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German Pages 345 [348] Year 2005
Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur LBJGK
Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur Herausgegeben von Dan Diner
Band III 2005
Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig
K· G·Saur
Redaktionsanschrift: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig Goldschmidtstraße 28 D - 04103 Leipzig Tel. +49.341.21735-50 Fax+49.341.21735-55 E-mail: [email protected] www.dubnow.de Redaktion: Monika Heinker und Markus Kirchhoff Übersetzungen ins Englische: William Templer
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
Θ Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier © 2005 Simon-Dubnow-Institut Leipzig Erscheint bei K.G. Saur Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck/Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach ISBN-10: 3-598-24752-4 · ISBN-13: 978-3-598-24752-1
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Inhalt
DAN DINER
Editorial
7 EXIL U N D ERKENNTNIS
WALTER Z . LAQUEUR,
Washington
Geboren in Deutschland Portrait einer exilierten Generation ERAN J. ROLNIK, Tel
Aviv
Migration and Interpretation German-Speaking Psychoanalysts in Jewish Palestine, 1920-1950 ZOLTÄN TARR, New
27
York
The Odyssey of an Emigre Sociologist Werner J. Cahnman, 1902-1980 BIRGIT LANG,
13
47
Oxford
Ein Aufenthalt der Dauer Walter A. Berendsohn und die Exilforschung ARNDT ENGELHARDT,
61
Leipzig
Ordnungen des Wissens und Kontexte der Selbstdefinition Zur Besonderheit deutsch-jüdischer Enzyklopädieprojekte im 19. Jahrhundert
81
ÜBERGÄNGE JÜRGEN HEYDE,
Halle
Polnischer Adel und jüdische Elite Über rechtliche Oberhoheit und soziale Kontakte 1454-1539 ESZTER BRIGITTA GANTNER,
Berlin
„Dagegen rathe ich sehr, eine annembahre Stelle in Ungarn anzunehmen ..." Ungarisch-jüdische Assimilation und der neo-orthodoxe Rabbiner Esriel Hildesheimer ALEXANDER JOSKOWICZ,
103
117
Chicago/Jerusalem
„Aber einen Sturz des Katholicismus möchte ich erleben" Religiöse Polemiken liberaler deutscher Juden im 19. Jahrhundert
141
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INHALT
KULTUR UND YAEL KUPFERBERG,
LITERATUR
Leipzig/Berlin
Bildung und Kultur Paradigmen deutsch-jüdischer Emanzipation SHELLY ZER-ZION, Tel
157
Aviv
The Dybbuk Reconsidered The Emergence of a Modern Jewish Symbol between East and West JONATHAN KREUTNER,
175
Zürich
Die vierzig Tage des Musa Dagh Zur jüdischen Rezeption von Werfeis Roman während der NS-Herrschaft. . . .
199
ATEF BOTROS, L e i p z i g
Literarische „Reterritorialisierung" und historische Rekonstruierung Zur europäischen und arabischen Rezeption von Kafkas Schakale und Α raber NATASHA GORÜINSKY,
215
Jerusalem
"Homeland I will name the language of poetry in a foreign country" Modes of Challenging the Home/Exile Binary in Leah Goldberg's Poetry. . . . 239 MARA BORDA,
Berlin
Political Theology and the Politics of Conversion: Hermann Cohen's Religion of Reason as Alternative to Reason
255
LIPSIENSIA
YAAKOV ARIEL, Chapel
Hill
Good Germans, Confused Jews, and the Tragedy of Modernity: S.Y. Agnon Remembers Leipzig HOLGER PREISSLER,
Leipzig
Ignaz Goldziher in Leipzig Ein ungarischer Jude studiert Orientalistik WEGE DER OMAR KAMIL,
275
293 FORSCHUNG
Leipzig
Die arabischen Intellektuellen und der Holocaust Epistemologische Deutung einer defizitären Wahrnehmung
319
Abstracts
333
Autoren Verzeichnis
341
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Editorial Auch der dritte Jahrgang der Leipziger Beiträge, der wie die Bände der Voijahre das Forschungsprofil der am Leipziger Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur arbeitenden und forschenden Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Gäste widerspiegelt, wird mit der jährlich abgehaltenen Simon-Dubnow-Vorlesung eingeleitet. Es ist dies der biographiegeschichtliche wie autobiographische Vortrag des großen Zeithistorikers Walter Z. Laqueur, mit dem dieser im Dezember 2002 die von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderte festliche Veranstaltung in der Alten Börse in Leipzig bestritten hat. In seinem Beitrag verfolgt er das Schicksal jüdischer Jugendlicher, die 1933 Deutschland verließen, um in aller Welt - vor allem in Palästina, England und Amerika - ein neues Leben zu beginnen. Im Unterschied zu den älteren Emigranten, denen das rettende Ausland nicht selten ein Leben lang Exil und Fremde bleiben sollte, vermochten die von Walter Laqueur ins Zentrum seiner Ausführungen gerückten jugendlichen Emigranten, Anteile der Kultur ihres Herkunftslandes mit denen ihrer neuen Lebenswelten zu einer überaus fruchtbaren Synthese zu verbinden. Sein Portrait ist dem Profil dieser in Deutschland geborenen exilierten Generation gewidmet. Mit dem Thema der Dubnow-Vorlesung Laqueurs ist bereits ein Schwerpunkt dieses Jahrgangs der Leipziger Beiträge genannt, dem sich auch die Aufsätze von Eran J. Rolnik, Zoltän Tarr und Birgit Lang widmen. Eran J. Rolnik stellt die Einwanderung der deutschsprachigen mitteleuropäischen Psychoanalyse nach Palästina dar und erhellt mit seiner wissenschaftshistorischen Annäherung einen besonderen Teil der Geschichte einer Berufsgruppe, die mit der Aufarbeitung des Verdrängten befasst ist. Dies ist vor allem im Ambiente des jüdischen Palästinas von einem ganz besonderen Erkenntnisinteresse, da gerade dort der Aufbau einer Nation zum Vergessen ihrer Vorgeschichte anhält. Die neue hebräische Kultur transformierte auch den klassischen Auftrag der Psychoanalyse: sie wird konstruktiv. Das amerikanische Exil hingegen verwandelte und verwandelt die kontinentaleuropäische Wissenschaftstradition in ganz anderer Weise. Zoltän Tarr macht dies anhand des deutsch-jüdischen Soziologen und Ökonomen Werner J. Cahnman deutlich, der neben anderen Forschungen den Blick auf die Soziologie der Juden schärfte. Weniger die Erfahrung des Exils und seines Einflusses auf die Entwicklung der Sozialwissenschaften steht im Zentrum des Beitrags von Birgit Lang über Walter A. Berendsohn, als vielmehr umgekehrt die Frage, wie die Exilforschung sich der Exilerfahrung wissenschaftlich angenommen hat. Biographiegeschichte und Ideengeschichte konstituieren hier ein interessantes Forschungsnarrativ. Eine andere Art von Wissensarsenalen stellen die im 19. Jahrhundert entwickelten jüdischen Enzyklopädieprojekte dar. Arndt Engelhardt präsentiert Überlegungen zur Etablierung eines jüdischen Kanons im 19. Jahrhundert, eines Kanons, der jüdisches Traditionswissen mit deutschem Bildungswissen zu einer Synthese der Selbstdefinition im Übergang zur Moderne reflektiert.
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EDITORIAL
Das Verhältnis von polnischem Adel und jüdischen Eliten im frühneuzeitlichen polnisch-litauischen Doppelreich untersucht Jürgen Heyde. Die hierfür signifikanten engen sozialen Beziehungen werden anhand der für sie vorgesehenen rechtlichen Regularien dargestellt. Eszter Brigitta Gantner überprüft anhand der Wirkungsgeschichte des deutschen neo-orthodoxen Rabbiners Esriel Hildesheimer die Spannungen zwischen Reform und Orthodoxie im nachrevolutionären Ungarn von 1849 bis zur Zeit des Ausgleichs 1867, während Alexander Joskowicz die antikatholischen liberalen Strömungen des Judentums in Deutschland als Integrationsdiskurs in den protestantisch dominierten deutschen Nationalstaat charakterisiert. Kultur, Literatur und literarische Wirkung machen einen weiteren Schwerpunkt in den diesjährigen Leipziger Beiträgen aus. Yael Kupferberg widmet sich in einer kritischen Begriffsgeschichte zwei Schlüsselbegriffen der jüdischen Emanzipationsepoche: Kultur und Bildung. Shelly Zer-Zion verfolgt die zur literarischen Ikone jüdischer Literatur gewordene Gestalt des Dybbuk. Dabei thematisiert sie auch die Bühnen- und Wirkungsgeschichte des Dybbuk-Motivs von Ost nach West und bestimmt das Stück „Der Dybbuk" als ein probates Mittel der nationalen Konstruktion eines jüdisch-kulturellen Raumes. Jonathan Kreutner befasst sich - ebenfalls in Form einer Wirkungsgeschichte - mit dem Werk von Franz Werfel über den Genozid an den Armeniern und interpretiert dessen Buch Die vierzig Tage des Musa Dagh und seine jüdische Rezeption als einen Gedächtnisort der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, während Atef Botros u.a. die arabische Aufnahme und Interpretation der Erzählung Schakale und Araber von Franz Kafka vor dem Hintergrund des Nahost-Konfliktes ausdeutet. Natasha Gordinskys Untersuchung zur poetischen Imagination von Leah Goldberg sucht ihrerseits den in deren Werk wirksamen Dualismus von jüdischer Heimat und europäischer Lebenswelt exegetisch herauszustellen. Philosophisch ist die von Mara Borda verfolgte Fragestellung über den rationalen Gehalt des neukantianischen Denkens Hermann Cohens. Seine Konversion des Judentums in eine Religion der Vernunft wird als Antwort auf die Anforderungen der Moderne interpretiert. Sie zieht die Verwandlung des Religiösen in eine universelle Ethik nach sich. Mit zwei Beiträgen werden die Lipsiensia präsentiert. Yaakov Ariel beschreibt den Leipziger Hintergrund des Romans Shmuel Y. Agnons Herrn Lublins Laden, ein Text, in dem sich zugleich die Verhältnisse Jerusalems spiegeln. Das Thema Agnons wiederum ist das Verhältnis von Juden und Deutschen, das erst durch den Nationalsozialismus gebrochen wird. Holger Preißler dokumentiert ein Stück Leipziger Universitätsgeschichte anhand der Studienzeit des großen ungarischen Gelehrten Ignaz Goldziher, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert der wohl bedeutendste Orientalist seiner Zeit werden sollte. Aus der laufenden Arbeit stellt Omar Kamil in der Sektion Wege der Forschung sein Projekt über die Geschichte der Wahrnehmung des Holocaust im Diskurs der arabischen Intellektuellen vor. Der Herausgeber dankt den Autorinnen und Autoren für ihre Kooperation mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Simon-Dubnow-Instituts, vor allem mit dem diesjährigen Redaktionsteam der Leipziger Beiträge, Monika Heinker und
EDITORIAL
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Markus Kirchhoff. Zudem gebührt Susanne Zepp mein Dank für die Koordination der verschiedenen Arbeitsphasen und für die Abstimmungen zwischen Institut und Verlag. Ihnen dreien gilt meine besondere Anerkennung für die von ihnen übernommene Verantwortung bei der Entstehung dieses Bandes der Zeitschrift wie auch für ihre detaillierte Arbeit an Textgestalt, Form und Sprache aller Aufsätze. Ihnen zur Seite standen mit großem Engagement die studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts, Grit Jilek, Lutz Fiedler, Fabian Frauendorf und Stephan Stach - unterstützt durch die ebenso engagierte wie fachkundige Mitarbeit von Elisabeth Gallas, deren Praktikumszeit auch wesentlich der Endphase dieses Bandes gewidmet war. Bill Templer hat auch in diesem Jahr die englischen Texte redigiert, wofür ihm einmal mehr sehr herzlich gedankt sei. Ein besonderer Dank geht in diesem Jahr an Philipp Graf, derzeit Doktorand am Simon-Dubnow-Institut, der die Arbeit der Redaktion von Beginn an wesentlich mitgetragen hat. Dan Diner
Leipzig, Herbst 2005
EXIL UND ERKENNTNIS
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WALTER Ζ. LAQUEUR
Geboren in Deutschland Portrait einer exilierten Generation Gegenstand des vorliegenden Essays ist das Schicksal einer bestimmten - jüdischen, deutschen - Generation. Und zwar handelt es sich hier nicht um Einstein und Freud, um berühmte Schriftsteller und Nobelpreisträger, sondern um die jungen Menschen jüdischer Herkunft, die nach 1933 Deutschland verlassen mussten. Als Hitler an die Regierung kam, lebten in Deutschland etwa ein halbe Million Juden, und zu der Generation, die das Thema der folgenden Ausführungen ist, gehörten etwa 80.000 junge Menschen, wenn man diejenigen einschließt, die nach dem Anschluss von Österreich noch dazu kamen. Damit sind jene gemeint, die ungefähr zwischen 1914 und 1928 geboren wurden. Die Jüngeren haben kaum Erinnerungen an das Deutschland der damaligen Zeit, die Älteren waren entweder in der Berufsausbildung oder bereits berufstätig und ihre Probleme und Schwierigkeiten in den Jahren, die folgten, waren andere. Vor einigen Jahren habe ich versucht, eine Art kollektives Portrait dieser Generation zu schreiben. Dies war eine faszinierende, aber auch äußerst schwierige Aufgabe.1 Schwierig nicht deshalb, weil es an Material fehlte. Es gibt wohl keine Generation in der Geschichte, die so viele Autobiographien produziert hat - vielleicht an die dreitausend, die allermeisten jedoch für die Familien und für Freunde, nicht zur Veröffentlichung. Andererseits ist es nicht einfach, die Biographie eines einzelnen Menschen zu schreiben, - um wieviel komplizierter muss es sein, die einer ziemlich großen Gruppe nachzuzeichnen? Was aber ist eine Generation? Der Definiton zufolge, die Ortega y Gasset in einem Essay über die spanische Generation von 1898 gibt, ist das eine Gruppe von Menschen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Land aufwachsen und in ihren formativen Jahren manches oder vieles gemeinsam haben. Nun hatte die Gruppe, die hier im Mittelpunkt steht, zwar manches gemeinsam, vieles aber auch nicht. Vor allem aber trennten sich ihre Wege mit der Emigration. Viele kamen aus sehr assimilierten jüdischen Häusern, einige wussten gar nicht, dass sie Juden waren, - als „Halbarier", den damaligen Bestimmungen zufolge, hatten sie weder mit der jüdischen Religion noch sonstwie der jüdischen Gemeinschaft etwas zu tun. Andere dagegen kamen aus frommen oder bewusst jüdischen Familien, eine Minderzahl war zionistisch eingestellt.
1
Bei diesem Essay handelt es sich um den für den Druck geringfügig überarbeiteten Text der Dritten Simon-Dubnow-Vorlesung, die am 5. Dezember 2002 mit freundlicher Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung in der Alten Handelsbörse in Leipzig gehalten wurde. Walter Laqueur, Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin/ München 2000. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 13-25
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WALTER Ζ . LAQUEUR
Eine nicht geringe Zahl dieser jüdischen Familien war seit Jahrhunderten in Deutschland ansässig, andere kamen aus dem ostjüdischen Milieu und lebten erst seit ein paar Jahrzehnten in Deutschland. Leipzig etwa war eine Gemeinde, die aus historischen Gründen zu einem erheblichen Teil ihre Wurzeln in Osteuropa, besonders in Russland hatte. Von diesen jungen Menschen kamen nicht wenige aus Familien, die wohlhabend, manchmal sehr reich waren, aber die Mehrzahl gehörte dem Mittelstand an, und viele waren verarmt, genauso wie viele Deutsche in Inflation und Weltwirtschaftskrise ihren Besitz verloren hatten. Für viele dieser Jugendlichen kam das Jahr 1933 als ein großer Schock, denn auf einmal wurde ihnen erklärt, dass sie nicht dazu gehörten, dass ihr Platz nicht in Deutschland war. Sie hatten schließlich nicht in einem Ghetto gelebt, die meisten hatten nichtjüdische Freunde und Freundinnen, und nun hieß es plötzlich - vorbei, wir wollen (oder wir dürfen) mit euch nichts mehr zu tun haben. Andere dagegen, vor allem die Zionisten, waren in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass, obwohl Deutschland ihre Heimat war und die deutsche Kultur die ihre, ihre Existenz in der damaligen politischen Lage in Deutschland höchst problematisch war. Hinzu kamen viele andere Umstände, die es schwer machen zu verallgemeinern. Manche Familien hatten nahe Verwandte im Ausland; für sie war die Auswanderung viel einfacher als für diejenigen, die keine solche Beziehungen hatten, ja häufig nicht einmal genug Geld für eine Schiffskarte. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass von den deutschen Juden etwa die Hälfte rechtzeitig auswandern konnte, den anderen gelang das nicht. Hierfür gab es wiederum verschiedene Gründe: Das deutsche Judentum war überaltert, und ältere Menschen sind eben weniger beweglich. Sie sagten sich mit Recht, dass sie nicht mehr im Stande waren eine neue Sprache zu lernen, geschweige denn sich in einem neuen Lande zu ernähren. Und so geschah es dann, dass von den Jüngeren ein bedeutend größerer Prozentsatz gerettet werden konnte. Aber das ist nur ein Teil der Erklärung, denn selbst wenn alle entschlossen gewesen wären, Deutschland sofort zu verlassen, - wohin sollten sie denn gehen? Dies waren die Jahre nach der großen Weltwirtschaftskrise, überall gab es hohe Arbeitslosigkeit und die Tore waren geschlossen. Jedes Jahr wurden die Möglichkeiten geringer, bis es am Ende praktisch überhaupt keine Öffnungen mehr gab, abgesehen von illegalen Schleichwegen in exotische Länder, über die ich noch kurz reden werde. Es gab also Gemeinsamkeiten, vor allem die Tatsache der Verfolgung, aber letzten Endes war jedes Schicksal anders, - ein typisches Schicksal gab es nicht. Für denjenigen, der das Portrait dieser Generation aufzeichnen wollte, erhob sich nun die Frage: wen sollte er in seinem Bericht erwähnen? Die Berühmten unter ihnen, den, der amerikanischer Außenminister wurde, die sechs oder sieben Nobelpreisträger, andere, die in ihrem Fach Weltruhm erlangten? Oder diejenigen, die eine erstaunliche und merkwürdige Laufbahn hatten - der junge Mann aus Pommern, der nigerianischer Stammeshäuptling wurde, jener andere, der der oberste Würdenträger im Benediktiner-Orden wurde, die junge Frau aus Frankfurt am Main, die Amerikas berühmteste Sexualaufklärerin wurde, oder vielleicht die berühmte Nummer 2 des Staatssicherheitsdienstes der DDR? Die junge Frau,
G E B O R E N IN D E U T S C H L A N D - PORTRAIT EINER EXILIERTEN GENERATION
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die das Schicksal nach China verschlug und die dort eine berühmte Photographin wurde, aber auch Jahre in Maos Gefängnissen zubrachte? Der junge Mann aus Breslau, den das Schicksal nach Bolivien verschlagen hat, der kein Wort Spanisch konnte, und der lang genug lebte, um sein Bild auf einer Briefmarke seiner Wahlheimat zu sehen als einer der Begründer der modernen bolivianischen Kultur? Den jungen Mann, der nach Ceylon auswanderte, dem heutigen Sri Lanka, der zum Buddhismus konvertierte und einer der großen Gurus seiner Generation wurde? Die Versuchung war groß, aber ihr musste widerstanden werden, denn die Mehrzahl dieser jungen Emigranten wurden nicht nigerianische Stammeshäuptlinge, Außenminister oder Finanzminister (in Amerika und Dänemark) oder Sexologen oder führende katholische Theologen. Wie heißt es doch bei Brecht? - „... denn die im Dunkeln sieht man nicht". Und es stimmt: Während viele der jungen Emigranten erfolgreich waren und eine erstaunliche Karriere hatten, wurde die große Mehrzahl eben nicht berühmt. Was nicht heißen soll, dass sie etwa Schiffbruch erlitten, vielen von ihnen war auch ohne äußeren Ruhm ein erfülltes und zufriedenes Leben beschieden. Andere jedoch, die weniger Glück hatten, starben arm und verlassen in Ländern, in denen sie nie ihren Platz gefunden hatten. Ich denke, es ist klar geworden, dass für ein solches Portrait eine Auswahl erfolgen muss: Für jeden, den ich erwähnte, hätten zehn oder hundert andere genannt werden können und sollen, - aber andererseits ging es ja nicht darum, ein enzyklopädisches Handbuch zu verfassen. Also wurden nicht wenige vor den Kopf gestoßen, manche, weil ich sie nicht erwähnt habe, und andere, weil ich über sie geschrieben habe, aber wahrscheinlich nicht so, wie sie sich selber sahen. Welches waren nun die wichtigsten formativen Einflüsse auf diese Generation? Natürlich wurden sie von der allgemeinen kulturellen Atmosphäre beeinflusst, von den späten Weimarer Jahren und den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft. Sie sahen die deutschen Filme dieser Zeit, sie pfiffen die Melodien deutscher Schlager, sie gingen zum 6-Tage-Rennen und auf die Fußballplätze. Auch der jüdische Sport hatte in diesen wenigen Jahren eine Glanzzeit. Und sie sollten sich an diese Eindrücke noch nach vielen Jahren erinnern, nachdem sie längst in anderen Kulturkreisen aufgegangen waren. Zurück zu den unmittelbaren Einflüssen. Da waren vor allem natürlich Familie, dann Schule und schließlich Jugendbewegung, oder wie es damals hieß - der Bund. Über den Einfluss der Familie wäre nicht viel zu sagen, im Ganzen war er doch ziemlich groß, und gerade weil es eine kritische und gefährliche Zeit war, rückte man enger zusammen. In vielen Fällen wanderte die Familie gemeinsam aus, wenn es irgend möglich war, und das trug natürlich auch zu engeren Beziehungen bei, zu gegenseitiger Hilfe, moralischem und materiellem Beistand. Was die Schule angeht, so waren die meisten jüdischen Jugendlichen vor 1933 nicht in jüdische Schulen gegangen, es gab relativ wenige, die Tendenz in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war absteigend gewesen. Aber 1933 mussten sie die deutschen Schulen verlassen, weshalb neue jüdische Schulen gegründet und die bestehenden erweitert wurden.
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WALTER Ζ . LAQUEUR
Die Nazis wollten die jüdischen Schüler und Studenten so schnell wie möglich aus den Schulen und Universitäten entfernen. Aus administrativen Gründen war die Ausschaltung in den Hochschulen einfacher; einige wenige konnten ihr Studium noch abschließen, die allermeisten mussten von einem Tag auf den anderen gehen, auch wenn sie nur ein paar Tage vor dem Abschluss standen. Wer beispielsweise Germanistik oder Jurisprudenz studiert hatte, war gut beraten, so schnell wie möglich zu vergessen, was er gelernt hatte. Studenten der Medizin waren potenziell zwar in einer besseren Lage, denn Ärzte braucht man überall. Aber wo konnten sie ihr Studium abschließen? Gewiss, es gab die Universitäten in Österreich und der Schweiz und auch eine deutsche Universität in Prag, aber das Studium kostete Geld, und Geld konnte man aus Deutschland nicht überweisen. Dasselbe galt für Frankreich, England und die Vereinigten Staaten. Dabei sollte hier gesagt werden, dass damals ein deutsches Studium in den meisten Ländern nicht anerkannt wurde, dass man überhaupt keine ausländischen Ärzte wollte und dass selbst internationale Berühmtheiten jahrelang nicht praktizieren konnten. Wer nicht ein Stipendium oder einen Freiplatz bekommen konnte (und das konnten nur wenige), der musste sein Studium abbrechen und einen handwerklichen Beruf wählen. Das hieß damals „Umschichtung". Doch bald stellte sich heraus, dass man im Ausland Klempner, die in Deutschland ausgebildet worden waren, ebensowenig wollte wie Ärzte. Das Italien Mussolinis hatte zu jener Zeit ein Verrechnungsabkommen mit Nazi-Deutschland, und so gingen nicht wenige, deren Familien in Deutschland noch etwas Geld hatten, trotz ihrer Sprachschwierigkeiten an italienische Universitäten. Auch sind damals viele Schüler im Alter von vierzehn oder fünfzehn von der Schule abgegangen. Da sie ohnehin nicht studieren oder eine andere längere Ausbildung beginnen konnten, wählten sie einen handwerklichen Beruf oder gingen in die Landwirtschaft; nur gab es jedes Jahr weniger Ausbildungsmöglichkeiten. Landwirtschaftliche Schwerstarbeit für Jungen und Mädchen aus der Stadt, viele Stunden lang, das was kein einfaches Leben. Aus eigener Erfahrung kann ich versichern, dass es damals, vor der Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft, unendlich viel schwerer war als heute. Manche haben es nicht geschafft, aber die meisten hielten durch. Nun ein paar Worte über die Ziele der Auswanderung: 1933 und 1934 gingen die meisten nach Frankreich; aber es war völlig unmöglich, in Frankreich eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Frankreich konnte deshalb nur Durchgangsland sein. Das andere Hauptziel war das damalige Palästina, ein englisches Mandat unter dem Völkerbund. Bis 1936 war die Einwanderung weitgehend frei, danach wurden die Tore praktisch geschlossen. Die Engländer folgten einem strengen strategischen Kalkül, dem zufolge in dem Krieg, der schon damals wahrscheinlich schien, die Unterstützung der Araber im Nahen Osten viel wichtiger wäre als die der Juden, die ohnehin die Antinazi-Koalition unterstützen mussten. Nach 1936 konnten nur noch relativ wenige nach dem damaligen Palästina kommen, einige als Studenten, andere illegal als Touristen, die das Land besuchten und dann nicht mehr zurückkehrten, oder aber auf Schiffen - die sogenannte Aliya bet.
GEBOREN IN D E U T S C H L A N D - PORTRAIT EINER EXILIERTEN GENERATION
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Diese Schiffe, meistens kleine Flussdampfer, häufig ausrangiert, vierzig Jahre alt und mehr, begannen ihre Reise meist in Wien, dann ging es die Donau hinunter und über das Schwarze Meer. Tausend Menschen auf einem großen Kahn, der für hundert bestimmt war, häufig ohne ausreichenden Proviant und ärztliche Versorgung, - so waren diese Fahrten nicht gerade Erholungsreisen, vor allem nicht im Krieg. Die Reise dauerte im besten Falle einen Monat oder zwei, einige Schiffe kenterten oder wurden von Torpedos versenkt, Hunderte kamen um; die meisten Schiffe wurden am Ende von den Engländern aufgebracht. Mehr als tausend dieser Illegalen verbrachten die Kriegsjahre nicht in Palästina, sondern in Lagern auf der Insel Mauritius, wo man sie interniert hatte. Von den Tausenden Jugendlichen, die nach Palästina entkommen waren, ging die Mehrzahl in einen Kibbutz, also in die kollektiven Farmen. Sie waren zunächst im Rahmen einer Organisation gekommen, die Jugend-Alijah hieß, Jugendeinwanderung. Die Idee stammte von Recha Freyer aus Berlin. Das waren Gruppen von jungen Menschen zwischen 14 und 16 Jahren, die von einem Kibbutz aufgenommen wurden, den halben Tag arbeiteten und die andere Hälfte Unterricht bekamen. Vielen von ihnen schien dies eine ideale Lösung, so etwas wie ein langes Sommerzeltlager (sie wurden meist in Zelten untergebracht), zu sein, denn alles was sie sahen, war neu, interessant und meistens anziehend. Sie vermissten das Elternhaus, aber das Leben mit Gleichaltrigen war spannend und füllte sie ganz aus. Erst im Laufe der Zeit begannen die Probleme. Das Palästina der dreißiger Jahre war ein armes Land; die Arbeit war hart, das Essen häufig unzureichend, und viele von ihnen wollten weiterlernen, studieren, - was damals nicht im Bereich des Möglichen lag. Und so blieb nach den zwei Jahren, die sie als Gruppe zusammenlebten, wohl nur die Hälfte in den gemeinschaftlichen Siedlungen, die anderen gingen in die Stadt, um sich da irgendwie durchzuschlagen. Andere versuchten, zu ihren Familien zu gelangen, die inzwischen in andere Länder ausgewandert waren. England und Amerika waren bereit, Menschen aufzunehmen, die mit sehr viel Geld kamen (und die das vorher beweisen konnten) und die bereit waren, neue Industrien in diesen Ländern zu begründen und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen. Aber solche Millionäre gab es kaum, und gewiss nicht unter Jugendlichen. Selbst wenn Geld vorhanden war, so konnte es doch nicht aus Deutschland mitgenommen werden. Nur wenigen gelang vor Ausbruch des Krieges die Flucht nach Amerika; diejenigen, die kamen, kamen mit ihrer Familie, junge Menschen ohne Begleitung wurden nach Amerika überhaupt nicht hineingelassen. Sehr häufig mussten die Familien in Ländern wie Kuba Monate oder selbst Jahre warten, bis sie an der Reihe waren, nach Amerika weiterzuwandern. - England änderte die Politik insofern, als nach der „Kristallnacht" die sogenannten Kindertransporte eingerichtet wurden, in deren Rahmen etwa zehntausend Jugendlichen aus Deutschland und Österreich die Einreise gewährt wurde. Sie wurden von jüdischen und nichtjüdischen Familien aufgenommen; manche hatten großes Glück und man behandelte sie wie die eigenen Kinder, andere wurden als Dienstboten ausgenutzt und mussten Arbeiten tun, die kein anderer machen wollte. Auch in England gab es große Schwierigkeiten mit der Akkulturation, - in einer fremden Sprache und Umgebung, abgeschnitten von Familie
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und Freunden, fühlten sich viele elend. Dazu kam noch, dass mit diesen Kindertransporten, im Gegensatz zur Jugend-Alijah, viele ganz junge Menschen kamen, also auch Acht- und Neunjährige, denen überhaupt nicht klar war, warum sie aus Deutschland von ihren Familien weggehen mussten, und denen man es kaum erklären konnte. Das also waren die Hauptauswanderungsländer: Palästina und England für diejenigen, die allein auswanderten, ohne ihre Familien. Aber es gab kaum ein Land in der Welt, in das man nicht zu gelangen versuchte. Das letzte Buch in deutscher Sprache, das in Deutschland im Oktober 1938 noch veröffentlicht werden konnte, heute eine bibliophile Seltenheit, war das Philo-Auswanderungslexikon. Am Ende jedes Eintrags eines Landes, das dort erwähnt wurde, hieß es: Die Aussichten, dorthin zu gelangen, sind minimal und Möglichkeiten, dort Fuß zu fassen, existieren so gut wie gar nicht. Und doch ging die Auswanderung weiter, selbst nach Ausbruch des Krieges. Denn die Vereinigten Staaten waren ja noch neutral wie auch die verschiedenen Länder Lateinamerikas. Schließlich gab es auch noch Schanghai, das damals eine Art Niemandsland war. Geographisch war es Teil von China, die Japaner hatten es 1937 erobert, aber diese Herrschaft war von niemandem anerkannt und auch die Japaner hatten ihre rechtliche Position noch nicht reguliert. So gelang es etwa 20.000 Flüchtlingen - vielleicht waren es mehr dorthin zu kommen, ohne einen Pfennig, ohne Aussicht arbeiten zu können. Aber immerhin, die meisten von ihnen überlebten in diesem Wartesaal fünfter Klasse, bis sie dann nach dem Kriege auch von dort vertrieben wurden. Bislang wurden zahlreiche Länder genannt, aber zwei nicht unwichtige Kategorien ausgelassen, die ebenfalls kurz erwähnt werden müssen. Da war die Sowjetunion, das selbsterklärte Vaterland der Werktätigen und Vorkämpfer des Antifaschismus. Aber an deutschen Juden war Stalin nicht interessiert. Einige Parteimitglieder fanden dort Zuflucht, aber keineswegs alle, und hundert Nichtkommunisten wurden hineingelassen als Spezialisten, vor allem Ärzte, aber das war schon alles. Nachträglich kann man sagen, es war gut so, denn die Aussichten, dass Emigranten die Säuberungen überleben würden, waren schlecht. Viele, auch junge Menschen gerieten in diese Mühle und kamen um; ja, selbst Prozesse wegen der angeblichen Errichtung einer Hitleijugend-Filiale hat es damals gegeben. Besonders traurig war das Schicksal derjenigen Mitglieder jüdischer Jugendgruppen, die, zum Kommunismus bekehrt, mit großen Hoffnungen nach Moskau gegangen waren und nun Muße hatten, in den Lagern des Gulag darüber nachzudenken, wie sehr und warum sie sich getäuscht hatten. Immerhin, einige Dutzend, vielleicht ein paar Hundert, kehrten nach Kriegsende zurück, vor allem in die DDR, und brachten es dort zu Rang und Würden oder setzten sich in den Westen ab. Schließlich gab es noch die große Gruppe derjenigen, die es nicht geschafft hatten, rechtzeitig auszuwandern, sei es, weil es einfach keine Möglichkeit gab, weil sie kein Geld hatten, oder weil sie bei ihren Familien bleiben wollten, denen sie helfen mussten. Es mögen an die 30.000 gewesen sein, die große Mehrzahl von ihnen kam um. Sie
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wurden nach Auschwitz deportiert, wo nur ein paar Dutzend überlebten. Aber es gab Hunderte, die versuchten, während des Krieges ins neutrale Ausland zu gelangen, und wahrscheinlich ebenso viele, die in deutschen Städten untertauchten in die Illegalität. Ich bin vielen dieser Schicksale nachgegangen. Obwohl diese jungen Menschen nicht genau wussten, was nach den Deportationen nach Osten geschieht, war ihnen doch klar, dass niemand von dort zurückkommt. Was hatten sie also zu verlieren? Es war ungeheuer schwierig, während des Krieges über die grüne Grenze zu gehen, es gehörte großer Wagemut dazu, Verbindungen mit deutschen und ausländischen Feunden und Bekannten - die z.B. falsche Papiere beschaffen konnten - waren von größter Wichtigkeit. Und es bestand immer die Gefahr, dass wie etwa im Fall der Schweiz die Flüchtlinge zurück in den sicheren Tod geschickt wurden, - das war offizielle Politik bis 1943. Andere flohen über Ungarn in die Balkanländer oder ins besetzte Belgien oder Frankreich, wo die Überlebenschancen größer waren. Einige wenige flohen mit Segelbooten über Dänemark nach Schweden. Schätzungen sind schwierig, aber es ist anzunehmen, dass ungefähr jeder zweite, der versuchte über die grüne Grenze zu gelangen, gerettet war. Die Aussichten, in Deutschland im Untergrund zu überleben, waren weniger gut. Etwa einer von dreien oder vieren, die das versuchten, haben überlebt, als sogenannte U-Boote. Das sah dann so aus, dass man plötzlich verschwand, wenn möglich Selbstmord vortäuschte, seine Identität änderte, also irgendwie zu falschen Papieren kam, was am Ende des Krieges nach den schweren Bombardierungen deutscher Städte und dem darauf folgenden Durcheinander einfacher war als in den ersten Kriegsjahren. Ohne Hilfe deutscher Freunde, die zum Beispiel in einer Laubenkolonie Versteck boten, war das unmöglich. Für junge Männer war es besonders schwierig, denn da erhob sich immer die Frage: warum ist er nicht beim Militär? Die Geschichten dieser Menschen sind zugleich spannend und erschütternd, und sie selbst fragen sich heute, wie sie damals den Mut, die Improvisationsgabe, die Geistesgegenwart und die Schlagfertigkeit hatten um zu überleben, in ständiger Gefahr, unter Bedingungen, wo die nächste Minute, wo jedes Treffen mit einem Fremden den Tod bringen konnte. Immerhin: Einige Hundert haben auf diese Weise überlebt, fast alle in großen Städten, vor allem in Berlin, wo es eine gewisse Anonymität gab, die anderswo nicht existierte. Wie erging es nun denjenigen, die rechtzeitig ausgewandert waren? Heute, mehr als fünfzig Jahre nach den Geschehnissen, scheint es, dass viele von ihnen - wie man früher zu sagen pflegte - es zu etwas gebracht haben und eine nicht geringe Anzahl berühmt wurde. Da erhebt sich die Frage: warum eigentlich? Waren sie begabter als andere Menschengruppen? Wohl kaum. Es gab kluge und dumme Menschen unter ihnen, tapfere und feige, anständige und nicht so anständige. Aber die Schwierigkeiten, die sie zu überwinden hatten, waren enorm; sie waren entwurzelt, mussten sich in einem neuen Milieu durchsetzen, sie hatten weder Geld noch irgendwelche Beziehungen, die ihnen einen neuen Start ermöglicht hätten. Es war für sie ein Rennen mit vielen und schweren Hindernissen. Wahrscheinlich war es gerade des-
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halb, dass vielen von ihnen Erfolg beschieden war. Man warf sie ins Wasser, ob sie nun schwimmen konnten oder nicht. Einen Rettungsanker oder ein Rettungsnetz gab es nicht, und die Alternative war schwimmen oder untergehen. In anderen Worten, die Auswanderung war eine ungeheure Herausforderung. Und gerade dieser Umstand brachte Eigenschaften hervor - einen Arbeitswillen und eine Durchhaltekraft, eine Stärke - , von denen sie gar nicht gewusst hatten, dass das irgendwo in ihnen existierte. Kurz, sie mussten sich viel mehr anstrengen als andere Generationen, und dieser Zwang erklärt in vielen Fällen den Erfolg, den sie später hatten. Anfangs jedoch war das Los der jungen Auswanderer keineswegs beneidenswert. Zunächst einmal wurde ihnen klar, dass niemand auf sie gewartet hatte. An eine bürgerliche Existenz war nicht zu denken, sie waren proletarisiert, fanden sich auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Dazu kam noch, dass man ihnen einschärfte, unauffällig zu sein, nicht in Gruppen zu erscheinen, nicht laut zu sprechen, sich nicht des Deutschen zu bedienen und überhaupt bei jeder Gelegenheit ihre Dankbarkeit zu zeigen, dass man sie überhaupt hereingelassen hatte. In England wurde im Namen des dortigen Oberrabbiners ein Flugblatt dieses Inhalts verbreitet, aber anderswo war es genauso. Nur nicht auffallen, möglichst wenig gesehen und gehört werden, nur keinen Antisemitismus erzeugen. Aber junge Menschen wollen sich nicht ducken; es war lebensnotwendig, dass sie von Zeit zu Zeit ihre überschüssige Energie irgendwie loswurden. Nur in Palästina war das anders, da konnten junge Menschen sich schon freier fühlen, aber auch da gab es Anfeindungen. Die Juden aus Osteuropa hatten die „Jeckes" nie besonders gemocht, sie waren, so hieß es, überheblich, hatten keinen Sinn für Humor, waren steif, nie spontan, hatten von jüdischen Dingen kaum eine Ahnung. Und so gab es selbst in Israel eine Art Schadenfreude; und wenn sich die neuen Emigranten beschwerten, dass man sie benachteiligte, so sagte man ihnen: geht doch zurück zu eurem Hitler. Ja, es wurde sogar vorgeschlagen, dass man die deutschen und österreichischen Juden planmässig über das Land zerstreuen sollte, denn wenn es zu Ballungen käme, wie etwa im Norden Tel Avivs, in Rechavia in Jerusalem oder in Haifa, dann sei es um die neue und noch verletzliche jüdische Kultur geschehen und bald würde man in den Straßen nur noch Deutsch hören. Besonders schlimm war es in Schanghai, wo von vorn herein klar war, dass an ein produktives Leben überhaupt nicht zu denken war. Aber auch in den meisten Ländern Lateinamerikas, besonders in Andenländern wie Bolivien oder Kolumbien, war es nicht viel besser. Für die Oberklasse waren die Emigranten verächtliche Hausierer, die man besser nicht einließ, für die Unterklasse waren sie Konkurrenten, und die Indios mochten sie ohnehin nicht. Diese Art der Überheblichkeit, ja Verachtung, konnte man an vielen Plätzen finden. Ein englischer Kolonialbeamter in Indien schrieb, als man ihm vorschlug, einen Emigranten aus Deutschland als Lehrer im dortigen Schulsystem zu beschäftigen: „Ich sehe keinen Grund, jemanden anzustellen, den man aus seinem eigenen Land hinausgeworfen hat." Der betreffende Lehrer war Max Born, der künftige Nobelpreisträger; den Namen des englischen Kolonialbeamten hat die Geschichte nicht überliefert.
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In England und Amerika war die Lage etwas besser. Da gab es immerhin Gesetze, denen zufolge Jungen und Mädchen bis zu einem gewissen Alter in die Schule gehen mussten (es betrug damals in den Vereinigten Staaten bereits 16 Jahre), so dass sie eine gewisse Ausbildung erhielten und die Sprache lernten. Und siehe da, nach anfänglichen Schwierigkeiten stellte sich heraus, dass diese Kinder aus dem Ausland gute und sehr gute Schüler waren, dass sie Preise bekamen und ausgezeichnet wurden. In Amerika wurde sogar eine Kommission ernannt, die sich mit dieser Frage befassen sollte: wieso sind diese Kinder aus dem Ausland besser? England war kein Einwanderungsland, und selbst wenn diese Jungen und Mädchen sich auszeichneten, so war an ein Studium gar nicht zu denken. Die Zahl der Unversitäten war klein, und nur ganz wenigen gelang es, dort hineinzukommen, weil ihre Schullehrer sich ganz besonders für sie einsetzten. Amerika war im Gegensatz dazu ein Einwanderungsland, und es war dort etwas einfacher, gleichwohl gab es auch hier riesige Schwierigkeiten. Selbst wenn ein junger Mann oder eine junge Frau besonders talentiert waren, so mussten sie doch zu Hause helfen, sie konnten sich nicht den Luxus leisten, zu studieren und also nicht zu verdienen, denn die Eltern waren häufig zu alt, um irgendwelche besser bezahlte Arbeit zu tun. Im Allgemeinen war es für Mädchen einfacher, Arbeit zu finden - als Hausangestellte, in Fabriken, Werkstätten und Küchen, sie waren damals tatsächlich das stärkere Geschlecht. Die Jungen schlugen sich mit Gelegenheitsarbeit durch, wie etwa hundert Lebensläufe von Einwanderern verdeutlichen, die es später auf verschiedensten Gebieten zu Rang und Würden brachten. Welche Tätigkeiten aber hatten diese in den Jahren 1938, 1939 und 1940 ausgeübt? Sie schufteten als Hilfsarbeiter in Fabriken, meistens zu Akkordlöhnen, sie waren Laufburschen und Verkäufer in kleinen Läden. Sie verkauften Wiener Würstchen und Sodawasser an Straßenecken, sie trugen Zeitungen aus. Wenn sie Glück hatten, wurden sie im Sommer als Pagen in einem Hotel angestellt, dort gab es gelegentlich gute Trinkgelder. Wenn ein junger Mann mit einem Mädchen ausgehen wollte, so musste er mit zehn oder elf Cent auskommen, der Großteil für die Untergrundbahn, dann ging man in ein Museum oder in ein Konzert, wo man keinen Eintritt zu bezahlen brauchte, und für ein oder zwei Cent kaufte man entweder ein Eis oder einen Softdrink. Das war ein Luxus, den man sich nur ein- oder zweimal in der Woche leisten konnte. All das sollte sich erst mit dem Ausbruch des Krieges ändern. Ein Soldat bekam bekanntlich einen Sold, auch wenn er gering war. Ein Soldat, wenn er sich auszeichnete, wurde gar befördert. Vor allem aber gab es in Amerika die sogenannte „Gl Bill of Rights", einen Beschluss des Kongresses vom Jahre 1944, der eine wahre soziale Revolution bedeutete. Denn von nun an war es Gesetz, dass nach Kriegsende jeder ehemalige Soldat ein paar Jahre studieren konnte. Das öffnete Tausenden dieser jungen Menschen die Tore zu einer Laufbahn, von der sie vor dem Kriege nicht einmal hatten träumen können. Das neue Gesetz traf aber nur auf junge Männer zu, junge Frauen dienten nicht in der Armee und konnten sich nicht unter der „Gl Bill of Rights" fortbilden, wie es die meisten von ihnen wollten. Gewiss, viele haben es am Ende auch zum Besuch
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eines Colleges und dem ersehnten Bachelor-Abschluss gebracht, aber das war bedeutend später, nachdem sie bereits eine Familie gegründet hatten und Mütter, manchmal schon Großmütter waren. Der Abschluss trug zu ihrem Selbstgefühl bei, aber auf ihre berufliche Laufbahn hatte er keinen Einfluss mehr. Die jungen Menschen dienten in der amerikanischen Armee auf den verschiedensten Kriegsschauplätzen, im Fernen Osten, in Nordafrika, und viele waren unter den Ersten, die nach Deutschland kamen. Es gibt erschütternde Berichte, wie sie auf Jeeps durch den Kontinent fuhren, um ihre verschollenen Angehörigen zu suchen. Aber nur einer von hundert fand Mitglieder seiner Familie, die anderen mussten akzeptieren, dass sie umgebracht worden waren und dass das deutsche Kapitel in ihrem Leben für immer zu Ende war. Diejenigen, die zum englischen Militär gingen, hatten es weniger einfach. Zunächst einmal, im Mai 1940, wurden alle „feindlichen Ausländer" („enemy aliens"), die älter als 16 Jahre waren, verhaftet, wozu auch die deutschen und österreichischen Juden gehörten. Man brachte sie in ein Lager auf der Isle of Man, von wo aus Tausende nach Übersee, nach Australien und Kanada, verschifft wurden. Ein paar Hundert kamen um, als ihre Schiffe torpediert wurden. Die Bedingungen in diesen Lagern waren nicht schlecht. Zu essen gab es nicht viel, aber man konnte hinter dem Stacheldraht tun was man wollte. Da es viele Akademiker gab, wurden Fortbildungskurse eingerichtet. Vier junge Musiker, die sich dort zum ersten Mal trafen, bildeten das Amadeus-Quartett, das wohl berühmteste Streichquartett der Nachkriegszeit. Drei spätere Nobelpreisträger waren auch darunter. Nach ein paar Monaten erkannte Churchill, dass es unsinnig gewesen war, diese Menschen zu verhaften, und sie wurden allmählich freigelassen. Nun mussten die jungen Männer zum Militär, aber wieder gab es Hindernisse. Sie durften nur zu den Pionieren, wurden also bei Bauarbeiten - vor allem dem Bau von Latrinen - beschäftigt. Es dauerte wiederum ein Jahr, bis ihnen auch die anderen Einheiten offen standen. Und wie so oft in England, war es schwer, „in den Klub" aufgenommen zu werden. Aber war man erst einmal Mitglied, dann wurde man als gleichberechtigt behandelt. Und so finden wir sie am Ende des Krieges überdurchschnittlich repräsentiert in Elite-Einheiten, unter ihnen nicht wenige, die eine „Battlefield Commission" erhalten hatten, also auf dem Schlachtfeld zu Offizieren befördert worden waren. Es gab einen nicht unwesentlichen Unterschied zwischen der amerikanischen und der englischen Armee: Während man in Amerika mehr oder weniger automatisch amerikanischer Staatsbürger wurde, war das in England nicht der Fall. Und so gab es nach dem Ende des Krieges hin und wieder ein groteskes Schauspiel, - Offiziere der englischen Armee in voller Uniform, mit Orden und Ehrenzeichen, mussten sich einmal in der Woche beim nächsten Polizeirevier melden, denn sie waren technisch gesehen immer noch feindliche Ausländer, für die Ausgehverbot in den Abendstunden bestand. Es dauerte ein Jahr, manchmal länger, bis auch diese Anomalie abgeschafft wurde. Auch diejenigen, die nach dem damaligen Palästina ausgewandert waren, gingen zum Militär. Doch darüber zu sprechen, würde bereits zu einer anderen Geschichte überleiten.
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Ich möchte nun die Zeitmaschine ein paar Jahrzehnte vorwärts drehen. Es ist fünfzig Jahre nach Kriegsende, die jungen Leute von 1945 sind Großväter und Großmütter, sie bewegen sich inzwischen mit einiger Mühe vorwärts, aber irgendwie sind sie noch immer nicht zur Ruhe gekommen. In den Vereinigten Staaten wie in England, in Israel und anderswo finden Treffen statt, zu denen manchmal bis zu tausend von ihnen erscheinen. Diejenigen, die mit den Kindertransporten oder mit der Jugend-Alijah vor vielen Jahren kamen, wollen sich noch einmal sehen, sie wollen wissen, was aus den anderen geworden ist. Das ist doch recht merkwürdig, - ihre Wege haben sich längst getrennt, man hat Familien gegründet, neue Wurzeln gefasst, man spricht unterschiedliche Sprachen und pflegt unterschiedliche Interessen. Die Tatsache, dass man vor vielen Jahren einmal eine relativ kurze Zeit zusammen verbracht hat, sollte eigentlich nicht von Bedeutung sein. Und doch gibt es einen inneren Impuls, mehr als bloße Neugierde, - wer waren wir, was ist aus uns geworden? Und so trafen sie sich vielerorts, am Anfang gab es betretenes Schweigen, dann emotionelle Szenen, nur stockend geriet man ins Gespräch und dann hörten sie nicht auf zu reden und zuzuhören. Viele von ihnen sind in den achtziger und neunziger Jahren in ihre Heimatorte in Deutschland und Österreich zu Besuch gefahren, häufig mit Kindern oder Enkeln, um ihnen zu zeigen, wo Großvater und Großmutter in der Schule waren, wo sie ins Schwimmbad gingen und Fußball spielten. Sie kamen, sie waren sehr interessiert und nach ein paar Tagen oder Wochen reisten sie wieder ab, und die Reaktion war in den meisten Fällen: Es war sehr interessant zu kommen und schön hierzusein. Vielleicht war es eine innere Notwendigkeit, aufgrund dessen, was man auf Englisch „unfinished business" nennt. Aber es war ebenso gut, wieder abzureisen. Über diese Generation ist - mit Verlaub gesagt - viel Unsinn geschrieben worden, und zwar fast immer von Menschen, die guten Willens waren, sie zu verstehen, die aber zu einer anderen Generation gehörten und denen es im Grunde nicht gelingen konnte, sich in die spezifische Lage der jungen Leute von 1938 zu versetzen. Beispielsweise wurde der Entwurzelung übertriebene Bedeutung beigemessen. Fragebogen wurden verschickt, in denen es hieß: War es nicht schrecklich, sein Vaterland zu verlieren (und seine Sprache und Kultur) und dann in ein Land auszuwandern, in dem man im Grunde immer ein Fremder bleiben musste? Die Antworten, die kamen, lauteten meist: Ja gewiss, es war ein Schock, aber wenn wir heute zurückblicken, so haben wir keinen schlechten Tausch gemacht. Wir haben eine neue Heimat gefunden, und hier sind wir zu Hause. Natürlich gab es Probleme vor allem für diejenigen, die in Länder kamen wie England, die historisch keine Einwanderungsländer sind; und es gab in der Tat junge Menschen, die ihre ursprünglichen Wurzeln, also die Tatsache, dass sie Juden waren und aus Deutschland kamen, so schnell wie möglich zu vergessen trachteten, und die auch nicht wollten, dass andere davon wussten. Aber das war eine sehr kleine Zahl. Der Zweite Weltkrieg und die große Völkerwanderung in den Jahren danach sorgten dafür, dass das Trauma der Entwurzelung längst nicht so tief und nachhaltig war, wie manche Außenstehenden annahmen und es noch heute glauben. Es war ja längst nicht mehr ein deutsch-jüdisches Problem: Wie viele Deutsche, wie viele
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Millionen auf der ganzen Erde haben im 20. Jahrhundert ihre Heimat verloren? Um es etwas überspitzt auszudrücken: Die Hauptprobleme waren nicht psychologischer Art, im Mittelpunkt stand erst einmal das Überleben und dann die Notwendigkeit, eine neue Existenz zu schaffen, - die neue Identität kam dann von alleine. „Primum vivere, deinde philosophari", sagt das lateinische Sprichwort. Eine von diesen jungen Deutschen, die über das traurige Schicksal der jungen Emigranten schrieben, erwähnte den Fall einer deutschen Jüdin, die in jungen Jahren nach Aberdeen in Schottland ausgewandert war, und berichtete, dass man selbst nach 50 Jahren noch, wenn sie nur den Mund auftat, sofort erkannte, dass sie nicht von dort stammte. Das mag stimmen, aber eine grosse Tragödie ist es nicht, denn man muss hinzufügen, dass solches auch auf die Engländer, von denen es in Schottland nicht wenige gibt, und selbst auf die lowland Scots zutrifft - auf die „Sassenachs" also, die aus anderen Gegenden stammen. Die Welt, das Europa unserer Zeit ist nicht mehr das von 1940, und wenn man heute von den Fremden oder den Anderen spricht, dann bezieht sich das auf ganz andere Menschengruppen und Probleme. Kann man rückblickend von Gemeinsamkeiten dieser Gruppe von Menschen sprechen? Bis zu einem gewissen Punkte schon. Diejenigen, die zu ihr gehören, arbeiten gern und viel, besonders wenn ihre Arbeit sie befriedigt, und ich habe oft gesehen, dass es schwer für sie ist, mit der Arbeit aufzuhören, auch wenn sie keine Notwendigkeit mehr ist. Viele von ihnen arbeiten nach Erreichen der Altersgrenze freiwillig weiter. Was Politik und Religion betrifft, so ist unter ihnen sehr häufig eine bestimmte Mäßigung zu beobachten, ein Zurückschrecken vor Extremen. Sie, die eine der schlimmsten Epochen in der Geschichte Europas durchlebt haben, mögen fortschrittlich gesinnt sein und ihr Gefühl für Gerechtigkeit mag entwickelt sein, aber radikale Änderungen wollen sie nicht. Wie Franz Biberkopf, eben aus dem Gefängnis entlassen, können sie sagen: „Wir wissen was wir wissen, wir haben's bitter bezahlen müssen." Sie wissen, dass sich vieles im Leben und in der Gesellschaft nur langsam ändern und verbessern lässt. Das ist keine tiefe philosophische Erkenntnis, aber eine elementare Lebensweisheit, die sich ihnen eingeprägt hat, nicht nur in Deutschland, sondern wohin immer sie auswanderten. Sind sie allzu stolz, dass sie trotz aller Handicaps es doch geschafft haben? Verallgemeinerungen sind immer gefährlich, aber im Großen und Ganzen wissen die Angehörigen dieser Generation, dass sie, wenn sie Erfolg hatten, es zu einem erheblichen Teil dem Zufall und dem Glück zu verdanken haben. Oder, um es anders auszudrücken: der Zufall spielte häufig die entscheidende Rolle. Es hing davon ab, ob man in Krieg und Frieden an der richtigen und nicht an der falschen Stelle war, oder ob bei der Auswanderung irgendein Stempel da war oder gefehlt hat. Sie erinnern sich an die vielen Freunde und Verwandten, die nicht rechtzeitig aus Deutschland entkamen und auch an die, welche ein Schicksal in Länder und Bedingungen verpflanzte, wo selbst die größten Anstrengungen nicht halfen. Gibt es eine Art Vermächtnis dieser Generation? Mit Sicherheit wird man das wohl erst in der Zukunft sagen können, - bei wie vielen Generationen kann man schon von einem Vermächtnis sprechen? Und was kann man über die nächste Generation aussagen, was über die danach, - wurden sie in irgendeiner Weise von dem
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Schicksal ihrer Eltern und Großeltern beeinflusst? Was immer darüber gesagt würde, es wäre reine Spekulation. Gewiss, es gibt ein Interesse für die Herkunft der Eltern, aber ob es über dieses hinausgeht, bleibt fraglich. Sicher haben diese Generationen, wo immer sie heute leben, mehr mit ihren Altersgenossen gemein als mit ihren Eltern, die zu einer anderen Zeit aus einer so anders gearteten Kultur kamen. Ein irgendwie endgültiges Portrait dieser Generation wird man vielleicht erst in hundert Jahren haben, wenn der notwendige Abstand besteht. Aber der Abstand wird dann wohl dazu geführt haben, dass man diese Generation im Grunde nicht mehr versteht.
