuhause fiel zudem die an islamischen Prinzipien ausgerichtete Strukturierung des gesamten Alltags auch über explizit religiöse Vorgaben hinaus auf. Nicht nur wurden Gebetszeiten und die dazugehörigen Waschungen (außer, bei manchen Befragten, auf der Arbeit oder an der Uni) strikt eingehalten, auch Zeit für islamischen Unterricht, Aktivitäten mit Gleichgesonnenen und Eigenstudium wurde stets eingeplant. Offensichtlich, darauf deuten die Forschungsergebnisse sowohl anderer Forscher_innen wie auch meine eigenen hin, gestaltet sich die Befolgung einer Struktur einfacher, wenn sie von außen vorgegeben erscheint – sei es durch menschliches oder göttliches Diktat. Die verstärkte Strukturierung und Organisierung des Alltags wiederum erleichtert offensichtlich das Einfügen in und Aneignen von andere(n) Ordnungsstrukturen, selbst wenn diese nichts im eigentlichen Sinne mit dem Islam zu tun haben. Hinzu kommt, dass – zumindest in den von mir besuchten Gemeinden – viel Wert auf Bildung, nicht nur islamische, gelegt wurde. Dass dabei bestimmte Grundpfeiler moderner Wissenschaft negiert oder in Frage gestellt wurden – wie etwa die Evolutionstheorie – schloss keinesfalls aus, dass grundsätzlich der Imperativ zu (Weiter-)Bildung formuliert wurde. Daneben wurden gerade den weiblichen Mitgliedern Tugenden wie Reinlichkeit, Fleiß, Ordnung und Disziplin ans Herz gelegt bzw. auch von diesen selber hochgehalten. Ich habe selten so saubere, ordentliche und gepflegte Wohnungen besucht, zumal mit Kindern, wie die von Konvertitinnen. In diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, dass die als »typisch deutsch« definierten Eigenschaften wie Fleiß, Disziplin, Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit manchmal auch als Abgrenzungsmoment gegenüber der »orientalisch«-islamischen Kultur bzw. deren Zuschreibungen herangezogen und genutzt wurden. Einige Konvertitinnen ließen im Gespräch durchblicken, dass sie diese Eigenschaften als wertvolle Bereicherung eines als transkulturell verstandenen Islam empfanden, auch wenn keine dies so deutlich formulierte wie eine der von Käsehage interviewten Konvertitinnen:

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»Und ich (’) denke, wir leben jetzt in einer Zeit, wo wir Deutschen uns.. was aufbauen müssen, wir deutschen Konvertiten […] Ich denke, das wäre (’) ganz wundervoll, was man da aufbauen könnte! Also..eh..die Eigenschaften, die wir mitbringen: Genauigkeit, Konsequenz, Zielstrebigkeit, Organisation (lacht), diese Eigenschaften, die können (’) zusammen mit den..mit der islamischen Moral und Ethik so, kann so was Phantastisches (’) werden!«499.

Ich denke, dass hier zum einen ein Moment der Kontinuität und der Bewahrung einer »deutschen« Identität zum Tragen kommt, sogar bei Frauen, die vorher nicht viel von diesen Eigenschaften an den Tag gelegt oder diese besonders wertgeschätzt hatten. Zum anderen können sich in diesem Kontext auch orientalistische – in diesem Fall allerdings negativ besetzte – Fremdbilder zeigen, auf die bei der Funktion C noch näher eingegangen werden wird. Wichtig ist jedoch vor allem, dass die genannten Tugenden zu Identitätsmarkern werden und sowohl als »typisch deutsch« wie auch als »islamisch erwünscht« gelten und daher eine Verschmelzung beider, oft von außen als inkompatibel dargestellten Identitäten ermöglichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl der religiöse Imperativ wie auch der soziale des literalsinnorientierten Islam auf eine Ordnung, Strukturierung und Disziplinierung des Lebens zielten. Dies trug bei manchen offensichtlich sowohl zur Stabilisierung der beruflichen bzw. Ausbildungslaufbahn wie auch des persönlichen Lebens bei. Exemplarisch sei hier zuerst die Ausprägung dieser Funktion bei Edith dargestellt: Edith Edith wird in den sechziger Jahren in einer größeren Stadt in Norddeutschland geboren und hat zwei Schwestern. Ihre Mutter ist Hausfrau, ihr Vater ist Schreinermeister. Ihre Mutter ist christlich, und Edith wird christlich erzogen und bleibt auch bis zu ihrer Konversion gläubige Christin. Edith absolviert erfolgreich ihre Ausbildung und arbeitet in ihrem erlernten Beruf. Nach einigen Jahren Berufstätigkeit lernt sie einen gebürtigen Muslim aus Marokko kennen, den sie heiratet. Kurz danach fährt das Paar ins Heimatland des Mannes, wo sie zum Islam konvertiert. Das Paar bekommt zwei Kinder, die Ehe verläuft jedoch unglücklich, ihr Mann erweist sich als schlechter Ehemann und führt ein Partyleben. Wenige Jahre später trennen sie sich. Edith und ihre gemeinsamen Söhne bleiben fest im islamischen Glauben verwurzelt.

499 Käsehage (2016), S. 96, im Original durchgängig kursiv, Unterstreichungen im Original vorhanden, nach den Punkten folgen im Original teilweise Leerzeichen und teilweise nicht, was ich übernommen habe.

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Edith begründet ihre Konversion zunächst mit ihrem »Gefühl«; es wird jedoch relativ schnell deutlich, dass ihr Ex-Mann bei ihrer Konversion eine entscheidende Rolle gespielt hat. Das von ihr beschriebene Gefühl war offensichtlich stark an die Interaktion mit dem signifikanten Anderen und dessen Familie geknüpft. Dies erklärt jedoch nicht die Tatsache, dass sie trotz der unglücklichen Ehe und der nach wenigen Jahren erfolgenden Trennung Muslimin bleibt. »Gerade wenn aber der Islam durch konkrete Andere in den eigenen Horizont eingeführt und in konflikthaften Situationen bedeutsam wird, stellt sich die Frage, warum die Konversion auf Dauer gestellt wird, auch wenn diese Bezugspersonen wieder aus dem Leben verschwinden«500, betont Wohlrab-Sahr. Sie fragt in diesem Zusammenhang, »inwiefern die Konversion und die mit ihr einhergehenden Veränderungen der Weltsicht und Lebensführung eine stabile Problemlösung darstellen«501 und somit ihre Dauerhaftigkeit begründen. Nun greift in diesem Fall die Definition der Konversion als »Problemlösung« offensichtlich nur, wenn man, wie weiter oben zur Oevermannschen Problemdefinition erläutert, einen sehr weiten Begriff von »Problem« zugrunde legt. Tatsächlich bietet der Islam Edith offensichtlich vor allem Struktur und Halt, etwas, was sie auch verbalisiert (weswegen man hier wohl schon fast von einer manifesten Funktion sprechen kann, auch wenn sie den religiösen Aspekt mehr betont als den weltlichen): »[I]ch kann das jetzt nur so rück-, rückblickend sagen, dass mir der Islam auch mehr Halt gibt. Dieses ähm… Der Islam beschäftigt dich 24 Stunden am Tag. Also auch ähm, durch diese fünfmaligen (??), also fünfmal die Gebete am Tag. Das ist auch ne Struktur, und äh, ich hab zwar auch als ich christlich war gebetet, aber.. nicht so intensiv wie ich das jetzt mache. Und ähm, ich glaub auch die letzten Jahre vorher war ich auch gar nicht so oft in der Kirche mehr. Obwohl ich an Gott glaube, aber dieser, ja, aber der Islam ist einfach mehr Struktur.. mehr Sicherheit, Richtigkeit, Halt… Ja, das ist so das.« (Z. 117– 124).

Obwohl Edith erst einmal nicht mit gravierenden Strukturproblemen zu kämpfen zu haben scheint – ihr Berufsleben ist erfolgreich und sie berichtet von keinerlei beruflichen oder familiären Problemen, von der unglücklichen Ehe abgesehen – empfindet sie dennoch die Ordnung und den zeitlichen Rahmen, die der Islam vorgibt, als wohltuend. Von einer »Methodisierung der Lebensführung«, wie sie bei Konversionen »in Phasen der Destabilisierung« vorzufinden ist,502 kann man daher nur in weiterem Sinne sprechen. Anders als das Christentum, den sie nach eigenen Aussagen unregelmäßiger praktiziert hat, verlangt der Islam von ihr »24 Stunden am Tag« Aufmerksamkeit – etwas, was sie 500 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 172. 501 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 172. 502 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 224.

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offensichtlich als sehr positiv empfindet. Diese Sichtweise bestätigt die gewonnene Vermutung, dass Edith weniger zu einem Glaubens-, als vielmehr zu einem religiös begründeten Lebenssystem konvertiert ist. Was als maßgeblich vom Lebenspartner angeregte Entscheidung begann, bewährt sich im Alltagsleben und wird zu einer liebgewonnenen Struktur. Damit soll nicht gesagt werden, dass Ediths Entscheidung aus rein lebenspraktischen Gründen aufrechterhalten wird, wohl aber, dass die bereits vorher gläubige Edith hier eine religiöse Gemeinschaft findet, in der sie ihren Glauben weiterführen kann, aber als wesentliche Aspekte »einfach mehr Struktur.. mehr Sicherheit, Richtigkeit, Halt« hinzugewinnt. Dies erklärt auch, wieso sich die relativ streng praktizierende Edith auffallend wenig vom Christentum abgrenzt, sich nicht auf theologische Begründungen für ihre Konversion beruft (alle Begründungen beziehen sich entweder auf ihr »Gefühl« oder auf lebenspraktische Aspekte) und auch völlig auf standardisiertes islamisches Erzählgut verzichtet, wie islamische Konversionsrhetorik oder ritualisierte Segenssprüche bei der Nennung Mohammeds. Anders gelagert ist der Fall der Arifa, bei der sich durchaus eine gewisse Destabilisierung der Bildungslaufbahn vorfinden lässt, welche im Zuge der Konversion erfolgreich bewältigt wird.503 Arifa Arifa wird Anfang der Siebziger in der DDR als Tochter einer gläubigen evangelischen Familie geboren. Arifa bricht die Schule nach der Mittleren Reife ab, beginnt verschiedene Ausbildungen, zunächst, ohne eine davon abzuschließen, und lernt ihren ersten Partner kennen, einen gebürtigen, aber nicht praktizierenden Muslim. Sie konvertiert in einer für sie krisenhaften Zeit und beendet ihre laufende Ausbildung erfolgreich, während ihre Beziehung scheitert. Einige Zeit später heiratet sie einen aus dem asiatischen Ausland stammenden Muslim, mit dem sie Zwillinge bekommt. Die Ehe wird später geschieden; die beiden Söhne bleiben bei der Mutter. Arifa ist erfolgreich in verschiedenen Kontexten berufstätig und arbeitet in Vollzeit. Die Konversion erfüllt für Arifa verschiedene Funktionen; da Arifas Konversion eine derjenigen ist, bei der die »biographische Krise als Anlass für die Konversion«504 zutrifft, spielt die Krisenbewältigung durch die Konversion zunächst tatsächlich eine wichtige Rolle. Allerdings nicht die einzige; neben einer ganzen Anzahl von anderen, darunter auch geschlechterspezifischen, findet sich eben 503 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 224, die feststellt, »daß viele Konvertiten sich dem Islam zu einem Zeitpunkt zuwenden, an dem ihre Bildungs- und Berufsverläufe destabilisiert sind und sie Mißerfolge in diesem Bereich zu verarbeiten haben. Gleichwohl gelingt es vielen von ihnen, im Zuge der Konversion diese Phasen der Destabilisierung zu beenden«. 504 Ulmer (1988), S. 24, im Original kursiv.

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auch das, was ich als »Strukturierung der Lebensführung« bezeichne. Nachdem ihr Leben, insbesondere im beruflichen Bereich, von einigen (Ab-)Brüchen gekennzeichnet ist und sie die eigenen und externen Erwartungen einer akademischen Laufbahn nicht realisiert hat, hilft ihr die Konversion, die nötige Stabilität für die Beendigung ihrer Ausbildung zu finden. So berichtet sie, sie habe ihre Ausbildung nach dem Übertritt strikt »durchgezogen«, da sie »auch da ganz drin in diesem Lernen, von Islam, mich engagieren« (Z. 325–328) gewesen sei, und merkt an: »Ja also, ich glaube, dass ich da einfach für mich mehr Sinn gefunden habe und auch so ne Strukturierung von Alltag« (Z. 336–337). Die hier beschriebene Strukturierung der Lebensführung tritt erst nach der eigentlichen Konversion ein und entfaltet wohl erst nach der zunehmenden Intensivierung ihres religiösen commitment ihre Bindewirkung, es handelt sich bei ihr also im Mertonschen Sinne um eine latente Funktion – auch wenn ihr diese Folge der Konversion offensichtlich später selber bewusst ist. Dies muss keineswegs immer der Fall sein; ich nehme zwar an, dass die Strukturierung der Lebensführung eine Funktion darstellt, die vor allem für die Weiterführung und Intensivierung der Konversion jenseits des formalen Aktes der Konversion eine Rolle spielt. Allerdings muss hierbei auch bedacht werden, dass wie sonst wohl nur dem Judentum auch dem Islam der Ruf einer Religion mit festem Regelwerk innewohnt; es ist also nicht unvorstellbar, dass diese Zuschreibung bei der Entscheidung für die Konversion bei der einen oder anderen Konvertitin eine Rolle gespielt haben könnte (also als »Motiv« vorliegt). In diesem Fall würde sich diese Erwartung in den von mir beforschten Gemeinden jedenfalls erfüllen, und ebenjene »gesetzliche« Struktur könnte tatsächlich zur konversionsstabilisierenden – und lebensführungsstrukturierenden – manifesten Funktion werden.505 C: »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft« Diese dritte Kategorie bezieht sich auf das Phänomen, dass der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung eine von orientalistischen und exotistischen Zuschreibungen besetzte und als »fremd« gelabelte Religion darstellt und somit zu einem starken »Alleinstellungsmerkmal« für Konvertierte werden kann. Es geht darum, dass der Islam für manche der Betreffenden gerade aufgrund seiner »Fremdheit« eine starke Faszination ausübt, sie jedoch durch die Konversion selber zu Zielobjekten von othering (und Exotismus) werden, sich also aus der Mehrheitsgesellschaft hervorheben. Meine Kategorie weist Parallelen zu ver505 Merton (1995) schreibt dazu, dass das Motiv (»das subjektiv ins Auge gefaßte Ziel«) und die »objektive[…] Folge[…]« gleich sein können, aber nicht müssen. Fallen sie zusammen, spricht er von »[m]anifeste[n] Funktionen«, während »[l]atente Funktionen […] weder beabsichtigt sind, noch erkannt werden«, S. 49, Kursivsetzungen im Original.

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schiedenen Forschungsergebnissen meiner Vorgängerinnen auf, so bspw. zu Wohlrab-Sahrs Funktion der »Symbolische[n] Emigration«506. Diese wird von der Soziologin und Theologin wie folgt charakterisiert: »Diese symbolischen Emigrationen bringen ein Problem prekärer Zugehörigkeit zum Ausdruck und präsentieren dafür eine spezifische Lösung, indem sie das Verlassen des symbolischen Bezugsrahmens erlauben, aus dem die konflikthafte Zugehörigkeit resultierte«507. Damit einher ginge, so die Forscherin, die Einbindung in neue Gemeinschaftsstrukturen, in »eine Form der Gemeinschaft, die sich über die betonte Abgrenzung nach außen herstellt« – in diesem Zusammenhang bringt sie auch die Faszination für das Fremde, Exotische ins Spiel.508 Sie betont zudem die ostdeutsche Herkunft der Frauen, bei denen die Funktion der »Symbolischen Emigration« die markanteste war, und zieht einen Bogen zum Wiederfinden bzw. zur Fortführung von DDR-Strukturen im Islam.509 Auf die »Faszination durch das Fremde« bezieht sich auch Hofmann; sie arbeitet den Zusammenhang zwischen »Feindbild Islam« und dessen positiver – in postkolonial-queerfeministischer Sprache: exotistischer bzw. orientalistischer – Kehrseite heraus.510 Zudem verweist sie im Rahmen ihrer Ausführungen zu »Kontinuität und Wandel« auf die »Kontinuität der Andersartigkeit«, bei der die Frauen, die sich vor der Konversion als »außerhalb […] [der] Normalität stehend« und »als etwas Besonderes, Einzigartiges« empfanden, dies jedoch nicht positiv besetzen konnten, diese Selbstwahrnehmung durch die Konversion zu einem positiven Identitätsgefühl umformen können: »Das Gefühl der Besonderheit setzt sich mit der Konversion fort, erhält aber eine andere Qualität«.511 Nina Käsehage verweist in ihrer Arbeit auf den Orientalismus, der in den Äußerungen mancher von ihr befragter Konvertierter zum Tragen kommt; dabei ergänzten sich »positive« und »negative« Stereotypen hinsichtlich gebürtiger Muslime.512 Damit einher gingen, so die Forscherin, ähnlich stereotype Definitionen der eigenen bzw. deutschen Kultur: »Dabei fällt zum einen auf, dass sie ihr ›Deutsch-Sein‹ über potentiell klischeelastige Zuschreibungen wie ›Ordentlichkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit‹ definieren […], um sich zugleich damit von ihrem ›orientalischen Gegenüber‹ [abzugrenzen],

506 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 294. 507 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 292. 508 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), das wörtliche Zitat stammt von S. 315, auf den Reiz des Exotischen bezieht sie sich auf S. 318ff. 509 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), zum ersten Punkt u. a. S. 292, zum zweiten u. a. S. 303ff., S. 320. 510 Vgl. Hofmann (1997), S. 137ff. 511 Vgl. Hofmann (1997), S. 157ff., erstes Zitat von S. 157, die folgenden von S. 159. 512 Vgl. Käsehage (2016), S. 81f. Modalisierende Anführungszeichen.

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was als ›zu emotional, unzuverlässig und zu sehr in der Sozialisation des Herkunftslandes verankert‹ charakterisiert […] wird«513.

Dem gegenüber stehe die »Exotismus-Sehnsucht bzw. -Verherrlichung, wenn der ›orientalische Muslim‹ […] als – ebenso einseitig – ›attraktiv, warmherzig und großzügig‹ präsentiert werde«514. Ich habe mich aus mehreren Gründen dafür entschlossen, die WohlrabSahrsche Trias aus Faszination für das Exotische, sozialer Einbindung und der Fortführung von DDR-Strukturen zunächst aufzulösen. Auch wenn der Gedanke einer Kopplung von der Attraktivität des Fremden vor dem Hintergrund »prekärer Zugehörigkeit« und der daraus resultierenden »symbolischen Emigration«, die in einer starken Einbindung in neue Gemeinschaften mündet, logisch erscheint, ist dieser Zusammenhang nicht zwingend. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich der Reiz des Fremden trotz guter sozialer Einbettung (oder gerade wegen dieser, als »Ausbruchsversuch«) entfaltet, oder dass sich die prekäre Zugehörigkeit auch nach der Konversion weiter durch das Leben der Frauen zieht.515 Zudem sind zahlreiche Szenarien denkbar, in denen soziale Zugehörigkeit mit Abgrenzung nach außen erworben werden kann, auch in religiösen Gemeinschaften, ohne dass diese Einbindung in irgendeiner Form mit der Anziehung für als »exotisch« oder »fremd« empfundene Gemeinschaften einhergehen muss (z. B. bei Konversion in christlich-literalsinnorientierte Gemeinschaften). Abgrenzung von bzw. Hervorhebung aus dem Mainstream und Faszination für das Fremde müssen wiederum nicht notwendigerweise deckungsgleich sein; man denke an eine Vielfalt von Subkulturen, die ersteres erfüllen, ohne jedoch als »fremd« oder »exotisch« wahrgenommen zu werden.516 Dagegen ist jedoch der Islam so stark als exotisch, zum Mindesten aber »fremd« besetzt, dass eine komplette Entkopplung dieser Religion von entsprechenden Zuschreibungen zumindest derzeit so gut wie unmöglich erscheint.517 Die Fortführung von DDR-Strukturen schien mir wiederum als nicht unbedingt zwingend mit dem Wunsch nach sozialer Einbindung einhergehendes Phänomen. Tatsächlich muss hier noch einmal zwischen der eher unspezifischen sozialen Komponente von Zusammengehörigkeit, Solidarität und der 513 Käsehage (2016), S. 81. 514 Käsehage (2016), S. 82. 515 Anhaltspunkte dafür gibt es z. B. im Fall der von Wohlrab-Sahr (1999a) analysierten Kerstin Hourani, dazu insbesondere S. 323ff. 516 Beispiele wären etwa hauptsächlich musikalisch definierte Subkulturen wie Gothic oder Metal, aber auch politische Subkulturen wie Punk und rechte Bewegungen. 517 Dies schlägt sich auch in den Erfahrungen in Deutschland geborener und/oder deutschstämmiger Mulim_innen, als »ausländisch« geothert zu werden, nieder und zeigt sich auch in Debatten darüber, ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht.

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engmaschigen sozialen Einbindung und der eher spezifischeren und ideologischen einer weltweiten Solidargemeinschaft mit Verteilungsgerechtigkeit und (zumindest theoretisch) gleichberechtigter Brüderlichkeit differenziert werden.518 Wenn es spezifische DDR-Strukturen waren, die die Befragten im Islam (wieder-)gefunden hatten, dann habe ich dies Funktion J zugeordnet; wenn es grundsätzlich eher um die Einbindung in eine engverbundene Peergroup ging und nicht um das Wiederfinden verlorengegangener, DDR-geprägter sozialer Zugehörigkeit, habe ich dies unter E vermerkt. Zudem sei noch ergänzt, dass sich die hier beschriebene Funktion auch bei Westsozialisierten vorfinden ließ. Zusammenfassend lässt sich sagen: Charakteristisch für diese Funktion ist, dass sie die Betreffenden aus der Mehrheitsgesellschaft »hervorhebt«. Dies geschieht durch die Zuwendung zu einer neuen, »geotherten« Community und die Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft; zwar gehören beide Aspekte zusammen, welcher jedoch stärker im Vordergrund steht, ist individuell verschieden. Wenn es eher um die Zuwendung zu einer neuen, positiv als »exotisch« besetzten Gemeinschaft geht, ist oft ein deutlicheres Zögern spürbar, eine striktere, oft mit feindlichen Reaktionen der Außenwelt verbundene Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft – wie beispielsweise das Tragen des hijab und anderer dezidiert islamischer Kleidung – vorzunehmen. Geht es jedoch mehr um dieses Abgrenzungsmoment, wird oft genau das Differenzherstellende besonders ausgelebt.519 Um zu beleuchten, welche Ausprägungen die Kategorie der »Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft« annehmen kann, möchte ich diese zuerst am Beispiel Khadidjas darlegen: Khadidja Khadidja wird Mitte der sechziger Jahre in Westdeutschland als Tochter eines Bankangestellten und seiner in der Modebranche tätigen Ehefrau geboren. Die Eltern sind formell evangelisch, aber nicht religiös, Khadidja wird jedoch dennoch getauft und konfirmiert, ohne aber selber gläubig zu sein. Ihre Mutter verlässt die Familie, als Khadidja und ihre beiden Schwestern noch Kinder sind. Khadidja studiert nach dem Abitur Kulturwissenschaften. Bei einer Reise nach Marokko lernt sie ihren späteren Mann kennen, den sie recht bald heiratet. Nach einigen Jahren konvertiert sie. Khadidja hat drei Söhne und ist in Teilzeit tätig.

518 Vgl. auch die Parallelen, die Eisenstadt (2002), auf S. 19 zwischen dem, was er als »Islamic fundamentalist regimes« bezeichnet (bzw. auf S. 18 als »fundamentalists«), und der Ideologie des Kommunismus zieht. 519 Vgl. dazu auch Hofmann (1997), S. 167: »Als herausragendes Zeichen, als markantestes Signal der Andersartigkeit ist dabei insbesondere bei den Frauen die Kleidung zu sehen und hier besonders der Schleier oder das Kopftuch«.

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Khadidja studiert zunächst und ist nebenbei im hedonistischen Milieu unterwegs, bis sie Urlaub in Marokko macht (Z. 73–75). Dort kommt sie zum ersten Mal mit dem Islam in Berührung, mit dem sie sich vorher nie beschäftigt hatte: »Klar hat man Muslime um sich gehabt, aber ähm, man hat sich ja nie wirklich mit dem Islam auseinandergesetzt« (Z. 124–125). Das unpersönliche »man« verrät sowohl ihre Distanz zum Islam als auch ihre diesbezügliche (frühere) Übereinstimmung mit der Mehrheitsgesellschaft, in der »man« sich eben nicht mit dieser Religion beschäftigt. Sie reist zunächst mit Freundinnen und ist so begeistert von Land und Leuten, dass sie später noch einmal einen längeren Urlaub dort verbringt (Z. 130–150). Die Aussage, sie habe bereits beim ersten Besuch etwas gespürt, was es zu erforschen galt, ohne zu wissen, dass dies »tatsächlich der Islam gewesen [sei]« (Z. 146) ist wohl eher als ein standardisiertes Element der Konversionsrhetorik zu betrachten: »Dies wird man im Hinterkopf haben müssen, wenn Konvertiten […] die neue Religion als Lösung für Fragen und Probleme präsentieren, die sie immer schon hatten, die ihnen aber früher nicht so recht deutlich waren«520. Zunächst ist sie nämlich eher von islamischer bzw. landestypischer Kultur denn von den religiösen Inhalten des Islam begeistert: »[D]ie Begeisterung für den Islam ist dann sozusagen so entstanden, ohne dass ich jetzt wirklich was so richtig ähm, ähm, wusste, Bescheid wusste, also ich hatte ja noch nicht wirklich den Koran gelesen oder irgendwas, das ist dann nachher gekommen. I: Und was hat Dich genau quasi am Islam fasziniert, oder interessiert? M: Das waren eigentlich erstmal die Muslime, so äh, die Marokkaner […]. Und dann kam natürlich die Kunst hinzu« (Z. 152–161).

Später führt sie aus, dass sie auch die »Stimmung« beim islamischen Gebet nachhaltig »faszinierend« und beeindruckend gefunden habe (Z. 163–170). Khadidja, die bereits im Studium nach eigener Aussage ihren Schwerpunkt auf Fremdes (Z. 54) gelegt hatte, zeigt in ihren Schilderungen sehr deutlich ihre Faszination für das Fremde, Exotische, »Andere«.521 Hinzu kommt die Komponente sozialer Bindungen, als sie ihren marokkanischen späteren Mann kennenlernt (Z. 182–184). Dieser ist eigentlich »[n]icht besonders« religiös (Z. 267). Hier stellt sich also die Frage, weswegen sie überhaupt konvertiert, was ihr Mann nicht von ihr erwartet (Z. 200), sogar mit einer gewissen Skepsis betrachtet (Z. 259–263) und was zunächst auch nicht aus einer besonderen inhaltlichen Beschäftigung mit dem Islam resultiert. Trotz aller Faszination und Begeisterung für die andere Kultur äußert sich Khadidja aber auch immer wieder kritisch und abgrenzend zu dieser. Etwa, 520 Wohlrab-Sahr (1999b), S. 490. 521 Said bezeichnet dies im Falle von Zuschreibungen an einen sogenannten »Orient« als »Orientalismus«, vgl. Said (1979), insbes. S. 38ff.

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wenn sie sagt: »wir sind ja anders als die arabischen Frauen, wir deutschen Muslime« (Z. 601–602), kritisch von dem Verhalten der »Orientalen« (Z. 631) spricht, feststellt, es sei »total schwierig, mit den orientalischen Männern« (Z. 607) und konstatiert, dass die Frauen dieser Regionen ihre Ungleichheit nicht infragestellen würden (Z. 608–609). Bezogen auf die Geschlechterungleichheit zuungunsten von Frauen fällt sie daher das Urteil, »das [sei] in allen arabischen Ländern so« (Z. 666–667). Khadidja schwankt also zwischen Faszination für und kritischer Beurteilung der Kultur(en), die sie als »orientalisch« wahrnimmt.522 Für Khadidja, die durch ihre Teilhabe in der alternativen Szene bereits eine gewisse Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft vorgenommen hatte, entfaltet die Konversion später die Wirkung einer noch viel radikaleren Abgrenzung vom Mainstream. Sie wird Teil einer als »exotisch« bzw. »fremd« wahrgenommenen Kultur und nimmt dadurch innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft einen Sonderstatus als »Fremde« ein, die »geothert« wird, diesen Sonderstatus hat sie aber auch innerhalb der neuen Community inne, wo sie wiederum auf ihr Deutschsein Bezug nimmt. Damit führt die Konversion zu einer doppelten Abgrenzung und zu einer Stärkung der eigenen Identität. War sie vorher eine subkulturelle Deutsche, ist sie nun »Ausländerin« in Deutschland und Deutsche innerhalb der sowohl bewunderten wie kritisierten »Orientalen«. Was bei manchen sicherlich zu einer Identitätskrise führen würde (so zum Beispiel bei einigen in Deutschland geborenen Muslim_innen mit Migrationshintergrund), stellt bei ihr eine positiv besetzte Funktion der Konversion dar. Ähnlich ist dies bei der bereits vorgestellten Arifa gelagert; bereits aus ihrer Lebensgeschichte lässt sich herleiten, dass die direkte Konfrontation mit der Mehrheitsgesellschaft eine zentrale Funktion von Arifas Konversion darstellt. Arifas Erzählung beginnt mit einer Aussage über ihr spezielles Standing (Z. 12) als Christin in der DDR und die Abgrenzung zur atheistischen Mehrheitsgesellschaft. Eine mögliche Konversionsfunktion scheint hier auf: Offensichtlich kennt und schätzt sie das Gefühl, sich als Teil einer religiösen Minderheit aus der Gesellschaft hervorzuheben. Möglich wäre hierbei, dass sie die Beharrlichkeit des Glaubens in einer religionskritischen oder überwiegend atheistischen Gesellschaft als Alleinstellungsmerkmal schätzt, möglich wäre auch, dass ihr das Festhalten am Glauben an sich als besonders verdienstvoll erscheint. Zumindest ersteres bestätigt sich schon wenige Sätze später, als sie erwähnt, sie und ihre Familie hätten sich stets von der sozialistischen Mehrheitsgesellschaft unterschieden (Z. 14).

522 Die Kombination würden post-koloniale Kritiker_innen als zwei Seiten des o.g. Phänomens betrachten.

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Ihre ersten Kontakte mit Muslim_innen fallen überwiegend negativ aus. Sie bemängelt das Auftreten der muslimischen Jungs, die sie »schrecklich« gefunden habe (Z. 121), die Unterdrückung von muslimischen Frauen und Mädchen (Z. 149–157), sowie das Verhalten von Muslimen, die auf islamische Überlegenheit pochen, aber »verbotene Dinge« (Z. 176) taten. In diesen auch rückwirkend sehr negativ geschilderten Erstkontakten scheint zunächst kein potentieller Konversionsgrund aufzutauchen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass das »Besondere« des Religiösen im säkularen Kontext aber auch hier wieder auftaucht, wenn sie kritisiert, diese Muslim_innen hätten sich nicht »als was Spezielles« präsentieren sollen, obwohl sie »nicht danach [ge]handelt« hätten (Z. 177–178). Die Ausdrucksweise Arifas ist hier bedeutsam: Sie könnte z. B. auch kritisieren, dass man sich überhaupt aufgrund der Religion als etwas »Spezielles« hinstellen möchte. Dies tut sie aber nicht; sie stört nicht die Tatsache, dass sich die erwähnten Muslime wegen ihrer Religion als speziell empfinden, sondern, dass sie dies tun, obwohl sie eigentlich nicht ihrer Religion gemäß handeln. Zudem findet die junge Arifa offensichtlich Gefallen darin, mit ihrem Wissen über den Islam, welches sie sich sukzessive aneignet, ihren Bekannten deren unislamisches Verhalten aufzuzeigen (Z. 174–179). Arifa kommt durch ihren späteren muslimischen Partner weiter in Kontakt mit dem Islam und konvertiert im Rahmen einer krisenhaften Lebenssituation. Als vorläufiges Fazit könnte man ziehen, dass Arifa in einer Lebenskrise im Islam die Orientierung findet, die sie braucht. Dies erklärt aber noch nicht die langfristige Bindewirkung. Eine wichtige Funktion der Konversion stellt das »Spezielle« des Islam dar. Auch wenn die politischen Rahmenbedingungen nicht vergleichbar sind, kommt dem Islam und den Muslim_innen in der heutigen deutschen Gesellschaft eine Außenseiterrolle zu, welche gewisse Parallelen zur Ausgrenzung von Christ_innen in der DDR aufweist, ein Phänomen, was sich auch bei anderen ehemals christlichen ostdeutschen Konvertit_innen findet.523 Beharrlich bei der religiösen Wahl zu bleiben, auch gegen den Widerstand und die Kritik der Mehrheitsgesellschaft, ist etwas, was Arifa nicht nur aus der DDR kennt, sondern vor allem auch etwas, was sie (und auch andere ehemals christliche Konvertitinnen mit ostdeutschem Hintergrund) mit Stolz und Sen523 Vgl. dazu den von Wohlrab-Sahr (1999a) dargelegten Fall der Kerstin Hourani (S. 311ff.), die Teil der Evangelischen Kirche in der DDR war und bei der sich ebenfalls das Element der Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft findet: [N]aja mit dem Islam. Das is’ quasi das, .. also es war die einzigste Alternative. Denn die Kirche jetzt im Westen is’ nich’ die Kirche, die es im Osten ma’ war« (S. 312f.) Nachfolgend führt sie darunter auf, dass die Kirche im Westen eine »Institution« sei und das »Familiäre« fehle (S. 312). Wohlrab-Sahr konstatiert, dass in »Kerstin Houranis Biographie Gemeinschaft über rebellische Abgrenzung nach außen hergestellt« werde, »und daß es für sie dabei nicht um ein begrenztes Engagement, sondern um schrankenlose Zugehörigkeit« ginge (S. 317).

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dungsbewusstsein erfüllt. So antwortet sie, befragt nach den für sie wichtigsten islamischen Werten, diese seien für sie neben »Ehrlichkeit« insbesondere Unerschütterlichkeit bei widrigen Umständen (Z. 346–350). Arifas Bereitschaft, mit Stolz für ihren Glauben Nachteile bis hin zu Verfolgung und Diskriminierung auf sich zu nehmen, ist wohl schon in der DDR entstanden und findet im Islam eine neue Heimat. Auf Diskriminierungserfahrungen angesprochen, antwortet sie u. a., dass die ersten Muslime weitaus schlimmere Bedrohungen hätten durchleben müssen (Z. 417–419), und zieht das Fazit, dass ihre bisherigen Erfahrungen im Vergleich dazu »nicht so, äh, schlimm« (Z. 419) gewesen seien. Bei Aziza wiederum gestaltete es sich unmöglich, die Abgrenzung zur Herkunftskultur durch die Zuwendung zu einer kulturell als fremd empfundenen, »exotischen« Religion von der Abgrenzung und Rebellion gegen die Herkunftsfamilie zu separieren, wie sich in nachfolgendem Ausschnitt aus ihrer Fallauswertung zeigt: Recht schnell taucht ein erstes, für Azizas Leben prägendes Motiv auf: Das »Kennenlernen« (vgl. Z. 28). Kennenlernen wird zu einem Schlüsselwort in Azizas Erzählung und taucht im gesamten Interview immer dann auf, wenn eine neue, für sie relevante Kultur (oder Personengruppe), eingeführt wird, seien es neue Freunde (Z. 16), Menschen aus anderen Kulturkreisen (Z. 28 und 33), ihr aus dem südamerikanischen Kontext stammender Partner (Z. 69 und 73) oder später die ersten Muslime (Z. 229, 274, 276, 299, 320, 371). Die Vermutung, dass es sich bei dabei um einen zentralen Begriff für Aziza handelt, der über den formalen Akt des Inberührungskommens hinaus einen Wunsch nach vertieftem Kontakt und eine Faszination für das Fremde beinhaltet, bestätigt sich in der fortlaufenden Erzählung (insgesamt kommt das Wort 21-mal vor). »[D]as waren dann die ersten Kontakte, Berührungen die man da so hatte, mit anderen Kulturen und so (??) und na ja, ähm, das hat mich dann auch schon immer sehr interessiert« (Z. 37–39). Aziza streicht immer wieder ihr Interesse an anderen Kulturen hervor. In einem relativ langen narrativen Abschnitt über ihre Kindheit und Jugend, der von der Textsorte der Erzählung stark dominiert wird, zeichnet sie das Bild eines wissbegierigen und aufgeschlossenen Mädchens, das sich sehr für ferne Länder und deren Menschen interessiert (bis Z. 70). Sie hinterfragt nach ihrer Darstellung auch Klischees über andere Kulturen (Z. 57–59) und versucht, sich möglichst viel fundiertes Wissen über diese anzueignen (Z. 61–64). Zwar könnte bei dieser Rekonstruktion ihrer Vergangenheit der Schluss gezogen werden, dass Aziza möglicherweise retrospektiv ihre kritische Auseinandersetzung zuspitzt, gerade auch in der Interaktion mit der Forscherin. Jenseits der möglichen »Konstruktion« des Selbstbildes bleibt aber die Tatsache, dass das Fremde für Aziza seit ihrer Kindheit eine Rolle gespielt hat und tendenziell positiv, »interessant« besetzt war. Wie Wohlrab-Sahr in ihrer Verteidi-

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gung Schützes schreibt, ginge es nicht darum, dass »eine objektive Ereignisabfolge gewissermaßen eine direkte Entsprechung im Text [damit kann auch ein Interview gemeint sein, Anm. der Autorin dieser Arbeit] findet«, vielmehr darum, wie sie in Anlehnung an Maindok und Bohnsack postuliert, »daß sich aufgrund der Verstrickung in die Zugzwänge des Erzählens die Art der kognitiven Aufbereitung reproduziert, die seinerzeit [sic!] auch die Erfahrung selbst strukturiert hat«.524. Daher ist es möglich, der Tatsache von interaktiven und intrasubjektiven Konstruktionsprozessen Rechnung zu tragen, ohne bei ihnen »jeglichen Bezug auf biographische Erfahrungen abzuschneiden«525. Hier deutet sich also eine erste konversionsrelevante Funktion an. Dabei könnte es sich durchaus um die Funktion der »symbolische[n] Emigration«526 handeln, wie Wohlrab-Sahr es beschreibt: »[A]uf dem Hintergrund prekärer Zugehörigkeit im eigenen Lebenskontext [entstehen] Vorstellungen von Emigration aus diesem Kontext […], die sich am Islam kristallisieren«527. Freilich handelt es sich hierbei um Azizas sehr persönlicher Form der Emigration, die wohl eher eine Attraktion für eine bestimmte Form der romantisch besetzten Fremde bei gleichzeitiger Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft ist, eine Hervorhebung, die nicht nur durch den Akt der Konversion, sondern auch durch den des Hinterfragens möglich wird. Dem Islam als stark »exotisch« besetzter Religion kommt ein Maximum an »Fremdheit« zu; gleichzeitig handelt es sich um eine oft negativ besetzte, häufig »missverstandene« Religion, bei der es die Wahrheit hinter dem Klischee zu erkunden gilt – auch über dieses »Hinterfragen« hebt sich Aziza von der Mehrheitsgesellschaft ab, die dies ihrer Ansicht nach eben nicht tut. Auf jeden Fall zeichnet sich eine Distanzierung vom Elternhaus und der Herkunftskultur ab, die darin gipfelt, dass sie sehr jung mit einem älteren Mann aus dem südamerikanischen Raum zusammenkommt – auch dies Ausdruck einer Faszination für das Fremde und den Fremden; das Kennenlernen und der Kontakt mit diesen werden durch die Beziehung symbolisch auf ein Höchstmaß gesteigert. Die Eltern sind offensichtlich nicht in der Lage, regulierend in diese aufgrund der Altersdifferenz problematische Beziehung einzugreifen, auch wenn sie ihr ablehnend gegenüberstehen. Aziza führt die Verbindung gegen den Wunsch der Eltern fort und zieht mit ihrem Partner zusammen (Z. 79–83). Die anfängliche Vermutung eines distanzierten Verhältnisses zu den Eltern bestätigt sich hier : »[W]ir hatten ja sowieso nicht so ne gute, äh ja, also sind nicht so gut miteinander ausgekommen« (Z. 81–82). Gleichzeitig vollzieht sie eine diesmal 524 525 526 527

Vgl. Wohlrab-Sahr (1999b), S. 487. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 291. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 291.