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Migration and Interpretation German-Speaking Psychoanalysts in Jewish Palestine, 1920-1950
Intertwined in the course of the development of the psychoanalytic movement and the creation of a psychoanalytical theoretical discourse are encounters between different disciplines and differing cultural and scientific traditions. Thus, many historians have used the history of psychoanalysis as a case study which opens a window onto the anatomy and evolution of scientific and social ideas, far from their particular historical origins. The Russian revolutionists, the American psychiatrists, the British Bloomsbury circle, the French existentialists, and also the Jewish intellectuals in mandatory Palestine - each had its own version of Freud. This paper completes a series of publications in which I have explored the main ports of entry through which psychoanalysis gained a footing in mandatory Jewish Palestine as well as in Israel, in the early years after the establishment of the state.1 The journey that brought Freud's ideas to Jewish Palestine begins in Vienna on the threshold of the 20th century; passing through Odessa before the October Revolution and Berlin of the Weimar Republic, on its way to British mandatory Palestine. The debate on the tenets of psychoanalysis took place at the watershed of two conceptions of psychoanalysis - an ideological-political conception and a scientifictherapeutic one. The division between these two facets of Freudian theory is far from clear-cut, and does not necessarily represent the congruency that existed between the cultural and the ideological discourses in psychoanalysis. Additionally, the medicaltherapeutic discourse in psychoanalysis was strongly influenced and shaped by the ideological leanings of physicians of the time. Freud's teachings proposed a perception of man which enabled both to disentangle and to reconstruct the boundaries of different discourses. Through psychoanalysis, certain practices in the fields of education and health were implemented, which were seen to serve different rational and ideological goals. The epistemological position of psychoanalysis, setting itself from the very beginning between the natural sciences and the social sciences and humanities, rendered it a desirable partner in a number of pedagogical circles. Thus, for example, beginning in the twenties, the field of pedagogy attempted to enlist scientific conceptions, or at least semi-scientific ones, for the ideological needs of the Jewish community in Palestine.
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This article is intended as an essay. Deviating from the customary scholarly amenities, there are no bibliographical references in the footnotes. Instead, a brief bibliographical note is included as an annex to the essay. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 27-46
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The 20th century witnessed not only major changes in technological development, enabling rapid and exact exchange of ideas, but also great waves of migration of scientists and intellectuals, themselves becoming the agents of different theories and ideologies. In the short period between 1932 and 1939, the majority of psychoanalysts emigrated from Central Europe to areas external to the influence of German culture. The immediate cause of this migration was the policy of Nazi regime towards the Jews. This migratory wave had far-reaching effects both on the organizational aspect of the psychoanalytical movement, and on the individual psychoanalytical societies which welcomed the immigrants in their ranks. Moreover, the migration from Central Europe could be shown to have had a significant impact on post-Freudian theoretical psychoanalytical discourse. At the end of the 30s and beginning of the 40s, several theoreticians who would later profoundly change Freud's theories were active in the analyst community. A number of events during the same period - the close encounter with Nazism and its murderous anti-Semitism, migration to countries with different intellectual and scientific traditions, and finally, Freud's death in 1939, - all these were closely intertwined during the period in which psychoanalysis entered its post-Freudian epoch.
Freudian Man and the New Man of the Zionist Revolution The first studies by Sigmund Freud, Wilhelm Fliess, and Joseph Breuer are often examined in light of the scientific discourse on race theory, which flooded European medical literature from the end of the 19th century. The interest in the body and sexuality did not fail to influence the self-perception of the leading figures in Zionist thought. The writings of Max Nordau and Theodor Herzl both consider, explicitly or implicitly, the question of the sexual identity of the Jew, and its consequence on his historical fate. In the Second Zionist Congress, in Basel in 1898, the neurologist Max Nordau referred to Zionism as being the political remedy for resuscitating the young Jew, whose body had been ravaged by 1,800 years of exile in the Diaspora. Nordau described the Jew as a sick and degenerate creature, much in need of a healthy relationship with his homeland and a stable marriage. Nordau's "Jewry of Muscle" was juxtaposed with "Jewry of the Nerves" - a concept which appeared under different terminology in the writings of both Jewish and non-Jewish physicians. Freud disapproved of ethno-racial and even historical explanations for psychological problems, and harshly criticized those among his students who tried to tie the problem of the Jewish people to his theoretical teachings. According to Freud, psychological problems should be articulated in psychological terms, while the term "degeneration" expressed a historical perception, which held that there had been a perfect race whose offspring had slowly deteriorated. These "perfect people" never existed, and thus the term "degenerate" should not be used to describe either ourselves or others. Furthermore, this preoccupation with the Jewish question, even
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under a scientific pretense, might exile psychoanalysis to the fringe of the intellectual and scientific discourse of the time, and Freud's followers were often warned not to transform psychoanalysis into a "national Jewish issue." From its first years onward, psychoanalytic theory has often been interpreted as an expression of the human need to lay bare the soul's unconscious experiential foundations. And it was, in fact, in light of such foundations that Freud ascribed such weight to both the collective human past and the past of every individual. It was all the more popular among the champions of Jewish-national particularism, who considered the new discipline as a fusion of radicalism and tradition and tried to enlist it for their own political ends. The relation of Jewish particularism to the universalism of European Enlightenment here also gained expression when Freud's early positivist ideas were welcomed as a form of quasi-scientific support for Zionism's romantic endeavor of reconstructing a unified (and unifying) national past. In the historiography of the Palestinian Jewish emigre society, we find frequent discussions of the tension between, on the one hand, the cultural heritage and past of individual immigrants and, on the other hand, the tendency of Zionist ideology to construct a collective past. From the onset of political Zionism onward, the need to build a society with a fixed, distinct identity meant establishing a Zionist "supernarrative": a narrative capable of embracing and overshadowing manifold historical experiences, cultural identities, and ethnic sensibilities, which would still tend to emerge from beneath the surface. As is possible to observe in national movements in general, the Zionist movement developed an instrumental relation to the past, attempting to give its followers the impression of a collective present and future through the construction of a unitary collective-mythological past. The image of the Jewish immigrant to Palestine itself served this purpose: the image was of a newcomer who had freed himself from the chains of an oppressive past, one presented in terms that were in part historical in part abstract and mythic, and who could thus henceforth determine his own fate. Despite the attempts of the founding psychoanalysts to prevent the nascent 'science of the soul' from becoming part of the Jewish question, it was only natural that the developing psychoanalytical discourse would echo, implicitly or explicitly, the selfperception of those who formed the image of the "New Man" of the Zionist Revolution. Among the images of the new Jew, sexuality and gender played a central role. Sexuality, in the Freudian sense of the word, served as the means with which the young Jew would transcend the barriers of the previous generations and of tradition. Otto Weininger, whose book Sex and Character (1903) obtained near cult status, expressed both the identification of Jews with the stereotypical portrayal of the Jewish race, and their disapproval of the passiveness and femininity which were attributed to the Jewish man. Although Freud himself preferred to ignore the nihilistic thought of Weininger, his readers were well aware of the affinity of the psychoanalytic ideas to those of different "nihilists," including Weininger and Nietzsche. Similar to the thought of Nietzsche, Freud's teachings served as a backdrop onto which different interpretations and theories could be projected. Still, Freud's Jewish origins rendered the dialogue with him and his teachings even more complex. In the
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eyes of many of his Jewish readers, Freud was not, in contrast to Nietzsche, the "other," but rather the "other amongst them." Even before the incorporation of psychoanalytical ideas in the ideological repertoire of the leaders of the Zionist Youth movement, Freud's disciples were given the opportunity to carefully observe the manipulation and utilization of his teachings by revolutionaries and idealistic reformers. The first attempts to translate Freud's teachings into the construction of the Socialist Man were made in Russia, following the 1905 Revolution. A look at the reception of psychoanalysis in pre-revolutionary Russia is useful here, keeping in mind that the basis for such a shift in focus away from Palestine lies in the sociocultural composition of the Yishuv, the Jewish community in pre1948 Palestine. More specifically, that reception offers a wider context for understanding the ideological-cultural discourse framing the debate over psychoanalytic ideas in Palestine during the period. Dubbed the "Second Aliya" and "Third Aliya" by Zionist historiographers, the double wave of Jewish immigration to Palestine following the century's turn - first between 1905 and 1914, then between 1918 and 1923 - contributed in a decisive way to the ideological foundations of the Jewish immigrant community of Palestine under the British mandate (1918-1948). One of the chief accomplishments of those who immigrated, whose views in many respects represented those of the Russian intelligentsia, was the transformation of utopian-egalitarian ideas and socialist myths from Eastern Europe into concrete schemas for action for the Zionist movement. To be sure, the first encounter between psychoanalysis and the Yishuv cannot be considered a precise mirroring of the encounter between psychoanalytic theory and Russian Marxism. It did, however, bear the most prominent markers of that theory's Russian reception. The revolutionary impulses released by the advent of psychoanalytic theory, along with the possibilities at work in psychoanalysis as both Kulturwissenschaft and "healer of sick souls," rendered the psychoanalytic movement a welcome element in the discourse of many young communists, whose conceptual world offered space for a notion of "soul" not bound to class or nationality. In this manner, psychoanalytic therapy was granted a place of honor, as a way to liberate victims of bourgeois society's repressive mechanisms from their pastcentered angst. Even after the October revolution, as long as it was possible to uphold the analogy between individual mechanisms of repression and those of bourgeois society, revolutionaries such as Trotsky and Adolph Joffe fashioned psychoanalysis into a scientific-ideological party instrument, hoping to reconcile psychoanalysis with Pavlovian physiology. Oscillating between their admonitions in favor of sexual abstention (and the condemnation of the sexual drive as an impediment in the individual's ability to dedicate himself to the mission of building society) and calls for total liberation from any "bourgeois inhibitions" which block sexual freedom, Russian sexologists, psychologists and the first psychoanalysts stripped the soul of its determinist and unconscious elements. Moshe Wolf, one of the founders of the Russian Psychoanalytical
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Society, offered some analytic observations on the "sexual function of bus drivers and streetcar conductors in Moscow." This research, performed prior to his emigration to Berlin, demonstrated some of the characteristics of Marxist dialecticism. However, once it became clear that the Freudian man was not interested in the past, and did not see the necessity of leaving the past behind him, and was devoid of any Utopist yearnings, revolutionary discourse in its Russian version turned away from Freud's teachings. The disappointment that awaited those who sought to merge the doctrines of Freud and Marx in Russia after the October Revolution did not prevent the Zionists among them from mobilizing Freudian theory for their ideological ends. As early as 1920, Ernst Jones reported to Freud of a conversation he had held with Chaim Weizman, in which the Zionist leader took pride in those "poor Galician immigrants" who arrive in Palestine with no clothes but "[with] one hand holding Marx's 'Capital' and in the other, Freud's 'Interpretation of Dreams'." Despite the essential conflict between the constructivist-utopist characteristics of Soviet socialism and the social pessimism which manifested itself in Freud's later writings, Freud's Zionist readers preferred to bridge the gap between these different perceptions of man by a selective reading of psychoanalytic theory. The folklorist and historian Alther Druyanov, in 1910, sought to direct Freud's attention to the similarities between the novel theory formulated in the Interpretation of Dreams, and the interpretations of dreams in Kabbalist and Talmudic literature. "Personally I find a more striking resemblance between my ideas on dreams and those of the ancient Greeks" was Freud's response to Druyanov, thus indicating his preference for the universal, rather than the particular. Among the early Hebrew authors in Odessa, Druyanov was not the only one to have heard of psychoanalytic theory. Ahad Ha'am (Asher Ginsburg), probably the most influential proponent of Spiritual Zionism, had the opportunity to meet with the "wizard from Vienna," as he referred to Freud in his correspondence. The unstable mental state of Ahad Ha'am's daughter necessitated her hospitalization in a hospital near Berlin in 1909. The author's sister, a physician by training, recommended that her niece meet and consult with Professor Freud: "I believe that his [Freud's] influence would be good for her, as her illness is the kind which he treats. He attributes all the hysterical phenomena to sexual reasons, and with her that is indeed the case. For some reason or other, she does not have a normal sex life, and as far as I understood from what she said, the reason for that is purely moral." The correspondence concerning the author's daughter, seeking Freud's help at a time when there were still less than fifty of Freud's followers throughout Europe, may indicate the rapid pace in which psychoanalysis became popular within a segment of the Jewish-Russian intelligentsia.
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Between Buber and Freud In the first half of the twenties, three of Freud's followers, Siegfried Bernfeld, David Eder and Dorian Feigenbaum, attempted to reconcile their activities in the Zionist movement with their commitment to the ideas of psychoanalysis. The presence of Jewish war refugees in Vienna enabled Siegfried Bernfeld (1892-1953) to bring together ideas from the fields of philanthropy, Marxism, Jewish nationalism and progressive education. Bernfeld repeatedly emphasized that youth are naturally endowed with moral and spiritual sensitivity, and that they are graced with natural rebellion against injustice. On the basis of this claim, he attempted to recruit Jewish youth to a task which he termed "the Yeruba'al task" (referring to the Biblical story of Gideon who smashes the pagan god Ba'al's temples). Bernfeld's Jewish Order of Youth had a central role in transferring the content and terminology of the German "cultural youth movement" to the Zionist youth movement "Ha-Shomer Ha-Zair." The psychological-historical analysis offered by Bernfeld of the problem of the split self-identity of Jewish-German youth was based on the Freudian concept of repression. Concurring with his approach were Leo Baeck, Akiva Ernst Simon and Hugo Bergmann. Bernfeld's name was recognized at the time as the thinker who had found the key to the hearts of the youth, the main target audience of the Zionist movement. When Meir Ya'ari arrived in Palestine in 1920 with a group of young settlers, the impact of Freud's influence on his social outlook was clearly evident: "I want you to become acquainted with Freud and his school in a precise fashion, I don't know whether many of us can accurately grasp his theory, yet I hope that it will at least cleanse the charged atmosphere. I want to sanctify the drive through this experience. Please be aware of the power in you, when masculine eroticism unites you in spite of your inner resistance."
The drive, or the libido, served Ya'ari as a synonym for inner truth. With his colorful language, Ya'ari also represented the tension experienced by Freud's romantic readers between their rationalism on the one hand, and the concept of the Unconscious, on the other: "I must dissect and cut in the thought like a cold razor. Yet I become aware that psychoanalysis, in its determinist manner, delves into the depths, elucidating them only to further enhance their mystery [...] Without a spark of creativity, without unhindered obsession, without an act of autonomic free will, one will not penetrate into the core, will not experience and will not create [...] I seek with all my might to penetrate into my Unconscious world and expose myself. I feel this is the only way to independence, only in this manner can one grow. As you see, I am speaking in Freud's words."
It is doubtful whether Ya'ari's faith in the ability of the "autonomous" free will to "penetrate into the core" could be designated as "Freudian." Ya'ari's version of the Freudian sexual revolution was marked by an excessive optimism. The emphasis on the repressive role of society or on the inherent flaws in the model of the nuclear family were far from Freud's heart, although to his early followers it had seemed that he might have been a possible partner for reformist appeals.
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The different perceptions of the role of infantile sexuality in the formation of the adult individual were evident not only in Ya'ari's interpretation of Freud, but also in his desire to synthesize between Freud and Martin Buber, who, during that period, had already expressed his explicit objections to psychoanalysis. The youth movement's role was to put an end to sexual hypocrisy and lies, and to remove the creative powerlessness which hindered the path of development of young men and women, the very same erotic dullness which stereotypically characterized the young Jew. While it seemed that both Buber and Freud were well aware of the existence and influence of the other, it is difficult to indicate an actual biographical point of convergence, apart from the fact that they were both active in Vienna. The encounter between the two took place mainly in the consciousness of their students, especially amongst those who identified with the Zionist idea and were interested in the question of the education of youth. Buber disagreed with Freud's theory of dreams, and claimed that Freud did not manifest "enough reverence towards the process which creates the dream." He also expressed his reservation from the essay "Totem and Taboo," which, in his view was based on presuppositions that had already been refuted, but also noted that the issue was not of sufficient importance to merit his response. Following the publication of Moses and Monotheism, Buber publicly declared that he could "no longer keep quiet," and that he would openly respond to Freud's writings. Clearly Buber, the spiritual mentor of Siegfried Bernfeld and the leaders of Jewish youth movements, disapproved of the Freudian libido. According to Buber's perception, it was not the repressed libido that was attempting to break free from the child's soul, but rather the drive to accomplish something in this world, to leave a personal mark. But how could this child-man dare to perturb the tranquility of the world and to create in it something of his own? This, said Buber, was the role of the educator; it was his responsibility to be attentive to this distinct voice among the chorus of sounds emanating from the child's soul. The leaders of "Ha-Shomer Ha-Zair" did not content themselves with Buber's metaphysical Eros, and it seems that they turned to him only after realizing the full extent of the practical consequences the libido could have on their revolutionist way of life. Meir Ya'ari spoke often of the pure and open-hearted generation which had arrived in Palestine, a generation which had freed itself from the hysterical nervousness of its parents as well as from the sanctimonious bourgeois corruption of the instincts. While Meir Ya'ari and his friends were trying to find a place for psychoanalysis in the romantic ethos, through which they sought to advance the encounter with the hardships in Palestine and with the "philistine provinciality" of earlier immigrants, two of Freud's students were in the midst of an attempt to bring psychoanalytical theory to the Jewish settlers in Palestine during one of its most pronounced periods of a cultural nadir. At first, the psychoanalytic meetings led by David Eder and Dorian Feigenbaum were joined by Hugo Bergmann, director of the National Library, the ophthalmologist
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Aryeh Feigenbaum, Van Friesland, an advocate from Rotterdam who had served as Dutch diplomatic attache and later as treasurer of the Zionist Agency, and the educator Gerta Obernik. The group started meeting on a regular basis at Van Friesland's house, reading and discussing psychoanalytic literature, in what seemed to be the beginning of psychoanalytic activity according to the Central European model. Eder and Feigenbaum gave a number of introductory lectures, which were followed by meetings where the participants analyzed dreams and parapraxis, yet the meetings came to an end with Eder's departure to London. Hugo Bergmann, who went into analysis with Feigenbaum, had expressed his regret that he had not learned psychoanalysis first-hand before his migration to Palestine. Dorian Feigenbaum (Aryeh Feigenbaum's brother), who had been appointed director of the psychiatric hospital "Ezrat Nashim" in Jerusalem, attempted to introduce the local medical community to psychoanalytical theory. He delivered a number of lectures on the interpretation of dreams and the psychopathology of everyday life. In April 1923, he was invited to deliver a lecture series on psychoanalysis for a Jerusalem audience which included physicians, educators and German delegates visiting in Palestine. The lecture series was entitled "The Soul in Mental Illness and Health," and included three lectures: "The Unconscious," "Freudian Dream Theory" and "The Modern Theory of Neuroses." The outraged responses to Feigenbaum's first lecture led the hospital's directorship to prevent the additional lectures from taking place. Shortly thereafter, Feigenbaum was fired from his job ("an act of villainy has been committed," wrote Bergmann in his diary) and the first attempt to incorporate psychoanalytical theory into the public clinical framework was brought to an abrupt end. Feigenbaum was already aware of the need to inform his audience of the dangers of a superficial and trendy implementation of psychoanalysis, of the kind he saw thriving among the young immigrants. Indeed, in 1924, a short period before Eder and Feigenbaum left Palestine, the International Journal of Psychoanalysis, the official English-language newsletter of the Psychoanalytic Movement, published a review article on psychoanalysis in Palestine in which the author anonymously declared that "in certain quarters (especially among the young immigrants) there is a tendency to introduce so-called 'psychoanalysis' far too carelessly, and in a 'fashionable' and vulgarized form. This, quite obviously, is doing harm, and it is most necessary that psychoanalysis should interfere in the direction of correct exposition and, above all, in checking this injurious growth."
The pioneering attempts by Feigenbaum and Eder to strengthen psychoanalytical theory in Palestine did not blossom into the foundation of a local psychoanalytical society which would be the center of clinical activity, and Freud's name at the time was mainly associated with the social and Utopian aspirations of the Zionist youth movements. In the 1930s, the merger between the new progressive education and psychoanalysis was strengthened in social and pedagogical terms. That emphasized even more the
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consciousness and the elasticity of the soul. Under the pretext of "solving Oedipal conflicts" and of ensuring youth's independence, the children's homes in the kibbutz became in fact greenhouses in which children were trained for their full and harmonic integration into kibbutz society. Thus, the child's first encounter with the need to abandon his will in light of the group's demands took place with his displacement from his parent's home and becoming a member of a tribal group of children of his age, which would be an inseparable part of his life until he reached adulthood. In those years, the child incorporated one of the most important principles which would accompany him throughout his adult life: the private superego and the ideals of the group are one and the same, and the group is never wrong. The children in the kibbutz spent most of their waking hours in the company of nurses, educators and teachers, while seeing their parents usually for two hours every day. This reflected the belief of educational policy-makers that in this manner, parental influence on the children would be far less than that of the other educational figures. They believed that these conditions were sufficient to create an essential change in the "Oedipal situation" and to reshape relations between parents and children to be "less ambivalent." Together with the additional distinctive characteristics of the kibbutz such as sleeping away from the parents' house and joint education, Golan also noted the lack of the tangible experience with the "primal scene," and the fact that sexual education and the children's sexual development were "far less influenced by the tradition oedipal situation" common in a "bourgeoisie family." This was due to the fact that the children's "healthy village life" enabled them to freely view animal behavior, which supplied them with all the sexual education they so dearly sought during the Oedipal stage.
Freud in Hebrew The collectivist ethos that had developed in the Jewish settlement in Palestine - that same special blend of the Central European youth movement's culture and the Russian version of the "New Man" - was not found solely within the "Shomer Ha-Zair." In order that the comparison between the individual's sick soul and the plight of the nation would not rest only within metaphorical boundaries, a scientific connection had to be found between the private and the public spheres, between the sickness of the individual and that of the collective. This pathway was shown by Freud's sociological publications. The politicization process of the collective Jewish soul could find a suitable lead within Freud's sociological publications, since these enabled the transformation from the psychology of the individual to that of the group. The psyche of the individual contained in itself the entire history of humanity, from the childhood Oedipal romance within the family to the archaic fantasy world inherited from his forefathers. Freud developed his political and social theories of liberalismauthoritarianism-patriarchalism in three of his works - Totem and Taboo (1913), Group Psychology and the Analysis of the Ego (1921), and Moses and Monotheism (1939) - and these are the main works through which Hebrew-language readers of the period became familiar with psychoanalysis.
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On the other hand, as early as 1925 Freud found it difficult to understand why the Hebrew Teachers Association in Palestine had chosen his Group Psychology and the Analysis of the Ego to be his first work to be translated into Hebrew. An essay utilizing positivist terms of drive to describe the process by which the individual becomes attached to society, it seemed to cater to the needs of the educators in Palestine. Freud's language, although devoid of ideology, was entirely compatible with the world-view of these pedagogues. Thus, it provided scientific underpinning for the collectivist self-understanding of the members of the Jewish settlement. The individual was recognized only when he represented the desire to unite with the group members and to improve the group's cohesion. A reading of this work was recommended, especially for those "who took part in nationalist propaganda and in the dissemination of new ideas," claimed one of the reviews written in honor of its publication. Furthermore, the pedagogue David Idelson recommended that his students become familiar with that aspect of psychoanalysis which would show them how to "educate the individual within and by means of the group." The call to de-bourgeoisify Freudian theory characterized a number of critiques published coinciding with the Hebrew publication of Totem and Taboo in 1936. An article in one of the main organs of the labor movement called upon the Hebrew reader to "review and scrutinize the sociological psychoanalytic research and draw from it all that is important and helpful to our proletarian world-view." Nevertheless, Yehuda Dvir Dvossis, the translator of the work, found it important to base Freud's text on material within the Jewish sources, and notified Freud of his intent to add to the translation a number of comments from the Biblical and Talmudic literature in order to "strengthen and verify your claims, and to occasionally show them in a new light." Many of the writers had a fondness for the question of the relation between the Jewish origins of the creator of psychoanalysis and his teachings. Some even went so far as to claim that his concept of repression should be viewed as an acknowledgment of his faith. In 1942, the poet Ben-Shalom published an especially distraught article coinciding with the appearance of the Hebrew translation of Psychopathology of Everyday Life and claimed the "repressed Jewishness" of Freud and his contemporaries was at the basis of his theory, and that "the secret of Freud's life and work is the secret of all the 'Anusim' [forced converts], from the Marrano-Anusim community in Spain and Portugal of the 15th-16th centuries to the assimilatees in Berlin and Vienna of the 19th and 20th centuries - 'the Germans of the Mosaic faith'." These harsh words were written at the height of the Second World War, at a time when many of the leaders and prominent thinkers of the Jewish settlement in Palestine found it difficult to renounce their ambivalent attitude towards immigrants from Central Europe, and found it necessary to express, together with their empathy and solidarity, their reproach of the assimilation of German-speaking Jewry in the cultural life of Germany. The brunt of the rage of Freud's readers during the war years was directed towards Freud's most recent major work, Moses and Monotheism, which provided the ultimate proof for readers in Palestine that the creator of psycho-
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analysis had an intellectual agenda that was not the same as that of his Hebrew readers. There were enraged responses to the central thesis of Freud's work regarding the Egyptian origins of Moses, founding father of the Jewish people. In an open letter to Freud entitled "Sigmund Freud and 'Made in Israel'," the orchard owner Nachum Perlman attacked Freud's attempt to "cast our spiritual assets into the depths of the ocean and to open our spiritual affairs before the eyes of those entirely foreign to Judaism."
The "Third Diaspora:" Max Eitingon and the Emigration of German-Speaking Psychoanalysts from Berlin to Jerusalem While fin de siecle Vienna is considered to be the center where psychoanalysis developed, it was in fact Berlin of the 1920s that saw the development of its second and more defining period of growth. The rise and fall of the Psychoanalytic Institute in Berlin took place over a period of thirteen years, from its founding in February 1920 down to the emigration of most of its members in 1934. On December 28, 1932, a month before the Nazi takeover of power, Max Eitingon, co-founder of the Berlin Psychoanalytic Polyclinic and its benefactor, received an official letter of condolence on the passing of his father from the Leipzig City Council. The letter informed Eitingon that the City Council had decided to name a street after Haim Eitingon, founder of the Israelitic city hospital and one of the great benefactors of the city. In April 1933, the possibility that Eitingon might have to leave Germany was first raised. After forty years living as a Russian subject in Germany, Eitingon emphasized his complete identification with the Institute he had founded, and his determination not to leave Berlin of his own free will, but only should he be forced to do so. Nevertheless, Aryanization advanced rapidly: two of Eitingon's non-Jewish colleagues hurried to Vienna so that Freud might appoint them to be the legal directors of the Institute, and on August 23, 1933, Freud wrote Ernst Jones "we have lost Berlin." Even in 1935, there were those who continued to delude themselves, believing that psychoanalysis could continue to exist in Hitler's Germany, if only it could rid itself of its "Jewish public image." But the arrest of Jewish analyst Edith Jacobson, charged with political activism and treating activists in the Communist party, provided additional proof that in the political claustrum of Hitler's Germany, there was no place for an analytical treatment room. Eitingon's decision to emigrate to Palestine came as a complete surprise to Freud and his daughter Anna. Eitingon's organizational and diplomatic skills, and especially his uncompromising loyalty to Freud, who had previously experienced much disappointment from talented and inspired students, had rendered him Freud's righthand man. In contrast with many of the veteran analysts from Vienna or Berlin, who rarely managed to maintain the symbolic capital they had while they had worked close to Freud, the emigration opportunities for Eitingon were many and diverse. As Arnold Zweig claimed some years later: "Eitingon was among those few persons who arrived in Palestine of their free will." Although Eitingon tended to keep his
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intentions as quiet as possible, rumors regarding his planned emigration to Palestine took wing, and soon a chorus of objections was raised. To this, an unexpected voice was added: Albert Einstein attempted to describe to Eitingon his future in Palestine in bleak colors. The very thought of emigration to Palestine with the intention of taking part in psychoanalytic activity seemed to the physicist to be an entirely outrageous idea. With the large number of physicians emigrating to Palestine, the pitiable condition of the Hebrew University, and the tendency of Jewish intellectuals in Palestine to "hinder the development of others," claimed Einstein, Eitingon would be likely deprived of his ability to continue with his psychoanalytic work, unable to take part either in private practice or in the academic framework. In October 1933, Max Eitingon arrived in Palestine holding a letter of recommendation from Freud designed to facilitate the receipt of a work permit. He soon gathered together his former colleagues from Berlin, and already in his first month in Palestine, he reported to Freud the creation of the Palestine Psychoanalytic Society. Regarding the absorption of the psychoanalysts in Palestine, it is important to note that the founders of the Palestine Psychoanalytic Society were nearly all Germanspeakers from Eastern Europe. The mother tongue of Anna Smilansky, Moshe Wolf, Ilya Shalit, Max Eitingon and Fania Lowezky (the sister of the Russian philosopher Leon Shestov) was Russian, and the many years they had spent in Germany (as students in Marburg, Freiburg or Heidelberg) or as psychoanalysts in Zurich, Vienna or Berlin, did not weaken their ties to Russian culture and to the East European version of Jewish ethnicity. In other words, the common work at the Psychoanalytic Institute in Berlin and the political situation which had necessitated their emigration from Germany were the indispensable conditions for the creation of the Palestine Psychoanalytic Institute, but were not the only ones. The Russian origins of the analysts undoubtedly played a role in their identification with Zionism and their decision to migrate to Palestine. That same group of analysts who had chosen to continue their psychoanalytic activities in Palestine manifested the creation of an ethos, or an alternative narrative, which widened the circle of reference and the historical memories of Freud's students beyond the small group of immigrants from Germany. Eitingon and his colleagues were interested in viewing Freud's works not only as the German version of the Jewish canonical works, but also a canonical work of reference for immigrants from Russia, Poland and Galicia, and even for the old Jewish settlement in Palestine. Similarly, the population treated was not only comprised of German speakers. Paradoxically, it was at the Hebrew University, the only place in which German emigres had a numerical advantage in comparison to those from Eastern Europe, that Freud's students experienced their worst defeat. It was only in 1977 that the university decided to establish a chair for psychoanalysis. The natural affinity of the creators of the Palestine Psychoanalytic Society to the primarily East European members of the second and third waves of immigration, rather than to the German-speaking members of the fifth wave, facilitated in many ways their absorption in Palestine. In fact it was only the "second generation" of the
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Palestine Psychoanalytic Society, trained by Eitingon and his colleagues, who were German-born immigrants who had arrived in Palestine in their twenties and thirties. The establishment of the Psychoanalytic Institute in Jerusalem was significant as a replacement of the Berlin Psychoanalytic Institute, which then remained in the hands of a small number of non-Jewish German psychoanalysts. Eitingon's involvement as founder of the Berlin Institute enabled the immigrant analysts to foster a shared fantasy which surely assisted their absorption in their new homeland. The Palestine analysts saw themselves as the rightful heirs of the Berlin Institute, whose activities, though much diminished, had now been transferred by Eitingon to Jerusalem. A great number of pictures and furniture, all belonging to Eitingon, had been transferred from the Berlin Institute to Jerusalem; the Berlin Institute's library, also mostly comprised of Eitingon's personal collection, arrived in Jerusalem in its entirety, as did the files from the Berlin Institute. These were only material aspects which assisted in constructing the self-perception of the founders of the Jerusalem Institute, which held that what had been halted in Berlin continued in Jerusalem, and that the Berlin Institute, although still in existence, had lost any connection with the psychoanalytic movement, both formally and conceptually. The rapid incorporation of the small group into the International Psychoanalytic Association, a process which under different historical circumstances might have taken years, was an important factor in the basing of this feeling of continuity, which was so crucial to the emigre analysts in their new environment. The transformation of the Institute in Jerusalem into the offspring of the Berlin Institute had an enormous psychological impact on both the analysts and their analysands, who felt that they had succeeded in creating for themselves, under the tragic circumstances which had led to their arrival in Palestine, a Berlinian microcosm which would enable their acclimatization to their new home. Additionally, the formal organizational process had desired effects in increasing the prestige of the immigrants from Central Europe. From this point onwards, the analysts were no longer simply "agents of knowledge" - they were the embodiment of psychoanalytic knowledge itself. A look at the regulations they had formulated for the group reveals that, in their wish to ensure that none would use the name of Freud's theory in vain, Eitingon and his colleagues agreed to add an unusually strict clause stating that "each member who desires to give a public lecture on psychoanalysis must inform the committee and receive its consent." The physicians who worked at the Jerusalem Psychoanalytic Institute did not need to seek posts at the Health Service Organization, and the demand for the services of analysts was on a constant rise. The interest the Hebrew-language newspapers showed in the fate of the Freud family following the annexation of Austria increased the visibility of the immigrant analysts working in Palestine, a fact to which Eitingon attributed the large rise in the number of persons who sought therapy in the second half of 1938. Although some of these persons were disappointed that these new "healers of the soul" did not offer them charms and potions, the analysts, in turn, demonstrated much flexibility and often agreed to incorporate hypnotic therapy in psychoanalysis and thus shorten the period of treatment.
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It seems that demographic changes are not a sufficient explanation for the considerable interest in that period in psychoanalysis as an instrument with which to treat the individual's suffering. Clearly, as the composition of the population in Palestine changed, the number of requests to undergo analysis grew. Still, it is likely that the phenomenon is somewhat more complex. Psychoanalysis held the promise that reality, however harsh and painful it might be, was never dissociated from one's inner world, and by familiarizing oneself with this inner world, and transforming it into something less intimidating, the encounter with reality would be easier, and the ability to cope with it improved. Paradoxically, at the period when reality was shaped by a fascist ideology which did not recognize the concept of the "soul," psychoanalysis offered the immigrant the ability to reexamine the borders between inside and out, between his inner world and the reality outside of it. Eitingon continued to serve as acting "ministry of immigration" for the Germanspeaking analysts even after his immigration to Palestine. Following the Aryanization of the Berlin Institute, many of the analysts from Berlin left to work in Vienna, and thus the number of analysts working there just prior to the annexation of Austria to the German Reich was larger than ever. The second wave of immigration of the Viennese analysts stretched the boundaries of the solidarity of the psychoanalytic movement beyond the ability of most psychoanalytic societies. The Americans established specific committees for relief and absorption, which tended to reject any analyst who lacked a medical education, while the British Psychoanalytic Society was more attentive to the personality and theoretical orientation of the immigrants who sought to be accepted. Ernst Jones, the president of the British Psychoanalytic Society, who dubbed the immigration of the Central European analysts "the third Diaspora," was much concerned about the "notoriously rebellious personality" of the senior Berlin analysts. Unlike Jones, who preferred young analysts without medical education, Eitingon in fact attempted to encourage experienced analysts to emigrate to Palestine in order that they might serve as teachers at the fledgling Jerusalem Institute. But these analysts in general preferred to seek out the American Institutes or the British Institute, rather than set out for Palestine. Eitingon even managed to convince the British authorities that the immigration of a few analyst physicians would not represent competition for the local physicians, since the livelihood of any student of Freud's was assured. And yet, the feverish correspondence which Anna Freud, Eitingon and Jones carried on during those years leaves little doubt: apart from a few singular cases, the psychoanalysts from Central Europe chose Palestine only out of necessity and only after their attempts to migrate elsewhere had failed. Jones, aware of Eitingon's disappointment, attempted in his British fashion to console him: "we are all waiting here in anticipation of Hitler's speech this evening. I hope we won't soon be obliged to seek shelter in Palestine." The few analysts who sought shelter in Palestine had to first present themselves before Eitingon, so that he might evaluate "their level of suitability for the unique conditions of this country."
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Two renowned and highly privileged analysts as were Wilhelm Reich and Theodore Reik, who had roamed throughout Europe during the thirties, might well have arrived in Palestine already in 1933, if it hadn't been for Eitingon's objection, who was concerned with the Communist identity of the one, and the notorious rebelliousness of the other. Reik did arrive in Palestine for a visit, and lectured before the members of the Jerusalem group, yet his critical approach towards Jewish customs, as expressed in his books, not only were far from Eitingon's personal leanings, whose own affinity to the Jewish tradition only grew, but might also have endangered the neutral and unobjectionable public image Eitingon attempted to foster amongst the Palestine group. Anna Freud was extremely interested in the fate of the group working in Palestine. Eitingon, practical and often reserved, wrote her of his journeys in the country, of his memorable visits in the desert and at Petra, the intoxicating smells of the citrus trees blossoming and the excellent weather. Often he sent to Vienna crates of oranges or grapefruits, and received the report that "such grapefruits, unlike any sold in Vienna, even Papa devours with rapture, although he is forbidden to eat fruit." The analysts had plenty of business even before they had spent two years in Palestine. Eitingon himself at the time had nine patients under analysis. Wolf, the most flourishing writer among the group members, often complained of the incompatibility of the local population with psychoanalysis, yet quickly established a small psychoanalytic court in Tel Aviv, called "the David Eder Psychoanalytic Institute," which trained many educators and social workers for the pedagogic-analytic work with their students. The long-standing rivalry between Wolf and Eitingon often nearly led to the breakup of the Jerusalem group. Somehow the small psychoanalytic society managed to at least maintain an image of solidarity even during the periods in which Wolf threatened to boycott the meetings, and during those times in which a number of members had to face a disciplinary committee under the claim that they had strayed from "the classic Freudian psychoanalysis." This was an accusation often hurled at one another within the society and which helped to revive certain rituals and memories from Berlin and Vienna. The seminars for teachers and pedagogues, which were held by a number of fellows from the Psychoanalytic Institute, increasingly became more suspect of straying from the original spirit of psychoanalysis. Wolf was shocked by what the analyst Fania Lowezky wrote in 1950 in the popular newsletter for pedagogues Mental Hygiene, and he began to suspect that she instructed the kindergarten teachers she trained to "spoil the children." Lowezky was made to appear before a special committee and to "prove that her theoretical positions did not stray from those of classic Freudian analysis." What was that "classic analysis" which was supposed to unify the members of the Jerusalem Institute, and which, if not upheld, was grounds to question the very use of the word "psychoanalysis"? This question, which accompanied the psychoanalytic movement since Freud had written On the History of the Psychoanalytic Movement in 1914, received a special signification after the emigration of the analysts from Central Europe and the closing of the two Institutes in Berlin and Vienna. The term "classic"
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had a psychological meaning for those who had been severed from their work environment, their language and culture. The "classic psychoanalysis" served the emigres as an alternative identity signifier during the years in which they had to establish themselves in their new environment. Internal struggles and "theoretical purges" had accompanied the organizational culture of the psychoanalytic societies from their very establishment, but in what ways was the Institute in Palestine different from that in Vienna or Berlin? Anna Freud wanted to know whether the future of the Jewish nation in the "Land of Israel" would also affect the state of psychoanalysis, and whether the connection to the land and earth would cause the Berlin analyst in Palestine to suddenly become a landowner, or even a farmer. The idyllic descriptions of the nature and the views sent by Eitingon in Palestine echoed in Ms. Freud's heart: psychoanalysis and oranges, Jerusalem figuring in one of her dreams as "a combination of the Vienna forests and Berchtesgaden." Eitingon did not count on the natural willingness of the German emigres to adopt psychoanalysis, as though it were a Germanic spiritual asset, a "transitional object" which would help them retain their identity and facilitate their acceptance in Palestine. In this he differed from his friend the author Arnold Zweig, who was undergoing analysis at the time in Haifa, and who had resigned himself to years of intellectual solitude. Indeed, Eitingon's repeated failed attempts to bring psychoanalysis to the Hebrew University could serve as a reminder that the German model, on which the Hebrew University was founded and based, would hardly make Hebrew academe more receptive to Freud's ideas any more than German academe had been. The "psychoanalytic parlor," directed by Max Eitingon and his wife, and the Weimar-style receptions held at the Institute from time to time, were designed to enhance the standing of psychoanalysis both among skeptical medical circles and socialist groups. The fact that over 30 percent of the 130 analyses which took place at the Jerusalem Institute during the first seven years of its establishment were in either Yiddish or Hebrew demonstrates the significant success of Eitingon and his colleagues in increasing the number of persons interested in psychoanalysis. The gradual dissemination and acceptance of analytic practice in the society in Palestine necessitated the consideration of a number of formal questions and issues of judicial precedence. Questions of the minimum fees analysts would charge their patients brought Eitingon in 1935 into a confrontation with the Physicians Union, one of the most powerful organizations in the Yishuv, and at last a compromise was reached. It enabled the analysts to preserve the unique philanthropic character of the Institute and give, in cases of need, "gratis treatment," whilst the private clinics would abide by the minimum fees set by the Physicians Union. The ideological and nationalist issues which were at the heart of the events of the time soon became part of the academic activities offered by the fledgling institute to its members. The lecture given by Obemik-Reiner "On the Contribution of Individual Observations in Groups of Children to the Construction of Collective Education" and Eitingon's lecture "Sexuality and Dreams in the Talmud" are two examples of
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the ethnic-nationalist context which characterized the meetings at the Institute during its first years in Palestine. It is unlikely that a lecture such as that would have received Freud's blessing were it to have taken place in the Psychoanalytic Society in either Vienna or Berlin a few years earlier. While inwardly Eitingon demonstrated much flexibility in allowing the reality in Palestine and the Nationalist Jewish sentiments to influence the lecture program at the Institute, in the annual reports sent to the International Psychoanalytic Association, he particularly emphasized psychotherapy as the mainstay of the Institute's interests. By 1943, at the end of ten years of activity in Jerusalem, Eitingon observed with much satisfaction the list of well-wishers on the occasion of his sixtieth birthday. The praises for the pupil of Freud were voiced by representatives of the different and most opposed ideological and intellectual streams. None felt threatened by the presence of the Palestinian Analysts, and no one considered psychoanalytic theory to be overly critical or subversive. This point raises the question whether the price paid by the immigrant analysts for the establishing of psychoanalysis in Palestine did not entail the relinquishing of its critical aspects. Did the desire to ensure a wide consensus regarding the merits of Freud's theory in the collectivist atmosphere of the Yishuv not bring Eitingon and his colleagues to steer psychoanalysis onto a pronounced anti-intellectual path, leading potentially to a narrowing of the horizons of the local psychoanalytic discourse, and the danger of severing its connections from the cultural-critical tradition? As we have seen, the critical psychoanalytic discourse of the "Shomer Ha-Zair" educators in fact distanced psychoanalysis from the individual and utilized it for the group's ideological needs. Thus, a paradox is revealed: in the collectivist social reality which existed in Palestine during the British Mandate, on the one hand, the ability of the analysts to "retreat to the clinic" and to offer the individual the ability to recover his own private language was of primary importance. However, this very retreat to the clinic and to the seclusion of the therapy room distanced psychoanalysis from critical intellectual discourse, which could have contributed to the liberation of the individual and to the liberation of society from the Utopist and Messianic elements it was creating and passing on to the younger generation. Modern Jewish nationalism, as radical and revolutionary as it may have been during its formative years, was not overly tolerant towards those who questioned the basic tenets of Zionism and nationalism. The amalgamation of Utopian ideals with actual Zionist activities led to a renouncement of everything not directly identified with constructivist activism. "More deeds, less words" was and had always been the motto of the immigrants in Palestine who viewed philosophy, criticism, or reflection as a sort of antithesis to change and construction. The gradual formation of the group of immigrant psychoanalysts in a framework identical to that which had existed in Berlin did not serve to define the boundaries between a political reading of psychoanalysis and a therapeutic-scientific reading. In order to maintain the independence of the Psychoanalytic Institute, both as a teaching facility and a therapeutic one, the analysts had to find the pathway which would allow
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them the greatest autonomy in everything concerning the training of analysts, without bringing upon them the wrath of the unions of both physicians and educators, very well represented in the Yishuv leadership. "The intensive building that characterizes this place forces us to follow our own private path and not become absorbed too early in public life," wrote Eitingon to Freud, and added: "after all, it is the same people, with the same problems we had been used to dealing with, as clearly neither orthodox Jews nor Arabs are candidates in any way for psychoanalysis."
Continuity and Crisis The historical perspective developed here points out the elective affinity which early Zionists professed to find in psychoanalysis' revolutionary nature. While juxtaposing the "New Man" of Zionist ideology and the "Freudian Man," Hebrew nationbuilders developed a particular image which shaped the reception of Freud's followers in educational, medical and scientific circles in Palestine. The image of the Jewish emigrant in Palestine itself served this purpose: the image was of a newcomer who had freed himself from the chains of an oppressive past. This was a person presented in terms that were abstract and mythic, and who could thus henceforth determine her or his own fate. The relation of Jewish particularism to European Enlightenment universalism also gained expression in that Freud's early positivist ideas were welcomed as support for Zionism's romantic endeavor to reconstruct a unified national past. In its initial period, the theory of psychoanalysis - its subjection of the life of the human soul to specific rules, its attempt to uncover suppressed material, and its grounding of action and experience in an unconscious determinism - was in many respects especially attractive for those circles convinced of the human propensity to repeat the past. In addition, the Freudian texts constituted an intellectual playground on which the meeting between East European and Central European intellectual traditions could take place. Hebrew culture facilitated a particular hybridization between the "Russian Freud" - to whom constructivist-collectivistic aspirations have been ascribed - and the original "German Freud" - notorious for his individualistic and pessimistic Weltanschauung. Historical perspective enables us to view the story of the migration of psychoanalysis to Palestine and its acceptance in the Yishuv not only as a story of continuity, which confirms the cross-cultural validity of Freud's theory, or as the result of the unique historical affinity of the Jewish nation and the Hebrew culture to the European intellectual tradition, but also as a tale of separation and crisis. Those of Freud's students who identified with the Zionist movement often found themselves in a position of a conflict of loyalty; this forced them to redefine their identification with the Central European psychoanalytic ethos. Freud never rejected either the diasporic Jew or the bourgeois character. He did not try to shape the "New Man," and even less, a "New Jew." His stoic and pessimistic attitude towards conflicts which had accompanied human existence from the very
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beginning place him at a distant r e m o v e from the Utopian constructivism o f most of the Zionists. Those w h o v i e w e d him solely as the basis o f or as a m o d e l for identification, aimed at leading to personal and national redemption, often left the encounter with Freud and his work disillusioned. The formative years o f psychoanalysis in Palestine were thus caught up in a perpetual conflict. The question of w h o and what the analysts wanted to be allied with - the individual and her or his needs, or the society in which she/he lives - manifested itself as a central issue already in the early stages of the development o f local psychoanalysis. The popular psychoanalytic discourse worked ceaselessly towards defusing the influence of the social p e s s i m i s m which was incorporated in Freud's works. Undoubtedly, until the immigration of the first psychoanalysts into Palestine, the affinity between most of the circles in the Yishuv and Freud was more structural than essential. Yet in the course o f time, psychoanalysis could gradually regain its unique therapeutic position. For quite a f e w immigrants it offered an alternative perspective on questions w h i c h were otherwise ideologized and considered as self-evident by Zionist ideology.
Bibliographic Note This essay completes a series of publications in which I have explored the main ports of entry through which psychoanalysis gained a footing in mandatory Jewish Palestine as well as in Israel, in the early years after the establishment of the state. Eran J. Rolnik, Mit Freud nach Palästina. Zur Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 27 (1998), 273-300; idem, Von Wien nach Jerusalem. Psychoanalyse im Jüdischen Palästina, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 15 (2000), no. 3, 195-212; idem, Between Ideology and Identity. Psychoanalysis in Jewish Palestine (1918-1948), in: Psychoanalysis and History 4 (2002), no. 2, 203-224; idem, Psychoanalysis Moves to Palestine. Immigration, Integration and Reception, in: J. Bunzl/B. Beit-Hallahmi (eds.), Psychoanalysis, Identity, and Ideology. Critical Essays on the Jewish/Israeli Case, Boston 2002, 141-176; idem, Oedipus in Palestine. Psychoanalysis in Hebrew Culture, in: Zmanim 88 (2004), 44-62 (Hebrew). The primary sources used in this paper were collected in various archives: The Central Zionist Archive, Jerusalem; The Jewish National Library, Jerusalem; The Max Eitingon Collection in the Israel State Archives, Jerusalem; Freud Museum and Research Center, London; The Ernst Jones Collection in the Archives of the British Psychoanalytic Society, London; The Sigmund Freud Collection in the Manuscript Division of the Library of Congress, Washington D.C; The A. A. Brill Library and Archives of the New York Psychoanalytic Institute, New York; Leo Baeck Institute, New York; Stiftung Archive der Akademie der Künste/Arnold Zweig Nachlass, Berlin; YIVO Institute for Jewish Research, New York In addition to cited passages from unpublished correspondences between Freud and his disciples the paper includes several quotations from the major published volumes with "Freud Correspondence ": Sigmund Freud/Ernst Jones, The Complete Correspondence of Sigmund Freud and Ernst Jones, 1908-1939, ed. R. Andrew Paskauskas, Cambridge, Mass./London 1993; Sigmund Freud/Karl Abraham, Briefe 1907-1926, ed. Hilde C. Abraham, Frankfurt a.M. 1965; Sigmund Freud/L. AndreasSalome, Briefwechsel, ed. Ernst Pfeiffer, Frankfurt a.M., 1966; Sigmund Freud, Briefe 1873-1939,
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E r a n J. R o l n i k
Frankfurt a.M. 1960; Sigmund Freud/Max Eitingon, Briefwechsel 1906-1939, ed. Michael Schröter, Tübingen 2004; Gerhard Wittenberger et al. (eds.), Die Rundbriefe des „Geheimen Komitees", 3 vols., Tübingen 1999-2001; Otto Fenichel, 119 Rundbriefe, ed. Johannes Reichmayr, Frankfurt a.M./Basel 1998. The secondary literature on the migration of German speaking intellectuals in general and psychoanalysts in particular includes the following monographs and journal articles: Herbert A. Strauss (ed.), Jewish Immigrants of the Nazi Period in the U.S.A, 6 vols., New York/ Munich 1978-1988; idem/Wemer Roeder (eds.), International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933-1945, Munich et al. 1983 (German edition Munich 1983); Mitchell G. Ash/ Alfons Soellner, Forced Migration and Scientific Change. German Speaking Scientists and Scholars after 1933, Washington 1996; Mitchell G. Ash, Women Emigre Psychologists and Psychoanalysts in the United States, in: Sybille Quack (ed.), Between Sorrow and Strength. Women Refugees of the Nazi Period, Cambridge 1995, 239-264; Mitchell G. Ash, Central European Emigre Psychologists and Psychoanalysts in the United Kingdom, in: Werner E. Mosse/Julius Carlebach (eds.), Second Chance. Two Centuries of German-Speaking Jews in the United Kingdom, Tübingen 1991, 101120; Laura Fermi, Illustrious Immigrants. The Intellectual Migration from Europe, 1930-1941, Chicago 1968; Donald Fleming (ed.), The Intellectual Migration. Europe and America 1930-1960, Cambridge 1969; Leon Grinberg/Rebeca Grinberg, Psychoanalytic Perspectives on Migration and Exile, Boston 1989; Marianne Hassler (ed.), Der Exodus aus Nazideutschland und die Folgen. Jüdische Wissenschaftler im Exil, Tübingen 1997; A. Haynal, Central European Psychoanalysis and its Move Westwards in the Twenties and Thirties, in: Hella Ehlers (ed.), The Trauma of the Past. Remembering and Working Through, London 1994, 101-116; Russell Jacoby, The Repression of Psychoanalysis. Otto Fenichel and the Political Freudians, New York 1983; Edith Kurzweil, Psychoanalytic Science. From Oedipus to Culture, in: Ash/Soellner (eds.), Forced Migration and Scientific Change, 139-155; Regine Lockot, Die Reinigung der Psychoanalyse. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeitungen 1933-1951, Tübingen 1994; Jay Martin, Permanent Exiles. Essays on the Intellectual Migration from Germany to America, New York 1986; George Mosse, The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, New York/Oxford 1996; Uwe Peters, Psychiatrie im Exil. Die Emigration der Dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933-1939, Düsseldorf 1992; David Rechter, The Jews of Vienna and the First World War, London 2001; Friedrich Stadler (ed.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaftler 1930-1940, Vienna/Munich 1987; Edward Timms (ed.), Freud in Exile - Psychoanalysis and its Vicissitudes, New Haven 1988; Moshe Zimmermann, German Jews and the Jewish Emigration from Russia, in: Selwyn Ilan Troen/Benjamin Pinkus (eds.), Organizing Rescue. Jewish National Solidarity in the Modern Period, London 1992, 127-137. The following monographs on Zionist Culture and medical and scientific discourse of late 19th century Europe were indispensable to my understanding of the reception of the Freudian paradigm amongst the champions of Jewish nationalism: Michael Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, Chapel Hill 1993; Daniel Boyarin, Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man, Berkeley 1997; John M. Efron, Medicine and the German Jews. A History, New Haven 2001; Sander L. Gilman, The Case of Sigmund Freud. Medicine and Identity at the fin de siecle, Baltimore 1993; idem, Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986; Mitchell B. Hart, Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity, Stanford 2000; David N. Myers, Re-Inventing the Jewish Past. European Jewish Intellectuals and the Zionist Return to History, New York 1995; Chandak Sengoopta, Otto Weininger. Sex, Science, and Self in Imperial Vienna, Chicago 2000; Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2004.
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The Odyssey of an Emigre Sociologist Werner J. Cahnman, 1902-1980 In 1935, two years into his self-exile from Nazi Germany and temporarily in Zurich, before his exile in America, Thomas Mann made the following entry in his diary: "Had a visitor this afternoon, a Dr. Cahnman from Munich, young Jew, of delightful southern German disposition and very smart to boot. We had some interesting but depressing discussions about the goings-on in Germany, which lasted until almost 8 o'clock in the evening."1 The young Jew from Bavaria with charm and keen intelligence who thus impressed the world-famous writer was Werner J. Cahnman, who went on to become a fellow refugee and sociologist in America, a proponent of comparative historical sociology, ethnicity and intercultural relations, and a Tönnies scholar. This article aims to introduce the biography of Cahman as an emigre sociologist. In trying to discern stages of Cahnman's life story, we may distinguish four periods or stages. The first is his childhood and youth growing up in southern Germany. The second is his maturation as a scholar active in the Centraiverein, down to his captivity in Dachau and emigration in 1939. The third is his period as an emigre sociologist seeking a new life in the United States, and the fourth the acme of his career and growing influence as a historical sociologist at Rutgers University.
A German-Jewish Childhood Before World War I Werner J. Cahnman was born in Munich on September 30, 1902, the first son of an old German-Jewish family. His paternal and maternal families were quite different. His father was born in the village of Rheinbischofsheim, and so were most of his relatives. Their Judaism was rustic and folksy, sentimentally attached to family and community (Gemeinschaft), but without Jewish learning. Werner's maternal family was almost entirely concentrated in Munich. They belonged to the haute bourgeoisie, were real estate operators, bankers, industrialists and jurists. Their sons and daughters were interested in art and music or literature and philosophy. Kultur was their religion. In the 1970s, he recalled: "My mother's heroes were Spinoza and Mendelssohn. Her Judaism had an ethical orientation; she hardly ever went to services. But she respected my father's adherence to traditional values, helped [...] in the observance of Seder, Chanukka, Friday Eve and in
' Thomas Mann, Tagebücher, 1935-1936, ed. by Peter de Mendelssohn, Frankfurt a.M. 1978, 167. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 47-59
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later years became very interested in the writings of Martin Buber and Leo Baeck. Kashrut was not observed. My mother's main idea was that everybody, but especially a Jew, should promote justice in the world. My uncle felt that quest was in vain. My mother died in Piaski, Poland, in unimaginably terrible circumstances."2
From his father, Werner inherited the perspective of a participant observer, the emotional attachment to places of his youth, and a Jewishness that was a matter of unquestioned belongingness or Gemeinschaft. Father Cahnman had been deeply interested in all aspects of Jewish life, not a Zionist or any kind of ideologue, but what Werner called "an adherent of Jewish peoplehood." Thanks to his father, Werner explained in a "Methodological Note" to a typological study of Village and Small Town Jews in Germany, "my memory reaches three or four generation back into the past [...]. Having inherited my father's historical enthusiasm, I have collected much family related data since early youth, partly by consulting archives, but chiefly by interviewing older relatives."3 His parents' house in Munich was a meeting place for notables of all persuasions. Zionism, socialism, and women's politics were frequently discussed. While Werner was thus exposed to a variety of Jewish and political viewpoints, he felt that, on the whole, the Jews of Munich were bourgeois liberals. Their Judaism was satisfied with the fact that when they said, "I do not deny being Jewish" - that was as far as they went. In this situation he decided, "I must be Jewish in a much more genuine sense and that the way of moving along that path was Jewish learning."4 Strangely enough for a teenager, he began with an excursion into Jewish demography by reading Juden der Gegenwart by Arthur Ruppin. Facts and figures about baptism, intermarriage, nonmarriage, declining birthrates became an abiding concern to him. He read Theodor Herzl's Zionist writings and Davis Trietsch's Palästina Handbuch, and soon knew all the early settlements by heart. There in Palestine, he thought, the Jew could be entirely himself, a worker and a fighter, a Maccabean. But World War I interferred. "My German patriotism was aroused, the revolution and its aftermath were deeply disturbing and I could not imagine myself running away to the fabled East when my right to live in my country was contested."5
Turning Inward and Outward to Jewish Roots It was then that he turned more decisively to Jewish learning and read Baeck, Buber, Rosenzweig, Dubnow, Beer-Hofmann. Buber, who frequently came to Munich, was the great guide. Decades later, he recorded the impression he received from Buber 2
3 4 5
Werner J. Cahnman, My Relation to Jews and Judaism (unpubl. ms.). The author has a number of unpublished manuscripts in his private possession. Ibid. Ibid. Ibid.
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in the Reconstructionist.6 Cahman's paper "Judentum und Volksgemeinschaft," published in 1926 by Der Morgen, was the first expression of what was to become characteristic of his combination of romantic philosophy, historiography and Jewish ethnicity.7 He sent the article to Thomas Mann, who thanked him.8 University studies in economics, history and sociology in Berlin and Munich led to a doctorate with a dissertation on Ricardo (1927) sponsored by Professor von Zwiedineck-Südenhorst, the noted exponent of Sozialpolitik at the University of Munich.9 Cahnman's second period includes his time as research associate at the Berlin Chamber of Industry and Trade and the Institute for World Economy at the University of Kiel (1928-1929). In 1930, Ludwig Hollaender, the director of the Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, asked him to assume the position of general counsel (Syndikus) for Bavaria, and he accepted willingly.10 Men in their twenties were, as a rule, hardly considered mature and experienced enough to cope with the responsibilities of the job. When Cahnman was chosen, he tried to calm the fears of his elders with the assurance that "at my age, Napoleon won the battle of Arcole."11 Dr. Hollaender thought Cahnman's Bavarian-Swabian accent would be a great asset in dealing with ministry officials. His duties consisted of dealing with government authorities, institutions and persons in public life in matters concerning speaking engagements, organizational developments, and youth welfare. He described and analyzed his work in the Centraiverein and the six years he spent under Nazi rule in two papers, "Die Juden in München 1918-1943" and "The Decline of Munich Jewish Community 1933-1938." 12 He came to appreciate the Jews in the small towns in Franconia and Swabia, especially the Jewish teachers, because of their patience and perseverance in adversity and their deep Jewish loyalty, which he could not find in the big-city Jews of Munich. He presented two late sociological studies of that period in "Role and Significance of the Jewish Artisan Class" 6
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Werner J. Cahnman, Martin Buber. A Reminiscence, in: The Reconstructionist 31 (October 1965), no. 12, 7-12. Werner J. Cahnman, Judentum und Volksgemeinschaft, in: Der Morgen 2 (1926), no. 3, 291-298. Unpublished letter of Thomas Mann, in Cahnman Nachlass. Werner J. Cahnman, Der ökonomische Pessimismus und das Ricardosche System, Halberstadt 1929. The Centrai verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) was established in 1893 in Berlin as defense organization against growing anti-Semitism. During the Weimar Republic it had 70.000 members. The C.V. was in favor of assimilation as the name expressed: German Citizens of Jewish faith. See Avraham Barkai, „Wehr Dich!" Der Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1933, München 2002; see also Avraham Barkai, Forms of Organisation of the Jewish Community, in: Michael A. Meyer (ed.), German-Jewish History in Modern Times, 4 vols., vol. 4 (Renewal and Destruction 1918-1945), New York 1996, 7 2 101. Cahnman, My Relation to Jews and Judaism. Both essays in Joseph Maier/Judith Marcus/Zoltän Tarr (eds.), German Jewry. Its History and Sociology. Selected Essays by Werner J. Cahnman, New Brunswick, N.J. 1989, 83-95 and 9 7 149.
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ZOLTÄN TARR
and "Village and Small T o w n Jews in Germany." 1 3 H e c o u l d not share the position o f the superpatriotic Jewish war veterans' organization and f o r m e d ties to the Zionists, the Zionist Y o u t h organizations and the J e w s o f Eastern European descent
{Ostjuden),
w h o constituted 2 5 per cent o f the J e w s o f M u n i c h . For years h e w a s also lecturer (Dozent)
at the Jüdisches
Lehrhaus,
w h e r e h e g a v e lectures o n Franz R o s e n z w e i g ,
Heinrich H e i n e , Jakob W a s s e r m a n , Palästina
Außau,
" D i e Juden i m Donauraum"
etc., and w a s h i m s e l f a student in its H e b r e w language courses. H e l o v e d the H e b r e w language as a link "connecting us over the generations, s o m e t h i n g that binds and strenghthens us." H e published numerous articles including "Warum Hebräisch lernen?" ( " W h y learn H e b r e w " ) in w h i c h h e wrote: "Certainly, Hebrew is the language of living, Jewish Palestine [...] But Hebrew is much more than just that. It's the language of the Torah and Prophets, the siddur and machzor, the language of memory and promise. If Judaism is present everywhere that Jews join together in a holy community of faith, then the basis exists throughout the world for the Hebrew language. Palestine is small and its importance would be limited if measured in terms of the number of those who will have the good fortune to live in the midst of the reborn Jewish people. It will become greater than anyone expects if, proceeding from Zion, a new global significance is fashioned for the Hebrew language. 'Nulla dies sine linea hebraica' - no day without a line of Hebrew, in the words of Franz Rosenzweig." 1 4 H e c o n t i n u e d h i s w o r k e v e n after the Central verein o f f i c e in 1 9 3 4 w a s c l o s e d d o w n by the N a z i s and h e w a s briefly thrown into the M u n i c h p o l i c e prison as a leader o f an illegal organisation. In the spring o f 1 9 3 7 , Cahnman visited Palestine and reminisced: "The land was impressive, empty and challenging. The sacredness of its soil could still be experienced. I met Judah Magnes, President of Hebrew University, and friends from Munich. The Arab riots lasted throughout my stay. When I came to see Magnes on Mount Scopus, I commented that, unlike others, I thought the unrest might last a long time. Magnes replied: Ά very long time.' In a report to the non-Zionist members of the Jewish Agency, which I wrote after my return, I emphasized the two weak spots of the Yishuv: the lack of a post-medieval religious movement and the inability of many Jews to understand that they must share the land with the Arabs." 1 5 H e returned to the t h e m e o f co-habitation with the Arabs m a n y times. In 1 9 4 6 he wrote: "If we were united with a considerable number of Near Eastern peoples, Arabs among them, in a plan for the development of the region, we would be part and parcel of an antiimperialistic revolution that will shape the future of Asia [...]. If Zionism does not signify the homecoming of the Jewish people into the wider community of the Mediterranean
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Ibid., 29-42 and 43-68. Werner J. Cahnman, Warum Hebräisch lernen?, in: Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt 15 (1937), no. 6, 12. Cahnman, My Relation to Jews and Judaism; idem, Unruhe in Palästina, unpublished ms.
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peoples, but merely the spearhead of a hated foreign invasion, then the peoples of the region, among whom the Arabs occupy a conspicuous position, will necessarily come to regard the Jewish people not as an ally in their struggle for home rule and independence, but as an enemy." 16 Cahnman abandoned his original plan of permanent settlement in Palestine, and continued to feel that his place w a s still in Munich: "I had been a Jewish official, after all, in order to help where help was needed," even after the Centraiverein o f f i c e w a s closed down. H e w a s confident that his luck w o u l d not desert him, and he would be able to find the right moment to leave the country. Cahnman visited Vienna in 1932 and 1937 and even Budapest once, giving detailed reports o n the Jewish scene there. H e reminisced: "My principal teacher, Professor von Zwiedineck, was an Austrian and hence sensitive to questions of nationality. In the Centraiverein, I was charged with maintaining contact with the Oesterreichisch-Israelitische Union, our sister organization in Vienna. The decisive contacts were established in 1937, when I went to Vienna illegally." Cahnman w a s influenced by the federalist ideas o f Adolph Fischoff and published four papers o n Fischoff, which clearly establish Fischoff as the fountainhead not only of federal thinking, but also of the Jewish national m o v e m e n t in Austria. 1 7 In 1938, because of his work for the Centraiverein, Cahnman w a s arrested by the Nazis and had to g o through the trials and tribulations of the concentration camp in Dachau. His description o f his two months in Dachau, N o v e m b e r and D e c e m b e r 1938, is still a m o v i n g document. 1 8 Describing life in the camp showed not only his talent to spot the sociologically significant aspect but also his analytical bent - that was in evidence even in an existential situation. H e talks here about the morale o f the Jewish prisoners in its various shadings and the fact that "on the whole, intellectuals and people of the upper class, as well as persons from the laboring classes, stood the test better than the middle classes [...]. The petit bourgeois simply did not understand what was happening to him [...]. People from the laboring
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Idem, The Arabs and Zionist Policy, in: Youth and Nation 14 (May 1946), no. 7, 6-8. In his 1973 interview he reiterated his views: "The plain fact is that both Jews and Arabs are at home in that area and that they must either co-exist or destroy each other. Hence, some kind of federal structure will be of the essence, if peace should ever come to Israel and her neighbors. I realize, of course, that this raises a host of problems of a most intricate nature, economic, cultural, political, military, which will require a long time to get untangled. But in politics one must know what one wants, irrespective of whether one can get it sooner or later, and then work on one's goal, as Max Weber put it, with passion and patience alike." Werner Cahnman at Seventy, in: The Reconstructionist 39 (June 1973), no. 7, 25. Cahnman, My Relation to Jews and Judaism; idem, Adolf Fischoff and the Problem of the Reconciliation of Nationalities, in: East European Quarterly 12 (1979), 43-56. Werner J. Cahnman, In the Dachau Concentration Camp. An Autobiographical Essay, in: Maier/ Marcus/Tarr (eds.), German Jewry, 151-158.
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ZOLTÄN TARR classes, on the other hand, were helped by their sturdy physique and by a culture pattern which was less individualistic and more inclined toward mutual help."19
He attributes the strength of the intellectuals and people from the business elite to their inner resources and their keen grasp of the situation. Similarly, he observes and establishes types and characteristics even among the SS overseers. As he put it: "There was a whole range of types, from the all-out bloodhound to the contemptuous sadist, and from the moral monster to the man who appeared to merely do his duty." He is aware of the dangers of generalizations though, and adds that "the exception is as important as the rule."20
He was released from Dachau on 16 December 1938; his mother secured a visa for Paraguay. He was advised that he would be arrested again if he failed to leave the country. He left Germany on June 20, 1939. "I was born into a new life," he wrote. In London he moved farther in the direction indicated by his contacts in Vienna and came to the United States in 1940. He reminisces: "My first feeling on American soil was one of intense relief, of joy, that I had caught a place on the Noah's Arch, in the land of freedom." 21
Welcome to America Cahnman's Americanization began almost immediately in a summer seminar for foreign scholars and teachers at the Brewster Free Academy, a Quaker institution in Wolfboro, New Hampshire. The guiding spirit of the seminar was Herbert A. Miller, "a wise old scholar" and friend and colleague of Robert E. Park in the sociology department of the University of Chicago. Cahnman writes about what he told the newcomers: '"This is the land of the free and the home of the brave, where everybody can do as he likes - and if he doesn't, you make him.' America is a brainwashed country where you must howl with the wolves, but as the wolves howl differently in incessantly changing sequences, so must you ... You are welcome, on the condition that you don't object; if you object, you are not punished, you are merely ignored."22
Miller evaluated Cahnman's Jewish, Bavarian, German, Austrian and near Eastern antecedents, as far as intellectual interests were concerned, in such a way as to define and designate him as sociologist specializing in questions of race and culture. He recommended him as a "visiting Ph.D." to the Department of Sociology at the 19 20 21 22
Ibid., 155. Ibid., 158. Cahnman, My Relation to Jews and Judaism. Ibid.
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University of Chicago and attempted to introduce him to sociologists by inviting him to present a paper on "Resistance to Domination." Cahnman reminisced: "He may have thought of my experience under the Nazis and I presented a thoroughly historical paper in which I analyzed how the Medieval Jew turned the humiliation to which he was exposed on the outside into a sense of being sheltered and even elevated on the inside in his innermost being as a Jew."23
In due course, "I became a Chicago sociologist," Cahnman recalled, chiefly indebted to Robert E. Park who, "influenced my thinking very much." Without that particular association, he believed, a number of papers "could not have been written,"24 among them "Mediterranean and Caribbean Regions: A Comparison in Race and Culture Contacts" and "Religion and Nationality."25 It was Chicago, too, that Cahnman met Louis Wirth, one of the few and certainly the best-known Jewish sociologist in the country at the time. Their common interest in things Jewish did not, however, make for a close relationship since they had quite opposite views. Wirth was a thoroughgoing assimilationist and Cahnman maintained his strong survivalist perspective. After he had spent several years as an instructor at Fisk and Atlanta universities, Wirth helped him get the position of research associate at the Jewish Community Center Study of the National Jewish Welfare Board. Cahnman wistfully remarked, "I was thus relegated to an (academic) backwater." 26 On the Jewish scene in America, he encountered pitfalls as well as compensations. From Munich he had brought with him two sets of data which he hoped to publish. One was the statistics on Jewish emigration from Munich in 1933 to 1939. In undertaking the study, his idea was to document the Jewish community of Munich. Salo W. Baron, Professor of Jewish History at Columbia University, himself of Austrian (Galician) birth, accepted the paper for the Journal of Jewish Studies. A second paper, "Herzl and the Munich Jewish Community," which he saved from community's archives, was published in Historia Judaica. There were some Jewish scholars whose friendship meant a great deal to him in those years. There was Henry Hurwitz, the editor of Menorah Journal, for instance, who offered him an outlet for publication of a sketch of his memorable meeting with Stefan Zweig in Salzburg.27 He felt near at this time to "Ha-Shomer Ha-Zair", though he opposed their anti-religious attitude and remained sceptical toward their Marxism. He liked their communalist Gemeinschaft way of life and supported their idea of a binational state in Palestine rather than the Biltmore program. Cahnman finally found his home in American Jewish life when Rabbi Mordecai M. Kaplan asked him to join the editorial board of The Reconstructionist magazine 23
Ibid.
24
Ibid.
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In: Social Forces (1943) and American Journal of Sociology (1944). Cahnman, My Relation to Jews and Judaism. Werner J. Cahnman, Stefan Zweig in Salzburg, in: The Menorah Journal 30 (July-September 1942), no. 2, 195-198.
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and he published many articles there. 28 Philosophy apart, he had a sense of uneasiness in contemplating the American Jewish scene. He wrote: "Orthodoxy is rigid, Reform is empty, and Conservatism builds a shaky half-way house [... The] rabbinate, with all-too-few exceptions, is neither sufficiently educated nor sufficiently courageous to take the lead. Things are not essentially different in Jewish organization life. Salo Baron once characterized American Jewish life as 'chaos, loosely overorganized' ," 29 In a conference on acculturation, he delivered his paper "Comments on the American Jewish Scene" and said: "By and large, the Jews of America associate among themselves or [...] they are culturally American, but socially in the ghetto. But [...] the ghetto is an American ghetto, not a Jewish ghetto [...]. What should be done by formerly German-speaking Jews now living in this country? Number one, I think a certain hesitant and all too deliberate attitude that seems customary with many Jews of German descent ought to be discarded. One temperamental difference between Central European and East European Jews is that the East European Jew is aggressive, that he is a 'pusher.' If he wants something, he gets it: did he not get the state of Israel? Some of our friends thought it was a most dangerous undertaking [...]. The German Jew is well mannered, he says: 'Please, may I come in?' We have to shed that attitude, we ought to adopt the East European way of doing things, and participate actively in American Jewish organizational life." 30
Professor at Rutgers, Academic Pioneer and Vermittler Par Excellence In his fourth period it appeared that Cahnman "had it made" at last. That period comprises the twenty remaining years of his life. He felt he had been "finally rescued for sociology, when Joseph Maier brought me to Rutgers University" in 1960, and he became a full professor of sociology, although he did not b e c o m e part of the inner circle o f that faculty. For that he was too fastidious in his ideals and standards, too set in his customs and habits, too German, too Jewish, too much himself. He felt himself, as he w a s seen by others, to be a "stranger." It is no accident that he was time and again preoccupied with the conceptual clarification of the term "stranger,"
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Reconstructionism - distinct from the larger and better known branches of American Judaism, the traditional Orthodox, the moderate Conservative and the Reform movements - owes much to the inspiration to its founder, the late Rabbi Mordecai M. Kaplan. Rabbi Kaplan described Judaism as a historic culture, a broader characterization than what is meant by the term religion. In his 1934 book, Judaism as a Civilization, Rabbi Kaplan said that the Jewish spirit was nourished through art, literature and music. Cahnman, My Relation to Jews and Judaism. Cahnman, Comments on the American Jewish Scene.
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as used by Tönnies, Brentano and Simmel. Sociologically, a stranger is not merely a wanderer who comes today and leaves tomorrow, but who comes today and stays tomorrow. To Simmel, himself a German Jew, the Jews of Europe were the most striking example of the "stranger." Cahnman preferred the term Vermittler or "intermediary" for the stranger, who stays and he distinguished him sharply from the "pariah." To him, strangers are not pariahs nor are pariahs (in India) strangers. He uses the term "intermediary" macrosociologically in the sense of Tönnies, that is, as a commercial and cultural intermediary within a social structure. Mediation has its two sides, Cahnman said: "On the one hand, the intermediary as an outsider is looked upon with suspicion; on the other, because he is an outsider, he is welcomed as a friend, a counselor, an impartial judge. He is a neighbor, but he has the advantage of remoteness."31
A Distinctive Emigre Contribution: Galvanizing Historical Sociology in the New World In his last period, Cahnman crossed the boundary for what had hitherto been his chosen area within sociology. Although apparent in his earlier writings, there now emerged an even greater, systematic concern with the historical perspective in sociology. The publication of Sociology and History (1964), with Alvin Boskoff, was path-breaking for the discipline of sociology in the U.S. He contributed to this emergent current through his own writings and as chairman of the very first Historical Sociology Section in the American Sociological Association. Thus, his activities and work were in many ways a precursor to a new direction within the discipline. It marked out the pathway for a new sociology that steers its course between the Scylla of rigid generalization and the Charybdis of extreme empiricism.32 In the introductory essay, the two editors explained what they thought of the sociologist's approach to history and made clear the principles upon which they selected the papers for this ground-breaking volume. The book was the result of their recognition of the complex relationship between history and sociology and of the need to examine the actual and potential interdependence between them. In their opinion, both disciplines were ill-served by the mordant humor that asserted: "Sociology is history with the hard work left out, history is sociology with the brains left out." Cahnman himself never accepted the compartmentalized thinking of "history here, sociology there"; his special talent, sensitivity to the "historically relevant and sociologically significant," marked his lifework. While recognizing that sociology and history are different academic disciplines, unlike in origin and intent, the editors stress that both deal with the same subject matter: human interaction. Thus, they are
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See Maier/Marcus/Tarr (eds.), German Jewry, 19. Werner J. Cahnman/Alvin Boskoff (eds.), Sociology and History. Theory and Research, New York 1964.
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ZOLTAN TARR
partners and competitors at the same time. Together with another collection on social sciences, the volume was reviewed on the front page of The New York Times Book Review (January 24, 1965) by C. Vann Woodward of Yale University. As Woodward put it: "much is to be learned from [these volumes] about what is new in an old republic of letters." Cahnman's work as a Tönnies scholar complemented his efforts in historical sociology. In the last decade of his life, he published several articles on Tönnies in relation to other classical sociologists (Marx, Dürkheim, Weber, Spencer). To be sure, the credit for the translation into English of Gemeinschaft und Gesellschaft belongs to Charles Loomis. However, with the publication of the edited volume, Ferdinand Tönnies. A New Evaluation and the co-edited volume (with Rudolf Heberle, Tönnies's son in law) of Ferdinand Tönnies, On Sociology. Pure, Applied and Empirical, Cahnman did more than any other scholar before or since to bring Tönnies onto the center stage of sociological theory.33 Prior to that, Tönnies had been virtually unknown in the United States in spite of the frequently used German terms Gemeinschaft and Gesellschaft. Cahnman's early practical and activist tendencies reemerged in the 1970s when he branched out from scholarship to promote intercultural relations and preservation of the Jewish past. He called upon his peers to establish the Rashi Association for the Preservation of Jewish Cultural Monuments in Europe. He acted on his deeply felt conviction that after the obliteration of Jewish communities and institutions all around Europe, it was imperative that still remaining, visible testimonies of the past be saved. He singled out Germany as the first place of activity because the "aim of Hitler to obliterate all traces of Jewish life from German soil must be .frustrated."34 It was as important for him to salvage the sites and cultural artifacts as links to the future. Cahnman thought that the visible signs of Jewish continuity would have a significant educational and psychological impact: Gentiles in all these countries would be made to realize that Jewish history was part and parcel of their own, their country's history. In the summer of 1977, he wrote to the NewYork Times: "In The NY Times Magazine of June 19, 1977, I now see an article about 'Heirs of the Holocaust [...].' The story told in that article, which is couched in psychological language, about survivors and children of survivors, is indeed harrowing. I have heard many stories of this kind myself. I am a survivor of Dachau, my mother, my aunt, cousins, friends etc. were deported and killed. I sometimes dream about my friends and relatives. But what purpose is served with publishing these stories at this time? [...] The opening up of hardly healed wounds? The dissemination of bitter emotions?"35
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Wemer J. Cahnman (ed.), Ferdinand Tönnies. A New Evaluation, Leiden 1973; Ferdinand Tönnies, On Sociology. Pure, Applied and Empirical, ed. and introduced by Werner Cahnman/Rudolf Heberle, Chicago 1971. Werner J. Cahnman, Jews and Gentiles. A Historical Sociology of Their Relations, ed. by Judith T. Marcus and Zoltän Tarr, New Brunswick, N.J./London 2004, xii. Unpublished letter to The New York Times (in possession of the author).
THE ODYSSEY OF AN EMIGRE SOCIOLOGIST
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In an article for the journal Sh 'ma, he pleaded for friendship with Germany: "It is high time that the issue of German-Jewish relations is faced squarely by the Jewish community in America. Of course, it is commonplace to invoke the six million slain Jews in this context. The monstrosity of genocide cannot be erased from our memories, but the ritualistic genuflections we have become addicted to will not help to solve us the problems of the present period in history. They are not even doing justice to the facts. I happen to have been actively involved in Jewish civic defense and in vigorous political action in my native Bavaria from 1930-1934 and I remember the strenuous efforts of my political friends in the Catholic and socialist parties, the peasant organizations and the Reichsbanner to stem the onrushing Nazi tide. [...] I was in the Munich Police prison in 1933-34 and in the Dachau Concentration Camp in 1938, but numerous Gentiles were there along with me - all Germans, of course - whose anxieties and sufferings were as great as mine. When the war was over, I found that one third of my schoolmates had perished in it and that most of them had experienced severe property losses while I and the three other Jews in our class in the Max Gymnasium had saved themselves by emigration. In the 1950es, I and my brothers and sisters received generous restitution payments which enabled us to rebuild our lives in the United States and in Israel."36 The last, most philosophical and most elaborate essay of Cahnman, entitled "Friedrich Wilhelm Schelling and the New Thinking of Judaism," deals with an old theme of his, the German-Jewish symbiosis. 37 As one appreciative critic, Selma Stern, put it, the essay addresses the problem of "elective affinity," or the state of affairs when "the Jews achieved some sort of synthesis between Judaism and European culture." As the title of Schelling essay indicates, Cahnman goes back to the early nineteenth century, after the waning of the kabbalistic beliefs due to the collapse of the carriers of the Sabbatian and Frankist movements, and their subterranean influence. He traces its re-emergence in the "garb of romantic philosophy," as evidenced in Schelling's 1815 lectures on "Philosophy of Mythology" and the "Philosophy of Revelation." The Schellingian influence on the thinking of the representatives of the second Emancipation in Germany is thus - strange as it seems - emanated from kabbalistic sources. The line reaches the twentieth century in the persons of Franz Rosenzweig and Hermann Cohen - up to the writings of Max Horkheimer and the Frankfurt School, where Schelling's Naturphilosophie shows through as a stratum beneath their critique of science and technology. 38
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Werner J. Cahnman, Germany. The Time has Come for Friendship, in: Sh'ma, 13 April 1973. Werner Cahnman, Friedrich Wilhelm Schelling and the New Thinking of Judaism, in: Maier/Marcus/Tarr (eds.), German Jewry, 209-248. See Zoltän Tarr, Cahnman's Relation to Rosenzweig, unpubl. ms.
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ZOLTÄN TARR
An Unpublished Opus Magnum: Jews and Gentiles For years, Cahnman sought the publication of his last full-scale work, Jews and Gentiles: The Historical Sociology of Their Relations - without success. He wrote letters and sent out the synopsis of his manuscript as follows: "I have been working on a comprehensive, yet concentrated account of Jewish-Gentile relations for a long time. I believe that a scholarly conceived yet fluidly written account of these relations is essential for the self-understanding of the present generation. The topic of Jewish experience among the peoples in the midst of whom Jews live is not identical, although it is overlapping, with the usual history of anti-Semitism. If the focus is on antiSemitism, Jewish history is made to appear as if it were a record of unmitigated hostility against the Jewish people and of passivity on the part of the Jews."39
As Cahnman demonstrates in his study, which was published two and a half decades after his death, in 2004, Jewish-Gentile relations are far more complex. There is a long history of mutual contacts, positive as well as antagonistic, even if conflict situations continue to require particular attention. He points out that the account follows a historical sequence, but it is sociological in conception. The main question addressed is whether there are recognizable patterns, common to most ages and places in which Jewish history has been enacted. At the same time, while general patterns may be recognizable, modifications and combinations of patterns are assumed to have occurred. Cahnman's historical account runs from Roman antiquity through the Middle Ages, into the era of emancipation and the Holocaust, and finally to the present American and Israeli scene. To be sure, as far as the "present" American and Israeli scene is concerned, the account appears unfinished as well as dated; but the basic similarities and dissimilarities throughout history are laid out and analyzed. He tests the theses of classical sociology implicitly, yet unobtrusively. For example, he traces the socio-economic basis of human relations emphasized by Marx and others, and considers Jews "strangers" and "intermediaries." He disagreed with Max Weber in that for him Jews were not "pariah" although he finds a remarkable affinity to Weber's Protestantism-capitalism argument. 40 Cahnman's research data, his personal experiences and historical view resulted in a scholarly life-work that should constitute an important element in any future large-scale historical account of Jewish-Gentile relations. Reminiscent of Martin Buber, Cahnman makes a confessional statement in this regard: "I shall testify [...] in the belief that what I have to say will stand for the truth which, while it becomes manifest only in personal experience, nevertheless transcends it.'"41 Werner Jacob Cahnman died of cancer in Forest Hills, New York, on September 27, 1980. Beside the manuscript of Jews and Gentiles, he left behind an even more 39 40 41
Cahnman, Jews and Gentiles, xiii. Ibid. Cahnman, Martin Buber. A Reminiscence, 7.
T H E O D Y S S E Y OF AN EMIGRE SOCIOLOGIST
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ambitious work, The History of Sociology. Along with all his papers, these manuscripts were preserved by Dr. Gisella Levi Cahnman, his widow, in shared executorship with the late Joseph B. Maier and later with Judith T. Marcus and Zoltän Tarr. Werner J. Cahnman was, among others, a founding member of the Columbia University Seminar on "Contents and Methods of the Social Sciences," and when the editors of several of his works, Judith T. Marcus and Zoltän Tarr, joined the seminar, a fruitful intellectual exchange and personal friendship soon was established. Indeed, Cahnman once half-jokingly exclaimed to Judith Marcus that he expects them to "take care" of his intellectual heritage.42
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Four volumes have been published from the Cahnman Nachlass: German Jewry. Its History and Sociology, ed. by Joseph B. Maier/Judith Marcus/Zoltan Tarr, New Brunswick, N.J. 1989; Weber and Toennies. Comparative Sociology in Historical Perspective, ed. by Joseph B. Maier/Judith T. Marcus/Zoltan Tarr, New Brunswick, N.J. 1995; Jews and Gentiles. A Historical Sociology of Their Relations, ed. by Judith T. Marcus/Zoltan Tarr, New Brunswick, N.J./London 2004; Deutsche Juden. Ihre Geschichte und Soziologie, ed. by Judith Marcus/Zoltän Tarr, Münster 2005.
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Ein Aufenthalt der Dauer Walter A. Berendsohn und die Exilforschung Seit ihrer Konstituierung in den siebziger Jahren beschäftigt sich die Exilforschung 1 mit dem Exil vor dem Nationalsozialismus, d.h. der Vertreibung v o n rund einer halben Million Menschen aus d e m „Dritten Reich" aus politischen und rassistischen Gründen. 2 D a s inzwischen auch i m universitären Bereich anerkannte Forschungsfeld ist in geografischer Hinsicht weltumspannend (von Europa bis Australien), während es in zeitlicher Hinsicht auf einem äußerst begrenzten Zeitraum beruht, nämlich den dreizehn Jahren v o n 1933 bis 1945. Dieser Umstand spiegelt sich in den seit den siebziger Jahren entstandenen Überblickswerken wider. 3 Mit der Verschiebung des Forschungsschwerpunktes auf von Deutschland und Österreich aus gesehen immer weiter entfernte Länder und mit der langsam stattfindenden Ö f f n u n g der Exilforschung hin zum Phänomen der Akkulturation, 4 stellt sich die Frage, w i e sinnvoll es ist, 1945 als zeitliche Begrenzung aufrechtzuerhalten. Drei Gründe sprechen für eine Erweiterung des Exilbegriffs: erstens die Tatsache, dass selbst unter den Schriftstellern mit ihrer e n g e n Bindung an die Muttersprache 8 0 Prozent der Vertriebenen nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehrten 5 - dieser Umstand
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Historisch gesehen bezieht sich der Begriff „Exilforschung" auf die seit den siebziger Jahren stattfindende westdeutsch geprägte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Exilliteratur und dem Exil im Allgemeinen. Da sich der Begriff jedoch seitdem international als Bezeichnung für das Forschungsfeld durchgesetzt hat, verwendet der vorliegende Artikel diesen im letzteren Sinn. Maria-Luise Kreuter, Emigration, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, 295-302, hier 296f. Vgl. Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hg.), International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933-1945. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, 2 Bde., München u.a. 1980; Claus Dieter Crohn u.a., Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998. Vgl. Marion Berghahn, Continental Britons. German-Jewish Refugees from Nazi Germany, Oxford 1983; Claus Dieter Krohn, Kulturtransfer im Exil, München 1995; Christhard Hoffmann, Zum Begriff der Akkulturation, in: Crohn, Handbuch der deutschsprachigen Emigration, 117-126; Birgit Lang, Akkulturation / acculturation oder Zur Migration eines Begriffs, in: Science Exile: Austrian Science in Exile: Traditions - Transformations, http://scienceexile. coresearch.org/, 2002 (21. Juni 2005); Birgit Lang, Inszenierungen zwischen den Kulturen: Deutschsprachiges Exiltheater und -kabarett in Australien, Wien 2001; Helmut Pfanner, Kulturelle Wechselbeziehungen im Exil, Bonn 1986; Herbert A. Strauss, Zur sozialen und organisatorischen Akkulturation deutsch-jüdischer Einwanderer der NS-Zeit in den USA, in: Wolfgang Frühwald/ Wolfgang Schieder (Hg.), Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933-1945, Hamburg 1981, 235-259. Wilhelm Sternfeld/Eva Tiedemann, Deutsche Exil-Literatur 1933-1945. Eine Bio-Bibliographie, Heidelberg 1962. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 61-79
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relativiert die ansonsten in diesem Kontext als entkräftendes Gegenargument angeführte Möglichkeit der Rückkehr —, zweitens, dass selbst die Rückkehrer oftmals Jahre und Jahrzehnte für ihre erneute Umsiedelung benötigten, und drittens, dass die Vertriebenen nach 1945 sowohl in Deutschland als auch in ihren Zielländern oft eine, in manchen Fällen privilegierte, Sonderposition einnahmen. D.h. die biographischen und historischen Spuren des Exils blieben auch über das Jahr 1945 hinaus sichtbar. Der vorliegende Artikel gibt nicht vor, eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Dauer des Exils zu finden, sondern diskutiert die Voraussetzungen des heute dominierenden Modells. Als sich in den späten sechziger und siebziger Jahren erstmals ein breites internationales Interesse am Phänomen Exil herausbildete, geschah dies unter ideologischen Vorzeichen. Die westdeutsche Suche nach einem alternativen Bezugsrahmen für die Zeit des Nationalsozialismus stieß von Seiten der DDR auf Widerstand, da diese die Vormachtstellung innerhalb des Forschungsfelds für sich beanspruchte und die damit implizierte moralische Überlegenheit gefährdet sah. Am Beispiel der internationalen Symposien zur Erforschung des deutschsprachigen Exils nach 1933, die von Walter A. Berendsohn initiiert 1969 und 1972 in Kopenhagen und Stockholm stattfanden, lässt sich zeigen, wie der Wettstreit zwischen BRD und DDR um die Vormachtstellung in der Exilforschung den Diskurs prägte und die zeitliche Rahmung des Forschungsfeldes verfestigte. Den nachhaltigsten Einwand gegen die zeitliche Begrenzung des Exilbegriffs, der die Umbenennung des Forschungsfeldes in Emigrantenliteratur und später in Flüchtlingsliteratur beinhaltete, tätigte Walter A. Berendsohn. Obwohl sein Modell teilweise essentialistische Züge trägt und die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen der Exilliteratur und der Literatur der Zwischenkriegszeit nur bedingt sichtbar macht, erlaubte ihm sein von einem radikalen Humanismus geprägter Zugang die Entwicklung eines sozialhistorischen Literaturmodells, das die geografische Entortung nach dem „offiziellen" Ende des Exils zu benennen vermochte und das Jahr 1945 als Ende des Exils in Frage stellte.
Exil und Politik. Begründung der Exilforschung Die internationalen Symposien zur Erforschung des deutschsprachigen Exils nach 1933 verhalfen der Exilforschung als Forschungsfeld zu internationalem Durchbruch.6 Erstmals in der Geschichte des jungen Forschungsgebietes fand eine Kommunikation über innerdeutsche und nationale Grenzen hinweg statt, wurden die Forschungsschwerpunkte in den einzelnen Ländern transparent gemacht.7 Das erste 6
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Gustav Korlen, Produktive Emigration am Beispiel von Walter A. Berendsohn, in: Hermann Zabel (Hg.), Zweifache Vertreibung. Erinnerungen an Walter A. Berendsohn, Essen 2000, 11-21, hier 19. Vgl. Protokoll des II. Symposiums zur Erforschung des deutschsprachigen Exils nach 1933, Stockholm 1972, 19-221.
EIN AUFENTHALT DER DAUER
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der beiden Symposien fand 1969 in Kopenhagen unter der Ägide von Walter A. Berendsohn statt, das zweite, zu dem beinahe 100 Teilnehmer anreisten, 1972 in Stockholm. Eine dritte, für das Jahr 1975 geplante Tagung kam aufgrund von ideologischen und inhaltlichen Differenzen nicht mehr zustande, allerdings fand stattdessen 1975 ein Symposium zur Erforschung des österreichischen Exils in Wien statt, an dem Walter A. Berendsohn nicht mehr teilnahm.8 In den Dokumentationen der Symposien in Kopenhagen und Stockholm, in den angeregten Diskussionen und Länderberichten, werden die allgemeine Aufbruchstimmung und das Bedürfnis nach internationalem Austausch deutlich sichtbar, allerdings offenbaren sich auch die teilweise gravierenden nationalen und persönlichen Differenzen zwischen den Forschern. Im symbolischen Machtkampf um die Vormachtstellung in der Exilforschung wurde in diesem Zusammenhang Walter A. Berendsohn zum Empfänger eines Danaergeschenks von Seiten der DDR: Der 76-jährige vormalige Verleger Wieland Herzfelde überreichte Berendsohn im Jahr 1972 die erste an einer deutschen Universität gehaltene Vorlesung zum Thema Exilliteratur, gehalten von Herzfelde selbst anlässlich seiner Ernennung zum Professor für Literatur an der Universität Leipzig im Jahr 1949.9 Es war kein Zufall, dass Berendsohn zum offiziellen Empfänger dieses Gastgeschenks wurde. Er war als Verfasser der ersten literaturwissenschaftlichen Monographie zur Exilliteratur, die 1946 unter dem Titel Die humanistische Front erschienen war, als Begründer der Stockholmer Koordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Literatur im Exil nach 1933 und als Organisator des I. internationalen Symposiums eine zentrale Figur in der Exilforschung. 1972 übernahm der inzwischen 88-jährige zwar keine organisatorische Funktion mehr, nahm jedoch einen Ehrenplatz ein. Mit ihrem Gastgeschenk wollte die DDR-Forschung ein Signal setzen und ihre eigene Überlegenheit in Sachen Exil unter Beweis stellen. Ein in den Weimarer Beiträgen abgedruckter Kongressbericht verweist auf Berendsohn als Beispiel und artikuliert, was auch den Konferenzteilnehmern klar gewesen sein musste: 1947 hatte Kurt Desch vom gleichnamigen Verlag sich geweigert, Berendsohns Die humanistische Front, die erste Geschichte der Exilliteratur, aufzulegen. Der Band war zwar 1946 beim Schweizer Europa-Verlag erschienen, erreichte allerdings wegen des vor der Währungsreform herrschenden Devisenmangels weder den deutschen noch den österreichischen Buchmarkt.10 Im Gegensatz dazu, so der Artikel weiter, habe Wieland Herzfelde, ehemaliger Besitzer des Malik-Verlags und Mitbegründer des Aurora-Verlags in New York, in der DDR gänzlich andere Bedingungen vorgefunden, da „das Schaffen der sozialistischen und der antifaschistisch-demokra-
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Vgl. Österreicher im Exil 1934—1945. Protokoll des internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils, Wien 1977. Sigrid Bock, Internationaler Treffpunkt Kopenhagen, in: Weimarer Beiträge 6 (1973), 165-183, hier 167. Vgl. Heinz Lunzer, Der literarische Markt 1945 bis 1955, in: Friedberg Aspetsberger/Norbert Frei/Hubert Lengauer (Hg.), Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich, Wien 1984, 24-45, hier 28.
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tischen Autoren [von Anfang an] Teil des gesellschaftlichen Neuaufbaus [war]."11 Insbesondere die bundesdeutschen Kongressteilnehmer sollten daran erinnert werden, wie ausgrenzend sich Westdeutschland in der Nachkriegszeit Exilanten gegenüber verhalten hatte, ein Bild, das von der aktuellen Forschungsliteratur gestützt wird.12 Trotz dieser symbolischen Vereinnahmung des Exils in der DDR korrespondierte die offizielle Wahrnehmung nur bedingt mit der gesellschaftlichen Realität, die sich um vieles komplexer gestaltete. Auf der einen Seite gestand die Führungselite in der DDR den Exilanten direkt nach Kriegsende als Antifaschisten eine besondere gesellschaftliche Position zu. Das Geschichtsbild der DDR propagierte zwar keine Kollektivschuld der Deutschen, sah aber die Schuld des deutschen Volkes in seiner Verführbarkeit durch eine faschistische Elite gegeben. So meinte etwa Walter Ulbricht 1945 bei einer Ansprache in Berlin: „Die Tragödie des deutschen Volkes besteht darin, daß es einer Bande von Verbrechern gehorcht hat. Das ist das furchtbarste! Die Erkenntnis dieser Schuld ist die Voraussetzung dafür, daß unser Volk endgültig mit der reaktionären Vergangenheit bricht und entschlossen einen neuen Weg geht." 13
Exilanten und Exilliteratur repräsentierten einen Teil des anderen Deutschland, und die Veröffentlichung und die Lektüre von Exilliteratur wurden zum Mittel, mit der Vergangenheit zu brechen.14 Was die Rückkehrer aus dem Exil betraf, so verlief deren Integration in die DDR-Gesellschaft zu Beginn zwar privilegiert, jedoch nicht spannungsfrei. So berichtet etwa die Schriftstellerin und Tochter von Exilanten Barbara Honigmann über ihre Kindheit: „Meine Eltern sprachen noch oft englisch miteinander und mit ihren Freunden, die ebenfalls aus der Emigration zurückgekehrt waren [...], und das Englischsprechen war wohl auch eine Art, sich der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts zu versichern und gegen die Ablehnung derer zu schützen, die sie als fremd und als privilegierte Parteielite ansahen, was keine ganz falsche Wahrnehmung war. [...] Ihre Privilegien, ihr Kosmopolitismus und ihr Status als überlebende Juden und als Kommunisten waren ihre Stigmata." 15
Die Integration der „Rückkehrer" - viele stammten ursprünglich nicht aus Ostdeutschland - ging demnach nicht reibungslos vor sich. Gravierende Konfliktpunkte zwischen Rückkehrern und DDR-Regime ergaben sich oftmals aus Missstimmig' 1 Bock, Internationaler Treffpunkt Kopenhagen, 166. 12 Vgl. Stephan Braese, Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin/Wien 2002; Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001; Mario Keßler, Exil und Nach-Exil. Vertriebene Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Hamburg 2002; Peter Mertz, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985. 13 Walter Ulbricht, Das Programm der antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Rede auf der ersten Funktionärskonferenz der KPD Groß-Berlins, in: Walter Ulbricht, Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen Staates 1945-1958, Berlin 1958, 16-40, hier 19. 14 Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Berlin 2000, 76-86. 15 Barbara Honigmann, Ein Kapitel aus meinem Leben, München 2004, 7.
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keiten, die sich bereits während des Exils entwickelt hatten. Beispielsweise wurde Paul Merker bald nachdem er innerhalb der SED versucht hatte, ein Gesetz zur Wiedergutmachung für NS-Opfer durchzusetzen, das auch Juden und andere rassistisch Verfolgte einschloss, wegen seiner kritischen Einstellung gegenüber dem Hitler-Stalin-Pakt (!) aus der SED ausgeschlossen. Als er 1952 im Rahmen des Prager Slänsky-Prozesses als deutscher Trotzkist denunziert wurde, machte ihm die SED den Prozess und Merker verbrachte sechs Jahre im Gefängnis. 16 Dass sein Urteil in einem Geheimprozess 1955 erneuert wurde, führte Merker auf einen persönlichen Rachefeldzug seines vormaligen Mitexilanten Walter Ulbricht zurück, wobei er den Ursprung des Konflikts in der Exilzeit ausmachte: „Wenn ich im Pariser Exil als Basis für die deutsche Volksfront allein die antinazistische Frontstellung sah und dafür plädierte, daß andere Ansichten für die Mitarbeit im Volksfront-Ausschuß toleriert werden sollten, war für Ulbricht nur deijenige akzeptabler Hitlergegner, der auch gegen Trotzki oder Bucharin Stellung bezog. Das führte zu der Absurdität, daß in Ulbrichts Denkschema nur derjenige ein wirklicher Antifaschist sein konnte, der die Moskauer Prozesse auch als Schlag gegen Hitler wertete."17
Diese Beispiele geben nur einige Hinweise auf die komplexe Lebensrealität vormaliger Exilanten in der DDR. Wenn im Jahr 1972 Berendsohn mit Herzfeldes Gastgeschenk zumindest implizit vor Augen geführt werden sollte, wie andersartig sein Leben ausgefallen wäre, hätte er sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs für die DDR entschieden, so kann dies im besten Fall als euphemistischer Trugschluss betrachtet werden. Weder Berendsohns Auffassung von Exilliteratur noch seine politische Haltung wären in der DDR akzeptiert worden.
Der Bruderzwist und seine Konsequenzen An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wieso die Vertreter der DDR sich gerade 1972 genötigt sahen, Walter A. Berendsohn und die westliche Exilforschung an die eigene Vormachtstellung zu erinnern. Wenn man Antworten auf diese Frage im Rahmen des Symposiums selbst sucht, liegen diese in der Finanzierung der beiden internationalen Symposien und in der Zusammensetzung ihrer Teilnehmer begründet, wurden doch die Kongresse von der Volkswagenstiftung und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt.18 Mit diesem Umstand in direktem Zusammenhang steht die Tatsache, dass 1972 rund 38 Prozent der Kongressteilnehmer aus der BRD und nur 10 Prozent aus der DDR kamen. 19 In diesem Licht erscheint das Verhalten der DDR auch als Defensivtaktik. 16
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Wolfgang Kießling, Partner im „Narrenparadies". Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker, Berlin 1994, 278f. Zitiert in: ebd., 14. Korlen, Produktive Emigration am Beispiel von Walter A. Berendsohn, 18; Über das Scheitern des III. internationalen Symposiums zu Fragen des deutschsprachigen Exils, Stockholm 1975, 2. Dies ergibt sich aus der im Protokoll abgedruckten Teilnehmerliste.
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Die Wahl Willy Brandts, eines zurückgekehrten Exilanten, zum Bundeskanzler im Jahr 1969 bedeutete einen politischen Umschwung in Westdeutschland, der die Öffnung gegenüber der DDR und einen neuen Umgang mit der eigenen Vergangenheit innerhalb der BRD beinhaltete. Dieser Umstand schlug sich für die Exilforschung in konkreten Fördermaßnahmen von staatlicher Seite nieder und bildete den Grund für die Dynamisierung des Forschungsfeldes. So richtete die Deutsche Forschungsgemeinschaft in den Jahren 1973 bis 1983 einen entsprechenden Forschungsschwerpunkt ein.20 Aber nicht nur von staatlicher Seite bestand erstmals seit der Gründung der BRD Interesse am Exil. Die Vorbildsuche der so genannten 68er brachte eine zunehmende Popularisierung des Exils mit sich: „Während der Studentenunruhen der späten sechziger Jahre suchten viele Linke in exilierten Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftlern ihre geistigen Ahnen", meint dazu Exilforscher Patrik von zur Mühlen.21 Der DDR der Nachkriegszeit nicht unähnlich, suchten also unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte in der BRD nach einem alternativen Bezugsrahmen für die Zeit des Nationalsozialismus. Die DDR begegnete der ersten Rezeption des antifaschistischen Exils in Westdeutschland jedoch mit Skepsis: „Für diese Kreise [gemeint sind Willy Brandt und sein politisches Umfeld, B.L.] ergibt sich die Aufmerksamkeit für den neuen Gegenstand aus dem Versuch, sich abzugrenzen von der extremen reaktionären Politik und Gesellschaftspraxis der CDU/CSU, ohne jedoch den Boden bürgerlicher Kultur zu verlassen." 22
Zweierlei ist an dieser Aussage bemerkenswert: Erstens verweist sie auf die generelle Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigung in der BRD in der unmittelbaren Nachkriegszeit und relativiert die im Westen herrschende Aufbruchstimmung, zweitens spiegelt sich in ihr jener Konflikt zwischen Sozialismus und Kommunismus wider, der bereits das Exil geprägt hatte und auch die Exilforschung in den siebziger Jahren und danach prägen sollte. Für die kommunistische Seite bedeutete die gemäßigte Haltung der Sozialisten schon seit der Weimarer Republik einen Verrat (Sozialfaschismus-These), ein Vorwurf, der im Rahmen der Exilforschung erneut ausgesprochen wurde. Beiden Seiten ging es in diesem Kampf um symbolisches und politisches Kapital, um die Durchsetzung des jeweiligen historischen Deutungsversuchs. Dieser das Forschungsfeld überschattende Bruderzwist führte zu einem außerordentlichen Kräftemessen in akademischer Hinsicht. Das sichtbarste Zeichen dieser Konkurrenz sind die zahlreichen parallel in Ost und West entstandenen Editionen, etwa die Thomas-Mann-Edition bei S. Fischer (1948-1960) und die Heinrich-Mann20 21
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Jahresbericht DFG, Bonn 1983, 79f. Patrik von zur Mühlen, Das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, in: Horst Möller/Udo Wengst (Hg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, München 1999, 345-352, hier 345. Bock, Internationaler Treffpunkt Kopenhagen, 168.
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Edition im ostdeutschen Aufbau-Verlag (1951-1962). Rivalität prägte auch die Publikation wissenschaftlicher Werke. So veröffentlichte Reclam Leipzig zwischen 1979 und 1981 die siebenbändige Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945, während Luchterhand zwischen 1972 und 1980 Hans-Albert Walters vierbändige Deutsche Exilliteratur, 1933-1950 verlegte - eine Aufzählung, die sich weiter fortsetzen lässt. Zudem führte das spezifische Gepräge dieser Konkurrenz zur Herausbildung bestimmter Interessengebiete, Konfliktfelder und Forschungsparadigmen. So war beispielsweise das Interesse am linken Exil generell groß, führte jedoch wegen der Ideologisierung zu heftigen Interessenkonflikten. Das bezeugt etwa die Aufregung, für die Alfred Kantorowicz' Kritik an der Kanonisierung der Exilliteratur in der DDR beim II. internationalen Symposium in Stockholm sorgte. Nach dem Länderbeitrag der DDR kritisierte der Republikflüchtling und ehemalige Leiter des Ost-Berliner Heinrich-Mann-Archivs die Forschungspraxis der DDR: „Sie haben gesagt, die Wahrheit ist konkret. Es geht nun darum, dass es nicht nur Quellen aufzudecken gilt, sondern dass Quellen verschüttet werden, Quellen die unzugänglich gemacht werden [...]. Man kann doch nicht eine Literaturgeschichte des Exils schreiben, in der es Koestler nicht mehr gibt, in der es Fritz Bruegel nicht mehr gibt, in der es Manes Sperber nicht mehr gibt, in der es Werner v. Brentano nicht mehr gibt."23
Kantorowicz, der sich zuerst in der DDR und nach seiner Flucht in der BRD für die Erforschung des Exils stark machte, prangerte die Scheinheiligkeit und die Lücken der DDR-Forschung an und sprengte damit beinahe das Symposium. 24 Obwohl die Diskussionsleitung den Beitrag Kantorowicz' zu entschärfen suchte und eine weitere Diskussion unterband, brachte der Beitrag die Spannungen zwischen dem Osten und dem Westen deutlich zutage und war maßgeblich für das Scheitern des dritten Kongresses mitverantwortlich. Der Aufruhr, den Kantorowicz' Beitrag stiftete, verweist auf die Wichtigkeit, die diesem beigemessen wurde. Kantorowicz bezog sich auf die Genannten, weil diese als Renegaten von der DDR-Geschichtsschreibung nicht erwähnt wurden. Die Hinterfragung der DDR-Forschungspraxis sprach nicht nur eine Realität an, sondern war Teil eines Kampfes um die Vormachtstellung im Forschungsfeld, ebenso wie die Übergabe der ersten Vorlesung zur Exilliteratur von Seiten der DDR. Die Frage, ob beispielsweise Fritz Bruegel oder Werner von Brentano wirklich zentrale Literaten des Exils waren, wurde von keiner Seite gestellt. Die Konzentration auf bestimmte ideologische Fragen bedeutete, dass anderen für die Forschungspraxis relevanten Themen nur wenig Aufmerksamkeit beigemessen wurde. Dies gilt vor allem für jene Gebiete, auf denen sich die Forscher aus beiden deutschen Staaten aus ideologischen Gründen einig waren, wie beispielsweise in der Frage nach der Dauer des Exils. Die Festlegung des zeitlichen Rahmens des Exils auf die Jahre 1933 bis 1945 ergab sich aus der ausschließlich politisch23
24
Protokoll des II. internationalen Symposiums zur Erforschung des deutschsprachigen Exils nach 1933, 102f. Korten, Produktive Emigration am Beispiel von Walter A. Berendsohn, 19.
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historischen Definition des Exils von Seiten der Forscher aus der BRD und der DDR. Die Ausweitung des Exilbegriffs hätte das nationale Selbstverständnis beider Staaten infrage gestellt, da dieses wesentlich an den Bruch mit dem Nationalsozialismus geknüpft war. Dementsprechend lautete auch die Argumentation der Exilforscher in Ost und West: Mit Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des Nationalsozialismus waren die politischen Rahmenbedingungen für eine Rückkehr der Vertriebenen geschaffen. Wenn Exilanten diese Möglichkeit nicht wahrnahmen, erschien dies als individuelle Entscheidung.
Exilforschung und Exilanten An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Interesse daran bestand, den Exilbegriff in zeitlicher Hinsicht zu erweitern. Die diesbezügliche Kritik und entsprechende Vorschläge stammen allesamt von ehemaligen Exilanten, die entweder nach Westdeutschland oder Österreich zurückgekehrt waren wie etwa Ernst Loewy und Hilde Spiel oder die wie Walter A. Berendsohn oder Jean Amery die politische Lage in Westdeutschland und die Entwicklung der Exilforschung von ihrer neuen Heimat aus betrachteten. Das heißt, der Konflikt um die Exildauer beruhte nicht nur auf unterschiedlichen Erfahrungen, sondern manifestierte sich auch in einem Generationenkonflikt. Generell gesehen waren die späten sechziger Jahre eine Zeit, in der die Dialogbereitschaft zwischen den Generationen beschränkt erschien. Die Auseinandersetzung mit der älteren Generation wurde gesamtgesellschaftlich meist in einem rauen Tonfall geführt - man denke beispielsweise an die Auseinandersetzungen der jungen Linken mit dem Germanisten Benno von Wiese oder selbst mit Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. In der Exilforschung gestaltete sich das Verhältnis der Generationen zueinander unter ganz spezifischen Bedingungen, da die ältere Generation ausschließlich aus in der Forschung aktiven oder an der Forschung interessierten Exilanten bestand, während die jungen Exilforscher, besonders im deutschen Fall, meist Kinder der Täterseite waren. Die meisten zurückgekehrten Exilanten standen dem gesellschaftlichen Umbruch, der Westdeutschland und Österreich in den sechziger Jahren erfasste, positiv gegenüber. So äußerte sich beispielsweise Hilde Spiel, die Doyenne der österreichischen Nachkriegsliteratur, prinzipiell wohlwollend. Warnende Stimmen erhoben die Exilanten dann, wenn sie undemokratische Strukturen ausmachten. Was solche definierte, hing jeweils mit dem eigenen politischen Standpunkt und den eigenen Interessen zusammen. Für Jürgen Habermas stellte sich die Frage, ob die Studentenunruhen nicht die Bedingungen vernünftiger Rede sabotierten und damit die Basis der Aufklärung unterminierten,25 während der Kalte Krieger Friedrich Torberg dem
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Daniel Cohn-Bendit/Reinhard Mohr, 1968. Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wußte, Berlin 1988, 165.