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nicht nur symbolische Emigration; dass sie, sobald ihr es irgendwie möglich ist, ihre Familie und später auch Deutschland verlässt, stellt den vorläufigen Höhepunkt einer Emigrationsentwicklung auf allen Ebenen dar. Es handelt sich hier um mehr als nur ein jugendliches Trotzverhalten. Vielmehr drückt sich hier eine grundlegende Vertrauensproblematik zu den Eltern aus, die für sie wiederum unlösbar mit der deutschen Kultur verknüpft sind, was sich in dieser Aussage zeigt. Sie wirft ihren Eltern nämlich vor, dass diese zwar in der Theorie das Ideal der Gleichheit aller Menschen vertreten hätten, dieses Prinzip jedoch »in der Realität« im Umgang mit ihrem Partner nicht umgesetzt hätten (Z. 96– 99), und kritisiert allgemein deren Einstellung: »[U]nd auch so dieses Denken, so, Deutschland ist besser als alles andere, das.. war überhaupt nicht mein Ding … und ja, ähm, für mich war das auch irgendwie dann so eine Flucht raus, in die Welt, weit weg von zuhause« (Z. 101–104).

Es geht gar nicht unbedingt um den Mann an sich: Mehr noch, Aziza merkt, dass die Beziehung »auch nicht die richtige Entscheidung« (Z. 105) ist. Es ist die Abgrenzung zu den Eltern, die Flucht vor einem schlechten Verhältnis, die Distanzierung zu den Idealen der Herkunftsfamilie und zu einer »nationalistischen« oder patriotischen Einstellung, aber eben auch maßgeblich die Faszination für das Fremde, welche Aziza antreibt. Symbolische Emigration also? Nicht nur, denn Aziza rechnet auch mit der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, die hier eine Schlüsselrolle spielt, ab. Dass die Ideale der Familie der Realität nicht standhalten, sorgt für tiefe Enttäuschung bei der Heranwachsenden. Ob es tatsächlich so war, dass latente fremdenfeindliche Vorurteile im direkten Kontakt aufbrachen oder ob Aziza damals eine verständliche Sorge der Eltern fehlinterpretiert, kann hier nicht eruiert werden. Fakt ist, dass die Eltern an Kredibilität verlieren. Wieder hinterfragt sie vorgefasste Meinungen, statt Vorurteilen hier Ideale, und stellt die Diskrepanz zwischen Gesagtem und tatsächlich gelebter »Realität« fest. Dabei wird das »Fremde« zum Zufluchtsort vor Heuchelei und Scheinheiligkeit stilisiert. Die Beziehung als Fluchtmöglichkeit scheitert jedoch an der Dominanz des Partners (Z. 118–131), und Aziza trennt sich von diesem. Hier kommen nun zum ersten Mal die sozialen Bindungen ins Spiel, die in dem Modell von Lofland und Stark als »Cult Affective Bonds«528 bezeichnet werden und die eine zentrale Rolle bei Konversionen spielen. Sie freundet sich mit einer Geburtsmuslimin an, mit der sie viel unternimmt. Auffällig ist, dass Aziza eine gewisse soziale Kontrolle von deren Familie, die diese der Muslimin gegenüber ausübt und die sich auch auf deren Aktivitäten erstreckt, keineswegs negativ bewertet (Z. 145). Offensichtlich taucht hier ein Gegenentwurf zu ihrer eigenen Familienbindung auf. 528 Lofland/Stark (1965), S. 871, im Original kursiv.

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Der emotionalen Vernachlässigung wird ein Familienverhältnis mit starker sozialer Kontrolle, aber auch emotionaler Bindung und Fürsorge gegenübergestellt – übrigens ein häufiges Motiv in Erzählungen Konvertierter.529 Gleich mehrere solcher »bonds« tauchen also hier auf: Die muslimische Freundin, aber kurze Zeit später auch der zukünftige Ehemann (Z. 146–148). Die Konversion selber wird von Aziza relativ unemotional ins Spiel gebracht: »[U]nd ähm… dann kam dann auch die Zeit wo ich dann konvertiert bin…« (Z. 157–158). Auch in der nachfolgenden hauptsächlich narrativen Passage (Z. 160– 178) geht es fast ausschließlich um die mit der Konversion und dem Kopftuch verbundenen Probleme. Auffällig ist das Fehlen jeglicher Charakteristika sowohl allgemeiner Konversionsrhetorik (z. B. die auch sprachlich ausgedrückten Darstellungsschwierigkeiten der Konversion als »außeralltägliches Geschehen«)530 als auch typisch islamischer Konversionsrhetorik (z. B. schon vor der Konversion vorhandenen Zweifel an Trinität und Gottessohnschaft,531 oder die rationale religiöse Suche, die im Islam ihre Erfüllung findet532). Offensichtlich waren die negativen Folgen der Konversion zunächst äußerst prägnant. Azizas Konversion selber war wohl kaum das Resultat eines emotionalen Überwältigtwerdens, sondern – mehr oder minder bewusst – von lebensweltlichen Funktionen getragen. Erst die Nachfrage der Interviewerin nach der Religiosität im Elternhaus veranlasst Aziza zu einer Antwort, in der eine Abgrenzung zum Christentum stattfindet. Allerdings nicht in der stilisierten Form islamischer Konversionsrhetorik, wie sie oben beschrieben wurde. Stattdessen tauchen erneut zwei Motive auf, die sich wie ein roter Faden durch das Interview ziehen: Die Diskrepanz zwischen kommunizierten Werten und tatsächlich gelebter Realität und das Hinterfragen etablierter oder allgemein akzeptierter, unhinterfragter Vorstellungen: »[U]nd wir sollten dann sonntags auch immer zur Kirche gehen […]. Es war also eher so, was sagen die Nachbarn, was sagt die Gesellschaft […]. Das war dann irgendwie wichtiger als irgendwelche inhaltlichen Sachen » (Z. 201–205).

Hier klingt wieder die Enttäuschung Azizas über die Haltung der Herkunftsfamilie an: So, wie diese inklusivistische Ideale der Gleichheit aller Menschen gepredigt hat und diese Ideale in Azizas Augen der Konfrontation mit ihrem südamerikanischen Partner nicht standgehalten haben, so schafft sie es auch nicht, die christliche Religion mit Inhalt zu füllen. Wieder geht es ihr um das Infragestellen eines Scheins, der nach außen hin gewahrt wird, ohne mit Werten 529 Vgl. Leuenberger (2011), in ihrem Artikel über den »heimeligen« Islam, insbesondere S. 128, S. 137, und S. 138. 530 Vgl. Ulmer (1988), S. 26. 531 Vgl. Hofmann (1997), S. 125. 532 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 364ff.

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gefüllt zu werden, aber auch um die Abgrenzung zu einer Gesellschaft, die auf solche Oberflächlichkeiten Wert legt. Zusätzlich hält der christliche Glaube auch der kritischen Nachfrage Azizas nicht stand: »Aber was sie mir dann immer so erklärt haben und ja, auch so mit dem, dem Priester irgendwie und alles so, das war für mich jetzt nicht so, wo ich sagen würde ›Genauso ist das‹, also, das hat mich jetzt nie so überzeugt dann auch.« (Z. 222–224).

Aziza wird also vom Christentum doppelt enttäuscht: Von einem Christentum, welches zu einer bloßen sozialen Konvention erstarrt (und an die Herkunftskultur gekoppelt!) ist, und von einem Christentum, dessen Vertreter_innen ihren Glauben nicht plausibel zu erklären wissen. Recht schnell taucht als Gegenentwurf zu diesem Christentum der Islam auf: Dessen Vertreter_innen stehen Aziza Rede und Antwort, als sie, neugierig geworden, eine islamische Gruppe besucht. Aziza erzählt, wie sie angeregt und kritisch mit den Muslim_innen über den Islam diskutiert (Z. 254–255). Sie beschreibt die Diskussionen sehr detailliert und fügt hinzu, dass zwischendurch »immer« gebetet worden sei (Z. 256). Die Art der Erzählung in diesem Abschnitt ist besonders interessant. Die Betonung des eigenen heraufordernden und kritischen Verhaltens kann man so deuten, dass sie zum einen ihre eigene, prüfende Herangehensweise herausstreichen möchte, zum anderen aber, dass sie hier die Muslim_innen austestet. Und, im Gegensatz zu den Christ_innen, schaffen sie es, ihren Fragen sinnvoll zu begegnen: Den Härtetest haben die Muslim_innen bestanden. Aber noch etwas ist augenfällig: Der Einschub über das wiederholte Gebet, der zunächst fehl am Platze erscheint, da er nichts zu der eigentlichen Erzählung beiszusteuern vermag und daher eigentlich überflüssig wäre. Bei näherer Betrachtung zeigt sich: Hier wird das regelmäßige, in den Alltag eingebundene Praktizieren von Frömmigkeit dem zur bloßen sozialen Verpflichtung erstarrten Christentum (so, wie es Aziza kennengelernt hatte) gegenübergestellt. »Zwischendurch« wird das Gespräch »immer« (wieder) von gelebter Alltagsreligiosität unterbrochen. In der weiteren, hauptsächlich narrativen Erzählung scheint das bereits in der Episode mit der muslimischen Freundin (Z. 144–146) anklingende Motiv der familiären Einbindung und sozialen Kontrolle wieder auf. Sei es in der Geschichte vom Familienvater, der seine Kinder im islamischen Glauben unterweist (Z. 285–286), sei es in Azizas Aussage, sie habe bei muslimischen Bekannten das »Familienleben kennengelernt«533, (Z. 299). Parallel dazu wird gleichsam als Gegenentwurf die Zerrüttung ihrer Herkunftsfamilie weiter ausgeführt: das Desinteresse des Vaters an seinen Kindern (Z. 394–398), die 533 Man beachte auch hier wieder das Schlüsselwort »kennenlernen«. Gemeint ist das Familienleben ihrer neuen muslimischen Bekannten.

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Scheidung der Eltern (Z. 400), das schlechte Verhältnis zum Vater (Z. 401) und zu einer Schwester (Z. 433–508) sowie zwischen den anderen Familienmitgliedern (Z. 493–500). Es ist aber eine doppelte Abgrenzung, die sie hier vornimmt: zur Herkunftsfamilie wie auch zur Herkunftskultur, denn für Aziza spielt die Funktion der Hervorhebung aus dem Mainstream durchaus eine ebenso wichtige Rolle. Dies geht bereits aus den vorhergehenden Interviewpassagen hervor, in denen sie ihre Faszination für das Fremde und ihre Außenseiterinnenposition betont, und bestätigt sich da, wo sie ihre Begründung für den hijab darlegt. Wenig überraschend erwähnt Aziza, die ihre Entscheidung schon oft rechtfertigen musste, zunächst die religiöse Verpflichtung der Muslimin, sich zu verschleiern; aber direkt danach wird auch der Abgrenzungsmoment des Kopftuchs deutlich: »Und, auch dass ich nach draußen hin, und dass ich auch stolz bin, dass ich Muslima bin, das möchte ich auch gerne zeigen. Und, ähm, ja, also. Es ist für mich einfach so. Ich bin stolz darauf, bin glücklich […] und möchte das eben auch gerne anderen auch zeigen können.« (Z. 366–369)

Während die Beziehung mit einem Mann aus einem »exotisch« besetzten Land einen mehr innerfamiliär bedeutsamen Protest darstellte, vollzieht sie mit ihrer Konversion einen Bruch mit Familie und Kultur gleichermaßen. Allerdings ermöglicht es ihr gerade diese Abgrenzung, zu einer stabilen Identität zu finden und sich damit auch mit beidem partiell wieder auszusöhnen;534 wo die Abgrenzung bereits rein äußerlich so weit wie möglich vollzogen ist, muss diese nicht mehr permanent durch das Verhalten erfolgen. Damit sind bereits mehrere Konversionsfunktionen aufgezeigt worden. Die Distanzierung von einer als »scheinheilig« empfundenen Herkunftsgemeinschaft durch den Übertritt zu einer Religionsgemeinschaft, in der Ideal und Wirklichkeit als deckungsgleich(er) empfunden werden. Dies ist untrennbar mit der Sehnsucht nach einer von familiärem Verantwortungsgefühl und festen Strukturen getragenen Familienmodell535 verbunden, bei dem ein klarer Orientierungsrahmen vorgegeben wird: »Mein Lebensweg, so kann ich mir das vorstellen, so möchte ich das auch in, in der Familie so organisiert haben« (Z. 315–316). Dieses Gefühl erschöpft sich keineswegs in der von Leuenberger be-

534 Vgl. dazu die beschriebene Versöhnung mit Familienmitgliedern nach der Konversion, welche sie direkt auf den Islam und dessen Gebot zurückführt (Z. 400ff.) – hier findet sich das allgemein bei den von mir befragten Konvertitinnen immer wieder berichtete Verhalten wieder, sich aufgrund religiöser Liebes- und Vergebungsimperative mit der Familie auszusöhnen – sowie ihre Aussage, sie fühle sich seit ihrer Konversion wieder mehr in Deutschland heimisch. 535 Vgl. dazu auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 371.

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schriebenen »Heimeligkeit«536, welche für viele Konvertierte eine Rolle spielt; vielmehr geht es auch um familiäre Organisation und klare Strukturen und Regeln, etwas, was in der Herkunftsfamilie offensichtlich fehlte. Hier findet sich das von Wenger Jindra beschriebene Phänomen: »Je mehr Erfahrungen fehlender Struktur, je mehr Verunsicherungen im Leben und/ oder konfliktreiche Beziehungen im Elternhaus jemand erlebt hat, desto eher wählt der/die Betreffende eine Religion mit klaren Richtlinien, eine Religion, die ein starkes Ausmass [sic!] an Integration liefert«537.

Darüber hinaus findet Aziza jedoch nicht nur etwas, was sie vermisst hat; sie vollzieht ein zweites Mal, wie schon bei ihrer Beziehung mit dem südamerikanischen Mann und ihrem Aufenthalt im Ausland, eine starke und nach außen sichtbare »Abgrenzung von der Herkunftsfamilie«.538Allerdings erfüllt die Konversion für Aziza nicht nur den Wunsch nach einer Abgrenzung von der Herkunftsfamilie539, sondern auch zur Herkunftskultur, für die ihre Familie exemplarisch steht. An den Wunsch, sich von dieser abzugrenzen, ist die Faszination für das Fremde gekoppelt – ähnlich der »symbolische Emigration«, die Wohlrab-Sahr beschreibt. Die Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft stellt also eine zentrale Funktion der Konversion dar. Azizas biographische Erzählung ist durch Dysfunktionalität in ihren familialen und auch der frühen partnerschaftlichen Beziehung gekennzeichnet. Es ist aber wichtig festzuhalten, dass eine solche Abgrenzung nicht immer im Zusammenhang mit Erfahrungen von Strukturlosigkeit und familiärer Entwurzelung stehen muss. Es zeigt sich also, dass die Funktion C recht ausdifferenziert ist; neben einer Faszination für das Fremde kann eben auch das Moment von Konfrontation, ja sogar Provokation eine Rolle spielen. Es ist von Fall zu Fall verschieden, ob dabei negative oder positive Zuschreibungen an den »fremden« oder »exotischen« Islam bzw. eher die Außen- oder die Innenwirkung des Islam – d. h. mehr die persönliche Faszination oder die Signalwirkung nach außen oder auch beides in Kombination – entscheidend sind. Bei Franziska und Martina stand dabei die Faszination für das »Fremde«, »Exotische« im Vordergrund; sie positionierten sich in der Gesellschaft neu, indem sie zur »geotherten« und idealisierten Religion konvertierten und Teil einer von ihnen positiv besetzten Gemeinschaft wurden. Elemente davon fanden sich auch bei Aziza, bei der jedoch die Ablehnung der Herkunftsgesellschaft und -familie 536 Vgl. Leuenberger (2011), in ihrem Artikel über den »heimeligen« Islam, insbesondere S. 128, S. 137, und S. 138. Der Begriff der Heimeligkeit findet sich auf S. 116. 537 Wenger-Jindra (2005), S. 378. 538 Wenger-Jindra spricht interessanterweise von der »Abgrenzung von der Herkunftsfamilie« eines der von ihr befragten Konvertiten zum Islam, Wenger-Jindra (2005), S. 130. 539 Im erweiterten Sinne einer Dorfgemeinschaft.

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breiteren Raum einnahm und das Abgrenzungsmoment stärker vorhanden war. Bei Arifa und Khadidja endlich waren zwar beide Aspekte vorhanden, der der Abgrenzung jedoch besonders dominant. Einend ist der gemeinsame Nenner, dass das »Besondere«, »Fremde«, »Exotische« des Islam eine zentrale Funktion für die langfristigen Bindewirkungen entfaltet. D: »Soziale Einbindung« Die soziale Einbindung stellt meines Erachtens eine nicht zu unterschätzende Funktion der Konversion dar. Sie zeigt sich bei fünf der Konvertitinnen, also bei genau der Hälfte. In den von mir beforschten Gemeinden finden sich soziale Strukturen, die der intakten Familien- oder Dorfgemeinschaft,540 wie sie gesamtgesellschaftlich oft verklärend in die Vergangenheit projiziert wird, sehr nahe kommen. Erkrankten, materiell oder emotional hilfebedürftigen oder von widrigen Lebensumständen und Schicksalsschlägen getroffenen Mitgliedern wird umfassend und schnell zur Seite gestanden. Ob nun eine frischgebackene Mutter Unterstützung bei der Versorgung braucht, ob Gemeindemitglieder kurzfristig eine Unterbringung für ihre Kinder suchen oder Hilfe beim Umzug benötigt wird: stets findet sich eine Schar freiwilliger Helfer_innen, die den Betreffenden zur Seite stehen. Diese Unterstützung wird mit großer Selbstverständlichkeit gewährt und in Anspruch genommen und unterscheidet sich – soweit ich das aus eigenen Beobachtungen ohne vertiefende Forschungsarbeiten in dieser Richtung beurteilen kann – darin maßgeblich von Gefälligkeiten und Leistungen in säkularen Freundeskreisen, welche oft stärker »aufgerechnet« oder als Ausnahmeleistung betrachtet werden. Selbstverständlich gibt es solche engmaschigen Unterstützungsnetzwerke auch in anderen Subkulturen, insbesondere auch in politisch geprägten wie der feministischen und/oder linksradikalen oder auch der rechten Szene. In der säkularen und eher unpolitischen Mehrheitsgesellschaft sind mir jedoch solche dichten, mit großer Selbstverständlichkeit agierenden Netzwerke bislang nicht begegnet; dazu kommt, dass dafür keine explizite Anstrengung in Form des Aufbaus langjähriger Freundschaften oder aufwendiger Kontaktpflege notwendig ist. Die Unterstützung kommt qua Zugehörigkeit zur Gruppe und nicht qua 540 Gemeint ist damit die auch oft von konservativen Kräften propagierte Berufung auf eine nicht genau historisch eingeordnete Zeit, in der – zumindest in der retrospektiven Perspektive – wahlweise die Familie oder die Dorfgemeinschaft als eng verschworene »Schicksalsgemeinschaft« unverbrüchlich für ihre Mitglieder einstand. Hier bietet der Text von Hillenkamp (2005) eine gute Übersicht, weswegen die Annahme einer eng verbundenen Mehrgenerationengemeinschaft in den meisten Fällen eine moderne Projektion darstellt, http://www.zeit.de/2005/51/Einsamkeit_1/komplettansicht. Zur Dekonstruktion von Diskursen über einen angenommenen »Zerfall der modernen Familie« vgl. auch Bertram (1998), S. 115.

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persönlicher Verbindung, sei sie familiär oder freundschaftlich. Gerade für Menschen, die aus diversen Gründen Entwurzelungserfahrungen gemacht haben – sei es durch Umzug, Trennung oder sozialen Ausschluss – oder die aufgrund eigener Charaktereigenschaften Schwierigkeiten haben, soziale Kontakte zu knüpfen, zeigte sich diese Funktion als bedeutsam. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die von mir beforschten Gemeinden in Großstädten lokalisiert sind; diese bieten nicht nur mehr Raum für alternative Lebensentwürfe, sondern oft auch weniger Zusammenhalt und soziale Einbindung.541 Oder, anders formuliert: Menschen, die aus dem gesellschaftlichen »Mainstream« herausfallen – was bei Konvertit_innen zum Islam, zumal weiblichen hijabtragenden, immer der Fall ist – werden vermutlich in der Großstadt mehr Gleichgesinnte finden.542 Umgekehrt kann jedoch die soziale Isolation in urbanen Räumen ein wichtiger Grund dafür sein, Zusammenhalt in einer religiösen Gemeinschaft zu suchen. Dabei entfaltet der soziale Zusammenhalt seine Wirkung nicht erst nach der Konversion, sondern beeinflusst oft die Entscheidung selber bzw. den Konversionsprozess nachhaltig. Zumindest bei Martina, Aziza und Khadidja spielte die erfahrene Gemeinschaft eine entscheidende Rolle für ihre Konversionsentscheidung bzw. überhaupt für ihr Interesse am Islam (hier fallen also Motiv und Folge zusammen, es handelt sich damit um eine zumindest partiell manifeste Funktion). Hingegen war bei den anderen beiden Frauen der soziale Faktor weniger für die Beschäftigung mit der Religion selber ausschlaggebend, wurde aber im Laufe des Konversionsprozesses immer relevanter. Hier kommt auch der Effekt ins Spiel, dass die sozialen Kontakte in der religiösen Peergroup für die meisten Konvertitinnen im Laufe der Zeit immer wichtiger werden. Dies hat nicht nur mit der Interessen- und Perspektivenverschiebung zu tun, sondern auch damit, dass die Konversion zumeist zu einem Kahlschlag innerhalb der Reihen der Freund_innen und teilweise auch der Familie führt. So erzählen Martina, Raschida, Khadidja, Arifa und Aziza (die vorher ohnehin nur von Kolleginnen, nicht von Freundinnen berichtet) von 541 Vgl. Siebel (2016), S. 176, sowie S. 311: »Anonymität, lockere soziale Kontrollen, die Lösung aus vorgegebenen Verkehrskreisen und die Vielfalt der Existenzmöglichkeiten in einer arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesellschaft sind mit Risiken verbunden. Der Versuch, sich selbst neu zu erfinden, kann scheitern. Wer es in der Großstadt zu nichts bringt, dem drohen Armut und soziale Isolation, denn dort wird er nicht so ohne weiteres in den Hilfsnetzen von Verwandten und Nachbarn aufgefangen. […] Die kulturelle Vielfalt der Stadt eröffnet nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken der Individualisierung«. Vgl. dazu auch Britzelmeier (2014), https://www.welt.de/regionales/bayern/article135561969/ Weshalb-immer-mehr-Menschen-einsam-sterben.html, vgl. Bülow (2015), http://www.spie gel.de/gesundheit/psychologie/leben-in-der-grossstadt-stress-laerm-isolation-a-1022495. html, vgl. Strauß (2014), https://www.berliner-zeitung.de/berlin/stressforschung-warumberlin-krank-machen-kann-196050 und vgl. Schneider (1993), S. 66. 542 Vgl. Siebel (2016), S. 175f.

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einem quasi kompletten Verlust des Freundeskreises,543 während Mara teilweise Schwierigkeiten erwähnt und Hawwa den Verlust ihres Freundeskreises mit ihrem Umzug erklärt. Fakt ist jedoch, dass sechs der zehn Konvertitinnen ihren gesamten, eine Konvertitin teilweise ihren alten Freundeskreis eingebüßt haben. Mehr oder minder große Schwierigkeiten in der Familie hatten fast alle Konvertitinnen zu durchleben; am stärksten waren diese bei Raschida, die ihren Glauben bis heute möglichst wenig ihrer Familie gegenüber thematisiert, aus Angst, diese zu verlieren, und bei Khadidja und Arifa. Dennoch muss dabei beachtet werden, dass die Konvertitinnen, bei denen die soziale Einbindung eine wichtige Funktion der Konversion darstellt, nicht deckungsgleich sind mit denen, die ihre Freund_innen durch die Konversion verloren haben. Für Franziska, Hawwa, Khadidja, Martina und Aziza spielt Funktion E eine entscheidende Rolle; Franziska hat jedoch nicht ihren Freundeskreis verloren. Andererseits stellt die Funktion E der sozialen Einbindung trotz des Verlustes der ehemaligen Peergroup für Raschida, Arifa und Mara keine entscheidende Funktion dar. Bei Arifa erklärt sich dies jedoch womöglich daraus, dass eine der Funktionen ihrer Konversion genau ebenjene Abgrenzung von ihrem alten Umfeld war, wie ich weiter oben dargelegt hatte. Angesichts dessen, dass die soziale Einbindung nicht nur eine wichtige, sondern noch dazu angesichts des engen sozialen Zusammenhaltes der Gemeinden eine relativ naheliegende Funktion darstellt, erstaunt es mich, dass sie sich in der einschlägigen Literatur zur Konversion zum Islam in Deutschland nicht vorfinden lässt. Keine der mir bekannten deutschsprachigen Forscherinnen geht explizit darauf ein, wie grundlegend die sozial-vergesellschaftenden Funktionen der Konversion sind – und zwar sowohl für die Konversionsentscheidung an sich, als auch für die langfristige Bindewirkung. Anders sieht es in der allgemeinen Konversionsforschung aus, insbesondere der präkonstruktivistischen; so haben sich beispielsweise Lofland und Stark oder Heirich eingehend mit der Rolle religiöser Peergroups für die Konversion auseinandergesetzt.544. Aber auch bei diesen Forschern liegt der Schwerpunkt auf dem sozialen Einfluss auf die Konversionsentscheidung; welche Funktionen die sozialen Akteur_innen für die langfristige Bindung der Konvertit_innen an ihre jeweilige Religion entfalten, ist, für mich unverständlicherweise, nicht wirklich berücksichtigt worden. Wenger Jindra befasst sich zwar in ihrer Arbeit mit der gemeinschaftsstiftenden Wirkung der Konversion zum Islam, führt dies 543 Hingegen schreibt Neumüller (2014), S. 196, dass nur 15 % »der weiblichen deutschen Teilnehmer […] von negativen Reaktionen von ihren nicht-muslimischen Freunden« erzählten. Möglicherweise liegt dies daran, dass die von mir befragten Frauen zu literalsinnorientierten Strömungen konvertiert und damit ihren Lebensstil wie auch ihre Weltanschauung stark geändert hatten, was nicht bei allen von Neumüller Interviewten zutraf. 544 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 871ff. und Heirich (1977), S. 673.

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aber auf geänderte psychische Prädispositionen der Konvertierten zurück und geht nicht auf die neuen sozialen Angebote, die durch die Konversion zur Verfügung stehen, ein.545 Bei meinem Sample würde ich jedoch die sozialen Veränderungen darauf zurückführen, dass durch den Eintritt in die Gemeinden das Spektrum an möglichen sozialen Kontakten stark erweitert wurde, was selbst Menschen, die aufgrund innerer Kontaktschwierigkeiten oder durch äußere Umstände erfolgte Kontaktabbrüche Schwierigkeiten mit der Aufnahme sozialer Beziehungen hatten, eine sofortige Kontaktknüpfung ermöglichte. Nicht die Bindungsfähigkeit, sondern primär die Bindungsmöglichkeiten wurden durch die Konversion radikal erhöht. An dieser Stelle sei auf die Fallanalyse der Martina in Kapitel 3.3.1. verwiesen, wo ausführlich auf die soziale Funktion der Konversion eingegangen wurde. Weiter oben ist bereits ausgeführt worden, dass sie ihre vorherigen Freundschaften als primär interessensgeleitet (Z. 696) disqualifiziert. Hier scheint ein äußerst pessimistisch geprägtes Bild von Freundschaften durch; während sich die Kritik vorher noch auf die Oberflächlichkeit geteilter Interessen bezog, steigert sich die Verurteilung über die Insinuation, ihre vorherigen Freund_innen wären womöglich auf materielle Vorteile aus gewesen (Z. 719–740). Dies bestätigt aber auch die von mir gemachte Beobachtung, dass es gerade die Selbstlosigkeit dargebrachter Hilfe in religiösen Kreisen ist, welche so überaus anziehend wirkt. Dass diese ebenfalls oft an Bedingungen geknüpft ist – nämlich an die Konformität mit religiösen Spielregeln – wird dabei zumeist nicht wahrgenommen oder beachtet. Dazu möchte ich auch die weiter oben vorgestellte Khadidja anführen, die religiöse Motive erst an zweiter Stelle erwähnt und bei der an der Wichtigkeit der sozialen Funktion kein Zweifel bestehen kann: »I: Mhm. Und wie bist Du dann konvertiert? M: Ja, das hat eigentlich doch ne ganze Weile noch gedauert, ich hab dann so nach und nach eben muslimische Leute kennengelernt und ähm, hab dann eben auch mir Literatur besorgt, den Koran« (Z. 232–235).

Diese Deutung erhärtet sich, als sie, nach den wichtigsten islamischen Werten befragt, anführt, wie sehr sie die soziale Isolation nach ihrem Umzug aus ihrer vorherigen Heimat in ein neues Bundesland belastet habe. Zunächst legt sie dar, wie offen die Menschen in ihrer alten Heimat seien: »I: Mhm. Und welche islamischen Werte haben Dich besonders angesprochen? M: (Pause drei Sekunden). Ja, das ist glaube ich erstmal die Geschwisterlichkeit, das ist nen ganz großer Punkt […]. [In dem alten Wohnort] sind viele Leute doch sehr offen

545 Vgl. Wenger-Jindra (2005), S. 166.

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und […] es ist ne Verbindlichkeit da. Also die Leute, wenn du da neu hinziehst, wirst, äh, ganz offen aufgenommen« (Z. 277–283).

Hingegen kontrastiert sie, dass es an ihrem neuen Wohnort jahrelang dauere, bis man Freundschaften knüpfen könne; diese Ablehnung und der unfreundliche Empfang hätten sie nach ihrem Umzug nachgerade traumatisiert (Z. 279–405). Hinzu kommt, dass bereits durch ihre Eheschließung mit einem Muslim die überwiegende Mehrheit ihres Freundeskreises mit ihr gebrochen hat (Z. 380). Auch aus einer weiteren späteren Passage geht die soziokulturelle Bindewirkung der Konversion so eindeutig hervor, dass man schon von einem bewussten Motiv bzw. später einer manifesten Funktion sprechen kann: »[A]lso dann kamst du plötzlich in ne Gruppe von Leuten, die dich so mit offenem Herzen aufgenommen haben ähm, und das war für mich schon ne sehr prägende Sache […]. Aber dann natürlich auch die Tatsache, dass du ja im Islam keinen wirklichen Vermittler zu Gott hast« (Z. 307–310).

Das Argument, nach dem es im Islam im Gegenteil zum Christentum keinen Vermittler zu Gott gäbe, wird nicht nur an zweiter Stelle erwähnt, es stellt zudem ein Element der islamischen Konversionsnarrative dar und zeigt, dass Khadidja eher den soziokulturellen Aspekten des Islam eine eigene Schwerpunktsetzung geben kann als den religiösen. Ingesamt bestätigt sich, dass die Funktion der religiösen Einbindung für viele Konvertitinnen aufgrund der eingangs genannten Faktoren äußerst wichtig ist. E: »Soziale Ressource« Diese Funktion des Islams als soziale Ressource ist von der vorhergehenden der sozialen Einbindung zu unterscheiden. Die Vertiefung von Bindungen an und Kenntnissen über den Islam in seiner anscheinend »reinen«, sprich traditionsfernen Form sowie die Beachtung islamischer Verhaltenscodices, spielt hier eine Rolle als Ressource in Partnerschaften mit muslimisch sozialisierten Menschen,546 wenn diese vorwiegend über traditionalistische Kenntnisse ihrer Religion verfügen. Dabei wird der Islam oft »zum symbolischen Kapital, zum Instrument symbolischer Überbietung und zur Waffe im symbolischen Kampf«547. Diese Funktion findet sich in der Konversionsliteratur erstmals in der 546 Dass die Konversion als »symbolisches Kapital« in Beziehungen mit Muslimen fungieren kann, beschreibt Wohlrab-Sahr (1999a), S. 158 und S. 379, ausführlicher auf S. 167f. und S. 172, wobei sie an verschiedenen Stellen die Bedeutung der Aneignung der Religion des oder der Anderen als »symbolisches Kapital« für partnerschaftliche Auseinandersetzungen aufzeigt, vgl. auch S. 157f., S. 167: »[D]er Wechsel zum Islam [wird] zum symbolischen Kapital in der neuen Beziehung zu einem Migranten islamischen Glaubens, den sie jedoch gleichzeitig im Hinblick auf die Glaubenspraxis überbietet«. 547 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 170.

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Forschung von Wohlrab-Sahr ; da der Islam aber als Ressource in sozialen, besonders ehelichen, Beziehungen verwendet wird, habe ich mich entschlossen, sie als »soziale Ressource« zu definieren und nicht wie Wohlrab-Sahr als »symbolisches Kapital«. Dies hat vor allem den Grund, dass der »Kapital«-Begriff im soziologischen Sinne stark von Bourdieu geprägt ist, welcher u. a. soziales, kulturelles, und ökonomisches Kapital unterscheidet.548 Die Konversion entwickelt zwar zum Teil Funktionen, die sich mit einigen der Kapitalformen partiell überschneiden – so beinhaltet islamisches Wissen in diesem Kontext einen starken Bildungsaspekt, weist also Züge des »kulturellen Kapitals« auf – jedoch ist der Hauptaspekt der der Positionsstärkung in sozialen Kontexten, daher erscheint mir der Begriff der »Ressource« an dieser Stelle passender, da Bourdieus Definition von sozialem Kapital auch wiederum nur Teilaspekte der hier vorgestellten Funktion erfasst.549 Der Islam als soziale Ressource umfasst islamkonformes soziales und ethisches Verhalten ebenso wie religiöses Wissen. Bezeichnend ist, dass mit Ausnahme von Aziza alle Konvertitinnen, für die diese Funktion relevant war, den Islam durch Beziehungen mit eher wenig religiösen Muslimen kennengelernt hatten, jedoch parallel eine starke Faszination für den Islam entwickelten. Dadurch konnten sie ihre Partner schon rasch in Hinsicht ihres religiösen commitments überbieten oder hatten durch ihre fundierteren Kenntnisse des Islam in partnerschaftlichen Auseinandersetzungen die »besseren« Argumente. Gleichzeitig schützt die Befolgung von islamischen Normen, insbesondere Geschlechternormen, auch präventiv vor Entwertungserfahrungen.550 Da nahezu alle Frauen angaben, vorher in außerehelichen Beziehungen gelebt zu haben, schienen sich manche durch besonders strenges Befolgen und gute Kenntnisse islamischer Moralcodices davor schützen zu wollen, dass ihnen dieses präkonversionelle »Fehlverhalten« angelastet werden konnte bzw. sie sich dem Verdacht ausgesetzt sähen, es möglicherweise mit islamischer Moral nicht genau genug zu nehmen. In diesem Kontext ist mir die Aussage einer deutschen Konvertitin in lebhafter Erinnerung geblieben, die die 548 Vgl. Bourdieu (2012): »Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft«. In diesem Werk analysiert er die verschiedenen Arten von Kapital, welche ein Mensch ererben oder erwerben kann, vgl. z. B. S. 196ff. 549 Vgl. Bourdieu (2012), S. 204, wo er schreibt, das soziale Kapital erbringe »Kapital an >mondänen< Beziehungen, die bei Bedarf einen nützlichen Rückhalt bieten, Kapital an Ehrbarkeit und Ansehen, das in der Regel von allergrößtem Nutzen ist, um das Vertrauen der ›guten Gesellschaft‹ und damit der eigenen Kundschaft zu gewinnen und zu erhalten«. Zwar spielen Ehrbarkeit und Ansehen, wie Wohlrab-Sahr (1999a), u. a. auf S. 158 beschreibt, durchaus eine wichtige Rolle beim Islam als sozialer Ressource, doch würde hiermit der Bildungsaspekt nicht erfasst, welcher ebenfalls von großer Bedeutung ist. 550 Vgl. dazu Wohlrab-Sahr (1999a), die auf S. 158 beschreibt, wie die Konversion und die damit einhergehende »Akzeptanz bestimmter Verhaltensanforderungen« in sexueller und geschlechtlicher Hinsicht nicht nur als »symbolisches Kapital gegenüber dem Ehemann« wirkmächtig wird, sondern auch »vor erneuter Entwertung« bewahrt.

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Verwandten ihres muslimischstämmigen Mannes in dessen Heimatland wegen unislamischer Geschlechtervermischung kritisierte. Andererseits können sie mit ihrem fundierten Wissen auch traditionell geprägten Geschlechtervorgaben islamische Argumente entgegensetzen, etwa, dass Frauen nicht dazu verpflichtet sind, ihr Gehalt abzugeben, Hausarbeit zu verrichten oder dass (gerade islamische) Bildung eine Pflicht für Frauen darstellt und nicht verboten werden kann. Ein Beispiel stellt die bereits vorgestellte Khadidja dar : Neben der sozialen Einbindung stellt eine weitere soziale Funktion der Konversion die Stärkung ihrer Position gegenüber ihrem Ehemann dar, der zunächst mitnichten positiv reagiert: »Der fand das, glaub ich, erstmal seltsam, ähm, weil Du kannst ja als Muslim nicht sagen: ›Öh, ähm, blöd‹ […]. Sondern, ja, die dringt jetzt sozusagen ein bisschen in meinen Bereich ein« (Z. 259–262). Seine Befürchtung erweist sich als begründet, denn Khadidja nutzt ihr neuerworbenes religiöses Wissen als soziales Kapital für eheinterne Auseinandersetzungen: »M: Das ist für ihn so ein bisschen zweischneidig. I: Ist er selber religiös? M: Nicht besonders, ja. Ja, also der, der hat halt so ne Alltagsreligion, aber er ist jetzt niemand, der sich wirklich bewusst religiös weiterbildet und das war auch Konfliktstoff zwischen uns, dass ich das Ganze dann eher wissenschaftlich angegangen bin und er immer das Gefühl hatte, ich überflügel ihn irgendwie I: Mhm. M: Und red mit ihm über Sachen, die er eigentlich nie gelernt hat und das ist eigentlich bis heute immer noch so nen Thema. I: Mhm. M: Weil über religiöse Sachen mag er eigentlich nicht so gerne mit mir reden« (Z. 265– 275).

Anders als andere Funktionen der Konversion, die oft eher indirekt aus den Äußerungen der Konvertitinnen erschließbar sind und daher zumeist den Charakter latenter Funktionen annehmen, wird diese Funktion der Konversion als »Waffe« in Konflikten zumeist sehr offen von den Konvertitinnen benannt – vermutlich auch deswegen, weil der Erwerb islamischen Wissens und das Befolgen von Verhaltensnormen ein religiös legitimiertes Motiv darstellt. So erzählt beispielsweise Aziza, wie bereits weiter oben erwähnt, dass ihr Mann ihr zu Anfang Verhaltensvorschriften zu machen suchte (Z. 669–672). Diesen Dominanzversuchen begegnet sie, die ihrem Mann an islamischer Bildung weit voraus ist, jedoch erfolgreich mit Argumenten aus dem Koran: »Da habe ich, dann habe ich ja schnell gelernt, irgendwie zu sagen: ›Dann zeige mir, wo das steht. Und dann schauen wir weiter.‹ Und irgendwann hat er es dann aufgegeben« (Z. 672– 674).