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sozialdemokratischen Regierungswechsel grundsätzlich kritisch gegenüberstand wie auch den studentischen Linken, da er in ihnen Sympathisanten des Kommunismus sah. Wenn also Kritik geäußert wurde, dann von Seiten der älteren Generation, die sich von der jungen missverstanden fühlte. So beklagt etwa Hilde Spiel anlässlich des Scheiterns des III. Symposiums zur Exilforschung in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Unwissenheit der jungen Generation von Exilforschern: „Die Exilierten sind, zum großen Teil, dahin. Die Exilforscher haben das Feld betreten. Sie registrieren, klassifizieren, katalogisieren, rekapitulieren, interpretieren, doch ihre Daten und Auslegungen sind häufig ungenau, denn manche von ihnen sind zu jung, um die wahren Umstände zu kennen."26
Auch der Herausgeber des Forum Friedrich Torberg stand der Exilforschung skeptisch gegenüber und äußerte sich bezüglich der nicht stattfindenden Tagung. Er sah das von Berendsohn gegründete „Stockholmer Institut [zur Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur, B.L.] zunehmend als unter dem Einfluß der gängigen DDR-Stellen und ihrer westlichen Sympathisanten geraten";27 dessen Leiter Helmut Müssener dementierte heftig und versicherte Torberg der Neutralität der Forschungsstelle. Dieser wiederum antwortete mit väterlicher Autorität: „Wenn man sich bemüht, Ost und West gegenüber neutral zu sein, dann wird, wie ich aus jahrzehntelanger Erfahrung weiß, zum Schluß nach der östlichen Pfeife getanzt."28 Während Torberg sich mit seiner Kritik in für ihn typischen Bahnen bewegte, ging Hilde Spiel einen Schritt weiter. Sie zweifelte die Wissenschaftlichkeit der jungen Generation an, indem sie ein in der Forschung tabuisiertes Thema berührte: ob und wie die Exilerfahrung die Exilforschung beeinflussen sollte. Entsprach das Verhältnis zwischen Exilanten und Exilforschern mehr einem Lehrer-SchülerVerhältnis oder implizierte eine Verwissenschaftlichung nicht von selbst die Distanznahme zum „Forschungsobjekt Exilant"? Die jüngere Generation von Exilforschern brachte den in der Exilforschung aktiven Exilanten Hochachtung entgegen und reagierte auf die geäußerte Kritik einigermaßen hilflos. Sie versuchte nicht, die Erfahrung und die Sichtweise der Exilanten historisch zu situieren und damit zu relativieren, sondern reagierte nur dann, wenn - wie im Beispiel Kantorowicz - ein ideologisch bestimmtes Tabuthema angesprochen wurde. Was die Dauer des Exils betraf, so war zwar seit dem Erscheinen von Wilhelm Sternfelds und Eva Tiedemanns Deutsche Exil-Literatur 1933-1945 im Jahr 1962 wissenschaftlich belegt, dass die überwiegende Mehrzahl der Exilanten nicht aus dem Exil zurückgekehrt war, aber der politisch-historische Rahmen und das nationale 26
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Hilde Spiel, Die Krise der Exilforschung. Der geplatzte Kongreß: Was wird?, in: FAZ, 22. Januar 1975. Friedrich Torberg, Keine Wortmeldung, in: Die Presse, 27. Dezember 1974. Über das Scheitern des III. internationalen Symposiums zu Fragen des deutschsprachigen Exils, 24.
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Interesse an der Exilfrage ließen eine fundierte Auseinandersetzung nicht aufkommen. Dabei hätte jungen Forschern das Nachdenken über die eigene Position eine größere Flexibilität erlaubt, wenn es darum ging, das Phänomen Exil jenseits von vorgegebenen ideologisierten Erzählungen zu durchdenken. Hinsichtlich der Migrationserfahrung hätte dies einer Generation, die während ihres Studiums nur wenig Möglichkeit hatte, längere Zeit im Ausland zu verbringen, ermöglicht, Akkulturationsphänomene einzuordnen und die Außenseiterposition der Exilanten in der Nachkriegszeit besser zu verstehen. Eine Diskussion zwischen den Generationen unterblieb also weitgehend. Obwohl sich die Exilanten oft auf ihre moralische Autorität beriefen, wenn es darum ging, Unbehagen zu äußern, erlaubte ihnen diese Strategie meist nicht, ihre Interessen durchzusetzen; sie waren jedoch auch nicht gezwungen, ihre Position zu relativieren und zu fragen, inwieweit ihre eigene Exilerfahrung repräsentativ für die Exilerfahrung an sich war. Aus einer heutigen Perspektive zeichnet sich deutlich ab, dass die meisten Exilforscher, die das Exil am eigenen Leib erfahren haben, Teil der ersten, direkt nach 1933 einsetzenden deutschen Flüchtlingswelle gewesen sind. Diese Exilanten verließen Deutschland aus weltanschaulichen und politischen Gründen und (oder) weil sie rassistisch verfolgt wurden. Sie dokumentierten ihr Schicksal in unzähligen Zeitschriften und mit Buchpublikationen; ihr Ziel waren vor allem die an Deutschland angrenzenden Länder und die USA. Im Gegensatz dazu war die zweite große Migrationswelle eine Konsequenz der Expansionspolitik des „Dritten Reichs" nach 1938. Das „Exil der kleinen Leute" umfasste mehr Juden und war weniger von Ideologisierung und Intellektualität geprägt. Der Umstand, dass die in der Exilforschung wirksamen Exilanten ohne Ausnahme der ersten Migrationswelle angehörten, bietet mit eine Erklärung dafür, weshalb ideologische Konflikte dermaßen ernst genommen wurden, weshalb die Erforschung des jüdischen Exils lange auch von Seiten der Exilanten vernachlässigt wurde und weshalb die Frage nach der Dauer des Exils nicht konsequent gestellt wurde.29 Was entstand, war ein Nebeneinander, das in letzter Konsequenz die Nicht-Rezeption der von der älteren Generation vorgebrachten Kritik bedeutete.
Walter A. Berendsohn Die Exilanten äußerten also ihre Unbehagen, wenn es um ihre Befindlichkeit in der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft ging, waren aber nur in den wenigsten Fällen dazu in der Lage, eine inhaltliche Position zu entwickeln. Die zwei Ausnahmen bilden Walter A. Berendsohns Ende der sechziger Jahre entstandener Aufriss zu aktuellen Problemen der Exilforschung und Hilde Spiels Aufsatz „Die Psychologie des Exils" (1975). 29
Ernst Loewy, Zum Paradigmenwechsel in der Exilliteraturforschung, in: Itta Shedletzky/Hans Otto Horch (Hg.), Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert, Tübingen 1993, 15-28, hier 22.
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Walter A. Berendsohn versuchte als erster, die durch den zeitlichen Rahmen der Exilforschung hervorgerufene Beschränktheit zu thematisieren, und entwickelte, anders als Hilde Spiel, deren Vorschlag stark individualisiert erscheint, ein neues literaturwissenschaftliches Modell zum Verständnis des Exils. Die Voraussetzungen für diese Objektivierung waren seine berufliche Identität als Literaturwissenschaftler und sein Interesse am militanten Humanismus, der den Neuhumanismus als politische Philosophie entdeckte und das Verhältnis des aufgeklärten Subjekts zur Gesellschaft neu zu fassen suchte. Beide Momente erlaubten Berendsohn eine Außenperspektive zu entwickeln, die ihm einen Überblick über die verschiedenen im Exil vertretenen Positionen verschaffte. Der produktive Querdenker wurde 1884 in Hamburg geboren, wo er nach einer kaufmännischen Ausbildung sein Abitur nachholte und mit seinen Universitätsstudien begann. Auf seine Promotion 1912 folgte 1920 die Habilitation an der Universität Hamburg, 1926 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Berendsohns Leben zeichnet sich durch eine ungemeine Produktivität aus,30 in wissenschaftlicher Hinsicht am besten dokumentiert durch eine mehr als 900 Einträge umfassende Bibliographie.31 Vor die Emigration fallen die Veröffentlichungen von Werken zur Erzählkunst der Brüder Grimm, zu Hugo von Hofmannsthal, Selma Lagerlöf und Knut Hamsun. Die beiden letztgenannten Titel belegen Berendsohns lebenslanges wissenschaftliches Interesse an der Nordistik.32 Selbst in den turbulenten Jahren der Emigration - Berendsohn floh 1933 zuerst nach Dänemark und 1943 nach Schweden hörte er, so die Lage es erlaubte, nicht zu arbeiten auf. „Insgesamt habe ich 11 Jahre außerhalb meines wissenschaftlichen Berufs zugebracht", schreibt er 1975; die Ereignisse der Zeit, der Erste Weltkrieg und die Emigration, bedingten diese Unterbrechungen.33 Die wenigen biographischen Zeugnisse zeichnen das Bild eines engagierten, humanistischen Idealen verpflichteten Menschen. Es ist augenfällig, dass Berendsohn sich für ganzheitliche und relativ geschlossene gesellschaftliche Modelle interessierte, beispielsweise wenn er in Die Ethik des studentischen Lebens die kulturelle Situiertheit und Abhängigkeit des Einzelnen vom eigenen Kulturkreis hervorhebt.34 Auch seine Übersetzung von Die Großmächte und die Weltkrise des schwedischen Politikwissenschafters Rudolf Kjellen deutet in diese Richtung, da dieser Staaten als organische Systeme verstand, die nach einer Blütephase wieder an Boden verlieren und deren Bestehen von den jeweiligen geopolitischen, ökonomischen und demographischen Voraussetzungen abhängt.35 30 31
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Korlen, Produktive Emigration am Beispiel von Walter A. Berendsohn, 12. Brita von Garaguly, Walter A. Berendsohn. Verzeichnis seiner 1908-1978 erschienenen Veröffentlichungen anlässlich seines 94. Geburtstages am 10. September 1978, Stockholm 1978. Korlen, Produktive Emigration am Beispiel von Walter A. Berendsohn, 12f. Stockholmer Koordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Exil-Literatur (Hg.), Walter A. Berendsohn 90 Jahre - Eine Dokumentation, Stockholm 1975, 2. Walter A. Berendsohn, Die Ethik studentischen Lebens, Hamburg 1920, 86. „Kjellen, R u d o l f . Encyclopaedia Britannica. 2005. Encyclopaedia Britannica Online, http:// search.eb.com/eb/article?tocld=9045709 (24. April 2005).
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Literaturwissenschaftliche Analyse bedeutete für Berendsohn die Zusammenschau von Leben und Werk, von Stil und Struktur und immer auch eine differenzierte, jedoch entschiedene Beurteilung der Handlungsweise eines Autors. Über Thomas Mann schreibt er beispielsweise: „[Thomas Mann] hat wenig Sinn für die tragende, fördernde, beglückende Kraft der menschlichen Gemeinschaft (trotz ihrer Unzulänglichkeit) und für die Abhängigkeit auch der begabten Einzelmenschen von ihr. Um wie viel Wissenschaften der Dichter sich auch bemüht hat, die Soziologie gehört nicht dazu." 36
Die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt bildet die Grundlage für Berendsohns soziologische Sichtweise, die jedoch über die ansonsten dominierende rein klassenspezifische Herangehensweise hinausgeht und auch Fragen der Religion und Ethnizität berücksichtigt. In solcher Weise dachte Berendsohn nicht nur über seine Mitexilanten, sondern auch über sich selbst nach, wie in einem Brief von 1944 deutlich wird: „Ich bin nicht nur Jude, sondern auch Sozialist und Mensch. [...] Zwischen den organisierten Juden und mir gibt es Gemeinsames, aber auch viel Differenzen [...]. Ich kann nicht in die Enge des orthodoxen Judentums zurück. Ich kann mich als .Germanist' und mit einer nichtjüdischen Frau nicht als Zionist wichtig machen. Ich will nichts gemein haben mit denjenigen unter den reichen Juden, die arme Flüchtlinge ausbeuten." 37
Diese zutiefst individualistisch geprägte Haltung fand ihre weltanschauliche Entsprechung in einem militanten Humanismus, der Berendsohn während seiner Exilzeit prägte. Dabei bezog sich Berendsohn auf den Philosophen Siegfried Marek, der in seinem Werk Der Neuhumanismus als politische Philosophie (1937) den Gedanken des militanten Humanismus entwickelte und damit einem Sozialismus- und marxismuskritischen Volksfrontgedanken auf humanistischer Grundlage Gehör verschaffte. 38 In einem Artikel im Neuen Tagebuch, „Zehn Gebote für militante Humanisten", formuliert Marek als fünftes Gebot folgende Regel, die auf Berendsohns Weltsicht wie angegossen passt: „Auch als Kämpfer aber bleibst Du Humanist. Lass das Kollektiv niemals das antasten, was für Dich Dein Gott ist. [...] Abstand vom ,Konformismus' und von einer sich selbst nicht mehr zum Problem machenden Orthodoxie bleibt humanistische Notwendigkeit." 39
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Walter A. Berendsohn, Thomas Mann. Künstler und Kämpfer in bewegter Zeit, Lübeck 1965, 241. Abgedruckt in: Hermann Zabel (Hg.), Zweifache Vertreibung. Erinnerungen an Walter A. Berendsohn, Essen 2000,48. Hans-Holger Paul, Siegfried Marek, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, 120122, hier 122. Der Umstand, dass nicht nur die Kommunisten Hoffnungen in den Volksfrontgedanken setzten, blieb bislang in der Forschungsliteratur gänzlich unbeachtet. So auch in Birgit Schmidt, Wenn die Partei das Volk entdeckt. Ein kritischer Beitrag zur Volksfrontideologie und ihrer Literatur, Münster 2002. Siegfried Marek, Zehn Gebote für militante Humanisten, in: Neues Tagebuch 5 (1937), H. 4, 92f., hier 93.
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Von der Exil- zur Flüchtlingsliteratur Welchen Standpunkt vertrat Berendsohn nun die deutsche Literatur im Exil betreffend? Während er in seinen biographischen Einzelstudien die Spannung zwischen Leben und Werk jeweils differenziert fasst, war dies bei der Behandlung der Exilliteratur im Ganzen aufgrund der Materialfülle nicht möglich. Deswegen entwickelte er ein relativ flexibles und für Neuinterpretation offenes sozialhistorisches Modell, das die Exilerfahrung als konstitutiv für die Geschichte der Exilliteratur voraussetzte. Ein kurzer Abriss macht deutlich, wie sich seine Auffassung der Exilerfahrung im Laufe von über dreißig Jahren entwickelte. In Die humanistische Front, seinem ersten Werk zur Exilliteratur, beschreibt Berendsohn die Situation der deutschen Literatur von 1933 bis zum Kriegsausbruch in drei breit angelegten Kapiteln: Im Einleitungskapitel gibt er einen sozialhistorischen Überblick über den Literaturbetrieb im „Dritten Reich" (Bücherverbrennung, Buchhandel, Zensur, Literaturpreise), führt dessen kriegsverherrlichende Tendenz vor und konstatiert, dass „die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus die meisten freiheitsliebenden Dichter und Schriftsteller in die Fremde [getrieben hat]."40 Es waren diese Zustände, die seiner Meinung nach die Rechtfertigung und die Voraussetzung für die Entstehung der deutschen Emigrantenliteratur lieferten.41 Letztere habe, bei allen Unterschieden (die er im Detail aufführt), ihre gemeinsame Grundlage in einem militanten Humanismus, sie bilde eine humanistische Front. Nichts anderes hat laut Berendsohn die frühe Exilliteratur in solchem Maße geprägt wie jener Humanismus, der „persönliches und öffentliches Leben umspannt und eine freiheitliche soziale Demokratie in Deutschland herbeiführen will" 42 Im abschließenden Kapitel zeigt er schließlich auf, wie sehr Werke der Emigrantenliteratur das zeitgenössische ausländische Deutschlandbild prägten. Laut eigenen Angaben schloss Berendsohn die Arbeit an Die humanistische Front 1939 ab. Die Publikation noch im Jahr 1940 wurde durch die Besetzung Dänemarks verhindert, und so erschien das Werk erst 1946. Der Fortsetzungsband, der 1949 in Manuskriptform vorlag, hatte ebenfalls eine langwierige Publikationsgeschichte und sollte erst 1976 verlegt werden. Dieser Band, der die Jahre 1939 bis 1946 umfasste, war anders als der erste nach Ländern unterteilt und machte den Wandel innerhalb der Emigrantenliteratur in den Kriegsjahren zum Thema. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, beschreibt allerdings zwei Entwicklungen näher, nämlich die kriegsbedingten Veränderungen im Literaturbetrieb und in der gesellschaftlichen Position der Emigranten sowie die neuen Themenkreise der Emigrantenliteratur. Jene bedeuteten auf der einen Seite das Ende für die Verbreitung illegaler Literatur in Deutschland und implizierten auf der anderen das vermehrte Interesse der jeweiligen Gastländer an den Emigranten, eben aufgrund ihrer Oppositionshaltung 40
41 42
Walter A. Berendsohn, Die humanistische Front. Einführung in die deutsche EmigrantenLiteratur. Erster Teil: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939, Zürich 1946, 50. Ebd., 49f. Ebd., 152.
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gegenüber dem „Dritten Reich". Die neuen Themenkreise umfassten den Alltag der Emigration, die Frage nach der Funktion von Kunst und die Annahme umfassender Erklärungsmodelle religiöser oder weltanschaulicher Art. Ein weiteres Charakteristikum dieser zweiten Phase des Exils ist die Hinwendung der Emigranten zum neuen Kulturkreis; die Stichworte Intertextualität, Übersetzung und Motivik sollen hier genügen. Anders als noch im ersten Band geht Berendsohn 1949 davon aus, dass sich nach 1946 „eine Wiedervereinigung zwischen den beiden 1933 geschiedenen Gruppen der deutschen Literatur" anbahnt,43 eine Meinung, die er jedoch Mitte der sechziger Jahre auf Grundlage des damaligen Forschungsstandes änderte. Anhand der Angaben in der bereits erwähnten Bio-Bibliographie von Sternfeld und Tiedemann errechnete er, dass nur 17,5 Prozent aller exilierten Schriftsteller in ihre ehemalige Heimat zurückgekehrt waren.44 Deswegen erweiterte er sein ursprüngliches Modell um eine dritte Phase und argumentierte, die bedeutendste Periode dieser Flüchtlingsliteratur beginne erst 1945: „Sie währt nun schon 20 Jahre und endet erst, wenn der letzte Flüchtling aufhört, literarische Werke zu schreiben und zu veröffentlichen." 45 Er beklagt im Weiteren, dass das Bewusstsein für die physische Abwesenheit der Autoren dieser Flüchtlingsliteratur weder bei Publikum noch Verlegern vorhanden sei, obwohl sie anerkanntermaßen einen wichtigen Bestandteil der Nachkriegsliteratur darstellten und durchaus als Teil der deutschen Kulturtradition verstanden würden.46
Der neue Exilbegriff: Vorbilder und Diskussionen Die von Berendsohn propagierte Namensänderung steht in direktem Zusammenhang mit seiner Sicht auf die Literaturgeschichte. Bereits in seinem ersten Band unterschied sich Berendsohns literaturhistorisches Modell von einem sozialistischen Narrativ, was sich in der Bedeutungsdifferenz von Exil- und Emigrantenliteratur ausdrückt. ,Immer fand ich den Namen falsch den man uns gab: Emigranten', schreibt dazu schon Bertolt Brecht in seinem bekannten Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten. Der Unterschied zwischen Exilant und Emigrant, wie ihn die Exilforschung versteht, zwischen Verbannten mit dem Wunsch zur Rückkehr und vertriebenen Auswanderern ist eng gefasst, wie bereits Hilde Spiel und später Ernst Loewy kritisierten,47 und war für die meisten Betroffenen selbst nicht immer eindeutig bzw. unterlag im Laufe der Exilzeit durchaus Veränderungen. An die unter-
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Walter A. Berendsohn, Die humanistische Front. Einführung in die deutsche EmigrantenLiteratur. Zweiter Teil: Vom Kriegsausbruch 1939 bis Ende 1946, Worms 1976, X. Walter A. Berendsohn, Deutsche Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich. Probleme und Aufgaben, Stockholm 1967, 4. Ebd. Ebd., 5. Hilde Spiel, Psychologie des Exils, in: Österreicher im Exil, xxii-xxxvii, hier xxiv; Loewy, Zum Paradigmenwechsel in der Exilliteraturforschung, 22.
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schiedlichen Begriffe sind seit der Exilzeit verschiedene literaturgeschichtliche Modelle geknüpft. So stellten etwa Alfred Kantorowicz and Richard Drews in Verboten und verbrannt (1947) die von den Nationalsozialisten verbotenen Bücher in den Mittelpunkt ihrer Anthologie, während F. C. Weiskopfs Unter fremden Himmeln (1948) die Exilliteratur als antifaschistische Literatur auffasste. Walter A. Berendsohn ging in seinem Modell weiter. Trotz eines sozialhistorischen Ansatzes, der den Buchmarkt, Auflagenzahlen und Veröffentlichungsbedingungen mit einbezieht, existierte für ihn eine deutsche Literatur allein im Ausland, eben weil die Entstehungsund Produktionsbedingungen unter dem Nationalsozialismus solchermaßen eingeschränkt waren. Wie Berendsohn in seinem Aufsatz Deutsche Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich. Probleme und Aufgaben offen legt, folgte er in seiner Begriffsbildung dem dänischen Literaturkritiker Georg Brandes (1842-1927). Dieser hatte mit Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts eine erste vergleichende Geschichte der europäischen Literatur jenes Zeitraums vorgelegt, die deutsche Ausgabe erschien zwischen 1872 und 1876. Brandes ist heute als Autor einer kritischen KierkegaardDarstellung bekannt, und zu seiner Zeit übte er einen bedeutenden intellektuellen Einfluss aus. So schreibt Thomas Mann in einem Nachruf auf Brandes, dass mit demselben „der letzte einer europäischen Generation von hinnen [geht], der wir Fünfzigjährigen unsere Erziehung schulden".48 Rene Wellek fasst die Hauptströmungen folgendermaßen zusammen: „The central topic is the reaction against the 18th century and the overcoming of that reaction. The Revolution is the thesis, the Restauration the antithesis, and the Liberal movement the synthesis that preserved and superseded, in good Hegelian fashion, the values of the romantic reaction." 49
Was interessiert nun Berendsohn an Brandes und am Begriff „Emigrantenliteratur"? Mit Brandes vertraut war Berendsohn zweifelsohne nicht nur aufgrund der Popularität der Hauptströmungen, sondern auch wegen dessen Bedeutung als Kritiker für den skandinavischen Raum. Als Germanist und Skandinavist war Berendsohn sich über die zentrale Rolle, die Brandes für die Modernisierung der dänischen Literatur spielte,50 im Klaren. Über eine gewisse persönliche wie geistige Affinität kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Fest steht, dass sowohl Brandes als auch Berend48
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Thomas Mann, Ein Meister der produktiven Kritik, in: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 13: Nachträge, Frankfurt a.M. 1974, 825f., hier 826. Das durchaus ambivalente Verhältnis Manns zu Brandes begründet sich in dessen Kritik der deutschen Romantik. Vgl. Hans-Joachim Sandberg, Tradition und/oder Fortschritt? Zum Problem der Wandlung Thomas Manns im Lichte der Brandes-Rezeption des Dichters, in: Hans Hertel/Sven M0ller Kristensen (Hg.), The Activist Critic. Α Symposium on the Political Ideas, Literary Methods and International Reception of Georg Brandes, Copenhagen 1980, 169-190. Rene Wellek, A History of Modem Criticism 1750-1950. The Later Nineteenth Century, London 1965, 357. „Brandes, Georg", in: Encyclopaedia Britannica. 2005. Encyclopaedia Britannica Online, http:// search.eb.com/eb/article?tocld=9016216 (21. Juni 2005).
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söhn akkulturierten jüdischen Familien entstammten, dass beide Pazifisten waren (Brandes' Stellungnahme gegen den Ersten Weltkrieg brachte ihm die Hochachtung von marxistischer Seite ein)51 und bei allem Engagement für soziale Fragen nonkonforme Individualisten. So entwickelte Brandes gegen Ende seines Lebens eine Philosophie des adeligen Radikalismus.52 In inhaltlicher Hinsicht interessierte Berendsohn hauptsächlich der Begriff „Emigrantenliteratur", den Brandes zuerst für die französische Literatur der Revolutionszeit und des Kaiserreichs verwendete, über die er schreibt: „Unter diesen beiden großen Zwangsherrschaften wurde einzig und allein nur außerhalb Paris, in einsamen Orten der Provinzen oder auf dem Lande, wo die Bewohner sich dann so still wie Tote verhielten, häufiger aber noch außerhalb Frankreichs Grenzen, in der Schweiz, in Nordamerika, in Deutschland und England, von Franzosen litterarisch gearbeitet. Denn nur dort konnten die selbständigen Geister unter den Franzosen existieren, wie auch nur von solchen eine Litteratur begründet und gefördert werden kann. Die erste französische Litteraturgruppe in diesem Jahrhundert, welche von so vielen zerstreuten Punkten aus begründet wird, hat nun als gemeinsamen Grundzug, daß sie oppositionell ist."53
Außerdem hebt Brandes hervor, dass die Emigrantenliteratur kein einheitliches, sondern ein durchaus widersprüchliches Phänomen sei, und verweist auf den weiteren uneinheitlichen Werdegang dieser Literatur, deren Vertreter sich später teilweise der Reaktion oder dem Liberalismus anschlossen oder Reformatoren im literarischen Bereich wurden.54 Gemeinsam sei ihr jedoch die Ablehnung der Literatur des 18. Jahrhunderts, insbesondere Voltaires, die bei aller kritischen Innovativität in formaler Hinsicht keine Reform eingeleitet habe, oder, wie Brandes es polemisch ausdrückt: „Voltaire, der vor wenigem zwischen Himmel und Erde Respekt hat, respektiert die Alexandriner."55 Die in der Emigration erfolgende Öffnung führt Brandes auf die Entortungserfahrung und die Erweiterung des geistigen und sprachlichen Horizonts zurück. Was Berendsohn von diesem Modell übernimmt, ist neben der Begriffsbildung das Moment der politischen Uneinheitlichkeit der Emigrantenliteratur, was bedeutet, dass das Nebeneinander an politischen und literarischen Strömungen nicht zum Widerspruch wird. Anders als Brandes jedoch fehlt bei Berendsohn die Einbindung in eine größere literaturhistorische Entwicklung, und zwar sowohl für die Zwischenkriegszeit - Berendsohn stellt hier allein eine Kontinuität zur pazifistischen Literatur ab Ende der zwanziger Jahre her - 5 6 als auch für die Nachkriegszeit, was zu Beginn aufgrund der mangelnden zeitlichen Distanz auch nicht möglich war. Während 51
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Carl Erik Bay, Georg Brandes in der marxistischen Kritik, in: Hertel/M0ller, The Activist Critic, 266. „Brandes, Georg", in: Encyclopaedia Britannica. Georg Brandes, Die Emigrantenlitteratur, Leipzig 1897, 20. Ebd. Ebd., 21. Berendsohn, Die humanistische Front. Erster Teil, 13-19.
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Brandes den Begriff „Emigrantenliteratur" nicht für absolut ansieht und darunter - mit dem Argument, Emigranten seien an sich oppositionell - auch Fälle von Autoren verstand, die im Ausland leben, ohne emigriert zu sein, oder solche, die nach wie vor in Frankreich leben, sich jedoch einem neuen Formenrepertoire gegenüber geöffnet haben,57 ist Berendsohn wesentlich strenger. Wo es Brandes um die Erklärung einer formalästhetischen Öffnung geht, schreibt Berendsohn eine sozialhistorisch geprägte Literaturgeschichte, deren Grundlage die Exilerfahrung bildet.
Die Verabsolutierung der Exilerfahrung Dies war kein unumstrittener Zugang und wurde bereits in der Exilzeit debattiert, wie ein Beitrag Hermann Kestens im Neuen Tagebuch aus dem Jahr 1938 zeigt. Kesten kommt zu dem Schluss, dass es eine Emigrantenliteratur an sich nicht gebe und dass vielmehr die „doppelte Buchführung" der deutschen Literatur seit 1933 ein gefährliches und in letzter Konsequenz nationalsozialistisches Modell sei.58 Die Schriftsteller im Exil verbinde kein gemeinsamer Nenner, weder Staatsbürgerschaft noch Wohnsitz, weder Einfuhrverbot noch das innere oder äußere Schicksal. Für Kesten ist der Begriff der „freien deutschen Literatur" bindend, der die Gemeinsamkeit zwischen Schriftstellern an einer Mischung aus persönlicher Integrität und politischer Einstellung festmacht und nicht an ihrem Schicksal: „Weder das Exil noch die Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer trennt die beiden deutschsprachigen Literaturen. Zusammen mit Genies und Charakteren sind auch Schufte und Dilettanten ins Exil gegangen. Neben Kettenhunden und Speichelleckern sind auch unbeugsame Patrioten und liebenswürdige Talente im Reich geblieben." 59
Mit dem Hinweis darauf, dass viele Werke der Weltliteratur im Exil entstanden seien, die eigene Situation also keineswegs einzigartig sei, verwahrt er sich gegenüber einer Verabsolutierung der Exilerfahrung: „Das Exil hinterlässt Spuren, wie jede Erfahrung. Aber keine einzelne Erfahrung ist hinreichend, um nach ihr allein Kunstwerke und Literaturwerke zu benennen [,..]." 60 Der Diskussion um das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft fügte Alfred Döblin in seiner Schrift Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933) (1938) noch eine weitere Facette hinzu, als er die Autonomie des Schriftstellers den historischen Ereignissen gegenüber hervorhob, nicht weil Schriftsteller an sich vollkommen unabhängig agieren könnten, sondern weil sich Erfahrung nicht unmittelbar in Literatur umsetzen lasse: 57 58
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Brandes, Emigrantenlitteratur, 23. Hermann Kesten, Fünf Jahre nach unserer Abreise..., in: Neues Tagebuch 6 (1938), 114-117, hier 114. Ebd., 115. Ebd., 116.
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„Denn auch die Emigration und das äussere [...] Elend kann an den Grundfakten, an den Bedingungen und Voraussetzungen von Kunst nichts ändern. [...] Man verlangt praktische, sofort sichtbare politische und gesellschaftliche Wirkung. Das können wir nicht geben. [...] Wir arbeiten auf längere Sicht." 61
Während Kesten sich jedoch sowohl gegen Ideologisierung als auch gegen die Überbewertung der Exilerfahrung wendet, spricht Döblin von einem Kurzschluss in die Politik und in die Mystik, die von Seiten der Literaten wie der Kritiker betrieben werde, und wehrt sich hauptsächlich gegen die Vereinnahmung von antifaschistischer Seite.62 Beide Autoren lehnen den Begriff „Exilliteratur" bzw. „Emigrantenliteratur" ab; Kesten, weil er die Exilerfahrung nicht als konstitutiv betrachtet, Döblin, weil sich für ihn ,,[w]ährend einer politischen Gleichschaltung, wie im Krieg, alle Literatur im Exil [befindet]. Es giebt auch innerhalb der Reichsgrenzen Literatur nur in Gestalt von Exilsliteratur, d.h. nur als versteckte und illegale."63 Beide Autoren lenken mit dem Hinweis auf die Autonomie der Kunst die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Umformungsprozesse, die ein Stoff durchlaufen muss, bevor er zu Literatur werden kann. Diesem Argument hält Berendsohn entgegen, dass „die großen Werke der Weltliteratur ursprünglich sehr zeitgebunden [sind]".64 Er belegt außerdem, dass die Exilliteratur sehr wohl Stellung genommen hat und deswegen den Aussagen von Döblin wie von Kesten widerspricht.65 Die Debatte um die Begrifflichkeiten verstummte nach 1938 weitgehend und manifestierte sich erst wieder in den bereits erwähnten, nach Kriegsende erschienenen Anthologien. Hier setzte sich ein antifaschistisches Narrativ durch, selbst wenn die Exilliteraturforschung die innere Emigration nicht immer berücksichtigte und das Exil als Einzelphänomen untersuchte. Der antifaschistische Rahmen eignet sich allerdings nicht dazu, die in Egodokumenten und der Forschungsliteratur beschriebene Entfremdung nach dem offiziellen Ende des Exils 1945 zu thematisieren, da der Bruch mit dem Nationalsozialismus als Neubeginn konzeptualisiert wird, der einer Entfremdung keinen Ort zubilligt. Jedoch erscheint auch Berendsohns nur angedachtes Modell nicht befriedigend. Wenn er die Exilerfahrung als konstitutiv voraussetzt, stellt sich die Frage, weshalb manche Exilautoren in der Nachkriegszeit mehr, andere weniger an ihrem Schicksal litten. Anders als zuvor weicht Berendsohn von seiner soziologischen bzw. sozialhistorischen Herangehensweise ab, indem er die Exilerfahrung verabsolutiert. Hermann Kestens Einwand, weshalb die Exilerfahrung über andere Erfahrung gestellt werden sollte, erhält an dieser Stelle neue Bedeutung. Berendsohn formuliert keine Kriterien, die es erlauben würden, die gesellschaftliche Integration zu erklären, und die einen Vergleich zwischen unterschiedlichen Ländern ermöglichten. Wenn heute 61
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Alfred Döblin, Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933). Ein Dialog zwischen Politik und Kunst, Paris 1938, 20. Ebd., 24-29. Ebd., 13. Berendsohn, Die humanistische Front. Erster Teil, 71. Ebd.
EIN AUFENTHALT DER DAUER
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in der Exilforschung an manchen Stellen Akkulturation als Phänomen und Produkt jeglicher Migrationserfahrung begriffen wird, war dies Berendsohn am Ende seines Lebens nicht mehr möglich. Zwar war es ihm gelungen, ein literaturwissenschaftliches Modell zu skizzieren, das sich im Laufe der Jahre in Bewegung befand, eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Dauer des Exils konnte jedoch selbst er nicht finden. Dies lag u.a. daran, dass sich die entsprechenden Argumentationsstrukturen, die sich bereits im Exil herausgebildet hatten, während und nach dem Ende des Kalten Krieges weiter verfestigten. Wenn es um die Dauer des Exils ging, erlaubte die Ideologisierung des Forschungsfelds keine Diskussion. Berendsohns Antwort, der Vorschlag zur Namensänderung des ganzen Feldes, die zeitliche Entgrenzung des Exilbegriffs und die Verabsolutierung der Exilerfahrung, sind Zeichen der Verhärtung seiner eigenen Position.
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Ordnungen des Wissens und Kontexte der Selbstdefinition Zur Besonderheit deutsch-jüdischer Enzyklopädieprojekte im 19. Jahrhundert Problemstellung und Forschungsstand Das 19. Jahrhundert weist eine besondere Beziehung zur Textsorte der Enzyklopädie auf, und dies sowohl in allgemeiner als auch spezieller Bedeutung. Zunächst ließe sich zeigen, dass das allgemeine Verständnis von .Enzyklopädie' in diesem Zeitraum einer semantischen Verschiebung folgte: Stand der Begriff noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Kern für einen systematisch ordnenden, klassifizierenden Überblick aller Wissenschaften, erfolgte jetzt eine immer weitere Ausdifferenzierung der Universitätsdisziplinen durch das Mittel der „Fachenzyklopädien", die den Umfang der Fachwissenschaften unter didaktischen Gesichtspunkten definierten und methodisch aufbereiteten.1 Gleichzeitig verwendeten mehrbändige allgemeine Enzyklopädien mit universalem Anspruch seit dem 18. Jahrhundert das Alphabet zur Strukturierung ihrer Einträge. Die Aufteilung des Wissens in einzelne Artikel und die alphabetische Ordnung ermöglichten einen einfachen Zugriff auf die gesammelten Informationen, ohne dass der Benutzer sich vorher mit einer wissenschaftlichen Klassifikation auseinandersetzen musste. Dadurch erwies sich die Ordnung des Alphabets mit ihrer „eklatanten Systemfreiheit" als das egalitäre Gegenmodell zu einem klassifizierenden Aufbau der Enzyklopädien.2 Diese wurden im 19. Jahrhundert zu einem zentralen Medium der Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse sowie politischer Inhalte und Leitvorstellungen in der bürgerlichen Gesellschaft. 3
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Vgl. Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn 1977,73, 177-220. Ein klassischer Überblick über Enzyklopädien ist Robert Collison, Encyclopaedias. Their History throughout the Ages, New York/London 1964; vgl. auch Hugo Wetscherek (Hg.), Bibliotheca lexicorum. Kommentiertes Verzeichnis der Sammlung Otmar Seemann. Eine Bibliographie der enzyklopädischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, unter besonderer Berücksichtigung der im deutschen Sprachraum ab dem Jahr 1500 gedruckten Werke, bearb. von Martin Peche, Wien 2001. Das Forschungsprojekt „Allgemeinwissen und Gesellschaft" zur gesellschaftlichen Bedeutung von Enzyklopädien stellt im Internet eine fortlaufend aktualisierte Bibliographie bereit: [1. September 2005], Andreas B. Kilcher, ,mathesis* und ,poesis'. Die Enzyklopädie der Literatur 1600-2000, München 2003, 223. Anders Richard R. Yeo, Encyclopaedic Visions. Scientific Dictionaries and Enlightenment Culture, Cambridge u.a. 2001, 23, der annimmt, dass jeder alphabetisch geordneten Enzyklopädie auch eine Systematik zu Grunde läge. Ulrike Spree, Das Streben nach Wissen. Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Tübingen 2000. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 81-100
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Doch dieser Paradigmenwechsel birgt noch einen zweiten, denn parallel zu ihm erfolgte die Begründung dessen, was man heute als moderne jüdische Enzyklopädien bezeichnen könnte; es begann eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erreichen sollte. Sie soll im Folgenden näher betrachtet werden. Mit dem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft begannen die Juden, sich auf eine neue Art mit der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung auseinander zu setzen. Enzyklopädien nahmen dabei eine zentrale Stellung ein, konnten sie doch neben Fragen der Klassifizierung, Bewahrung und Vermittlung von jüdischem Wissen auch politische Aspekte reflektieren. Sie standen damit in enger Verbindung mit der Herausbildung einer eigenen „Wissenschaft des Judentums", der jüdischen Reformbewegung und damit dem Prozess der Modernisierung und Säkularisierung der Juden während des 19. Jahrhunderts.4 Die Verbindung von moderner Wissenschaft und einem gewandelten jüdischen Selbstverständnis besaß demnach - so eine zentrale Hypothese des vorliegenden Beitrages - eine besondere Affinität zur Textsorte „ E n z y k l o p ä d i e " , eine Affinität, die noch wenige Jahrzehnte zuvor gar nicht abzusehen gewesen war. In der jüngeren Forschung wurde zuletzt mehrfach die Darstellung von Juden in den allgemeinen Enzyklopädien des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht. Diese Arbeiten - zu nennen wären etwa diejenigen von Barbara Suchy und Georges-Elia Sarfati - kommen mit jeweils unterschiedlichen methodischen Ansätzen zu dem Ergebnis, dass die allgemeinen Enzyklopädien die jeweils zeittypischen antijudaistischen und später antisemitischen Vorurteile unter Rückgriff auf die maßgeblichen Werke vorrangig christlicher oder konvertierter Autoren popularisierten.5 Zwar begannen gegen Ende des 18. Jahrhunderts allgemeine Enzyklopädien verstärkt, sich mit der rechtlichen und sozialen Lage der Juden zu beschäftigen. Doch sie diskutierten jetzt vor allem die Frage, ob und wie die Juden - so sehr sie als Fremde, als religiöse und kulturelle Minderheit wahrgenommen wurden - in die sich formierende bürgerliche Gesellschaft aufgenommen werden könnten. Dabei entwickelte sich in Ansätzen auch eine tolerantere Einstellung gegenüber dem Judentum und anderen nichtchristlichen Religionen.6 Diese Entwicklungstendenzen, die Juden und Judentum als Thema der theologischen Disputationen in den Wahrnehmungshorizont rückten, waren das eine. Auf der anderen Seite gab es nun aber auch von jüdischer Seite seit der Begründung der 4
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Einen Überblick über die Entwicklung der jüdischen Enzyklopädien bietet Shimeon Brisman, A History and Guide to Judaic Encyclopedias and Lexicons, Cincinnati/Oh. 1987. Barbara Suchy, Lexikographie und Juden im 18. Jahrhundert. Die Darstellung von Juden und Judentum in den englischen, französischen und deutschen Lexika und Enzyklopädien im Zeitalter der Aufklärung, KölnAVien 1979; Georges-Elia Sarfati, Discours ordinaires et identites juives. La representation des Juifs et du Judai'sme dans les dictionnaires et les encyclopedies de langue frangaise (du Moyen Age au XXe siecle), Paris 1999. Darauf weisen hin Willi Goetschel/Catriona MacLeod/Emery Snyder, The .Deutsche Encyclopädie', in: Frank A. Kafker (Hg.), Notable Encyclopedias of the late 18th Century. Eleven Sucessors of the ,Encyclopedie\ Oxford 1994, 257-333, v.a. 301-304 und Edward Breuer, The .Deutsche Encyclopädie' and the Jews, in: Leo Baeck Institute Year Book 44 (1999), 23-38.
O R D N U N G E N DES W I S S E N S U N D K O N T E X T E DER SELBSTDEFINITION
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deutschsprachigen „Wissenschaft des Judentums" zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Annäherung der jüdischen an die allgemeine Wissenschaftsentwicklung. Hier waren Juden weniger Objekt des Wissenschaftsdiskurses, sondern deren Subjekt. Die Vertreter der „Wissenschaft des Judentums" verstanden „Wissenschaft" und „Bildung" als die entscheidenden Mittel, um die rechtliche Emanzipation und somit die Integration der jüdischen Minderheit in die allgemeine bürgerliche Gesellschaft zu erreichen.7 Die frühen Programmschriften zu jüdischen Enzyklopädien, die es hier zu analysieren gilt, enthalten häufig diesen dem Gedanken der Aufklärung geschuldeten Impetus, das Judentum in eine den anderen Konfessionen jener Zeit vergleichbare „religio" zu transformieren. Jedoch bemühten sich diese Programme gleichzeitig um die wissenschaftstheoretische Grundlegung einer neuartigen Disziplin. Sie stehen damit im Kontext eines allgemeinen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts stattfindenden Übergangs von der „Gelehrsamkeit" hin zu den modernen Wissenschaften. Im Prozess der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Disziplinen an den Universitäten entstanden neue Fächer wie die Bibelwissenschaft, die Klassische Altertumswissenschaft und die einzelnen Nationalphilologien. Enzyklopädien spielten im Rahmen dieser Transformation der Wissenschaften eine entscheidende Rolle, da sie den inhaltlichen und methodischen Rahmen der neuen Disziplinen bestimmten.8 Die „Wissenschaft des Judentums" reagierte auf diese Entwicklung in doppelter Weise, indem sie die innovativen Elemente dieser neuen Disziplinen diskutierte und anzuwenden suchte. Parallel dazu setzte hier eine Auseinandersetzung mit der eigenen, der jüdischen Nationalität ein. In der bisherigen Forschung wurde die „Wissenschaft des Judentums" schon unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten untersucht, man thematisierte jedoch nur am Rande, welche Rolle das Modell „enzyklopädischen Wissens" und die Vorstellung von „enzyklopädischen Strukturen" für die Ausbildung dieser eigenen Forschungsrichtung im 19. Jahrhundert spielten. Ziel dieses Beitrages soll es deshalb sein, anhand ausgewählter Programmschriften zu jüdischen Enzyklopädien, die wissenschaftlichen und politischen Hintergründe dieser Projekte zu analysieren.
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Vgl. die Darstellungen von Michael A. Meyer, Jüdische Wissenschaft und jüdische Identität, in: Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judentums. Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992, 3-20; Ismar Schorsch, Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818-1919), in: Michael Brenner/Stefan Rohrbacher (Hg.), Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000, 11-24, 207f. Vgl. dazu am Beispiel der Germanistik Nikolaus Wegmann, Was heißt einen .klassischen Text' lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung, in: Jürgen Fohrmann/ Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart/ Weimar 1994, 334—450, v.a. 351-355; Giuseppe Veltri, Altertumswissenschaft und Wissenschaft des Judentums. Leopold Zunz und seine Lehrer F. A. Wolf und A. Böckh, in: Reinhard Markner/Giuseppe Veltri (Hg.), Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Eine Veröffentlichung des Leopold-Zunz-Zentrums zur Erforschung des Europäischen Judentums, Stuttgart 1999, 32^17.
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Die Einlösung dieser Programme gelang im 19. Jahrhundert noch gar nicht, aber bereits die Prospekte lassen das Spezifische der jüdischen Enzyklopädik erkennen: Erstens reflektierten sie die oben erwähnte Verschiebung vom Konzept der Enzyklopädie als Wissenschaftsprogramm oder didaktisch orientierter „Methodologie" zu dem eines modernen alphabetischen Nachschlagewerks mit universalem Anspruch. In dieser Bewegung entwickelten sich die Enzyklopädien, zweitens, zu einem wichtigen Diskussionsforum für die unterschiedlichen und teilweise konkurrierenden Bestimmungen der „Wissenschaft des Judentums" und der jüdischen Zugehörigkeit. Drittens präsentierten sich die Enzyklopädien auch als ein Mittel, auf den allgemeingesellschaftlichen Diskurs über Juden Einfluss zu nehmen. Wurden diese programmatischen Diskussionen um eine jüdische Enzyklopädie vor allem innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geführt, so gelang es um die Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals auch jüdischen Wissenschaftlern, an einer allgemeinen Enzyklopädie mitzuarbeiten. Die Aufnahme von jüdischen Beiträgen in die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste zu jüdischen Themen kündete in weiten Gelehrtenkreisen von der wissenschaftlichen Emanzipation der Juden.9
„Von der Würde eines Konversationslexikons" Leopold Zunz' Auseinandersetzung mit Enzyklopädien Schon einer der ersten Vorträge von Leopold Zunz (1794—1886), den er in einem dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" vorausgehenden „Wissenschaftszirkel" im Jahre 1816 hielt, beschäftigte sich unter dem Titel „Von der Würde eines Konversationslexikons" offensichtlich mit dem .deutschen' Modell einer populären Enzyklopädie.10 Da der Text verschollen ist, lässt sich der Inhalt seines Referats 9
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Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet, Leipzig 1818-1889. Die Enzyklopädie erschien nur unvollständig in 167 „Theilen" (Bänden) und mit wiederholt wechselnden Herausgebern. Ursprünglich im Leipziger Verlag Johann Friedrich Gleditsch, wechselte sie nach andauernden finanziellen Schwierigkeiten 1831 zu F. A. Brockhaus. Jeweils unterschiedliche Herausgeber betreuten die drei Sektionen des Ersch/Gruber (A-G, H Ligatur, O-Phyxius), von denen nur die erste Sektion mit 99 Bänden und Register vollständig erschien. Insgesamt hätte dieses Monumentalwerk, wäre es zu Ende geführt worden, ca. 295 Bände mit jeweils ungefähr 400 zweispaltigen Quartseiten umfasst. Mehrmals nachgedruckt und als Microfiche verfilmt ist die Enzyklopädie neuerdings im Rahmen des Digitalisierungszentrums der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen auch Online zugänglich: [1. September 2005]. Sinai (Siegfried) Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums (Motive des Kulturvereins vom Jahre 1819), in: Kurt Wilhelm (Hg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachraum. Ein Querschnitt, Tübingen 1967, 315-352, hier 317: „Zunz beschränkte sich auf folgende Themen: .Anleitung zum Büchermachen', ,Lob des Geldes', ,Von der Würde eines Konversationslexikons; eine Predigt über zwei Texte' (Letzteres vielleicht eine
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heute nicht mehr rekonstruieren. Doch die erste programmatische Veröffentlichung von Leopold Zunz „Etwas über die rabbinische Literatur" (1818) bezog sich auf die zu dieser Zeit in den deutschen Wissenschaften etablierten Formal-Enzyklopädien. Die Wissenschaftsentwicklung in Deutschland stellte für die Herausbildung der modernen Jüdischen Studien den entscheidenden Hintergrund dar und beeinflusste z.B. den 1819 gegründeten Berliner „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden". 11 Die dort geführten Diskussionen über die Ausrichtung der neuen Disziplin spiegelten sich in dem Aufsatz Immanuel Wolfs (1799-1847) „Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums" (1823), der die nur ein Jahr lang erscheinende Zeitschrift des Vereins eröffnete. Ziel der neuen Disziplin sei es, so formulierte es Wolf, ein „allgemeingiltiges Princip [...] über das Verhältnis der Juden" zu finden und damit „auf wissenschaftlichem Wege" eine Entscheidung „über den Werth oder Unwerth der Juden, über ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit, anderen Bürgern gleich geachtet und gleich gestellt zu werden" herbeizuführen. 12 Der Verein löste sich 1824 auf und maßgebliche Mitglieder konvertierten, wie etwa der Jurist und Historiker Eduard Gans (1798-1839) - der daraufhin eine Professur an der Berliner Universität erhielt - oder Heinrich Heine. Den Mitgliedern des Vereins, die sich wie Leopold Zunz der Erforschung der jüdischen Literatur und Geschichte widmeten und die die Konversion ablehnten, wurde es hingegen verwehrt, ihre Studien in den Kanon der Universität zu integrieren. Noch in den 1840er Jahren lehnte die Berliner Universität die Gesuche von Leopold Zunz um die „Einrichtung einer ordentlichen Professur für Jüdische Geschichte und Literatur" ab. Die Philosophische Fakultät begründete ihre abschlägige Antwort damit, dass eine „Professur, die mit dem Nebengedanken gestiftet würde, das jüdische Wesen in seiner Besonderheit, in seinem entfremdenden Gesetzen und Gebräuchen geistig zu stützen und zu bekräftigen, dem Sinne der neuen die starren Unterschiede ausgleichenden Freiheit" widerspräche. „Sie wäre eine Bevorrechtung der Juden, ein Missbrauch der Universität, insbesondere der philosophischen Fakultät, die für ihre Lehrfächer zunächst kein anderes Maß kennt, als den inneren
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Polemik gegen ein Lexikon, das über jüdische Themen schrieb?)" Zu Leopold Zunz vgl. Celine Trautmann-Waller, Philologie Allemande et Tradition Juive. Le Parcours Intellectuel de Leopold Zunz, Paris 1998; Luitpold Wallach, Liberty and Letters. The Thoughts of Leopold Zunz, London 1959. Vgl. Edith Lutz, Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" und sein Mitglied H. Heine, Stuttgart/Weimar 1997, 99-120; ebd., 273-283 als Anhang der Entwurf für Statuten des Vereins. Vgl. auch: Ismar Schorsch, Breakthrough in to the Past. The .Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden', in: ders., From Text to Context. The Tum to History in Modern Judaism, Hanover/London 1994, 205-232. Immanuel Wolf, Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in: Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (Hg.), Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, 3 Bde., Berlin 1823 [Reprint: Hildesheim/New York 1976], 1-24, hier Zitate 22f; vgl. Michael A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 17491824, München 1994, 201; Christoph Schulte, Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums. Die ursprüngliche Konzeption der Wissenschaft des Judentums und ihre Aktualität nach 175 Jahren, in: Aschkenas 7 (1997), 277-302.
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Gehalt der Wissenschaft [...]." 13 Mit dieser deutlichen Absage war die Einbindung der „Wissenschaft des Judentums" in die deutschen Universitäten für das 19. Jahrhundert gescheitert. Leopold Zunz rezipierte für seine Überlegungen zu einer Philologie der jüdischen Literatur vor allem die methodischen Vorstellungen der beiden Altphilologen Friedrich August Wolf (1759-1824) und August Boeckh (1785-1867), deren Lehrveranstaltungen er an der prosperierenden Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität besuchte.14 Beide Wissenschaftler vertraten einen erweiterten Begriff der Philologie, die sie nicht nur als das Studium der Klassischen Antike oder Sprachwissenschaft verstanden wissen wollten, sondern als eine kritische Untersuchung der Sprachen und Literaturen aller Völker in allen Zeiten. Im Gegensatz zu einer sich vornehmlich mit den politischen Ereignissen befassenden Geschichtswissenschaft schloss diese Auffassung der Philologie als Kulturwissenschaft den enzyklopädischen Anspruch der „Wiedererkenntnis und Darstellung des ganzen vorhandenen menschlichen Wissens" ein.15 Diese neue Auffassung prägte auch Zunz' Konzeption einer „Wissenschaft des Judentums", der sich, wie seine Übernahme historistischer Methoden und Ziele zeigt, weniger für eine politische Geschichte der Juden interessierte, sondern sich eine umfassende Geschichte ihrer als schöpferische Leistung verstandenen Literatur als Programm vorstellte.16 Zunz charakterisierte in seinem programmatischen Aufsatz die überlieferte hebräische Literatur als eine schon abgeschlossene Erscheinung, die es nun als Vorarbeit für ihre weitere Erforschung mit philologischen Methoden zu sammeln und zu sichten gelte. Jetzt, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sei die Kenntnis der hebräischen Sprache noch vorhanden, ohne die ein Großteil der überlieferten Texte unlesbar werden würde: „Aber gerade weil wir zu unserer Zeit die Juden - um nur bei den deutschen stehen zu bleiben - mit grösserem Ernst zu der deutschen Sprache und der deutschen Bildung greifen und so - vielleicht oft ohne es zu wollen oder zu ahnen - die neuhebräische Literatur zu Grabe tragen sehen, tritt die Wissenschaft auf und verlangt Rechenschaft von der geschlossenen." Die Philologie war für Leopold Zunz das bestimmende Prinzip. Nur durch die Konstruktion eines abgeschlossenen Gegenstandes erschien es ihm möglich, dem Verlust der jüdischen Tradition entgegenzutreten und eine der Klassischen Philologie vergleichbare Disziplin zu etablieren. Gleichzeitig band er das Programm der „Wissenschaft des Judenthums" auch an politische Fragen im Zusammenhang mit der Emanzipation der Juden: Die Erfor13
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Ludwig Geiger, Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestellten, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 60, N.F. 24 (1916), 245-262 und 321-347, hier 337. Vgl. Celine Trautmann-Waller, Selbstorganisation jüdischer Gelehrsamkeit und die Universität seit der .Wissenschaft des Judentums', in: Wilfried Barner/Christoph König (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland, 1871-1933, Göttingen 2001, 77-86. Vgl. Fritz Bamberger (Hg.), Das Buch Zunz. Künftigen ehrlichen Leuten gewidmet. Eine Probe, [Berlin] 1931, 19 [Eintrag vom 12. Oktober 1815], August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. v. Ernst Bratuscheck, 2. Auflage besorgt von Rudolf Klussmann, Leipzig 1886, 16. Vgl. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, 183f.
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schung der Literatur der Juden diene der Entwicklung einer neuen und angemessenen Einstellung gegenüber den Juden, „da die komplizierte Frage über das Schicksal der Juden" zumindest in einigen Teilen daraus beantwortet werden könne. 17
Enzyklopädie und die Herausbildung einer „jüdischen Theologie" Auf Zunz' Schriften basierend, sie weiterentwickelnd oder auch gegen sie polemisierend entstanden in der Folge noch andere Konzepte für eine jüdische Wissenschaft. Hatte Leopold Zunz die „Wissenschaft des Judentums" vor allem an die Philologie gebunden und diese damit gleichsam säkularisiert, so widmeten sich die reformorientierten Juden der Begründung einer „jüdischen Theologie". Dabei nahm die Etablierung von angemessenen Lehr- und Forschungseinrichtungen zur Aus- und Weiterbildung des neuen Standes eines reformierten Lehrers oder Rabbiners mit wissenschaftlichem Abschluss neben der Beschreibung des Entwurfs dieser Disziplin breiten Raum ein. Während der 1830er Jahre erschienen mehrere Aufsätze in jüdischen Zeitschriften, die die Einrichtung einer , jüdisch-theologischen" Fakultät an den deutschen Universitäten thematisierten. Ziel war es, die reformierte ,jüdische Theologie" an die allgemeine Entwicklung der Wissenschaften anzubinden. Vor allem der Aufruf zur „Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät" von Abraham Geiger (1810-1874) aus dem Jahre 1836 ist in diesem Zusammenhang zu nennen, der den Gedanken einer Integration der .jüdischen Theologie" in die deutschen Universitäten popularisierte, da ihm nur „diese schöne Blüthe des geistigen deutschen Lebens, die Universitäten, wo die universelle wissenschaftliche Bildung ihren Sitz hat" geeignet schien, „der jungen, aber nothwendig um so kräftiger aufstrebenden, Wissenschaft Gedeihen zu verschaffen". Somit sei „eine [jüdisch-theologische] Facultät, als Zweig einer Universität, nach deutschem Sinne strebend und wirkend" das maßgebliche Ziel.18 Die von Geiger mit Nachdruck geäußerte Hoffnung, dass „die Facultät an einer Universität errichtet werde und nicht als Seminar gesondert dastehe", richtete sich auch auf die Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft und somit den „vollen Eintritt der Juden in das Staatsleben, als eine gleichberechtigte Confession"19. Geiger bestimmte in seinen programmatischen Äußerungen jedoch den an der geplanten „Facultät" zu lehrenden Fächerkanon nicht näher, sondern beschränkte sich auf die praktische Seite der Finanzierung, indem er einen „Maimonides-Verein" zur Unterstützung gründete.
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Leopold Zunz, Etwas über die rabbinische Litteratur, in: ders., Gesammelte Schriften, 3 Bde., Berlin 1875/76, Bd. 1, 1-31, hier 4. Vgl. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, 184f. Hier, wie in den folgenden Zitaten, sind die Kursivierungen im Original gesperrt gedruckt. Abweichungen werden angemerkt. Abraham Geiger, Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 2 (1836), 1-21, hier 18. Abraham Geiger, Die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät, in: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 4 (1839), 309-312, hier 309 und 311.