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Jenseits der Funktion in potentiellen oder reellen Konflikten lässt sich auch beobachten, dass manche der Frauen hinsichtlich der korrekten Interpretation und Auslebung islamischer Normen und der genauen Kenntnis religiösen Wissens in eine Art Wettstreit mit ihren Partnern (oder gelegentlich auch anderen Muslim_innen) traten. Inwieweit ein solcher möglicherweise durch Überlegenheitsansprüche der muslimischen Gegenüber hervorgerufen oder verstärkt wurde, lässt sich nicht immer eruieren. In der Konversionserzählung von Nur treffen beide Elemente aufeinander, gleichzeitig wird sehr deutlich, dass diese Funktion keineswegs – zumindest bei keiner der von mir interviewten Konvertitinnen – ausschlaggebend für die Konversionsentscheidung an sich war, da die Frauen entweder schon vor der Ehe konvertiert bzw. zumindest stark am Islam interessiert waren oder aber das Interesse beibehielten, obwohl die Beziehung zerbrochen war und sie temporär keinen muslimischen Partner hatten. Zur Illustration dessen sei ein Ausschnitt aus der Fallauswertung von Nur abgedruckt: Nur Nur wird Anfang der Achtziger als Tochter einer mehrkulturellen und -religiösen Familie im Ausland geboren; ihr Vater ist deutscher Herkunft, und Nurs Familie emigriert nach Deutschland, als Nur im Grundschulalter ist. Der Vater arbeitet freiberuflich, die Mutter ist Hausfrau. Als Nur in der Pubertät ist, trennen sich die Eltern. Ihre Kindheit und Jugend ist von komplexen sprituellreligiösen und kulturellen Identitätssuchen und -findungen geprägt. Nur macht Abitur, fängt an zu studieren und kommt mit einem Muslim zusammen, der ihr Interesse am Islam weckt. Die Beziehung zerbricht, aber Nurs Interesse am Islam bleibt. Sie überdenkt ihren religiösen Weg und konvertiert; kurz nach der Konversion beginnt sie, Kopftuch zu tragen. Ihr Studium absolviert sie erfolgreich. Nur ist mit einem Muslim verheiratet und hat ein Kind. Nurs erster Kontakt zum Islam verläuft negativ ; Nur assoziiert nach einigen Bekanntschaften mit muslimischen Mitschüler_innen den Islam hauptsächlich mit »Gebote[n], Verbote[n]« (Z. 186). Zudem wird sie, vor allem hinsichtlich der Schlechterstellung der Frau im Islam, vom negativen Islambild ihrer Umgebung geprägt (Z. 184–196). Nur bleibt jedoch auf einer spirituellen Suche, die sie auch verschiedene esoterische Strömungen ausprobieren lässt, bis sie während des Studiums mit einem Muslim zusammenkommt. Dieser betet und fastet zwar, ist jedoch nicht besonders islamisch gebildet und hält auch die Gebote nur teilweise ein (Z. 210–226). Nur, die ihn zur Prinzipientreue ermuntert, beschäftigt sich mit islamischer Lebensführung und dem Koran, um ihrem Partner argumentativ begegnen zu können (Z. 225–244):

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»Also das erste Mal, dass ich mir einen Koran […] geholt habe, mein Argu-, mein Grund war wirklich […] ›Ich lass mir nichts erzählen […], also hol ich mir jetzt den Koran, damit Du mir nichts erzählen kannst.‹« (Z. 233–239).

Der Islam als soziale Ressource stellt also eine Funktion dar, die natürlich nur im Kontext sozialer Beziehungen zu anderen Muslim_innen wirkmächtig wird; dabei geht es zumeist um Konflikte oder Wettstreit mit engeren Bezugspersonen muslimischen Glaubens und muslimischer Herkunft. F: »Aufwertung der Mutterrolle« Ich habe mich dafür entschieden, diese Funktion zunächst von derjenigen der »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität« zu trennen, da eine Aufwertung der Mutterrolle nicht unbedingt mit konservativen Geschlechterzuschreibungen einhergehen muss.551 Umgekehrt ist durchaus denkbar, dass die literalsinnorientierte islamische Geschlechterstruktur eher hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen und -identitäten wichtig ist und weniger im Kontext der Mutterschaft. Zudem interessierte es mich, diese Funktion losgelöst zu betrachten, da ich den Gedanken in Betracht zog, dass eine Aufwertung der Mutterrolle möglicherweise für diejenigen Frauen besonders interessant sein könnte, die nach Kriterien der Mainstreamgesellschaft eher wenig erfolgreich im Berufsleben sind, aber dafür Kinder großziehen. Die letzte Vermutung konnte ich nur partiell bestätigen; zwar war von den drei Frauen, bei der sich Funktion F fand, nur eine berufstätig (und eine zweite begann nach Abschluss der Interviews mit einem Job), aber alle drei hatten – wenn auch teilweise nach Anfangsschwierigkeiten – abgeschlossene Berufsausbildungen, zwei sogar ein abgeschlossenes Studium vorzuweisen. Bei einer kann in dieser Hinsicht zumindest davon gesprochen werden, dass ihr beruflicher Erfolg hinter den Erwartungen ihres Umfeldes zurückblieb; bei dieser vermischen sich die Funktion der Aufwertung der Mutterrolle und die der »Alternativkarriere«552 fast untrennbar. Es zeigte sich, dass für alle Frauen, bei denen ich Funktion F herausarbeitete, gleichzeitig auch Funktion A (Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität) bedeutsam war, umgekehrt jedoch nur bei der Hälfte derjenigen, für die A bedeutsam war, auch die Aufwertung der Mutterrolle eine relevante Funktion darstellte. Nun hatte eine der besagten drei Frauen, für die A, aber nicht F bedeutsam waren, nämlich Mara, keine Kinder, Hawwa und Khadidja jedoch waren Mütter, für die nichtsdestotrotz die Aufwertung der Mutterrolle keine Rolle spielte. 551 So gab es auch im älteren Feminismus Bestrebungen, die Rolle der Mutter zu glorifizieren, ohne dabei auf konservative Rollenverteilungen zu rekurrieren. 552 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 281.

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Im literalsinnorientierten Islam, wie er in den von mir beforschten Gemeinden gelehrt und praktiziert wird, kommt der Mutter eine wichtige Position zu. Zum einen wird, wie in vielen wertkonservativen Gemeinschaften, die Mutterschaft als zentrale Aufgabe und Funktion der Frau gesehen; zum anderen ist die Mutter in den ersten Lebensjahren diejenige, der nach Ansicht der Gemeinschaften (wie auch zumeist in der sozialen Realität) der Hauptanteil der Erziehung zukommt und damit die Vermittlung von islamischen Werten und Wissen an die Kinder. »Das Paradies liegt unter den Füßen der Mutter« ist ein Ausspruch, der Mohammed in einem Hadith zugeschrieben wird und der mir in verschiedenen Kontexten immer wieder innerhalb der religiösen Lehren der Gemeinden begegnet ist.553 Die Verehrung der Mutter ist zudem in vielen patriarchalen Kulturen präsent und stilisiert die sexuell nicht verfügbare (ältere) Frau, die ihren Dienst an der Gesellschaft durch Gebären und Aufziehen der Kinder erfüllt hat, zum Gegenpol der potentiell ausschweifenden, zu kontrollierenden Partnerin oder Tochter. Diese Aufwertung der Mutterrolle, gerade einer klassischen Mutterrolle, bei der die Mutter (und eben nicht der Vater) zuhause bleibt und sich hauptberuflich der Kindererziehung widmet, steht in Diskrepanz zu Idealvorstellungen eines Teils der, vor allem akademisch gebildeten, Mainstreamgesellschaft, weniger jedoch zur gesamtgesellschaftlichen Realität. Laut der Allensbach-Studie von 2014 arbeiten nur 31 % der Mütter »nach der ersten Elternzeit« in Vollzeit oder längerer Teilzeit,554 allerdings bleiben nur 17 % der Frauen anschließend komplett zuhause.555 Die Studie konstatiert: »[D]ie Hälfte der Eltern verfolgt das Leitbild einer spezialisierenden Aufgabenteilung, bei der sich der Vater vor allem um die Berufsarbeit und die Mutter vorwiegend um die Betreuung und Erziehung der Kinder kümmert«556. Hier wird aber dennoch eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zu einer gleicheren Aufgabenverteilung deutlich; 1982 befürworteten in Westdeutschland nur 11 % eine Erwerbstätigkeit von (in Ehe lebenden) Müttern mit Kleinkindern, 61 % positionierten sich gegen eine Berufstätigkeit von »verheirateten Frauen, die kleine Kinder haben«, was sich heute grundlegend geändert hat.557 Was die Idealvorstellungen anbelangt, sinkt 553 Er wird auch gerne in nicht-literalsinnorientierten muslimischen Foren zitiert, vgl. z. B. Gök (2015), unter http://www.ditib.de/detail_predigt1.php?id=236& lang=de, oder WomenInIslam (o. J.): unter http://www.womeninislam.ws/de/islam_sorgt_fur_die_frau_als_ mutter.aspx. 554 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2014), S. 5. 555 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2014), S. 5. 556 Institut für Demoskopie Allensbach (2014), S. 31. 557 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2014), S. 31f. Die Lage stellt sich heutzutage wie folgt dar: »Eine langfristige und vollständige Spezialisierung wie durch das ›Hausfrauenmodell‹ wird heute allerdings nur noch von einer Minderheit der Eltern befürwortet: Lediglich 17 Prozent der Eltern, 18 Prozent in West- und 9 Prozent in Ostdeutschland,

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die theoretische Zustimmung zu traditionelleren Familienmodellen im Vergleich zur gelebten Realverteilung; nur 10 % befürworten das Hausfrauenmodell, weitere 11 % plädieren für die Variante, bei der die Frau einige Stunden arbeitet, der Vater jedoch in Vollzeit tätig ist.558 Diese Zahlen spiegeln eine gesellschaftliche Entwicklung wieder, die sich, wenn auch langsam, in Ideal und Praxis weg von dem Hausfrauenmodell und der väterlichen Vollzeitbeschäftigung hin zu einer gleichmäßigeren Verteilung von Erwerbs- und Fürsorgearbeit entwickelt. Neben der Ost- bzw. Westsozialisation und der materiellen Verteilung (bei Westsozialisierten und Familien, wo die Väter mehr Einkommen erzielten, steigt die Quote der weniger gleichen Betreuungsverteilung559) spielt auch die Bildung eine größere Rolle; 50 % der Mütter mit Hochschulabschluss arbeiteten in Volloder längerer Teilzeit.560 Diskrepanzen zwischen Wünschen und Realität, aber auch zwischen dem gesellschaftlich erstarkten Leitbild einer zumindest in Teilzeit berufstätigen Frau und der Wirklichkeit, in der Frauen nicht nur den Löwenanteil der Erziehungstätigkeit übernehmen,561 sondern auch oft die Betreuung nicht aus der Hand geben können oder wollen, werden im islamischen Geschlechtermodell aufgelöst.562 Gesamtgesellschaftlich findet die Entscheidung oder auch der Wunsch nach einer dauerhaften »Hausfrauenehe« immer weniger Akzeptanz, und Frauen fühlen sich oft zwischen dem Wunsch nach einer erfüllenden Berufstätigkeit und dem Selbst- und Fremdanspruch einer fürsorglichen und präsenten Mutterschaft zerrissen, wie Hofmann bereits in ihrer Arbeit dargelegt hat: »Als Hintergrund dieses doppelten Leitbildes sind miteinander in Konflikt stehende gesellschaftliche Bilder von Weiblichkeit zu erkennen, die von Frauen internalisiert wurden. So wird Mutterschaft zwar gesellschaftlich idealisiert, andererseits jedoch

558 559 560 561 562

erklären: ›Ich finde, spätestens nach dem zweiten Kind sollte sich ein Partner ganz auf die Kinderbetreuung konzentrieren.‹ Sogar in Familien, in denen die Mutter nach der ersten Elternzeit nicht in den Beruf zurückkehrte, wird diese Einstellung von nicht mehr als etwa 36 Prozent der Eltern vertreten. Von daher handelt es sich hier meist um das Ideal einer ›partiellen‹ Spezialisierung, in der die Mutter nach längerer Elternzeit in kürzerer Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung wieder berufstätig ist.« (Ebd., S. 31). Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2014), S. 51. In der Realität sind jedoch 17 % der Mütter Hausfrauen. Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2014), S. 36f. und S. 39f. Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2014), S. 41f. Vgl. zu den von Frauen wahrgenommenen Schwierigkeiten auch Kunz (2015), https://www. welt.de/wirtschaft/karriere/article147569531/Warum-Muetter-in-Deutschland-so-frustriertsind.html. Vgl. Hofmann (1997), die auf S. 205f. eindrucksvoll darlegt, welche Konsequenzen die gesellschaftlichen doppelten Ansprüche – von Karriere wie auch Kindererziehung – an Frauen haben und wie islamische Rollenvorgaben diesen Konflikt auflösen.

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auch abgewertet. Berufsarbeit – Leistung gegen Geld – hingegen wird allgemein hoch bewertet, jedoch bei Müttern von Kleinkindern mißbilligt«563.

Hingegen setzt der Islam in den hier vorgestellten Strömungen eine klare Priorität bei der Erziehungsarbeit. Für diese ist die Mutter nach der Lesart der besagten Strömungen qua Disposition besser qualifiziert, wobei diese Disposition meist durch m. E. oft stereotypisierende Geschlechterzuschreibungen, die als biologisch und/oder göttlich gegeben und nicht als ansozialisiert betrachtet werden, erklärt wird. »Auf dieser Ebene«, schreibt Hofmann, »kann ein positives Selbstbild auf der Basis von Mütterlichkeit entstehen«564. So konstatiert Aziza, dass die Mutter eine »zentrale Position« (Z. 830) innehat und verantwortlich für die Führung des Familienlebens ist: »[D]ass man das alles, also, wenn das nicht funktioniert, dann funktioniert alles nicht. Also […] dann ist alles durcheinander dann… Und, ja, so Organisatoren, auch organisatorische Sachen, das ist alles da so mit drin« (Z. 833–837).

Hingegen ist bei Arifa die Aufwertung der Mutterrolle stark mit einer später noch näher vorgestellten Rolle, der der »Alternativkarriere« (K) verknüpft, etwas, was Hofmanns Beobachtung widerspiegelt: »Im islamischen Frauenbild löst sich dieser verinnerlichte Konflikt [gemeint ist der zwischen Erwerbs- und Erziehungsarbeit] auf, da hier Mutterschaft nicht nur idealisiert, sondern auch als Leistung anerkannt wird.«565 Arifa bejaht sehr eindrücklich ein konservativislamisches Rollenmodell mit dem Mann als Versorger und der Frau als Hausfrau und Mutter : »Also für mich jetzt, ganz persönlich, ich würde gerne so leben, dass ich nicht verpflichtet wäre, arbeiten zu müssen, um eben, um meinen Lebensunterhalt bestreiten zu müssen. Weil ich schon finde, dass es gut ist, als Mutter da zu sein für die Kinder […]. Weil ich mir das nicht so vorgestellt hab, so wie ich jetzt […] ich möchte nicht diese Verpflichtung haben […] [a]rbeiten zu gehen, damit ich existiere. Denn das ist für die muslimische Frau in dem Sinne ja nicht vorgesehen, nicht verpflichtend vorgesehen, weil ja der Mann der Versorger sein sollte. […] Also dass… dass ich arbeiten gehen kann, wenn ich möchte, oder dass ich auch nur paar Stunden am Tag arbeiten gehen kann, also das wünsch ich mir« (Z. 438–451).

Offensichtlich stellt für sie die Versorgungspflicht einen integralen Bestandteil islamischer Lebensführung dar, dessen Nichteinhaltung sie schmerzlich berührt: »Weil ich mir das nicht so vorgestellt hab, so wie ich jetzt« (Z. 442–443). Während jedoch die von der Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami in ihrer Studie vorgestellten Frauen im Ausgleich die Position der Frau als Erzie563 Hofmann (1997), S. 206. 564 Hofmann (1997), S. 206. 565 Hofmann (1997), S. 206.

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herin der nächsten Generation hervorheben,566 nimmt Arifa auch hier den Mann in die Pflicht des Hauptverantwortlichen: »Ich, also der Mann muss ja, alleine was die religiösen Handlungen angeht, der muss sich um seine Frau kümmern, und um seine Kinder. Der kann nicht erwarten, dass die Frau die Kinder […] [zur islamischen Glaubenspraxis] erzieht […]. Das ist Verantwortung!« (Z. 645–650).

Ein reizvoller Aspekt der Geschlechterbeziehung im Islam ist für Arifa der Wert der Frau an sich, der nicht von beruflicher Stellung oder Erfolg abhängt (Z. 583– 585). Damit grenzt sie sich erneut von Rollenmodellen ab, in denen die Berufstätigkeit der Frau über die Mutter- und Hausfrauenrolle gestellt wird. Man könnte nun hinterfragen, ob hier nicht auch die persönliche Motivation eine Rolle spielt, den eigenen Werdegang positiver zu besetzen. Denn Arifa ist beruflich hinter den Erwartungen ihres Umfelds und wohl auch ihren eigenen zurückgeblieben: Sie hat nicht studiert, wie es ihre Umgebung erwartet hatte (Z. 55–58), und bereut selber verpasste Bildungschancen (Z. 27–35). In ihrem islamischen Umfeld findet sie nicht nur die Möglichkeit, das Fehlen einer akademischen Laufbahn zu relativieren, sondern auch ein Betätigungsfeld, in welchem sie schnell Verantwortung übernimmt und daher in gewisser Weise eine »Alternativkarriere«567 in spezifisch weiblicher Ausprägung vollführt. Für Arifa stellen die islamischen Geschlechterrollen daher einen Gewinn in jeglicher Hinsicht dar. Ihre Hausfrauen- und Mutterrolle wird geschätzt, und ihre beruflichen Tätigkeiten stellen einen Verdienst und nicht etwa den erwartbaren Normalfall, wie es in der außerislamischen Gesellschaft teilweise üblich ist, dar. Sie kann zudem Verantwortung tragen und tut es auch, müsste es aber eigentlich nicht – da ihrem Geschlechterverständnis zufolge der Mann die Hauptverantwortung auf allen Gebieten trägt. Alle ihre Leistungen, die außerhalb der Familie stattfinden, sind gewissermaßen ein Bonus und keine Verpflichtung und erfahren dadurch eine starke Aufwertung. Bei Franziska hingegen, die studiert hat und mit ihrem kleinen Sohn zuhause bleibt, zeigt sich, dass die klare islamische Aufgabenverteilung zu einer verminderten Belastung für sie führt: Franziska Franziska wird Ende der Siebziger in der DDR geboren. Ihr Vater arbeitet im Ausland, daher verbringt Franziska ihre ersten Lebensjahre zumeist außer Lande. Die Mutter ist dabei immer wieder – für die DDR ungewöhnlich – mit den Kindern zuhause, da sich das Arbeiten außerhalb der DDR für sie wohl schwierig 566 Vgl. Amir-Moazami (2007), S. 200f. 567 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 281.

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gestaltet. Franziska geht als junge Frau für einige Zeit ins Ausland und studiert anschließend. Sie lernt im Studium mehrere gebürtige Muslim_innen kennen; von deren Lebens- und Glaubenspraxis beeindruckt, konvertiert die vorher atheistische Franziska zum Islam und heiratet einen Muslim, mit dem sie zwei Söhne bekommt. Neben der Fortführung lebensgeschichtlicher Strukturen bietet ihr die Konversion auch eine Entlastung vom Leistungsgedanken, indem sie ihr ermöglicht, sich ohne schlechtes Gewissen auf ihre Mutterrolle zu konzentrieren. »Hier wird so viel propagiert von Freiheit und Frauen dürfen alles machen und ähm.. teilweise schaffen sie’s einfach nicht, diesem Anspruch gerecht zu werden und eifern dem so hinterher. […] Ähm, dass ich jetzt zum Beispiel ne andere Ruhe bekommen habe, also wenn ich im Vergleich mit meinen anderen nicht-muslimischen Freundinnen, mit dem [Name des Sohnes] jetzt zum Beispiel zu Hause zu bleiben.« (Z. 236–242).

Die Aufwertung der Mutterrolle bietet also einen Ausweg aus der von vielen Frauen als Spagat empfundenen Mehrfachbelastung durch Beruf/Karriere und Kinder ; das Hausfrauenmodell wird in den hier untersuchten islamischen Strömungen nicht nur einfach akzeptiert, sondern positiv aufgewertet. G: »Kognitive und emotionale Konsonanz durch Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang« Bei dieser Funktion habe ich, im Dissens zu manchen Ansätzen, Konversionen rein lebenspraktisch zu sehen, zu berücksichtigen versucht, dass für manche Frauen die Konversion tatsächlich die Funktion einer genuin spirituell-religiösen Einbettung jenseits lebensweltlicher Funktionen zu erfüllen schien. Es handelte sich hierbei ausnahmslos um Frauen, die bereits vor ihrer Konversion zum Islam religiös waren und für die sich ein Leben ohne religiöse Orientierung und ohne Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang nicht vorstellbar gestaltet hätte. Die besagten Frauen sind Nur, Arifa und Edith, die alle drei bereits vor der Konversion religiös orientiert waren – Arifa und Edith christlich und Nur hatte verschiedene Religionen ausprobiert. Dass sie sich gerade dem Islam zuwandten und bei dieser Entscheidung blieben, liegt m. E. auch in den sonstigen hier genannten, lebensweltlichen Funktionen begründet; doch handelte es sich hierbei durchweg um Frauen, bei denen nicht-religiöse funktionale Äquivalente nicht in Frage gekommen wären. Dies ist für mich tatsächlich der ausschlaggebende Punkt; bereits Lofland und Stark hatten den Aspekt möglicher anderer Problemlösungsmodelle ins Spiel gebracht, nämlich das therapeutische und das politische.568 Auch Wohlrab-Sahr 568 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 867.

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wirft die Frage nach den funktionalen Äquivalenten zur religiösen Konversion im Bezug auf »Lösungsvarianten für Probleme« auf.569 Wie ich bei den vorhergehenden Funktionen zeigen konnte, wären neben therapeutischen und politischen Äquivalenten auch durchaus, je nach Funktion und Konvertitin, andere Äquivalente vorstellbar gewesen. Nun wäre es denkbar, dass es z. B. eine soziale Funktion von Religion gibt, die außerhalb religiöser Systeme nicht auffindbar ist, dass also zwar auch nur funktionale religiöse Äquivalente existieren, aber dennoch die Funktion eine soziale und nicht etwa genuin »religiöse« ist. Ich stelle – innerhalb meines multifunktionalen Modells – auch tatsächlich die These auf, dass es immer auch lebensweltliche (Neben-)Funktionen gibt, die die Entscheidung für gerade diese Religion beeinflussen. Aber dennoch muss ich als Wissenschaftlerin ernst nehmen, dass es Menschen gibt, die das Bedürfnis nach religiöser Einbettung und Orientierung hegen und für die die Konversion auch genau diese Funktion erfüllt – und zwar nicht aufgrund lebensweltlicher Fragestellungen, die sie anderweitig nicht lösen könnten. Dabei definiere ich Religion bzw. daraus abgeleitet »religiös« als die Annahme, dass der »Zusammenhalt des Ganzen der Wirklichkeit durch eine Größe verbürgt« wird, »die selbst nicht einem der vier Quadranten menschlicher Wirklichkeitserfahrung [Körper, Bewusstsein, Kommunikation, materielle Welt, Anm. der Autorin] zugeordnet werden kann, sondern eine allen vier Quadranten gegenüber ›transzendentale‹ Position zugeschrieben bekommt«,570 und religiöses Bedürfnis dementsprechend als das Bedürfnis, eine solche transzendentale Größe anzunehmen und sich in einen durch diese transzendentale Größe zusammengehaltenen Sinnzusammenhang einbetten zu können. Dabei bewirkt die Gewissheit einer solchen Größe und des durch sie gewirkten Sinnzusammenhanges, dass sich die Betreffenden entspannter, aufgehoben, in sich ruhend und als Teil eines größeren Ganzen fühlen, was ihre subjektive Lebensqualität steigert. Für dieses Gefühl der »Stimmigkeit«, Harmonisierung, des sinnvollen Zusammenklangs, schien mir der Begriff der kognitiven und emotionalen »Konsonanz« als Gegenpart zu dem mittlerweile fest etablierten der »kognitiven Dissonanz« passend. Ich habe bereits dargelegt, dass das stabile Vorhandensein einer religiösen Orientierung, welche durch nicht-religiöse Äquivalente unerfüllbar ist, für mich ein wichtiges Kriterium für die Annahme einer genuin religiösen Funktion darstellt. Dies zeigt sich deutlich bei der bereits an anderer Stelle vorgestellten Edith, die ihren Wechsel vom Christentum zum Islam wie folgt beschreibt: Edith hat nach ihrer eigenen Aussage »eine schöne Kindheit« (Z. 14), ihr Familienleben mit Mutter, Vater und Schwestern verläuft harmonisch und stabil, 569 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 114f. und S. 170, das wörtliche Zitat ist S. 115 entnommen. 570 Das erste Zitat stammt von Feldtkeller (2014), S. 172f., das zweite ebd., S. 173.

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das Verhältnis übersteht auch die späteren Erschütterungen durch die Konversion gut (Z. 188–209). Anders als bei vielen Konvertitinnen mit schwierigem familiärem Hintergrund571 liegt Ediths Konversion augenscheinlich nicht in Problemen in ihrer Kindheit begründet. Auch typische Konversionsrhetoriken von unerfüllter Sinnsuche oder Zweifeln an Trinität oder Gottessohnschaft fehlen in Ediths Erzählung weitgehend. Nach ihrer eigenen Auffassung und in Abweichung zu den in ihrer Gemeinde gängigen Skripten stellt ihre Konversion daher eine Kontinuität und nicht einen Bruch dar. Auf die Frage der Interviewerin, ob sie vorher durchgängig christlich gewesen sei, betont sie, sie »sei immer gläubig« gewesen und habe »nicht den Gott gewechselt, sondern den Pfad zu ihm« (Z. 46–48). Ihre Formulierung impliziert, dass sie sowohl Christentum als auch Islam als legitime Pfade zu Gott betrachtet. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, dass muslimische (vorher christliche) Konvertitinnen betonen, sie hätten ja schon immer an Gott geglaubt, gewöhnlich wird diese Aussage aber um die schon seit langem bestehenden Zweifel an christlichen Dogmen ergänzt. Dies ist hier nicht der Fall. Anders als viele Konvertit_innen erwähnt sie auch ganz offen, dass sie den Islam durch einen »konkreten Anderen«572, nämlich ihren ägyptischen Ex-Mann, kennengelernt hat (Z. 50–51). Edith sieht keine Notwendigkeit darin, sich vom Christentum abzugrenzen, weil ihr Bedürfnis nach Konsonanz und die Erfüllung durch die jeweilige Religion für sie ein Kontinuum darstellen. Daher kann sie auch ohne Zögern von einer Gefühlsentscheidung sprechen, die zudem soziale Motive durchscheinen lässt – denn da sie für ihr eigenes Empfinden lediglich den »Pfad« gewechselt hat, muss sie ihre Entscheidung nicht religiös oder rational rechtfertigen – und kann es auch gar nicht. Diese Vermutung erhärtet sich, als sie kurz darauf feststellt: »Das Interesse kam eigentlich nur.. durch meinen Ex-Mann« (Z. 86). Obwohl sie angibt, auch Literatur über den Islam gelesen zu haben (Z. 87), fehlt in der nachfolgenden Antwort auf die Frage, was den Ausschlag zur Konversion gegeben habe, nicht nur jede Konversionsrhetorik, sondern überhaupt eine rationale Begründung: »Das weiß ich gar nicht mehr, was es jetzt der Ausschlag war. Irgendwie war das einfach so, ich möchte das einfach. […] Also das war so dieses Gefühl, dass ich es gerne möchte« (Z. 89–92). Den Grund für eine so schwerwiegende Entscheidung zu vergessen, wie sie andeutet, mutet zumindest ungewöhnlich an und erhärtet die These, dass die Konversion Ediths tatsächlich zunächst auch um ihres Mannes Willen erfolgt ist, was aber für sie insofern unproblematisch war, als das 571 Vgl. dazu Wenger Jindra (2005), S. 372 und S. 378. 572 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 171. Die Forscherin berichtet dort darüber, dass die Konvertierten in ihren Berichten oft versuchten, »diese konkreten Anderen zu unterschlagen oder ihre Bedeutung zu schmälern«.

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Bedürfnis nach Konsonanz durch Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang in beiden Religionen erfüllt werden konnte. So wird auch erklärbar, dass sie wiederholt »Gefühl« als Motiv für eine Konversion nennt, was dem gängigen innerislamischen, insbesondere literalsinnorientierten, Narrativ von der vernunftbetonten Konversion zuwiderläuft.573 Tatsächlich wird »Gefühl« zu ihrem Schlüsselwort in dem Bericht über das Konversionsgeschehen. Nach dem Beweggrund für ihr Interesse am Islam befragt, kommt sie von sich aus auf das Konversionsereignis selber zu sprechen. Nachdem sie ihren Mann kennengelernt und geheiratet hat, fährt sie nach Ägypten, dessen Heimatland. Sie berichtet zunächst von der aufwendigen Vorbereitung der Empfangsfeierlichkeiten durch die Familie des Mannes und dann übergangslos von ihrer Konversion: »[J]a so die ganzen […] [Verwandten ihres Mannes] waren also tagelang […] [mit Vorbereitungen für ihren Besuch] beschäftigt, und ähm.. Ja, ich hatte einfach das Gefühl gehabt, ähm, dass ich’s möchte. Und deswegen […] bin ich auch im Kreis der Familie […] da hab ich eben das äh, Glaubensbekenntnis gesprochen.« (Z. 101–106).

Zum einen rekurriert Edith hier wieder auf ihr »Gefühl« als Ausschlag für die Entscheidung; gleichzeitig wird aber auch das soziale Setting deutlich, innerhalb dessen sie konvertiert. Auch ohne direkten Druck von Seiten der Familie erhärtet die nahtlose Überleitung von den Mühen der Familie hin zur Konversion aus Gefühlsgründen die Vermutung, dass der Wunsch des Mannes und der Familie, möglicherweise verstärkt durch das Gefühl einer gewissen »Bringschuld« für den von dieser betriebenen Aufwand, einen wichtigen Beweggrund für die Konversion darstellten. Von der Interviewerin befragt, ob es für sie keine Option gewesen sei, Christin zu bleiben, verneint sie, unterbricht nachfolgend zudem zum ersten Mal aktiv das Gespräch und verweist erneut auf ihr Gefühl. Gleichzeitig wird wie auch schon in vorherigen Sequenzen deutlich, dass sie keine argumentative Abgrenzung zum Christentum vornehmen will: »I: Weil theoretisch ist ja nach islamischem Recht erlaubt, dass die Frau E: Das, das ist erlaubt, aber ich hab mich, weil ich mich ja ne Weile mit beschäftigt hab, hatte ich einfach das Gefühl gehabt, dass es sich für mich stimmig anfühlt. I: Was war für Dich so die Hauptdifferenz vorher zum, zum Christentum, dem Du vorher angehört hast? E: (Pause von acht Sekunden). Ähm… Das, ja… Also ich, einfach, das war so ’n Gef-, vom Gefühl heraus, dass ähm, ich hab ja auch erst langsam dann angefangen mich zu beschäftigen mit dem Islam: ›Was muss ich jetzt als Muslima machen? Was sind meine Rechte, was sind meine Pflichten?‹« (Z. 109–117).

573 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 364f.

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Vermutlich ist die gläubige Edith zunächst auch ihrem Mann und dessen Familie zuliebe konvertiert; dass sie danach im Islam unter anderem die »Stabilisierung der Lebensführung« findet, die die Konversion auch nach der Scheidung zu einer dauerhaften Entscheidung macht (und verhindert, dass sie zum Christentum zurückkehrt oder sich einer anderen Religion zuwendet), ändert nichts daran, dass sie ein genuines Bedürfnis nach religiöser Einbettung empfindet. Die Entscheidung für den Islam ist auch sozialen Umständen und »Gelegenheitsstruktur[en]«574 geschuldet, das Erreichen emotionaler und kognitiver Konsonanz durch einen Transzendenzbezug hingegen zieht sich durch ihre gesamte Biographie. Selbstverständlich geht mit der Konversion dennoch eine Veränderung der Weltsicht575 einher, und ihre Lebensführung ändert sich ebenfalls. Unverändert bleiben jedoch das zugrunde liegende Bedürfnis und dessen Erfüllung. Bei der aus einer gemischtreligiösen Familie stammenden Nur, die im Laufe ihres Lebens verschiedene Religionsformen ausübte, zeigt sich sehr deutlich, dass religiöse Suche und lebensweltliche Funktionen Hand in Hand gehen, was aber ebenso wenig an der Tatsache ändert, dass für sie keine säkularen Alternativen in Frage gekommen wären. Bei Nur war zeit ihres Lebens der Wunsch präsent, zu einer in sich geschlossenen Religionsausübung zu finden, in der Einheit eine große Rolle spielt – als Gegenentwurf zu dem von ihr als orientierungslos empfundenen Pluralismus der Herkunftsfamilie und im Angesicht der vielfachen Migrationserfahrungen (und daraus resultierenden kulturellen Differenzen) derselben. So streicht sie heraus, dass ihr der »Einheitsgedanke ganz wichtig gewesen« sei, und zwar nicht nur »auf Gott« bezogen, sondern »auch auf die Menschen« (Z. 386–388). Dies erscheint durch den komplexen religiösen und kulturellen Hintergrund ihrer Familie auch jenseits möglicher islamischer Konversionsrhetoriken plausibel. Dabei ist der Islam eine der wenigen im Westen bekannteren Religionen, bei deren Auswahl sie sich nicht familiär positionieren und kein Bekenntnis zu der Religion von einem der Elternteile oder Familienzweige ablegen müsste. In der Schilderung des Konversionsvorganges selber wird deutlich, wie sie zu emotionaler und kognitiver Konsonanz findet, was für Nur Vorrang vor dem eigentlichen formalen Akt hat. So kann Nur – geprägt von den vielfachen Migrationsgeschichten und der komplexen Identitätssuche ihrer Familie – auf der lebensweltlichen Ebene eine symbolische Immigration in einen neuen kulturellen Kontext vollziehen, auf der religiösen sich erstmalig komplett in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang eingebettet fühlen, so dass sie konstatieren kann, sich im Islam zum »erste[n] Mal« in einem religiösen Kontext 574 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 171. 575 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 87f.

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vollständig »zuhause« gefühlt zu haben (Z. 307) und das Fazit ziehen konnte: »Meine Suche ist beendet« (Z. 309): »[I]mmer wenn ich irgendwie doch meine schwierigen Momente habe, dass ich mich daran zurückerinnere, was das für ein Gefühl das war auch, so dieses Gefühl, angekommen zu sein, dieses Gefühl von Frieden, also innerem Frieden« (Z. 312–315).

Dabei steht für Nur die spirituelle Seite der Konversion im Vordergrund, intellektuelle oder formale Aspekte verlieren dagegen an Bedeutung. Sie beschreibt, wie sie dem Imam die schahada nachspricht: »[U]nd dann hat er [der Imam] dann gemeint, ›Jetzt sag die schahada‹ (lacht) […] und er hat mir das auf Arabisch dann gesagt und ich konnte kein Wort Arabisch […] und für mich war die Sache sowieso so angelegt, dass ich sagte, ›Ja ich weiß, ich bin Muslima‹, aber das erleb ich immer wieder, wenn ich mit muslimischen Konvertierten zu tun habe oder mit Menschen, die sich dafür entscheiden, die wollen dann erstmal den ganzen Koran können, die wollen dann erstmal alles Mögliche schon können« (Z. 333–343).

Entscheidend ist für Nur die innere Überzeugung vor der Glaubenspraxis, daher misst sie der korrekten Befolgung der islamischen Lebens- und Glaubensvorschriften zunächst nur eine sekundäre Bedeutung zu: »[I]ch hab mir diesen Druck [hinsichtlich der islamischen Vorschriften] gar nicht gemacht«, stattdessen habe sie für sich konstatiert, dass es »massig Muslime« gäben, die diese nicht oder nur teilweise befolgen würden (Z. 345–349). Deutlich wird an dieser Stelle, dass Nur nicht primär konvertiert ist, um ihre Lebensführung zu konsolidieren oder sich ein festes Regelwerk für den Alltag anzueignen – auch wenn eine gewisse Stabilisierung des Alltags bei ihr schon eine Rolle spielt. Auch mit dem Thema Sexualität geht Nur so offen um wie keine andere meiner Interviewpartnerinnen; ihre vorehelichen Beziehungen scheinen nichts zu sein, was Unbehagen oder Schamgefühle in ihr auslöst oder wo sie sich verunsichert fühlte. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass ihrer Konversion substanziell das Bedürfnis nach kognitiver und emotionaler Konsonanz durch Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang zugrunde liegt. Nur war schon immer religiös interessiert und gläubig; ein Leben ohne transzendenten Bezugsrahmen ist für sie daher nicht vorstellbar. An den zwei hier vorgestellten Beispielen kann man m. E. gut ablesen, was den Unterschied zwischen lebensweltlichen und religiösen Funktionen ausmacht: Während die anderen Funktionen direkt mit Problemen oder Fragen der eigenen Person in Bezug auf die soziale Umwelt oder die eigene Lebensgestaltung korrelieren, liegt hier ein religiöses Bedürfnis auch jenseits konkreter weltlicher Fragestellungen und jenseits einer krisenhafte Verfasstheit vor. Dieses Bedürfnis wird durch die Religion erfüllt und führt zu einer kognitiven und emotionalen Konsonanz. Alle drei Konvertitinnen kommen aus stabilen familiären Verhält-

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nissen, berichten von wenigen gravierenden Erschütterungen in ihrem Lebensverlauf bzw. konnten diese offensichtlich gut verarbeiten und sind zudem bereits »religiös musikalisch«576, was wiederum die Frage aufwirft, ob ein religiöses Bedürfnis im Sinne meiner Religionsdefinition ohne religiöse Sozialisation überhaupt entstehen kann – eine Frage, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden kann. Vermutlich könnte man auch ein solches »religiöses Bedürfnis« wiederum tiefenpsychologisch aus Faktoren der Sozialisation oder aus bestimmten Lebensumständen heraus erklären. Für mich ist jedoch an dieser Stelle primär relevant, dass – aus welchen Gründen auch immer – ein Bedürfnis nach Religion bzw. Spiritualität aufscheint, das durch keine nicht-religiösen funktionalen Alternativen erfüllt werden kann. H: »Aufwertung eigener Persönlichkeitsmerkmale« Diese Funktion soll das Phänomen charakterisieren, dass der Islam in der hier praktizierten Form bestimmte Eigenschaften als religiös legitimiert oder sogar erwünscht erscheinen lässt, die gesamtgesellschaftlich oder auch nur individuell von den Befragten als negativ und/oder störend empfunden werden. So können beispielsweise Unentschlossenheit und Entscheidungsschwierigkeiten durch das Regelwerk des Islam nicht nur teilweise gelöst werden. Sie können auch zur Unterordnung unter den göttlichen Willen umgedeutet werden, Harmoniebedürfnis und Konfliktunwilligkeit wiederum zur erwünschten Demut. Diese Funktion der Konversion ermöglicht demnach, sich mit eigenen Charaktermerkmalen auszusöhnen, anstatt sich in einen mühseligen und womöglich erfolglosen Änderungsprozess zu begeben, und gleichzeitig möglicher externer Kritik unter Verweis auf göttlich sanktionierte Verhaltensvorgaben wirkungsvoll entgegentreten zu können. Hier wird das deutlich, was Wohlrab-Sahr als »symbolische Transformation«577 bezeichnet: »In der neuen religiösen Symbolik und in der Art des Vollzugs der Konversion wird ein biographisches Problem gleichermaßen präsentiert wie auch transformiert«578. Ein solches biographisches Problem können selbstverständlich auch Charaktereigenschaften sein, die die Person in ihrer Lebensführung oder in der Interaktion mit anderen belasten. Probleme mit der Strukturierung des Lebens oder der eigenen Geschlechteridentität fallen gewissermaßen ebenfalls in diese Kategorie, sind aber generalisierter, weitaus häufiger vorzufinden und verweisen mehr auf gesamtgesellschaftliche Pro576 Wohlrab-Sahr (1999a) verwendet auf S. 369 den schönen Begriff »religiös >unmusikalischunmusikalisch< sind, da er zunächst einmal äußere Regeln bietet, die auch von denen praktiziert werden können, denen ein verinnerlichter Zugang schwerfiele« schreibt Wohlrab-Sahr (1999a) in Bezug auf »Konvertiten ohne christlichen Hintergrund«, S. 369. Allerdings sieht sie die spezifische Attraktivität des Islam für ostdeutsche Konvertitinnen eher darin, dass der Islam »aus der zentralen Konfliktlinie der Gesellschaft – nämlich der zwischen Kirche und Staat – herausgenommen war« (S. 369), wiewohl auch sie die Kontinuitäten in der Weltsicht der DDR-sozialisierten Konvertitinnen herausarbeitet (z. B. auf S. 303ff.).