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Im darauf folgenden Jahr wurde Geigers Vorschlag im ersten Jahrgang der von Ludwig Philippson (1811-1889) begründeten Allgemeinen Zeitung des Judenthums aufgegriffen, die sich der Reform des Judentums verschrieben hatte.20 Hier erschien über den Zeitraum von vier Monaten die enzyklopädische Musterung der für .jüdische Theologie" geforderten Fächer als detaillierte Skizze eines zukünftigen jüdischen Bildungssystems unter dem Titel Jdeen zu einer Encyclopädie und Methodologie der jüdischen Theologie". Der Beitrag stammte von Phöbus Philippson (1807-1870), dem älteren Bruder des Herausgebers der Zeitschrift, der unter dem Pseudonym „Dr. Uri" schrieb.21 Seine Ausführungen standen im Kontext von den um und nach 1800 in vielen wissenschaftlichen Disziplinen erscheinenden Fachenzyklopädien. Ausgerichtet war sein Programm, das die Herausbildung einer jüdischen „Theologie" forderte, auf die Reformierung des Bildungssystems in den jüdischen Gemeinden Deutschlands. Das anzustrebende Ziel war es, „immer weiter auf dem Wege der Bildung und Civilisation zu gelangen, um immer würdiger der Emancipation zu werden". Im Kern war das von Philippson verfolgte Interesse ein zweigeteiltes: Durch eine „innere" Reformation des Judentums sollte die Aufnahme der Juden in die allgemeine Gesellschaft und somit ihre rechtliche Gleichstellung erreicht werden: „Haben wir uns erst selbst emancipiert, haben wir es zu einem Grade der Bildung gebracht, daß die Masse höher steht, als die Masse anderer Nationen, wahrlich Europa wird nicht länger zögern können, uns die Wohlthat der Emancipation zu ertheilen, und wir werden das hohe Bewußtsein haben, selbst am meisten dazu beigetragen zu haben." 22 Das Mittel der Enzyklopädie nutzte Philippson für die Reformation der jüdischen Theologie, indem er die zu lehrenden Gegenstände des jüdischen Wissens in einen theologischen Zusammenhang stellte. Scharf kritisierte er die Formen der traditionellen jüdischen Lehre: „,Im fünften Jahre die Bibel, im zehnten die Mischna, im fünfzehnten die Gemara!' So war die Vorschrift der Talmudisten selbst, und so wurde Bibel und Talmud die ganze Encyklopädie der Religionswissenschaften, und die Methode, dazu zu gelangen!"23 Dieses seiner Meinung nach überholte Bildungssystem sollte an die modernen Wissenschaften angepasst werden. Dazu sei es nötig,
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Zum Profil dieser Zeitschrift vgl. Johanna Philippson, Ludwig Philippson und die Allgemeine Zeitung des Judentums, in: Hans Liebeschütz/Arnold Paucker (Hg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800-1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen 1977, 243-291. Zu Phöbus Philippson vgl. Johanna Philippson, The Philippsons. A German-Jewish Family 1775-1933, in: Leo Baeck Institute Year Book 7 (1962), 95-118, v.a. 99-102. Die Zuordnung der Autorschaft folgt Ludwig Philippsons Nachruf in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 34 (1870), Nr. 17 [26. April, Feuilletonbeilage] 341-344, hier 343. „Dr. Uri" [ = Phöbus Philippson], Ideen zu einer Encyclopädie und Methodologie der jüdischen Theologie, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 1 (1837), Nr. 20 [15.6.], 77-79; Nr. 30 [8.7.], 118-120; Nr. 33 [13.7.], 130f.; Nr. 36 [20.7.], 141-143; Nr. 44 [1.8.], 174f.; Nr. 49 [10.8.], 194-196; Nr. 56 [22.8.], 222f.; Nr. 62 [2.9.], 246f.; Nr. 80 [5.10.], 318f.; Nr. 84 [14.10.], 333-335; Nr. 85 [17.10.], 338f., hier 339. Ebd., 77.
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„darüber einig zu werden, was zu ihrem [der jüdischen Theologie] Gebiete gehöre und auf welche Weise sie von Studierenden betrieben werde, d.h. ihr eine Encyklopädie und Methodologie [...] zu geben". .Enzyklopädie' wurde hier nicht als „als Aggregat gewisser Kenntnisse" verstanden, da die Kenntnisse „nur das Resultat der Wissenschaft" seien, sondern als eine formal philosophische, „sich selbst bewußte Uebersicht derselben, indem sie den Begriff der Wissenschaft scharf bestimmt, die einzelnen Theile derselben und das Eigenthümliche eines jeden einzelnen Theils bekannt macht, und auch die Quellen angibt, sowie das Verhältniß der gegebenen Wissenschaft zu den übrigen." Philippson schlug zu diesem Zweck eine Aufgliederung der jüdischen Theologie" in vier Hauptbereiche vor - in eine exegetische, dogmatische, historische und praktische Theologie - , wobei er den drei erstgenannten Gebieten jeweils die Philologie, die Philosophie und die Geschichte als Muster und „Hilfswissenschaft" zur Seite stellte.24 Dabei betonte er immer wieder die Wichtigkeit einer Anbindung an die allgemeinen historischen Wissenschaften. 25 Neben dieser formalen und einer methodologischen Übersicht der „jüdischen Theologie" ging es ihm im Weiteren darum, „auch über die vorhandenen und noch fehlenden Bildungsanstalten zu sprechen."26 Die Ausbildung von wissenschaftlich und universitär gebildeten „Geistlichen", denen die Erziehung der jüdischen Bevölkerung im Sinne der religiösen und bürgerlichen Emanzipation als Aufgabe übertragen werden konnte, war ihm ein besonderes Anliegen. Sein Lösungsvorschlag war eine Einbindung in die Universität. Ausdrückliches Gewicht sollte im Curriculum neben einer „klassischen Ausbildung" in allgemeiner Grammatik, in Latein und in Griechisch auch auf das Studium der deutschen Sprache und Literatur gelegt werden.27 Phöbus Philippson forderte eine universalistische Ausrichtung der zu lehrenden historischen Studien und betonte die besondere Bedeutung der historischen Perspektive für die Bildung der Juden. Die intensive Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit könne zum Verständnis der Gegenwart beitragen und eine religiöse Auffassung der Geschichte ermöglichen: „Das Edle und Unedle, das Würdige und Unwürdige, welches uns die Geschichte vorführt, hat eine erregende Kraft, bringt verschiedene Stimmungen im Gemüthe hervor, aber es kann auch zu einer religiösen Ansicht der Geschichte führen und endlich - die eigene Zeit, worin man lebt, zu begreifen." Die Geschichte sei jetzt „die Grundlage aller wissenschaftlichen Untersuchungen", jedoch könne man sie nicht „ohne allgemeine Kenntnis der Universal- und Spezialgeschichte, besonders der Culturgeschichte" erfassen.28 Für die praktische Umsetzung seines Planes einer „jüdischen Theologie" orientierte Philippson auf eine getrennte Ausbildung von Lehrern und Rabbinern, die sich an den Unterricht „in den gewöhnlichen christlichen Gymnasien (denn die Gymnasialbildung ist und bleibt die gediegenste)", ergänzt durch „Unterricht in der Religion, 24 25 26 27 28
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
119. 175 und 196. 118. 338. 339.
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in hebr[äischer Sprache] und der heiligen Schrift", „privatim oder in jüdischen] Religionsschulen", anschließen sollte.29 Die zukünftigen Lehrer hätten ein Seminar, die späteren Rabbiner vorrangig die Universität zu besuchen.30 Seine Wahl der Universität als Stätte der Ausbildung begründete er mit der ständig fortschreitenden Entwicklung des Wissens und der Möglichkeit der gegenseitigen Einflussnahme, da „nur die Universität [...] die universitas litterarum darstellt" und nur „auf ihr ein beständiger Austausch der Ideen" herrsche, so dass „eine Disciplin auf die andere wirkt, ein Geist den andern anregt". Die Universität sei die herausragende und angemessene Ausbildungsstätte, „weil hier Freiheit des Studiums, das nothwendigste Element aller geistigen Bildung, waltet". Philippson nahm die später auftretenden Legitimierungsschwierigkeiten des Faches vorweg. Er erklärte, dass „die jüdische Theologie [...] einen neuen Standpunkt annehmen will", und deswegen „die jüdischen] Geistlichen durchaus durch gründliche und vielseitige Ausbildung hervorragen müssen, wenn sie ihrem Stande neuen Glanz und neue Ehre, neuen Einfluß und neuen Nutzen schaffen wollen".31 Neben der methodischen Diskussion einer „jüdischen Theologie" bleibt an diesem Programm vor allem seine praktische Ausrichtung hervorzuheben. Das Streben nach Einbindung dieser Disziplin in die allgemeinen Universitäten spiegelte die Hoffnungen auf die Etablierung eines Lehrstuhls für jüdische Studien im Rahmen der Theologischen Fakultäten an den deutschen Universitäten wider.
„Eine Stimme aus Lithauen" fordert eine alphabetisch geordnete Enzyklopädie als „Centraiwerk" Ein weiteres Programm zum Erscheinen einer Enzyklopädie des Judentums wurde 1840 in den Israelitischen Annalen publiziert, einer anderen jüdischen Reformzeitschrift, die von Isaak Markus Jost (1793-1860) ediert wurde. Gemeinsam mit Leopold Zunz war Jost Schüler an der „Samsonschen Freischule" in Wolfenbüttel gewesen, die von S. M. Ehrenberg geleitet wurde. Später trat er für kurze Zeit dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" bei, seit den 1820er Jahren verfasste er die ersten mehrbändigen jüdischen Geschichtswerke.32 Der Aufruf „Vorschlag zu einem Centraiwerk" zur Schaffung einer jüdischen Enzyklopädie wurde zwar einer anonymen „Stimme aus Lithauen an alle Gelehrten Israels" zugeschrieben, stammte aber wahrscheinlich aus Josts eigener Feder.33 Das „Vorwort des Herausgebers"
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Ebd., 223. Vgl. ebd., 223 und 246. Ebd., 246. Zu Jost vgl. den Aufsatz von Reuwen Michael, I. M. Jost und sein Werk, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts (1960), Nr. 12, 2 3 9 - 2 5 8 . [Anonym], Vorschlag zu einem Centraiwerk, in: Israelitische Annalen. Ein Centraiblatt für Geschichte, Literatur und Cultur der Israeliten aller Zeiten und Länder 2 (1840), Nr. 19 [8. Mai], 161-163.
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stellte die grundsätzliche Bedeutung des Projekts einer Enzyklopädie für die „Regeneration" des Judentums dar. Jost beschrieb hier eine Zeit des allgemeinen Aufbruchs der Juden und ihrer Integration in die allgemeine Entwicklung, die sich „bald an zeitgemäßer Umbildung erstarrter und entseelter Formen, bald in feuriger Volksrede, bald in der Schule bei'm Jugendunterricht, bald in der Werkstatt des Handwerks" zeige. Auch die „Wissenschaft des Judentums" und deren„Ringen nach Erkenntniß, in Forschungen und Entdeckungen" trage dazu bei mit dem ,,dreiste[n] Ankämpfen gegen ältere und jüngere, innere und äußere Feinde der Wahrheit und der Humanität".34 Der eigentliche Text des kurzen Aufsatzes wurde als eine „sinngetreue Uebersetzung" vorgestellt und atmete in weiten Teilen den Geist der Aufklärung: Jene, „die bereits in der Erkenntniß fortgeschritten sind, [...] sollen ihr Licht nicht verschließen, vielmehr mit ihrem hellen Lichte die Irrwische verscheuchen, welche bald hier bald da vor unsern Augen flimmern, und die Unkundigen verlocken". Um die „flüchtige und jugendlich-vorlaute Büchermacherei" zu beenden, die eine Entwicklung der Wissenschaft behindere, gäbe es „kein besseres Gegenmittel, als die Herstellung gediegener Leistungen, die Vereinigung aller edlern Kräfte zu zeitgemäßen Arbeiten, die der Welt durch ihre Meister im Voraus Vertrauen einflößen, und dieses durch deren Gehalt rechtfertigen."35 Die „Stimme aus Lithauen" forderte zu diesem Zweck, „daß viele Gelehrte ihre Kräfte vereinen mögen zu einer Encyclopädie der jüdischtheologischen und literarischen Kenntnisse". Die angestrebte Enzyklopädie sollte somit eine Konsolidierung der „Wissenschaft des Judentums" leisten, und auch wenn die wenigen Zeilen noch keine inhaltliche Gliederung des Stoffes boten, so wurde in den nächsten Ausgaben der Israelitischen Annalen eine intensive Diskussion darüber angestoßen. Jost ging es bei der thematischen Planung für die Enzyklopädie nicht ausschließlich um eine Darstellung der „biblischen Exegese und Hermeneutik", sondern er fokussierte genauso die anderen „wissenschaftlichen Leistungen unsrer Gelehrten in Gesetzeskunde und philosophischer Begründung der Systeme, [ihre] eigenthümliche Auffassung historischer, physikalischer, theosophischer, mythischer Kenntnisse und Ansichten, [ihre] vielen literarischen Versuche". Sein großes Ziel war es, die „Thaten unsrer Vorgänger und ihre Einwirkungen auf den Volksgeist und dessen weitere Entwicklung" darzustellen. Vor allem zwei Aspekte scheinen seinen Vorschlag motiviert zu haben: Zum einen der Anspruch, die Erträge der bisherigen jüdischen Forschungen durch ein friedliches Gesammtstreben der heutigen Gelehrten" zu vereinen und gesammelt zu präsentieren, zum anderen mit dieser kollektiven „Schatzkammer" die weitere wissenschaftliche Beschäftigung zu fördern. Ziel war es, „durch einen gemeinsamen Bau ein Denkmal unserer Zeit herzustellen" und somit „ganz Israel von unendlichem Nutzen" zu sein.36 Den Israelitischen Annalen kam als Medium und Forum der .Sammlung' eine besondere Rolle zu. Vor allem aus praktischen Gründen sollten die alphabetischen
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Ebd., 162 (Vorwort des Herausgebers). Ebd., 162 (Brief). Ebd., 163.
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Artikellisten und Probeartikel der interessierten Wissenschaftler an die Redaktion der Israelitischen Annalen eingesandt werden. Die Diskussionen in den folgenden Nummern der Zeitschrift bezogen sich unter anderem auf divergierende inhaltliche Gliederungen, thematisierten aber auch die grundsätzliche Frage nach dem Zweck und der Möglichkeit einer jüdischen Enzyklopädie. Gegenüber kritischen Stimmen, die die Arbeit wegen ungenügender wissenschaftlicher Vorbereitungen noch aufschieben wollten, betonten andere Disputanten die Vorteile einer Verwirklichung des Vorhabens: Schließlich könne erst durch eine solche Enzyklopädie, die zu jedem Gegenstand die Quellen und die Literatur präsentiere, die „Erforschung der Wahrheit [...] gefördert" werden.37 Der hier ausgearbeitete Plan konnte zu jener Zeit indes nicht weiter verfolgt und die Enzyklopädie nicht veröffentlicht werden.
Moritz Steinschneider und Julius Fürst. Diskussionen um eine Enzyklopädie der „Wissenschaft des Judentums" In der Ankündigungen des Literaturblattes des Leipziger Orient erschien am 16. Mai 1843 eine Einladung des Verlages B. L. Monasch aus Krotoschin zur Subskription auf die „Allgemeine Real-Encyclopädie des Judenthums", die von einem Verein jüdischer Gelehrten verfasst werden sollte und den Untertitel „Jüdisches ConversationsLexicon" trug. Die Anzeige erläuterte das Vorhaben mit einer Kritik an den zeitgenössischen „Conversations-Lexica", die „nur das zum großen Theil schon oft als unwahr Anerkannte" wiederholen würden oder „sich ihrer Tendenz nach wenig mit dem Judenthum beschäftigen".38 Dieser Mangel wurde vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Situation der Juden hervorgehoben, schließlich hätte „eine solche Unkenntnis des Judenthums auf die äußere Stellung der Juden und auf die Wissenschaft überhaupt, wo sie mit jüdischem Wissen in Berührung kommt" einen negativen Einfluss. Der Verleger annoncierte aus diesem Grunde eine alphabetisch geordnete Enzyklopädie, die „alle Gegenstände behandeln [soll], welche die jüdische Geschichte vor und nach dem Exil, die biblische Geographie, biblische, talmudische und rabbinische Literatur, nebst den Biographien der älteren und neueren Gelehrten, Alterthumswissenschaft, Ritualien, Ceremonien, Rechts-, Sitten- und Glaubenslehre, jüdische Philosophie und Kabbala, Unterrichts- und Erziehungswesen, jüdische Chronologie u.s.w. betreffen." Die Enzyklopädie werde „in einfacher, faßlicher Sprache" geschrieben auch denjenigen erreichen, „der dem Judenthum ganz fremd ist". Auf keinen Fall jedoch sollte „die Gründlichkeit der Behandlung und die 37
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Vgl. [Isaak Markus Jost], Encyclopädie der theologischen und literarischen Angelegenheiten, in: Israelitische Annalen. Ein Centralblatt für Geschichte, Literatur und Cultur der Israeliten aller Zeiten und Länder 2 (1840), Nr. 27 [3. Juli], 236; Die projektirte Encyclopädie, in: Israelitische Annalen 2 (1840), Nr. 32 [7. August], 276; Mfoses] Heß, Ueber die projektirte Encyclopädie, in: Israelitische Annalen 2 (1840), Nr. 45 [6. November], 378, hier 378. Literaturblatt des Orient (1843), Nr. 20, Sp. 319f„ hier Sp. 319 [Wiederabdruck ebd., Nr. 22 (30. Mai), Sp. 351 f. und Nr. 29, (18. Juli), Sp. 463f.].
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wissenschaftliche Tendenz des Werkes" durch die angestrebte „Popularität der Darstellung" beeinträchtigt werden. 39 Moritz Steinschneider (1816-1907), Orientalist und „Vater der hebräischen Bibliographie" (Ismar Elbogen), übernahm im Auftrag des Verlegers die Begutachtung des geplanten Unternehmens und die Erarbeitung einer ersten Skizze des systematischen Aufbaus. 40 Seine „Briefe über eine Encyklopädie der Wissenschaft des Judentums" erschienen ab dem 25. Juli 1843 in mehreren Fortsetzungen in der Leipziger Zeitschrift „Orient" und wurden von deren Herausgeber Julius Fürst kommentiert. Gleich auf der ersten Seite setzte dieser eine herabwürdigende Bemerkung in die Fußnote, welche seine Beziehung zu Steinschneider auf Jahre vergiftete.41 Die polemischen Reaktionen, die den Umfang des Eingesandten um das Zweifache übertrafen, zeigen, mit welcher Schärfe und Ernsthaftigkeit die Diskussion geführt wurde. Steinschneiders Skizze hatte Programmcharakter, sie verfocht das Ziel, die „Wissenschaft des Judentums" enzyklopädisch zu definieren. Seit Wolfs Aufsatz „Ueber den Begriff der Wissenschaft des Judenthums" habe keine weitere Veröffentlichung versucht, den Umfang und die wissenschaftlichen Methoden dieses Faches zu bestimmen. Das geplante Werk müsse sich deswegen erst einmal in ,,eine[r] encyklopädische[ η ] Uebersicht oder Einleitung in diese Wissenschaft" über sein eigenes Konzept verständigen. Steinschneiders Vorschlag einer Definition der „Wissenschaft des Judentums" war dabei so bahnbrechend wie allumfassend: „Die Wissenschaft des Judenthums faßt die Kenntniß der Vergangenheit und Gegenwart der jüdischen Religion und des jüdischen Volkes. Sie ist gewissermaaßen die Geschichte des Judenthums im weitesten Sinne, bis auf die Gegenwart. Das Verhältnis von Religion und Volksthum (Nationalität) giebt den richtigen Gesichtspunkt für das ganze Gebiet des Judenthums ab. Das religiöse Moment im Judenthum [...] hat zuerst ein religiöses National- und Staatsleben (Theokratie) geschaffen, und nach dessen Untergange eine Erscheinung hervorgerufen, die in ihrer Sonderbarkeit wenig begriffen, vielfach und nicht selten mit Absicht gemisdeutet worden: die sogenannte jüdische Nationalität außerhalb der jüdischen Staates. Für die richtige Auffassung derselben ist von besonderer Wichtigkeit: die unvermittelte Fortpflanzung, die besondere Gerichtsbarkeit, das faktische Aufhören religiöser Gebräuche [...], verbunden mit einer wachsenden theoretischen Durchbildung des faktisch Entschwundenen, wobei die herrschenden Vorstellungen über Israels Zukunft (Messiaslehre) in Betracht kommen." 42
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Literaturblatt des Orient (1843), Nr. 20 [16. Mai], Sp. 320. Zu Moritz Steinschneider vgl. Alexander Marx, Moritz Steinschneider, in: ders., Essays in Jewish Biography, Philadelphia 1947, 112-184, 294-296; Salo W. Baron, Moritz Steinschneider's Contributions to Jewish Historiography, in: ders., History and Jewish Historians. Essays and Addresses, hg. v. Arthur Hertzberg und Leon Α. Feldman, Philadelphia 1964, 276-321, 449^170. Vgl. Moritz Steinschneider, Briefe über eine Encyklopädie der Wissenschaft des Judenthums, in: Literaturblatt des Orient (1843), Nr. 30 [25. Juli], Sp. 4 6 5 ^ 7 1 ; Nr. 31 [1. August], Sp. 491494; Nr. 32 [8. August], Sp. 500-504, hier Sp. 465. Ebd., Sp. 467f.
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In seiner Replik kritisierte Julius Fürst vor allem, dass die Definition des Gegenstandes der „Wissenschaft des Judentums" so weit reichte. Sein „Fußnoten"Kommentar griff weiterhin den protozionistischen Begriff einer „jüdischen Nationalität" an, der von Steinschneider für den Entwurf der Enzyklopädie verwendet worden war und den er ablehnte. Er bemerkte dazu, dass „in politischer Hinsicht die richtige Auffassung des Judenthums gerade an dieser jüdischen Nationalität ohne (nicht blos außerhalb) einen jüdischen Staat ihre gefährlichste Klippe" fände. Für eine zukünftige „Wissenschaft des Judentums" sei dieser „Teilbereich", in dem religiöse und nationale Elemente zusammenfließen, schwer abzugrenzen.43 Steinschneider entwarf auf den folgenden Spalten unter den fünf Rubriken Religion, Kultur, Literatur, Politik und Sprachkunde einen detaillierten Plan dessen, was die zukünftige „Real-Encyklopädie des Judenthums" enthalten müsse. Als den schwierigsten und eigentümlichsten Bereich der Enzyklopädie bezeichnete er den der Geschichte der Juden in der Zerstreuung, welcher „die Ausbreitung der Juden in der ganzen Welt, ihre speciellen rechtlichen und socialen Verhältnisse inmitten anderer Nationen" darstellen müsse. Die Einzigartigkeit der jüdischen Geschichtserfahrung führe zwingend dazu, dass „die nathürliche Eintheilung der Universalgeschichte in Staatengeschichte [...] durch die auf besonderem Einfluß beruhende Gestaltung jüdischer Zustände modificirt" werden müsse. In gleicher Weise konvergiere die herkömmliche zeitliche Ordnung, „die einzelnen Epochen und Perioden der einzelnen Staatengeschichte nicht mit denen der jüdischen Geschichte".44 Steinschneiders Entwurf einer Enzyklopädie der „Wissenschaft des Judentums" wurde nach der Überarbeitung durch seinen engen Freund und Mitarbeiter David Cassel (1818-1893) als Prospekt gedruckt. Neben einer Bestimmung der Zusammenarbeit zwischen Verlag und Autoren wurden hier genaue Regelungen für das Verfassen der einzelnen Artikel und den Aufbau der Enzyklopädie getroffen. Damit lag gleichzeitig ein erster enzyklopädischer Überblick über die „Wissenschaft des Judentums" in Buchform vor.45 Nachdem der Verlag B. L. Monasch & Sohn jedoch in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, musste die Arbeit an der geplanten „Real-Encyclopädie" schon 1846 eingestellt werden.46
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Ebd., Sp. 468. Ebd., Sp. 502. David Cassel, Plan der Real-Encyclopädie des Judenthums zunächst für die Mitarbeiter, Krotoschin 1844. Vgl. die Hinweise in Moritz Steinschneider, Briefwechsel mit seiner Verlobten Auguste Auerbach 1845-1849. Ein Beitrag zu jüdischer Wissenschaft und Emanzipation, hg. v. Renate Heuer und Marie Louise Steinschneider, Frankfurt a.M./New York 1995, hier 38, 67 und 84; die Briefe datieren von Juli 1845 bis Februar 1846. Zur Geschichte des Verlages von Monasch vgl. Louis Lewin, Die Gründung der Krotoschiner Buchdruckerei im Jahre 1833, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 77, N.F. 41 (1933), 464-467; Peter Fraenkel, The Memoirs of Β. L. Monasch of Krotoschin, in: Leo Baeck Institute Year Book 24 (1979), 195-223.
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Integration und Konfrontation: Jüdisches Wissen in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste Kurze Zeit nach dem Scheitern dieses Projekts wurde Moritz Steinschneider, der sich in jener Zeit noch auf das Lehrerexamen und auf seine Hochzeit vorbereitete, von Andreas Gottlieb Hoffmann (1796-1864) zur Mitarbeit an der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste eingeladen. ,,[T]he greatest Western encyclopaedia ever attempted"47 wurde von den beiden Hallenser Professoren Johann Samuel Ersch (1766-1828) und Johann Gottfried Gruber (1774-1851) kurz nach den napoleonischen Kriegen vorbereitet und erschien ab 1818 in Leipzig.48 Sie verstand sich zwar an erster Stelle als eine „teutsche Encyclopädie" und Summe aller Gelehrsamkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die gewiss keine Ursache habe, „vor irgend einer ihrer ausländischen Schwestern zu erröthen",49 stand aber deutlich in der Tradition der Aufklärung. Besonderen Wert legten die beiden Herausgeber darauf, dass sich die Enzyklopädie als ein überkonfessionelles Forum präsentierte. So erwähnten sie ausdrücklich ihre Bemühungen, „Mitarbeiter unter den katholischen Gelehrten" zu finden, „um den Beschwerden über parteiliche Behandlung des katholischen Systems der Theologie vorzubeugen".50 Gingen sie hier vor allem auf die Katholiken als religiöse Minderheit ein, so erörterten sie in einer dem zweiten Teil vorausgehenden programmatischen Einleitung zur Enzyklopädie die Lage der Juden aus einer aufgeklärten Perspektive: „Und da der Unendliche Christen und Juden, Türken und Heiden, und alle Parteien und Sekten unter ihnen als Menschen schuf; wie mag es da ein Staat wagen, die Menschenrechte vom Glaubensbekentniß abhängig zu machen, und dem Ewigen vorzugreifen in einem Richteramt, das er sich selbst vorbehalten hat?"51 Schon in den Prospekten hatten die beiden Herausgeber ihre tolerante Einstellung dadurch zu zeigen gesucht, dass sie einen Juden in dem Verzeichnis der
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Collision, Encyclopaedias, 182. Zu den beiden Herausgebern vgl. Joachim Bahlcke, Enzyklopädie und Aufklärung im literarischen Deutschland. Zu Leben und Wirken des schlesischen Bibliothekars Johann Samuel Ersch, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 5 (1997), 81-99, v.a. 91-96; Reinhard Markner, Johann Gottfried Gruber oder Die Ordnung des Wissens, in: Gerald Hartung/Wolf Peter Klein (Hg.), Zwischen Narretei und Weisheit. Biographische Skizzen und Konturen alter Gelehrsamkeit, Hildesheim/Zürich/New York 1997, 288-318, 356-358. Johann Samuel Ersch, Vorbericht, in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, 1. Sektion, 2. Teil, Leipzig 1818, V-XV, hier XII. Ersch, Vorbericht, X. Als Bestätigung dieser Toleranz erschienen im 1. Band der Enzyklopädie gleich zwei Artikel „Abendmahl", aus protestantischer und katholischer Perspektive - und in dieser Reihenfolge. Vgl. den Hinweis bei Markner, Johann Gottfried Gruber oder Die Ordnung des Wissens, 312. Johann Gottfried Gruber, Ueber encyclopädisches Studium ein Bedürfniß unserer Zeit nebst dem Versuch einer systematischen Encyclopädie der Wissenschaften aus jenem Gesichtspunkt. Als Einleitung zur allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, 1. Sektion, 2. Teil, Leipzig 1819,1-LII, hier XXVI.
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zukünftigen Mitarbeiter auflisteten. Mit David Fränkel (1779-1865) erschien dort der Direktor der Dessauer Franz-Schule und Herausgeber der ersten sich an Juden richtenden deutschsprachigen Zeitschrift - „Sulamith. Eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation" die unregelmäßig zwischen 1806 und 1843 erschien. Als dessen zukünftiger Arbeitsbereich für die Enzyklopädie wurden ,,Beytr[äge] z[ur] Kenntn[is] d[es] Judenthums" angegeben.52 Spätestens seit der Beteiligung des schon erwähnten Jenaer Theologen und Orientalisten A. G. Hoffmann an der Redaktion der Enzyklopädie erhöhte sich deutlich der Anteil der jüdischen Mitarbeiter, die jetzt aber vor allem der nachfolgenden Generation angehörten. Die Beiträge der jüdischen Wissenschaftler erschienen vor allem in der von Hoffmann ab dem 8. Teil, seit 1831, allein edierten zweiten Sektion.53 Damit wurde ab der zweiten Hälfte der 1840er Jahre führenden Vertretern der „Wissenschaft des Judentums" wie Leopold Zunz, Isaak M. Jost, David Cassel und Moritz Steinschneider die Möglichkeit eingeräumt, an prominenter Stelle neben und in Konkurrenz zu nichtjüdischen Gelehrten in dieser „allgemeinen" Enzyklopädie zu publizieren. Bei einer Musterung des hier enzyklopädisch ausgebreiteten Wissens über Juden zeigt sich, dass abhängig von den jeweiligen Autoren gegensätzliche Positionen aufeinander trafen. So schrieb Eduard Reuß (1804-1891), „der größte protestantische Theologe des Elsaß im 19. Jahrhundert",54 den Artikel „Judenthum", in welchem er jenes als eine absterbende Erscheinung kennzeichnete. Das Judentum sei „an Geist und Leib verschrumpft, eine Religion ohne Philosophie, ein Volksthum ohne Kraft, es sei den die zu dulden, ein Automat, unter dem täuschenden Gewände nur ein künstliches Getriebe mechanischer Bewegungen bergend." Tiefes Unverständnis zeigte er für ein seiner Meinung nach „zwischen dem tödtlichen Beharren bei einem geistlosen Buchstaben und der Aussicht auf eine endliche und gewisse Auflösung, wenn er verlassen würde," gefangenes Wesen, so dass er das Judentum schließlich verbal zu Grabe trug: „[Es] kann der auf der Höhe der Zeit stehende Israelit nur bei dem Gedanken sich trösten, und wird es auch, daß das Judenthum als das von der Vorsehung erwählte Werkzeug, die religiöse Wahrheit unserm Geschlechte zu erfassen, zu erhalten und zu entwickeln, seine
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Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste ... Probe-Heft, nebst dem Plane des Werks, und Verzeichnissen der Mitarbeiter, Leipzig [1817], Beylage A, 2. Dies betrifft vor allem in der 2. Sektion die Teile 26 [Italiener-Jüdeln] bis 28 [Jüdische MünzenJungermannia], in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, die zwischen 1847 und 1851 erschienen sind. Zu bemerken ist auch, dass die Artikel der 2. Sektion im 3. Teil [Harich-Hebung], in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, hg. v. Johann Georg Heinrich Hassel und Andreas Gottlieb Hoffmann, Leipzig 1828, vollständig von protestantischen Theologen und die fünf Beiträge „Hebräische Literatur", „Hebräische Mythologie", „Hebräische Philosophie", „Hebräische Schrift" und „Hebräische Sprache" von Hoffmann selbst verfasst wurden. So der Eröffnungssatz der affirmativen Darstellung von Gustav Anrieh (1867-1930) in: Allgemeine Deutsche Biographie 55 (1910), 579-590, hier 579.
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Bestimmung für die Menschheit wirklich und ganz erfüllt und ihm eine Wohlthat gebracht hat, welche um so größer erscheint, als sie fürder unverlierbar ist."55
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Diese extreme Position steht an prominenter Stelle. Jedoch finden sich in anderen Beiträgen auch tolerante Äußerungen. So wird zum Beispiel im Artikel „Judenemancipation" auf die besondere Bedeutung der „möglichst gründlichefn] wissenschaftliche [n] Bearbeitung der jüdischen Theologie [...] durch jüdische Gelehrte" mit der Begründung hingewiesen, daß christlichen Theologen „doch keine praktische Einwirkung auf das Judenthum möglich" sei. Deshalb sei es nützlich und wünschenswert, „wenn auf teutschen Universitäten neben den Facultäten für katholische und protestantische Theologie auch solche für die jüdische gegründet würden". 56 Hier ging die Enzyklopädie auf eine der Hauptforderungen der jüdischen Reformbewegung und der „Wissenschaft des Judentums" ein. Ein weiteres Zeichen für die Integration der Forschungen der aus der Universität ausgeschlossenen „Wissenschaft des Judentums" war die Aufnahme der beiden großen Artikel „Jüdische Typographie und jüdischer Buchhandel"57 und .Jüdische Literatur", die von Moritz Steinschneider zusammen mit David Cassel verfasst wurden. Steinschneider bezog sich in seinem Artikel immer wieder auf seine Vorarbeiten im Rahmen der .Jüdischen Real-Encyklopädie". Für ihn beinhaltete „Literatur der Juden" „eigentlich Alles, was Juden von den ältesten Zeiten an bis auf die Gegenwart, ohne Rücksicht auf Inhalt, Sprache und Vaterland, geschrieben haben". Die Schwierigkeiten dieser weitreichenden Gegenstandsbestimmung waren ihm bewusst, jedoch bilde diese Literatur „einen stetigen Organismus, in sofern die Träger desselben ein eigenthümliches Ganzes bilden, welches mit dem Namen: Religionsgenossenschaft nicht erschöpfend, mit dem der Nationalität nur annäherungsweise bezeichnet ist".58 Steinschneider unterschätzte den für diesen Artikel notwendigen Forschungsaufwand erheblich. Anfangs ging er von der Fertigstellung innerhalb von nur vier Monaten bis zum Juli 1846 aus, jedoch zog sich die Arbeit dann doch bis in den Januar 1848 hinein.59 In der privaten Korrespondenz mit seiner Verlobten Auguste Auerbach äußerte er sich zu den Gründen für die Annahme der Enzyklopädieartikel und dazu, was er sich von seinem Beitrag in dieser Enzyklopädie erhoffte. Steinschneider betonte hier, dass er seine Arbeit als erstmalige Möglichkeit sehe, „mir 55
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Artikel „Judenthum", in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, 2. Sektion, 27. Teil [Juden-Jüdische Literatur], hg. v. Andreas Gottlieb Hoffmann, Leipzig 1850, 324—347, hier 346 und Schluss, 347. Der Artikel „Judenemancipation", in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, 2. Sektion, 27. Teil, 253-315, hier 313, stammte von dem Jenaer Philosophieprofessor Karl Hermann Scheidler (1795-1866). Moritz Steinschneider/David Cassel, Artikel „Jüdische Typographie und jüdischer Buchhandel", in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, 2. Sektion, 28. Teil [Jüdische MünzenJungermania], hg. v. Andreas Gottlieb Hoffmann, Leipzig 1851, 21-94. Moritz Steinschneider, Artikel „Jüdische Literatur", in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, 2. Sektion, 27. Teil, 357^*71, hier 357. Vgl. Steinschneider, Briefwechsel mit seiner Verlobten, 108 [Brief an Auguste Auerbach vom 16. Mai 1846]; 263 [Brief an Auguste Auerbach vom 13. Februar 1848].
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und Andern das Ganze dieser großartigen Erscheinungen [der jüdischen Literatur] als ein Organisches klar zu machen".60 Steinschneider verstand diesen Artikel, dessen Ausarbeitung Leopold Zunz und Fürchtegott Lebrecht (1800-1876) abgelehnt hatten, als richtungsweisend für seine weiteren Forschungen: „In den folgenden Jahren lenkte der Artikel [...], meine Forschungen auf die wissenschaftliche Literatur Europa's, welche unter den Juden Bearbeiter gefunden, ein Gebiet, das sonst nur von Zunz gestreift war und noch heute für die Culturgeschichte nicht ausgenutzt ist."61 Der Artikel .Jüdische Literatur" begründete Steinschneiders wissenschaftliche Reputation und wurde in kurzer Zeit ein Klassiker. Innerhalb weniger Jahre nach seiner Veröffentlichung in der Enzyklopädie entstand eine revidierte englische und Jahrzehnte später noch eine hebräische Übersetzung.62 Auch der Artikel »Jüdische Typographie und jüdischer Buchhandel", der eine Ergänzung zu der Arbeit über die Literatur der Juden darstellte und auf die Forschungen von Steinschneider während der Autopsie und Katalogisierung der Hebraica-Bestände der Boodleian Library in Oxford zurückgriff, wurde in den 1930er Jahren neu aufgelegt.63 Ein ähnlich umfangreicher Artikel zur Geschichte der Juden wurde von Selig (Paulus) Cassel (1821-1892) zur Enzyklopädie beigesteuert. Sein Text gab einen Überblick über die „Weltgeschichte der Juden" seit „der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus im Jahre 70 n. Chr. bis auf die neueste Zeit" und wurde aufgrund der eindringlichen und selbstbewussten Darstellung noch 1901 als autoritatives Motto in der dem Programm einer Jüdischen Renaissance verschriebenen Zeitschrift Ost und West abgedruckt: „Die Schicksale der Juden gehören zu den außerordentlichen der Weltgeschichte; solche wachsen eben nur aus außerordentlichen Motiven. Die größten Interessen, die großartigsten Leidenschaften boten den Stoff zu dem Drama ihrer Geschichte; wie die Kämpfe, die Leiden, die Erfahrungen der jüdischen Nation unvergleichliche sind, so auch ihre Standhaftigkeit, ihre Treue für nationales Gesetz, ihre Begeisterung für Glauben und Gedanken; wie sie in der Zerstreuung über den ganzen Erdboden an sich selber eine statistische Weltkarte bilden, auf der sich die Farben des Klima's und der Zonen abzeichnen, so hat auch die Weltgeschichte in der bunten Fülle ihrer geistigen Production keine Äußerung, an der sich die elastische, unverwüstliche Thätigkeit der Juden nicht betheiligt hätte, und
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Steinschneider, Briefwechsel mit seiner Verlobten, 114 [Brief an Auguste Auerbach vom 2. Juni 1846]. Diese Hervorhebung ist in der Edition unterstrichen. Moritz Steinschneider, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Gelehrten-Geschichte, hg. v. Heinrich Malter und Alexander Marx, Berlin 1925, XXI. Malter zitiert aus Steinschneiders Buch Arabische Literatur der Juden, Frankfurt a.M. 1901, XLVII. Moritz Steinschneider, Jewish Literature. From the 8th to the 18th Century with an Introduction on Talmud and Midrash. A Historical Essay, London 1857. Die Übersetzung wurde noch im 20. Jahrhundert mehrmals nachgedruckt: Hildesheim 1967; New York 1965 und 1970. Vgl. auch George Alexander Kohut, Bibliography of the Writings of Professor Dr. Moritz Steinscheider, in: Festschrift zum Achtzigsten Geburtstage Moritz Steinschneider's, Leipzig 1896, V-XXXIX, hier VIII. Zur hebräischen Übersetzung vgl. Steinschneider, Gesammelte Schriften, Bd. 1, XX. Im Verlag von Bamberger & Wahrmann erschienen: Moritz Steinschneider/David Cassel, Jüdische Typographie und jüdischer Buchhandel, Jerusalem 1938.
ORDNUNGEN DES WISSENS UND KONTEXTE DER SELBSTDEFINITION
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wie die Liebe, der Enthusiasmus, den sie für ihre Güter besaßen, unerschöpflich, war auch der Haß, der Fanatismus, das Vorurtheil gegen sie unsäglich. Ruhe und Gleichgültigkeit war seit 2000 Jahren niemals der Himmel, unter dem sie wohnten; die Welt, die ihnen gegenüber stand, war in Lagern für oder gegen sie gespalten; ihre Religion war ein Quell menschlicher Liebe und humaner Bildung, aber die Humanität und die Liebe ist ihnen bis auf diesen Tag durch sonderbare Verhältnisse nicht aus dem Vollen zu Theil geworden."64
Dieser Artikel war ein Novum insofern, als er auf 238 Seiten eine Darstellung unter weitestgehender Einbeziehung der bis zu diesem Zeitpunkt bekannten jüdischen Quellen und historiographischen Arbeiten bot. Somit wurde in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaft und Künste ein von den dominierenden christlichen Forschern lange ignoriertes Material zur Geschichte der Juden für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung aufgearbeitet.
Zusammenfassung - Ausblick In den Diskursen um eine Modernisierung und Reformierung des Judentums nahm das Modell der Enzyklopädie eine zentrale Stellung ein. Die analysierten Programme zu jüdischen Enzyklopädien standen damit in enger Verbindung mit der Entwicklung eines modernen jüdischen Selbstverständnisses. Dienten sie einerseits der Fundierung der „Wissenschaft des Judentums", wurden in ihnen neben Fragen der Systematisierung, Tradierung und Popularisierung jüdischen Wissens auch eminent politische Aspekte thematisiert. Sie widmeten sich dabei durchaus divergierenden Zielen wie der Entwicklung einer reformierten „jüdischen Theologie", der Definition einer philologisch ausgerichteten „Wissenschaft des Judentums" mit umfassendem Anspruch und deren Angliederung an die deutschen Universitäten. Die Erstellung einer „jüdischen Enzyklopädie" wurde somit als herausragendes Projekt für die „Regeneration" des Judentums angesehen. Die geplante Integration der jüdischen Wissenschaften in die Universität scheiterte jedoch ebenso wie das Erscheinen der meisten geplanten jüdischen Enzyklopädien im 19. Jahrhundert. Mehr Einfluss gewannen die Arbeiten Moritz Steinschneiders, der zuerst mit einem detaillierten Entwurf für eine „Encyklopädie der Wissenschaft des Judentums" hervorgetreten war. Der Plan bildete die Grundlage für seine Beiträge zur Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, die von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber herausgegeben wurde. Diese Enzyklopädie präsentierte sich als überkonfessionelles Forum der Aufklärung und nahm erstmals Artikel maßgeblicher Vertreter der „Wissenschaft des Judentums" auf. Jedoch standen sich in dieser Enzyklopädie deutlich divergierende Positionen gegenüber. In einem zentralen Artikel wurde das Judentum als nichtkreative, vom Christentum überkommene Erscheinung beschrieben, andere Autoren dagegen popularisierten Hauptforderungen
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Selig Cassel, Artikel „Juden (Geschichte)", in: Ersch/Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie, 2. Sektion, 27. Teil, 1-238, hier 1. Vgl. Ost und West 1 (1901), Sp. 865 [Miscellen],
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ARNDT ENGELHARDT
der jüdischen Reformbewegung, wie z.B. die Integration der Jüdischen Studien in die Universität. 1891 erschien in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums ein Bericht, der auf die bevorstehende Herausgabe einer „Allgemeinen Encyclopädie für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums" durch den Journalisten Isidore Singer (1859-1939) in Paris hinwies. Der transnationalen Verfasstheit der jüdischen Wissenschaften wurde insofern Rechnung getragen, als sich in dem hier vorgestellten Redaktionskollegium jüdische Gelehrte aus England, Frankreich und Deutschland zusammenfanden. Gemeinsam planten sie die Herausgabe einer Enzyklopädie, die „einerseits die Resultate der jüdischen Forschung zusammenfassen" und andererseits den Anteil darstellen würde, „welchen das Judenthum im Laufe der Jahrhunderte auf den verschiedensten Gebieten menschlicher Thätigkeit (Wissenschaft, Litteratur, Kunst, Handel und Industrie) an der allgemeinen Kulturentwickelung genommen" habe.65 Das Projekt war an Juden und Christen gerichtet, die Informationen „über das wahre Wesen des Judenthums" suchten, und erschien mit dem Ziel, „mit der von unserer fieberhaften Epoche erforderten Raschheit über alle das Judenthum betreffenden Fragen sicheren Aufschluß" zu geben - und dies in „alphabetischer Ordnung". Die angekündigte Enzyklopädie wollte den akkulturierten Juden Westeuropas ihre kulturelle Tradition zeigen, um das „leider so sehr vernachlässigte Studium der jüdischen Litteratur und Wissenschaft innerhalb des Judenthums neu [zu] beleben und das Selbstbewußtsein unserer Glaubensgenossen in der einmal von uns durchzumachenden kritischen Uebergangsperiode aus der alten in eine neue Zeit [zu] heben und [zu] kräftigen". 66 Die hier angekündigte Enzyklopädie erschien allerdings erst im nächsten Jahrhundert und auch nicht in Europa: Zwischen 1901 und 1906 wurde in New York mit der Jewish Encyclopedia unter maßgebender Beteiligung von Isidore Singer die erste jüdische Enzyklopädie ediert, die auch abgeschlossen wurde.67
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Eine jüdische Encyklopädie, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 55 (1891), Nr. 37 [11. September], 434f., hier 434. Eine jüdische Encyklopädie, 435. The Jewish Encyclopedia. A Descriptive Record of the History, Religion, Literature, and Customs of the Jewish People from the Earliest Times to the Present Day, 12 Bde., New York/London 1901-1906. Vgl. dazu Shuly Rubin Schwartz, The Emergence of Jewish Scholarship in America. The Publication of the .Jewish Encyclopedia', Cincinnati/Oh. 1991.
ÜBERGÄNGE
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Polnischer Adel und jüdische Elite Über rechtliche Oberhoheit und soziale Kontakte
1454-1539 Das polnisch-litauische Doppelreich, die Rzeczpospolita, bildete in der frühen Neuzeit das größte jüdische Siedlungszentrum im aschkenasischen Europa. Nach den Vertreibungen in West- und Mitteleuropa entwickelte es sich nicht nur demographisch, sondern auch kulturell zum Mittelpunkt des europäischen Judentums. Dessen rechtliche und wirtschaftliche Stellung stand dabei im Prinzip derjenigen des Bürgertums nicht wesentlich nach; in vielen Städten in den südöstlichen Provinzen lagen Handel und Handwerk sogar fast ausschließlich in jüdischen Händen.1 Möglich wurde dies durch die intensiven Kontakte zwischen den jüdischen Eliten und dem Adel, welche die Einbeziehung der Juden in den adeligen Landesausbau nach sich zogen und ab dem späten 16. Jahrhundert zum Aufschwung jüdischer Siedlung in Polen-Litauen beitrugen. Diese Entwicklung war allerdings nicht selbstverständlich. Im Mittelalter stand dem Fürsten die alleinige Oberhoheit über die jüdische Bevölkerung zu; dies wurde auch in den so genannten Generalprivilegien seit 1264 festgeschrieben. Seit dem 14. Jahrhundert ist jedoch eine Verschiebung der politischen Gewichte im polnischen Verfassungsgefüge erkennbar. Der Adel formierte sich als politischer Faktor und erlangte zunehmend Einfluss auf die Gestaltung der Politik im Königreich, die bislang vom König gemeinsam mit einem kleinen Kreis von hochadeligen Beratern geführt worden war.2
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Der vorliegende Beitrag stellt die leicht überarbeitete Fassung eines Manuskripts dar, welches im November 2002 auf der Konferenz „Zydzi i Judaizm we wspotczesnych badaniach" (Krakau, 26.-27.11.2002) vorgestellt und in polnischer Sprache im Band Zydzi i Judaizm we wspotczesnych badaniach polskich [Juden und Judaismus in aktuellen polnischen Forschungen], Bd. 3, hg. von Krzysztof Pilarczyk, Krakow 2003, 13-24, gedruckt wurde. Jacob Goldberg hat in diesem Zusammenhang von einem jüdischen „Ersatzbürgertum" gesprochen; vgl. Jacob Goldberg, Zur Erforschung der Minoritäten in Polen-Litauen (16.-18. Jahrhundert), in: Stefi Jersch-Wenzel (Hg.), Deutsche - Polen - Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Beiträge zu einerTagung, Berlin 1987, 159-168, bes. 161. Vgl. Anna Sucheni-Grabowska, Przeobrazenia ustrojowe od Kazimierza Wielkiego do Henryka Walezego [Verfassungswandel von Kasimir dem Großen bis zu Heinrich von Valois], in: Anna Sucheni-Grabowska/Alicja Dybkowska (Hg.), Tradycje polityczne dawnej Polski [Politische Traditionen des alten Polens], Warszawa 1993, 16-74, bes. 37f. (zur Bedeutung der Statuten von Nessau 1454 für die politische Verfassung des Königreichs); Juliusz Bardach, Poczqtki Sejmu [Die Anfange des Sejm (Reichstag)], in: Jerzy Michalski (Hg.), Historia sejmu polskiego. I: Do schylku szlacheckiej Rzeczpospolitej [Geschichte des Polnischen Sejm. I: Bis zum Ende der adeligen Rzeczpospolita], Warszawa 1984, 5-62; Waclaw Uruszczak, Sejm walny koronny LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005). 103-115
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JÜRGEN HEYDE
Das wachsende politische Gewicht des Adels war auch für die jüdische Bevölkerung von Bedeutung. Dessen Politik gegenüber den Juden steht in engem Zusammenhang mit seiner Haltung gegenüber dem Monarchen - in der sich herausbildenden „Adelsrepublik" war kein Platz für ein Monopol des Herrschers in einem so wichtigen Bereich wie der Politik gegenüber den Juden. Dabei sind zwei Ebenen zu berücksichtigen: auf der einen Seite der Versuch, Einfluss auf die königliche Judenpolitik zu gewinnen, auf der anderen Seite die Intensivierung der bestehenden Kontakte zur jüdischen Bevölkerung, genauer - zu den jüdischen Eliten. Die Haltung des Adels zur jüdischen Bevölkerung war nicht einheitlich, wie auch der Adel keine einheitliche Sozialgruppe darstellte. In seinen politischen Ideen und wirtschaftlichen Interessen unterschied sich der niedere und mittlere Adel deutlich von den führenden Familien des Königreichs (auch wenn man für das späte Mittelalter noch nicht von wirklichen sozialen Barrieren zwischen „Szlachta" und „Magnateria" sprechen kann, wie dies im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert zu beobachten ist).3 Die breite Masse der Adeligen war nur in geringem Umfang durch langfristige Kontakte und Geschäftsbeziehungen mit der jüdischen Bevölkerung verbunden. Daher war sie auch empfänglich für ideologisch motivierte Gesetzgebungsinitiativen, die die jüdische Wirtschaftstätigkeit einschränkten, sofern sie nicht zugleich dem Adel erkennbaren Nutzen brachte. Im Hochadel hingegen lässt sich eine eher pragmatische Haltung gegenüber den Juden ausmachen. Dieser Pragmatismus erwuchs aus einer langen Tradition institutioneller Kontakte: Bereits im Generalprivileg Herzog Boleslaws des Frommen von Kalisz 1264 waren die Wojewoden in Gerichtsfragen zum Mittler zwischen Juden und Fürst eingesetzt worden; zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren es ebenfalls die Wojewoden, die ihre Kontakte zu den jüdischen Wirtschaftseliten intensivierten und so die Beziehungen zwischen Adel und Juden in neue Bahnen lenkten. Aus Sicht der Juden selbst lässt sich diese Entwicklung nicht eindeutig beurteilen. Die Intensivierung der Kontakte zum Adel brachte zahlreiche Vorteile und verringerte die Abhängigkeit von der Person des Monarchen, der - wie ein Blick auf die Nachbarländer zeigte - nicht immer ein zuverlässiger Patron der jüdischen Bevölkerung sein musste. Auf der anderen Seite wirkte sich das Ringen um den Einfluss auf die Judenpolitik zunächst negativ aus; der Adel bemühte sich, die Kontakte zwischen dem König und den jüdischen Eliten einzuschränken und erwirkte Privilegien, die seine Stellung im Königsdienst auf Kosten der Juden stärkten. Die Ereignisse, welche den zeitlichen Rahmen dieser Untersuchung im Wesentlichen abstecken, machen dies bereits deutlich. Das ist zum einen der Erlass der Privilegien (Statuten) von Nessau im Jahre 1454: Erstmals demonstrierte der Adel
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w latach 1506-1540 [Der allgemeine Reichstag der Krone Polen in den Jahren 1506-1540], in: ebd., 63-113. Vgl. Henryk Litwin, Magnateria polska 1454-1648. Ksztaltowanie si? stanu [Die polnischen Magnaten. Entstehung eines Standes], in: Przeglqd Historyczny 74 (1983), 451—470; Tomasz Slawinski, Uwagi ο magnaterii kujawskiej 1447-1569 [Bemerkungen zu den Magnaten in Kujawien 1447-1569], in: Przeglqd Historyczny 76 (1985), 195-206.
POLNISCHER ADEL UND JÜDISCHE ELITE
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erfolgreich seinen Anspruch auf Mitgestaltung der königlichen Judenpolitik, i n d e m er den König zwang, die i m Vorjahr bestätigten Generalprivilegien für die Juden zurückzunehmen. Eine andere Tendenz zeigt sich in den Beschlüssen des Krakauer Reichstags von 1539: Der König verzichtete auf die alleinige Oberhoheit über die jüdische Bevölkerung in Polen; der A d e l erlangte auf seinen Besitzungen die uneingeschränkte Gerichtshoheit über die Juden, w i e er sie bislang bereits über seine bäuerlichen und bürgerlichen Untertanen besessen hatte.
Kontakte zwischen Adel und Juden vor 1454 Im Mittelalter war der Herrscher alleiniger Oberherr über die jüdische Bevölkerung. D a s Herrschafts- und Schutzverhältnis z w i s c h e n d e m Monarchen und den Juden begründete sich zunächst im Gastrecht; in Dokumenten des 15. Jahrhunderts löste dann die aus westeuropäischen Vorlagen entnommene Konzeption der Kammerknechtschaft die älteren Rechtsgrundlagen endgültig ab. 4 Kontakte z w i s c h e n d e m Adel und der jüdischen Bevölkerung ergaben sich in dieser Zeit vor allem i m Bereich des Gerichtswesens s o w i e in Form v o n Geschäftsbeziehungen. Im Privileg Herzog B o l e s l a w s des Frommen für die Juden aus d e m Jahr 1 2 6 4 wird in Artikel 8 festgelegt, dass i m Falle von Streitigkeiten innerhalb der jüdischen Bevölkerung nicht das Gericht der jeweiligen Stadt zuständig sei, „sondern es sollen nur wir oder unser Pfalzgraf [Wojewode] oder sein Richter ein Urteil verhängen". 5 In
4
5
Vgl. Jürgen Heyde, Jüdische Siedlung und Gemeindebildung im mittelalterlichen Polen, in: Christoph Cluse/Alfred Haverkamp/Israel I. Yuval (Hg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kultuxTäumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, Hannover 2003, 249-266; über den Status der Juden als „Gäste" des Herrschers vgl. auch Benedykt Zientara, Foreigners in Poland in the 10th—15th Century. Their Role in the Opinion of Polish Medieval Community, in: Acta Poloniae Historica 29 (1974), 5-28, hier 25f. (zuerst polnisch u.d. Titel: Cudzoziemcy w Polsce X-XV wieku. Ich rola w zwierciadle polskiej opinii sredniowiecznej, in: Swojskosc i cudzoziemszczyzna w dziejach kultury polskiej, Warszawa 1973, 9-37); Christian Lübke, „... Und es kommen zu ihnen ... Mohammedaner, Juden und Türken ...". Die mittelalterlichen Grundlagen des Judentums im östlichen Europa, in: Mariana Hausleitner/Monika Katz (Hg.), Juden und Antisemitismus im östlichen Europa, Berlin 1995, 39-57; grundlegend jetzt ders., Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2001, bes. 123-143, 152-173, 208-216; eine eingehende Analyse des Systems der Kammerknechtschaft im Heiligen Römischen Reich bietet J. Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), 545-599. Dt. Text nach: Julius H. Schoeps/Hiltrud Wallenborn (Hg.), Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter, Darmstadt 2001, Nr. 65, 140; lateinischer Text: Item si Judaei inter se de facto discordiam moverint aut gwerram, iudex civitatis nostrae nullam iurisdictionem sibi vindicet in eosdem, sed Nos tantummodo aut noster palatinus vel eius iudex iudicim exercebit (Kodeks Dyplomatyczny Wielkopolski/Codex diplomaticus Poloniae Maioris [KDW], Bd. 1, hg. von I. Zakrzewski, Poznan 1877, Nr. 605, 564).