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Exemplarisch zeigt sich diese Funktion bei Raschida, die zudem eine der ältesten Konvertitinnen in meinem Sample ist. Sie hat also die – für sie negativen – Folgen der Wende sehr bewusst miterlebt: Raschida Raschida wird in den 50er Jahren in der ehemaligen DDR geboren. Ihre Eltern sind atheistisch, der Vater ist Handwerker, die Mutter Verkäuferin. Raschida absolviert in ihrer Jugend eine klassische DDR-Laufbahn bei den entsprechenden Jugendorganisationen, in denen sich sich stark engagiert, und meistert erfolgreich ein Fachhochschulstudium. Raschida heiratet und bekommt drei Söhne, die Ehe wird noch vor ihrer Konversion geschieden. Nach der Wende sieht sie sich mit existenziellen Verunsicherungen konfrontiert und stellt ihr bisheriges Welt- und Selbstbild infrage. Einige Zeit später lernt sie eine Muslimin kennen, die ihr den Islam näherbringt; sie konvertiert nach einiger Zeit zum Islam. Raschida ist vor ihrer Konversion eine sozialistisch geprägte Atheistin, die Religion »auslacht« (Z. 38). Sie stürzt nach der Wende in eine schwere Sinnkrise, die weniger mit der Angst, den Beruf zu verlieren, zu tun hat,588 als vielmehr mit einer Erschütterung ihres Selbstbildes und ihres Vertrauens in das bisherige System (Z. 52–59). Die beruflichen Kompetenzen der in der DDR Ausgebildeten werden massiv angezweifelt, was bei Raschida dazu führt, ihre bisherige Lebensrealität zu hinterfragen: »Diese (atmet aus).. Besserwisserei, von, von irgendwelchen.. in unser, in unserer Arbeit, die das besser wussten als wir… Das, das war.. das war wirklich schlimm.« (Z. 55–57). Raschida fängt an, das bisherige System kritisch zu betrachten und stellt sich die Frage, was denn eigentlich wahr und richtig sei (Z. 59), etwas, was sie als den Beginn ihrer Hinwendung zum Islam bzw. zur Religion bezeichnet. Diese Aussage ist sicherlich auch einer nachkonversionellen Perspektive geschuldet. Fakt ist jedoch, dass sie durch die Wende und der daraus folgenden Abwertung sozialistischer Werte und Lebensweisen – wie viele im Osten sozialisierte Menschen – in ihrem Weltbild und Selbstvertrauen schwer erschüttert wird. Ihr bisheriges, sozialistisch, naturwissenschaftlich und atheistisch ausgerichtetes Weltbild empfindet sie als unbefriedigend, doch noch hat sie dafür keine Alternative gefunden (Z. 61–69). In diese Unsicherheit hinein kommt die Bezugsperson der jeweiligen Religion ins Spiel, deren Bedeutung von For588 Die Abschlüsse in vielen Berufen der ehemaligen DDR wurden in der Regel auch im vereinigten Deutschland anerkannt, viele wurden weiterbeschäftigt – auch Raschida behält ihre Stelle. Allerdings erfuhren die Betreffenden eine oft massive Abwertung, da die Abschlüsse zwar anerkannt, die Fachkompetenz jedoch angezweifelt wurde.

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scher_innen meines Erachtens manchmal überschätzt, von Konvertierten selber hingegen oft abgeschwächt wird.589 Gerade zu dieser Zeit, in der der Islam noch verhältnismäßig wenig bekannt ist, ist die »bestimmte Gelegenheitsstruktur […], die den Islam in den Horizont der Betreffenden eingeführt hat«590 nicht zu unterschätzen. In diesem Fall handelt es sich bei dem »konkreten Anderen«591, der den Islam in Raschidas Blickfeld bringt, um eine muslimische Freundin, mit der sie über existenzielle Zweifel diskutiert und die versucht, ihr islamische Werte und Antworten nahezubringen. Sie beschreibt ihren Zustand zu dieser Zeit als innere Ambivalenz, welche zugunsten Gottes bzw. des Islam aufgelöst wird, als sie ein göttliches Zeichen erhält (Z. 81–125). Diese Beschreibung eines göttlichen Zeichens bzw. »Schilderung eines außergewöhnlichen Ereignisses« mit schicksalhafter Lenkung wurde bereits von Ulmer als charakteristisches Merkmal von Konversionserzählungen genannt.592 Interessant ist es daher, auf die Beweggründe für ihre Konversion jenseits der spezifischen Elemente von Konversionserzählungen zu schauen. Offensichtlich sucht sie in ihrer Sinnkrise auch nach etwas, was eine funktionierende Alternative bzw. ein funktionales Äquivalent593 zu der Ideologie des Sozialismus darstellen könnte. Der Islam scheint auf den ersten Blick keine sehr naheliegende Alternative darzustellen. In dieser Hinsicht ist es jedoch außerordentlich interessant, die Aspekte des Islam zu betrachten, zu denen Raschida sich hingezogen fühlt. Beispielsweise setzt sich Raschida mit dem Konzept des richtenden Gottes auseinander und findet die für sie selber zufriedenstellende Antwort, dass Gott sie im Falle eigenen Fehlverhaltens (und nur dann) »bestrafen könnte« (Z. 83– 87). Gott als erzieherische Instanz, die man nicht fürchten muss, solange man sich korrekt verhält, der aber eben dieses Verhalten auch zu beobachten und beurteilen scheint, ist von dem sozialistischen Staatwesen der DDR, welches ebenfalls lenkend und strafend das Leben der einzelnen Bürger_innen beobachtete und auf dieses einwirkte, auf den zweiten Blick gar nicht so verschieden. Nach islamischen Prinzipien befragt, antwortet sie, dass diese »genauso sind wie die humanistischen« – was sie positiv bejaht (Z. 203–205).

589 590 591 592

Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 171. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 170. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 171. Vgl. Ulmer (1988), S. 28: »Darüber hinaus betonen die Erzähler die Zwangsläufigkeit, mit der das Ereignis stattfindet. Der Konvertit wird zum passiven Objekt einer ihm unbekannten Macht« (ebd.). 593 Zum Begriff »funktionale[s] Äquivalent[…]« s. Merton (1995), S. 31 (dort kursiv), und vgl. auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 170.

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In ihren nachfolgenden Erläuterungen wird deutlich, dass sie versucht, eine Kontinuität zwischen humanistischen Werten (die für viele sozialistische geprägte Menschen positiv besetzt waren und ihren Niederschlag in der DDRVerfassung gefunden haben)594 und dem Islam herzustellen. Tatsächlich finden sich weitere Elemente im (nicht nur, aber besonders stark im literalsinnorientierten) sunnitischen Islam, die möglicherweise für sozialistisch geprägte Menschen, die sozialistische Strukturen bejah(t)en, attraktiv sein könnten: die Betonung der Rationalität, der Schwerpunkt auf der weltumspannenden, klassenübergreifenden Gemeinschaft der Gläubigen (umma) und der Gedanke der Gleichheit aller Menschen gegenüber Gott. Auch ist weniger das innere Erleben bzw. eine stark emotionale Verbindung zu Gott notwendig, um ein »guter Muslim« zu sein, sondern zumindest im literalsinnorientierten und rechtsschulengebundenen sunnitischen Islam eher das Befolgen von Regeln ausschlaggebend.595 Zudem bietet insbesondere der literalsinnorientierte Islam eine klare Struktur und die Vorstellung eine göttlichen bzw. von oben gelenkten »Plans« – etwas, was für Bürger_innen der DDR Lebensrealität war. Diese Deutung findet sich nachfolgend bestätigt, wenn Raschida von der Bedeutung der Gemeinschaft spricht in Abgrenzung zu individualistischer Profilierung: »[W]enn sie sich dann nur profilieren, profilieren wollen und nur für sich. Das ist.. ist doch vollkommen Quatsch! […] Die sind in einer Gesellschaft..« (Z. 427–430). Dieses Streben nach einer Gemeinschaft, in der das Wohl des Kollektivs wichtiger ist als individuelle Entfaltung, zieht sich durch das gesamte Interview, besonders pointiert bei den Debatten um Gleichstellung (Z. 420–454). Von den Deutschen wünscht sie sich folgerichtig, »[d]ass sie aufgeschlossener sind.. Nicht bloß an sich denken« (Z. 532). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sie ihr Zögern, bestimmte, besonders nach außen zur Mehrheitsgesellschaft hin abgrenzende islamische Vorschriften zu befolgen, damit begründet, sie habe sich nicht »komplett […] wandeln« wollen, denn sie sei weitherhin »ganz normal« geblieben (Z. 336–338). In ihrer Aussage findet sich die Bestätigung dafür, dass sie den Islam nicht als grundlegenden Umbruch, sondern als Weiterführung ihrer bisherigen Identität betrachtet. Sie will sich nicht komplett »wandeln«, sondern bleibt »normal«.

594 Vgl. Interview mit Horst Groschopp von Hummitzsch (2013) unter http://www.diesseits. de/menschen/interview/1381096800/war-ddr-humanistisches-land. In der DDR-Verfassung steht unter Artikel 37, Abs. 2: »Als Mittlerin der Kultur hat die Schule die Aufgabe, die Jugend im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker und einer echten Demokratie zu wahrer Humanität zu erziehen«, unter http://www.documentar chiv.de/ddr/verfddr1949.html#a. 595 Vgl. zur Attraktivität des Islam für »diejenigen, die religiös >unmusikalisch< sind« auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 369. Dies gilt nicht für die mystische Strömung des Sufismus.

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Als Gesamt gesehen, bietet der Islam Raschida die Möglichkeit, sich symbolisch vom Sozialismus (der sie enttäuscht und »belogen« [Z. 59] hat) und dessen Atheismus abzugrenzen, ohne sich jedoch für die von ihr ebenfalls abgelehnte BRD zu positionieren – weswegen eine Konversion zum Christentum wohl kaum infrage gekommen wäre.596 Sie kann durch ihre Konversion also in Opposition zu beiden Staatsformen gehen und gleichzeitig als Element der Kontinuität die ihr wichtigen sozialistischen Werte – zumindest in der von ihrer Strömung vertretenen Islamauslegung – in ihr weiteres Leben integrieren. Gemeinschaft ist einer dieser zentralen Werte – in Abgrenzung zu Selbstverwirklichung und Individualismus. Der Islam bietet ihr ferner eine klare Struktur und das Element sozialer Einbettung und Überprüfung durch eine übergeordnete Kraft. Diese Überprüfung ist für sie offensichtlich nicht unbedingt negativ besetzt, sondern vermittelt ihr Struktur und eine Richtschnur für ihr Verhalten (Z.190–198), sprich eine Orientierung nach der Werteverunsicherung durch die Wende. Und zuletzt kann sie sich in ihrer islamischen Gemeinschaft eine Form von »Alternativkarriere«597 aufbauen, in der ein zentrales Problem, der Verlust von beruflicher und intellektueller Anerkennung, »gleichermaßen präsentiert wie auch transformiert«598 wird. Diese Funktionen hätte eine andere Religion schwerlich erfüllen können, weswegen ihre Konversion in sich logisch stringent ist. J: »Alternativkarriere«599 Diese Funktion, eine der beiden seltensten von mir vorgefundenen, habe ich in Anlehnung an Wohlrab-Sahrs Terminologie benannt. Hierbei wird im religiösen Bereich ein Status erworben, der mit Hilfe gesamtgesellschaftlicher Aufstiegsmöglichkeiten nicht realisiert werden konnte. Während Wohlrab-Sahr diesen Begriff im Kontext ihrer Funktion der Methodisierung der Lebensführung verwendet, möchte ich diese beiden Termini entkoppeln – eine Lebensführung kann strukturiert werden, ohne dass damit ein Statuserwerb einhergeht. Und ein Statuserwerb ist durchaus auch ohne methodische Lebensplanung denkbar – vor allem Künstler_innen und Schriftsteller_innen, aber auch manche religiöse Leitungsfiguren legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Bei Raschida, die in dem vorhergehenden Abschnitt bereits erwähnt wurde, ist diese Funktion eine, die ihren Selbstwertverlust nach der Wende kompensiert, wie bereits angedeutet wurde: So hebt sie, ganz in der Tradition der propagierten Rationalität und Wissenschaftsorientierung der DDR, die Wissen596 Vgl. dazu auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 369. 597 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 281. 598 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 138. Im Original sind »präsentiert« und »transformiert« kursiv gesetzt. 599 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 281.

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schaftlichkeit nicht nur des Islam, sondern auch ihrer Beschäftigung mit diesem hervor und nähert sich diesem über Fachliteratur an. Sie gibt auch selber Expertisen auf diesem Gebiet ab (Z. 212–257). Diese Herangehensweise ermöglicht ihr, deren Bildungsgeschichte in der neuen Staatsordnung massiv abgewertet wurde (Z. 153–160)600, auch einen Rückgewinn von Status auf einem sehr speziellen Gebiet, wo ihr Fachwissen noch mehr zum Alleinstellungsmerkmal wird.601 Diese Deutung bestätigt sich an späterer Stelle, wenn sie feststellt, sie habe ihr »Leben lang« versucht, »Wissen« zu erwerben und habe vor, auch weiterhin danach zu streben (Z. 507–508). Noch deutlicher wird diese Funktion bei Arifa, die die akademischen Erwartungen ihres Umfelds nicht erfüllt hat, jedoch mit ihrer Verantwortungsübernahme im religiösen Bereich tatsächlich dezidiert eine Alternativkarriere verwirklicht, die sich im Grunde spiegelverkehrt zu den ursprünglichen Ansprüchen an sie, sie möge studieren und akademische Karriere machen, verhält. Resümee Auf die Funktionen, welche nur ganz spezifisch im Leben einer einzelnen Konvertitin bedeutsam waren, möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefend eingehen. Es ist relativ klar, dass sich wohl bei jedweder Funktionsuntersuchung innerhalb eines Samples auch sehr persönliche Funktionen finden ließen, welche sich aus der speziellen individuellen Biographie und den Lebensumständen einer Person herleiten lassen. Mich hat jedoch interessiert, Funktionen näher zu beleuchten, welche für mehr als eine der Frauen eine Rolle spielten und somit auch Rückschlüsse auf bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen und daraus resultierende Problemstellungen und Bedürfnisse, im Zuge derer die Konversion Funktionen erfüllt,602 erlauben. Die nächste Frage, die sich nun stellte, war, ob bestimmte Funktionen vielleicht gehäuft in Kombination vorzufinden waren oder ob sich andere möglicherweise ausschlossen. Selbstverständlich ist es angesichts des kleinen Samples und der qualitativen Herangehensweise nicht möglich – und wäre auch gar nicht mit meiner Vorgehensweise kompatibel – zwingende Kausalzusammenhänge zu 600 Exemplarisch fasst sie ihre Erfahrungen so zusammen, wenn sie berichtet, wie von westlichbundesdeutscher Seite angenommen wurde, »dass wir schlecht sind mit, in unserer Arbeit, also, das wir erst mal lernen müssen, durch, äh, durch Weiterbildung dergleichen (redet lächelnd) was überhaupt Bildung bedeutet und so weiter. Das hatte mich damals sehr mitgenommen« (Z. 157–160). 601 Vgl. dazu auch Wohlrab-Sahrs Konzept der »Alternativkarriere«, Wohlrab-Sahr (1999a), S. 281. 602 Vgl. dazu Wohlrab-Sahr (1999a), S. 20: »Es geht dabei um die Rekonstruktion des Problems, auf das die Konversion bezogen ist, und um die Herausarbeitung der Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet.« Im Original ist dieser Abschnitt kursiv gesetzt.

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konstruieren oder feste Aussagen über Funktionsgruppen zu treffen. Ich möchte lediglich das Augenmerk auf einige interessante Kombinationen lenken, da diese Hinweise darauf geben können, welche Funktionen der Konversion zum Islam möglicherweise gehäuft gemeinsam auftreten – oder aber sich eher ausschließen. Ich bin bei besonders nah verwandten Funktionen wie der Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität (A) und der Aufwertung der Mutterrolle (F) bereits darauf eingegangen, dass für alle Konvertitinnen, bei denen F vorzufinden war, auch A eine Rolle spielte (wenn auch nicht umgekehrt). Dies erscheint recht naheliegend, als eine Aufwertung der Mutterrolle in der religiösen Variante auch mit der Übernahme bestimmter Geschlechterbilder einhergeht, umgekehrt aber eine Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität nicht unbedingt diesen Aspekt implizieren muss, wie ich bereits ausgeführt habe. Interessant ist auch, dass bei vier von fünf Konvertitinnen, bei welcher die Funktion C (Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft) auftrat, auch Funktion A (Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität) vorzufinden war. Dies verwundert nicht, da der Islam immer wieder stark über seine vermeintlichen oder tatsächlichen Geschlechterstrukturen und -rollen geothert wird – alleine schon der hijab bzw. überhaupt die weibliche islamische Bekleidung als Symbol schlechthin für »den« Islam ist geschlechtlich markiert und mit starken, oft exotistischen, Zuschreibungen aufgeladen. Dazu gehört das Bild der faszinierenden Haremsdame ebenso wie das der unterdrückten verschleierten Muslimin – man könnte fast sagen, dass ein Großteil der Faszination des Islam im positiven wie negativen Sinne geschlechtlich konnotiert ist. Funktion C (Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft) und Funktion D (Soziale Einbindung) traten in vier von fünf Fällen gemeinsam auf. Dies ist insofern interessant, als Wohlrab-Sahr in ihrer Kategorie »symbolische Emigration« neben dem Aspekt der DDR-Sozialisation auch den der sozialen Einbindung subsumiert.603 Ich habe bereits begründet, weswegen ich diese Bündelung aufgelöst habe; es scheint mir aber dennoch geboten, darauf hinzuweisen, dass diese beiden Funktionen eben doch oft, wenn auch nicht immer, gemeinsam auftreten. Dies ist durchaus inhärent logisch; wer sich vom Fremden angezogen fühlt und für wen die Konversion auch eine Abgrenzungsfunktion erfüllt, braucht in den allermeisten Fällen eine neue Peergroup und möchte die Abgrenzung auch durch Eingliederung in den neuen Kontext vollenden. Hinzu kommt, wie bereits erwähnt, oft die praktische Notwendigkeit eines neuen Umfeldes wegen massiver Ausschlüsse durch das alte. Bei drei der vier Frauen, bei welchen Funktion E (soziale Ressource) herausgearbeitet werden konnte, fand sich auch Funktion C (Hervorhebung aus der 603 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 291ff., sowie zur sozialen Einbindung insbesondere S. 324f.

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Mehrheitsgesellschaft). Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Nutzung islamischen Wissens als Ressource in Beziehungskontexten auch mit sowohl idealisierenden wie kritisierenden Zuschreibungen an den »fremden« bzw. »exotischen« Islam in Verbindung stehen kann.604 Der Islam wird in diesem Fall gleichzeitig zur Annäherung wie Abgrenzung gegenüber den muslimischen Bezugspersonen verwendet – etwas, was möglicherweise die Anziehung und Abgrenzung gegenüber dem als »fremd« gelabelten Islam auf der Beziehungsebene wiederholt. Mindestens ebenso interessant ist es zu betrachten, welche Funktionen sich gegenseitig eher ausschließen – bei aller gebotenen Vorsicht angesichts der geringen Fallzahl. Funktion B (Strukturierung der Lebensführung) und Funktion I (Fortführung von sozialistischen Gesellschaftsstrukturen) treten nie gemeinsam auf, was relativ naheliegend erscheint. Diejenigen, für die die Fortführung sozialistischer Gesellschaftsstrukturen eine Funktion darstellt, haben bereits eine geordnete Lebensstruktur, wie sie für DDR-systemkonforme Biographien typisch war. Daher spielt eine Strukturierung im Sinne einer (Neu-)Ordnung und Disziplinierung keine Rolle. Dies bedeutet nicht, dass DDR-Sozialisierte automatisch einen geregelten Lebensentwurf haben. Wer jedoch DDR-Strukturen fortführt, führt auch eine gewisse Strukturierung fort und erwirbt diese nicht neu durch die Konversion, wie es bei Funktion B der Fall ist, weshalb ich vermuten würde, dass sich dieser negative Zusammenhang auch bei einem größeren Sample wiederholen könnte. Interessant ist, dass Funktion D (Soziale Einbindung) und Funktion G (Kognitive und emotionale Konsonanz durch Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang) niemals zusammen auftraten. Dieser hier vorgefundene Zusammenhang ist auf den ersten Blick nicht ganz so naheliegend. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die doch recht lebensweltliche Funktion der sozialen Einbindung eine ist, welche relativ unabhängig von einer religiösen Orientierung existiert. Soziale Einbindung ist etwas, was durch die Strukturen der Gemeinden gewährleistet wird, aber theoretisch auch ohne religiösen Hintergrund denkbar wäre – was für die anderen »Co-Funktionen« derjenigen Frauen (Nur, Arifa und Edith), bei denen die religiöse Funktion H vorzufinden ist, eher nicht der Fall ist. Beispielsweise ist eine religiös begründete Konsolidierung der Geschlechterrolle (eine Co-Funktion bei Nur und Arifa) eben außerhalb religiöser Kontexte nicht anzutreffen. Alle diese Zusammenhänge und Ausschlüsse sind selbstverständlich nicht absolut und schon gar nicht als Beweis zwingender Kausalverhältnisse zu betrachten, da dies weder mit der Intention der Arbeit noch mit der Größe des 604 Vgl. zu den Zuschreibungen und der Konstruktion des Anderen auch Said (1979), insbes. S. 38ff.

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Samples vereinbar wäre. Sie geben lediglich Hinweise auf Tendenzen, welche Funktionen gehäuft kombiniert vorzufinden sind und welche sich eher ausschließen.

3.3.2. Die Interviewauswertungen des freicharismatischen Samples Getreu der oben beschriebenen Vorgehensweise lege ich auch hier vor der detaillierten Funktionenanalyse des muslimischen Samples die Fallauswertung einer christlichen Interviewpartnerin exemplarisch dar. Lena Lena wird Mitte der siebziger Jahre geboren und wächst in der ehemaligen BRD auf. Ihre Kindheit ist schwierig und wird von der Scheidung der Eltern, mehr aber noch vom schlechten Verhältnis zum Stiefvater überschattet. Lenas leiblicher Vater ist Wissenschaftler, ihr Stiefvater Unternehmer, die Mutter Sekretärin. Lena, die aus einer atheistischen Familie kommt, studiert nach dem Abitur und verkehrt vor ihrer Konversion in einem hedonistischen Partymilieu. Sie ist zutiefst unglücklich und leidet unter psychosomatischen und psychischen Beschwerden. Ihr zum freicharismatischen Christentum konvertierter Bruder überzeugt sie davon, den christlichen Glauben auszuprobieren. Lena verspürt eine Besserung ihrer Problematik und konvertiert mit Mitte zwanzig. Lena heiratet einen literalsinnorientiert-freicharismatischen Christen, bekommt zwei Kinder und lebt als Hausfrau. Lenas Konversionsfunktionen Auf die Einstiegsfrage nach ihrer Kindheit reagiert Lena zunächst zögerlich und setzt dann die Priorität bei der Scheidung der Eltern: »Na ja, also ich bin in nem, bin ein Scheidungskind. Also meine Kindheit war nicht ganz so einfach. Wir sind drei Kinder.. gewesen. Eines davon war mein Stiefbruder, also oder mein Halbbruder, nicht Stiefbruder, Halbbruder. Meine Mutter hat eben nochmal geheiratet. Ja, also.. Tja, durchwachsen würde ich sagen, also ich würde jetzt nicht sagen, ich hatte ne glückliche Kindheit, ich würde aber auch nicht sagen, es war ne schlimme Kindheit, es war einfach.. ja.« (Z. 8–13).

Offensichtlich fehlt es an Identifikation mit dem neuen Partner der Mutter ; dies geht so weit, dass sie ihren jüngeren Halbbruder, mit dem sie aufgewachsen ist, als »Stiefbruder« bezeichnet. Zudem zeigen ihre Aussagen meines Erachtens trotz der späteren Relativierungen, dass ihre Kindheit anscheinend von Schwierigkeiten gekennzeichnet war ; »nicht ganz so einfach« ist eine gesell-

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schaftlich übliche Form, Problematiken anzudeuten.605 Diese Deutungen werden später bestätigt, etwa, wenn Lena, nach den Berufen der Eltern befragt, erst den des leiblichen Vaters nennt (Z. 21), obschon die Eltern sich bereits haben scheiden lassen, als sie ein Kleinkind war, und konsequent ihren leiblichen und nicht den Stiefvater als »Vater« bezeichnet. Im Verlauf des Interviews bestätigt sie diese Problematik also immer wieder explizit (z. B. Z. 547, Z. 551). Zudem wird deutlich, dass wohl nur der Vergleich mit dem neuen Partner der Mutter, nicht jedoch dessen eigene Meriten den Vater aufwerten, wenn sie darlegt, sie habe »so doofe Väter gehabt« (Z. 344–345). Ihr Bruder und sie sind »sehr viel alleine« (Z. 45), und später bestätigt sich die eingangs geäußerte Vermutung durch Aussagen Lenas, die ihre späteren Schwierigkeiten an ihre Kindheit rückkoppeln. So konstatiert sie: »[I]ch hatte sehr viel Angst in meinem Leben« (S. 138), oder verbalisiert im Bezug auf Sexualität: »Und ich war sehr beschädigt, sexuell. Also, weil ich, für mich ja damit gar nichts, also für mich war das nie wie ’n Schutz, das hab ich auch nicht erlebt, ähm, irgendwas Wertvolles oder so was hab ich gar nicht in meiner, in meinem Elternhaus« (Z. 416–418). Ob sie nun das »meiner« ursprünglich mit »Familie« oder mit »Kindheit« ergänzen wollte, ist im Grunde gleich, denn dass Sexualität weder ein »Schutz« noch etwas »Wertvolles« ist, wurde ihr im Elternhaus vermittelt. Sie verortet also ihr negatives Bild von Sexualität und das Empfinden, dass sie sexuell »beschädigt« war, in ihrer Kindheit bzw. Sozialisation. Gleichzeitig scheint in der Wortwahl, wie Sexualität eigentlich zu betrachten wäre (»Schutz«, »Wertvolles«), eine charakteristisch christlich-literalsinnorientierte Terminologie und damit die postkonversionelle Perspektive auf. Die Aussage, sie sei »beschädigt« gewesen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Interview, und meist erfolgt dabei eine Koppelung an ihre Kindheit und Jugend: »Ich bin, ich war echt seelisch… durch viele Dinge, auch durch mein Leben, was ich gelebt habe… auch durch die Scheidung meiner Eltern, durch mein Elternhaus […] sehr beschädigt in vielen Bereichen« (Z. 513–515). Hier wird auch die Scheidung der Eltern als Ursache benannt; die Scheidung implizierte nicht nur den Verlust einer Bezugsperson, des Vaters, sondern auch, dass der noch negativer besetzte Stiefvater an dessen Stelle trat. Auch die psychischen Probleme ihres leiblichen Bruders, den Lena mehrfach als psychisch instabil bezeichnet (Z. 69, Z. 102) weisen auf gesamtfamiliäre Schwierigkeiten hin. Die (formell christlichen) Kinder nutzen kirchliche Angebote, allerdings aus pragmatischen bzw. sozialen Gründen und nicht wegen 605 Überdies sprechen selbst Kinder aus dysfunktionalen Familien nur selten ohne Umstände von einer »schwierigen« Kindheit. Da ich aufgrund meines privaten und beruflichen Engagements viel mit Menschen aus schwierigen Familienverhältnissen sowie mit Personen, die in diesem Bereich arbeiten, zu tun habe, verfüge ich über einige Erfahrungen auf diesem Gebiet.

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des religiösen Inhalts: »[D]as waren so die Einzigen, die was angeboten haben, wo man hin konnte« (Z. 44–45): »I: Also Du würdest jetzt nicht sagen, dass Du jemals richtig religiös warst in Deiner Kindheit und so? L: Ich würd sagen, ich hab nie geglaubt, eigentlich, richtig, nee, also das war, ich war da, weil da meine Freunde waren […]. Ähm, ansonsten hatte das für mich keine Bedeutung, nee.« (Z. 53–57).

Lenas Bruder scheint jedoch ein weiterführendes Interesse am Christentum zu entwickeln, jedenfalls konvertiert er später in eine freicharismatische Gemeinde, was Lena auf seine Labilität zurückführt und eher negativ bewertet. Sie zieht das Fazit, dass die charismatischen Christ_innen seiner Gemeinde für sie damals »durchgeknallte Verrückte« gewesen seien (Z. 71–73). Jedoch nimmt sie die positive Entwicklung des Bruders wahr, den sie als vorher instabil und »sehr unglücklich« bezeichnet (Z. 101–106), etwas, was sich nach der Konversion ändert: »[E]r lebte auf« (Z. 106). Zudem ist Lena selber auf einer Sinnsuche, allerdings eher »in der esoterischen« Richtung (Z. 115–116). Bei Lena finden sich mehrere von Heirich beschriebene Komponenten für eine religiöse Konversion: »[T]he Pentecostal movement’s claims become more believable when reinforced by trusted persons in one’s immediate environment. Given a consistent religious upbringing (whether devout or not) and a current ›seeking‹ orientation, such reinforcement is not necessary. Only under fairly rigorous combinations of social upbringing and immediate social reinforcement are such social influences likely to produce serious encounter with the claims of religion among persons not already actively ›seeking‹. One’s upbringing and one’s psychological state are not always irrelevant, but are of only minor help for predicting who will be a convert.«606

Ganz sicher kann davon ausgegangen werden, dass der Bruder solch eine »trusted person« war. Auch die Faktoren »consistent religious upbringing (whether devout or not) and a current ›seeking‹ orientation« finden sich hier – das Spannende an Heirichs Analyse ist ja, dass die tatsächliche Frömmigkeit weniger ausschlaggebend für die Wahrscheinlichkeit einer Konversion ist als die religiöse Sozialisation. Auch der in einer zweiten Fassung der Arbeit von ihm vorgelegte Konversionsfaktor »were middle or youngest children«607 (tatsächlich spielen Geschwister in den Erzählungen von christlichen Gemeindemitgliedern öfters eine Rolle – sei es, dass sie bereits konvertiert als Vorbild dienen, sei es, dass sie dem Beispiel der Betreffenden gefolgt waren) lässt sich bei Lena feststellen. 606 Heirich (1973), S. 55. 607 Heirich (1977), S. 672.

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Die endgültige Konversion Lenas erfolgt schrittweise und ist Ausdruck ihrer psychischen Not wie auch des Einflusses ihres Bruders. In einer eindrücklichen Schilderung, die von der Symbolik von »Liebe« und »Licht« getragen wird, beschreibt Lena ihr Schlüsselerlebnis. Zunächst geht es darum, dass sie sich in Beisein des Bruders geschützt fühlt: »Also das war alles so zusammen mit meinem Bruder […]. Und, ähm.. Und ich hatte bei ihm auch keine Angst […]. Und so, ich war sehr, ich hatte sehr viel Angst in meinem Leben, so, und.. Ich hab richtig gemerkt, bei ihm ist was Liebevolles, was Lichtes. Ich wollte das nicht mit diesem Gott beschreiben, aber das hab ich gemerkt. I: Mhm. L: So und dann hab ich irgendwann angefangen einfach.. zu beten. Aber ich war sehr gegen Gott eingestellt. Ich war nicht nur.. dass ich gesagt habe, das interessiert mich nicht. I: Mhm. L: Sondern ich hab meinem Bruder richtig verboten in meinem Beisein über Jesus zu reden. I: Mhm. L: Also ich wollte den Namen Jesus nicht hören. […] So, weil ich fand den so blöd. (Lacht). Ja. Genau.« (Z. 128–149).

Lena schreibt die Geborgenheit, die sie bei und mit dem Bruder erlebt, offensichtlich nicht nur dessen psychischer Gesundung durch die Konversion zu, sondern auch, wenn auch zunächst widerstrebend, der Präsenz Gottes. Das Motiv, dass Besessene, Ungläubige oder Atheist_innen den Namen Gottes oder Jesu nicht aussprechen oder hören können, ist ein immer wiederkehrendes in christlich-literalsinnorientierten Erzählungen, wird hier allerdings durch die Einschränkung, dass es daran lag, dass Lena Jesus »blöd« fand, entmystifiziert. Es findet sich also eine retrospektive Vermischung typisch christlich-literalsinnorientierter Narrative mit der erinnerten grundsätzlichen Abneigung Lenas gegen die christliche Religion. Doch Lena befindet sich in einer Zwickmühle, denn bei ihren physischen, womöglich psychosomatisch bedingten wie auch psychischen Beschwerden (das Wort »Angst« kommt zwischen Z. 136–202 zwanzig Mal vor) hilft ihr als Einziges ihr Bruder, wobei sie die Verbesserung auf dessen Gebet zurückführt. Eines Tages wird sie in der Gegenwart des Bruders, dessen Präsenz sich sonst ja eher als hilfreich erweist, von besonders starken psychischen Beschwerden gepeinigt. Dieser sagt, dass er ihre Verfassung »gespürt« (Z. 164) habe und bietet ihr an, für sie zu beten, was sie aus Verzweiflung annimmt und was ihr sofort hilft: »Und das kannte ich aber schon. Also wenn mein Bruder betete, gingen, sind […] [beschreibt verschiedene körperliche Beschwerden] weggegangen und die Angst ging, also es war meine, es war einfach so« (Z. 169–171).

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Gleichzeitig führt der Bruder Lenas Problematik wie viele literalsinnorientierte Christ_innen auf ihren mangelnden Glauben zurück und verweist auf Jesus als einzig mögliche Rettung, wie aus der direkt nachfolgenden Passage deutlich wird. Zunächst erzählt Lena, wie stark sie ihre Angstgefühle belasten, dass sie jedoch kein Mittel gefunden habe, diese »zu beherrschen«, während ihrem Bruder dies durch Gebet ohne weiteres gelungen sei, was sie »sehr beeindruckt« (Z. 183–185). Allerdings stellt ihr Bruder klar, dass ihre Beschwerden »immer wieder kommen« werden (Z. 187): »›[Zitiert ihren Bruder] Weil.. Du keine Beziehung zu Jesus hast. Und.. Du wirst auch die Macht nicht haben das durch Gebet irgendwie […] zu überwinden I: Mhm. L: Sondern.. Du brauchst die Beziehung zu Jesus.‹ Und da war für mich der Punkt wo ich gesagt habe, ›Okay‹… Ähm, war aber nicht besonders euphorisch, äh, sondern ich war eigentlich an dem Punkt wo ich dann sagte ›Okay, gut. Also ich hab eigentlich nix zu verlieren‹, das war so mein Start; ›Ich hab nix zu verlieren. Ich check das jetzt mal I: Mhm. L: Ob’s da was gibt und wenn mir’s nicht gefällt dann kann ich immer noch weggehen wieder‹.« (Z. 184–198).

Wie auch im vorhergehenden Teil der Erzählung finden sich auch hier christlichliteralsinnorientierte, hier insbesondere freicharismatische Terminologie und Gedankengut. Gleichzeitig wird hier eine immer wiederkehrende Form der Missionierung wie der Konversion in christlich-literalsinnorientierten Kontexten sichtbar : Das der Heilung von Problemen durch Aufnahme einer persönlichen Beziehung zu Gott oder Jesus. Der Verweis auf diese als einzig mögliche und alternativlose Lösung psychischer Ausnahmezustände und Problematiken wird von vielen Christ_innen dieser Strömungen an Nicht-Gläubige erteilt. Interessanterweise finden sich bei Lena nicht nur die meisten der Faktoren, die von Heirich für eine Konversion als notwendig erachtet wurden, sondern tatsächlich auch nahezu alle derjenigen, die Lofland und Stark postuliert hatten. Die (An-)Spannung (»Tension«) im Sinne einer akuten und starken Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben, das Verwerfen anderer »Problem Solving Perspective[s]«,608 die religiöse »Seekership«, der »Turning Point« (die Autoren nennen als Beispiel berufliches Scheitern oder Wohnortwechsel) im Leben der potenziellen Konvertit_innen und die »Cult Affective Bonds« zu Gläubigen der Religionsgemeinschaft.609

608 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 864ff., der Begriff der »Tension« ist S. 864, der der »ProblemSolving Perspective[s]« S. 867 entnommen, im Original sind die Begriffe kursiv. 609 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 868ff., die jeweils zitierten Begriffe sind S. 868, S. 870 und S. 871 entnommen und im Original kursiv.

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Die Forschungsergebnisse

Offensichtlich hat Lena tatsächlich keine andere Problemlösungsstrategie – von den von Lofland/Stark erwähnten wäre bei ihrer Problematik wohl nur die psychotherapeutische in Betracht gekommen – in Erwägung gezogen. Warum dem so ist, kann hier nur vermutet werden. Lofland/Stark selber erwähnen lediglich, dass die Konvertierten »surprisingly uninformed about conventional psychatric and political perspectives for defining their problems« waren und führen dies u. a. auf eine ländliche, religiös geprägte Sozialisation zurück.610 Diese Begründung kann hier wohl weitgehend ausgeschlossen werden, zumal therapeutische Lösungswege im Deutschland der 90er sicher verbreiteter und erschwinglicher als in den USA der 60er waren und Lena sich in einem liberalen Milieu bewegt. Eine mögliche Erklärung wären die nach wie vor weit verbreiteten Vorbehalte gegen Psychotherapie. Auf jeden Fall versucht Lena es mit dem religiösen Problemlösungsmodell, knüpft dabei aber ihre Konversion an die Bedingung, dass Gott sich ihr persönlich zu erkennen gibt: »›[H]ier bin ich […] und, ja, es ist jetzt an Dir. Entweder Du überzeugst mich jetzt oder ich bin wieder weg.‹« (Z. 208–211). Die persönliche Beziehung zu Gott ist für sie unabdingbare Voraussetzung der Konversion und gleichzeitig an eine wörtliche Bibelauslegung gebunden: »Ich hab gesagt, ich brauch nichts wo ich mich dran festhalten kann. Ich brauch was, was mich hält. […] Also entweder ich, ähm, finde Gott in der Art und Weise, dass ich sage.. ich weiß, dass es Ihn gibt.. […] Ähm, oder ich lass es. […] ›Entweder […] die Bibel ist [Gottes] Wort, dann muss alles was da drin steht.. wahr sein oder es stimmt nicht, dann will ich damit nix zu tun haben.‹« (Z. 222–237).

An dieser Passage fallen mehrere Dinge auf: Zum einen sieht Lena offensichtlich auch selber Religion grundsätzlich als Problemlösungsmodell an. Gott ist jemand, der einen »hält«. Gleichzeitig ist der Anspruch, dass Gott sich beweisen muss und wird, typisch für die Missionsstrategien vieler literalsinnorientierter freicharismatischer Gemeinden. Gott ist nicht mehr derjenige, an den man trotz oder wegen Schicksalsschlägen glaubt, sondern das beste Angebot auf dem Markt, welches man auf Probe austesten und bei Gefallen »buchen« kann. Interessant ist hier jedoch, dass primär eine wortwörtliche Bibelauslegung und -erfüllung und nicht, wie gemeinhin im gemeindeinternen Rahmen, die Gebetserhörung bzw. materielles und seelisches Wohlergehen als Indikator für die Existenz Gottes gewichtet werden. Lena, die sich selber als »intellektuell« (Z. 201) definiert, stellt im Grunde eine sehr rationale Gleichung auf: Wenn es Gott gibt und die Bibel sein Wort ist, dann stellt die Wahrheit der Bibel den Beweis für Gottes Existenz dar. Bei dieser Rationalisierung ihrer Konversion handelt es sich um Lenas genuin eigene Konversionsnarrative und nicht etwa um eine literal610 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 867f., wörtliches Zitat von S. 867.

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sinnorientiert-freicharismatische. Die Wahrheit der Bibel testet Lena, indem sie diese hinterfragt und von Gott eine Antwort erwartet: »Ja? Und ich wollte.. gerne .. nicht, also ich hab nicht die Dinge einfach gemacht. […] Und dann hab ich, äh, in der Bibel geguckt was da steht und dann hab ich meistens einfach Gott gesagt, Er muss mir das erklären.« (Z. 288–293). »Oder ich hab in der Bibel was gelesen.. und hab gesagt, ›Verstehe ich nicht, finde ich doof […]‹. So, also ich hab Gott sehr.. ernst genommen, so.« (Z. 303–306). »Oder ich hab dann.. wirklich gesagt, ›Wenn Du‹, also es waren wirklich aufregende Sachen dabei, also, wo, wo ich wirklich davor stand und eigentlich erschüttert war in meinem Weltbild. Also, was ich davor hatte.« (Z. 307–309).

Die Mischung aus wörtlichem Bibelverständnis bei einem gleichzeitig sehr persönlichen und herausfordernden Verhältnis zu Gott kann zwar als »typisch literalsinnorientiert-freicharismatisch« gelten, dennoch ist die extrem prüfende Herangehensweise auch Lenas starken Vorbehalten geschuldet. Schließlich konvertiert sie doch mehr aus einer Notlage heraus denn aus einer vorhergehenden eingehenden Beschäftigung mit Glaubensinhalten. Diese scheinen zudem in starker Diskrepanz zu ihrem hedonistischen und esoterischen Weltbild zu stehen. Erschüttert wird dieses, anders als es zunächst scheint, jedoch nicht nur von biblischen Grundsätzen, sondern auch von den erlebten Wundern. Die Antworten auf ihr Prüfen Gottes sieht sie teilweise in diesen Wunderereignissen, etwa, als sie unerwartet dringend benötigte finanzielle Unterstützung (Z. 209–328) oder Geschenke bekommt (Z. 330–340). Daneben treten aber auch Ereignisse auf, die man je nach Perspektive als göttlich inspirierte Visionen oder als Autosuggestion bzw. selbstinduzierte Trance deuten kann. Sie kündigt Gott an, solange zu beten, bis er sich ihr zeige (Z. 359). »Und dann hab ich.. Gott das erste Mal erlebt. Und zwar so stark, dass ich im Grunde bis heute, also ich werd das nicht mehr vergessen, und das ist was, wo ich dann sogar danach noch gezweifelt habe und gesagt habe, ›Warst Du das […]‹« (Z. 359–362).

Lenas Zweifel werden jedoch ausgeräumt, als sie ein Zeichen erhält, welches »genau die Antwort« darstellt (Z. 364). Ähnlich deutet Lena ihren inneren Widerwillen gegen bestimmte, von Gott verbotene Handlungen als göttlichen Fingerzeig, betont dabei jedoch, dass sie keineswegs aus blindem Gehorsam gehandelt habe. Nachdem sie Gott gebeten hat, ihr zu zeigen, weswegen sie bestimmte Verbote einhalten müsse, geht in ihr ein innerer Wandel vor, der sie von besagten Handlungen abhält: »[D]araufhin konnte ich’s nicht mehr. Also ich hätte mich entscheiden können, aber ich fühlte mich einfach ganz.. ganz schlecht« (Z. 394–399). Gott wird also zu ihrem externalisierten Gewissen, welches ihr moralische Rechtleitung verschafft und ihr hilft, bestimmte Verhaltensweisen zu vermeiden.

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Daneben scheint immer wieder das bestimmende Motiv der Heilung von innerfamiliär bedingten Verletzungen auf: »Also.. und es waren auch ganz.. seelische Dinge, ne, also wo ich verletzt, wo ich tief verletzt war, ich hatte.. große Probleme durch die Scheidung meiner Eltern damals, Gott als Vater zu sehen« (Z. 340–342). Lena eröffnet daher Gott, dass sie große Schwierigkeiten habe, ihn als Vater zu akzeptieren, weil sie so »doofe Väter gehabt« (Z. 344) habe. Gott erhört jedoch ihre Bitten, indem er ihr nach einer Weile »als Vater begegnet« (Z. 345). Die Schwierigkeiten, Gott als Vater anzunehmen, wenn die eigene Vaterbindung gestört ist, ist dabei im Übrigen etwas, was durchaus auch in literalsinnorientierter Literatur häufiger Erwähnung findet. Sehr sichtbar wird an dieser Stelle das, was Wohlrab-Sahr als »symbolische Transformation« bezeichnet.611 Die Vaterproblematik, die Lenas Leben maßgeblich und negativ beeinflusst hat, wird hier nicht nur deutlich erkennbar »präsentiert«. Sie wird auch symbolisch transformiert, indem an Stelle der irdischen Väter, die versagt und ihr geschadet haben, das Verhältnis zu dem göttlichen Vater tritt, der sämtliche Härtetests besteht und zu dem sie endlich eine liebevolle Beziehung aufbauen kann. Zudem bestätigt sich bei Lena der Befund Wenger-Jindras, die ihrem Typ 3 durchgängig christliche Konvertit_innen zuordnete. Typ 3 zeichnet sich durch »ungestillte Beziehungsbedürfnisse und damit verbundene Gefühle von Unsicherheit und Einsamkeit« und oft »problematische Beziehungen zu den Eltern« aus.612 Die beiden Funktionen der Heilung bzw. Stillung unerfüllter Beziehungsbedürfnisse und die damit einhergehende Lebensstabilisierung durch einen persönlichen Gottesbezug sowie das der Funktion Gottes als externalisiertem Gewissen, das Lena davor bewahrt, anderen oder sich selber Schlechtes zu tun, fallen auf sehr markante Weise bei ihrer Schilderung ihres vorkonversionellen Sexual- und Beziehungslebens zusammen. Diese Schilderung ist zudem doppelt interessant durch das Zusammenfallen prä- und postkonversioneller Bewertung außerehelicher Sexualität und das gleichzeitige Aufscheinen von Grenzüberschreitungsproblematiken. Zunächst beschreibt sie, dass sie vor der Konversion ein reges Sexualleben geführt und »einfach Spaß gehabt« habe (Z. 402). Zunächst denkt Lena nicht daran, ihr Verhalten zu ändern: »Das war auch für mich ganz klar, ich hör jetzt damit nicht auf […] nur weil das in der Bibel steht, also« (Z. 404–405). Sie fordert daher Gott dazu auf, ihr einen Grund dafür zu geben, auf vorehelichen Sex zu verzichten; Gott begegnet ihr nach ihrem Empfinden und eröffnet ihr neue Perspektiven, indem er ihr erklärt, »was Sexualität für ihn bedeutet«, insbesondere auch, was Lenas Sexualität im Speziellen für ihn be-

611 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 138. 612 Vgl. Wenger-Jindra (2005), S. 223.

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deute (Z. 410–412). Lena führt aus, was sie in dieser Hinsicht offenbart bekommt: »[D]ass das was Wertvolles ist. Und etwas, ähm.. wo ganz viel Potenzial drin liegt. In der Ehe, das mit einem, also so, weil das so ’n enorm tiefes Gefühl ist, was man erlebt, dass man das einfach mit dem erleben sollte, mit dem man auch durch schlechte Zeiten geht. Ja, weil das was ist, was so ne enorme Power hat. Ist ein Punkt gewesen, unter mehreren. Und ich war sehr beschädigt, sexuell. Also, weil ich, für mich ja damit gar nichts, also für mich war das nie wie ’n Schutz, das hab ich auch nicht erlebt, ähm, irgendwas Wertvolles oder so was hab ich gar nicht in meiner, in meinem Elternhaus. Ähm.. damit ging’s überhaupt erst los, dass ich begriffen habe, dass es etwas ist, was es zu schützen gilt…« (Z. 401–419).

Mehr noch: Gott zeigt Lena auch auf, warum sie ihr Sexualleben in der Form führt, wie sie es tut, und was sie »tatsächlich suche« und »bräuchte« (Z. 421). Gott bietet ihr zudem Alternativen zum sexuellen Ausleben, indem er ihr zeigt, dass sie Gelegenheiten zu unverbindlichem Sex verstreichen lassen könne: »›Du musst es nicht.‹« (Z. 423–424). Stattdessen bietet Gott ihr seinen Beistand an (Z. 426). Aus dem Interview lässt sich erschließen, dass Lenas Sexualität von einem regen Sexualleben mit unverbindlicher, aber oft entwerteter Sexualität und häufig wechselnden (Sexual-)Partnern gekennzeichnet ist. Inwiefern dies in ihrer damals bestehenden Beziehung (Z. 545–546) eine Rolle spielte und ob diese überhaupt von Tiefe getragen war, thematisiert sie nicht; an anderer Stelle beschreibt sie sich vor ihrer Konversion als »komplett.. beziehungsunfähig« (Z. 501). Ihr Sexualverhalten bezeichnet sie in einem Rückversetzen in die damalige Perspektive zunächst ohne jegliche Verurteilung als Zeit, in der sie »Spaß gehabt« habe. Sukzessive wird aber deutlich, dass Sexualität für sie im Grunde etwas Beliebiges war, welches sie ohne emotionale Verbindung zum Partner auslebte und wo es ihr an »Schutz« mangelte. Dass sie das im Erzählverlauf zusehends negativ und als Zeichen dessen, dass sie »sehr beschädigt, sexuell« war, bewertet, ist mit Sicherheit auch der postkonversionellen Verurteilung außerehelicher Sexualität geschuldet. Daneben scheint aber auch ein Muster auf, über welches viele Frauen mit dysfunktionaler Kindheit berichten – entweder, weil sie aus einem Umfeld kommen, in denen es an Zuwendung und »Schutz« gemangelt hat, und/oder weil sie kein Gespür für eigene Grenzen aufbauen konnten. Zum einen die Schädlichkeit sexueller Beziehungen, die sie retrospektive als zerstörerisch betrachten, weil in ihnen aufgrund der Beliebigkeit der Partnerwahl und/oder der mangelnden Fähigkeit, Grenzen zu ziehen, die früheren Erfahrungen von Schutzlosigkeit wiederholt wurden, zum anderen der Versuch, Zuneigung anderer und Selbstbestätigung über Sexualität zu erlangen. Beides erschließt sich aus der negativen Bewertung ihrer sexuellen Sozialisation im Elternhaus, aber auch aus der Aussage, dass sie durch Gottes Hilfe erkannt

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habe, welches Bedürfnis eigentlich hinter ihrem Sexualverhalten steckte: »Und dann… ging es eigentlich weiter, dass Er mir offenbart hat, was es bedeutet für mich, warum ich das mache, was ich tatsächlich suche« (Z. 419–421). Gott – bzw. das als gottgewollt betrachtete christlich-literalsinnorientierte Geschlechtermodell – übernimmt hier eine für Lena heilende Funktion, indem er/es ihr hilft, eigene Grenzen zu bewahren und nicht ausge- oder benutzt zu werden. So helfen seine Regeln, sie »zu schützen« (Z. 439–440), indem sie schafft, sich nicht auf unverbindlichen Sex einzulassen. Diese Entscheidung bewahrt sie vor einer destruktiven Erfahrung, so dass sie konstatiert, sie sei im Nachhinein sehr »dankbar« gewesen (Z. 454–457). Da es ihr selber nicht möglich ist, Grenzen zu ziehen oder stabile Beziehungen aufzubauen, wirkt Gott (bzw. das Modell von Geschlechterbeziehungen, welches sie auf ihn zurückführt) als die externalisierte Instanz, die für sie die Grenzen zieht und sie in gewissem Sinne vor sich selber beschützt. Die Erfahrung von Gott als Gegenüber hilft ihr jedoch nicht nur dabei, ihre Geschlechterbeziehungen zu strukturieren, sondern auch beim Aufbau von Bindungs- und Beziehungsfähigkeit: Der Aufbau der Bindung zu einem nicht-menschlichen Gegenüber kann selbige stärken, zumal sie weitaus weniger störanfällig und risikoreich als die zu menschlichen Bezugspersonen ist: »[D]a musste ich Gott wirklich erleben und auch seine Treue und auch seine Hilfe. Dass ich, und, dass er sich auf meine irrsinnigen.. An-.. also Herausforderungen einlässt. Und, dadurch ist aber eben so ne Beziehung gewachsen zu Ihm. Ja? Wie zu nem Freund.« (Z. 459–462).

Diese Erfahrung einer engen Beziehung zu Gott und die daraus resultierende Verbesserung ihrer eigenen Bindungsfähigkeit bekräftigt sie auch selber mehrfach: »I: Und, ähm, was würdest Du sagen, hat sich in Deinem Leben nach dem Beitritt am meisten verändert? L: Alles. (Schmunzelt). (Pause von acht Sekunden). Boah, alles, also ich weiß gar nicht, ob ich noch leben würde. Muss ich mal ganz ehrlich sagen. Ich war so, also heute würde ich mich als sehr.. traurig darstellen. Also ich war schon sehr verzweifelt […].[I]ch fand das so hoffnungslos das Leben und so traurig und.. so zerstörerisch und, ähm, ich bin so am Menschen verzweifelt auch. Und ich war komplett.. beziehungsunfähig. I: Mhm. L: Also ich glaube ich hätte keine Familie heute und ich hätte wahrscheinlich auch keine Ehe. Wenn ich nicht, ähm.. mit Gott leben würde« (Z. 494–504). »Also ich hab mich sehr verändert. Ich war sehr, ich war sehr bitter, und ich war sehr.. hochmütig und sehr unnahbar. Ich war sehr beschädigt einfach. So, ich war ein sehr […] arroganter Mensch […] und, ähm.. bin sehr.. sagen wir mal sanft und liebevoll, also sanfter und liebevoller geworden und gnädiger« (Z. 562–565).

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»[M]it Gott leben« verdeutlicht eindringlich die Bedeutung der Funktion der persönlichen Gottesbeziehung für das, was sie als ihren Heilungsprozess ansieht. Als Fazit kann man festhalten, dass der Aufbau einer konstanten Bindung an Gott ihr die Geborgenheit und Stabilität vermittelt, die ihr aufgrund schwieriger (Stief-)Vatererfahrungen in ihrer Kindheit, Adoleszenz und jungen Erwachsenenzeit gefehlt hat. Gott tritt an die Stelle der fehlenden männlichen Bezugsperson und hilft ihr dadurch auch beim Aufbau einer Bindungsfähigkeit, welche ihr eine stabile menschliche Ehebeziehung ermöglicht. Gleichzeitig kann sie durch die gefühlte Präsenz Gottes ihrer psychischen Beschwerden Herrin werden und aus dem Gefühl heraus, geliebt und geschützt zu werden, sich auch selber liebevoller und zugänglicher zeigen. Zudem gibt ihr die literalsinnorientierte Bibelauslegung ein Gerüst an Regeln in die Hand, welche sie davor bewahren, sich selbst durch zerstörerische Sexualität zu schädigen und die ihr helfen, ein festes Gefüge moralischer Prinzipien aufzubauen – Gott als externalisiertes Gewissen stellt eine weitere Funktion der Konversion dar. Lenas Geschlechterrollenverständnis Lenas negativ geprägtes Vaterbild wurde weiter oben ausführlich behandelt. Aber auch ihre Mutter scheint keine echte Bezugsperson für sie gewesen zu sein, da sie sich offensichtlich ebenfalls wenig um ihre Kinder aus erster Ehe kümmert (Z. 45–46). Im Grunde mangelt es ihr also an positiv besetzten Rollen- wie auch Familienmodellen. Daher übernimmt sie relativ umfassend, wie auch in anderen ethischen Fragen, das literalsinnorientierte Ehekonzept. Die Unterordnung unter Gott und seine Gebote, wie sie im literalsinnorientierten Rahmen ausgelegt werden, nimmt ihr den Zwang eigener Entscheidungen ab und liefert ihr, die offensichtlich kein konstruktives Elternmodell vorgelebt bekommen hat, eine Vorlage und Richtschnur für ihr eigenes Verhalten: »Und ich brauch seine [Gottes].. Lösungen. Für mein Leben, ob das um die Ehe geht, ob es darum geht, wie ich mit meinem Mann umgehe. Wie oft ich meinen Mund halte, oder, wie oft nicht. Und.. wie.. wie es für mich ist, wenn ich nicht.« (Z. 528–530).

Explizit nach der »idealen christlichen Frau« und dem »idealen christlichen Mann« befragt, kommt sie von selber sehr schnell auf das Unterordnungsgebot zu sprechen, nachdem sie zuvor noch betont, dass für beide Geschlechter wichtig sei, »im Grunde in das zu kommen, was Gott vorbereitet hat« (Z. 619– 620). Sie gibt zu, dass das Unterordnungsgebot ihr sehr schwergefallen sei, da sie eigentlich »sehr dominant« (Z. 631) gewesen sei: »Ein Vers mit dem ich mich sehr lange mit Gott gestritten habe darüber. […]. Also ungefähr, das war so auch so einer der ganz, ganz schwierigen Punkte« (Z. 627–629). Sie deutet daher Unterordnung in Demut und Hingabe um: »Jetzt ist die Frage, was bedeutet ›Unterordnung‹? Das war was ich lange, lange nicht verstanden habe, ne Un-

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terordnung ist ne Art von gesundem, gesunder Demut.. […] Ähm.. mich jemandem hinzugeben.« (Z. 658–661). In Auseinandersetzungen, in denen sie sich im Recht fühlt, spürt sie Gottes Ermahnung: »›Halt. Dich. Zurück.‹« (Z. 671), die sie bremst. Sie legt die Bibelstelle als Erlaubnis aus, Verantwortung delegieren zu können, was sie auch als entlastend empfindet, und ihren Mann als »Schutz« anzunehmen: »Ich muss nicht alles durchkämpfen, ich muss nicht alles können, als Frau. Also ich merke, dass manche Dinge mir echt zu nervig sind. Oder zu anstrengend oder mich zu sehr belasten. Und dass Gott mir im Grunde sagt.. ›Du darfst Deinem Mann vertrauen. […] Er ist Dein Schutz und wenn Dein Mann nicht Dein Schutz ist, bin ich Dein Schutz. Du darfst Deinem Mann vertrauen.‹ Für mich ist dieses Bibelwort ein ›Ich darf‹, I: Mhm. L: (Lacht) von höchster Stelle sozusagen, meinem unperfekten Mann.. in Entscheidungen, wo wir uneins sind, zum Beispiel, vertrauen. […] Und das ist sehr, sehr schwer.. weil wir gern unser Leben selber in der Hand haben, also.. alle. […] Ja, und das ist wirklich.. in manchen Bereichen, […] wo ich gesagt habe in manchen Bereichen, ›Okay ich entscheide mich jetzt bewusst dafür, obwohl ich alles in mir aufsteht, ich ordne mich der Entscheidung meines Mannes unter.‹ […] Das heißt.. (atmet aus), ich vertrau Gott, dass ich meinem Mann vertrauen darf. Punkt. Und mein Mann darf entscheiden. Weil Gott gesagt hat, dass manche Entscheidungen.. oder, dass man, dass mein Mann letztlich, ahm, in manchen Dingen einfach das letzte Wort haben darf. Weil er ne andere Belastung hat. Und ne andere Verantwortung trägt. Also in der biblischen Sicht ist mein Mann letztlich an letzter Stelle vor Gott verantwortlich für seine Familie.« (Z. 684–706).

Allerdings bewertet sie diese Verantwortungsdelegation aber nicht nur positiv, verhindert diese doch, dass sie ihr »Leben selber in der Hand« hat. In diesem Kontext ist das Statement, sie habe durch die Unterordnung unter den Ehemann ihr Leben nicht mehr selber in der Hand, eine starke Aussage, die sie später noch einmal wiederholt: »Dass er letztlich, wenn’s hart auf hart kommt, das letzte Wort haben darf. […] Und das ist was, was ich find was immer noch sehr herausfordernd ist, weil es ein Stück weit Selbstständigkeit ist, die ich abgebe. […] Und ich hab lange gebraucht um zu verstehen, dass ich sie nicht an meinen Mann abgebe, sondern letztlich an Gott.« (Z. 718–724).

Für Lena, die sich zeit ihres Lebens »beschädigt« gefühlt hat und wenig »Schutz« in ihrer Kindheit erfahren hat, ist Unterordnung jedoch der Preis, den sie zahlen muss, um Geborgenheit durch Gott und über diesen auch durch ihren Ehemann zu erfahren. Da die Wortwörtlichkeit der Bibel für sie Bedingung für Gottes Existenz ist, kann sie sein Gebot nicht missachten, ohne Gottes Existenz selber infrage zu stellen. Insofern sieht sie ihre schrittweise erfolgende Unterordnung unter ihren Mann als persönlichen Erfolg an und nimmt ihm die bittere Note, indem sie sie als Vertrauen auslegt:

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»Sondern er hat zu den Frauen gesagt, ›Ordnet Euch unter‹ was im Grunde […] ich übersetzen würde wie ›Vertraut Euren Männern.‹ […] Ja? So, dieses ›Lasst Eure Männer auch entscheiden.‹ Und ich merke halt, dass mein Mann.. am Anfang war ich sehr dominant noch und hab alles unter Kontrolle gehabt, also ich hab immer noch viel unter Kontrolle, aber.. äh weil ich hier« (Z. 749–755).

Dennoch kann sie die Zwiespältigkeit gegenüber diesem Gebot nicht ganz ablegen, was auch darin zum Tragen kommt, dass sie die entsprechende (biblische) Referenzstelle als »doofen Satz« bezeichnet, ein Statement, das sie dann wiederum mit dem Hinweis auf dessen Missverstandenheit relativiert: »Also.. in der Bibel steht, das was viele nämlich verheimlichen, wenn sie den doofen Satz zitieren, ist, dass da steht ›Und der Mann soll seine Frau lieben so wie Jesus die Gemeinde.‹ […] Und das ist schon echt, Wahnsinn« (Z. 767–770).613 Insgesamt stellt für Lena die Unterordnung eher eine Herausforderung denn eine (positive) Konversionsfunktion dar. Da sie selber jedoch die unbedingte Wortwörtlichkeit von Gottes Geboten zur Voraussetzung für dessen Existenz gemacht hat, kann sie nicht anders, als sie zu akzeptieren. Dabei deutet Lena sie in Richtung für sie positiver Erfahrungen im Zuge der Konversion um, das heißt in Schutz und Vertrauen. Diese positive (Um-)Deutung wie auch ihre eigene Ambivalenz in Bezug auf Feminismus, der in ihrer Gemeinde verurteilt wird, möglicherweise für sie aber früher positiv besetzt war, wird auch in ihrer Aussage zu Jesu Verhalten gegenüber Frauen deutlich: »Das heißt.. eigentlich war Jesus, ich mein, das ist jetzt kein Statement, aber Jesus war.. ein Feminist, ja, der war.. war er nicht, aber er war jemand, der, der Erste, der für Gleichberechtigung war« (Z. 794–796). Diese Aussage bekräftigt sie mit ihrer Betonung der Frauenfreundlichkeit Jesu, der »ne Hure in Schutz« nimmt (Z. 816), und mit dem Verweis auf die starken Frauen in der Bibel (Z. 815–822) und im Christentum (Z. 822–829). Und dennoch scheint eine gewisse Restambivalenz, die sich auch in ihrem Verhältnis zum Unterordnungsgebot zeigt, erneut in ihren finalen Versprechern auf: »Und im Grunde ist das Christentum ganz frauenfeind- ähm, (lacht) frauenvoll, frauenfreundliches, -freundliche, -freundlicher Glaube, ja?« (Z. 829–830). Lenas Diskriminierungserfahrungen Lena hat nach eigener Angabe unter Diskriminierung als literalsinnorientiertfreicharismatische Christin gelitten, wobei diese sich vor allem in Belächelung, Verspottung und Abwertung äußert: »Tja.. Ja! Die sind natürlich in Deutschland sehr lächerlich, ne. Also, man wird dann halt abgelehnt, oder man wird.. äh belächelt. Man wird viel belächelt. Oder man wird.. man wird belächelt. Ja, es werden auch Witze gemacht, man wird auch hochgenom613 Lena führt an dieser Stelle die große Liebe Jesu zu seiner Gemeinde aus.

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men.. oder einfach als… dumm.. hingestellt, betrachtet.. aber was nicht schlimm ist. Also ich find jetzt verglichen mit anderen Ländern ist das nen Witz, aber, es ist was, ja, was, ähm« (Z. 589–595).

Lenas Wünsche an die deutsche Gesellschaft Lena wünscht sie für die deutsche Gesellschaft vor allem mehr Dankbarkeit für die zahlreichen materiellen Privilegien, die die Deutschen genießen, aber auch für Immaterielles wie die eigene Familie (Z. 856–877). Resümee Wie aus der Fallanalyse ersichtlich geworden ist, sind es offensichtlich primär heilende Funktionen, welche die Konversion für Lena erfüllt. Die Funktionen von Lenas Konversion, wie sie aus der Fallauswertung abgeleitet werden können, sind folgende: A: »Lebensstabilisierung durch Beziehung zu einer als transzendent empfundenen Entität« D: »Strukturierung von Geschlechterbeziehungen« F: »Erhöhung von Bindungsfähigkeit« Später werde ich noch detaillierter auf die einzelnen Funktionen eingehen und diese mit Beispielen aus anderen Fallauswertungen illustrieren, aber um einen Gesamteindruck zu gewinnen, erschien es mir sinnvoller, zunächst eine komplette Analyse darzustellen. Dabei kann auch das Ineinandergreifen verschiedener Funktionen gut beobachtet werden.

3.3.2.1. Die Funktionenanalyse des freicharismatischen Samples Es überraschte mich wenig, dass sich bestimmte Funktionen bei verschiedenen Konvertitinnen wiederholten. Diejenigen Funktionen, die komplett oder weitgehend deckungsgleich bei mehr als einer Konvertitin vorkamen, fasste ich zu Kategorien zusammen. Dabei versuchte ich, die Funktion der Konversion im Leben der Befragten möglichst präzise und in eigenen Worten zu definieren. Anders als bei meiner Funktionenanalyse der Musliminnen konnte ich nur selten auf vorherige Forschungen zurückgreifen, da das Phänomen der Konversion zum Christentum, wie vorher dargelegt, nur selten spezifisch erforscht worden ist, schon gar nicht unter funktionalen Gesichtspunkten. Nachfolgend habe ich die von mir vorgefundenen Funktionskategorien aufgeführt und jeweils mit Fallbeispielen veranschaulicht. Je nachdem, wie vielschichtig die betreffenden Funktionskategorien war und wie umfassend ich sie beleuchten wollte, habe ich dabei einen Fall in größerer Länge dargelegt oder aber mehrere kürzere Extrakte aus Fallauswertungen eingefügt, um die Varianz

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innerhalb einer Kategorie besser darstellen zu können. Die vorgefundenen Funktionen, die sich innerhalb des Samples mehrfach wiederholten, waren (die Zahl markiert die Anzahl der Frauen, bei welchen diese Funktion vorzufinden war): A. »Lebensstabilisierung durch Beziehung zu einer als transzendent empfundenen Entität«: 8 B. »Innerfamiliäre Positionierung/Abgrenzung von der Herkunftsfamilie614«: 5 C. »Kognitive und emotionale Entlastung durch Annahme eines höheren Lebenssinns«: 5 D. »Strukturierung von Geschlechterbeziehungen«: 4 E. »Soziale Einbindung«: 3 F. »Erhöhung von Bindungsfähigkeit«: 3 G. »Verbesserung belasteter zwischenmenschlicher Beziehungen«: 2 Daneben gab es individuelle Funktionen, welche sehr spezifisch an die biographischen Strukturen der Konvertitinnen gekoppelt waren und daher nur bei jeweils einer Person vorzufinden waren. Diese waren die der »Alternativkarriere«615, der Identitätsfindung als Frau, der Aufwertung der Mutterrolle und der Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft. Nachfolgend sind die Funktionen nach Häufigkeit geordnet im Detail dargelegt. A: »Lebensstabilisierung durch Verbindung zu einer als transzendent empfundenen Entität« Bei dieser Funktion handelt es sich um die häufigste, die bei acht der zehn Frauen vorzufinden war und die ich daher in besonderer Ausführlichkeit und mit mehreren Beispielen darstellen möchte. Man kann angesichts der Häufigkeit dieser Funktion geradezu von einer Kernfunktion der Konversion zum literalsinnorientiert-freicharismatischen Christentum sprechen. Bei dieser Funktion entfaltet die Konversion die Wirkung einer Stabilisierung der Betreffenden angesichts schwieriger äußerer und/oder innerer Lebensumstände. Diese können schwere Erkrankungen und Schicksalsschläge, psychische Problematiken, aber auch eher alltägliche Problemstellungen sein. Die Konversion aufgrund von persönlichen Krisen ist in der allgemeinen Konversionsliteratur recht häufig beschrieben worden, gerade auch im Hinblick auf Konversionen zum literalsinnorientierten Christentum (entsprechende Konversionen wurden ja früher oft zur Beschreibung von Konversion per se herangezogen).

614 Wenger-Jindra spricht interessanterweise von der »Abgrenzung von der Herkunftsfamilie« eines der von ihr befragten Konvertiten zum Islam, Wenger-Jindra (2005), S. 130. 615 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 281.

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Tatsächlich entfaltet die Konversion in den Fällen, in denen diese Funktion vorzufinden war, eine Wirkung, die der bereits von James Anfang des 20. Jahrhunderts hinsichtlich Konversionen beschriebenen ähnelt. James unterschied zwischen den psychisch stabilen »Einmalgeborenen« und den depressiven, krisengeschüttelten, innerlich zerrissenen »Zweimalgeborenen«616, die durch eine Konversion persönlichen Halt, innere Einheit und Stabilität suchen (und finden) würden.617 Religion sei dabei einer der »vielen Wege«, um innere Einheit zu erreichen, andere Optionen wären z. B. »love, ambition, cupidity, revenge, or patriotic devotion«618. Dabei beruhten seine Forschungen stark auf den spontanen Konversionen innerhalb der damaligen US-amerikanischen Erweckungsbewegungen,619 also auf inhaltlich den heutigen christlich-literalsinnorientierten Strömungen nah verwandten Religionsgemeinschaften. Was James noch nicht erwähnen konnte, wohl aber spätere Vertreter_innen des krisenzentrierten Ansatzes der Konversionsforschung, sind weitere (und m. E. heutzutage oft naheliegendere) mögliche »funktionale[…] Äquivalente[…]«620 zur Konversion, z. B. das von Lofland/Stark genannte psychiatrische,621 bzw., wenn man von heutigen Angeboten ausgeht, das psychotherapeutische, aber auch das (schul-)medizinische. Wie aber entsteht die Lebensstabilisierung im literalsinnorientiert-freicharismatischen Kontext? Sie kommt entweder durch Wundererfahrungen, d. h. die Erfahrung der Lösung »unlösbar« scheinender Probleme durch göttliches Eingreifen zustande, was zur Gewissheit beiträgt, durch das permanente Vorhandensein einer verlässlich stärkenden transzendenten Kraft auch für erneute Krisensituationen gewappnet zu sein, wie bei Grete und Gerlinde. Lebensstabilisierend kann sich aber auch das Gefühl auswirken, in einer persönlichen Beziehung mit Gott zu stehen, dadurch eine jederzeit ansprechbare, verlässliche Bezugsperson zu haben und geliebt zu werden, wie bei Lena und Esther. Auch eine Mischung von beidem, so bei Luise, Camilla, Corinna und Sabine, war vorzufinden. Gerade bei den Frauen, bei denen die »Mischform« vorzufinden 616 Der Terminus »zweimalgeboren« (gängiger ist »wiedergeboren«) bezeichnet im literalsinnorientierten Kontext Menschen, die ihre »Wiedergeburt« durch die Annahme des christlichen Glaubens und den Beginn einer persönlichen Beziehung zu Gott vollzogen haben. 617 Vgl. James (1902a), http://www.authorama.com/varieties-of-religious-experience-7.html und James (1902b), http://www.authorama.com/varieties-of-religious-experience-8.html, und vgl. Pollack (2009), S. 307. 618 Vgl. James (1902a), ebd. 619 Vgl. dazu auch Wohlrab-Sahr (1999a), S. 49. Dieser Satz und der vorhergehende sind mit einigen Veränderungen meiner unveröffentlichten Masterarbeit (2013), S. 18, entnommen. 620 Merton (1995), S. 31, im Original kursiv. 621 Vgl. Lofland/Stark (1965), S. 867, die neben dem religiösen Problemlösungsmodell das politische und das psychiatrische aufzählen.

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war, aber auch bei der eingangs vorgestellten Lena, werden erfahrene Wunder auch als Beweis der engen, persönlichen Beziehung zu Gott verstanden. Wichtiger noch als die unmittelbare »Abhilfe«, die Wunder schaffen, ist in diesen Fällen also ihre Eigenschaft als »Marker« und »Beweis« für die persönliche Fürsorge und Liebe Gottes. Unabhängig davon, ob Wundergeschehnisse als Beweis eines liebenden, fürsorglichen Gottes oder primär in ihrer Eigenschaft als stets verfügbare Problemlösung zur Lebensstabilisierung beitragen, scheint es mir geboten, hier zunächst kurz zu erläutern, was ich als »Wunder« definiere, da »Wunder« auf den ersten Blick eine sowohl schwer greifbare, als auch wenig wissenschaftliche Kategorie zu sein scheint. Ich möchte daher zunächst klarstellen, dass ich keineswegs vorhabe, die Existenz von Wundern zu be- oder widerlegen. Ich konstatiere lediglich, dass nach dem ganzheitlichen Ansatz des freicharismatischen Christentums, wonach Gott eben nicht nur für »erhabene« Themenkomplexe, sondern genauso für die Alltagsgeschehnisse zuständig ist, Wunder für die Betreffenden ganz unterschiedliche Formen annehmen. Dabei werden überraschende Heilungen, positive Begegnungen, oder das, was andere Menschen möglicherweise als »glückliche Fügung« oder »günstigen Zufall« bezeichnen würden, als von Gott (zumeist in den personae Heiliger Geist oder auch Jesus) gewirktes, wundersames Eingreifen gedeutet.622 Wie ich bereits im Teil zur Gemeindeübersicht dargelegt habe, werden in vielen freicharismatischen Gemeinden, darunter auch den von mir beforschten, Lehren vertreten,623 welche den Gläubigen Wohlstand und materielle bzw. emotionale Erfüllung verheißen. Storck subsumiert den Aspekt des fühlbaren Eingreifens Gottes innerhalb der charismatischen Strömungen unter »Verzauberung der Welt« (vermutlich als Kontrapunkt zu Max Webers »Entzauberung der Welt«) und schreibt: »Die Teilnahme an charismatisch-christlichen Gottesdiensten kann fraglos außerordentliche Erlebnissen [sic!] erzeugen, die sowohl subjektiv als auch objektiv zu einer Besserung der Umstände führen.«624 Ich kann und möchte an dieser Stelle nicht beurteilen, inwieweit die von Storck625 und anderen beschriebenen und von mir beobachteten wie auch mir erzählten Heilungen und anderen Wundergeschehnisse übernatürlicher Intervention oder aber Autosuggestion, dem heilsamen Effekt zwischenmenschlicher Zuwendung bzw. möglicherweise sogar dem direkten Eingreifen anderer Gemeindemitglieder (etwa, wenn bedürftige Mitglieder plötzlich Geld aus unbe622 Aufgrund des geringen Interesses an theologischen Formulierungen fehlen in den Gemeinden genaue theologische Definitionen von Wundern. Zu einem theologischen Wunderverständnis vgl. Alkier (2005) auf S. 1723ff. 623 Dabei finden sich mehr oder weniger große Anleihen an den prosperity gospel. 624 Vgl. Storck (2008), S. 137. 625 Vgl. Storck (2008), S. 137.

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kannten Quellen erhalten) entspringen. Wichtig ist für meine Funktionskategorie nur, dass die Betreffenden das Gefühl haben, dass sich ihr Zustand bessert und dass sie diese Verbesserung unmittelbar auf ihre Teilhabe am literalsinnorientiert-freicharismatischen Christentum und ihre Verbindung zu Gott zurückführen. Nach meiner Beobachtung erfolgt das von Storck beschriebene Zusammenspiel von Gebet/Anrufung und Heilung/Erhörung nicht nur im Rahmen von Gottesdiensten, sondern auch in größeren oder kleineren Heilungszusammenkünften, Gebetskreisen, oder gänzlich individualisiert als persönlich formuliertes Bittgebet oder sogar trotzige Herausforderung an Gott, seine Existenz durch Erhörung eigener Bitten oder Antwort auf gestellte Fragen zu »beweisen«. Hier zeigt sich erneut der fließende Übergang zur als liebevoll empfundenen Beziehung zu Gott, die den anderen Faktor für die Lebensstabilisierung darstellt. In diesem Kontext erscheint es mir wichtig, erneut auf das freicharismatische Gottesbild zu verweisen. Gott wird in diesen Strömungen (anders als in manchen anderen literalsinnorientierten Gemeinschaften, die den strafenden und gerechten Aspekt Gottes mehr hervorheben, z. B. den Brüdergemeinden) vor allem in seinen liebenden, gnädigen und fürsorgenden Aspekten hervorgehoben und oft stark personifiziert. Das Bild von Gott als »Vater« wird weniger symbolisch verstanden als in anderen christlichen Strömungen, der Aufbau einer starken persönlichen Bindung zu Gott wie auch zu Jesus Christus aktiv gefördert. Dabei ist Gott (oder Jesus Christus) für kein Anliegen zu erhaben, was einen weiteren Unterschied zu den meisten anderen christlichen, auch vielen literalsinnorientierten Strömungen darstellt. Ganz im Sinne eines auch weltlichen Vaters bzw. Versorgers ist er auch für irdische, sogar ganz alltägliche Belange, Wünsche und Nöte zuständig. Gott um einen Parkplatz, eine Gehaltserhöhung oder das Gelingen des zu backenden Kuchens zu bitten oder ihm diesbezügliche Sorgen anzuvertrauen, wird in diesen Kontexten daher nicht nur als legitim erachtet, ja, Gläubige werden sogar explizit dazu aufgefordert. Dadurch nimmt Gott die Rolle eines stets ansprechbaren, bedingungslos liebenden signifikanten Anderen ein, der teilweise, je nach persönlichen Präferenzen und Erfahrungen der Betreffenden, dezidiert väterliche bzw. partnerschaftliche (oder eine Kombination aus beidem) Züge annimmt oder ganz grundsätzlich als umfassende, wenn auch männlich konnotierte, Bezugsperson gedacht wird.626 Bei diesem Gottesbild können für die Gläubigen unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen; der einer Kraft, welche quasi »auf Knopfdruck« Hilfe leistet 626 Vgl. Storck (2008), S. 119: »Charismatische Christen besitzen einen übernatürlichen Beziehungspartner, der die Attribute eines ›perfekten‹ Vaters besitzt. Dieser Partner spielt im Denken und Handeln der Gläubigen eine so große Rolle, dass es für die kulturwissenschaftliche Ebene unerheblich ist, ob er real existiert oder nicht«.

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und Wunder vollbringt (und für die dementsprechend auch andere religiöse/ esoterische Äquivalente infrage kämen627), oder derjenige einer liebenden Bezugsperson, die ihre Existenz durch Eingreifen »beweist«, was ein sehr viel spezifischer freicharismatisches Konzept darstellt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass bei denjenigen, bei denen vor allem die Heilung physischer Probleme im Vordergrund stand, die persönliche Beziehung zu Gott zumeist weniger relevant war und stattdessen die Verfügbarkeit einer transzendenten, wunscherfüllenden Kraft im Vordergrund stand. Hingegen war die Verbindung zu einem liebenden Gott als Bezugsperson bei der Bewältigung psychischer Problematiken zumeist von großer Wichtigkeit. Obschon der Aufbau einer engen persönlichen Bindung an Gott, woraus sich unter anderem auch eine empfundene Verbesserung psychischer Problematiken ergibt, eine Konstante in vielen literalsinnorientierten christlichen Konversionserzählungen darstellt, wurde er bislang in der Konversionsliteratur wenig thematisiert. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellt die religionsvergleichende Studie der Religionspsychologin Wenger-Jindra dar. Sie beschreibt, dass die von ihr beforschten Konvertit_innen zu Typ 3 (allesamt zu christlichen Strömungen konvertiert) sich dadurch auszeichneten, »dass hier vor allem ungestillte Beziehungsbedürfnisse und damit verbundene Gefühle von Unsicherheit, Einsamkeit, das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden, und daraus hervorgehende Abhängigkeiten im Vordergrund stehen.« Anhand einer Grafik versucht die Autorin aufzuzeigen, »wie infolge der Konversion Probleme im zwischenmenschlichen Bereich gemildert wurden, [und] sich die Beziehung zu sich selbst und zu den Mitmenschen veränderte«.628 Auch wenn sie dies nicht explizit so definiert, benennt sie damit Funktionen (d. h., Folgen) der Konversion und nicht etwa die Motivation bzw. die Ursache für den Akt der Konversion selber. In meiner Analyse habe ich Ergebnisse herausgearbeitet, die deutliche Parallelen aufweisen; die Frauen berichteten von einer engen persönlichen Bindung an Gott, was manchmal schon Züge einer Beziehung zu einem signifikanten Anderen annahm, und dem dadurch entstandenen Gefühl von Getragensein sowie bedingungslosem Geliebtwerden. Dieses trug nicht nur zur Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch maßgeblich zur Verbesserung des psychischen Allgemeinbefindens insgesamt bei. Wenger-Jindra führt dies unter Berufung auf weitere Religionspsychologen darauf zurück, dass Religion bei »unsicherer oder vermeidender Bindung an die

627 Z. B. sind dies esoterische Konzepte des positiven Denkens, positiver selbsterfüllender Glaubenssätze oder sofortiger Wunscherfüllung. 628 Vgl. Wenger-Jindra (2005), dieses Zitat und das vorhergehende sind beide von S. 182 entnommen.