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JÜRGEN HEYDE
der Praxis saß der Wojewode dem Judengericht nicht selbst vor, sondern berief dazu Adelige, die in der Wojewodschaft ansässig waren und über Erfahrung in Gerichtsfragen verfügten.6 Von den Geschäftskontakten zwischen Adeligen und Juden erwähnen die Quellen in erster Linie Kreditgeschäfte. Bei diesen traten die Juden vorwiegend als Geldgeber in Erscheinung (es sind aber auch Fälle belegt, in denen vermögende Adelige Kredite an jüdische Geschäftspartner vergaben).7 Falls sich ein Adeliger verschuldete und den aufgenommenen Kredit nicht zurückzahlen konnte, verlor er die vertraglich festgesetzte Sicherheitsleistung - dies konnte ein Sachpfand sein, aber auch das Landgut des Adeligen - an den Gläubiger. Gerade in Kriegszeiten war der Kreditbedarf des Adels besonders hoch, und ebenso die Gefahr, bei nicht ausreichender Beute die aufgenommenen Summen nicht zurückzahlen zu können und daraufhin die Grundlagen der adeligen Existenz einzubüßen. Daher bemühten sich die polnischen Könige mehrfach, den Kreditverkehr mit jüdischen Gläubigern auf die Beleihung von Sachpfändern einzuschränken, um eine Überschuldung des Adels und dadurch eine Verminderung des adeligen Aufgebots zu vermeiden (ein Adeliger als Gläubiger übernahm in einem solchen Fall zusammen mit dem Landgut auch die Pflicht zur Heeresfolge, während ein Jude von dieser Pflicht nicht betroffen war).8 Im 15. Jahrhundert waren es die Kriege gegen den Deutschen Orden, die diese Gefahr aktuell werden ließen, daher legte König Wladyslaw Jagiello im Statut von Warta (1420) fest, dass man nur noch gegen die Hinterlegung von Sachpfändern Geld bei jüdischen Gläubigern aufnehmen dürfe. Schuldverschreibungen seien nicht länger zulässig und sollten vor Gericht auch
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Vgl. Benjamin Kohen, Ha-iurisdikcia ha-wojevodit legabej ha-jehudim be-Polin ha-jashana [Die Gerichtshoheit des Wojewoden über die Juden im alten Polen], in: Shemuel Yeivin (Hg.), Studies in Jewish History. Presented to Raphael Mahler on his Seventy-Fifth Birthday, Merhavia 1974, 47-66 (hebr. Teil); Majer Balaban, Ze studiow nad ustrojem prawnym Zydow w Polsce. S?dzia zydowski i jego kompetencje [Studien zur Rechtsverfassung der Juden in Polen. Der Judenrichter und seine Kompetenzen], in: Pami^tnik trzydziestolecia pracy naukowej prof. dr. Przemyslawa D^bkowskiego [Festschrift anlässlich der dreißigjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit von Dr. Przemyslaw Dqbkowski], Lwow 1927, 245-280; Stanislaw Grodziski, Ζ dziejow krakowskiego s^downictwa wojewodzinskiego nad Zydami [Zur Geschichte der Krakauer Wojewodschaftsgerichtsbarkeit über die Juden], in: Andrzej Link-Lenczowski/Tomasz Polahski, Zydzi w dawnej Rzeczypospolitej [Juden in der alten Rzeczpospolita], Wroclaw/ Warszawa/Krakow 1991, 102-116; Alicja Falniowska-Gradowska, S^dziowie zydowscy w wojewodztwie krakowskim w XVI-XVIII wieku [Judenrichter in der Wojewodschaft Krakau im 16.-18. Jahrhundert], in: Feliks Kiryk (Hg.), Zydzi w Malopolsce. Studia ζ dziejöw osadnictwa i zycia spolecznego [Juden in Kleinpolen. Studien zur Geschichte der Besiedlung und des gesellschaftlichen Lebens], Przemysl 1991, 37-47. Vgl. Tomasz Jurek, Zydzi w poznosredniowiecznym Kaliszu [Juden im spätmittelalterlichen Kaiisch], in: Rocznik Kaliski 24 (1992/1993), 29-53; Marian Ungeheuer, Stosunki kredytowe w ziemi przemyskiej w polowie XV wieku [Kreditbeziehungen in der Region Przemysl in der Mitte des 15. Jahrhunderts], Lwow 1929, bes. 237-244. Vgl. Izaak Lewin, A Jewish Lawyer in Poland in the Fifteenth Century, in: ders.: The Jewish Community in Poland. Historical Essays, New York 1985, 57-63, hier 58.
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nicht als B e w e i s anerkannt werden. 9 D i e s e R e g e l u n g schränkte die M ö g l i c h k e i t e n des Adels, sich auf d e m Markt mit Geld zu versorgen, empfindlich ein und konnte sich daher in der Praxis nicht durchsetzen. Weiterhin wurden Kredite g e g e n Schuldverschreibungen vergeben und daraus resultierende Forderungen auch vor Gericht anerkannt. 10
Die Privilegien von Nessau und ihre Bedeutung für die Juden König Kasimir IV. trug dieser Entwicklung Rechnung und ließ in die Generalprivilegien für die Juden das Recht zur Kreditvergabe g e g e n Schuldbriefe aufnehmen, als er diese 1453 bestätigte." D o c h bereits ein Jahr später musste der K ö n i g auf Verlangen des Adels eben diese Privilegien wieder aufheben. D i e s geschah in den so genannten Privilegien von Nessau, deren Erlass der Adel zu B e g i n n des Dreizehnjährigen Krieges v o m König erzwang. Im Anblick der Niederlage des a l l g e m e i n e n Aufgebots g e g e n die Truppen des Deutschen Ordens erreichte der A d e l Zugeständnisse bei der Einberufung des allgemeinen A u f g e b o t s und eine Stärkung der Landtage sowie Privilegien, w e l c h e die Stellung der Bürger vor Gericht schwächten und die Schollenbindung der Bauern verstärkten. 12
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Statuta Vladislai Jagiellonis anno 1420, Abschnitt De judaeis et eorum pecuniae accomodatione, in: Volumina Legum. Przedruk zbioru praw staraniem XX Pijaröw w Warszawie od roku 1732 do roku 1782 wydanego [V.L. Nachdruck der Gesetzessammlung, die auf Initiative des Piaristenordens in Warschau zwischen 1732 und 1782 herausgegeben wurde], hg. von J. Ohrzycki, Bd. 1, Petersburg 1859, 35. 10 Vgl. Jurek, Zydzi w poznosredniowiecznym Kaliszu, 35-37; Jan Ptasnik, Abraham Judaeus Bohemus, in: ders. (Hg.),: Obrazki ζ przeszlosci Krakowa [Bilder aus der Krakauer Vergangenheit], Bd. 2, Krakow 1903, 38-48, bes. 4 5 ^ 7 . " Der entsprechende Passus im Privileg für kleinpolnischen Juden lautet: Item si iudeus super possesiones aut literas magnatum terrae pecuniam mutuaverit et hoc per suas litteras et sigilla probaverit, nos iudeo aliorum pignorum possessiones assignabimus ei obligatas, eas contra violentiam defendendo (Mathias Bersohn, Dyplomatariusz dotyczqcy Zydow w Polsce na zrodlach archiwalnych osnuty (1388-1782) [Urkundenbuch bezüglich der Juden in Polen aus archivalischen Quellen (1388-1782) gearbeitet], Warszawa 1910, Nr. 2, 18-22, hier 21); analog im großpolnischen Privileg: Item de speciali consensu majestatis nostrae statuimus, et volumus habere: quod quilibet Judaeorum nostrorum potest accomodare et inscribere pecunias, seu bona sua, nobilibus nostris terrigenis, cujuscunque status et condicio fuerint, super bona obligatoria, Uteris sigillis ipsorum terrigenarum et nostris sigillatis et obligata, et super ipsorum bona haereditaria, quae tenent et possident in terris regni nostri Poloniae. Similiter possunt praefacti Judaei nostri, de nostro indultu, omnibus terrigenis nostris, cujuscunque status fuerint, suas pecunias dare, et ipsas eisdem libris terrestribus, castrensibus, civilibus, praetorialibus et scabinorum confirmare, secundum modum et consuetudinem... (Jura Judaeis per Boleslaum, ducem Maioris Poloniae, a. 1264 concessa, per Casimirum vero III a. 1334 ac per Casimirum IV. a. 1447 et 1467 confirmata - ex Cod. Bill, in: Johannes Vincentius Bandtkie, Jus Polonicum codicibus veteribus manuscriptis et editionibus quibusque collectis, Varsoviae 1831, 14f.). 12 Vgl. Stanislaw Roman, Przywileje nieszawskie [Die Privilegien von Nessau], Wroclaw 1957, bes. 168-185.
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Bei dieser Gelegenheit forderte der Adel zum ersten Mal ein Mitspracherecht im Verhältnis zwischen König und jüdischer Bevölkerung, - bislang war die Judenpolitik ausschließlich dem Monarchen vorbehalten gewesen. Am Ende der Nessauer Privilegien befindet sich der Abschnitt „de Iudaeis", in dem der König verspricht, die im Vorjahr bestätigten Privilegien für die Juden wieder aufzuheben. König Kasimir IV. musste sich öffentlich dem Druck des Adels beugen und sein eigenes Vorgehen aus dem Jahr zuvor als „göttlichem Recht und den Beschlüssen des Landrechts zuwider" bezeichnen sowie die Bestimmungen des Statuts von Warta wieder in Kraft setzen. Ziel jenes Abschnitts war eine Verschlechterung der jüdischen Rechtslage. Dem König wurde vorgeworfen, die Juden als Ungläubige besäßen mehr Vorrechte als die Christen. Dies müsse geändert werden, indem man sie als (Kammer-)Knechte behandle, und somit schlechter als die Christen.13 Die Privilegien von Nessau dokumentierten den Anspruch des Adels auf Teilhabe an den Entscheidungen in wichtigen Fragen der Politik, auch im Verhältnis zwischen König und Juden. Allerdings muss man dabei beachten, dass diese Forderung nicht zu einem spürbaren Wandel in der Politik des Herrschers gegenüber den jüdischen Eliten führte. In den nächsten 50 Jahren - von den Nessauer Privilegien bis zum Reichstag von Radom 1505, auf dem mit der Konstitution „nihil novi" der entscheidende Schritt zur „Adelsrepublik" getan wurde - gab es keinerlei Initiativen des Adels, welche den Anspruch auf Mitsprache an der königlichen Judenpolitik untermauert oder auf eine weitere Verschlechterung der jüdischen Rechtslage hingearbeitet hätten. Die Bedeutung der Statuten von Nessau für die jüdische Bevölkerung liegt somit nicht in den inhaltlichen Festlegungen, die - nimmt man die Statuten von Warta und ihre Nichtbeachtung in der Praxis zum Vergleich - auch für den Adel nicht wirklich von Vorteil waren. Zum Verständnis der Bedeutung der Statuten von Nessau ist es unerlässlich, ihre Entstehungsgeschichte etwas näher zu betrachten: Im August 1453 bestätigte König Kasimir IV. die Privilegien für die Juden in Kleinpolen und Rotreußen sowie einige Tage später auch die für die Juden der Provinz Großpolen. Zur gleichen Zeit, kurz nach Ausfertigung dieser Urkunden, kam
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Item cum infideles non debeant ampliori praerogativa gaudere, quam Christi Die cultores, nec servi debent esse meliores conditionis, quam filii, statuimus: ut Judaei potiantur juribus juxta constitutiones Vartenses, prout alii nobiles terrarum nostrarum, quantum ad praescriptionem; ut videlicet utantur praescriptione trium annorum in obligationibus et inscriptionibus ipsorum. Nec poterint dare aliquam summam pecuniae super obligationem aliquorum bonorum, aut super litera inscriptionum, quod si dederint contra hujusmodi prohibitionem statuti, eo ipso pecuniam pendant, obligatioque et inscriptio hujusmodi eo ipso sint nullae. Literas etiam quascunque super libertate ipsis Judaeis, in regno nostro degentibus, per nos post diem coronationis nostrae concessas, et juri divino ac constitutionibus terrestribus contrarias penitus revocamus, abolemus, easque nolumus, fieri alicujus roboris vel momenti, quam revocationem et abolitionom earum in regno nostro per proclamationem publicam omnibus innotescere faciemus. Haec omnia rata grataque habere promittimus et inviolabiliter observare, ac ab aliis observari faciemus, praesentium nostrarum, quibus sigillum nostrorum appensum est, testimonio literarum. (Bandtkie, Jus Polonicum, 289-291).
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der Franziskanerprediger Johannes Capistrano, der für seine antijüdischen Hetzpredigten bekannt war, nach Krakau. In Breslau, wo er zuvor gepredigt hatte, war es zu Pogromen und zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus der Stadt gekommen. Auch in Krakau erwartete man Unruhen, und der Bischof von Krakau, Zbigniew Olesnicki, drängte den König, die Judenprivilegien wieder aufzuheben. 14 Capistrano agitierte im Sinne Olesnickis, - aus seinen Briefen an Papst Nicolaus V. spricht Verwunderung und Verbitterung über die feste Haltung des Königs, der an seiner Entscheidung festhalte und nichts von einer Aufhebung der Privilegien wissen wolle.15 Wenn sich der König auch Capistranos Argumenten verschloss, fanden dessen feurige Predigten jedoch ein lebhaftes Echo in der Geistlichkeit und im Adel. Als im Herbst 1454 der Dreizehnjährige Krieg mit dem Deutschen Orden ausbrach und das eilends ausgehobene allgemeine Aufgebot bereits in den ersten Kämpfen eine empfindliche Niederlage erfahren musste, konnten die Anhänger Olesnickis im Verein mit Capistrano den Adel überzeugen, sich ihren Bemühungen um eine Aufhebung der Judenprivilegien anzuschließen. Sie argumentierten, dass die Niederlage der polnischen Truppen nichts anderes sei, als die Strafe Gottes für die lästerliche Missachtung des Königs gegenüber den Anliegen der Kirche. Infolge dieser Agitation wurde am Schluss der Statuten von Nessau der Abschnitt „de Iudaeis" eingefügt. Dieser Abschnitt, der sich an das Statut von Warta anlehnte, bezog sich lediglich auf einen geringen Teil des jüdischen Wirtschaftslebens. Die Mehrzahl jener Bestimmungen, die erstmalig im Privileg Kasimirs IV. für die Juden in der Provinz Großpolen 1453 wie auch in den übrigen Privilegien niedergeschrieben worden waren, galt allem Anschein nach weiter. Efraim (Franciszek) Kupfer kam bei seinen Betrachtungen der rechtlichen und faktischen Lage der Juden in Polen sogar zu der Schlussfolgerung, dass der König im Jahr 1456, nach dem Tod Olesnickis und Capistranos, die Privilegien wieder in Kraft gesetzt habe.16 Welch geringen Einfluss die Bestimmungen über die Juden in den Statuten von Nessau in der Praxis erlangten, zeigt die Analyse der ökonomischen Stellung, welche den jüdischen Wirtschaftseliten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zukam. Unverändert unterhielten sie sehr enge Kontakte zum königlichen Hof, und weiter-
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Zum Wirken von Olesnicki und Capistrano in Krakau 1453/54 vgl. Majer Balaban, Historia Zydöw w Krakowie i na Kazimierzu 1304-1868 [Geschichte der Juden in Krakau und Kazimierz 1304-1868], Bd. 1, Krakow 1931, 40-54. Capistranos Predigten in Breslau waren allerdings nicht der Auslöser für die judenfeindlichen Ausschreitungen, vgl. Heidemarie Petersen: Die Predigttätigkeit des Giovanni di Capistrano in Breslau und Krakau 1453/54 und ihre Auswirkungen auf die dortigen Judengemeinden, in: Manfred Hettling u.a. (Hg.): In Breslau zuhause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit, Hamburg 2003, 22-29, 191-194. Trotzdem bleibt Balabans Hinweis richtig, dass man in der Krakauer jüdischen Gemeinde gerade von Capistrano und seinen Predigten Unheil befürchtete. Zwei Briefe Capistranos an Papst Nicolaus V. sind abgedruckt bei Heinrich Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 8, Leipzig 1864,443. Efraim Kupfer, Tsu der Frage fun der juridisher un faktisher Lage fun di Jidn in Pojln, in: Bieter far geshichte (N.F.) 5 (1952), 49-60, hier 52f.
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hin pachteten sie einen Großteil der Zölle und Mauten in Rotreußen sowie im Großfürstentum Litauen. Für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ermittelte Maurycy Horn in diesen Provinzen über 100 jüdische Zollpächter!17 Unter den Nachfolgern König Kasimirs verstärkte sich diese Tendenz sogar noch. Seit seinem Regierungsantritt in Polen 1501 (er war bereits seit 1492 Großfürst von Litauen gewesen) übergab König Alexander die Pacht königlicher Einkünfte nicht nur in Rotreußen, sondern auch in zunehmendem Maße in den Zentrallandschaften des Königreichs an Juden.18 Dies rief den Widerstand des dortigen Adels hervor, doch weder Alexander noch später Sigismund I. (der Alte) waren bereit, auf die Dienste der jüdischen Wirtschaftseliten in diesem Bereich zu verzichten.
Die Verdrängung der Juden aus der Regalienpacht bis 1538 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts nahmen die politischen Initiativen des Adels gegenüber der jüdischen Bevölkerung zu. Weiterhin muss man dabei „ideologisches" von „pragmatischem" Vorgehen unterscheiden. Sinnbildlich für beide Orientierungen stehen die Reichstagskonstitutionen von Petrikau 1538, welche die Pacht königlicher Einkünfte durch Juden untersagte, und von Krakau 1539, in welcher der König auf die alleinige Oberhoheit über die jüdische Bevölkerung verzichtete und damit eine neue Grundlage für die Beziehungen zwischen Adel und Juden schuf. Die Konstitution von Petrikau knüpfte an den Geist der Statuten von Nessau an; ihr Ziel war, die politische Bewegungsfreiheit des Königs einzuengen und zugleich eine antijüdische Haltung zu demonstrieren. Das zentrale Anliegen des Adels wird gleich zu Beginn des Abschnitts „de Iudaeis" ausgeführt: Die Juden dürfen in Zukunft keine Zollstellen mehr pachten, denn es sei unwürdig und widerspräche göttlichem Recht, wenn sie Ämter und Würden inter christianos innehätten.19 Daneben enthält dieser Abschnitt eine Reihe von Einschränkungen und Rechtsverschlechterungen, die sich nicht mit den Interessen des Adels erklären lassen und ihnen zum Teil widersprechen. Die Juden sollten gezwungen werden, nach westeuropäischem Vorbild besondere Erkennungszeichen zu tragen; ihre uneingeschränkte Handelsfreiheit 17
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Maurycy Hom, Zydzi i mieszczanie na sluzbie krolow polskich i wielkich ksiqzqt litewskich w latach 1386-1506 [Juden und Bürger im Dienste der Könige von Polen und der Großfürsten von Litauen in den Jahren 1386-1506], Teil 1, in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego [im Folgenden: BZIH] 135-136 (1985), 3-19, hier 12. Vgl. ebd., 16-19; Jan Rutkowski, Skarbowosc polska za Aleksandra Jagiellonczyka [Der polnische Staatsschatz unter Alexander dem Jagiellonen], in: Kwartalnik Historyczny 23 (1909), 1-77, hier 32-37. Statuimus involabiliter observandum, Iudaeos teloneis quibuscunque praefici non debere neque posse, indigum et iuri dvino contrarium censentes, eius generis homines aliquibus honoribus et ofßciis inter christianos fungi debere. [...] (Konstytucje Sejmu walnego Piotrkowskiego 1538 [Konstitutionen des allgemeine Reichstags von Petrikau 1538], in: Volumina Constitutionum, Bd. 1, Teil 2: 1527-1549, bearb. von Waclaw Uruszczak/Stanislaw Grodziski/Irena Dwornicka, Warszawa 2000, 169f.).
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wurde aufgehoben, man verbot Handel und die Abhaltung von Jahrmärkten in den Dörfern und schärfte die Einhaltung lokaler A b k o m m e n mit den Bürgern ein. D i e Forderung nach einem Verbot für Juden, Funktionen i m Königsdienst zu bekleiden, war nicht neu. In kirchlichen Kreisen war sie bereits i m 13. Jahrhundert erhoben worden, konnte sich aber in der politischen Praxis nicht durchsetzen. 2 0 D i e s änderte sich erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als sich der A d e l diese Forderung zu Eigen machte. In den Gesetzes vorlagen für den Sejm von R a d o m i m Jahre 1505, auf d e m die Konstitution „nihil novi" verabschiedet wurde, befand sich auch ein Projekt, das den Juden die Pacht königlicher Einkünfte untersagte. 2 1 D i e s e Vorlage kam zwar nicht zur Abstimmung, sie spiegelte aber ein politisches Programm wider, an d e m der Adel auch in den folgenden Jahren festhielt. 2 2 D i e Regalienpacht bildete nämlich eine einträgliche Einkommensquelle, w e l c h e der A d e l nicht länger bereit war, mit anderen zu teilen. D i e s b e z o g sich nicht allein auf Regalien in jüdischen Händen, die frühesten Erfolge erzielte der Adel bei der Pacht von Salinen und Bergwerken, w o die vornehmlich bürgerlichen Pächter bereits in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts durch A d e l i g e ersetzt wurden. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts enden allmählich die Quellenbelege über jüdische Zollpächter, zunächst in Zentralpolen, später auch in Rotreußen; an ihre Stelle traten vermögende Adelige. W i e Maurycy Horn nachge20
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Vgl. Pawel Fijalkowski, Poczqtki obecnosci Zydow w Polsce (XI-XIII wiek) [Die Anfänge jüdischer Anwesenheit in Polen (11.-18. Jahrhundert)], in: Zofia Borzymmska (Hg.), Studia ζ dziejow Zydow w Polsce [Studien zur Geschichte der Juden in Polen], Bd. 1, Warszawa 1995, 13-26, 17f.; Roman Grodecki, Dzieje Zydow w Polsce do korica XIV wieku [Geschichte der Juden in Polen bis zum Ende des 14. Jahrhunderts], in: ders., Polska Piastowska [Polen zur Zeit der Piasten], Warszawa 1969, 595-702, 670-678. De iudeis ad officio non instituendis. ludei theloneis et tributis exigendis ceterisque officiis publicis non preficiantur. (Ferdinand Bostel, Tymczasowa ustawa radomska ζ r. 1505 [Das vorläufige Gesetz von Radom aus dem Jahre 1505], in: Kwartalnik Historyczny 3 (1889), 658-686, hier 679; vgl. ebd., 666; eine neue Edition des Gesetztesprojekts in: Volumina Constitutionum, Bd. 1, Teil 1: 1493-1526, bearb. von Stanislaw Grodziski/Irena Dwornicka/Waclaw Uruszczak, Warszawa 1996, 143-147). Im Artikel „Zydzi i mieszczanie na stuzbie krölow polskich i wielkich ksi^z^t litewskich w latach 1386-1506", Teil 1 bezieht Maurycy Horn die Bestimmungen der tymczasowa ustawa radomska auf ein Dokument, welches die königliche Kanzlei am 21. 3. 1506 für Josko aus Hrubieszöw ausstellte. Horn führt aus, dass König Alexander infolge der Intervention von Senatoren und Landboten am 21. März 1506 den Pachtvertrag über die Zölle in Lemberg und Beiz annullierte. Josko hätte dieser Schlag schwer getroffen (18f.), und kurz darauf sei er dann ja auch gestorben (sein Testament ist auf den 17. Juni 1506 ausgestellt). Diese Interpretation erscheint ein wenig überzogen. Kernpunkt des Dokuments (Archiwum Glowne Akt Dawnych w Warszawie [Hauptarchiv der alten Akten in Warschau, im Folgenden: AGAD], Metryka Koronna [Kronmatrikel] 21, k. 38 lv) ist die Befreiung Joskos, seiner Familie und Faktores von der Gerichtsbarkeit sämtlicher königlicher Beamter und Würdenträger bis 1508 (dem Auslaufen des Arrendevertrags). Es gibt keinen Bezug auf das Verbot der Regalienpacht oder auf eine Initiative der Landboten, es wird lediglich von Mahnungen der Berater des Königs gesprochen. Wenn es einen Zusammenhang mit dem Gesetzesentwurf von Radom gäbe, hätte Josko auch seine weiteren Pachten einbüßen müssen, was jedoch nicht der Fall war.
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wiesen hat, bedeutete dies jedoch nicht, dass die Juden aus dem Zolldienst verdrängt worden wären.23 Die neuen Pächter waren in der Regel nicht dazu ausgebildet, die organisatorischen Aufgaben, die sich aus der Zollpacht ergaben, ohne Hilfe zu bewältigen.24 Sie bedienten sich daher der Kenntnisse ihrer jüdischen oder bürgerlichen Amtsvorgänger und stellten jene als Unterpächter an. Als im Jahre 1538 den Juden durch die Reichstagskonstitution die Pacht königlicher Einkünfte untersagt wurde, war diese Bestimmung demnach faktisch bereits umgesetzt worden.
Intensivierung der Kontakte zum Adel Parallel zu jenen ideologisch motivierten Bemühungen um eine Beschränkung der jüdischen Wirtschaftsaktivitäten, wie sie sich in der Konstitution von Petrikau ausdrückten, existierten auch gegenläufige Tendenzen mit eher pragmatischem Charakter: In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts gab es zusehends mehr Anzeichen für eine enge Zusammenarbeit zwischen den jüdischen Wirtschaftseliten und Vertretern des (Hoch-)Adels, vor allem aus der Gruppe der Wojewoden und engsten Berater des Königs. Sie traten als Vermittler in den Kontakten zum König auf, erreichten die Ausstellung von Privilegien oder traten selbst als Schutzherren von Juden auf. So übernahm beispielsweise Josko Zusmanowicz aus Lemberg in den Jahren 1519 bis 1533 die Pacht der Zölle in Beiz, Cholm, Lemberg und Lublin bereits nicht mehr aufgrund eines königlichen Privilegs, sondern als Subarendator (Unterpächter) für Andrzej und Jan T^czyhski, die Wojewoden von Krakau und Betz.25 Andrzej T^czynski erwirkte im Jahre 1519 beim König ein Privileg für Josko und Majer Zusmanowicz, welches sie vom Wojewodengericht befreite, um auf diese Weise rechtliche Konflikte in den Gebieten zu verhindern, in denen die beiden als Subarendatoren der Brüder T^czynski tätig waren.26 Hochadelige Protektion nahm zu jener Zeit bereits auch direktere Formen an. So erwirkte Andrzej T^czyriski im Jahre 1516 Privilegien für „Samuel dicitur Joseph" aus der Starostei Ratno sowie Moszko und Offrasz aus Luboml, kraft deren sie der 23
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Maurycy Horn, Zydzi i mieszczanie w sluzbie celnej Zygmunta Starego i Zygmunta Augusta [Juden und Bürger im Zolldienst Sigismunds des Alten und Sigismund Augusts], in: BZIH 141 (1987), 3-20, hier 3-6. Andrzej Wyczanski hat darauf hingewiesen, dass hohe Ämter, wie das des Starosten, Wojewoden oder auch Unterkämmerers in der Neuzeit hauptsächlich durch Stellvertreter funktionierten. Formal handelte es sich dabei um „Privatbeamte", die nicht vom Monarchen, sondern vom jeweiligen Amtsinhaber nominiert wurden und ihr Amt gegen Bezahlung ausübten. (Andrzej Wyczanski, Polen als Adelsrepublik, Osnabrück 2001, 88; poln. Originalausgabe: Polska Rzeczq. Pospolit^ Szlacheck% Warszawa 2 1991). Horn, Zydzi i mieszczanie w sluzbie celnej, 6. Die Subarrende von Zollstellen, welche an Adelige vergeben worden waren, ist kein neues Phänomen, sondern bereits im 15. Jahrhundert anzutreffen (vgl. Jurek, Zydzi w poznosredniowiecznym Kaliszu, 41), intensiviert sich aber infolge der neuen Regelungen. AGAD, Metryka Koronna 34, Bl. 152; vgl. Bersohn, Dyplomatariusz dotyczQcy Zydow, Nr. 459, 241.
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Gerichtsbarkeit des Lubliner Starosten und anderer königlicher Beamter enthoben und direkt dem Gericht T^czynskis unterstellt wurden.27 Die hier dargestellten Kontakte zwischen den jüdischen Wirtschaftseliten und dem Hochadel zeigen allerdings nur einen Teil des Wandels, der sich in jener Zeit im Verhältnis zwischen Adel und Juden vollzog.
Adelige Stadtherrschaft und jüdische Bevölkerung Ein weiteres Problemfeld in den Kontakten zwischen der jüdischen Bevölkerung und dem Adel bestand darin, ob und unter welchen Voraussetzungen sich Juden in den immer zahlreicher werdenden adeligen Städten niederlassen konnten. Während des Mittelalters hatten sich die Juden fast ausschließlich in königlichen Städten niedergelassen, allerdings gibt es auch vereinzelt bereits Hinweise auf ihre Anwesenheit in adeligen Städten. In rechtlicher Hinsicht war dies für den adeligen Stadtherrn jedoch nicht unproblematisch: Er besaß die volle Gerichtshoheit über seine bürgerlichen und bäuerlichen Untertanen, aber nicht über die auf seinen Besitzungen lebenden Juden, denn diese unterstanden ausschließlich dem Wojewoden. Jüdische Siedlung in Privatstädten vor 1539 ist in mehreren Fällen glaubwürdig überliefert, allerdings ist diese Quellenüberlieferung in jedem Einzelfall nur äußerst fragmentarisch. Eines der am besten belegten Beispiele ist die Stadt Tamow; bereits für Mitte des 15. Jahrhunderts liegen erste Belege der Anwesenheit von Juden vor,28 die Attraktivität dieser Anwesenheit für den Stadtherren ist ebenfalls rekonstruierbar. Zugleich lassen sich an diesem Beispiel die rechtlichen Probleme aufzeigen, vor denen ein Stadtherr vor 1539 in Bezug auf seine jüdischen Untertanen stand. Seit der Verleihung des Stadtrechts im 14. Jahrhundert befand sich die Stadt im Besitz der Familie Tarnowski. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts geht man von einer dauerhaften, gesicherten jüdischen Besiedlung in der Stadt aus, die als Tochtergemeinde der jüdischen Gemeinde von Krakau-Kazimierz galt.29 Große Bedeutung für die Stadtherren besaß die Tätigkeit der ansässigen jüdischen Kaufleute, welche Handelsbeziehungen mit Krakau und Lemberg, mit Vertretern des Adels und der 27
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AGAD, Metryka Koronna 29, k. 275, 289; vgl. Bersohn, Dyplomatariusz dotyczqcy Zydow, Nr. 448-449, 238-239. Feliks Kiryk/Franciszek Lesniak, Skupiska zydowskie w miastach malopolskich do korica XVI wieku [Jüdische Siedlungen in kleinpolnischen Städten bis zum Ende des 14. Jahrhunderts], in: Zydzi w Malopolsce, 13-36, hier 31. Im Verzeichnis der jüdischen Gemeinden, welche im Jahre 1507 die Krönungssteuer für Sigismund I. zahlten, wurde vermerkt, dass die Juden aus Tarnow ihren Anteil zusammen mit der Gemeinde in Krakau (Kazimierz) leisteten (Maurycy Horn, Najstarszy rejestr osiedli zydowskich w Polsce ζ 1507 r. [Das älteste Verzeichnis jüdischer Siedlungen in Polen aus dem Jahr 1507], in: BZIH 91 (1974), 11-15). Somit galt Tarnöw als Tochtergemeinde von Krakau, denn die Steuerpflicht lag zu jener Zeit bei den Gemeinden und ihren Vorständen (vgl. Jürgen Heyde, Jüdische Eliten in Polen zu Beginn der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 13 (2003), 117-165, hier 138f.).
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jüdischen Wirtschaftseliten in der Provinz Rotreußen unterhielten. Bereits Mitte des 15. Jahrhunderts wurde in den Quellen ein jüdischer Kaufmann Caleph aus Tarnow erwähnt, 30 weitere Belege stammen aus dem frühen 16. Jahrhundert.31 Ein Beispiel für die enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen dem Stadtherren und der jüdischen Bevölkerung ist eine Notiz aus dem Jahre 1498, aus der hervorgeht, dass die Tarnower jüdischen Tuchhändler diesem eine regelmäßige Abgabe auf die Menge des verkauften Tuches („krajkowe" - „Tuchschneideabgabe") leisteten. 32 Dies zeigt, dass die Tarnower Juden in wirtschaftlicher Hinsicht bereits vor 1539 als „Untertanen" des Stadtherren anzusehen waren, wenn sie auch in rechtlicher Hinsicht ausschließlich dem Wojewoden unterstanden. Zwar amtierten die Besitzer von Tarnow im 15. und frühen 16. Jahrhundert mehrfach auch als Wojewoden von Krakau und hätten auf diese Weise einen möglichen Interessenkonflikt gewissermaßen neutralisieren können, doch stammen sämtliche Quellenbelege für die jüdische Anwesenheit in der Stadt gerade aus jenen Jahren, in denen das Wojewodenamt in den Händen von Angehörigen anderer Familien lag. 33 Eine Monopolisierung dieser Würde durch eine Familie war in der polnischen Rechtspraxis jener Zeit undenkbar, so dass ein Interessenkonflikt um die Gerichtshoheit über die jüdische Bevölkerung nie auszuschließen war.
Die Aufgabe der alleinigen Rechtshoheit des Königs 1539 Nachdem auf dem Reichstag zu Petrikau 1538 die Forderung nach einem förmlichen Verbot der Vergabe königlicher Einkünfte an Juden erfüllt worden war, machte es sich der Krakauer Reichstag im folgenden Jahr zur Aufgabe, die Beziehun-
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Akta grodzkie i ziemskie ζ czasow Rzeczypospolitej polskiej ζ archiwum tak zwanego bernardynskiego we Lwowie [Burg- und Landgerichtsakten aus den Zeiten der Polnischen Rzeczpospolita aus dem sog. Bemardynski-Archiv in Lemberg], Bd. 14, Lwow 1878, Nr. 1550, 194; Bozena Wyrozumska (Hg.), Zydzi w sredniowiecznym Krakowie. Wypisy zrödlowe ζ ksi^g miejskich krakowskich/The Jews in medieval Cracow. Selected records from Cracow municipal books, Krakow 1995, Nr. 3 9 7 - 3 9 8 , 96. Tadeusz Wierzbowski (Hg.), Matricularum Rcgni Poloniae Summaria, Varsoviae 1912, Bd. 4 / 1 , Nr. 1534; vgl. Feliks Kiryk/Zygmunt Ruta, Tarnow. Dzieje miasta i regionu [Tarnow. Geschichte der Stadt und der Region], Bd. 1, Tamow 1981, 266. Archiwum ksi^z^t Lubartowiczow Sanguszkow w Slawucie [das Archiv der Fürsten Lubartowicz-Sanguszkow in Slawuta], hg. von Zygmunt Luba-Radzymmski, Bd. 2 ( 1 2 8 4 - 1 5 0 5 ) , Lwow 1887, 2 7 2 ; vgl. Ignacy Schipper, Studia nad stosunkami gospodarczymi Zydow w Polsce podczas sredniowiecza [Studien zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Juden in Polen während des Mittelalters], Lwow 1911, 324. Vgl. Urz?dnicy malopolscy X I I - X V wieku. Spisy [Kleinpolnische Amtsträger im 12.-14. Jahrhundert. Verzeichnisse], bearb. von Janusz Kurtyka u.a., hg. von Antoni G^siorowski (Urz^dnicy dawnej Rzeczypospolitej [Amtsträger der alten Rzeczpospolita], IV/1), Wroclaw/Warszawa/ Krakow 1990, Nr. 469, 476; Urz^dnicy wojewödztwa krakowskiego X V I - X V I I I wieku. Spisy [Amtsträger der Wojewodschaft Krakau im 1 6 . - 1 8 . Jahrhundert. Verzeichnisse], bearb. von Stanislaw Cynarski und Alicja Falniowska-Gradowska, hg. von Antoni G^siorowski (Urz?dnicy dawnej Rzeczypospolitej, IV/2), Komik 1990, Nr. 396, 4 0 1 .
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gen zwischen Adel und Juden auf eine neue Grundlage zu heben und die bisherige alleinige Oberhoheit des Königs auch gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe aufzuheben. In der Reichstagskonstitution wurde festgehalten: „Da der Adel in seinen Städten und Dörfern seine Juden hat, erlauben wir, dass er selbst die Abgaben und Nutzen [von ihnen] erhalte, und dass er sie richte nach seinem Dafürhalten." 34 Juden, die sich auf adeligem Besitz niederließen, mussten nun mit dem jeweiligen Stadt- oder Grundherrn direkt die Bedingungen für Ihre Ansiedlung aushandeln, die früheren königlichen Privilegien besaßen hier keine unbedingte Gültigkeit.35 Ebenso war die Appellation an das Gericht des Königs für die dort lebenden Juden ausgeschlossen. Unverändert blieb jedoch der Status der Juden in den Königsstädten; dort war der König weiterhin oberster Schutz- und Gerichtsherr über die jüdische Bevölkerung. Somit beseitigten die Bestimmungen der Konstitution von Krakau 1539 die rechtlichen Unsicherheiten, die sich aus der Teilung der Herrschaft über die Einwohner adeliger Städte ergeben hatten (der Stadtherr war in der Praxis die oberste Instanz für Bürger und Bauern, der Wojewode als Vertreter des Königs - für die Juden) und die mit Sicherheit die Entwicklung von Kontakten zwischen Adel und Juden gehemmt hatten. Der Versuch des polnischen Adels, Einfluss auf die königliche Politik gegenüber den Juden zu gewinnen, entsprang nicht einem genuinen Interesse desselben an der jüdischen Bevölkerung, sondern bildete nur einen, an sich marginalen, Schauplatz im Ringen um Einfluss und um die Gestaltung der politischen Verfassung des polnisch-litauischen Doppelreiches. Dies erklärt die scheinbar widersprüchliche Judenpolitik im Zeitraum zwischen 1454 und 1539, die zum einen die ökonomische Stellung der Juden (im Königsdienst) bedrohte, ihnen aber auch (durch die Intensivierung der Kontakte zum hohen Adel) neue Perspektiven eröffnete.
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Qui nobiles in oppidis aut villis suis Iudaeos habent, per nos licet, ut soli ex eis fructus omnes et emolumenta percipiant, iusque Ulis arbitratu suo dicant. Verum ex quibus Iudaeis, nullum ad nos commodum pervenit, eos uti Iudaeorum iure non permittimus, per nos et antecessores nostros concesso, neque de iniuriis eorum referri ad nos volumus, ut ex quibus nullum sentimus commodum ii nullum etiam praesidium in nobis habeant collocatum. (Konstytucje Sejmu walnego Krakowskiego 1538-1539 [Konstitutionen des allgemeinen Reichstags von Krakau 1538-1539] - Abschnitt De Iudaeis, in: Volumina Constitutionum, Bd. 1/2, 199). Jakub Goldberg hat auf die verschiedenartigen Quellen und Vorbilder für die neuzeitlichen jüdischen Gemeindeprivilegien hingewiesen, vgl. ders., Jewish Privilegies in the Polish Commonwealth, Bd. 1, Jerusalem 1985, 1-52; ders., The Privileges Granted to Jewish Communities of the Polish Commonwealth as a Stabilizing Factor in Jewish Support, in: Chimen Abramsky/ Maciej Jachimczyk/Antony Polonsky (Hg.), The Jews in Poland, Oxford 1989, 31-54; ders., Ο motywach nadawania przywilejow dla gmin zydowskich w dawnej Rzeczypospolitej [Zu den Motiven für die Verleihung von Privilegien an jüdische Gemeinden in der alten Rzeczpospolita], in: Parlament, Prawo, Ludzie. Studia ofiarowane Profesorowi Juliuszowi Bardachowi w szescdziesi^ciolecie pracy tworczej [Parlament, Recht, Menschen. Studien, Professor Juliusz Bardach anlässlich 60 Jahren schöpferischer Tätigkeit gewidmet], Warszawa 1996, 74-78.
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„Dagegen rathe ich sehr, eine annembahre Stelle in Ungarn anzunehmen ..." Ungarisch-jüdische Assimilation und der neo-orthodoxe Rabbiner Esriel Hildesheimer Die ungarisch-jüdische Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist durch grundlegende Veränderungen gekennzeichnet: durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse in Ungarn, in denen die Juden eine wichtige Rolle spielten, durch Prozesse innerhalb der jüdischen Gesellschaft, die am Ende zum Bruch zwischen Reform und Orthodoxie führten; durch die rasche Ungarisierung und Assimilation der Juden. In der Spanne zwischen der niedergeschlagenen Revolution von 1848/49 und der wirtschaftlichen Blütezeit Ungarns nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich 1867 wurden unter den ungarischen Juden in verschärfter Form Widersprüche ausgetragen, die schon in den 1820er und 1830er Jahren herangereift waren. Die Auseinandersetzung um die verschiedenen Interessen und Ziele innerhalb der Judenheit in Ungarn - die seitens der Reformpartei geforderte Emanzipation bzw. die Angst der Orthodoxie vor der Zerstörung der jüdischen Integrität - spitzten sich besonders nach 1849 zu. Vollends zum Riss zwischen den Parteiungen kam es auf dem Landeskongress der Israeliten 1868/69. Diese Entwicklungen werden im Folgenden mittels eines Blicks auf die von 1851 bis 1869 währende Tätigkeit des deutschen Rabbiners Esriel Hildesheimer in Ungarn herausgestellt, um auf diese Weise sowohl Hildesheimer als Repräsentanten der deutschen Neo-Orthodoxie als auch die ungarisch-jüdischen Lebenswelten, insbesondere die Orientierung der ungarischen Orthodoxie, im Kontext zunehmender Ungarisierung pointiert zu charakterisieren. Hildesheimer ist vor allem als der erste und langjährige Direktor des 1873 eingeweihten orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin bekannt; seine Zeit in Ungarn ist nichtsdestoweniger eine bedeutende, wenn auch letztlich wenig erfolgreiche Phase seines Lebens gewesen. Der in Halberstadt am Harz gebürtige Hildesheimer hatte in Deutschland studiert, verband seine Gedankenwelt mit der deutschen Kultur und war mit dem „deutschen" Modell der Neo-Orthodoxie nicht nur in Kontakt gekommen, sondern verinnerlichte es als ein eigenes Ideal, dem er ab 1851 als Leiter der Jeschiwa von Eisenstadt auch in Ungarn zur Geltung zu verhelfen suchte. Hildesheimer sollte sich allerdings mit der paradoxen Situation konfrontiert sehen, dass er, der sich als einer der schärfsten Gegner und Kritiker der Reform verstand, der ungarischen Orthodoxie selber als Reformer galt und daher rundheraus abgelehnt wurde - von derjenigen Orthodoxie, für die er unermüdlich kämpfte. Wie gezeigt werden wird, scheiterte Esriel Hildesheimer hauptsächlich am Konservatismus der LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 117-139
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ungarisch-jüdischen Orthodoxie, die sich, in sich selbst zersplittert, von jeglichem Modernismus abgrenzte. Gerade in dieser Konfrontation wird die Differenz von Formen der jüdischen Orthodoxie in Mitteleuropa deutlich - hier am Unterschied zwischen traditionstreuem Judentum in Ungarn und jener Neo-Orthodoxie, die sich unter ganz anderen Verhältnissen in Deutschland ausgebildet hatte.
Orthodoxie und „Neologie":1 Die jüdische Gesellschaft in Ungarn in den 1850er und 1860er Jahren Die jüdische Gesellschaft in Ungarn war um die Mitte des 19. Jahrhunderst in ihrer Mehrheit traditionell eingestellt. Die Grundlage dieser traditionstreuen jüdischen Gesellschaft bildeten die autonome Kehilla (die gemeinrechtliche Körperschaft der Juden in Europa, die sich um die religiösen Angelegen ihrer Mitglieder kümmerte) und die Jeschiwa. Die Kehilla erfüllte in den traditionellen orthodoxen und chassidischen Gemeinden nicht nur die Verwaltungsaufgaben, sondern war auch für die rituellen Institutionen Mikwe, Cheder, Talmud-Thora sowie für die Kashrut zuständig. Diese örtlichen Kehillot bestimmten den Rahmen und den Rhythmus des jüdischen Lebens und entschieden auch über ihre Rabbiner. Den anderen Pfeiler des traditionellen jüdischen Lebens bildeten die Jeschiwot als Bildungsinstitute und damit als die wichtigsten Einrichtungen zur Vermittlung von Tradition. Innerhalb der ungarischen Orthodoxie verlief eine geographisch-kulturelle Trennlinie. Man unterschied zwischen denjenigen Juden, die in den westlichen und nordwestlichen, urbanisierten Gebieten des Landes lebten („Oberland" genannt), in deren Kreisen immer öfter Deutsch und/oder Ungarisch gesprochen wurde, und den chassidischen, aus Galizien eingewanderten, jiddischsprechenden Juden, welche den östlichen und nordöstlichen Teil des Landes („Unterland" genannt) besiedelten. Die charakteristischen Merkmale der „oberländischen" Orthodoxie bildeten sich in den 1820er und 1830er Jahren heraus. Von zentraler Bedeutung war der Einfluss von Rabbiner Moses Schreiber,2 der als Chatam Sofer bekannt werden sollte. Der aus Frankfurt am Main stammende Chatam Sofer wurde 1806 zum Rabbiner der Preßburger Gemeinde gewählt, wo er 35 Jahre lang arbeitete und lehrte. Während dieses Zeitraums gehörte die Preßburger Jeschiwa mit ihren 500 Bachurim im Jahr zu den wichtigsten in Mitteleuropa. Diese Jeschiwa verkörperte eine Bewegung,3 die sich besonders streng auf den Talmud und auf die rabbinischen Schriften konzentrierte.
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„Neologie" ist die Bezeichnung der Reformbestrebungen innerhalb des Judentums in Ungarn, die hinsichtlich von Emanzipation und Assimilation eher politisch motiviert waren und weniger "theologisch" - anders als in Deutschland. Rabbiner Moses Schreiber (1763-1839): einer der bedeutendsten geistigen Führer des Judentums in Ungarn; vgl. Ujväri Peter (Hg.), Zsido Lexikon [Jüdisches Lexikon], Budapest 1929, 860f. Joseph Ben-David, Α modern zsido tärsadalom kezdetei Magyarorszägon [Die Anfänge der modernen jüdischen Gesellschaft in Ungarn], in: Vilägossäg 36 (1990), 20.
„DAGEGEN RATHE ICH SEHR, EINE ANNEMBAHRE STELLE IN U N G A R N ANZUNEHMEN . . . "
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Chatam Sofer war bewusst, dass Erziehung der Schlüssel für das Weiterleben der Tradition sei; unter anderem war er deshalb so sehr gegen das Streben der Maskilim nach weltlicher Erziehung. Und - wie später herausgestellt werden wird - genau aus diesem Grund wurde die Hildesheimer'sehe „Jeschiwa mit weltlichen Fächern" von Anhängern Chatam Sofers so oft kritisiert und sogar grundsätzlich abgelehnt. Chatam Sofer lehnte jegliche Reformen ab; er betonte die bewusste Religiosität gegenüber der Ratio, die organische Einheit der jahrtausendelangen Tradition, in der es keine Unterschiede zwischen Thora und der rabbinischen Lehre gibt, gegenüber der Aufklärung, der Haskala, und er bevorzugte das Jiddische gegenüber dem Deutschen.4 Es handelte sich um eine strikte Abgrenzung von aller Modernität. Er verlangte „strenge" Treue zur Tradition - das war seine Antwort auf die Herausforderung der Assimilation. Für die „unterländische" Orthodoxie, die in den nordöstlichen Komitaten (Märamaros, Szatmär, Szabolcs, Zemplen, Ugocsa)5 Ungarns und in Siebenbürgen präsent war, war der ebenfalls antireformerisch eingestellte Chassidismus charakteristisch. Die Trägerschicht des Chassidismus in Ungarn bildeten die, wie erwähnt, aus Galizien eingewanderten jiddischsprachigen Juden. Nach der ersten Teilung Polens 17726 wurde Galizien Teil des Habsburgerreiches, das die jüdische Einwanderung nach Ungarn forcierte. Bei der Etablierung des Chassidismus in Ungarn spielte Rabbiner Moses Teitelbaum aus Sätoraljaujhely eine zentrale Rolle. Mit Teitelbaum erschien in Ungarn ein neuer Typ des chassidischen „Rebben", der auch alle Eigenschaften eines Talmud-Gelehrten in sich vereinen musste, um mit den etablierten Gemeinden konkurrieren zu können.7 Die hier knapp skizzierte „ungarische Orthodoxie" prägte das ungarische Judentum bis in die 1860er Jahre. Lange Zeit hatte es nur in den größeren Städten einige kleinere Gruppen von Reformern, sogenannten „Neologen", gegeben. Die neuen Gedanken der Berliner Haskala konnten sich anfangs, in den 1820er Jahren, nur in Städten wie Pest oder Arad verbreiten. Die Tatsache, dass in den ungarischen Städten in dieser Zeit meistens Deutsch gesprochen wurde, erleichterte dies. Die sehr schmale „jüdisch-bürgerliche" Schicht in den Städten Pest und Arad der 1830er Jahre, die meistens von Handel und Finanztätigkeit lebte, ließ ihre Kinder bereits die (wenigen) staatlichen Schulen besuchen, verkehrte mit den christlichen Nachbarn, lernte eifrig Ungarisch und unterstützte die politischen Ziele der liberalen Bewegung des ungarischen Adels während des ungarischen Vormärz. Diese ungarischen Anhänger der Haskala waren, um das Ziel der Emanzipation zu erreichen, bereit, den Schabbat am Sonntag zu feiern. Zusammen mit den liberalen
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Jakob Katz, Chatam Szofer eletrajzähoz [Zur Biographie von Chatam Sofer], in: Szäzadok 1 (1992), 93-96. Die Komitate Märamaros und Szatmär liegen heute in Rumänien. Tamäs Csato/Peter Gunst/Läszlo Markus, Egyetemes Törtenelmi Kronologia [Universale Historische Chronologie], Budapest 1987, 266. Dezsö Schön, Istenkeresök a Kärpätok alatt [Gottessucher am Fuße der Karpaten], Budapest 1997, 55.
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adeligen Kreisen - die im Zuge der Emanzipation Änderungen in der jüdischen Religionsausübung verlangten - betrachteten sie die Orthodoxie als Hemmschuh der Entwicklung. Im Gegensatz zur deutschen Reformbewegung, die eher eine religiöse Bewegung war,8 benutzten die ungarischen Reformer die religiösen Neuerungen bewusst als Mittel, um ihr politisches Ziel, die Emanzipation, zu erreichen. Der Sieg der Habsburger über die ungarischen Freiheitskämpfer 1849 stürzte das Land in tiefe politische Lethargie. Doch wurde auch klar, dass trotz der Unterdrückung manche Maßnahmen der habsburgischen Herrschaft die von der Revolution ausgegangenen Impulse verstärkten. Die Revolution hatte das bis dahin im Grunde genommen feudale Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Ungarns erschüttert. Regelungen ab Mitte der 1850er Jahre, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einführung des österreichischen Handels- und Wechselrechts, die Gewerbefreiheit, die Reform des Steuersystems und die Zollunion des Habsburgerreiches förderten die langsam einsetzende kapitalistische Entwicklung in Ungarn und innerhalb dieser Entwicklung auch die besondere Rolle des ungarischen Judentums9. In den ersten Jahren nach 1849 waren die Juden von den politischen Retorsionen der habsburgischen Willkürherrschaft gleichermaßen betroffen wie alle anderen Einwohner. Viele emigrierten, einige kamen ins Gefängnis. Die Juden mussten auch den Entzug verschiedener Rechte hinnehmen. Der gravierendste Schritt war, neben der Rücknahme des Rechtes auf Immobilienerwerb (2. Oktober 1853),10 die Auflösung der Gemeinden aufgrund einer kaiserlichen Verordnung vom Juni 1851. Den Kehillot wurde ihre Selbstverwaltung entzogen und die Vorsitzenden wurden fortan von den Behörden gewählt und kontrolliert. Dadurch ging - unter anderem - der bis dahin noch erhaltene gemeinrechtliche Charakter des jüdischen Gemeinwesens verloren und die jüdischen Gemeinden wandelten sich in dieser Zeit zu Glaubensgemeinschaften um. Diese Sanktionen blieben aber nicht lange gültig. Als die europäische Machtposition des Habsburgerreiches ins Wanken geriet (durch den italienischen Freiheitskampf und die Niederlage bei Solferino 1859), wurde der politische Druck innerhalb des Reiches gemäßigt, um die innere Stabilität zu bewahren. Diese Entspannung und Neuorientierung in der Innenpolitik des Hofes zeigte sich auch im Umgang mit dem Judentum.11 Ein wichtiger Grund für diese veränderte Politik war die Hoffnung 8
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Michael K. Silber, The Historical Experience of German Jewry and Its Impact on Haskala and Reform in Hungary, in: Jacob Katz (Hg.), Toward Modernity. The European Jewish Model, London 1987, 71-107, hier 104. György Köver, A Reformkortol az I. viläghäboruig [Vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg], in: Honväri Jänos (Hg.), Magyar Gazdasägtörtenet [Ungarische Wirtschaftsgeschichte], Budapest 1996, 266-270. Lajos Venetianer, A magyar zsidosäg törtenete [Die Geschichte der ungarischen Juden], Budapest 1986, 67. Die Verordnungen des Kaisers 1859 und Anfang 1860 genehmigten dann den Juden wieder, christliche Diener und Mägde zu beschäftigen, und befreiten sie davon, zur Eheschließung die Erlaubnis der Obrigkeit einholen zu müssen; des Weiteren sicherten sie den Juden jegliche Gewerbetätigkeit zu und erlaubten ihnen die Ausübung früher verbotener Tätigkeiten in Bereichen wie Pharmazie, Schankwirtschaft, Schnapsbrennerei etc.; vgl. Venetianer, Α magyar zsidosäg, 209f.
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der Wiener Regierung, mit einer verstärkten Integration der jüdischen Bevölkerung und aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz die Entwicklung der rückständigen ungarischen Wirtschaft fördern zu können. So konnten viele jüdische Unternehmer - trotz der anfänglichen politischen Repressalien und Retorsionen - im Rahmen der vergleichsweise liberalen Wirtschaftspolitik der Habsburger ihre schon vor 1848 begonnenes Engagement in der Industrie, im Finanzwesen, aber auch in der Landwirtschaft mit großem Erfolg fortsetzen.12 Besonders bezüglich der akademischen Berufe bewies das ungarische Judentum - zumal aufgrund der Eröffnung von Universitäten für Juden - eine enorme Mobilität. Alsbald stieg die Zahl der jüdischen Ärzte und Anwälte. In den Redaktionen der Zeitschriften, die in dieser entspannten politischen Atmosphäre der ausgehenden 1850er Jahre gegründet wurden, gab es bald auch jüdische Journalisten. Die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen dieser Ära waren von erheblicher Wirkung auf die Zusammensetzung der jüdischen Gesellschaft. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten zogen die Städte, vor allem Pest, die jüdischen Arbeitskräfte vom Land an. Diese Mobilität schlug sich entsprechend im raschen Wachstum der jüdischen Bevölkerung in den Großstädten nieder: Während 1850 etwa 17.500 Juden in Pest lebten, lag diese Zahl 1857 bereits bei 23.000.13 Die neue Umgebung, die neuen Herausforderungen, die neuen Formen der Bildung schwächten bei vielen in die Stadt eingewanderten Juden die Beziehung zu den zurückgelassenen Gemeinden, und die zunehmende Urbanisierung förderte letztendlich die Ausbildung einer jüdischen bürgerlichen Schicht. Diese Schicht warf 1861, als ihre ungarischen Nationalgefühle einen neuen Höhepunkt erreichten, unter der Führung der Pester Gemeinde erneut die Frage der Emanzipation auf. Diese Juden waren bereit, sich zu „ungarisieren", und sie taten es mit großer Begeisterung. Diese Bereitschaft zeigte sich auch in der Gründung des Israelitischen Ungarischen Vereins14 am 18. März 1861, der bald schon 6.000 Mitglieder zählte.15 Während die Zahl derer, die in den Städten die Emanzipation und die Integration in die ungarische Gesellschaft befürworteten, fortwährend stieg (was letztendlich die Reformpartei stärkte), konnte sich auch die orthodoxe Bevölkerung in Ungarn (die immer noch die Mehrheit der Juden bildete) bestimmten Veränderungen nicht entziehen. Obwohl die Orthodoxen durch das religiöse Leben stark in die Gemeinde eingebunden waren, geboten es gleichzeitig die existentiellen Interessen vieler von ihnen - besonders im Oberland - , gute Beziehungen zur nichtjüdischen Nachbarschaft zu pflegen. In diesem Berührungsfeld mit der ungarischen Umgebung und ihrer Kultur war der Kontakt mit der ungarischen Sprache unvermeidlich. Die ungarische 12
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Die jüdische Bevölkerung wuchs in den 1850er Jahren erheblich; die Zahl der auf ungarischem Gebiet lebenden Juden betrug im Jahr 1857 rund 410.000 Menschen (vier Prozent der gesamten Bevölkerung); vgl. ebd., 205. Käroly Vörös, A budapesti zsidosäg ket forradalom között (1849-1918) [Budapester Juden zwischen den beiden Revolutionen (1849-1918)], in: ders., Hetköznapok a polgäri Magyarorszägon [Der Alltag im bürgerlichen Ungarn], Budapest 1997, 187-206, hier 188. Ung.: Izraelita Magyar Egylet. Raphael Patai, The Jews of Hungary, Detroit 1996, 308.
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Sprache und bestimmte Aspekte der ungarischen Kultur trugen zur sich formierenden „Identität" der „ungarischen" Orthodoxie bei. In eben dieser Zeit, als es pro oder kontra Akkulturation hieß, nahm Esriel Hildesheimer 1851 seine Tätigkeit als Leiter der Jeschiwa von Eisenstadt auf.
Der Rabbiner Esriel Hildesheimer Ausbildung und neo-orthodoxe Prägung Der Familie Esriel Hildesheimers (1820-1899) entstammten mehrere namhafte Rabbiner und Gelehrte.16 Das Familienerbe, die rabbinische Tradition, bestimmten sein Elternhaus und seine orthodoxe Erziehung in Halberstadt. Zugleich beeinflusste ihn der Gedanke „Thora im derech eretz": die Thora zu lernen und zugleich einen weltlichen Beruf auszuüben, - es ist dies eines der Grundprinzipen der NeoOrthodoxie. Hildesheimer besuchte die Hasharat-Zvi-Schule in Halberstadt, an der man diesem Prinzip folgte. Erstmalig in Deutschland wurden hier neben den traditionellen Fächern auch Fremdsprachen und Deutsch unterrichtet. Gerade diese Erfahrung, dass in der Bildung weltliche Fächer mit der Tradition kombiniert werden konnten,17 prägte seine spätere Einstellung, die er in Ungarn während seiner Tätigkeit an der Jeschiwa in Eisenstadt zur Geltung zu bringen suchte. Dass es für Hildesheimer und seine Generation (z.B. Samson Raphael Hirsch) schon selbstverständlich war, auf Deutsch unterrichtet zu werden und moderne Fächer zu studieren, weist auf das Maß der Veränderungen innerhalb der jüdischen Gesellschaft in den deutschen Ländern.18 Über ähnliche Erfahrungen verfügten die ungarischen orthodoxen Rabbiner jener Zeit nicht. Sie erhielten eine gründliche traditionelle Ausbildung, sprachen Jiddisch, aber weder formulierten sie den Anspruch noch hatten sie die Möglichkeiten, traditionelles und modernes Wissen miteinander zu verbinden. Von seinem 17. Lebensjahr an, als der Tod seines Vaters fünf Jahre zurücklag, besuchte Hildesheimer die Jeschiwa von Rabbi Jacob Ettlinger (1798-1871) in Altona. Auch dieses Stadium seiner Ausbildung war neo-orthodox geprägt. Rabbiner Ettlinger gehörte zu den ersten Juden, die an der Universität Würzburg hatten studieren dürfen. Obwohl in seiner Jeschiwa nur traditionelle Fächer gelehrt wurden, geschah dies auf Deutsch. Ettlinger selber ermunterte seine Studenten, unter ihnen Hildesheimer und Hirsch, auch „weltliche" Wissenschaften kennen zu lernen, weshalb er Ersterem genehmigte, die deutschsprachigen Philosophievorlesungen von Rabbiner Isaak Bernays (d.i. Hermann Schiff - ein Vetter Heinrich Heines) in Hamburg zu besuchen.19 16
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David Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer and the Creation of a Modern Jewish Orthodoxy, Tuscaloosa 1990, 6. Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer, 14f. Ebd., 15. Ebd., 14f.
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Ab 1843 studierte Hildesheimer zwei Jahre lang an der Berliner Universität semitische Sprachen, Philosophie, Physik und Analytische Geometrie.20 Sein Studium war motiviert durch die Ermutigung seiner Lehrer Ettlinger und Bernays sowie durch seine Überzeugung, dass vielseitig gebildete religiöse Menschen der jüdischen Orthodoxie zu einem hohen Ansehen verhelfen würden. 1846 verließ er Berlin, um in Halle weiterzustudieren. Hier promovierte er zum Doktor der Philosophie mit seiner Arbeit Über die rechte Art der Bibelinterpretation.21 Die Dissertation galt als verschollen, aber ein Artikel Hildesheimers unter dem Titel „Materialien zur Beurteilung der Septuaginta"22 aus dem Jahre 1848 scheint Teile davon zu enthalten.23 Nach seiner Promotion kehrte Hildesheimer nach Halberstadt zurück, wo er sich neben seinen Studien auch um die administrativen Angelegenheiten der Halberstädter Gemeinde kümmerte. In dieser Zeit war die Reformbewegung auch schon in seiner Heimatstadt spürbar.24 Der Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, der Magdeburger Rabbiner Ludwig Philippson (1811-1890), trat in der Zeitung für die Verbreitung der Reform ein, und seine Gedanken wurden durch die auch im Ausland gelesene Zeitschrift überregional bekannt. Direkte Spannungen zwischen Reformern und Orthodoxen in Halberstadt entstanden, als am 3. März 1847 eine Verordnung der staatlichen Behörden erschien, in der es Juden erlaubt wurde, um amtliche Genehmigung zum Austritt aus ihren Gemeinden zu bitten. Acht jüdische Bürger Haiberstadts nutzten diese Möglichkeit und suchten die Behörden der Stadt um die Genehmigung an, die (orthodoxe) Gemeinde verlassen zu dürfen. Diese Aktion - hinter der Hildesheimer Ludwig Philippson als Initiator vermutete - führte zu einer inneren Krise der Gemeinde.25 Um einen Bruch innerhalb der Gemeinde Halberstadt zu verhindern, erklärte Hildesheimer in seinem Pamphlet „Die Verwaltung der Jüdischen Gemeinde Halberstadt",26 dass die Gemeinde die innerjüdischen Probleme ohne Einmischung der staatlichen Behörden selbst lösen sollte. Es sei ein Fehler, dass die Austrittsgenehmigungen ohne Zustimmung der Orthodoxen erteilt worden waren. Von dieser Argumentation beeindruckt, nahmen die Behörden die Genehmigungen zurück, und so konnte zumindest die formale Einheit der Gemeinde gewahrt werden.27 Die Art und Weise der Argumentation sowie die (deutsche) Sprache des Pamphlets zeigten auch den schon akkulturierten Gemeindemitgliedern, dass man mit neuen Persönlichkeiten innerhalb der Orthodoxie rechnen musste; mit Persönlichkeiten, die erkannt hatten, dass Orthodoxie und Modernität einander nicht ausschließen müssen. Hildesheimer, dessen Denken und Lebenslauf im Zeichen der Verbindung
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Ebd., 15. Zit. n. Samuel Daiches, Rabbi Israel Hildesheimer. Ein Lebensbild, Berlin 1900, 9. Erschien 1848 im Literaturblatt des Orients; zit. n.: Daiches, Rabbi Israel Hildesheimer, 9. Ebd., 9. Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer, 28. Ebd., 28. Zit. n. ebd., 30. Ebd., 32.
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von Modernität und Tradition stand, machte schon während dieses Konflikts deutlich, dass er, um die Reformbewegung zu „bekämpfen", sich deren eigener Mittel zu bedienen bereit war. Im selben Jahr organisierte Ludwig Philippson in Magdeburg eine Versammlung von Gemeindevertretern aus ganz Sachsen. Ziel, so erklärte er, sollte die Vermittlung reformerischer Positionen innerhalb der Religion sein. Sein erster Vorschlag war, die „Synagogengemeinden" von den Gemeinden zu trennen, das heißt, die Reformgruppierungen der Hoheit der Orthodoxen zu entziehen.28 Esriel Hildesheimer und sein Schwager Josef Hirsch, die als Vertreter der Gemeinde Halberstadt an der Versammlung teilnahmen, verließen den Raum noch vor der Abstimmung. Sie beanstandeten, dass Philippson lediglich organisatorische Probleme als Grund für die Einberufung der Versammlung genannt und somit seine wahren Absichten verborgen hatte. Kurze Zeit darauf begründete Hildesheimer sein Verhalten während der Versammlung in einer Artikelserie der Zeitschrift Der Orient. Er stellte fest, dass die Versammlung die Grundprinzipien der Demokratie verletzt habe, da die Delegationen mit einer „falschen Begründung" nach Magdeburg eingeladen wurden; zudem waren diese Delegierten in den Augen Hildesheimers in religiösen Fragen nicht zuständig, - sie besäßen nicht die Autorität, in solch wichtigen Fragen zu entscheiden.29 Diese Artikelserie erregte großes Aufsehen und begründete Hildesheimers Ruf, einer der erbittertsten Gegner der Reformbewegung zu sein. Dank seiner Bekanntheit, die auf diesen Artikeln und nicht zuletzt auf seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen beruhte, bot ihm die Gemeinde von Eisenstadt 1851 eine Stelle als Rabbiner an. Diefolgenden achtzehn Jahre seines Lebens in Eisenstadt sind als erste große Periode der Tätigkeit Hildesheimers auf dem Gebiet der jüdischen Bildung zu betrachten. Erstmalig konnte er seine Überzeugungen und Vorstellungen über jüdische Bildung in konkreter Form, in Gestalt einer Jeschiwa, verwirklichen. Modernität und Tradition waren kennzeichnend für diese Jeschiwa, die im Mitteleuropa jener Zeit einzigartig war. Hildesheimer und seine Zeitgenossen wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch oder Rabbiner Seligmann Baer Bamberger sprachen Deutsch und waren (dank der allgemeinen Schulpflicht) mit der deutschen Kultur vertraut. Diese drei Elemente, nämlich Erziehung, Bildung und Sprache,30 machten den grundlegenden Unterschied aus zwischen „alter" und „neuer" (moderner) Orthodoxie. Dieser zeigte sich während der Tätigkeit Hildesheimers in Ungarn noch deutlicher, wo er gegenüber den traditionellen ungarischen Rabbinern ein eindeutig „modernes" Modell der Orthodoxie vertrat. Die von ihm vorrangig verwendete Sprache - die deutsche - hatte seine Verbindung zur Umgebung, zur Kultur der nichtjüdischen Gesellschaft gestärkt wie sie auch allgemein zur Modernisierung innerhalb der deutschen Orthodoxie beitrug. 28 29 30
Ebd., 34. Ebd., 34f. Mordechai Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich (1871-1918), Frankfurt a.M. 1986, 29.
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In einer gewandelten historischen Situation war die Neo-Orthodoxie ein Versuch, auf die neuen Herausforderungen zu reagieren.31 Wie Samson Raphael Hirsch, der wohl wichtigste Denker der deutschen NeoOrthodoxie, 32 hielt auch Hildesheimer Erziehung und Bildung für seine größte Aufgabe.33 Hirsch und Hildesheimer waren sich darüber einig, dass modernes Wissen in der Erziehung der Jugend - der Jungen und der Mädchen - eine Rolle spielen müsse. Gerade hierdurch sahen sie sich als „Verbündete" im Kampf mit der Reformbewegung. Allerdings bestand ein Unterschied zwischen beider Vorstellungen über die Art und Weise der Erziehung und bezüglich des Konzepts der Bewahrung der Orthodoxie. Während Hirsch die Verflechtung und gegenseitige Ergänzung von Thora-Studium und weltlichem Beruf forderte, betonte Hildesheimer die Priorität des Thorastudiums, dem die weltlichen Kenntnisse unterzuordnen seien. Die Erneuerung der Orthodoxie stellte Hirsch sich „von unten" vor: durch Gemeinden, deren „selbstbewusste" orthodoxe Mitglieder sich gleichzeitig auch ihrer Umgebung anpassten; Hildesheimer hingegen wollte eben diese Erneuerung mit Hilfe einer neuen, gebildeten Elite „von oben" verwirklichen. Die Jeschiwa in Eisenstadt „Dagegen rathe ich sehr, eine annembahre Stelle in Ungarn anzunehmen. Hier ist noch Thorah und Kavod haThorah, hier ist noch echt jüdisches Leben",34 schrieb Esriel Hildesheimer im Jahr 1860 seinem Freund Rabbiner Dr. Zeev Wolf Feilchenfeld. Zu dieser Zeit lebte er schon seit neun Jahren mit seiner Familie in Eisenstadt, und seine Begeisterung für die Interessen der ungarischen Orthodoxie schien noch ungebrochen. Die Gemeinde in Eisenstadt hatte den jungen Rabbiner eingeladen - er war 31 Jahre alt - , den Posten des Rabbiners anzunehmen. Seine öffentlichen Auftritte im Kampf gegen die Reformbewegung, seine wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten hatten die Aufmerksamkeit auf seine Person gerichtet. Das Rabbinat der wichtigsten der „Sieben Gemeinden" war ein bedeutendes Amt im damaligen Ungarn. Diese Gemeinden waren auf dem Grundbesitz der Familie Eszterhäzy entstanden. Die Privilegienurkunden aus dem Jahr 1690 sicherten den Gemeinden die Autonomie in ihren inneren Angelegenheiten zu; die Erfüllung der Verpflichtungen der jüdischen Bevölkerung der Sieben Gemeinden gegenüber ihrem Herzog wurden vom Vorstand der Eisenstädter Gemeinde kontrolliert und koordiniert. Die Sieben Gemeinden bildeten die Grundlage der Orthodoxie in Westungarn, wo der Einfluss von Chatam Sofer besonders zu spüren war. Umso misstrauischer 31 32
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Ebd., 31. Vgl. Samson Raphael Hirsch, Neunzehn Briefe, Zürich 1987 (erste Ausgabe 1836), insb. 58, 107. Siehe Esriel Hildesheimer, Briefe, hg. von Mordechai Eliav, Jerusalem 1965, 46. Thora und Kavod haThora [hebr.]: Thora und die Ehre der Thora; Hildesheimer, Briefe, 21f.
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beobachteten viele den „deutschen Doktor",35 - Hildesheimer war der erste deutsche Rabbiner mit „säkularer" Ausbildung in Ungarn. Die feindlichen Äußerungen sowohl seitens der Vertreter der Orthodoxie als auch der Reformbewegung - die Reformer hielten Hildesheimer für einen „ Heuchler",36 der „unter der Decke" der Wissenschaft lediglich die alte, versteinerte Tradition bewahren wollte - weisen auf Ängste vor dem „neuen Typ" des orthodoxen Rabbiners innerhalb der verschiedenen Parteien hin. Diese äußerten sich gar in Form von Verdächtigungen gegen seine Person; bei der kaiserlichen Regierung erging eine Anzeige wegen gefährlicher Agitation in politischen und religiösen Fragen.37 Trotz solcher Angriffe gelang es Hildesheimer schon in den ersten Monaten, eine gemeindeeigene Schule zu gründen, in der säkulare und religiöse Fächer unterrichtet wurden. Dieser Einrichtung folgte noch in seinem ersten Amtsjahr die Gründung der Jeschiwa, mittels derer er seinen lange gehegten Wunsch, dem Pragmatismus des Prinzips „Thora im derech eretz" auch in der Praxis zu entsprechen, verwirklichen konnte. Hildesheimer hatte erkannt, dass den orthodoxen Juden in Ungarn ein ähnliches Schicksal bevorstand wie dem „alten" deutschen Judentum, falls keine Versuche der Erneuerung unternommen würden. So war die von ihm gegründete Jeschiwa die erste, in deren Studienplan auch säkulare Fächer aufgenommen wurden. Siebzig Prozent der Unterrichtszeit wurden für religiöse Studien angesetzt; in den restlichen Stunden wurden verschiedene „weltliche" Fächer gelehrt. Das Hauptgewicht lag auf dem Studium des Talmud, dem täglich mindestens fünf bis sechs Stunden gewidmet waren. Außerdem fanden ausführliche Studien zum Tanach und zur Grammatik des Hebräischen einschließlich Stilübungen statt. Auch in die philosophisch-ethische Literatur und in die Geschichte wurden die Schüler umfassend eingeführt. Mit der Zeit zog Hildesheimer die älteren und begabteren Schüler zur Mithilfe heran, so dass diese selbst Schiurim leiteten und nach seinen Anleitungen den Jüngeren bestimmte Pensa in Geschichte vortragen mussten. Er bildete darüber hinaus den geistigen Mittelpunkt des von den Bachurim geleiteten sogenannten Charifot-Vereins,38 in welchem die theoretische Behandlung des talmudischen Stoffes und dessen Verwertung für die rituelle rabbinische Entscheidung (p 'saq din) erörtert wurde.39 Neben seiner Tätigkeit als Rabbiner unterrichtete er selbst Talmud, Latein, Griechisch, Deutsch und Mathematik.40 Um seine Schüler in die deutsche Kultur einzuführen, las er mit ihnen klassische Werke, er selber schätzte besonders die Dichtung von Heinrich Heine:
Daiches, Rabbiner Israel Hildesheimer, 11. Ebd., 291. Ebd., 1. S. Eppstein, Das Leben und Wirken von Rabbiner Hildesheimer, in: Jeschurun 1920, Nr. 5-6, 271-317, hier 292. Ebd., 292. Ebd., 293.
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„Am Join tow [ . . . ] setzte er sich in den grossen Lehnstuhl im Schlafzimmer, wir Kinder um Ihn. [...] Der Vater sang uns dann deutsche Lieder vor, vor allem sein Lieblingslied, das jedesmal auch für uns Kinder die Hauptanziehung war, ,Die zwei Grenadiere' von Heine." 41
Grundgedanke der von Hildesheimer praktizierten der Unterrichtsmethode war, dass alle weltlichen Fächer zum Traditionellen einen Berührungspunkt finden und als Ergänzung des Thora- und Talmudstudiums dienen mussten. Die Beschäftigung mit der deutschen Kultur in der Jeschiwa ließ andererseits verstärkt die Meinung aufkommen, dass es sich hier um ein deutsches Institut handele, und schon deshalb wurde sie in den sich zunehmend ungarisierenden jüdisch-bürgerlichen Kreisen mit großem Misstrauen beobachtet. Doch die Jeschiwa entfaltete sich im Laufe der Zeit rapide, obwohl sie stetig mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfen musste. Über einen eigenen Fonds verfügte das Institut nicht, es war deshalb auf großzügige Unterstützung der Gemeindemitglieder, vor allem auf Spenden angewiesen. Hildesheimer war gezwungen, neben seinen Aufgaben als Lehrer und Rosch Jeschiwa auch noch für den Erhalt seines Instituts zu sorgen und das nötige Geld aufzubringen. 42 In den 1850er Jahren scheint die Position Hildesheimers innerhalb der Orthodoxie noch vergleichsweise stark gewesen zu sein. Sein Wissen, seine Fähigkeiten, sein tiefer Glauben prädestinierten ihn dafür, das Vakuum, das nach dem Tod von Chatam Sofer entstanden war, auszufüllen. 43 Tatsächlich hat er in bestimmtem Rahmen im Ungarn der 1850er Jahre Wirkung gehabt und Ansehen genossen. Doch als absolute Autorität innerhalb der Orthodoxie wurde er nicht anerkannt. Weder die chassidischen Rabbiner, wie Hillel Lichtenstein aus Szikszo, noch die anderen orthodoxen Rabbiner haben seine Bestrebungen, Modernität und Orthodoxie zu verbinden, akzeptiert.44 Seitens der Reformbewegung griff ihn Rabbiner Lipot Low in seinem Artikel „Neuester Fortschritt der jüdisch-theologischen Studien in Ungarn" in der Zeitschrift Ben Chananja an: „Eine noch merkwürdigere Konzession ist die Aufnahme des ,deutschen Unterrichtes', worunter der Verf. die Kenntniß der deutschen Sprache, etwas Geografie und Geschichte, etwas Mathematik und etwas Latein versteht. Es ist lehrreich zu beobachten, w i e die
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Esther Calvary, Kindheitserinnerungen, in: Bulletin des Leo Baeck Institutes 8 (1958), 187193, hier 189. Mordechai Eliav, Das öffentliche und erzieherische Wirken Rabbi Esriel Hildesheimers in Eisenstadt, in: Shlomo Spitzer (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Juden im Burgenland, Wien 1993, 65-81, hier 70. Michael K. Silber, The Emergence of Ultra-Orthodoxy. The Invention of a Tradition, in: Jack Wertheimer (Hg.), The Uses of Tradition. Jewish Continuity in the Modern Area, Cambridge, Mass. 1993, 23-84, hier 31. Die Tatsache, dass er nach Preßburg eingeladen wurde, belegt nicht zwingend die Ansicht Walter Pietschs über die führende Rolle von Esriel Hildesheimer. Vgl. Walter Pietsch, Reform es Orthodoxia, Budapest 1998, 60.
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Träger der Orthodoxie, trotz ihrer Maxime, es müsse Alles und Jedes beim Alten bleiben, dennoch allmächtig nachgeben und sich gegenseitig desavouiren." 45
Lipot Low, die wohl wichtigste Persönlichkeit der ungarischen Reformbewegung, sah keinerlei Unterschied zwischen der von Hildesheimer vertretenen Neo-Orthodoxie und der ungarischen Orthodoxie. Zugleich sprach er Hildesheimer die Fähigkeit ab, säkulare Fächer unterrichten zu können. Woher wollte denn ein orthodoxer Rabbiner „von heute auf morgen" wissen, wie die Wissenschaft seinen Schülern zu vermitteln sei?46 Diese Angriffe galten nicht nur dem orthodoxen Rabbiner, der sich in wissenschaftliche Angelegenheiten einzumischen „wagte", sondern auch dem „deutschen Doktor", - Lipot Low war einer der Befürworter der Ungarisierung der Juden. Die Tatsache, dass ein deutscher Orthodoxer, der gleichzeitig ein wissenschaftlich gebildeter Rabbiner war, an inneren ungarisch-jüdischen Debatten teilnahm, ja sogar versuchte, darin eine führende Rolle zu spielen, missfiel Lipot Low und anderen bedeutenden Personen der Reformbewegung zweifellos. Sowohl das „Deutschsein" als auch das „Orthodoxsein" Hildesheimers boten den Reformern Angriffspunkte. Esriel Hildesheimers Modernisierungskonzept stieß bereits in den 1850er Jahren auf die Ablehnung der ungarischen Orthodoxen und Reformer. Denn seine Ideen setzten im Grunde eine schon modernisierte jüdische Gesellschaft voraus, - wie in Deutschland, wo am Ende der 1830er Jahre die traditionelle bereits mehr oder minder der Vergangenheit angehörte.47 Die dramatische Umwandlung der wichtigsten Institutionen - von Kehilla, Jeschiwa, Rabbinat etc. - hatte die Grundlagen der traditionellen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland schon zur Zeit von Hildesheimers Kindheit und Jugend brüchig gemacht. Die von den deutschen Behörden eingeführten Neuerungen im Schulwesen hatten beispielsweise dazu geführt, dass 1842 allein in Baden schon 4248 moderne jüdische Schulen existierten, währenddessen in ganz Ungarn 1846 nach jahrelangen „Kampagnen" der Reformer nur 29 Gemeinden mit modernen Schulen gezählt werden konnten. Solche Schulen, die eine besondere Rolle im Akkulturationsprozess der deutschen Juden spielten, entstanden in Ungarn in größerer Zahl erst nach 1849. Außerdem hatte sich auch die Stellung des Rabbiners in Deutschland verändert, nicht zuletzt durch den Einfluss der staatlichen Behörden, nämlich indem diese für die Besetzung eines Rabbinerpostens immer öfter eine akademische Ausbildung zur Bedingung machten. Im Jahr 1847 verfügten bereits 67 deutsche Rabbiner über einen Universitätsabschluss, unter ihnen etliche orthodoxe. In Ungarn dagegen war Esriel Hildesheimer der erste „Doktor"-Rabbiner gewesen, und er blieb noch lange der einzige Rabbiner mit Universitätsabschluss. Hier waren weder die Möglichkeiten für ein Universitätsstudium gesichert, noch forderte der Staat solch einen Abschluss von einem Rabbiner. Diese Phase der Modernisierung
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Lipot Low, Neueste Fortschritte der jüdisch-theologischen Studien in Ungarn, in: Ben Chananja, 1858, Nr. 6., 241-257, hier 246. Ebd., 248. Silber, The Historical Experience, 130. Ebd., 131.
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konnte in Ungarn in vollem Umfang erst nach 1867 einsetzen. Aber gerade in der Zeit unmittelbar nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich, als er während des Kongresses der „ungarischen Israeliten" erkannte, wie wenig er in Ungarn bewirken konnte, erfuhr Hildesheimer eine vollständige Desillusionierung.
Der „israelitische" Landeskongress 1868/69 Der W e g zum Kongress Im langjährigen Kampf zwischen Orthodoxie und „Neologie", gegen oder für die kulturelle Assimilation der Juden, kam es während der 1860er Jahre zu den heftigsten Auseinandersetzungen. Selbst innerhalb der Orthodoxie bildeten sich unterschiedliche Richtungen aus. Als Casus belli für die erneute Auseinandersetzung diente die Neuauflage der staatlichen Pläne zur Errichtung eines Rabbinerseminars. Die ungarischen Maskilim hatten seit den 1820er und 1830er Jahren die traditionellen Werte und Lebensformen allein schon durch ihre Existenz in Frage gestellt. Ihre Ideen liefen auf die Auflösung eines mehr oder weniger einheitlichen jüdischen Bewusstseins in Ungarn hinaus. Auch der Plan, ein Rabbinerseminar zu errichten, griff die orthodoxen Rabbiner und die althergebrachte Rabbinerausbildung direkt an. Die Reformer bezeichneten die Jeschiwot als unzureichend und die orthodoxen Rabbiner als ungebildet und bezweifelten somit ihre Legitimität: „[Wir] geben es ihnen zu, daß ihr Judenthum [...] überhaupt nicht mit Bildung und Cultur sich vereinigen lasse, und daß die Religion, die sie angeblich verfechten, nur Gelehrte duldet, die nicht lesen und schreiben können."49 Im Jahr 1864 ernannte die Regierung eine ausschließlich aus Vertretern der Reformbewegung bestehende beratende Kommission, deren Aufgabe es war, ein Ausbildung sprogramm für das Seminar auszuarbeiten.50 Die Rabbiner, die die Mehrheit der ungarischen Juden vertraten, wurden in dieser das ganze ungarische Judentum betreffenden Frage nicht um Mitwirkung gebeten. Die Orthodoxie reagierte empört. Sie berief - unter der Führung von Rabbiner Jehuda Aszod51 - eine Versammlung ein, um defensive Maßnahmen einzuleiten. Die Rabbiner versammelten sich am 15. März 1864 in Nyiregyhäza52 und beschlossen, dem Kaiser eine Petition zu überreichen, in der sie darauf hinwiesen, dass ein solches Seminar das ungarische Judentum nicht nur in seinen Grundfesten erschüttern, sondern darüber hinaus seine Loyalität und Moral gefährden würde. Eine Delegation von sieben Rabbinern überreichte dem Kaiser die Petition,53 - und Franz Joseph I. gab der Bitte tatsächlich statt. Die Aus-
49 50 51 52 53
Zit. n.: Die Neuzeit (1868), Nr. 10, 483. Eliav, Das öffentliche und erzieherische Wirken, 73. Jehuda Aszöd (1794—1866): Rabbiner von Dunaszerdahely. Venetianer, A magyar zsidosäg, 276. Moshe Carmilly-Weinberger, One hundred Years of the Seminary in Retrospect, in: ders. (Hg.), The Rabbinical Seminary of Budapest, New York 1986, 3^t8, hier 7.
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führang der Pläne zur Einrichtung des Rabbinerseminars wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Während dieser Versammlung in Nyiregyhäza zeichneten sich die verschiedenen Interessengruppen innerhalb der Orthodoxie ab. Auch Hildesheimer nahm an dieser Versammlung teil, auf der sich der Konflikt zwischen ihm und der Mehrheit der anwesenden Rabbiner vertiefte. Hildesheimer vertrat seine Auffassung, dass ein Rabbinerseminar mit orthodoxen Persönlichkeiten an der Spitze und einem Ausbildungssystem wie dem der Jeschiwa in Eisenstadt die Orthodoxie nur kräftigen würde.54 Er schlug vor, die Regierung in ihrem Vorhaben bewusst zu unterstützen, um auf diese Weise die Neologen aus den Planungen fernzuhalten. Seine positive Einstellung stieß auf heftigen Widerstand; die Mehrheit war davon überzeugt, dass solch ein Seminar dem Thora- und Talmudstudium und der Stellung der Rabbiner in Ungarn schaden würde. 1865 berief Rabbiner Hillel Lichtenstein aus Szikszo erneut eine Versammlung ein, dieses Mal in Nagy-Mihäly. Die dort versammelten 24 Rabbiner lehnten jeglichen Modernismus grundsätzlich ab und vertieften auf diese Weise die Konfrontation innerhalb der jüdischen Gemeinden zwischen orthodoxen Mitgliedern und Neologen noch mehr. Auf dieser Versammlung wurde von 69 Rabbinern ein Dekret verabschiedet (rabbinische Entscheidung, „p 'saq din"), auf dessen Grundlage über alle Juden der Bann verhängt werden sollte, die sich auch nur auf geringfügige Neuerungen in der Synagoge einließen oder auch nur gegen einen einzigen alten Brauch verstießen.55 Diese Entscheidungen wandten sich nicht allein gegen die Reform, sondern auch gegen Hildesheimer und seine Sympathisanten persönlich.56 Da Hildesheimer seinen Neuerungen halachische Legitimität verlieh, hielt ihn mancher chassidische Rabbiner für noch gefährlicher als die Reformer. 57 Die Träger dieses Dekretes, die von Michael K. Silber als „Ultra-Orthodoxy" bezeichnete Gruppe,58 stand nicht nur mit den Neo-Orthodoxen, sondern auch mit den „oberländischen" Rabbinern im Konflikt. Letztere waren nämlich bereit, die Vorstellungen von Chatam Sofer ein wenig liberaler zu interpretieren und Predigten in deutscher und ungarischer Sprache in der Synagoge und in den Gemeinden zu akzeptieren. Dies führte dazu, dass die „unterländischen" chassidischen Rabbiner gegenüber Preßburg, dem geistigen Zentrum der „oberländischen" deutschsprachigen Orthodoxie in dieser Zeit, immer mehr misstrauten. Es kam aber nicht zur offenen Konfrontation, da es die führenden „oberländischen" Rabbiner vorzogen, keine öffentliche Antwort zu geben. Der einzige, der dies tat, war Rabbiner Hildesheimer. Er stand mit seiner Haltung allein und bekam keine Unterstützung, obwohl ein großer Teil der ungarischen Rabbiner die Entscheidungen von Nagy Mihäly nicht als allgemein geltend betrachtete. 54 55 56 57 58
Eliav, Das öffentliche und erzieherische Wirken, 73. Venetianer, A magyar zsidosäg, 277. Silber, The Emergence of Ultra Orthodoxy, 41. Eliav, Das öffentliche und erzieherische Wirken, 76. Silber, The Emergence of Ultra-Orthodoxy, 37.
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Das Gesetz über die rechtliche Gleichstellung der Juden Während die Kluft innerhalb der jüdischen Gesellschaft immer tiefer wurde, näherte sich die Frage der jüdischen Emanzipation ihrer politischen Lösung. Ungarn selbst stand am Beginn einer neuen politischen und wirtschaftlichen Epoche. Da die Habsburger, um die Monarchie zu stabilisieren, zu jedem Kompromiss bereit waren, suchten sie die Möglichkeit eines Ausgleichs mit der politischen Elite Ungarns. Im Jahr dieses politischen Ausgleichs und der gleichzeitigen „Gründung" der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde im ungarischen Parlament der Gesetzesartikel Nr. XVII verabschiedet. Das Gesetz vom 25. November 1867 sicherte den „ungarischen Israeliten" die volle bürgerliche Gleichberechtigung zu. Es besagte in § I, dass die „israelitischen Einwohner" des Landes mit den christlichen bezüglich der bürgerlichen und politischen Rechtsausübung gleichgestellt sind. In § II hieß es, dass jedes dazu in Gegensatz stehende und seinem Geist widersprechende Gesetz sowie jede derartige Gepflogenheit und Verordnung aufgehoben sind.59 Das Gesetz definierte das Judentum als Religion, nahm aber von der „israelitischen" Konfession als religiöse Körperschaft keine Kenntnis. Die Anerkennung der jüdischen Religion im Sinne einer solchen Konfession erfolgte erst 1895, als das Parlament das Gesetz über die Gleichstellung der jüdischen mit den christlichen Konfessionen verabschiedete; diesem zufolge war die Heirat zwischen Juden und Christen nunmehr erlaubt und die Konversion von Christen zum Judentum möglich. Mit der Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte gewann die jüdische Reformbewegung immer mehr an Boden. Die Neologen drängten auf eine Regelung für die Organisation der jüdischen Gemeinden, um ihre Neuerungen auf gesetzlicher Basis durchsetzen zu können. Die den Juden zugesicherte Emanzipation unterstütze die Assimilation, die größte Gefahr für die Orthodoxie, sogar auf zwei Ebenen. Einerseits war es auch den Orthodoxen klar, dass die Emanzipation letztendlich die Assimilation des einzelnen Juden begünstigte, was die Neologen stärkte. Andererseits gewannen die Erwartungen der Regierung eines mit Österreich gleichgestellten Staates bezüglich der Ungarisierung (d.h. der Annahme der ungarischen Sprache und der ungarischen nationalen Identität) in dieser Zeit an Intensität. Diese Erscheinung deutete übrigens auf das spezifische Problem des ungarischen „National"-Staates hin, dass nämlich die „herrschende" Nationalität in Ungarn - die ungarische - sich gegenüber der Gesamtheit der anderen Nationalitäten - Rumänen, Slowaken etc. - in der Minderheit befand und im Gegenzug für die „Emanzipation" Unterstützung und die Assimilation an die Ungarn erwartete. Das bedeutete, dass sich das ungarische Judentum reformieren sollte, um sich an die herrschenden ungarischen nationalen Vorstellungen anpassen zu können. Die schon während des Vormärz geforderten Änderungen im Ritus, die Modernisierung des jüdischen Schulwesens, sollten jetzt fortgeführt werden mit dem Ziel, dass nur noch sehr wenige Unterschiede und Barrieren zwischen Juden und ihrem 59
Thomas Domjän, Der Kongreß der ungarischen Israeliten 1868-1869, in: Ungarn Jahrbuch. Zeitschrift für die Kunde Ungarns 1 (1969), 139-162, hier 139.
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christlichen Umfeld bestehen blieben. Der Kultusminister Freiherr Jozsef Eötvös stieß bei den Vertretern der assimilationswilligen jüdischen Bürger von Pest, dem wichtigsten Handelszentrum des Landes, auf treue Verbündete zur Durchsetzung dieser Ziele. Sowohl die Bewegungen im Inneren der jüdischen Gesellschaft als auch der Druck seitens des Staates zur Assimilation zwangen also die unterschiedlichen Parteien und auch den Staat, auf einer gemeinsamen Plattform die Lösung dieser Probleme zu suchen. Deshalb überraschte es keine der Parteien, als die ungarische Regierung für den 10. Dezember 1868 die Vertreter der ungarischen Juden zu einer „universalen" Versammlung zusammenrief. Der „universale" Kongress (Der Israelitische Landeskongress) Die Initiative von außen, nämlich der Wille der ungarischen Regierung zur Integration der jüdischen Gemeinden in den Staat, sowie die Initiative seitens der Neologen und besonders der Pester Gemeinde, den Erwartungen der ungarischen Politik zu entsprechen und die Konflikte zu lösen, führten bereits im Jahr 1867 zu fieberhaften Vorbereitungen des Kongresses. Drei zentrale Fragen60 sollten im Mittelpunkt des Kongresses stehen: erstens die Frage der Verwendung des Schulfonds für die Einrichtung eines Rabbinerseminars, zweitens die des Schulwesens und drittens die der Schaffung einer Landesorganisation der jüdischen Gemeinden, die in den inneren Angelegenheiten des Judentums selbst entscheiden konnte. Hierdurch sollte die noch erhalten gebliebene Autonomie der einzelnen Gemeinden gesichert werden, wobei eine zentrale Organisation die Gemeinden zusammenhalten und kontrollieren sollte. Es war für alle Parteien klar, dass diese Fragen die „Machtverhältnisse" und den zukünftigen Weg des ungarischen Judentums entscheiden würden. Im April 1867 reichten die Gemeindevertreter von Pest dem Kultusminister ein Memorandum ein, um einen solchen Kongress zusammenzurufen.61 Dabei zeigen die Vorschläge der Neologie eindeutig, dass mit Unterstützung des Staates die inneren Machtverhältnisse des ungarischen Judentums verändert werden sollten. Dieses Memorandum wurde auch den Gemeinden zugeschickt - mit dem Effekt, dass dem Minister kurz darauf von den führenden Rabbinern der ungarischen Orthodoxie ein „Gegen-Memorandum"62 im Namen von 120 „altgläubigen" Gemeinden eingereicht wurde, das anschließend auf Deutsch, auf Hebräisch und auf Ungarisch im ganzen Land verbreitet wurde. In diesem „Gegen-Memorandum" akzeptierte die Orthodoxie den Gedanken einer Landesversammlung allein unter der Bedingung, dass man sich in einigen Punkten schon vorher einigte. So sollte die Regierung für die Vorbereitung des Kongresses ehrwürdige Männer, „altgläubige" und „neugläubige" in gleicher Zahl, zusammenrufen, damit sich die realen Verhältnisse widerspiegelten. Außerdem 60
61 62
Zsigmond Groszmann, A magyar zsidok törtenete a XIX. szäzad közepen [Geschichte der ungarischen Juden Mitte des 19. Jahrhunderts], Budapest 1925, 90. Ebd., 85f. Ebd., 87.
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sollte festgelegt werden, ob der Kongress eine beratende oder gesetzgebende Funktion erfüllen sollte.63 Hier fällt die intensive „politische" Tätigkeit der Orthodoxie ins Auge. Die Orthodoxie, gegen die Neologie und jegliche Modernisierung kämpfend, bediente sich, um ihr Ziel, die Bekämpfung der Reform und die Rückkehr zur Tradition zu erreichen, selbst politisch moderner Mittel - Rundbriefe, Zeitschriften, Vereine. Dies stellte eine gewisse innere Flexibilität und taktischen Scharfblick der Orthodoxie unter Beweis, den ihre Gegner nicht erwartet hätten. Nach der Veröffentlichung des Gegenmemorandums wurde, noch in selbem Jahr 1867, der orthodoxe Verein Schomre ha-Dat (Glaubenswächter) ins Leben gerufen, um die Orthodoxie für den bevorstehenden Kongress zu organisieren.64 Der Verein gab auch eine Wochenzeitung heraus, den Magyar Zsido (Ungarischer Jude), in dessen erster Nummer vom 10. November 186765 ein Aufruf mit den Zielen des Vereins abgedruckt wurde. Dementsprechend wollte der Verein das orthodoxe Judentum vor allen rechtswidrigen Angriffen schützen, allen orthodoxen Gemeinden und Juden, die ihres Glaubens wegen zu leiden hatten, seine Hilfe anbieten sowie durch diese Zeitung die ungarische Sprache unter den orthodoxen Bevölkerungsschichten noch stärker verbreiten. Diese Vereinsgründung, bei der führende orthodoxe Rabbiner mitwirkten, löste gleichwohl innerhalb der Orthodoxie insgesamt keine Begeisterung aus. Die UltraOrthodoxie identifizierte den Verein mit Hildesheimer und nannte die Vereinsmitglieder statt „Schomre ha-Dat" (Glaubenswächter) „Schomdei ha-Dat" (Glaubenszerstörer).66 Hildesheimer war bewusst, dass sich diese Kritik erneut auf ihn richtete: „Schomre Hadat hat vor Allem mir den Handschuh hingeworfen, indem der Verein mich und meine gründlichen im Israelit gelieferten Auseinandersetzungen und Beweisführungen Lügen straft, mich selbst [...] in den Augen des Ministers und des ganzen Publikums, dem mein Standpunkt sehr wohl bekannt ist, blosstellte [...]. Ich werde diesen Handschuh nicht aufnehmen, habe seit mehr als 17 Jahren so Vieles niedergezwungen, und so wird es mit diesem auch geschehen." 67
Da die Orthodoxie sich zu organisieren und für den Kongress vorzubereiten begann und die gegenseitigen Beschuldigungen von Neologen und Orthodoxen immer häufiger wurden, beschloss Kultusminister Eötvös, den Kongress endlich einzuberufen und beauftragte Ignaz Hirschler, den Vorsitzenden der Pester Gemeinde, eine Kommission für die Vorbereitung des Kongresses zusammenzustellen. Am 17. Februar 1868 trat diese zusammen, um die Wahlstatuten für die Delegiertenwahl auf dem Kongress zu konzipieren. Dem ausgearbeiteten Wahlstatut entsprechend konnten nur Delegierte gewählt werden - insgesamt 220 - , die in einer der offiziellen Sprachen Ungarns (Deutsch 63 64 65 66 67
Domjän, Der Kongreß, 146. Ebd., 141f. Ebd., 142. Zit. n. Silber, The Emergence of Ultra-Orthodoxy, 45. Hildesheimer, Briefe, 57.
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oder Ungarisch) schreiben und lesen konnten und nicht im Dienst der Gemeinden standen. Damit wurden die Rabbiner sowie die zahlreichen hauptsächlich Jiddisch und Hebräisch sprechenden Juden, die vor allem aus den nordöstlichen Gebieten Ungarns kamen, von der Wählbarkeit ausgeschlossen. Offensichtlich war damit die Schwächung der Positionen der Orthodoxie beabsichtigt; durch die Ausgrenzung der Rabbiner sollte der nichtreligiöse Charakter des geplanten Kongresses betont werden - inwiefern das unmöglich war, stellte sich im Laufe des Kongresses heraus. Zweitens wurde empfohlen, dass innerhalb der Gemeinden die Mehrheit die Richtung (ob orthodox oder neolog) bestimmen sollte. Grundsätzlich sollten aber auf Bitte von zwanzig steuerzahlenden Mitgliedern die Gemeinden auch für die Erhaltung eines Gebetshauses Sorge tragen. In der Frage des Schulwesens schlug die Kommission vor, ein modernes Rabbinerseminar und ein Lehrerseminar aufzubauen; außerdem sollte jede Gemeinde verpflichtet werden, eine Grundschule einzurichten. Kaum war diese Vorbereitungskonferenz beendet, wurde in den Reihen aller Parteien heftige Kritik an den Wahlstatuten geübt. Die Empörung der orthodoxen Rabbiner über den Entzug des aktiven und passiven Wahlrechtes war so groß, dass sich Eötvös am 5. Juli 1868 in seiner Schrift „Das Statut bezüglich der Wahl der Deputierten zur universalen Religionsversammlung der ungarischen und siebenbürgischen Israeliten"68 veranlasst sah, es zuzulassen. Nach der Entscheidung des Ministers konnte jeder volljährige „Israelit", der Mitglied einer Gemeinde war und eine der Landessprachen im Lesen und Schreiben beherrschte, als Deputierter gewählt werden. Die Wahl am 18. November 1868, in der landesweit 220 Deputierte gewählt wurden, ähnelte einer Abgeordnetenwahl. Als sich diese Deputierten etwa einen Monat später, am 14. Dezember, im Festsaal des Pester Rathauses zu den Eröffnungsfeierlichkeiten des Israelitischen Landeskongresses versammelten - davon 88 orthodoxe, unter ihnen auch Esriel Hildesheimer, und 132 neologe69 - betonte Baron Eötvös in seiner Rede: „Indem der Staat es Ihnen überläßt, Ihre Angelegenheiten so selbständig zu ordnen, wie es in keinem anderen Staate der Fall ist, hofft er, daß Sie als Dank der Freiheit einer raschen und gedeihlichen Entwicklung entgegengehen. Und Sie, die Sie zweitausendjährigen Druck erlitten, werden die Freiheit um so ernster zu würdigen wissen und fühlen, was Sie dem Vaterland schuldig sind." 70
Die Anzahl der orthodoxen und der neologen Deputierten spiegelte die realen Verhältnisse und den verstärkten Einfluss der Neologie wider. Dank ihrer Mehrheit auf dem Kongress konnten in alle bedeutenden Positionen, wie die des Präsidenten und Vizepräsidenten des Kongresses, Vertreter der Neologie gewählt werden. Nach zweiwöchigen administrativ-technischen Vorbereitungen wurden drei Kommissionen gewählt, um detaillierte Vorschläge zu den drei zentralen Fragen auszuarbeiten und dem Plenum zur Debatte einzureichen. Eine der Kommissionen be68 69 70
Ebd., 95. Patai, The Jews of Hungary, 317. Zit. η. Domjän, Der Kongreß, 149.
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schäftigte sich mit der Organisation der Gemeinden und der Verwendung des Schulfonds, die zweite - an der auch Rabbiner Hildesheimer teilnahm - mit den Schulstatuten und die dritte mit der Ausarbeitung der Wahlstatuten für den nächsten Kongress.71 Trotz des Versprechens des Ministers, dass eine Behandlung von religiösen Fragen auf dem Kongress nicht stattfinden werde, konnte dies nicht vermieden werden. Es wurde deutlich, dass die Probleme des ungarischen Judentums nicht auf eine rein administrative Ebene zu begrenzen waren. Die allgemeine Bestrebung der Neologen und der Regierung, die Juden im Land zu integrieren, konnte nicht unabhängig von der Frage der religiösen Strömungen behandelt werden, auch wenn sich beide noch so sehr darum bemühten. Ein scheinbar administratives Problem wie das der Gemeindeorganisation berührte religiöse Fragen, da ja das jüdische Leben auf allen Ebenen mit der Tradition verwoben war. Alle drei Themen, die während des Kongresses behandelt werden mussten, waren - für die Orthodoxie - untrennbar mit Fragen der Religion verbunden. Der Kongress war bis Ende Januar 1869 ausschließlich mit der Ausarbeitung der Vorschläge beschäftigt. Danach begann das Plenum, die Vorschläge der ersten Kommission zu besprechen. Der Entwurf richtete sich zwar gegen eine starke Zentralisierung, empfahl dennoch die Einrichtug einer Vermittlungsbehörde, eines Landespräsidiums zwischen den Gemeinden und dem Staat. Außerdem forderte der Entwurf vollständige innere und äußere Unabhängigkeit der Gemeinden, was dem Rabbiner nur eine beschränkte Macht in Gemeindeangelegenheiten ließ. Dieser Plan stieß in den Reihen der Orthodoxie auf heftigen Widerstand. Im Namen von 89 Rabbinern brachten die Orthodoxen einen Antrag ein,72 nach dem kein Beschluss des Kongresses bezüglich der Gemeinde und der Schulorganisation angenommen werden sollte, der nicht mit der Bibel, dem Schulchan Aruch73 und dem Talmud im Einklang stand. Dies wurde von der Mehrheit mit dem Argument zurückgewiesen, dass der Kongress ohnehin auf rabbinisch-mosaischem Glauben basiere. Die weiteren Entwürfe konnten nicht vor dem Plenum besprochen werden, da Anfang Februar 48 orthodoxe Deputierte74 den Saal endgültig verließen, als ihnen deutlich wurde, dass der Kongress nicht bereit war, nach den Prinzipien des Schulchan Aruch zu handeln. Am Ende waren von den ursprünglich 220 Deputierten nur noch 166 bei der Abstimmung präsent; von ihnen billigten 103 die endgültige Form der Gemeindestatuten, die alle Änderungsvorschläge der Orthodoxie außer Acht ließen.75 Demnach waren die Basis die Gemeinden; diese jüdischen Gemeinden Ungarns sollten 26 Distrikte bilden. In jedem Distrikt sollten 100 bis 120 Mitglieder einen Vorstand und einen Deputierten wählen, die zwischen Gemeinden und Staat vermittelten. Die Vorstände der Distrikte waren verpflichtet, alljährlich den Landespräsidenten der Landeskanzlei
71 72 73
74 75
Ebd., 150f. Domjän, Der Kongreß, 153. Schulchan Aruch (hebr.): "gedeckter Tisch" - die von R' Joseph Karo zusammengestellte Gesetzessammlung der jüdischen Religion. Patai, The Jews of Hungary, 318. Ebd., 318.
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zu ernennen, der als unmittelbarer Vertreter des Judentums gelten sollte.76 Auch die Verwendung des Schulfonds für ein Rabbinerseminar und die Eröffnung von Grundschulen in den Gemeinden wurden ohne größere Debatten von der Mehrheit akzeptiert. - Am 23. Februar 1869 ging der Landeskongress der Israeliten offiziell zu Ende, ohne die Einheit der ungarischen Juden bewahrt haben zu können. In dem Moment, als die Mehrheit des Kongresses die Entwürfe billigte, war klar, dass die Orthodoxie diese Beschlüsse keinesfalls akzeptieren würde. Dies wäre der Selbstauflösung gleichgekommen. Die Situation konnte nur durch die Schaffung einer eigenen Organisation gemeistert werden. Ihre selbständige Organisation, die „Autonome gesetzestreue jüdische Glaubensgemeinde", entstand 1871. Für sie war der Schulchan Aruch in jeder religiösen, rituellen Einrichtung die Grundlage. Das ungarische Judentum spaltete sich nun in mehrere Gruppen auf. Neben den „neologen" und „orthodoxen" erschienen die sogenannten „status quo ante"-Gemeinden, die sich - genauso wie die chassidischen Gemeinschaften - keiner Richtung anschlossen. Nach der Spaltung zwischen der traditionstreuen und der reformierten Richtung (1868/69) und der Entstehung der beiden getrennten (der orthodoxen und der neologen) Landesorganisationen (1871) wurde der Riss innerhalb des ungarischen Judentums endgültig. Die Tätigkeit Hildesheimers während des Kongresses Als der Landeskongress der ungarischen Juden bevorstand, gab Hildesheimer trotz seines gespannten Verhältnisses zur ungarischen Orthodoxie die Hoffnung nicht auf, dass diese fähig wäre, gegenüber der Neologie einheitlich aufzutreten. Er war zuversichtlich, dass es mit vereinten Kräften möglich sein werde, auf dem Kongress Maßnahmen durchzusetzen, die zur Sicherung der Zukunft des traditionellen Judentums dienten.77 Demzufolge befürwortete Hildesheimer die Kundgebung in Ofen, wo die zweihundert orthodoxen Rabbiner mit dem Oberrabbiner von Preßburg, K'tav Sofer, an der Spitze versuchten, eine gemeinsame Linie für den bevorstehenden Kongress auszuarbeiten. Aber beim Thema Erziehung waren die Haltungen erneut unvereinbar. Hildesheimers lang gehegter Wunsch bezüglich der Errichtung eines auf orthodoxer Basis geführten Rabbinerseminars wurde von den Anwesenden wieder strikt abgelehnt. Die Kundgebung beschrieb Rabbiner Hildesheimer in seinem Brief an Samson Raphael Hirsch: „Die vielen jüngeren Kräfte hingegen, die das Elend der Zeit merken und die dasselbe drückt, sind nach den vorurtheilsvollen altmodischen Prinzipien mundtot gemacht und nicht zu Worte gekommen. Ich war der Einzige, der sich durch dergleichen Einschüchterungen natürlich nicht irre machen liess und unseren Standpunct eisenfest vertrat, freilich so, dass ich mich dabei halbkrank machte."78 76 77 78
Domjän, Der Kongreß, 154f. Eliav, Das öffentliche und erzieherische Wirken, 77f. Hildesheimer, Briefe, 61.
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Die allgemeine Vorstellung von „modernerer" Bildung und Erziehung war, wie es Rabbiner Zvi Hirsch Friedmann von Liszka formulierte: „Ein Rabbiner darf von Bildung und Wissenschaft nicht mehr verstehen als nötig ist, seinen Namen in deutscher und ungarischer Schrift zu schreiben."79 Für Hildesheimer und seine Ideen schien keinerlei Platz mehr innerhalb der ungarischen Orthodoxie zu sein. Sogar sein treuester und kämpferischster Anhänger, Sigmund Krauss, prophezeite den Vorstellungen Hildesheimers keinen Erfolg auf dem bevorstehenden Kongress und riet ihm, sein Programm aus taktischen Gründen vorsichtiger zu vertreten oder wenigstens Konfrontationen innerhalb der orthodoxen Partei sowie mit der Reformpartei zu vermeiden.80 Nichtsdestotrotz nahm Rabbiner Hildesheimer als Deputierter an dem Kongress mit großem Eifer teil. Seine Vorstellungen und Ideen vertrat er konsequent, versuchte andererseits mit seinen wenigen Anhängern jedesmal zwischen den Positionen der radikalen Orthodoxen und der radikalen Reformer zu vermitteln. Er beteiligte sich nahezu an jeder wichtigen Beratung. Als auf dem Kongress die drei Kommissionen zu den drei Grundthemen - Schulstatuten, Wahlstatuten und Organisation der Gemeinden - eingerichtet wurden, gelang es Hildesheimer, in die Schulkommission gewählt zu werden, die sich aus 14 Neologen und 11 orthodoxen Mitgliedern zusammensetzte. Hier widmete er sich mit besonderem Interesse der Frage des Rabbinerseminars - obwohl er grundsätzlich dem Kongress die Kompetenz bezüglich des Rabbinerseminars absprach. Schon während der Sitzungen der Schulkommission im Dezember 1868 war von den orthodoxen Mitgliedern immer wieder heftig darüber diskutiert worden, ob die Frage des Rabbinerseminars eine religiöse Angelegenheit sei, die mit dem Versprechen des Kultusministers und der Neologen, keine religiösen Fragen auf dem Kongress zu behandeln, im Widerspruch stehe. Da die Reformer nun sowohl in der Kommission als auch im Plenum die Mehrheit bildeten, war es ziemlich klar, dass auch die Verwirklichung des Rabbinerseminars den Vorstellungen der Neologie entsprechend ablaufen würde. In diesen Diskussionen vertrat Hildesheimer seine Meinung konsequent. Die in Wien erscheinende Zeitschrift Die Neuzeit berichtete hierzu: „Herr Rabbiner Hildesheimer spricht sich in längerer Rede dahin aus, daß er nur unter deqenigen Bedingungen für die Kreirung der Rabbinatschule stimme, wenn der Schwerpunkt derselben auf das rabbinisch-theologische, nicht aber auf das akademische gelegt würde."81 Sein Vorschlag wurde „erwartungsgemäß" von keiner der beiden Parteien akzeptiert. Doch Hildesheimer war auch derjenige, der das Plenum auf das Problem der Missionsschulen aufmerksam gemacht hatte: „Rabbiner Dr. Hildesheim stellt folgenden Dringlichkeitantrag: Bei dem Umstände, als mehrere Hundert israelitische Knaben und Mädchen die Missionschule besuchen, möge
79 80 81
Zit. n.: Eliav, Das öffentliche und erzieherische Wirken, 78. Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer, 53. Zit. n.: Aus der Sitzung der Schulkommission vom 4. Dezember, in: Die Neuzeit (1869), Nr. 3, 30-35, hier 32.