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Eltern« eine »Kompensationsfunktion« annehme.629 Es kann hier natürlich nicht mit Gewissheit festgestellt werden, welche Bindungsformen bei den Konvertitinnen genau vorliegen. Julius unterscheidet »ein sicheres […], ein unsichervermeidendes […], ein unsicher-ambivalentes […] oder ein desorganisiertes […] Arbeitsmodell von Bindung«630 bei Kindern. Tatsächlich kann man jedoch, wenn man dieses entwicklungspsychologische Schema zugrunde legt, vermuten, dass fast alle Frauen, bei denen die Lebensstabilisierung durch eine persönliche Beziehung zu Gott und die daraus resultierende Bewältigung psychischer Probleme und Stillung unerfüllter Beziehungsbedürfnisse eintrat, als Kinder keine sichere Bindung zu ihren Bezugspersonen aufbauen konnten. Esther litt stark unter der Strenge und Härte ihres Vaters und konnte auch zu ihrer Mutter kein positives Verhältnis etablieren, Luise und Camilla erfuhren teils massive Zurückweisung und einen Mangel an Zuwendung, Daniela hatte sehr unter ihrem Vater zu leiden, und Lena hatte ebenfalls ein sehr negatives Verhältnis zu ihren Vätern, dem leiblichen und noch mehr zum Stiefvater, doch auch ihre Mutterbindung wirkt wenig eng.631 Viele der Frauen, bei denen ich Funktion A der Lebensstabilisierung durch Verbindung zu einer als transzendent empfundenen Entität feststellen konnte, litten zudem unter einem dauerhaft schwachen Selbstwertgefühl, entweder, weil sie in ihrer Kindheit gar keine Bestätigung erfahren hatten oder aber jedwede Zuwendung an die Erbringung von Leistung gekoppelt war. Diese Selbstwertproblematik wiederum führte zu oft ungesunden Bewältigungs- und Kompensationsstrategien wie Suchtproblematiken oder anderem selbstschädigendem Verhalten, aber auch zur Selbstaufgabe für andere oder exzessiven Leistungsansprüchen an sich selber. Hier sei erneut auf Wenger-Jindra verwiesen, die die Verbesserung des Selbstwertes durch die Konversion thematisiert: »Infolge der Konversion zum Christentum erfuhren die Menschen eine positive Beziehung zu Gott, fühlten sich angenommen, fanden einen Sinn im Leben und wurden unabhängiger von der Anerkennung anderer, d. h. durchbrachen als Konsequenz 629 Vgl. Wenger-Jindra (2005), S. 185. Zudem führt sie unter Berufung auf Kirkpatrick und Shaver aus, dass »Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil […] sehr viel häufiger Konversionen« erführen, S. 198. 630 Julius (2009), S. 14. Interessanterweise wird bei Untersuchungen, bei denen bei erwachsenen Personen die »Bindungsrepräsentationen« rekonstruiert werden sollen, zumeist auf das »autobiographische Interview« rekurriert, vgl. George/West/Kißgen (2009), S. 199. 631 Offensichtlich sind insbesondere die Beziehungen zu den Vätern belastet. Die schlechte Vaterbeziehung wurde in der Konversionsforschung öfters thematisiert, vgl. Morgenthaler (2012a), S. 42f., und Wenger Jindra (2005), S. 223. Bei dieser Aufzählung muss bedacht werden, dass entwicklungspsychologisch ein Kind als »emotional vernachlässigt eingestuft« wird, wenn u. a. »die Eltern unangemessene Anforderungen an das Kind stellten« oder »die Eltern-Kind-Beziehung durch einen Mangel an Wärme gekennzeichnet war«, Julius (2009), S. 19.

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einer Konversion die negative Verlaufskurve der Suche nach Anerkennung«632. Für viele Konvertierte machte also die Steigerung des Selbstwertgefühls einen zentralen Aspekt der Lebensstabilisierung aus. Dabei stellte ich fest, dass auch die Stärkung des Selbstwertgefühls, ebenso wie die Funktion der Lebensstabilisierung an sich, auf zwei Faktoren zurückzuführen war : Bei einigen – denjenigen, für die die Lebensstabilisierung ausschließlich durch eine enge persönliche Beziehung zu Gott zustande kam – handelte es sich tatsächlich im Sinne Wenger-Jindras um eine Folge des Sich-Geliebtfühlens von Gott unabhängig von erbrachter Leistung. Bei anderen hingegen war auch hier eher der Gedanke, permanent eine stärkende transzendente Kraft, in diesem Fall Gott, zur Verfügung zu haben, für eine Verbesserung des Selbstvertrauens bestimmend. Nachfolgend sollen verschiedene Beispiele für die Lebensstabilisierung durch die Konversion dargelegt werden. Beginnen möchte ich mit einer Konvertitin, für die die Stabilisierung primär durch Wundergeschehen und das Gefühl, bei Bedarf auf eine stärkende transzendente Entität rekurrieren zu können, zustande kommt. Für die Betreffende, Gerlinde, spielt nämlich eine liebevolle und persönliche Beziehung zu Gott eine weniger große Rolle: Gerlinde Gerlinde wird einige Jahre vor Kriegsende geboren. Ihre Kindheit wird vom strengen Vater bestimmt, der als Angestellter in leitender Funktion tätig ist, ihre Mutter ist Hausfrau. Beide Eltern sind formell evangelisch, Gerlinde wird getauft und konfirmiert, ist jedoch nicht gläubig, bis ihr in fortgeschrittenerem Alter eine potentiell tödliche Krankheit diagnostiziert wird. Ihr landeskirchlicher Mann lässt sich von einem Bekannten überreden, mit Gerlinde zu einer freicharismatischen Gemeinde zu gehen und für sie beten zu lassen. Als die Krankheit ohne ärztliche Intervention verschwindet, konvertiert sie mit ihrem Mann zum literalsinnorientiert-freicharismatischen Christentum. Vordergründig ist Gerlindes Konversionsgeschichte die einer als Wunder empfundenen Spontanheilung: Gerlinde hat große gesundheitliche Probleme (Z. 61– 68). Ihr landeskirchlicher Mann gibt trotz großer Vorbehalte seinerseits schließlich dem Drängen eines Bekannten nach und besucht mit Gerlinde einen literalsinnorientiert-freicharismatischen Gebetszirkel, wo alle für sie beten (Z. 71–82). Bei erneuten ärztlichen Untersuchungen wird festgestellt, dass ihre Krankheit nicht mehr festzustellen ist, was laut Gerlindes Schilderung bei dem medizinischen Personal für großes Erstaunen sorgt. Sie wird gefragt, wo sie sich habe behandeln lassen (Z. 102), woraufhin Gerlinde antwortet, dass für sie gebetet worden sei. »Und dann haben die gesagt das würden sie mir nicht 632 Wenger-Jindra (2005), S. 185.

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glauben. Da hab ich gesagt: ›Aber ich glaube.‹« (Z. 103–104). Dem Unglauben der Umgebung setzt sie ein entschiedenes »[I]ch glaube« entgegen. Nun ist es nicht undenkbar, dass eine Wunderheilung alleine für eine Konversion ausreicht; es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass auch noch weitere Faktoren eine Rolle dabei spielen, dass Gerlinde und ihr Mann bereits seit über zwanzig Jahren ihr Leben konsequent nach christlichen Grundsätzen ausrichten. Immerhin wäre es ja auch vorstellbar gewesen, dass Gerlinde, die sich vorher als dezidiert nicht-gläubig bezeichnete, die Heilung z. B. naturwissenschaftlich zu begründen versucht hätte, oder dass die anfängliche Begeisterung mit den Jahren verblasst wäre. Deswegen sollen hier aus Gerlindes Lebensgeschichte noch weitere Aspekte der Lebensstabilisierung als Faktoren für ihr dauerhaftes commitment für die neue Religion beleuchtet werden. Aus ihrer weiteren Geschichte ist ableitbar, dass sie im literalsinnorientiert-freicharismatischen Glauben eine dauerhafte Möglichkeit der Lebensstabilisierung und -optimierung findet, da sie fühlt, dass dieser sie durch jede Herausforderung des Lebens begleitet und stärkt. Gerlinde sieht in dem Glauben das Potential, mit jeglichen inneren und äußeren Problematiken fertig zu werden. Ihr Leben wird nämlich von ihrer stark ausgeprägten eigenen Unsicherheit, mangelndem Selbstwertgefühl und dominanten Männerfiguren geprägt, wobei diese Faktoren sich offensichtlich gegenseitig verstärken und zu einer großen Verunsicherung führen. Auf die Frage nach ihrer Kindheit antwortet sie mit »Ja, streng« (Z. 5), und spezifiziert, dass dies an ihrem »strengen Vater« (Z. 7) gelegen habe. Gerlinde bezeichnet ihre schulische Laufbahn als »[e]infach… nix Besonderes« (Z. 20), und sie ist froh, dass sie nach der Mittleren Reife »Arzt..helferin werden durfte« (Z. 38), wobei das »durfte« drauf schließen lässt, dass sie ihre Ausbildung keineswegs als Selbstverständlichkeit betrachtet. Später arbeitet sie für ihren Mann, der zweiten dominanten Männerfigur in ihrem Leben: Auch ihren Mann bedenkt sie mit dem Adjektiv »streng« (wenn auch hinsichtlich seiner früheren evangelischen Glaubenspraxis, Z. 72, Z. 76), und später führt sie aus, wie dominant er ist (Z. 174–175). Außerdem wird immer wieder im Interview offenkundig, von welch großen Hemmungen sie in Bezug auf soziale Situationen, bei denen sie im Vordergrund steht, geplagt wird. Dabei verstärkt die Dominanz ihres Mannes ganz offensichtlich ihre eigene Unsicherheit, unter der sie extrem zu leiden scheint: »Und dann ist auch wieder immer dieses Dominante von meinem Mann: ›Los, nun rede du doch mal‹ und dann ziehe ich mich noch mehr zurück« (Z. 174–175). Die Dominanz der männlichen Bezugspersonen sowie ihr eigener Mangel an Selbstvertrauen, vor allem, was soziale Situationen anbelangt, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Interview. Gerlinde führt ein für diese Zeit geschlechterrollentypisches Leben, in dem die Hausfrauen- und Mutterrolle be-

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stimmend sind und sie daher über wenige Kompensationsmöglichkeiten durch berufliche Erfolge verfügt. Deswegen kann davon ausgegangen werden, dass sich der neue Glaube in irgendeiner Hinsicht entlastend bei dieser zentralen Problematik ihres Lebens auswirkt. Gedankenexperimentell633 sind nun mehrere Erklärungen dafür denkbar : 1. Gerlinde findet in der geschlechterkonservativen, hierarchischen Auslegung der literalsinnorientiert-freicharismatischen Strömung eine Art »religiöser Legitimation« für ihr eigenes Verhalten, das nun nicht mehr als störend empfundener Ausdruck von Schüchternheit ist, sondern zur göttlich vorgegebenen Demut im Allgemeinen und Unterordnung unter den Ehemann im Speziellen aufgewertet wird. 2. Gerlinde stellt den Aspekt ihrer religiösen Strömung in den Vordergrund, welche die Heilung des Menschen von sämtlichen irdischen Makeln verspricht und auch eine diesseitige Erfüllung von Zielen und Wünschen durch Gott verheißt, darunter eben auch die »Heilung« von ihrer Unsicherheit, Angst und der männlichen Vormachtstellung. Letzteres zumindest würde aber den literalsinnorientierten Geschlechterrollenvorgaben widersprechen, weswegen auch eine »Mischung« aus 1. und 2. denkbar ist – und zwar in Form des Strebens, mit göttlicher Hilfe ihre Schüchternheit zu überwinden, gleichzeitig jedoch auch die Akzeptanz der männlichen Dominanz. Damit einhergehen könnte die Möglichkeit einer religiösen »Alternativkarriere«634. Relativ schnell zeigt es sich, dass Gerlinde den literalsinnorientiert-freicharismatischen Glauben tatsächlich für die Überwindung ihrer als persönliche Schwäche empfundenen Unsicherheiten nutzen will. Dessen Angebote ermöglichen ihr auch, sich zumindest räumlich von ihrem Mann zu emanzipieren, wie sie anhand eines von ihr besuchten Redekreises darlegt: »Wo in den Gruppen man aufgeteilt wird und wo man über alles reden kann, was einen so betrifft. Also da ist jetzt nicht mein Mann mit in der Gruppe. Und ich nicht bei ihm. Sondern, immer so kleine Grüppchen und.. da kann man alles… hinlegen und dann wird auch drüber gebetet. Ich hab schon so oft für Mut beten lassen, ja? Menschenfurcht. Dass die weggeht. Ich schaff das. Am Donnerstag war ich schon mutiger« (Z. 178–182).

Zudem erfährt sie Ermutigung und Unterstützung durch ihre religiöse Peergroup: »Hab ich auch schon mitgemacht, Prophetiekurse und da haben die mir 633 In Anlehnung an Wohlrab-Sahr wende ich die Analyseform des Gedankenexperimentes nicht nur auf die Fortsetzung von Sequenzen, sondern auf den weiteren lebensgeschichtlichen Verlauf bzw. dessen Fortsetzung an, vgl. z. B. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 236ff. 634 Wohlrab-Sahr (2004), S. 281.

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gesagt: ›Du kannst! Du kannst es auch!‹ Ha!« (Z. 184–185). Erfolgserlebnisse, wie dass von ihr gemachte Prophezeiungen zutreffen, bestärken sie zusätzlich (Z. 185–194). Von daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass sie als größte persönliche Veränderung durch die Konversion ihr »positives Denken« (Z. 231) benennt. Offenkundig nutzt sie ihren neuen Glauben und die damit verbundenen Gemeindeangebote im Sinne der 2. Hypothese zur Überwindung persönlicher Schwächen, wobei ihr der religiöse Rahmen auch die Möglichkeit eigener, von der Mutter- und Ehefrauenrolle entkoppelter Erfolgserlebnisse bietet.635 Später gibt sie zu Protokoll, ihr Mann habe sich seit der Konversion extrem »geändert« (Z. 318), was seine Dominanz anbelange: »M-, mein Mann ist ein Typ, der sagt: ›Das ist viereckig.‹ Oder noch mal. Und es ist nicht viereckig. Aber er behauptet. »Du musst jetzt sagen‹. Er ist ich, Helmut [Name des Mannes] […]. [D]as ist, ähm, das ist das was mich immer noch so ein bisschen und nu hoffe ich ja, nächstes Wochenende, dass sich da was ändert ich.« (Z. 326–331).

Dem Ich-Bewusstsein ihres Mannes, das sie als »ich, Helmut« bezeichnet, möchte sie mit Hilfe des Glaubens ein eigenes »ich« entgegensetzen. Mit dem literalsinnorientiert-freicharismatischen Glauben ist also zugleich die (sich z. T. erfüllende) Hoffnung auf eigenes Empowerment verbunden. Es zeigt sich hier, dass Gerlinde auch die Option 1 des Gedankenexperiments partiell realisiert: Sie nutzt den literalsinnorientiert-freicharismatischen Glauben, um an strategischer Stärke gegenüber ihrem Mann und an Selbstbewusstsein im Allgemeinen zu gewinnen und ihr Leben zu stabilisieren. Während die Konversion als mehr oder minder kontingent betrachtet werden kann – da sie sich zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend in Unkenntnis religiöser Inhalte des charismatischen Christentums befindet – entfaltet die Verbindung zu einer als jederzeit verfügbar empfundenen transzendenten Entität danach eine spezifische Funktion für sie, welche womöglich auch von anderen heilungs- und erfüllungsversprechenden esoterischen oder religiösen Gruppierungen geleistet werden hätte können.636 Bei Gerlinde erfüllt die vom literalsinnorientiert-freicharismatischen Glauben verheißene Verbindung zu Gott, der jederzeit für Hilfestellungen verfügbar ist, den Zweck, in schwierigen Situationen Unterstützung zu geben, und wird dadurch zur Selbstoptimierungs-, Lebensbewältigungs- und Stabilisierungsstrategie. 635 Allerdings findet dies in einem Ausmaß statt, welches es noch nicht rechtfertigen würde, von einer religiösen »Alternativkarriere«, vgl. Wohlrab-Sahr (1999), S. 226f., zu sprechen. Es finden sich jedoch Anklänge davon. 636 Gerlinde beantwortet Fragen in der Regel mehr lebenspraktisch denn theologisch. Auf die Frage, welche christlichen Werte ihr besonders wichtig seien, antwortet sie bspw.: »[D]er Heilige Geist« (Z. 150), und in ihrem Leben habe sich durch die Konversion ihr »positives Denken« (Z. 231) ergeben.

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Als weiteres Beispiel für diese Ausprägung der Funktion möchte ich an dieser Stelle Sabine, die später noch einmal ausführlich vorgestellt werden wird, zitieren. Ihre Aussagen illustrieren den Aspekt der Lebensstabilisierung durch die permanente »Verfügbarkeit« Gottes als stärkender Kraft geradezu exemplarisch, auch wenn an anderer Stelle deutlich wird, dass bei ihr die persönliche (Liebes-)Beziehung zu Gott ebenfalls eine Rolle spielt: »S: Ähm… aber überhaupt was in der Hand zu haben auch für die Erziehung der Kinder, für das, weißte, mit was man da konfrontiert ist tagtäglich, ja, also ich glaube, ohne Gott würd ich baden gehn, ja, aber schlichtweg weil, weil es is so viel.. an Emotionen und Entwicklungsstufen und ganz, ganz prakt..ischen Problemen, sei es mit der Schule oder welche Schule oder Kr-, auch Krankheiten und, wo ich so denke, ›Boah, ich kann einfach beten erstmal.‹ I: Mhm. S: Ich kann erstmal sagen, ›Okay, ich kann das nich, mach, mach Du mal und hilf mir (lacht)‹, das entlastet mich enorm.« (Z. 503–511).

Es findet sich ein fließender Übergang von einem eher praktischen, wenig emotionalen und »funktionalen« – hier nicht im Mertonschen, sondern im allgemeinsprachlichen Sinne verwendet – Verständnis von Gott als stärkender Kraft in jeder Lebenslage und der daraus resultierenden Lebensstabilisierung und -optimierung hin zu einer Stabilisierung des Allgemeinbefindens durch die persönliche Beziehung zu Gott und dem Gefühl, geliebt und versorgt zu werden. Die Bewältigung psychischer Krisen durch das Gefühl, von Gott geliebt und getragen zu werden, habe ich bereits im Fallbeispiel von Lena mit ihrer gravierenden Angstproblematik dargelegt. Bei Lena hat Gott die Funktion eines stets ansprechbaren, verlässlichen Ansprechpartners eingenommen, seine Präsenz durch Wundergeschehen »bewiesen« und dadurch zu einer Stabilisierung ihrer psychischen Verfassung und dadurch ihres Lebens beigetragen. Ähnlich gestaltet es sich bei Esther : Esther Esther wird in den 80er Jahren als Tochter eines literalsinn-, aber anticharismatisch orientierten Ehepaares geboren. Ihr Vater ist Betriebsleiter und nebenbei in seiner christlichen Gemeinde sehr aktiv, die Mutter ist Hausfrau. Ihr Elternhaus ist von sehr viel Strenge, Härte und Unterdrückung gekennzeichnet. Esther wächst gläubig auf und macht in ihrer Jugend erste positive Erfahrungen mit Charismen, was von den Eltern massiv abgelehnt wird. Kurze Zeit später distanziert sie sich vom christlichen Glauben und führt ein an materiellen Werten und Vergnügungen ausgerichtetes Partyleben. Gleichzeitig leidet sie jedoch an psychischen Problematiken, innerer Unzufriedenheit und selbstschädigenden Kompensationsstrategien. Im mittleren Lebensalter konvertiert

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Esther zum literalsinnorientiert-freicharismatischen Christentum. Esther ist verheiratet und hat einen Sohn. Die enge persönliche Beziehung zu Gott stellt für sie einen wichtigen Aspekt des literalsinnorientierten und insbesondere des freicharismatischen Glaubens dar, aus dem sich wiederum bedeutsame Funktionen ergeben. In dem Gefühl, von Gott geliebt zu werden, kann sie auch »in sich selbst ruhen« (Z. 177). Gott übernimmt dabei sowohl eine Vater- wie auch eine Partnerfunktion: »Und ich weiß, dass ich eigentlich immer’n Papa im Himmel habe, der sich um alles kümmert und sich um alles sorgt. Und dass ich jeden Schmerz und jeden jeden Ärger einfach zu ihm schreien darf. Dass ich nicht mehr meinen meinen Partner anschreien muss, sondern dass ich jetzt Gott anschreien darf« (Z. 190–193).

Sie, die ein liebloses Elternhaus hatte und auch in der Schule als Außenseiterin gemobbt wurde (Z. 261–292), was in ihr tiefe Spuren hinterlassen hat und sie auch noch heute sichtlich bewegt, empfindet nun die grenzenlose Liebe Gottes. Diese ermöglicht ihr, auch sich und andere zu lieben: »Und dass wenn ich diese Liebe einfach erfahre und in dieser Liebe Gottes bin, diese von Gott erfahrene Liebe in dieser Liebe und aus dieser Liebe heraus diese Liebe auch weitergeben kann an andere Menschen« (Z. 349–351). Die stark krisengeschüttelte Esther, die vorher zu verschiedenen erfolglosen und für sie und andere destruktiven Strategien zur Problembewältigung griff, findet damit in Gott einen Ruhepol, der sie durch alle Herausforderungen des Alltags trägt und ihr durch das Gefühl permanenter Ansprechbarkeit und Geliebtwerdens innere Stabilität verleiht. Noch weitaus dramatischer als bei Lena und Esther zeigt sich die Krisenbewältigung durch den Aufbau einer Beziehung zu Gott und den als Wunder empfundenen Ereignissen bei Luise. Die starke Personalisierung Gottes und Jesu und die von Wenger-Jindra beschriebene Kompensationsfunktion für defizitäre Elternbindungen zeigt sich exemplarisch in ihrem Fallbeispiel, bei dem zudem die Kopplung von ganz physisch-weltlich erfahrener Zuwendung von Seiten verschiedener literalsinnorientierter Personen und der gefühlten Zuwendung von Seiten Gottes deutlich wird: Luise Luise wird einige Jahre vor Kriegsende als uneheliches Kind geboren, ihren Vater lernt sie nie kennen. Da ihre junge Mutter sie nicht versorgt, zieht die Großmutter sie groß. Ihre Kindheit ist von den prekären Nachkriegsverhältnissen und emotionaler Entbehrung geprägt; als Mädchen begegnet sie einem etwas älteren Mann, der sie liebevoll umwirbt und den sie bald heiratet. Luise wird Hausfrau und Mutter und bekommt einen Sohn und zwei Töchter mit ihm, eine Ausbildung hat sie nicht. Als ihre Ehe scheitert, verfällt sie in eine schwere Krise.

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Eine ihrer Töchter entwickelt nach der Trennung der Eltern eine starke psychische Erkrankung. Luise, die in einem atheistischen Haushalt aufgewachsen ist, sucht in einer akuten Krisensituation ein christliches Hilfswerk auf. Als sie noch tiefer in eine krisenhafte psychische Verfassung gerät, macht sie eine »Lebensübergabe an Jesus« (Z. 381). Luise wird von verschiedenen Wundern, die sie dem Wirken Gottes zurechnet, restlos vom neuen Glauben überzeugt und bleibt trotz weiterer Schicksalsschläge in ihrer Gemeinde verwurzelt. Zunächst fällt auf, dass Luises Start ins Leben von ihr selber als »sehr unglücklich« (Z. 6) bezeichnet wird. Selbst in der heutigen Gesellschaft stellt die Geburt durch eine Jugendliche, die auf sich allein gestellt (Z. 8) ist und sich nicht um ihr Kind kümmert, eine ungünstige Ausgangssituation dar ; angesichts der damaligen Gesellschaftsmoral ist das Stigma jedoch noch um einiges größer. Luise hat also noch Glück im Unglück, dass die Großmutter sie aufzieht; allerdings steht in den letzten harten Kriegsjahren die materielle und nicht etwa die emotionale Versorgung im Vordergrund. Luise muss nicht nur der Großmutter bei deren Arbeit zur Hand gehen, sondern darbt auch nach Zuwendung, obschon sie physisch versorgt ist. So konstatiert sie, dass sie lieber materielle Mängel in Kauf genommen hätte, wenn sie »auch mal die Oma aufn Schoß genommen« hätte (Z. 24–25). Dementsprechend ist ihre Schilderung von Relativierungen des Glücks, von der Großmutter aufgenommen worden zu sein, und dem Schlüsselwort »aber« (vier Mal in Z. 14–27) gekennzeichnet: »[D]ie haben’s alle gut gemeint.. aber, äh.. ja« (Z. 27). Gut gemeint ist offensichtlich nicht gut gehandelt, und wenig überraschend wendet sie sich bereits als Jugendliche einem »sehr liebevoll[en]« Mann zu (Z. 30), den sie bald heiratet und mit dem sie drei Kinder bekommt. Für einige Zeit scheint ihr Bedürfnis nach einer stabilen Bezugsperson und Zuwendung gestillt, die Ehe verläuft nach ihrer Aussage »wirklich glücklich« (Z. 42), bis sie erfährt, dass ihr Mann sie hintergeht. Die daraus resultierende Trennung von ihrem Mann leitet eine negative Verlaufskurve637 ein, und zwar nicht nur für sie, sondern auch für ihre drei Kinder, für die die Ereignisse einen »Schock« (Z. 131) darstellen. Sie schildert, dass ihre Kinder sich geradezu mütterlich und aufopferungsvoll um sie kümmern (Z. 143) und sehr »liebevoll« um sie sorgen (Z. 145). Nun ist es nicht unbedingt verwunderlich, dass die Kinder versuchen, nach dem Zerbrechen der Ehe und dem Verrat durch den Vater der Mutter beizustehen. Allerdings weist die Tatsache, dass sie sich permanent um diese bemühen, darauf hin, dass sie sich sehr große Sorgen um sie machen. Und noch etwas wird deutlich: Offensichtlich schafft es Luise nicht mehr, sich vollständig um ihre Kinder zu kümmern. Die Rollen von Eltern und Kind werden zumindest temporär vertauscht; 637 Eine Verlaufskurve ist »das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz«, Schütze (1983), S. 288.

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Luise rechnet die Verantwortung dafür ihrem Mann zu (Z. 137–138). Ihre Kinder sind jedoch damit de facto ohne jemanden, der eine elterliche Rolle übernimmt, und leiden unter der familiären Instabilität (ein häufig vorzufindendes Phänomen nach plötzlichen und krisenhaften Trennungen der Eltern). Dies zeigt schnell eine negative Wirkung, denn eine ihrer Töchter gerät wie sie in eine negative Verlaufskurve, stürzt psychisch ab (»ne steile Kurve abwärts«), entwickelt selbstverletzendes und anorektisches Verhalten und beginnt, sich in schlechter Gesellschaft aufzuhalten: »Also es ging alles nur bergab« (Z. 207). Luise schildert, dass sie das Geschehen extrem belastet. Tatsächlich kommt sie an einen Punkt, wo sie denkt: »›Nee, ich kann nicht mehr.‹« (Z. 212). Auf der Suche nach Wegen, um ihrer psychisch erkrankten, anorektischen Tochter zu helfen, die oft tagelang von Zuhause verschwindet, wird ihr eine recht unbekannte Anlaufstelle genannt – in ihrer Verzweiflung kontaktiert sie diese, ohne genau zu wissen, worum es sich dabei handelt (Z. 236). Die Anlaufstelle gehört zu einem christlichen Hilfswerk, und der Mitarbeiter (oder Luise selber in der Retrospektive) schreibt die Kontaktaufnahme einem »Wunder« zu (Z. 247–248), wie Luise detailgetreu erzählt. Ob es sich bei dieser Schilderung um eine nachkonversionelle Deutung Luises handelt (die wortgetreue Wiedergabe wörtlicher Zitate fast vierzig Jahre später erscheint zumindest schwierig), ob sie Ausdruck des Glaubens des Mitarbeiters selber ist oder aber von dessen Seite missionarischen Erwägungen geschuldet ist, um den Glauben an das Schicksalhafte der Begegnung zu betonen, lässt sich nicht mehr ermitteln. Wichtig ist nur, dass Luise selber es in der Retrospektive offensichtlich als göttliche Fügung verbucht. Im Laufe der Fallanalyse erhärtet sich die Vermutung, dass sich Luise in der Zeit nach der Trennung einer schweren krisenhaften Verfassung bis hin zu möglichen Suizidgedanken befindet, wenn sie als »Lebensanstrieb« (Z. 252) das Bangen um ihre Tochter benennt, später sogar ausführt, dass diese Fürsorge für sie »[ü]berlebens«-notwendig war (Z. 254). Diese Begriffe deuten darauf hin, dass die Sorge um ihre Tochter das ist, was sie am Leben erhält, nachdem sie durch den Verrat ihres Mannes die wichtigste Bezugsperson und Sicherheit ihres Lebens verloren hat. In dieser Extremsituation greift der Mitarbeiter der christlichen Hilfsorganisation zu einer kontroversen Missionsstrategie, indem er die verzweifelte Mutter dazu auffordert, die Bibel zu lesen, während er im Gegenzug ihrer Tochter hilft (Z. 263–264). Nun wären gedankenexperimentell638 verschiedene Szenarien denkbar : Dass Luise dem Mitarbeiter den Gefallen tut, in der Bibel liest, aber die Lektüre keinen 638 In Anlehnung an Wohlrab-Sahr wende ich die Analyseform des Gedankenexperimentes nicht nur auf die Fortsetzung von Sequenzen, sondern auf den weiteren lebensgeschichtlichen Verlauf bzw. dessen Fortsetzung an, vgl. z. B. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 236ff.

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weiteren Einfluss auf ihr Leben hat. Eine andere Möglichkeit wäre, dass über die Bibellektüre hinaus der Glaube in Luises schwieriger Situation eine stabilisierende Funktion erfüllt und sie sich ihm trotz ihrer anfänglichen starken Vorbehalte annähert. Tatsächlich geschieht letzteres, wobei offensichtlich die Kombination aus sozialer Fürsorge639 und emotional ansprechenden Inhalten, konkreter gesagt, der in Aussicht gestellten Liebe Gottes, ausschlaggebend ist. Sie findet nämlich beim Bibellesen eine Stelle, die sie erschaudern macht und tief ergriffen zurücklässt: »So hat mich.. dieses Wort, äh.. ich, heute weiß ich, Gottes Worte haben Kraft! […] [Berichtet von einer Bibelstelle, durch die ihr klar wird, dass Gott ihr himmlischer Vater ist]. Also ich war überwältigt.« (Z. 266–273). Der Mitarbeiter des Hilfswerks schafft es, die Tochter zumindest vorübergehend zu stabilisieren (Z. 273–274). Der Mutter empfiehlt er sein Hilfswerk, wenn diese sich mal die Sorgen vom Leib reden wolle (Z. 275–278) – ein Angebot, was Luise kurze Zeit später annimmt, als die Verzweiflung sie erneut überwältigt. Sie wird dort »sehr liebevoll« (Z. 282) empfangen. Eine Mitarbeiterin weist sie jedoch darauf hin, dass sie eine Verbindung zu Gott brauche: »›Sie müssen erst mal Ihre Beziehung mit Gott klären, bevor Sie Ihrer Tochter helfen können.‹« (Z. 283–284). Das von Luise vorher erwähnte Bibelzitat findet sich in dieser Form nicht in der Bibel. Hier zeigt sich das Phänomen, dass nicht unbedingt entscheidend ist, was real gelesen wurde, sondern, wie es rezipiert wurde.640 Luise erlebt, dass Gott durch die Bibel zu ihr spricht; und zwar in einer Weise, die ganz allgemein den Wunsch nach Zuneigung und Fürsorge, zumal in einer Krisensituation, erfüllt, aber auch ganz spezifisch den nach (elterlicher) Geborgenheit. Ihren menschlichen Vater hat Luise nie gekannt, stattdessen war ihre Kindheit vom Mangel an Zuwendung geprägt. Gott tritt ihr hier als persönliches Gegenüber in Form eines liebenden Vaters entgegen, doch ist sie den endgültigen Schritt zur Konversion noch nicht gegangen; dafür ist weitere menschliche Unterstützung vonnöten. Tatsächlich ist ihre Entscheidung, sich bei der christlichen Hilfsorganisation Hilfe zu holen, von extremer Verzweiflung getrieben. Die Mitarbeiterin eröffnet ihr, dass sie ihrer Tochter erst helfen könne, wenn sie »ihre Beziehung mit Gott« kläre. Des Weiteren wird Luise auf eine literalsinnorientiert-freicharismatische Gemeinde aufmerksam gemacht. Zu ihrer großen Verwunderung stellt Luise fest, dass in besagter Gemeinde ein sehr geschätzter Bekannter von ihr als Ältester aktiv ist (Z. 311–315). Ob es sich dabei tatsächlich um einen Zufall handelt oder nicht – auf jeden Fall erhärtet die Tatsache, dass sie den Ältesten der ihr empfohlenen Gemeinde kennt, Luises Glauben an eine göttliche Lenkung des Geschehens. Als Luise ihren 639 Vgl. dazu Kerns Ausführungen zum sog. »›Love-Bombing‹«, Kern (1998), S. 65. 640 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999b), S. 486f.

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Vertrauten besucht, benutzt dieser nach Luises Schilderung die gleichen Worte wie der Mitarbeiter des christlichen Hilfswerks, nämlich, dass sie erstmal ihre »Beziehung mit Gott klären« müsse, bevor sie ihrer Tochter helfen könne (Z. 344–345). Hier gilt wieder : Auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass die Wortwahl wirklich eins zu eins die gleiche war, ist hier entscheidend, an was Luise sich erinnert und wie es das weitere Konversionsgeschehen beeinflusst. Neben diesen verbalen »Zeichen« ist jedoch weiterhin der Aspekt der menschlichen und göttlichen Zuwendung für Luises Konversion wichtig. Luise denkt daran, aufzugeben (»Weil ich einfach dachte ich kann nicht mehr«, Z. 363–364), sie ruft sich aber gedanklich mit der Sorge um ihre Tochter zurück, die dann »völlig alleine« wäre (Z. 370). Sie beschliesst, sie müsse es nun mit »diesem Gott versuchen« (Z. 371), und bittet ihren Bekannten, in einem Zustand völligen »Elend[s]« (Z. 377), um Hilfe. Der Betreffende rät der verzweifelten Frau, eine »Lebensübergabe an Jesus zu machen« (Z. 381), was sie auch tut, ohne zunächst über Grundkenntnisse des christlichen Glauben zu verfügen: »Ich hab gesagt: ›[…] Ich hab noch nie gebetet, weiß ja gar nicht, wie das geht!‹ […] Und dann hat er mir wirklich Satz für Satz vorgebetet, ich hab wirklich.. ne Lebensübergabe gemacht, hab gesagt: ›Jesus, […] ich bin so am Ende, also bitte. Bitte übernimm mein Leben!‹« (Z. 380–387).

Luise berichtet, dass nach dieser Lebensübergabe ihre Depression »fort-gezaubert« (Z. 392) ist; dazu bezeichnet Herr Y sie beide als Glaubensgeschwister und bietet ihr weitere Unterstützung an, was großen Eindruck auf sie macht. Luise gewinnt also nicht nur Gott als persönliches Gegenüber, sondern noch eine weitere Respekts- und Autoritätsperson begibt sich auf eine familiäre Ebene mit ihr. Dass dies auf Luise, die nicht nur keine Vaterfigur hatte, sondern durch die Trennung auch gerade eine weitere (männliche) Bezugsperson verloren hat und sich insgesamt in einer verzweifelten Krisensituation befindet, eine starke Attraktion ausübt, ist nachvollziehbar. Luise überträgt in der Retrospektive die Verantwortung für nahezu alle Vorgänge, die sie dem Glauben näher bringen, Gott – auch, wenn es sich um ihre eigenen Entscheidungen handelt: »Gott hat das so gemacht, ich bin immer dann.. […] in den Hauskreis« (Z. 401–402). Die starke Betonung ihres familiären Verhältnisses zu Gott zieht sich durch das gesamte Interview : »Okay.. Also.. hat Gott, Gottes Wege sind so, also, ich bin jetzt so lange Gottes Kind, aber er kriegt es bis heute immer noch hin, dass ich von den Socken bin« (Z. 419–421). Nach »Gottes Wege sind« würde man die formelhafte Fortsetzung »unergründlich« erwarten. Sie sind aber nicht einfach nur unergründlich im Sinne von unverständlich; vielmehr kommt hier zum Ausdruck, dass Gott überraschende Wege findet, um Luise Gutes zu tun. Die sehr umgangssprachliche Weise, von Gott zu sprechen, »er kriegt es […] hin«, unterstreicht zudem die familiäre Bindung. Sie

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antizipiert mit ihrer Aussage jedoch auch den letzten Abschnitt ihres Konversionsprozesses, der sich auch nach ihrem eigenen Dafürhalten in Etappen vollzog.641 Die nach der Trennung von ihrem Mann materiell nicht abgesicherte Luise (Z. 413–414) bekommt die Chance, an einem Bewerbungsverfahren für einen Job teilzunehmen.642 Da Luise eine Arbeit braucht, sieht sie sich von »Existenzangst« (Z. 465) geplagt, befindet sich also erneut in einer instabilen und prekären emotionalen und physischen Ausgangssituation. Wieder wendet sie sich in ihrer Not an ihren Vertrauten, der ihr zur Bibellektüre rät. Durch Zufall stolpert sie über eine Bibelstelle, die sie dazu auffordert, auf Gott zu vertrauen. Luise sieht ein Zeichen darin: »›Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht, und der himmlischer Vater ernährt sie doch.‹« (Z. 477–479). Die überwältigte Luise bietet Gott einen Tauschhandel an; wenn er sie sicher durch das Verfahren führe, sei sie restlos von seiner Existenz überzeugt (Z. 494). Luise meistert die Herausforderung mit Bravour und setzt sich gegen alle Konkurrentinnen durch, was sie – noch bei der Nacherzählung sichtlich bewegt – als unerklärliches »Wunder« (Z. 496) bezeichnet. Hier bündeln sich sämtliche bislang herausgearbeitete Faktoren für Luises Konversion: Existenzielle Nöte, denen sie sich nicht alleine gewachsen sieht; eine tiefe Depression, die sie lebens- und handlungsunfähig zu machen droht; die soziale Rückkopplung an religiöse Bezugspersonen; »schicksalhafte« Zeichen in Form passender Aussprüche und Zitate und nicht zuletzt in Gestalt von als Wundern empfundenen Ereignissen; ein familiäres Verhältnis zu Gott, der die Funktion eines signifikanten Anderen einnimmt, mit dem man sich über lebenspraktische Belange austauschen und »Händel« abschließen kann, und die Delegation von Verantwortung an Gott – denn anstatt sich vorzubereiten, betet sie. Da sie den anschließenden Erfolg im Verfahren Gott zuschreibt, ist für sie der Konversionsprozess abgeschlossen: Sie gehöre ab nun Gott »von Kopf bis Fuß« (Z. 505–506). Gott hat damit seinen Teil des Versprechens eingelöst, Luise löst ihren ein. Auffällig ist dabei, dass sie Gott weniger dankt als vielmehr eine Formulierung (»von Kopf bis Fuß«) gebraucht, die sehr körperlich ist und auf den lebenspraktischen Bezug ihrer Konversion verweist. Nicht eine spirituelle Suche oder ein jenseitiges Heilsversprechen, sondern die ganz konkrete Lebensbewältigung und -stabilisierung stehen bei Luises Weg ins literalsinnori-

641 »Na ja. Also des war der Anfang von dem neuen Lebensweg… Und um die ganze Sache wirklich etwas.. abzukürzen, es hat natürlich gedauert« (Z. 407–408). 642 Interessant ist auch hier wieder das bei Luise immer wiederkehrende Motiv, dass bei schicksalhaften Wendungen verschiedene Personen identische Aussagen treffen. Hier ist es die von verschiedenen Personen gestellte Frage, warum sie sich nicht beim betreffenden Arbeitgeber bewerbe (Z. 425–426 und Z. 439–440).

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entiert-freicharismatische Christentum und ihrem Verbleiben darin im Vordergrund. Tatsächlich besteht ihre weitere Erzählung hauptsächlich aus Schilderungen der Wunder, die Gott für sie wirkt und die stets die Antwort auf existenzielle Fragen bieten: Sei es, dass sie durch »Gottes Führung« (Z. 528) eine weitere Arbeit bekommt, sei es, dass sie andere Menschen zum Glauben führen kann (Z. 555–584); jedwede weitere Entwicklung entspringt nach Luises Empfinden Gottes Führung und Hilfe. Auch, dass sie in materiellen Notlagen von Mitmenschen mit materiellen Gütern versorgt wird (Z. 642–673, Z. 719–748 und Z. 975–996) oder Aufmerksamkeiten geschenkt bekommt (Z. 773–812), führt sie auf Gott zurück. Rein menschliche Ursachen für die erfahrene Unterstützung, wie z. B., dass ihr Umfeld ihre existenzielle Not wahrnimmt und ihr deswegen hilft, werden von Luise nicht in Erwägung gezogen. Nach den Veränderungen durch ihre Konversion befragt, antwortet sie daher folgerichtig: »Ich lebe so geborgen. Ich lebe so was von in Sicherheit. Ich… Tja, also. (Atmet aus).« (Z. 756–757). Geborgenheit, Sicherheit und Stabilität – Aspekte, die dem ungewollten Kriegskind stets gefehlt hatten und die sie vorübergehend in ihrer Ehe gefunden und verloren hatte – stehen hier im Vordergrund. Gott und Jesus sind ihre Versorger und übernehmen damit auch die klassische Rolle einer männlichen Bezugsperson, welche in Luises Leben ebenfalls nur temporär vorhanden war, nach der sie sich jedoch offensichtlich sehnt. Dafür spricht auch die starke Personifizierung der beiden Entitäten, welche über das literalsinnorientiert-freicharismatische Durchschnittsmaß noch hinausgeht, etwa wenn sie von Jesus als ihrem »Ritter« (Z. 808) spricht, davon, dass sie ihre Freigiebigkeit von Gott »beigebracht« (Z. 928) bekommen habe oder dass sie, als sie Jesus bittet, ihr bei einem Problem im Haushalt zur Seite zu stehen, zu diesem sagt: »›Na Jesus, und jetzt? […] [Erzählt von einem Haushaltsproblem]. Das will ich dann nicht haben und Du sicher auch nicht. Also, Jesus, jetzt bist Du gefragt.« (Z. 945–947). In nachfolgenden Sequenzen bestätigen sich alle aufs der Analyse gewonnenen Hypothesen, etwa, dass sie die Verantwortung auch für ihr eigenes Handeln bei Gott sieht (Z. 1278–1287), und auch, dass Gott für sie die Rolle des allgegenwärtigen Versorgers einnimmt und sie alle erfahrenen Wohltaten ihm und nicht den ausführenden Menschen zurechnet (Z. 1287–1359), vor allem aber, dass die persönliche Beziehung zu Gott wie auch die erfahrenen Wunder ihr Leben und ihre psychische Verfassung grundlegend stabilisiert haben. Nach den für sie wichtigsten christlichen Werten befragt, antwortet Luise: »Welche christlichen Werte? Na, also ich bin, ich bin völlig glücklich.. Gott ist mein Vater, der mich liebt, der mich bedingungslos liebt, bedingungslos […]. Ja? Jesus, sein geliebter Sohn, hat mich erlöst, gerettet, befreit.« (Z. 1387–1389). Die Annahme, dass sie in Gott eine allgegenwärtige, verlässliche und dauer-

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hafte Bezugsperson und damit eine existenzielle Grundstabilität findet, die sie vermisst hat, findet auch nachfolgend weitere Bestätigung, sie thematisiert sogar den fehlenden Vater, ohne jedoch einen Bezug zu ihrer Konversion an sich herzustellen: »Aber, ich bin in Gott so was von sicher.. Also, ich, puh, mir fehlen die Worte. Also, ich, mich könnte niemand.. mit allem was ich brauche, auch wenn’s Emotionen sind. So.. ich fühl, ich bin so geborgen […] Es gibt viele ältere Geschwister, die fühlen sich einsam und […] [sind traurig]. Auf so eine Idee würd ich überhaupt nie, das geht nicht! Also ich hab so.. eine liebevolle Beziehung.. zu Gott und gerade […] weil ich ohne Vater aufgewachsen bin […], ja? […] Bin ich so ’n echtes Papakind.« (Z. 1435–1447).

Offensichtlich empfindet Luise nicht das Fehlen von Bezugspersonen und ihre schwere Lebenskrise als Ursache für ihre Konversion, sondern die Befriedigung des entsprechenden Bedürfnisses nach Zuwendung als Folge der richtigen Entscheidung: der Entscheidung für Gott. Zuletzt möchte ich kurz die Frage nach funktionalen Äquivalenten zu ebenjener Funktion aufgreifen. Ein immer wieder von außen herangetragener Vorwurf besteht darin, dass die Praktiken charismatischer Gemeinden ihre Gläubigen von weltlichen Hilfeangeboten wie ärztlichen Behandlungen oder Psychotherapie abhalten würden und sich daher langfristig Problematiken verschlimmern würden. Oder, um Mertons kritische Beobachtung aufzugreifen: »Diejenigen Funktionalisten, die von ihrer Theorie gehalten sind, nur auf die Auswirkung solche symbolischer Praktiken auf den Gemütszustand des Einzelnen zu achten, und daher zu dem Schluß kommen, die magische Praxis sei funktional, vernachlässigen den Tatbestand, daß eben diese Praktiken gelegentlich an die Stelle wirkungsvollerer Alternativen treten können«643. Nun habe ich ja in meinen Grundlagen zur Forschung dargelegt, dass ich von der Funktionalität für die Betreffenden ausgehe; insofern ist also letztlich irrelevant, ob es von einer externen Beobachter_innenperspektive aus »wirkungsvollere[…] 643 Merton (1995), S. 32. Merton gibt an, »diese Aussage in voller Kenntnis der Beobachtung Malinowskis […], daß die Trobriander ihre magischen Überzeugungen und Praktiken nicht durch Anwendung rationaler Technologie ersetzt haben«, zu treffen. Nach Malinoswkis Definition würden die obengenannten Anrufungs- und Heilungspraktiken übrigens zumindest partiell unter den Begriff der »Magie« fallen. Magie setzt sich nach Malinowski (1983) aus Handlungen zusammen, die auf das Erlangen eines bestimmten Ziels gerichtet sind (S. 54f.) ähnlich wie bei der Wissenschaft ist Magie zielorientiert (S. 70), der Mensch und seine Macht stehen im Mittelpunkt (S. 72) während religiöse Handlungen nicht zielgebunden sind (S. 71f.) und für die Religion das »›Anrufen höhere Gewalten‹« (S. 22) sowie ein komplexes Glaubenssystem kennzeichnend sind (S. 72). Darin spiegeln sich selbstverständlich auch evolutionistisch-kolonialistische Denkmuster wieder. Interessant ist jedoch hier, dass gerade in der Word-of-Faith-Theologie im Grunde eine Synthese des Konzeptes, höhere Mächte anzurufen, und dem Gedanken, dass der Mensch und seine Macht im Mittelpunkt stehen, gegeben ist.

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Alternativen« gäbe. Die Beantwortung der Frage, ob »weltliche« Lösungsmodelle zugunsten von »Wundern« – beziehungsweise der Hoffung auf solche – verworfen werden, erscheint mir an dieser Stelle aber dennoch interessant. Schließlich wäre ja auch denkbar, dass bei einer einseitigen Konzentration auf literalsinnorientiert-freicharismatische Lösungsmodelle die gewünschten Effekte nicht (immer) eintreten und die Funktion zur Dysfunktion wird (und möglicherweise sogar die Bindung der Betreffenden an die religiöse Strömung erschüttert).644 Aus meinen Beobachtungen heraus wird jedoch zumindest bei physischen Krankheiten ein zweifacher Weg gegangen; insofern schulmedizinische Ansätze möglich sind, werden diese wenigstens bei schwereren Erkrankungen parallel ebenfalls angewandt, während bei unspezifischeren Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen, Erschöpfungszuständen etc. oft lediglich auf Gebet und Heilung gesetzt wird. Eine radikale Ablehnung schulmedizinischer Behandlung konnte von mir an keiner Stelle festgestellt werden, wohl aber werden bei jeder Krankheit unterstützend Gebete gesprochen und teilweise auch versucht, Krankenhäuser bzw. die Patient_innen selber von Dämonen freizubeten. Tatsächlich glauben die meisten freicharismatischen Christ_innen zumeist nicht nur daran, dass Gebete und andere Heilungsrituale da helfen können, wo Schulmedizin versagt, sondern auch, dass deren Scheitern (wie auch das Scheitern von Heilungsritualen) dämonisch induziert sein kann. Im Grunde ist also der Umgang mit Erkrankung und Heilung ein sehr pragmatischer, da parallel mehrere Lösungswege versucht werden. Im Übrigen wird analog dazu auch bei anderen Problematiken, welche nicht mit physischen Leiden zu tun haben, auf einen zweifachen Weg gesetzt: Bei finanziellen oder beruflichen Problemen wird z. B. dennoch auch versucht, diese gleichzeitig auch weltlich anzugehen. Das Gleiche gilt zumeist für nahezu sämtliche irdischen Probleme, mit denen sich Menschen konfrontiert sehen, seien es Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, das Bestehen von Prüfungen, das Händeln spontaner Herausforderungen oder schulischer Schwierigkeiten der Kinder – die Liste ließe sich unendlich fortführen. Gerne wird hervorgehoben, dass Gott (meist in der persona des Heiligen Geistes) in Situationen hilft, in denen weltliche Interventionen nicht mehr möglich sind – etwa bei schulmedizinisch nicht (mehr) wirkungsvoll behandelbaren Krankheiten, aussichtslos erscheinenden Prüfungen oder anderen Schwierigkeiten, die mit diesseitigen Mitteln unlösbar erscheinen. Diese Herangehensweise gilt zumeist nicht für psychische Erkrankungen und andere Problematiken, die in den Bereich therapeutischer Aufarbeitung fallen, 644 Selbstverständlich spiegelt sich hier die Perspektive der Autorin wieder, die infrage stellt, ob nur mit religiösen Mitteln alle Krankheiten geheilt werden können.

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da ein starker Vorbehalt gegenüber Psychotherapie und äquivalenten Methoden zu beobachten ist. Auch bei schwereren psychischen Problematiken oder Traumata wird, zumindest nach offizieller Lesart, weitgehend auf psychotherapeutische/psychiatrische Hilfe verzichtet und stattdessen auf die Lebensübergabe an Gott, die Heilung durch den Glauben und das Gebet und meist auch die heilende Kraft der Aussöhnung mit etwaigen Täter_innen gesetzt. Oft übernehmen auch die Pastor_innen einen Teil der psychotherapeutischen Aufgaben, etwa durch Einzel- und Paargespräche. Dass die Bewältigung von psychischen Krisen und Lebensstabilisierung durch Konversion unter Umständen jedoch oft einen lediglich temporären Charakter aufweist, ist ein in der Konversionsforschung bereits beschriebenes Phänomen. So schreibt Wohlrab-Sahr, die eine Studie von Witztum, Greenberg und Dasberg hinsichtlich psychisch belasteter Konvertiten zum Judentum von 1990 anführt: »Im Verlauf der Krankheitsgeschichte dieser Patienten hatte die Konversion zunächst den Effekt, die Pathologie zu vermindern, allerdings tauchten im Zuge der >Normalisierung< des religiösen Lebens und des Eingehens von Alltagsverpflichtungen (wie Heirat) innerhalb einiger Jahre die alten Symptome wieder auf«645. Dessen ungeachtet bleibt jedoch die subjektive Funktionalität der Konversion als Problemlösung (auch wenn sie in der Regel nicht als solche bezeichnet wird) im Selbsterleben der Betreffenden oft erhalten, wie sich bei Camilla zeigt, bei der die gefühlte Lebensstabilisierung durch eine enge Bindung zu Gott erfolgt. So stark damit verwoben, dass mir hier eine Trennung nicht sinnvoll erschien, zeigen sich bei ihr zudem später näher beschriebene Funktionen C der innerfamiliären Positionierung und E der sozialen Einbindung: Camilla Camilla wird Anfang der 70er Jahre in der DDR geboren, wo sie auch mit ihrem Bruder aufwächst. Die Mutter ist Angestellte, der Vater hat eine leitende Position im nicht-akademischen Bereich inne. Beide sind atheistisch, nur ein Onkel ist christlich. Ihre Kindheit wird von den hohen Ansprüchen der Eltern geprägt, und sie hat zeit ihres Lebens mit starkem Leistungsdruck zu kämpfen. Beruflich absolviert sie problemlos eine herausfordernde Ausbildung und auch privat scheint sie erfolgreich. Tatsächlich aber hat sie viele Jahre Suchtprobleme, verzweifelt an ihrem Leben und ihrem internalisierten Leistungsanspruch. Später bekehrt sie sich in einer literalsinnorientierten Gemeinde mit Mitte zwanzig zum Christentum. Sie lernt ihren späteren Mann, ebenfalls

645 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 53.

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literalsinnorientiert-christlich, kennen, und »invertiert«646 einige Jahre später zum freicharismatischen Christentum. Camilla zeichnet das Bild einer Kindheit, welche von einer Vielzahl von Freizeitaktivitäten geprägt ist und die sie als »sehr behütet« (Z. 4) beschreibt. Interessant ist, dass sie nach Aufzählung ihres gesamten Aktivitätenspektrums sagt: »Ich war hobbymäßig sehr aktiv […] das hat mir auch Spaß gemacht« (Z. 6–7). Das Wort »auch« an dieser Stelle verwundert. Auch Spaß macht etwas, was entweder mit anderen zusammen unternommen oder was eben nicht nur Spaß macht. Da die erste Interpretation bei den angegebenen Hobbys eher unwahrscheinlich ist,647 liegt die Deutung nahe, dass diese ihr auch, aber eben nicht nur Spaß machen. Dies wirft die Frage auf, warum sie sich so zeitintensiven Freizeitbeschäftigungen widmet, wenn diese ihr nicht nur Freude bereiten – dies kann ein Indiz für familiären und sozialen Druck sein, aber auch dem Wunsch entspringen, durch Leistung Anerkennung zu bekommen. Das Bild der behüteten Kindheit stellt sich beim näheren Hinsehen als weniger idyllisch als zuerst beschrieben heraus: »[I]ch war ein recht ängstliches Kind, also ich hab mir viel Druck gemacht so mit schulischen Leistungen und wollte immer ganz toll sein und hab jetzt von, mein Papa war eher streng, so wenig Lob so bekommen, aber trotzdem, er ist halt einfach, meine Eltern, die haben wirklich, also von dem, was sie konnten, ihr Bestes gegeben.« (Z. 10– 14).

Camilla bestätigt also die gedankenexperimentell bereits aufgeworfene Vermutung, dass sie versucht, über Leistung Anerkennung zu bekommen – offensichtlich nur mit mäßigem Erfolg, was letztere anbelangt. Sie nimmt ihre Eltern in Schutz, schränkt jedoch zugleich deren wahrgenommene Handlungsfähigkeit stark ein: »[V]on dem, was sie konnten, ihr Bestes gegeben«. Offensichtlich reicht dieses Beste nicht aus, um Camilla genug Lob, Anerkennung und ein positives Selbstwertgefühl zu vermitteln.648 Interessanterweise antwortet sie bei der Frage nach der Religiosität in ihrem Elternhaus auch nicht mit den Eltern, sondern mit dem Onkel, der christlich ist und ihr auch von seinem Glauben erzählt (Z. 32). Dies weist darauf hin, dass der Onkel eine wichtige Rolle in der Kindheit des Mädchens gespielt hat, denn interessanterweise lässt sie die Frage 646 Vgl. Feldtkeller (1993), S. 39, Anführungszeichen in modalisierender Funktion. Inversion bezeichnet nach Feldtkellers Definition die »weitreichende Veränderung bei der Auswahl aus den innerhalb einer Religion zur Verfügung stehenden Überzeugungsgehalten, was normalerweise den Positionswechsel in einem systeminternen Konflikt bedeutet«. 647 Die von ihr erzählten Aktivitäten werden in der Regel eher alleine ausgeübt. 648 Entwicklungspsychologisch wird ein Kind u. a. dann als »emotional vernachlässigt eingestuft«, wenn »die Eltern unangemessene Anforderungen an das Kind stellten« oder »die Eltern-Kind-Beziehung durch einen Mangel an Wärme gekennzeichnet war«, Julius (2009), S. 19.

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nach ihren Eltern auch im Folgenden unbeantwortet, man kann aber indirekt schlussfolgern, dass die Eltern nicht gläubig, sondern eher sozialistisch-atheistisch orientiert waren. Denkbar wäre gewesen, dass sie sich in der oft rebellischen Adoleszenz verstärkt dem durch den Onkel positiv besetzten Christentum zu- und von dem Sozialismus der Eltern abwendet, doch das Gegenteil geschieht zunächst. Es ergeben sich gedankenexperimentell649 für ihren weiteren Lebensweg folgende Möglichkeiten: 1. Camilla wendet sich einem materialistischen Weltbild zu, in welchem Erfolg und Leistung bestimmend sind, um die ihr seit ihrer Jugend versagte Anerkennung der Eltern zu erringen sowie ihr Selbstwertgefühl zu stärken. 2. Camilla löst sich nach ihrer angepassten Teenagerzeit endgültig von den Werten des Elternhauses und wählt einen alternativen Lebensstil, der leistungskritisch eingestellt ist. 3. Camilla versucht, das Leistungsprinzip auf eine andere Ebene, z. B. die religiöse, im Sinne einer »Alternativkarriere«650 zu verlagern. Zunächst scheint sich Möglichkeit 1 zu erfüllen. Camilla lebt ein »nach außen« in jeglicher Hinsicht erfolgreiches und leistungsorientiertes Leben, in welchem sie beruflichen Erfolg und Freund_innen hat und ihr alles gelingt. In ihr selbst sieht es aber anders aus, denn sie verspürt »innerlich, also sehr viel Leistungsdruck und äh, dachte, ich muss immer irgendwie erfolgreich sein.« (Z. 50–51). Der Preis, den sie jedoch dafür zahlt, ist hoch. Sie erkrankt bereits als Jugendliche an einer Suchterkrankung, die sich über Jahre hinzieht: »[Ä]h war ich ziemlich krank […]. Und war dann […] also ziemlich am Ende« (Z. 44–46). Camilla zeichnet ein beeindruckendes Bild ihrer Verzweiflung, die sie schließlich sogar beten lässt (Z. 46–47). Wieder stellt Camilla der schönen Fassade die Realität hinter den Kulissen gegenüber ; war es am Anfang der Kontrast zwischen der scheinbar behüteten Kindheit und den strengen Eltern sowie dem starken Leistungsdruck, ist es hier der Kontrast zwischen den gravierenden Suchtproblematiken, psychischen Problemen und dem nach außen hin erfolgreichen Leben. Später wird sie das noch drastischer ausdrücken, wenn sie sich als »kaum noch lebensfähig« (Z. 58) beschreibt. Interessant ist, dass anders als in der Erzählung über ihre Kindheit, die Schilderung über ihre Problematik die Erfolgsgeschichte gleichsam einrahmt. Dies zeigt m. E., wie dominant diese Problematik zu diesem Zeitpunkt geworden ist, akzentuiert aber auch die Tatsache, dass sie sich an Gott wendet, welche 649 In Anlehnung an Wohlrab-Sahr wende ich die Analyseform des Gedankenexperimentes nicht nur auf die Fortsetzung von Sequenzen, sondern auf den weiteren lebensgeschichtlichen Verlauf bzw. dessen Fortsetzung an, vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), z. B. S. 236ff. 650 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 227.

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ebenfalls der Erfolgsgeschichte sowohl voran- als auch nachgestellt wird. Camilla benennt aus der Retrospektive Leistungsdruck und »wenig Selbstwertgefühl« (Z. 54) als Ursache für ihre Probleme. Unschwer lässt sich die direkte Fortsetzung der Kindheitsproblematik der mangelnden Anerkennung der Eltern, insbesondere des Vaters erkennen. Camilla führt aus, dass sich, sobald sie sich an Gott gewandt hat, ihre Suchtproblematik bessert, etwas, was sie nach eigener Aussage jedoch zunächst kaum selber realisiert (Z. 60) habe. Dass sie die Besserung selber als solche kaum realisiert haben will, mutet für Außenstehende seltsam an. Nach einer so schwerwiegenden Symptomatik, bei der sich die betreffende Person selber als »kaum noch lebensfähig« einstuft, ist schwer vorstellbar, dass eine Verbesserung nicht deutlicher erlebt wird. Offensichtlich wird hier in der Retrospektive die Besserung Gottes Eingreifen zugeschrieben und erhält daher diesen unbewussten, wenig willentlichen und eher passiven Anstrich. Die beginnende Genesung wird von Camilla nicht auf ihr aktives Handeln, sondern auf ihre Zuwendung zu Gott zurückgeführt und geschieht scheinbar ohne ihr Zutun, während die Wortwahl tatsächlich nahelegt, dass sie zu diesem Zeitpunkt zumindest bereits versuchte, ihre Problematik zu bekämpfen. Hier zeigt sich das u. a. von Ulmer in Anlehnung an Snow/Machalek beschriebene Phänomen, »daß der Konvertit mit der Konversion einen neuen Schlüssel für die Deutung seiner Biographie erworben hat«651. Dieser rückwirkend angewandte Schlüssel führt dazu, dass die Darstellung von der nachkonversionellen Perspektive geprägt ist und, wie oben beschrieben, an einigen Stellen von außen betrachtet unstimmig oder lückenhaft wirkt. Diese Diskrepanz zwischen dem aktiven Handeln, das ihrer Lebensgestaltung zugrunde liegt,652 und der postkonversionellen Deutung als höhere Fügung findet sich auch nachfolgend in der Schilderung, wie sie sich einige Zeit später ihr Ziel »verwirklicht« (Z. 61) und für längere Zeit ihre Heimatstadt verlässt und in eine größere Stadt geht. In der Schilderung ihres Erstkontaktes mit der christlichen (literalsinnorientierten) Gruppierung, zu der sie konvertiert, wird jedoch ihr Entschluss eher passiv dargestellt (»bin dann in X gelandet«, Z. 67). Dagegen wird das Schicksalhafte ihres Aufenthaltes in einem neuen Wohnort betont, als sie zufällig in eine christliche Gruppe »für Frauen mit Suchtproblematiken« (Z. 68–69) kommt (Z. 71–73). Als klassisches Element einer Konversionserzählung kann auch die Darstellung ihrer vorherigen Suche und der inneren Leere vor der Konversion in Z. 77– 651 Ulmer (1988), S. 25. 652 Denn auch, wenn Camilla sich selber eher als »lebensunfähig« wahrnimmt, handelt sie ja dennoch insofern aktiv, als sie sich für ihren äußeren Erfolg anstrengt und Lebenspläne umsetzt. Man kann also nicht von einer negativen Verlaufskurve im Sinne von Schütze sprechen.

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82 angesehen werden, allerdings mit einer entscheidenden persönlichen Komponente, wenn Camilla nämlich erzählt, sie habe gedacht, sie fühle sich »innerlich hohl« und wisse »eigentlich nicht so richtig, wie man ein erfolgreiches und gelungenes und schönes Leben lebt ohne irgendwie sich immer zu verbiegen und es allen Recht zu machen« (Z. 78–92). Hier deutet sie an, dass sich ihr Unglück nicht nur aus ihrem Leistungsdruck ableitet, bzw. dass dieser im Grunde dem Wunsch entspringt, es »allen Recht zu machen« – was wiederum dazu führt, dass sie sich verbiegt. Camilla möchte ein glückliches Leben – Erfolg ist für sie nach wie vor ein Teil davon – aber nicht um den Preis der Selbstaufgabe. Das Dilemma, welches sich durch ihre gesamte Kindheit und Jugend zieht, spitzt sich in dieser Aussage zu: Nämlich der Wunsch, Anerkennung und Zuwendung durch Leistung und Anpassung an andere zu bekommen, selbst für einen extrem hohen persönlichen Preis. Und so erscheint ihre Konversion folgerichtig durch menschliche Zuwendung und nicht primär durch die Inhalte des christlichen Glaubens motiviert, wenn sie beschreibt, die Mitglieder der christlichen Gemeinde hätten sie ins Christentum »geliebt« (Z. 86), und weiter ausführt: »Sie haben sich so um mich gekümmert und ich konnte alle meine Fragen stellen und, und das war so interessant auch das Bibellesen, sodass ich.. mich wirklich dann nach kurzer Zeit eigentlich zu Jesus bekehrt hab« (Z. 86–89).

Die intensive und liebevolle Aufmerksamkeit, die Camilla zuteil wird, sowie die Möglichkeit, Fragen zu stellen, sprich: in einem vertrauens- und liebevollen Rahmen zu kommunizieren, in Kombination mit der versprochenen verlässlichen Liebe Gottes, erscheinen hier als primäre Konversionsfunktionen und stillen ein Bedürfnis, das seit ihrer Kindheit unbefriedigt geblieben ist. Zwar könnte man diskutieren, ob eine Konversion zum Christentum von Seiten der Gemeindemitglieder zumindest erwünscht, wenn nicht gar das Ziel der Zuwendung war – schließlich wird für den christlich-literalsinnorientierten Bereich die Strategie des »›Love-Bombing‹« beschrieben, bei dem potentielle oder neugewonnene Mitglieder mit »intensive[r] Zuwendung« und »warmer Herzlichkeit« bedacht werden.653 Ob dem tatsächlich so gewesen sein sollte, lässt sich jedoch nicht mehr rekonstruieren. Fakt ist, dass die neue Gemeinde bzw. deren Gottesbild Camilla nicht nur Liebe bietet, sondern auch, zumindest partiell, ihren Leistungsanspruch erfüllt, denn ganz ohne Gegenleistung ist diese Liebe nicht. Die wortwörtliche Auslegung der Bibel in der Gemeinde schafft ein Regelkorsett, welches Bedingung für Gottes Liebe ist. Dies kann man unter anderem indirekt aus ihrer (damaligen) Verurteilung charismatischer Gemeinden ableiten, von denen sie dachte, »dass die Bibel […] nicht der Maßstab ist« 653 Vgl. Kern (1998), S. 65.

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(Z. 111–112). Wichtig ist jedoch, dass diese Leistung eher eine Leistung durch Unterlassung ist – entscheidender, als Erfolg zu suchen, ist es, bestimmte Verbote einzuhalten. Die Konversion erfüllt für Camilla also mehrere Funktionen. Zum einen tauscht sie das Leistungsprinzip, das ihr Liebe und Zuneigung sichern sollte, aber stets unerfüllend blieb, gegen einen Glauben ein, bei welchem Liebe und Zuwendung qua Status als Christin garantiert werden. Nur die Ver- und Gebote müssen gehalten werden, was Camillas Leistungsgedanken abwandelt und in eine leichter zu erfüllende und zudem mit garantierter Zuwendung belohnte Struktur des Tausches überführt: Gehorsam und Gottesfurcht gegen göttliche und menschliche Liebe. Gleichzeitig stellt die Konversion aber auch eine innerfamiliäre Positionierung dar : weg von den Eltern und ihren Wertvorstellungen und hin zum christlichen Onkel. Camilla »verbiegt« sich nicht mehr ; ihre Konversion ist eine Absage an die elterliche Sozialisation und an die Ideologie des Sozialismus. Es hätte sicherlich viele Formen gegeben, mit dem elterlichen Leistungsdenken zu brechen, doch in wenigen Ideologien wird relativ unbeschränkte Liebe garantiert und geboten. Liebe (und Selbstliebe) völlig ohne jegliche Gegenleistung anzunehmen, wäre wiederum ein sehr großer Schritt für die ans Leistungsprinzip gewöhnte Camilla gewesen. Das Christentum in dieser zwar strengen, aber relativ einfach zu erfüllenden und kontingenzfreien literalsinnorientierten Form bietet ihr die Möglichkeit, Option 2 und 3 miteinander in Synthese zu bringen. An Stelle der strengen Eltern, die trotz aller Anstrengungen nicht zu einem Lob zu bewegen waren, tritt jetzt der liebende göttliche Vater. Dieser pocht zwar auf Einhaltung seiner Gebote, verspricht aber dafür Liebe und löst diese in Gestalt der Gemeindemitglieder, welche sich um Camilla kümmern, auch ganz lebenspraktisch ein. Camilla konvertiert aber im Grunde zweimal; denn von einer äußerst ablehnenden Haltung gegenüber der charismatischen Bewegung, die von ihrer Gemeinde drastisch als »Irrlehre« (Z. 109) bezeichnet wurde, tritt sie dieser später bei, vollzieht also eine »Inversion«654. Schlüsselbegriffe sind hierbei die »Liebe« und »Gnade« Gottes, die, wie sie in Z. 115–126 eindringlich ausführt, in ihrer Gemeinde immer mehr zu kurz kommen. Stattdessen wird »anderen dienen« (Z. 123–134) in den Mittelpunkt gestellt, mit fatalen Folgen für die leistungsorientierte Camilla, da diejenigen, die »eher so leistungsbezogen« waren und »nicht [über] so ein großes Selbstwertgefühl« verfügten, sich durch die Anforderungen völlig verausgabt hätten (Z. 124–126). 654 Ich definiere »Inversion« mit Feldtkeller als »weitreichende Veränderung bei der Auswahl aus den innerhalb einer Religion zur Verfügung stehenden Überzeugungsgehalten, was normalerweise den Positionswechsel in einem systeminternen Konflikt bedeutet«, Feldtkeller (1993), S. 39.

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Es setzt sich also das gewohnte Muster fort, dass Camilla sich an Leistungsanforderungen anderer auf Kosten ihrer eigenen emotionalen und physischen Gesundheit abarbeitet, bis hin zu einem Zusammenbruch (Z. 143). Die alte Problematik, dass sie Selbstwertgefühl und Anerkennung durch Leistung zu erringen sucht, setzt sich also trotz einer kurzen Unterbrechung fort – entgegen ihrer Selbstwahrnehmung, dass es ihr seit ihrer Konversion eindeutig besser ginge (Z. 90). Zu dieser Zeit lernt sie ihren freikirchlichen Mann kennen. Wäre ihr Mann nicht christlich gewesen, wäre nun auch die Möglichkeit denkbar gewesen, dass sie die Liebe Gottes gegen die eines signifikanten Anderen eintauscht. Dies ist nicht der Fall, stattdessen bestärken sich offensichtlich beide wechselseitig in ihrer christlichen Orientierung und vollziehen gemeinsam die Inversion in eine freicharismatische Gemeinde. Camilla findet in der neuen Gemeinde etwas, was sie ursprünglich in der alten Denomination gefunden hatte, was aber im Laufe der Zeit bei dieser zugunsten des Leistungsdenkens stark in den Hintergrund getreten war : Liebe und Anerkennung. Da das charismatische Gottesbild noch stärker auf den liebenden Aspekt Gottes fokussiert ist, erfordert diese Liebe diesmal noch weniger Gegenleistung: »Wir haben am Anfang also viel geweint, weil es einfach so viel innere Heilung auch passiert ist durch diese Gnadenlehre auch, so dass Gott einfach, dass, dass unsere Bedürfnisse wirklich wichtig sind, und dass Gott uns so sehr liebt und in erster Linie wir ihm wichtig sind und dann kommt erstmal, dass wir uns um andere natürlich auch aus Liebe heraus kümmern. Ja.« (Z. 174–178).

Hier verstärkt sich die Entwicklung hin zu Option 2, der Loslösung von den Werten des Elternhauses und die Hinwendung zu einem alternativen Lebensstil, welcher leistungskritisch eingestellt ist. »Liebe« wird erneut zum Schlüsselwort, das in den Zeilen 254–412, die von der Zeit während und nach ihrem Beitritt zu ihrer neuen freicharismatischen Gemeinde handeln, in verschiedenen Wortverbindungen 22 Mal vorkommt. Dabei wird besondere Betonung auf die »Liebesbeziehung« zu Gott gelegt, die Camilla »völlig rausbringt aus diesem ganzen Leistungskonstrukt« (Z. 392–393). Dennoch hat sie eine weitere Krise, diesmal, weil sie sich bei ihrer Berufstätigkeit zu sehr verausgabt, was dazu führt, dass sie sich vorübergehend aus dem Berufsleben zurückzieht (Z. 403–411). Ganz gelöst hat sie sich von ihrem Leistungsdenken immer noch nicht: Zwar gibt sie zum einen als Grund für ihre Unzufriedenheit mit ihrem Beruf die zu große Belastung an, zum anderen aber auch, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann, da sie zwar gut in ihrem Job sei, jedoch für ihr eigenes Empfinden nicht gut genug (Z. 410–411). Es scheint jedoch eindeutig, dass zumindest in Camillas Selbstwahrnehmung die Hinwendung zum Glauben für mehr Wohlbefinden, Stabilität und Ausgeglichenheit gesorgt hat und dieser

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damit seine »Problemlösungsfunktion«655 zumindest für sie selber erfüllt hat. In diesem Zusammenhang sei auf Wenger-Jindra verwiesen: »Die Konversion und die damit verbundene Beziehung zum christlichen Gott antwortete auf die Beziehungsprobleme und die Gefühle des Nicht-Geliebtwerdens der Konvertiten«656. Allerdings wird auch deutlich, dass die Konversion in diesem Fall die Problematik zunächst nur vorübergehend zu lösen vermochte.657 B: »Innerfamiliäre Positionierung/Abgrenzung von der Herkunftsfamilie658« Bei der hier vorgestellten Funktion, die in dem vorher geschilderten Fall der Camilla bereits Erwähnung gefunden hatte, geht es in ihren beiden Varianten nicht um die Abgrenzung und/oder Positionierung gegenüber dem Mainstream der Gesellschaft, sondern gegenüber und innerhalb der (nicht-charismatischen) Herkunftsfamilie. Diese Funktion fand sich bei der Hälfte der Konvertitinnen. Dabei kann die Konversion die Funktion erfüllen, sich gegenüber einem christlichen, aber streng anticharismatischen Elternhaus abzugrenzen. Dies war bei Stella der Fall, für deren Herkunftsfamilie ihre Konversion bzw. Inversion – im Sinne von Feldtkeller als »weitreichende Veränderung bei der Auswahl aus den innerhalb einer Religion zur Verfügung stehenden Überzeugungsgehalten, was normalerweise den Positionswechsel in einem systeminternen Konflikt bedeutet«659 definiert – Anlass zu einer gravierenden Familienkrise bot. Noch deutlicher zeigt sich diese Abgrenzung bei der literalsinnorientiert, aber strikt anticharismatisch erzogenen Esther, die zudem zwischenzeitlich die Abgrenzung über in dieser Hinsicht funktionale Äquivalente, der Apostasie und später der Esoterik, versuchte. Diese Äquivalente bargen jedoch das Problem eines starken Gewissenskonfliktes mit den eigenen Herkunftswerten, während die Konversion zum literalsinnorientiert-freicharismatischen Christentum zwar eine spürbare Distanz zum Elternhaus vollzog, es aber gleichzeitig Esther möglich machte, christliche Wertvorstellungen in ihr Leben zu reintegrieren. Bei 655 »Es geht dabei Rekonstruktion des Problems, auf das die Konversion bezogen ist und um die Herausarbeitung der Problemlösung, die sich mit der Konversion verbindet«, WohlrabSahr (1999a), S. 20, im Original kursiv. 656 Wenger Jindra (2005), S. 373. Wenger Jindra weist an anderer Stelle auch auf den Zusammenhang von »problematische[n] Beziehungen zu den Eltern« (S. 223) sowie Substanzenmissbrauch und Konversion zum Christentum, S. 224, hin. 657 Vgl. dazu Wohlrab-Sahr (1999a), S. 53f., die die Forschungsergebnisse von Witztum, Greenberg und Dasberg und anderen Forscher_innen wie folgt resümiert: »Man kann die Ergebnisse dieser Studien dahingehend zusammenfassen, daß sie (a) einen Zusammenhang zwischen Konversion und schweren psychischen Krisen aufzeigen; daß (b) Konversion kurzfristig durchaus >therapeutische< Wirkungen haben kann, die sich aber (c) längerfristig als Pseudolösung herausstellen können«. 658 Wenger-Jindra spricht interessanterweise von der »Abgrenzung von der Herkunftsfamilie« eines der von ihr befragten Konvertiten zum Islam, Wenger-Jindra (2005), S. 130. 659 Feldtkeller (1993), S. 39.

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Esther, die bereits weiter oben vorgestellt wurde, erfüllt sich das von WohlrabSahr angeführte Nebeneinander von »Kontinuität und Wandel«660 nach der Konversion daher in besonders eindrücklicher Form. Auffällig ist, dass Esther auf die Frage nach ihrem Konversionszeitpunkt antwortet, dass sie bereits als junge Frau Charismatikerin geworden sei, »[o]bwohl’s mir damals untersagt wurde« (Z. 2–3). Die Deutung, dass ihre Eltern ihr den später ausgeübten Glauben verboten haben, zeigt Esthers Versuch, eine postkonversionelle Verbindung zu ihrer Vergangenheit zu ziehen,661 denn tatsächlich befindet sie sich zum Zeitpunkt des Interviews erst seit einigen Jahre in einer charismatischen Gemeinde und hat sich vorher jahrelang von jeder Form des Christentums abgewandt. Interessant ist aber ebenso, dass sie fast unverzüglich eine Brücke schlägt zwischen der religiösen Ausrichtung ihrer Eltern (»streng religiös«, Z. 18) und deren Erziehung. Sie attestiert ihren Eltern mangelnde Liebe und verknüpft die Strenge ihrer Erziehungsmethoden mit der Strenge ihrer Glaubensausrichtung: »[D]as heißt meine Eltern haben über Gesetz versucht mich zu erziehen, weniger über Liebe […] Also ich würde das in den streng gesetzlich-religiösen Rahmen einordnen« (Z. 18–20). Hier klingt eine erste mögliche Funktion der Konversion an: Die Abgrenzung zu den Eltern, eine Art christlicher Rebellion. Die Vermischung von postkonversioneller Konversionserzählung und lebensgeschichtlichen Fakten zieht sich auch weiterhin durch ihre Rückschau, z. B., wenn sie betont, sie haben sich schon »[i]mmer« (Z. 23) in »ner lebendigen Beziehung mit Jesus« (Z. 23–24) befunden. Dabei handelt es sich nicht nur um den Versuch, rückwirkend eine Kontinuität herzustellen, wie einige Autor_innen dies im Hinblick auf Konvertierte allgemein beschrieben haben,662 und sich damit in gewissem Sinne auch in Bezug auf die Vergangenheit zu entlasten. Vielmehr stellt dies auch ein Element literalsinnorientiert-freicharismatischer Rhetorik dar, welches ich bei vielen Personen vorgefunden habe, die aus anderen christlichen Strömungen zum literalsinnorientiert-freicharismatischen Christentum konvertiert bzw. invertiert663 waren. 660 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 88, vgl. dazu auch S. 129. Hofmann (1997) benutzt dieses Begriffspaar ebenfalls, vgl. S. 157ff. 661 Vgl. Ulmer (1988), S. 24: »Vielmehr liegt ihnen [den Erzählern, Anm. der Autorin] gerade daran, auch die Zeit vor der Konversion in die neu erworbene Identität zu integrieren und sie als (notwendige) Vorstufe zur jetzigen Lebenskonzeption zu betrachten.« 662 Vgl. Ulmer (1988), S. 24f., vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 364f., die standardisierte Zweifel und Glaubensfragen für den Kontext der Konversion zum Islam benannt hat. Meist geht es darum, dass im Islam besonders kritisierte Aspekte christlichen Glaubens von den Konvertit_innen bereits vor der Konversion abgelehnt, infrage gestellt oder abweichend beantwortet wurden. In meinen Interviews sind mir zudem öfters Aussagen begegnet, dass bestimmte islamische Grundprinzipien schon vor der Konversion quasi »unbewusst« bejaht und praktiziert wurden. Hier könnte man vom literalsinnorientiert-freicharismatischen Pendant sprechen. 663 Im Sinne von Feldtkellers Definition von »Inversion«, vgl. Feldtkeller (1993), S. 39.

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Die Forschungsergebnisse

Esther beschreibt ihr ursprüngliches Bild von Charismatiker_innen als sehr negativ, was angesichts der oft erbitterten Ablehnung des charismatischen Christentums in Deutschland durch andere literalsinnorientierte Strömungen nicht verwundert. Allerdings ist diese Ablehnung der Übernahme der Vorbehalte ihres christlich-anticharismatischen Umfelds geschuldet und nicht einer theologischen Auseinandersetzung, wie sie hervorhebt (Z. 33–34). Sie beschreibt ihre erste Begegnung mit Charismatiker_innen und dadurch auch mit charismatischer Glaubenspraxis mit den Begrifflichkeiten, die von Charismatiker_innen oft herangezogen werden, um den Mehrwert charismatischen Christentums zu verdeutlichen. Sie habe sich als Christin »total ausgepowert und leer gefühlt« (Z. 43), weil sie aus »eigener Kraft heraus Dinge versucht« (Z. 46) habe, ihr habe die »Kraft Gottes« (Z. 48), damit ist gemeint: Der Heilige Geist, gefehlt. »Und ich hab mich nicht nach diesem Charismatischen gesehnt, dass das nämlich so heißt, wusste ich ja nicht, […] sondern wonach ich mich gesehnt habe, war wirklich nur diese Kraft Gottes.« (Z. 49–51). An dieser Stelle möchte ich Ulmer zitieren: »Hier zeigt sich auf eine exemplarische Weise die Verschränkung und Überlagerung der Darstellungsperspektiven, die für [sic!] Rekonstruktion der vorkonversionellen Biographie insgesamt typisch ist. […] Alle vorkonversionellen biographischen Ereignisse müssen einerseits so geschildert werden, daß deren Deutung sichtbar wird, wie sie vor der Konversion Gültigkeit hatte. Andererseits aber muß auch die Revisionsbedürftigkeit dieser Interpretationsweise zum Ausdruck gebracht werden und die nach der Konversion favorisierte Deutung desselben Ereignisses zur Darstellung kommen.«664

Von Charismatikern angeleitet, bittet Esther um eine Begegnung mit Gott und seiner Kraft, was sich nach ihrem Dafürhalten erfüllt und was sie – zumindest rückwirkend – als Geistestaufe einordnet (Z. 60–81).665 »Ich war Gott so nah, das war so ’n heiliger Moment, also dass, dass ich’s überhaupt nicht in Worte fassen kann, was in dem Moment passiert ist« (Z. 93–94). Hier findet sich ein weiteres »klassisches«666 Element der Konversionserzählung: Die Unmöglichkeit der »Versprachlichung« des Konversionsgeschehens.667 Zudem sei sie sich, so Esther, bewusst gewesen, dass sie nun in Zungen hätte reden können: »[I]ch wusste 664 Ulmer (1988), S. 25. 665 Alleine ihre Einschätzung des Geschehenen als »Taufe des Heiligen Geistes« legt ein beredtes Zeugnis über die Verwendung postkonversioneller Terminologie ab; die jugendliche Esther, von der negativen Sichtweise der Eltern beeinflusst und nach eigenen Angaben des charismatischen Christentums und vermutlich sogar der Zugehörigkeit der besagten, sie anleitenden Männer zu dieser Strömung unkundig (Z. 71–73), hätte dieses Ereignis zum Zeitpunkt des Geschehens schwerlich als solches bezeichnen können. 666 Anführungszeichen in modalisierender Funktion. 667 Vgl. Morgenthaler (2012a), S. 54.

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auf einmal während ich betete, wenn ich, wenn ich jetzt weiter bete, dann werde ich nicht mehr in meiner Sprache reden« (Z. 97–98). Nach Esthers Darstellung ist die negative Reaktion der Eltern sowie ihres Umfelds, die ihre neugewonnene charismatische Form der Spiritualität massiv unterdrücken (Z. 120), dafür verantwortlich, dass Esther sich kurze Zeit darauf gänzlich »vom christlichen Glauben« abwendet (Z. 125). Ihre Deutung ist freilich eine nachkonversionelle, in der sie hervorhebt, dass sie auf die Kraft des Heiligen Geistes nicht mehr verzichten wollte, nachdem sie vorher alles »aus eigener Kraft« habe leisten müssen (Z. 125–126). Sie zieht daher das Fazit: »[Da] erlebst du Gott und dann wird’s dir untersagt« (Z. 126). Allerdings wirft diese Darstellung Fragen auf, die aus Esthers Erzählung heraus nicht beantwortbar sind: Warum betet Esther nicht im Stillen weiter in Zungen und lebt ihre neue Glaubensform nicht spätestens mit ihrem Auszug aus dem Elternhaus aus? Warum verwirft sie den christlichen Glauben komplett, wo sie doch gerade ihre Erfüllung in Gott gefunden hatte? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, Esthers Erzählung jenseits der Konversionsgeschichte, also jenseits dessen, »was im Kontext der Objektiven Hermeneutik als ›subjektiv gemeinter Sinn‹ bezeichnet wird«668, zu analysieren. Es liegt nämlich die Deutung nahe, dass sie mit ihrem Abschied vom Glauben nicht nur gegen das elterliche Verbot der Charismen protestiert, sondern vor allem auch einen spätadoleszenten Bruch mit dem Elternhaus vollzieht. Die nachfolgenden Schilderungen bestätigen diese Vermutung, beschäftigt sich Esther doch ausgiebig mit Esoterik (Z. 128–131), und führt auch sonst ein ausschweifendes und den strengen christlichen Prinzipien ihrer Familie diametral entgegengesetztes Partyleben. Sie schildert, sie habe eine große Zeitspanne »wirklich rebellierend gegen ihn [Gott]« verbracht (Z. 157) und habe angestrebt, in »Sünde zu leben« (Z. 157–168). Und weiter bezeichnet sie sich selber als »innerlich kaputten«, »rebellierenden« und »herumvögelnden Menschen« (Z. 175–176). Esther verliert nicht nur einfach ihren Glauben an Gott, sie lehnt sich mit allen Kräften gegen ihn auf. Esther kann aber nicht gegen Gott rebellieren, ohne damit auch ihre Rebellion gegen das Elternhaus zum Ausdruck zu bringen, das sie mit Härte, aber wenig Liebe erzogen hat. Es ist auch bezeichnend, dass sie sich mit der Zuwendung zu esoterischen und paganen Praktiken eine Form der Religiosität aussucht, die in einem extremen Gegensatz zum Christentum ihrer Eltern steht. Diese Deutung erhärtet sich, wenn sie beschreibt: »[I]ch hab ja gesagt, dass ich […] versucht habe, gegen Gott zu rebellieren. Und das, was ich früher als Christ getan habe, habe ich versucht jetzt im Gegenteil zu tun. […] 668 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 236.

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Hab halt in diesem Bereich [Esoterik] auch gelebt. Mein ganzes Leben darauf ausgerichtet« (Z. 677–683).

Gleichzeitig strebt sie nach materiellem Erfolg und körperlicher Perfektion (Z. 166–174), ein weiterer Aspekt, der von ihrer Herkunftsdenomination, in der materielle und äußere Werte einen relativ geringen Stellenwert einnehmen, abgelehnt wird. Sie sieht auf andere Menschen herab, auch wegen äußerlicher Gründe wie fehlender Attraktivität oder körperlicher Gebrechen (Z. 197–204).669 Wenn es sich aber zunächst primär um einen Ausdruck adoleszenten Protests handelt, stellt sich die Frage, warum sie diese Rebellion beibehält, nachdem sie den Bruch mit den elterlichen Wertvorstellungen erfolgreich vollzogen hat. Esther räumt ein, dass sie »viel Spaß« (Z. 170) hatte und es ihr »viele Jahre sehr sehr gut« (Z. 169) ging, auch wenn sie sich, wie oben beschrieben, an anderer Stelle als »innerlich kaputten […] Menschen« bezeichnet. Gedankenexperimentell670 wären nun verschiedene Szenarien denkbar : 1. Esther bleibt bei ihrer Rebellion gegen den christlichen Glauben und damit auch gegen ihr Elternhaus. Sie praktiziert weiterhin esoterische Praktiken als spirituelle Ausrichtung. Dies impliziert aber nicht nur eine Distanzierung von den Eltern, sondern auch eine Abkehr von ihren positiven Erfahrungen mit dem Christentum und ihrer gesamten Sozialisation. 2. Esther kehrt nach Jahren der »Apostasie« als »verlorene Tochter« zurück zum Glauben ihrer Eltern und söhnt sich mit diesen aus. Sie distanziert sich sowohl von esoterischen wie auch von charismatischen Praktiken. 3. Esther wendet sich erneut der »christlichen Alternative« des charismatischen Christentums zu. Diese Alternative würde den Bruch mit der Herkunftsfamilie nicht ganz so radikal vollziehen, da sie sich immerhin noch im christlichen Rahmen bewegen würde, würde ihr jedoch dennoch eine Emanzipation vom und Eigenständigkeit gegenüber dem Elternhaus ermöglichen. Ihre Entscheidung, den charismatischen Glauben zu wählen, dürfte sowohl eine partielle Aussöhnung mit den Eltern mit einem gleichzeitigen Element von Abgrenzung, als auch einen radikalen Bruch mit ihrer esoterischen Vergangenheit bedeuten. Tatsächlich hat sie einen gewissen oberflächlichen Kontakt zu ihren Eltern, wobei sie sich im Umgang mit ihnen von der Bibel leiten lässt: »Ich ehre sie. Und ich achte sie. Das ist auch das, was die Bibel sagt« (Z. 237), betont 669 Dies kann man auch daraus ableiten, dass es für sie ein Lernprozess darstellt, »dass Gott wirklich jeden Menschen liebt, jeden. Egal ob der jetzt vielleicht übergewichtig ist, ob er krank ist, ob er ne andere Hautfarbe hat« (Z. 203–204). 670 In Anlehnung an Wohlrab-Sahr wende ich die Analyseform des Gedankenexperimentes nicht nur auf die Fortsetzung von Sequenzen, sondern auf den weiteren lebensgeschichtlichen Verlauf bzw. dessen Fortsetzung an, vgl. z. B. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 236ff.

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aber auch, dass im Kontakt, auch wegen ihrer eigenen unglücklichen Kindheit, eine »Innigkeit« nicht vorhanden seien (Z. 242). Die Eltern wissen um ihren charismatischen Glauben, dieses Thema wird aber nicht vertieft wegen deren Ablehnung (Z. 236–245). Ganz offensichtlich ermöglichen die biblischen Gebote Esther, eine Umgangsform mit ihren Eltern zu finden, und sie kann sich von diesen und deren Glauben distanzieren, ohne sich komplett vom Christentum abwenden zu müssen; eine Funktion der Konversion als »innerfamiliäre Positionierung« ist damit gegeben. Während bei Esther und Stella die Positionierung gegenüber einem christlichen, aber charismatischen Strömungen gegenüber feindlich gesonnenen Elternhaus prävalent war und damit auch eine innerreligiöse Auseinandersetzung einherging, bedeutet für einige andere Frauen, z. B. die eingangs erwähnte Camilla, sowie Grete und Daniela, die Konversion zu einer christlichen Konfession die Positionierung innerhalb einer innerfamiliären Konfliktlinie. Das heißt, konkreter gesagt, dass die Frauen über positiv besetzte christliche (wenn auch nicht charismatische) Bezugspersonen verfügten, während andere, eher negativ besetzte Bezugspersonen, zumeist die Eltern oder ein Elternteil, dem Christentum negativ oder indifferent gegenüberstanden. Im Grunde hätte daher, zumindest hinsichtlich dieser Funktion, jede Konversion zu einer christlichen Strömung denselben Effekt gehabt. Bei der Daniela ist es eine Positionierung weg von ihrem sehr negativ besetzten Vater hin zu Mutter. Daniela Daniela wird Anfang der Achtziger in der damaligen DDR geboren. Ihre Mutter ist Lehrerin, ihr Vater Baufacharbeiter. Obwohl ihre Eltern atheistisch sind, werden Daniela und ihr Bruder auf Betreiben der Mutter getauft und konfirmiert. Der Glauben an sich spielt aber keine Rolle in ihrem Leben. Ihre Kindheit wird von dem der Mutter wie den Kindern gegenüber dominanten Vater und den elterlichen Konflikten überschattet. Als sie in der Pubertät ist, trennen sich die Eltern, die Kinder bleiben bei der Mutter, bis Daniela als Jugendliche berufsbedingt in eine andere Stadt zieht. Daniela ist in der neuen Umgebung recht isoliert, bis sie in einer christlichen Jugendgruppe Kontakte knüpft. Als junge Erwachsene tritt sie zum Christentum über, besucht jedoch zunächst nichtcharismatische Gemeinden. Sie heiratet einen gläubigen freicharismatischen Christen, zudem schließt sie ihr Studium erfolgreich ab. Sie wechselt in die Gemeinde ihres Ehepartners und wird selber Charismatikerin. Daniela kommt nach einigen Rahmendaten ihrer Kindheit sofort auf die innerfamiliären Konflikte und die daraus resultierende Scheidung zu sprechen:

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Die Forschungsergebnisse

»Meine Eltern.. Ähm.. haben sich getrennt […]. Also schon war ich schon relativ groß sozusagen, war aber trotzdem.. ähm, natürlich ein sehr einschneidendes Erlebnis. Äh, und ich bin mit meiner Mutter und meinem Bruder dann weggezogen. […] Ähm.. meine Kindheit.. war.. also soll ich jetzt einfach alles so ein bissl mit einfließen lassen? Ähm, meine Kindheit war.. durchwachsen, sozusagen, also.. ähm.. das Verhältnis zu meinem Vater war nicht so gut. Ähm, zu meiner Mutter schon, mit meinem Bruder bin ich sehr unterschiedlich, äh, haben uns auch zerstritten, so, aber irgendwie doch auch verstanden« (Z. 5–12).

Recht schnell ergibt sich das Bild einer gewissen Einheit der Mutter und Kinder gegenüber dem Vater. Obschon sie die Scheidung als »einschneidendes Erlebnis« bezeichnet, sind vermutlich eher die sekundären Konsequenzen – sie muss wegziehen, möglicherweise gehen der Scheidung noch heftigere Konflikte voraus – als die Trennung vom Vater als Bezugsperson bedeutsam. Da dieser der Grund dafür ist, dass sie ihre Kindheit als »durchwachsen« bezeichnet, kann davon ausgegangen werden, dass sie selber auch massive Konflikte mit dem Vater hat bzw. unter diesem leidet, eine Deutung, die sich später bestätigt: »Aber, ich sag mal so, die äh.. die Konflikte in meinem Elternhaus haben schon auch sehr meine Kindheit geprägt also I: Mhm. D: Dass halt da, ähm… also, dass ich dann auch froh, also für uns als Familie oder auch mit meiner Mutter, meinem Bruder, wars sehr gut, dass meine Eltern sich dann auch getrennt haben. Also, weil.. also, ich glaube das war dann (?) an irgendeinem Punkt war, da hatte man das Gefühl, es war nicht mehr so äh.. zu retten. So und.. genau jetzt auch im danach.. hab ich, also ich hab dann kaum noch Kontakt, also ich musste am Anfang ja […] Kontakt zu meinem Vater haben. Was ich aber jetzt nicht mehr so habe. […] Ähm.. Genau aber meine Familie ist ja, also, meine enge Familie ist halt mein Bruder, meine Mutter und.. ähm… genau.« (Z. 45–56).

Ein solcher Kontaktabbruch ist, vor allem im christlich-literalsinnorientierten Milieu, eher selten anzutreffen. Dass ein schlechtes Verhältnis zu den Eltern, insbesondere zum Vater, für eine Konversion relevant sein kann, ist in der einschlägigen Literatur des Öfteren erörtert worden.671 Meiner Erfahrung nach ist dies vor allem der Fall bei physisch oder emotional abwesenden Vätern – das Christentum, insbesondere das charismatische, bietet mit seiner Betonung des liebenden »Vaters« eine besonders geeignete Anbindungsfläche für Menschen, denen die elterliche bzw. väterliche Zuwendung gefehlt hat. Bei Daniela hingegen war der Vater eher extrem präsent, und die Konflikte resultierten nicht aus Abwesenheit, sondern – zumindest legen ihre Schilderungen dies nahe – aus einer Dominanz des Vaters. Es ist in dieser Hinsicht besonders interessant,

671 Vgl. Morgenthaler (2012a), S. 42f., und vgl. Wenger Jindra (2005), S. 223.

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welche Funktion das Christentum in Bezug auf dieses prägende biographische Problem einnehmen wird. Erstaunlicherweise ist Daniela mit dem Christentum bereits in ihrer Kindheit in Berührung gekommen, obwohl die Eltern nicht-gläubig und zudem DDRBürger_innen sind. Die Mutter möchte, dass die Kinder getauft und konfirmiert werden, damit sie sich später für oder gegen den Glauben entscheiden können (Z. 14–31). Zum einen beinhaltet diese Position innerhalb der DDR-Gesellschaft eine rebellische Komponente, die umso stärker hervortritt, als nicht etwa eine eigene Gläubigkeit der Mutter dafür ausschlaggebend ist. Der Gedanke einer freien Entscheidung der Kinder im Erwachsenenalter setzt ein Zeichen innerhalb eines Systems, in dem freie Entscheidungen ohnehin eingeschränkt waren, umso mehr für einen staatlich unerwünschten Glauben. Es handelt sich jedoch nicht nur um ein innergesellschaftliches, sondern auch um ein innerfamiliäres rebellisches Statement, insofern die Mutter dafür alleine verantwortlich zeichnet. Dies tritt umso deutlicher hervor, da sich die Vermutung eines autoritären Vaters, der die gesamte Familie, auch die Mutter, dominiert, später bestätigt: »[W]ie behandelt man mit Respekt, weil mein Elternhaus halt nicht so geprägt war […]. Weil meine Mutter sich sehr meinem Vater untergeordnet hat und mein Vater sehr unsere Familie dominiert hat« (Z. 875–878). Die Konversion zum Christentum, zumal zu einer Strömung, in der Gott als Vater so präsent ist, »präsentiert« und »transformiert« damit eine entscheidende Problematik in Danielas Leben, indem sie eine innerfamiliäre Positionierung hin zur Mutter und weg vom irdischen hin zu einem göttlichen Vater vornimmt.672 Es zeigt sich also, dass das literalsinnorientiert-freicharismatische Christentum bzw. die Konversion dazu in diesen Fällen eine Funktion einnimmt, die andere Religionen oder Ideologien nur schwerlich hätten erfüllen können. In den Fällen, in denen ein Bekenntnis zu einem christlichen Glauben auch eine innerfamiliäre Positionierung zugunsten positiv besetzter christlicher Bezugspersonen darstellte, wären lediglich andere christliche Strömungen infrage gekommen, im Falle der Abgrenzung von einer christlichen, nicht-charismatischen Herkunftsfamilie war es das spezifisch charismatische Element, aus welchem sich die betreffende Funktion ergab. C: »Kognitive und emotionale Entlastung durch Annahme eines höheren Lebenssinns« Die dritte von mir herausgearbeitete Funktion, die wie Funktion A substanziell mit der literalsinnorientiert-freicharismatischen Theologie zu tun hat, ist die 672 Wohlrab-Sahr (1999a), S. 138: »In der neuen religiösen Symbolik und in der Art des Vollzugs der Konversion wird ein biographisches Problem gleichermaßen präsentiert wie auch transformiert.«

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Die Forschungsergebnisse

Funktion C, die bei der Hälfte der Frauen vorzufinden war. Damit ist im Falle der betreffenden Konvertitinnen gemeint, dass die Annahme, dass das Leben von einer höheren Kraft gelenkt wird und alle Ereignisse zum Besten der Gläubigen geschehen, eine gewisse Entlastung mit sich bringt – sowohl bezüglich der eigenen Handlungsverantwortung, als auch von einem Hadern mit dem eigenen Schicksal. So kann (und muss, denn eine völlig passive Ergebung in Gottes Willen wird in diesen Kontexten nicht propagiert) der Mensch eben noch so sein Bestes geben, letzten Endes liegt die letzte Verantwortung aber eben bei Gott, der im literalsinnorientiert-freicharismatischen Kontext als allgütig und liebend empfunden wird und alle Geschehnisse letztlich zum Besten der Gläubigen wirkt. So können auch zunächst schwierig oder gar tragisch erscheinende Lebensereignisse eine positive Deutung erfahren. Dadurch werden diese nicht nur als subjektiv erträglicher empfunden; auch die Beziehung zu Gott wird nicht durch unangenehme oder schmerzhafte Ereignisse belastet. Während ich oft erlebt habe, dass Schicksalsschläge gläubige Menschen in ihrer Glaubensgewissheit ins Wanken bringen können, ist hier der gegenteilige Effekt zu beobachten. Damit möchte ich selbstverständlich nicht andeuten, dass nicht auch literalsinnorientiert-freicharismatische Personen sich aufgrund von Schicksalsschlägen vom Glauben abwenden können. Da ich jedoch Gläubige und keine Apostat_innen untersuche, ist es für mich interessant, in welcher Form belastende Ereignisse, die tatsächlich geschehen sind oder geschehen könnten, sogar zu einem stabilisierenden Faktor für den Glauben und einer wichtigen Funktion der Konversion werden können. Das in manchen anderen christlichen Strömungen verbreitete Konzept, tragische Ereignisse als Prüfungen der Glaubensstärke zu betrachten, wird im literalsinnorientiert-freicharismatischen Bereich in der Regel nicht vertreten. Daher bleibt den Gläubigen hier letzten Endes auch zumeist nur die Alternative, widrige postkonversionelle Lebensereignisse (denn das Fürsorgeversprechen Gottes gilt ja erst nach der Konversion, präkonversionelle belastende Lebensereignisse können also problemlos integriert werden) entweder als Folge eigenen Fehlverhaltens673 oder mangelnden Glaubens zu deuten oder aber als Gottes Wirken zu interpretieren, das nur auf den ersten Blick feindlich erscheint, auf den zweiten aber als Ausdruck seiner Güte und eines von oben gelenkten Lebenssinns zu lesen ist. Wenn man davon ausgeht, dass Religion eine Antwort auf die »unhintergehbare Deutungsbedürftigkeit der menschlichen Wirklichkeitserfahrung«674 bietet, können nicht nur positive Ereignisse, sondern auch negative Erfahrungen bis hin zu extremen Schicksalsschlägen im selben Bezugs673 Z. B. dämonischer Gebundenheit, denn bei einfach irdischer Unzulänglichkeit würde Gott ja helfen. 674 Feldtkeller (2014), S. 171.

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rahmen als Ergebnis göttlicher Intervention gedeutet und damit ertrag- wie auch verarbeitbar gemacht werden. Hier zeigt sich der von Snow und Machalek beschriebene Perspektivwechsel: Innere und äußere Geschehnisse werden nun aus der »Annahme eines [einzigen] allgemeingültigen Kausalzusammenhangs«675 heraus, interpretiert. Dabei ist diese Funktion eine, welche kein deckungsgleiches funktionales Äquivalent im nicht-religiösen Bereich kennt. Nicht-religiöse Weltanschauungen vermögen zwar gelegentlich eine Sinnstiftung bei der Deutung von persönlichen Opfern oder tragischen Lebensumständen zu bieten, jedoch ist diese Sinnstiftung auf einen viel spezifischeren Bereich eingeschränkt. Man kann, um ein Beispiel zu nennen, sehr wohl zur Märtyrerin einer politischen Ideologie werden, so dass persönlichen Opfern für die »gute Sache« ein höherer Sinn verliehen wird. Diese Deutung greift aber nicht bei beliebigen Lebensumständen; eine Krebserkrankung oder Vernachlässigung in der Kindheit als sinnhaft darzustellen oder die Gelassenheit zu vermitteln, dass auch alle künftigen Ereignisse zum Besten der betreffenden Person geschehen werden, liegt im Allgemeinen außerhalb der Sinnstiftungsmöglichkeiten nicht-religiöser Angebote. Am ehesten würden hier vielleicht noch psychotherapeutische Modelle Unterstützung bieten, allerdings schaffen diese zumeist lediglich, die Folgen widriger Ereignisse ggf. positiv umzudeuten (indem sich etwa darauf konzentriert wird, welche Stärken die Klient_innen durch schwierige Lebensumstände erworben haben) und nicht, den Ereignissen an sich eine positive Sinnhaftigkeit zu verleihen. Die Kontingenzbewältigung durch die Annahme eines höheren Willens und Sinns hinter allen Ereignissen, auch negativen und »sinnlos« erscheinenden, würde ich als religiöses, wenn auch nicht unbedingt ausschließlich literalsinnorientiert-freicharismatisches, Spezifikum ansehen. Diese positive Deutung einer eigentlich prekären Familiensituation und daraus resultierender Problematiken als göttliche Gnade und Ausdruck eines höheren Lebenssinns zeigt sich sehr deutlich bei Grete: Grete Grete wird kurz nach Kriegsende in Westdeutschland geboren. Ihre Eltern sind beide berufstätig und haben nach Gretes Aussage psychische und soziale Probleme. Grete wächst, anders als ihre Schwestern, bei ihrer Großmutter auf, die im Gegensatz zu ihren Eltern gläubige (nicht-charismatische) Christin ist. Grete heiratet einen ebenfalls christlichen Mann und zieht mit ihm in eine Großstadt, 675 Snow/Machalek (1983), S. 269, im Original »Master Attribution Scheme«, Übersetzung d. Autorin, im Original kursiv. Wohlrab-Sahr hingegen verwendet in Anlehnung an Luckmann die Übersetzung »Übernahme eines Generalschlüssels für die Wirklichkeit«, Wohlrab-Sahr (1999a), S. 70, im Original kursiv.

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Die Forschungsergebnisse

sie bekommen drei Töchter und führen ein hedonistisches Leben. Nominell definieren sie sich weiterhin als christlich, ohne dass der Glauben jedoch in ihrem Leben eine Rolle spielt. Nach verschiedenen Schicksalsschlägen wenden sich ihr Mann und sie wieder dem Christentum zu. Sie schließen sich einer charismatischen Gruppierung an und entsagen ihrem früheren Lebensstil, bestärkt von diversen Wunder- und Heilungserlebnissen. Im Vorfeld bestanden Überlegungen, ob Gretes Rückkehr zum Christentum bzw. ihr Wechsel zum charismatischen Glauben überhaupt die Kriterien einer Konversion oder Inversion erfüllten oder ob es sich doch eher um eine »Intensivierung«676 handelte. Meines Erachtens vollzieht Grete jedoch tatsächlich eine »Inversion«, d. h. die »weitreichende Veränderung bei der Auswahl aus den innerhalb einer Religion zur Verfügung stehenden Überzeugungsgehalten, was normalerweise den Positionswechsel in einem systeminternen Konflikt bedeutet«677. Nach meiner Konversionsdefinition stellt Konversion eine »radikale[…] Transformation der Weltsicht einer Person« dar, wobei diese Transformation »Bezug nimmt auf einen bestimmten, mit einer [religiösen] Weltanschauungsgruppe assoziierten Kanon im Sinne verbindlicher Wissensbestände«678. Dabei wird entweder auf eine konkurrierende Weltsicht innerhalb desselben Religionssystems oder aber innerhalb eines anderen religiösen Systems zurückgegriffen.679 Gretes Weltsicht verändert sich substanziell durch den Wechsel innerhalb der »zur Verfügung stehenden Überzeugungsgehalte[…]« und ihren »Positionswechsel in einem systeminternen Konflikt«. Bei Grete, die es gewohnt ist, ihre Konversion zu erzählen, ist die »biographische Erzählung […] bereits weitgehend zur Konversionsgeschichte >umgeschriebenmißlungen< wären Problemlösungen nur dann, wenn sie als solche nicht taugen, d. h. aus dem Krisenzustand, auf den sie bezogen sind, nicht herauszuführen in der Lage sind. Wie man die Lösung, die zustande kommt, letztlich bewertet, ist eine andere Frage und abhängig von theoretischen oder normativen Perspektiven, die dann möglicherweise ins Spiel kommen« schreibt Wohlrab-Sahr (1999a), S. 173, aus ihrer Perspektive auf Konversion als »Problemlösung« heraus.

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Endbetrachtungen

Ansichten von meinen sehr verschieden waren, Sympathien und tiefe Anteilnahme empfunden habe, und habe die besondere Attraktivität dieses Lebensweges ein Stück weit selber nachfühlen können. Für die unerwarteten, daher also zumindest partiell latenten,764 Funktionen meiner Forschung möchte ich den Konvertitinnen danken, die mir durch ihr Vertrauen und ihre Offenheit diese Erfahrungen und Erkenntnisse erst ermöglicht haben.

4.2. Ausblick Ich denke, dass mein multifunktionaler Ansatz, der Konversion nicht auf einen Faktor oder eine Funktion reduziert oder Konvertit_innen nach solchen Faktoren/Funktionen bestimmten Typen zuordnet, eine wichtige Weiterentwicklung der Konversionsforschung darstellt. Damit soll den bereits vorhandenen Forschungsansätzen keineswegs ihr Erkenntnisgewinn und ihre methodische Fundierung abgesprochen werden. Im Gegenteil: Von Lofland und Stark über Snow und Machalek, von Ulmer über Heirich, die Studien meiner Vorgänger (und später auch Vorgängerinnen – genannt seien z. B. Wenger-Jindra oder Hofmann) haben trotz kritischer Weiterentwicklungen keineswegs an Wert eingebüßt. Besonders fruchtbar war für meine Forschung die Arbeit von Monika Wohlrab-Sahr, die mich auf die Idee brachte, nach Funktionen zu forschen, und an deren Methodik zur Interviewauswertung ich mich ebenfalls angelehnt habe. Ich hoffe, dass andere Forscher_innen nach mir das Feld der Konversionsforschung weiterhin beleben und bereichern werden, gibt es doch noch genug Ungeklärtes zu erforschen. Mit einem multifunktionalen Ansatz könnten auch Konversionen zu anderen religiösen Strömungen erforscht werden, wobei es sicher lohnend wäre, auch hierbei interreligiöse Vergleiche von Gemeinschaften vorzunehmen, die divergierende religiöse Inhalte, aber ähnliche Lebensführungen aufweisen – und vice versa. Damit ließen sich weitere Erkenntnisse darüber gewinnen, inwieweit religiöse Inhalte oder aber die Gemeindestrukturen und die daraus resultierende Lebensführung parallele bzw. unterschiedliche Funktionen ergeben. Aber auch grundsätzlich wäre es sicherlich interessant, weitere mögliche Funktionen von Konversion generell herauszuarbeiten. Nicht nur auf dem Gebiet der Methodik, sondern auch inhaltlich betritt meine Dissertation Neuland. Konversionen zum Christentum sind, sobald sie nicht mehr zur Beschreibung von Konversion an sich herangezogen wurden, zumindest innerhalb des westlichen Kontextes weitgehend aus dem Sichtfeld der 764 Partiell daher, weil nach Merton (1995), S. 49, latente Funktionen eigentlich nicht nur nicht »beabsichtigt sind«, sondern auch nicht »erkannt werden«.

Ausblick

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Forschenden verschwunden.765 Man kann hier sicherlich, ohne sich zu weit vorzuwagen, von einer eurozentrischen Perspektive sprechen, wird doch fast ausschließlich das erforscht, was als »fremd« wahrgenommen wird – sprich, Konversionen zum Islam, oder Konversionen zum Christentum außerhalb der westlichen Welt. Konversionen zum Christentum von Deutschen innerhalb eines deutschen Kontextes sind daher etwas, was bisher nur marginal in seiner Spezifität wahrgenommen und erforscht wurde. Es wäre meinem Erachten nach dringend geboten, sich diesem Phänomen eingehender zu widmen und Konversionen zum Christentum zu untersuchen. Dabei wäre es auch spannend, zu erforschen, weswegen das pfingstliche bzw. charismatische Christentum, welches in vielen Teilen der Welt so überaus erfolgreich war, gerade im europäischen Kontext deutlich weniger Anhänger_innen gefunden hat – sich also auch als weniger funktional für potentielle Konvertit_innen erwiesen hat. Ein anderes Gebiet, auf dem ich Forschungsbedarf wahrnehme, ist eine analoge Untersuchung von Konversionen von Männern, gerade auch zu patriarchalen Religionsauslegungen, und den herausarbeitbaren Funktionen. Ausgangsfrage meiner Forschung war, was bestimmte religiöse Strömungen, die eine religiös legitimierte Ungleichbehandlung von Männern und Frauen propagieren, für Frauen attraktiv bzw. funktional macht. Für mich überraschend, erwies sich gerade das Geschlechtermodell der untersuchten Gemeinschaften für die betreffenden Frauen oft als besonders funktional. Umso interessanter wäre es, die Funktionalität für Männer herauszuarbeiten – verheißen ihnen die entsprechenden Religionsauslegungen doch nicht nur, wie den Frauen auch, eine klare Orientierung und die Beseitigung von Verunsicherungen hinsichtlich der Geschlechterrolle und -identität, sondern obendrein Autorität und Entscheidungsgewalt innerhalb der Beziehung. Allerdings geht damit ein Zuwachs an Verantwortung einher, auch in materieller Hinsicht, welcher möglicherweise für eine Überforderung sorgen könnte, welche auf Seiten der Frauen eben gerade durch diese Geschlechtermodelle beseitigt wurde. Es wäre also sicherlich spannend und lohnenswert, die männliche Seite – oberflächlich betrachtet, die »Gewinner«seite – zu untersuchen und die Funktionalität der Konversion für diese herauszuarbeiten. Es ist vermutlich gerade die wahrgenommene Geschlechterungleichheit zuungunsten der Frauen, welche dazu geführt hat, dass bislang bei Forschungen zu Konversionen zum Islam meist dezidiert die Frauen im Vordergrund standen. Mit Ausnahme von Käsehage, deren Untersuchung recht kurz ausfällt, und Neumüller, deren Arbeit sich aber hauptsächlich de765 Es gibt allerdings Forschungen zu Konversion zum Christentum aus einer theologischmissionarischen Perspektive, vgl. die bereits erwähnte Studie von 2010 von Zimmermann/ Schröder (Hrsg.): Wie finden Erwachsene zum Glauben? Einführung und Ergebnisse der Greifswalder Studie, Neukirchen-Vluyn: Aussaat.

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Endbetrachtungen

skriptiv und auf der Ebene der Selbstdarstellung der Befragten bewegt, hat sich im deutschen Sprachraum lediglich Wohlrab-Sahr eingehend auch mit männlichen Konvertiten beschäftigt. Ihre Arbeit liefert Hinweise darauf, dass es große Parallelen zwischen männlichen und weiblichen Konvertit_innen hinsichtlich bestimmter Funktionen gibt. Sie zeigt aber auch, dass die Konversion gerade bei Männern in Hinsicht auf Geschlechterstrukturen stabilisierend und aufgrund der Anknüpffähigkeit an fortbestehende, aber gefährdete Ideale männlicher Identität und insbesondere auch Autorität attraktiv wirken bzw. Funktionen erfüllen kann.766 Konversionen, bei denen Geschlechterstrukturen maßgeblich waren, wiesen also geschlechterspezifische Variationen auf. Dies wäre näher und analog auch für männliche christlich-literalsinnorientierte767 Konvertiten zu untersuchen. Ohnehin wäre es spannend, die Funktionen von Konversion für Frauen und Männer768 derselben religiösen Strömung vergleichend zu untersuchen. Gibt es möglicherweise nur bei Männern vorzufindende Funktionen von Konversion, die nichts mit Geschlechterverhältnissen und -identität an sich zu tun haben, die aber dennoch männer- und damit geschlechtsspezifisch sind? Ist z. B. die Funktion der sozialen Einbindung oder der Erhöhung von Bindungsfähigkeit für Männer, die ja oft weniger intensive soziale Beziehungen pflegen als Frauen, sogar womöglich noch wichtiger für diese als für jene? Ich denke, es gibt noch viele interessante Forschungsfragen rund um Konversion. Ich habe nur einige angerissen, von denen ich denke und hoffe, dass sie andere Forscher_innen möglicherweise inspirieren könnten. Konversion ist ein Thema, welches gesamtgesellschaftlich an Aktualität gewinnt, jedoch oft sehr reißerisch und auf Extremfälle (wie Konvertit_innen im IS) reduziert medial dargeboten wird. Forscher_innen käme hier die Aufgabe und auch die Verantwortung zu, eine sachlichere und vor allem auch tiefgehendere Analyse zu liefern. Jenseits irgendwelcher spektakulärer Fälle, bei denen sicherlich auch ganz andere Funktionen als die hier vorgelegten eine Rolle spielen, bleibt nämlich die spannende Frage: Was treibt Menschen in unserer Gesellschaft, die mehrheitlich Religion othert und als fremd, irrational, belächelungswürdig oder gar gefährlich einstuft, dazu, in einen Konversionsprozess einzutreten und diese Entscheidung immer wieder zu ratifizieren – kurzum, was sind die Funktionen von Konversion für die Konvertit_innen.

766 Vgl. Wohlrab-Sahr (1999a), S. 221, die u. a. »Verlust der dominanten Position in der Ehe« sowie »drohender Verlust der sexuellen Identität (v. a. Angst vor Homosexualität)« nennt. 767 Hinsichtlich dieses Aspektes ist m. E. die charismatische Komponente zweitrangig, sondern insbesondere das im gesamten literalsinnorientierten christlichen Spektrum ähnliche Geschlechtermodell ausschlaggebend. 768 Die Geschlechtermodelle der meisten religiösen Strömungen, insbesondere der hier untersuchten, sind binär.

5.

Literaturverzeichnis

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6.

Anhang

Legende zur Transkription Abkürzungen: I: Interviewerin Kürzel: (?): Steht für jedes nicht verständliche Wort. Drei (???) bedeutet z. B. drei unverständliche Wörter. Punkte stehen für Pausen: ..: Pause von 1–2 Sekunden …: Pause von 3–4 Sekunden Pausen am Wortanfang sind durch (Pause und Sekundenzahl) kenntlich gemacht. Betonungen: Kursiv: besonders betontes Wort Weitere Regeln: Bei Pausen innerhalb eines Satzes wird nach der Pause kleingeschrieben: »Er sagte mir… dass er gehen würde.«

Bei Pausen nach Satzende wird danach groß geschrieben: »Sie hat mir diesen Ort gezeigt… Sie ist eine gläubige Frau.«

Generell werden Sprecherinnenwechsel durch Satzzeichen am Ende der Aussage einer Sprecherin und durch Großschreibung kenntlich gemacht: B: Ich habe gefastet, gelesen und gebetet. I: Warum?

324

Anhang

Bei Unterbrechungen einer der beiden Interviewpartnerinnen durch die jeweils andere wird dies durch das Fehlen eines abschließenden Satzzeichens kenntlich gemacht: B: Ich habe gefastet, I: Warum? B: Gelesen und gebetet.

Personenregister

Amir-Moazami, Schirin 188 Austin-Broos, Diane 65f. Bahrs, Ottomar 90f. Bauer, Thomas 107 Baumann, Maria Elisabeth 22, 41, 58 Berger, Peter L. 24–26, 40, 44f., 53f. Bertram, Hans 309 Bourdieu, Pierre 182 Coleman, Simon

50f., 97

Eisenstadt, Shmuel N.

166, 199

Farhadian, Charles E. 36f. Feldtkeller, Andreas 58–60, 62, 66f., 79, 105, 309f. Franke, Edith 105 Frede, Wolfgang 90f. Fricke, Christel 52 George, Carol 199 Gersch, Rahel 115f. Haustein, Jörg 117 Heirich, Max 26–30, 40, 209 Hillenkamp, Sven 177, 308 Hofmann, Gabriele 42f., 48f., 58, 136, 144, 149f., 155, 164, 187f., 307 Hollenweger, Walter J. 113 Huber, Fabian 122

James, William 17, 20f. Julius, Henri 226, 242, 286 Jung, Friedhelm 113f. Käsehage, Nina 46f., 131, 160, 164f. Kern, Thomas 19, 118–120 Kißgen, Rüdiger 226 Kleemann, Frank 81, 83, 89–93 Knorr-Cetina, Karen 52f., 55, 65 Krähnke, Uwe 81, 83, 89–93 Kober, Michael 52 Leuenberger, Susanne 45 Litzba, Rüdiger 90f. Luckmann, Thomas 24–26, 40, 53f. Lofland, John 22–23, 32, 65, 172, 211f. Machalek, Richard 30f., 93, 153, 257 Mahmood, Saba 16 Malinowski, Bronislaw 239 Maltese, Giovanni 117 Maske, Verena 105 Matuschek, Ingo 81, 83, 89–93 Menkens, Sabine 47 Merton, Robert K. 67f., 70f., 76, 239, 304 Morgenthaler, Christoph 14, 21 Neumüller, Caroline A. 45f., 95f., 179 Nock, Arthur Darby 65 Nunner-Winkler, Gertrud 55 Oevermann, Ulrich

36, 67, 84–91

326

Personenregister

Petzke, Martin 115, 121 Pollack, Detlef 57

Storck, Thorsten Walter Strübing, Jörg 80, 90

al-Qaradawi, Jusuf

Ulmer, Bernd 249f., 259

147

Ramadan, Tariq 106f. Rambo, Lewis R. 36f. Riesebrodt, Martin 296f. Said, Edward 167, 206 Schmiedel, Michael A. 51, 80 Schneider, Hans Joachim 309 Schneiders, Thorsten Gerald 13 Scholl, Armin 52f., 55, 61 Schröder, Anna-Konstanze 313 Schütze, Fritz 81, 89, 90, 92, 129 Siebel, Walter 56, 80, 178 Snow, David 30f., 93, 153, 257 Stahl, Stefanie 286 Stolz, Jörg 122 Stark, Rodney 22–23, 32, 65, 172, 211f. Stromberg, Peter G. 34f.

116f., 223f.

32f., 49f., 93, 96, 129, 244,

Weber, Max 157f. Wenger Jindra, Ines 37–39, 96f., 141, 146, 158, 176, 179f., 214, 221, 225–227, 268, 279, 282, 286 West, Malcolm 199 Wobbe, Theresa 55 Wohlrab-Sahr, Monika 17f., 20, 21f., 35f., 43f., 48, 56–58, 62–70, 74f., 81, 86, 93f., 104, 130, 138–140, 157, 161, 164, 169, 171, 182, 190f., 196, 241, 258, 288, 311f., 314 Zimmerling, Peter 112 Zimmermann, Johannes Zschoch, Barbara 41f.

313