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der Kongreß - insofern die Nothlage der betreffenden Eltern hieran die Schuld trägt - für Mittel und W e g e gedacht sein, wie diesem Umstände abgeholfen werden könnte." 82
Rabbiner Hildesheimer strebte einen Ausgleich zwischen den Parteien an; offenbar wollte er die gravierenden Meinungsunterschiede nicht wahrnehmen. Seine Hoffnung war, dass die Gemeindeeinheit trotz der Differenzen zwischen Reformern und Orthodoxen auch in Ungarn bewahrt werden könne.83 Nachdem am 5. Februar 1869 - wie erwähnt - 48 orthodoxe Deputierte den Saal endgültig verlassen hatten, harrte Esriel Hildesheimer mit seinen wenigen Anhängern dennoch bis zum Ende des Kongresses aus, obwohl keine Hoffnung mehr bestand, orthodoxe Vorschläge im Plenum durchzusetzen. Die Gruppe von 35 gemäßigten Orthodoxen aus dem „Oberland" um Esriel Hildesheimer hatte sich noch während der ersten Hälfte des Kongresses gebildet.84 Als gemeinsame Basis dienten ihr die folgenden drei Punkte: die Anerkennung des mosaisch-rabbinischen Judentums als Grundlage der in die Kongressstatuten aufzunehmenden Institutionen; die Erhaltung der Autonomie der jüdischen Gemeinden und die Verhinderung der Aufnahme der Frage des Rabbinerseminars in das Kongressprogramm.85 Hildesheimer und seine Anhänger konnten nichts erreichen. Sie stießen sowohl bei den Neologen als auch bei den Orthodoxen, besonders aber bei den chassidischen Rabbinern auf Ablehnung. Sie wurden an den Rand gedrängt und zogen sich enttäuscht und verletzt zurück. Die Niederlage auf dem Kongress machte Rabbiner Hildesheimer endgültig klar, dass sein Wirken für die Zukunft des ungarischen Judentums keine Bedeutung mehr haben würde.
Zusammenfassung Nach dem Kongress zog sich Rabbiner Esriel Hildesheimer nach Eisenstadt zurück und nahm kurz darauf die Einladung nach Berlin an, die Leitung des Beth Hamidrasch zu übernehmen. Noch im selben Jahr wurde er von der neu gegründeten Gemeinde „Adass Jisroel" zum Rabbiner berufen. Der Rückblick auf seine Tätigkeit in Ungarn vermittelt den Eindruck, dass er die Realitäten der dortigen jüdischen Gesellschaft in ihrer Tiefe nicht erkannte. Die zunehmenden Spannungen innerhalb des orthodoxen Lagers wollte oder konnte er nicht wahrnehmen. Er kannte die wirklichen Zustände innerhalb des ungarischen Judentums kaum; dass er sich vorrangig der deutschen Kultur verbunden sah, änderte sich während der achtzehn Jahre in Ungarn nicht. Die östlichen Gebiete des Landes mit ihren zahlreichen chassidischen Gemeinden, selbst die ungarische Sprache und Kultur und schon gar der zunehmende ungarische Nationalismus, der für viele Juden so anziehend war, blieben ihm fremd und unbe82 83 84 85
Zit. n.: 12. Öffentliche Sitzung am 7. Jänner, in: Die Neuzeit (1869), Nr. 4, 42f. Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer, 54. Domjän, Der Kongreß, 152. Ebd., 152.
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kannt. Diese Barrieren erschwerten ihm die nötige Kommunikation innerhalb des orthodoxen Lagers. In einem halbfeudalen Land, das die ersten Schritte der Modernisierung Jahrzehnte später als die deutschen Gebiete unternahm, blieb die jüdische Gesellschaft in allen ihren Zügen noch lange konservativ. Zu den damaligen Realitäten in Ungarn gehörte auch das Phänomen, dass hier das „östliche" und „westliche" Judentum aufeinander trafen, deren kulturelles Erbe erheblich divergierte. Während sich die in größeren „Inseln" lebenden chassidischen Massen von der Modernisierung abgrenzten und die „oberländische" Orthodoxie den Weg der langsamen Ungarisierung betrat, assimilierten sich viele begeistert an die ungarische Nation, die bereit war, die Juden „aufzunehmen", und die Assimilation mit der Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs honorierte. Diese in verschiedene Richtungen drängenden Kräfte führten zur Zersplitterung des ungarischen Judentums, und zwischen diesen Richtungen gab es für die „Neo-Orthodoxie" schon lange keinen Platz mehr. Auf seine Bitterkeit und das Gefühl, in Ungarn versagt zu haben, deutet der Brief hin, den er der Verwaltung des Beth Hamidrasch als Antwort auf die Einladung nach Berlin schrieb: „Indess weiss ich anderseits, dass Deutschland ein Recht auf mich hat, und dass ich dort, seinem Kulturstande gemäss, wenn auch in viel kleinerem Masstabe, relativ mehr leisten kann als hier, wo noch sehr wenig Verständnis für meine Principien zu finden." 86 Diese Vorstellung - die Tradition mit modernem Wissen kombiniert auf Deutsch zu vermitteln und dadurch eine Elite zu erziehen, die auf beiden Gebieten gebildet ist - konnte Hildesheimer kompromisslos und auf höchstem Standard im Rabbinerseminar von Berlin verwirklichen. Im Gegensatz zur Jeschiwa in Eisenstadt, in der die wissenschaftliche Ebene nicht vollends ausgebaut werden konnte, sollte dieses Rabbinerseminar ein Zentralinstitut sein, das fähig wäre, die deutsche Orthodoxie einigermaßen zusammenzuhalten. Das Rabbinerseminar wurde, nach langjährigen Vorbereitungen und nach der Eröffnung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1872, die den letzten Anstoß für die Verwirklichung des Rabbinerseminars gegeben hatte, 1873 feierlich eingeweiht. Hildesheimer wollte in diesem Seminar eine Elite ausbilden, den sowohl in der Tradition als auch in den Wissenschaften beschlagenen „Doktor"-Rabbiner,87 der sich einerseits in der alltäglichen, nichtjüdischen Umgebung souverän bewegte, andererseits an seiner Religion festhielt und dadurch seiner Gemeinschaft diente. Dementsprechend trieben die Studenten ein sehr gründliches Studium des Talmud und der Halacha, und viele Seminaristen hörten gleichzeitig als Studenten der Berliner Universität Philosophie, Naturwissenschaften, Literatur etc. Das von Hildesheimer gegründete und aufgebaute Seminar blieb, bis es 1938 von den Nationalsozialisten geschlossen wurde, die wichtigste Bastion der - stetig abnehmenden deutschen Orthodoxie. 86 87
Hildesheimer, Briefe, 47. Das Rabbiner-Seminar zu Berlin, Bericht über die ersten 25 Jahre seines Bestehens (1873— 1898), Berlin 1898, 44-46.
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Aber einen Sturz des Katholicismus möchte ich erleben" Religiöse Polemiken liberaler deutscher Juden im 19. Jahrhundert Nachdem Religionsgeschichte lange Zeit isoliert und zu einem großen Teil als Kirchengeschichte betrieben wurde, hat die Kategorie des Religiösen in der Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte des 19. Jahrhunderts in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erfahren.1 In der neueren Literatur wurde dabei für Europa das Fortbestehen religiöser Deutungsmuster und die Wichtigkeit der konfessionellen Spaltung der Gesellschaft hervorgehoben.2 Olaf Blaschke hat die These von der verstärkten Relevanz konfessioneller Kategorien sowohl für die politische als auch für eine lebensweltliche Ebene wohl am stärksten zugespitzt, als er vorgeschlagen hat, vom 19. Jahrhundert als einem „Zweiten Konfessionellen Zeitalter" zu sprechen.3 Während das Schlagwort einige Kritik erfahren hat, wird Blaschkes allgemeiner Befund vom Großteil der neueren Forschung bestätigt.4 Die verstärkte Beachtung konfessioneller Bruchlinien in den deutschen Staaten sowie ihrer oft national-religiösen Überwindungsversuche seit der Romantik hat sich dabei als Impulsgeber für Untersuchungen zu Nationalismus und Liberalismus erwiesen. So zeigt sich der deutsche Nationalismus seit der Romantik sowohl konfessionell aufgeladen und über weite Strecken mit einem protestantischen historischen Narrativ verbunden, gleichzeitig aber von der Vision einer Nationalreligion und der Überwindung der konfessionellen Spaltung geprägt. 5 1
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Für eine frühe Kritik siehe: Wolfgang Schieder, Religion in the Social History of the Modern World. Α German Perspective, in: European Studies Review 12 (1982), 289-299. Entscheidend war auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, 2 Bde., München 1990-1992. Hartmut Lehmann (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997; Hugh McLeod, Secularization in Western Europe, 1848-1914, New York 2000; wichtig für eine Thematisierung dieser Perspektive in Hinblick auf die Geschichte der Juden ist der Sammelband: Jens Mattern (Hg.), Einbruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung, Berlin 2002. Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert. Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), 38-75. Anthony J. Steinhoff, Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 549-570; zur Kritik aus europäischer Perspektive siehe zum Beispiel: Martin Schulze Wessel, Das 19. Jahrhundert als „Zweites Konfessionelles Zeitalter"? Thesen zur Religionsgeschichte der böhmischen Länder in europäischer Hinsicht, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), 514-530. Einer der Impulsgeber war hier Wolfgang Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 141-154
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Auch in Bezug auf den Liberalismus, der lange Zeit als selbstverständlicher Träger einer langgestreckten Säkularisierungstendenz gegolten hat, wurde in neueren Studien zunehmend betont, dass Säkularisierungsforderungen, wie auch die Unterstützung der jüdischen Emanzipation, erst in tagespolitischen Auseinandersetzungen entstanden sind.6 Im Gegensatz zur älteren Forschung, die vorwiegend der Beziehung von Liberalismus und Staatlichkeit galt, steht heute die Frage regionaler Bezüge und religöser Zusammenhänge im Zentrum.7 Auch nach der einflussreichen Arbeit von Gangolf Hübinger zum Kulturprotestantismus und einer Reihe von Werken zum Thema im letzten Jahrzehnt bleibt dabei die Verbindung von Religion und Politik im Liberalismus ein Forschungsdesiderat.8 Diese neueren Ansätze haben ein weites Feld für die jüdische Historiographie eröffnet. 9 Dabei erschien das früheste Werk, das die konfessionelle Fragmentierung der deutschen Gesellschaften für die jüdische Historiographie bearbeitet hat, schon zwei Jahrzehnte bevor die Frage wieder in den Blick der deutschen und deutschjüdischen Geschichtsschreibung kam: Uriel Tals Christians and Jews in Germany: Religion, Politics, and Ideology in the Second Reich, 1870-1914.10 Für Tal waren die im deutschen Kaiserreich geführten Debatten um die Krise der liberal ausgerichteten, protestantischen politischen Theologie und um den christlichen Staat nicht bloß akademischen Charakters, sondern Orte, an denen das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft verhandelt und der Grundstein für den Aufstieg des Antisemitismus gelegt wurde. Entscheidend für den neuen Antisemitismus waren, laut Tal, die Verschiebungen im liberalen Lager der 1870er vom politischen Ziel eines Rechtsstaates hin zu jenem eines Kulturstaates - während der innerchristlichen, konfessionellen Auseinandersetzung des Kulturkampfes.
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Nationalismus, Mainz 1992. Eine hervorragende Zusammenstellung zu dem Thema bietet Helmuth Walser Smith (Hg.), Protestants, Catholics and Jews in Germany, 1800-1914, Oxford/New York 2001. Siehe auch Dietmar Klenke, Deutsche Nationalreligiosität zwischen Vormärz und Reichsgründung. Zur Innen- und außenpolitischen Dynamik der deutschen Nationalbewegung, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), 389-447. Siehe für den vormärzlichen Liberalismus etwa Dagmar Herzog, Intimacy and Exclusion. Religious Politics in Pre-Revolutionary Baden, Princeton 1996. Jan Palmowski, Mediating the Nation. Liberalism and the Polity in Nineteenth-Century Germany, in: German History (Great Britain) 19 (2001), 573-598; ders., Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt a.M., 1866-1914, Oxford/New York 1999. Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994; Claudia Lepp, Protestantischliberaler Aufbruch in die Moderne. Der Deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes, Gütersloh 1996; Armin Müller-Dreier, Konfession in Politik, Gesellschaft und Kultur das Kaiserreichs. Der Evangelische Bund 1886-1914, Gütersloh 1998. Siehe auch die Sammelrezension Gangolf Hübinger, Die Bedeutung des Protestantismus für die politische Kultur des Deutschen Kaiserreichs, in: Neue Politische Literatur 47 (2002), 371-379. Siehe besonders Peter Pulzer, Jews and the German State. The Political History of a Minority, 1848-1933, Oxford/Cambridge 1992. Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics, and Ideology in the Second Reich, 1870-1914, Ithaca/London 1975.
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In Hinblick auf die Juden und Jüdinnen in Deutschland hat die neuere Historiographie die andauernde Rolle religiöser Deutungszusammenhänge hervorgehoben und damit wichtige Beiträge zur Bürgertumsforschung geleistet.11 So hat etwa Marion Kaplan die Rolle von Religion in der Privatsphäre für die Reproduktion des bürgerlichen Selbstverständnisses jüdischer Frauen und Männer hervorgehoben, während Shulamit Volkov und neuerdings Simone Lässig die Rolle des Projektes religiöser Reform für Prozesse jüdischer Verbürgerlichung betont haben.12 Einige der interessantesten Arbeiten zu diesem Thema kommen von Andreas Gotzmann, der sich in seiner Studie zu jüdischen Modemisierungsdiskursen primär auf Vordenker des liberalen Judentums wie etwa Samuel Holdheim und die liberalen Teilnehmer der Rabbinerversammlungen 1844, 1845 und 1846 konzentriert hat und deren Umgang mit nationalreligiös bestimmten Forderungen nach der Integration von Juden in eine christliche Nation untersucht hat. Gotzmann situiert das Anliegen von Reformjuden, die ethischen und nichtnationalen Aspekte des Judentums zu betonen, im Kontext von Debatten über nationale und konfessionelle Vereinigung.13 Er zeichnete in diesem Zusammenhang die „Stilisierung der Religion zur eigentlich tragenden Kraft der bürgerlichen Gesellschaft" nach.14 Reformrabbiner sahen das Judentum als Stütze des Staates, weil sie bürgerliche Auffassungen vom Wert der Religion und ihrer Funktion für die politische Ordnung teilten.15 Ähnlich hat Uffa Jensen diese Prozesse beschrieben, indem er die Aneignung von Bildungsidealen nicht nur in den Zusammenhang von kulturellen Verbürgerlichungsprozessen stellt, sondern die damit verbundenen „Differenzierungsmechanismen" als Resultat der Ähnlichkeit von jüdischer und protestantischer bürgerlicher Kultur beschreibt.16
'' Besonders in Hinblick auf konfessionelle Segmentierung und das Verständnis von Bürgertum in der jüdischen Historiographie siehe Olaf Blaschke, Bürgertum und Bürgerlichkeit im Spannungsfeld des neuen Konfessionalismus von den 1830er bis zu den 1930er Jahren, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, Tübingen 2001, 33-66. 12 Marion Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class. Women, Family, and Identity in Imperial Germany, New York 1991; Shulamit Volkov, Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, Vorwort; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. 13 Andreas Gotzmann, Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit, Leiden/Boston 2002. 14 Ders., Zwischen Nation und Religion. Die deutschen Juden auf der Suche nach einer bürgerlichen Konfessionalität, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, Tübingen 2001, 241-261, hier 255. 15 Ebd., 257. 16 Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005, 39.
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Abgrenzungsdiskurse der Liberalen Mit der Betonung der konfessionellen Fragmentierung der deutschen Gesellschaft und der damit zusammenhängenden Dynamik in der Entwicklung des Nationalismus und Liberalismus sind auch Identitäts- und Abgrenzungsprozesse stärker in den Blickpunkt gerückt. Eines der zentralen Themen der letzten Jahre bildet in diesem Zusammenhang die antiklerikale und antikatholische Tendenz des deutschen Liberalismus und seine konfessionelle, dominant protestantische Prägung zwischen den 1820er Jahren und dem Ersten Weltkrieg.17 Während Forschungen zu den Konflikten zwischen Liberalismus und Katholizismus als europäischem Phänomen noch in den Anfängen stecken,18 gibt es zu diesem Thema in Hinblick auf Deutschland bereits eine umfängliche Literatur. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Michael Gross' Arbeit, die den Stellenwert des Antikatholizismus für den Liberalismus nach 1848 behandelt. Antikatholizismus sollte laut Gross nicht mehr als eine Verfallserscheinung des Liberalismus oder einer der Widersprüche zwischen den Prinzipien des Liberalismus und seiner Praxis beschrieben, sondern als eine Schlüsselkomponente der liberalen Ideologie berücksichtigt werden.19 Gleichzeitig wurde in neueren Interpretationen des Kulturkampfes die Verbindung von liberalem Antikatholizismus und dem Projekt einer staatlich-nationalen Konsolidierung durch religionspolitische Mittel betont. Helmuth Walser Smith etwa hat argumentiert, dass dieser Konflikt in den Jahren nach der Reichsgründung weniger als Auseinandersetzung um die Beziehung von Staat und Religion verstanden werden sollte oder als eine Taktik Bismarcks, die Liberalen auszuschalten, als vielmehr ein Versuch der Liberalen, eine protestantisch geprägte Nationalkultur durchzusetzen.20 Während die Literatur zum jüdischen Bürgertum und zum liberalen Judentum die neuere Forschung zu Konfession, Nationalismus und Liberalismus zu einem großen Teil verarbeitet und mitgeprägt hat, fehlt bisher eine intensivere Beschäftigung mit jenen jüdischen Aneignungen der Abgrenzungs- und Ausgrenzungsdiskurse, die sich in diesen Konfliktlagen herausgebildet haben. Die wenigen Beiträge, die zu antiklerikalen oder antikatholischen Abgrenzungsdiskursen von Juden bisher erschienen 17
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Herzog, Intimacy and Exclusion; Helmuth Walser Smith, German Nationalism and Religious Conflict. The Kulturkampf and German National Identity, Princeton 1995, 19-49; Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. - Zum Kulturkampf siehe auch Armin Heinen, Umstrittene Moderne. Die Liberalen und der preußisch-deutsche Kulturkampf, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), 138-56; Palmowski, Mediating the Nation. Zur europäischen Dimension siehe Christopher Clark/Wolfram Kaiser, Culture Wars. SecularCatholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003; Winfried Becker, Der Kulturkampf als europäisches und als deutsches Phänomen, in: Historisches Jahrbuch 101 (1983), 422-446; Manuel Borutta, Liberaler Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe [Dissertation], Berlin 2005. Michael B. Gross, The War against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, Ann Arbor 2004, 3. Smith, German Nationalism and Religious Conflict, hier besonders Kapitel 1.
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sind, betreffen das Stimmverhalten der zwei wichtigsten jüdischen liberalen Politiker der 1870er, Ludwig Bamberger und Emanuel Lasker, zu den Ausnahmegesetzen der Kulturkampf-Ära.21 Allerdings ist selbst hier die eingehende Analyse ihrer Rhetorik in religionspolitischen Fragen ausgeblieben.22 Auch wenn man Gross nicht darin folgt, den Antikatholizismus als konstitutives Element liberaler Politik nach der gescheiterten Revolution zu sehen, stellt sich die Frage, wie Juden, die seit dem Vormärz zunehmend und seit den 1860ern mehrheitlich dem Liberalismus zuzurechnen waren, sich gegenüber den antikatholischen Diskursen eines protestantisch gefärbten preußischen Liberalismus verhalten haben.23 Inwiefern haben hier Mitglieder einer religiös definierten Minderheit, die sich in ein politisches Lager integrieren wollten, dessen religionspolitische Abgrenzungsdiskurse übernommen? Inwiefern haben diese liberalen Exklusions- und Abgrenzungsdiskurse auch auf innerjüdische Debatten abgefärbt? Wenn es stimmt, dass Religion für jüdische wie nichtjüdische Liberale das zentrale Deutungsmuster geblieben ist, wie Andreas Gotzmann schreibt, gibt es dann auch einen religiös bestimmten Antiklerikalismus?
Kulturkampf und jüdische Abgrenzungsdiskurse Das vielleicht bezeichnendste Ereignis, an dem eine Abgrenzungs- und Ausgrenzungsdynamik beobachtet werden kann und an dem sich zeigen lässt, welchen Ertrag und welche Herausforderungen sich aus den obigen Fragestellungen ergeben, ist der preußische Kulturkampf. In diesem publizistischen und legistischen Höhepunkt der religionspolitischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts finden sich Debatten um Staat und Kirche, Religion und Politik, die Macht des Klerus, die Position des Katholizismus und die Grenzen religiöser Toleranz untrennbar miteinander verbunden. Juden, die mit der Gründung des Zweiten Kaiserreiches erstmals überall in Deutschland rechtlich gleichgestellt waren, fanden sich in diesen Kämpfen in einer besonderen Lage. Einerseits waren sie in ihrer Mehrzahl Teil eines liberalen und pragmatischnationalistischen Lagers, das eben erst die rechtliche Gleichstellung der Juden miterwirkt hatte.24 Andererseits waren sie als Juden herausgefordert, sich mit dem 21
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Solche Forschungen bleiben auch ein Desiderat für die Geschichte der Juden in anderen europäischen Staaten. Eine der wenigen Arbeiten auf dem Gebiet ist Richard Millman, Jewish Anticlericalism and the Rise of Modern French Antisemitism, in: History 77 (1992), 220-236. Vgl. Michael B. Gross, Kulturkampf and Unification. German Liberalism and the War Against the Jesuits, in: Central European History 30 (2001), 545-566. Zu jüdischen Reichstags- und Landtagsabgeordneten aus Frankfurt am Main siehe auch Jan Palmowski, Between Dependence and Influence. Jews and Liberalism in Frankfurt am Main, 1864—1933, in: Henning Tewes/Jonathan Wright (Hg.), Liberalism, Anti-semitism, and Democracy. Essays in Honour of Peter Pulzer, Oxford/New York 2001, 76-101. Noch immer relevant in diesem Zusammenhang ist Jacob Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland von Jena bis Weimar, Tübingen 1966. Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland, 110-169.
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emphatisch protestantischen oder manchmal kryptoprotestantischen Charakter der liberalen Positionen in den Kämpfen um ein hegemoniales nationales und nationalreligiöses Bild Deutschlands auseinanderzusetzen. Im Zusammenhang dieses Artikels wird es nicht allgemein um die Frage nach der Reaktion von Juden auf den Kulturkampf gehen, sondern es sollen solche Beiträge jüdischer Zeitschriften in den Anfangsjahren des Kulturkampfes in den Blick genommen werden, an denen sich die Funktion von Abgrenzung, Identitätspolitik und Inklusionsforderung am besten beispielhaft darstellen lässt.25 Obwohl die Zeitschriften oft von einem einzelnen Herausgeber dominiert wurden, bleiben sie als Quelle doch von Bedeutung, weil sich in ihnen eine Position zeigt, die versucht, eine explizit jüdische Antwort auf politische Tagesereignisse zu geben. Wenn es auch schwierig ist nachzuweisen, dass sie einen repräsentativen Charakter für die Eliten des liberalen Judentums hatten, so handelt es sich doch zumindest um Texte, mit denen sich all jene auseinandersetzen mussten, die ebenso einen Anspruch darauf hatten, als Juden oder für Juden zu sprechen. Die zwei wichtigsten liberalen jüdischen Periodika der Zeit waren die Allgemeine Zeitung des Judenthums (AZJ) und ihre jüngere Konkurrentin, die Israelitische Wochen-Schrift (IWS).26 Die in diesen beiden Zeitschriften abgedruckten Artikel bedienten sich in den frühen Jahren des Kulturkampfes bis in die Mitte der 1870er einer liberalen Kampfrhetorik, die - und darum soll es hier in der Hauptsache gehen so gewendet wurde, dass das liberale Judentum in seiner Funktion für den modernen Staat durch die damaligen Konflikte bestätigt erschien. Gleichzeitig wurden die liberalen Positionen im Konflikt zwischen Liberalismus und Katholizismus als genuin jüdische Anliegen beschrieben.27 Wie eine solche Argumentation in ihrer radikalsten, ins Manichäische tendierenden Sprache aussehen kann, lässt sich am Beispiel eines Artikels in der IWS über Bismarcks Politik gegenüber den Ultramontanen zeigen. Der anonyme Autor meint: 25
Zu Juden im Kulturkampf siehe Tal, Christians and Jews in Germany, Kapitel 2: The Kulturkampf and the Status of the Jews in Germany, 8 1 - 1 2 0 ; Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland, 2 4 6 - 2 6 1 ; Till van Rahden, Unity, Diversity, and Difference. Jews, Protestants, and Catholics in Breslau Schools During the Kulturkampf, in: Smith (Hg.), Protestants, Catholics and Jews in Germany, 2 1 7 - 2 4 2 .
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Es handelt sich um die wichtigsten jüdischen Publikationen im Sinne der Aufmerksamkeit, die sie von anderen Zeitungen und in Debatten erhalten haben. Auflagenzahlen sind dagegen sehr schwierig zu eruieren. Laut einer nicht überprüften Selbstangabe in Sperlings Adressbuch hatte die AZJ um das Jahr 1890 eine Auflage von 1650 und die IWS von 5.000 Exemplaren; H. O. Sperling, Adressbuch der Deutschen Zeitschriften und der hervorragenden politischen Tagesblätter. Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse, Leipzig 1890. Siehe auch Barbara Suchy, Die jüdische Presse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland, Stuttgart 1989, 1 6 7 - 1 9 1 ; Hans Otto Horch, Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums" ( 1 8 3 7 - 1 9 2 2 ) , Frankfurt a.M.1985.
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Für eine genauere Analyse der Diskurse dieser Zeitschriften im Kulturkampf siehe Alexander Joskowicz, Liberal Judaism and Confessional Politics of Difference in the German Kulturkampf, in: Leo Baeck Institute Yearbook 5 0 (2005) [in Vorbereitung].
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„Es kann gewiß gar nicht fraglich sein, auf welcher Seite wir Israeliten mit unsren wärmsten Sympathien und Wünschen stehen müssen; es ist für uns augenfällig, daß der Kampf, den die Staatsregierung aufgenommen hat, ein Kampf des Lichtes und des Rechtes gegen deren Feinde [ist], und daß er zugleich gegen die uralten, erbitterten Feinde der Juden und des Judenthums gerichtet ist. Somit feiert unsre Sache gleich mit dem Beginne dieses Kampfes einen erhebenden Triumph und hat einen Bundesgenossen gewonnen, wie wir wohl nie einen mächtigern gehabt haben." 28
Primäres Ziel der Abgrenzungsdiskurse, die mit dem Kulturkampf direkt in Zusammenhang standen, waren der Papst, die Zentrumspartei und die ultramontan eingestellte Kirche, denen neben ihrer Feindschaft gegen den liberalen Staat auch eine Gegnerschaft zu Deutschland bzw. ein Mangel an Patriotismus unterstellt wurde. So schreibt etwa die AZJ in einem politischen Jahresüberblick von 1871: „Es war also, man kann es sagen, eine hochverrätherische Absicht, ein Zeugnis des Mangels an allem Patriotismus, aber auch zugleich an allem Verständniß der politischen und socialen Verhältnisse, der die sg. katholische Partei zu einer Petition an den Kaiser um einen Kriegszug gegen Italien verleitete [...]. Wir können diese Verblendung der Römlinge nur mit Freuden begrüßen, denn sie haben dadurch nichts als ihre ohnmächtige Isolirung erwiesen." 29
Solchen Ansinnen der „Römlinge" gegenüber erscheint in den liberalen jüdischen Zeitschriften der Zeit das Judentum als patriotische Bewegung und als Stütze des Liberalismus. Einer der wichtigsten Begriffe, der für eine Abgrenzung zum Katholizismus herausgestellt und an dem die Brauchbarkeit des Judentums für eine bürgerliche, liberale Gesellschaft gezeigt wurde, war jener der „Hierarchie". Die hierarchische Qualität der katholischen Kirche, die in der Sicht der jüdischen Zeitschriften dem Judentum vollständig fehlte, wurde ganz im Sinne der allgemeinen liberalen Rhetorik als ein Angriff auf die Autonomie des Individuums und als eine Quelle der Manipulation der Massen gesehen. Auch der Kulturkampf selbst wurde manchmal als natürliche Reaktion auf die als Zumutung beschriebene hierarchische Struktur der katholischen Kirche beschrieben. So stellte die AZJ in der Mitte der 1870er den Anfang des Kulturkampfes folgendermaßen dar: „Der Staat hatte der Kirche die Schule, die Ehe und die Selbstaufsicht über die Geistlichen, deren Vorbildung und Aufstellung überlassen. Es war natürlich, daß hieraus die Volksmasse völlig hierarchisch erzogen, und die Geistlichkeit völlig hierarchisch gesinnt hervorging. Hierauf gestützt, verlangte die Hierarchie vom neuen deutschen Reich eine bestimmte politische Richtung, zunächst zu Gunsten des Kirchenstaates und des für unfehlbar erklärten Papstthums. Hiermit entbrannte der Kampf." 30
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Wider den Strom, in: IWS, 3. April 1872, 107f„ hier 107. Rundschau, in: AZJ, 18. April 1871, 313-316, hier 315. Ein politischer Brief, in: AZJ, 26. Januar 1875, 66-69, hier 68.
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Für beide großen jüdischen Zeitschriften war die Zielrichtung der Religionsgesetzgebung in den frühen 1870er Jahren, die sie nur selten unter dem Begriff „Kulturkampf subsumiert haben, die Trennung von Staat und Kirche und nicht die Verstärkung der staatlichen Kontrolle über die Kirche.31 In den Fällen, in denen sie gegen die katholische Kirche gerichtete Gesetze verurteilt haben, geschah dies einerseits, weil sie die polizeistaatlichen Tendenzen, die darin zum Ausdruck kamen, fürchteten, andererseits, weil dadurch das Ziel der Trennung von Staat und Kirche in den Hintergrund zu treten drohte.32 Die triumphalistische Rhetorik, die sich darauf bezog, dass nun dem Katholizismus die schlechte Integrationsfähigkeit in den neuen Staat und die Unvereinbarkeit mit der bürgerlichen Gesellschaft vorgeworfen wurde, ist bemerkenswerter Weise nicht erst mit dem langsamen Niedergang des politischen Liberalismus nach dem Koalitionswechsel 1879 verschwunden. Dies war vielmehr ein Resultat gerade der liberalen Kulturkampfgesetzgebung. Im Anschluss an den Erlass eines Gesetzes aus dem Jahre 1873, mit dem der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft ohne Austritt aus der Religion selbst erlaubt wurde und das besonders die Gründung außerkirchlicher katholischer Religionsgemeinschaften erleichtern sollte, entstand eine Situation, in der die jüdische Orthodoxie ein ähnliches Recht auch für das Judentum verlangte.33 Das Resultat waren publizistische Kampagnen in den orthodoxen und liberalen jüdischen Zeitschriften und eine Fülle von Petitionen an den Preußischen Landtag. Die liberale Seite hat dabei geltend gemacht, dass ein solches Gesetz, das den Orthodoxen das Recht gäbe, eigene Gemeinden zu gründen, gerade die kleineren Gemeinden in Preußen in den Ruin treiben würde.34 Der Enthusiasmus für die neue Religionsgesetzgebung seitens des liberalen Judentums erlosch in dem Maße, in dem die Orthodoxie sie für sich zu wenden wusste.
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Skizzen über die Frage: Was haben die Juden vom Staate zu fordern? in: AZJ, 7. Februar 1871, 107-109; Ein Wendepunkt, in: AZJ, 27. Februar 1872, 159-161; Ein Wendepunkt II, in: AZJ, 5. März 1872, 179-183. In einer seltenen Kritik der Kulturkampfgesetzgebung schreibt etwa die AZJ: „Wir wollen [...] keine Erneuerung des ministeriellen Absolutismus und des Polizeistaates, selbst nicht zur Abwehr des Ultramontanismus und Jesuitismus." Siehe: Der Liberalismus und das Judenthum III, in: AZJ, 25. Juni 1872, 501-504, hier 503. Zu Ausnahmegesetzen als Ablenkung vom Ziel der Trennung von Staat und Kirche: Privatmitteilung aus Berlin, 13. Januar, in: AZJ, 22. Januar 1873, 53f.; Privatmitteilung, Berlin, 1. Mai, in: AZJ, 20. Mai 1873, 342f. Tal, Christians and Jews in Germany, Kapitel 2, 81-120. Ganz im Gegenteil warnte etwa der Deutschisraelitische Gemeindebund bereits in seiner Petition gegen den Antrag von Lasker davor, das Austrittsgesetz auch für Juden zu beschließen; die Trennung von Staat und Kirche, die niemand wolle, könne damit über eine Hintertür eingeführt werden. „Der Weg der .Trennung von Staat und Kirche' wäre für die jüdischen Gemeinden damit zurückgelegt, und ein Präjudiz für die christlichen Kirchen geschaffen, auf welches gewiß vielfach hingewiesen werden wird." Siehe: Die Preussisch-jüdische Gemeinde-Verfassungsfrage. Denkschrift zur Verteidigung des einheitlichen Rechtsverbundes der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Herausgegeben vom Ausschuss des deutschisraelitischen Gemeindebundes, Leipzig 1873, 17 (Kopie in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 84a Justizministerium, Nr. 1207, Bl. 87-100).
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Die Pluralität der Abgrenzungsdiskurse In den liberalen jüdischen Zeitschriften findet sich nicht nur eine Abgrenzungsrhetorik gegenüber dem Katholizismus oder Ultramontanismus. Auch der pietistische Protestantismus, der Sozialismus und die jüdische Orthodoxie werden in den tagespolitischen Kommentaren und religionstheoretischen Betrachtungen als Gegner bezeichnet. Die Polemiken, die besonders im frühen Kulturkampf an die damalige Kampfrhetorik der liberalen Presse angelehnt waren, waren immer nur Teil eines ganzen Netzwerks von Abgrenzungsdiskursen, mittels derer die liberalen Herausgeber und Autoren der jüdischen Zeitschriften ihre eigenen Positionen herausgearbeitet haben. So haben liberale jüdische Zeitschriften ihre Gegner oft als „fanatisch" bezeichnet und dies ihrer eigenen „Humanität" entgegenstellt.35 Solcher Art „fanatischen" Katholiken, Sozialisten, Pietisten oder Anhängern der jüdische Orthodoxie wurde ihre Gegnerschaft zu einem Konzept des bürgerlichen, rationalistischen Fortschritts auf der Basis einer modernen Religiosität vorgeworfen. Eine interessante Rhetorik in diesem Zusammenhang findet sich in der AZJ in den Berichten zu Debatten über den evangelischen Oberkirchenrat. 1871 hatten der Oberkirchenrat und das evangelische Konsistorium für Brandenburg einen Erlass veröffentlicht, der vorsah, dass die Namen von protestantischen Konvertiten zum Judentum zur Abschreckung öffentlich verlesen werden sollten.36 Besondere Empörung erregte dieser Erlass in der AZJ, weil der Oberkirchenrat eine staatliche Behörde war und nicht nur eine „Schaar fanatischer Geistlicher".37 Als im Jahr nach dem Erlass das Budget des Oberkirchenrates im Preußischen Landtag zur Abstimmung kam, nahm die Fortschrittspartei dies zum Anlass, die Institution anzugreifen. Die Linksliberalen argumentierten, dass der Oberkirchenrat lediglich durch königliche Kabinettsorder etabliert worden war, nicht aber durch ein vom Landtag verabschiedetes Gesetz. Die AZJ beschrieb in diesem Zusammenhang die Argumentation des jüdischen Abgeordneten Raphael Kosch folgendermaßen: „Bezüglich des letzteren Motivs trat nun zunächst Herr Dr. Kosch auf, indem er auf Grund des bekannten Erlasses dieser kirchlichen Behörde betreffs des Übertritts v o m Christenthume zum Judenthume die Tendenz derselben, in hierarchisch-fanatischer Weise Haß und Verachtung unter den verschiedenen Confessionen auszusäen, nachwies." 38
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Zum Humanitätsbegriff am Anfang der 1870er siehe auch Christine G. Krüger, „Weil nun der Kampf der Völker die jüdischen Bruchstücke gegeneinander schleudert ..." Die deutschjüdische Öffentlichkeit im Krieg von 1870/71, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005) 2, 149-168. Beide Wörter haben eine Geschichte als politische Kampfbegriffe, siehe: Werner Conze/ Helga Reinhart, Fanatismus, in: Otto BrunnerAVerner Conze/Reinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, 303-327; Hans Erich Bödeker, Menschheit, Humanität, Humanismus, in: ebd., Bd. 3, Stuttgart 1982, 1063-1128. Ein Erlaß des Preußischen Oberkirchenrathes und des Consistoriums der Provinz Brandenburg, in: AZJ, 28. Februar 1871, 178-180. Die confessionelle Reaktion II, in: AZJ, 21. März 1871, 229-232, hier 230. Die jüngste Verhandlung im preußischen Abgeordnetenhause, in: AZJ, 20. Februar 1872, 139142, hier 139.
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Der Hinweis auf die hierarchische Qualität dieser protestantischen Institution lud dazu ein, den Oberkirchenrat und den als hierarchisch verschrieenen Katholizismus zu assoziieren.39 Oft auch finden sich in diesen Abgrenzungsdiskursen nicht nur die negativen Begriffe aus dem Sprachgebrauch der Liberalen wie „hierarchisch" oder „fanatisch", sondern auch solche aus einer religiösen Sprache, die bestimmte Differenzen als genuin jüdische erscheinen lassen kann. So war zum Beispiel in der IWS mitunter von „Heidentum" und „Götzendienst" die Rede, wenn andere Bewegungen negativ beschrieben wurden. Hinsichtlich des Ultramontanismus und des Sozialismus etwa meint die IWS 1873: „Der Kampf, der zur Entscheidung drängt, ist kein anderer, als der zwischen Heidenthum und Judenthum! Daß wir mit Mirakeln und Wallfahrten nichts als nackten Götzendienst und in Allem, was der Ultramontanismus lehrt, fordert und fördert, nichts als Heidenthum erblicken können, braucht gar nicht gesagt zu werden. Der Radicalismus ist ebenfalls die Rückkehr zum uralten Heidenthum in ganz unwesentlich veränderter Form. Sinnloser Aberglaube, roher Unglaube, auf beiden Seiten verbunden mit jenem Fanatismus, der auch dem untergehenden antiken Götter- und Staatswesen eigen war." 40
Die liberale Kritik an Aberglaube und katholischen Wallfahrten als „Götzendienst" wurde auch als jüdisches Anliegen gelesen. Gleichzeitig sollte der Begriff die Sozialisten - sie verbergen sich hinter dem „Radicalismus" - treffen und diesem politischen Kampf einen religiösen Anstrich geben. So kombinierte besonders die IWS religiös-jüdische Terminologie und liberale Rhetorik gegen Ultramontane und Sozialisten und stellte sich selbst als zwangsläufigen Bundesgenossen der Liberalen dar. In all diesen Fällen war die Anbindung an das liberale Projekt der Nationsbildung und Religionspolitik während des Kulturkampfes nicht nur durch positive Identifikationen, sondern auch durch die Reproduktion und Aneignung von liberalen Abgrenzungsdiskursen geprägt. So konnte unter anderem durch die Verwendung einer als jüdisch deklarierten Terminologie, wie etwa der Rede vom „Heidentum", ein Teil der politischen Agenda der Liberalen - wie der Kampf gegen Ultramontanismus, Aberglaube und Sozialismus - zu einem jüdischen Kampf umstilisiert werden. Zumindest auf den Seiten der liberalen jüdischen Zeitschriften ist vom kryptoprotestantischen Charakter vieler Beiträge zum Kulturkampf nichts zu spüren. Implizit war dieser lediglich angesprochen, wenn die Liberalen für ihr auf Homogenität abzielendes Staatsverständnis kritisiert wurden.41
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Kosch selbst meint, „blinder hierarchischer Fanatismus" hätte den Oberkirchenrat getrieben. Ebd., 141. Deutschland, Frankreich und das Judenthum, in: IWS, 9. Juli 1873, 209f., hier 210. Siehe auch: Ein Blick auf den großen Kampf der Zeit, in: IWS, 8. Januar 1874, 9f., und: Ein Blick auf den großen Kampf der Zeit 3, in: IWS, 22. Januar 1874, 25-27. Besonders früh und prominent war die Kritik der AZJ: Der Liberalismus und das Judenthum, in: AZJ, 4. Juni 1872, 4 4 1 ^ 4 3 ; 11. Juni 1872, 463^166 und 25. Juni 1872, 501-504.
„ABER EINEN STURZ DES KATHOLICISMUS MÖCHTE ICH ERLEBEN"
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Private und öffentliche Abgrenzungsdiskurse Der strategische Aspekt, der bisher betont wurde, ist eng verbunden mit einer zweiten Ebene, die bisher quasi eingeklammert wurde: die Ebene der Vorurteile und Ressentiments der Akteure. Wenn zum Beispiel ein Jude einen antikatholischen Kommentar veröffentlicht hat, - was sagt das über seine tatsächliche Einstellung zum Katholizismus, und was sollte lediglich als politische oder soziale Strategie gesehen werden? Interessant sind in diesem Fall besonders jene Autoren, die sowohl private als auch öffentliche Schriften hinterlassen haben. Beispielhaft sei hier der radikale Reformer Abraham Geiger genannt, der sich in seinen nachgelassenen Briefen oft antikatholisch zeigt, in seinen öffentlichen Schriften die Betonung aber auf die Abgrenzung zum konservativen und teilweise liberalen Protestantismus gelegt hat. So hat er seiner Frau Emilie Folgendes nach Karlsbad geschrieben: „Ob ich nun morgen einige liebe Worte von Dir erhalte? Kaum glaube ich es; man täuscht sich immer mit dieser österreichischen Postverbindung; da geht Alles katholisch. Was soll katholischen Pfaffen rasche Beförderung? Dadurch würde das Volk ja verständiger und weniger gängelbar. Wallfahrten, Andachten zur Jungfrau Maria, Dummheit, Unwissenheit sind ihre Domänen; Aufschwung und Entwicklung sind ihre Feinde. Man muss viel an sich zu halten wissen, man muss wissen, dass man Vieles, was man hofft und wünscht, nicht erlebt, aber einen Sturz des Katholicismus möchte ich erleben und es wird mir doch nicht zu Theil werden. Dass er kommen wird, weiss ich, aber damit bekomme ich vorläufig meinen Brief nicht eine Stunde früher." 42
Obzwar sich ähnliche Bewertungen zum Katholizismus in seinen öffentlichen Schriften finden, sind sie erstens seltener als seine Kommentare zum Protestantismus, und zweitens fügt Geiger immer noch eine Kritik des Protestantismus hinzu. Einer seiner Artikel aus der Zeit des Kulturkampfes zum Beispiel klingt zunächst wie die antikatholische Rhetorik protestantischer Liberaler: „Der Kampf gilt dem Feinde der Bildung, dem Unterdrücker der Geistes- und der Gewissensfreiheit, kurz dem Katholicismus, wie er seit achtzehn Jahrhunderten weltgeschichtlich sich manifestirt hat. Der Muth und die Standhaftigkeit müssen wachsen, die Gesinnung muß erstarken, um voll und unzweideutig auszusprechen: die alte Kirchenlehre ist gestorben, bestattet sie anständig!" 43
Gleich daran anschließend folgt allerdings eine Kritik des Protestantismus, die nicht minder scharf ist: „Die alte Kirchenlehre, das ist nicht blos der Katholicismus. Denn auch der Protestantismus, insofern er an den unklaren, verworrenen Anschauungen aus vorachtzehnhundertjähriger Zeit festhält, insofern er damalige untergeordnete Ereignisse zu fortdauernd maß-
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Abraham Geiger, Brief an Emilie Geiger in Carlsbad, Breslau, 23. Mai bis 4. Juni 1858, in: ders., Nachgelassene Schriften, hg. v. Ludwig Geiger, Berlin 1878, 225-227, hier 225f. Ein weltgeschichtlicher Wendepunkt, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 10 (1872), 1-4, hier 2f.
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gebenden, die geistige Entwickelung bestimmenden stempelt [...] auch er ist, so lange er sich selbst verblendet, erstorben. [...]. Sein ganzes officielle Kirchenthum ist in den bedenklichsten Zwiespalt getreten mit allen Anforderungen der Gegenwart, seine Wissenschaft ist verkümmert, und selbst seine freisinnigen Regungen sind matt und haltlos." 44
Geigers Gegnerschaft zum Protestantismus war wohl zu einem Großteil das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit den protestantischen Theologen; sie ist gekennzeichnet von seinem Bemühen, die liberale Theologie gerade in ihrem historischen Zugang auszuhebeln, wie Susannah Heschel in ihrer Arbeit zu Geiger betont hat.45 Bereits an diesen Beispielen lassen sich zumindest die Schwierigkeiten des Umganges mit öffentlichen und privaten Abgrenzungsrhetoriken illustrieren. Obwohl auch Briefen und Tagebucheintragungen, besonders wenn sie posthum publiziert und ediert wurden (wie im Falle Geigers), ein strategischer Aspekt nicht völlig fehlt, kann die Diskrepanz zwischen privater und öffentlicher Aussage einen wichtigen Hinweis auf die politische und soziale Funktion von Abgrenzungsdiskursen geben. Dennoch lässt sich selbst dort, wo private Quellen existieren, letztlich nur sehr schwer sagen, ob ein historischer Akteur öffentlich gegen den Katholizismus auftritt, weil er ihm gegenüber Ressentiments hegt, oder aus strategischen Gründen eben weil alle Aussagen Gemengelagen darstellen. Zusätzlich ist die Ebene des Ressentiments auch schwer als kollektive Komponente zu beschreiben und in einer historischen Betrachtung deshalb nur unvollständig erschliessbar.
Methodologische Herausforderungen Dass Juden antiklerikal und antikatholisch seien, war besonders während des Kulturkampfes ein Topos sowohl des katholischen Antijudaismus und Antisemitismus seit den 1870er Jahren als auch der jungen antisemitischen Bewegung, die Juden vorwarf, die Nation durch ihre „Einmischung" in religionspolitische Debatten spalten zu wollen.46 Die Geschichte dieser Vorwürfe wiederum hat die Untersuchung jüdischer Abgrenzungen gegenüber Katholiken und anderen Gruppen in den Verdacht gebracht, prinzipiell antisemitisch motiviert zu sein; es ist daher geboten, mit bestimmten Schlagworten vorsichtig umzugehen.47 Neben dieser geschichtspolitischen Sensibilität gibt es auch methodologische Gründe, zurückhaltend gerade mit Etiketten wie .jüdischer Antikatholizismus" oder 44 45 46
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Ebd., 3. Susannah Heschel, Abraham Geiger and the Jewish Jesus, Chicago 1998. Todd Weir, The Fourth Confession. Atheism, Monism and Politics in the Freigeistig Movement in Berlin 1859-1924 [Diss. University of Columbia], New York 2005, bes. Teil 2: Freigeistigkeit and Kulturkampf 1869-1892; bes. zu katholischen Vorwürfen in dieser Richtung siehe Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997. Eine kurze, polemisch aufgeladene Debatte um diese Vorwürfe von Katholiken gab es zwischen Olaf Blaschke und Uwe Mazura. Siehe Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus; Uwe Mazura, Zentrumspartei und Judenfrage, 1870/71-1933. Verfassungsstaat und Minderheitenschutz, Frankfurt a.M. 1994.
„ A B E R EINEN S T U R Z DES KATHOLICISMUS MÖCHTE ICH ERLEBEN"
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„jüdischer Antiklerikalismus" zu sein. Die Begriffe „Antiklerikalismus" und „Antikatholizismus" sind schon deshalb nicht unkritisch zu übernehmen, weil sie in der zu beschreibenden Ära Kampfbegriffe waren. Außerdem haben solche Begriffe den Nachteil, dass sie sich primär auf die Tiefenstruktur der Phänomene beziehen, aber kaum den Anspruch erfüllen, die komplexe Realität sprachlicher Manifestationen widerzuspiegeln. „Antiklerikalismus" meint in den meisten Analysen nicht, dass zum Beispiel in einer Zeitung gegen den „Klerikalismus" agitiert wurde, sondern vielmehr, dass der Klerikalismus als Feind gemeint war, wenn gegen „Pfaffen", .Jesuiten" oder „Ultramontane" gewettert wurde. Insofern ist in den Begriffen eine Ungenauigkeit eingebaut, die sie nicht sinnlos, aber gerade für ein Verständnis der Oberflächenstruktur, und damit des strategischen Aspekts, wenig brauchbar macht. Wichtig für eine Analyse jüdischer Inklusionsstrategien wäre nicht nur die Beschreibung bestimmter Abgrenzungsdiskurse und Dichotomisierungen (über Etiketten wie „Antikatholizismus" hinaus), sondern auch die Erforschung der Ursachen ihres Ausbleibens. Wann etwa wird die populärere Distinktion von Christen und Juden gewählt und wann wird unter den Christen zwischen Protestanten und Katholiken unterschieden? Wann argumentieren Juden nicht antiklerikal und wann kann man davon sprechen, dass sie es an einer Stelle deshalb nicht tun, weil es strategisch nicht opportun ist? Gerade das Fehlen und mehr noch das Vorhandensein der Motivation für dieses sind allerdings schwierig nachzuweisen. Einen Hinweis auf bestimmte Auslassungen auf einer rein strategischen Ebene gibt es dort, wo ein Zugang zu privaten und öffentlichen Texten von Autoren möglich ist, wie etwa bei Geiger. Schwieriger ist es, strategische Auslassungen zu beschreiben. Dies betrifft jenen allergrößten Teil der Fälle, in denen Autoren keine antiklerikalen Kommentare in ihren privaten Schriften hinterlassen haben. Die Schwierigkeit einer solchen Forschung besteht gerade darin, auch die Abwesenheit von Abgrenzungsdiskursen zu dokumentieren. Eine weitere methodologische Herausforderung einer solchen Beschreibung von Abgrenzungsdiskursen und Inklusionsforderungen bildet der Zusammenhang zwischen aktiver Abgrenzungsrhetorik und defensiver Polemik. Zunehmend in den 1870er Jahren waren die gegen Ultramontane gerichteten Kommentare in jüdischen Zeitschriften Reaktionen auf antijüdische Angriffe von Zeitungen des politischen Katholizismus. Das Problem ist dabei keineswegs auf jüdische Abgrenzungsdiskurse beschränkt, sondern liegt im Kern der Frage der Abgrenzungsdiskurse von Minderheiten generell, in der Ausschlüsse auch zu defensiven Zwecken reproduziert werden. Gerade diese Problemstellung verweist auf jenen Teil der Geschichte von Minderheiten, der sich nicht einfach in der Dichotomie „Opfer und Täter" auflösen lässt.
Ausblick Eine Betrachtung von Abgrenzungsdiskursen deutscher Juden im 19. Jahrhundert sollte nicht nur dazu beitragen, einige Lücken in den Forschungen zum Status der Religion und der Konfession im Liberalismus zu schliessen, sondern müsste sich in
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einen weiteren Forschungszusammenhang stellen. Für diesen Ansatz innerhalb der Geschichtsschreibung zum europäischen Judentum bietet sich eine komparative Perspektive zu zeitgenössischen Entwicklungen andernorts, aber auch ein Vergleich zu Kontexten der neuesten Geschichte an. So stellt sich etwa die Frage, wie diese konfessionellen und politisch-religiösen Abgrenzungsdiskurse in anderen Ländern mit ähnlichen Konflikten zwischen Liberalen und Katholiken aussahen - besonders in katholischen Ländern, wie dem zisleithanischen Habsburgerreich, Frankreich und Italien. Weit über die jüdische Historiographie heraus besteht vielleicht die Möglichkeit einer breiter angelegten Forschung zu den Abgrenzungs- und Ausgrenzungsdiskursen marginalisierter oder teilweise marginalisierter Gruppen. Dabei ginge es darum, über Verurteilungs- und Rechtfertigungsdiskurse, wie sie in Teilen der Literatur besteht, hinauszugehen48 und stattdessen das Potenzial der Erforschung dieser identitätsbildenden Diskursformen für ein Verständnis von Machtgefällen und Handlungsspielräumen von Minderheiten auszuloten.
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Die Ursache des moralisierenden Tones vieler Arbeiten zu Abgrenzungsdiskursen bei Minderheiten mag darin zu finden sein, dass diese primär als interne Kritik an emanzipatorischen Bewegungen in den 1970ern und 1980em konzipiert und verstanden wurden; zum Beispiel Margaret A. Simons, Racism and Feminism. A Schism in the Sisterhood, in: Feminist Studies 5 (1979) 2, 384—401.
KULTUR UND LITERATUR
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Bildung und Kultur Paradigmen deutsch-jüdischer Emanzipation „Kultur", Emanzipation und Konversion „Jede Kultur ist ursprünglich kolonial",1 schreibt Derrida. Diese Worte leiten die folgenden Überlegungen zum emanzipatorischen Gehalt des Nexus der deutschjüdischen Gesellschaft vom späten 18. bis frühen 20. Jahrhundert an:2 der „Kultur". Erweist sich Derridas Aussage als stichhaltig, dann ließe sich die Entwicklung deutsch-jüdischer Emanzipation begrifflich de- und rekonstruieren. „Kultur" als vom jüdischen Bürgertum postuliertes Fundament der Emanzipation installierte nicht allein die ersehnte Gleichberechtigung, sondern sie festigte Gewalt. Aufzeigen möchte der Aufsatz - unter Einbeziehung kritischer Kulturtheorie - , warum „Kultur" als Konzept der Emanzipation nicht zu Selbstbestimmung führte, sondern das deutschsprachige bürgerliche Judentum begrifflich und strukturell isolierte. Dabei verspricht eine Kontextualisierung eines Gedichts Heinrich Heines besonders ergiebig zu sein in dem Sinne, dass „Bildung" als Zugang zu „Kultur" nicht intentionsfrei ist, sondern als Bedingung von „Kultur" erscheint - und der sekundären Konversion3 immanent ist. Das Gedicht „Einem Abtrünnigen" entlarvt drei Dimensionen der Konversion, die signifikant sind: Es verweist auf „Bildung", „Kultur", und Habitus. Historisch, ideell und gesellschaftlich kontextualisiert, bezieht es sich auf die Fragen der Emanzipationsbedingungen: auf „Bildung" und „Kultur", die im „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" - dem Ort des innerjüdischen Diskurses - zentrale Bedeutung erlangen. Die innerjüdische Debatte und das Ringen um „Kultur" beginnt im frühen 19. Jahrhundert und endet mit der Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Die Parallelität ist augenscheinlich: Ein innerjüdischer Diskurs zu „Kultur" 1
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Derrida spricht von der Kolonialstruktur der Kultur in: Jacques Derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die Sprache der Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen, Frankfurt a.M. 1997, 15—41. Diese Zeitspanne korrespondiert mit dem „langen 19. Jahrhundert". Unter dem Begriff verstehen u.a. Jürgen Kocka und Franz J. Bauer die Phase von 1789 bis 1914/1918. Die theoretische Grundlage findet sie in der Aufklärung, die sich politisch und gesellschaftlich im historistischen Fortschrittsdenken ebenso wie in Säkularisierung und Rationalisierung, Nationsbildung, Liberalismus und konstitutioneller Staatsbildung spiegelt. Vgl. Franz J. Bauer, Das .lange' 19. Jahrhundert (1789-1917). Profil einer Epoche, Stuttgart 2004, und Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2002. Dan Diner, Editorial, in: ders. (Hg.), Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook III, Göttingen 2004, 9-13; Justin Stagl, Conceptions Reconsidered. On Conversions and "Secondary Conversions", in: ebd., 385^07. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 157-173
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kann ohne Einbeziehung der bürgerlichen Gesellschaft nicht gedacht werden. Das verdeutlichen insbesondere die Analysen der Kritischen Theoretiker. In ihren Arbeiten spiegeln sich gleichermaßen die Bedingungen und Begriffe der bürgerlichen Gesellschaft wie die Topoi des innerjüdischen Diskurses. Ihre These - dass das Judentum keine Kultur, sondern Zivilisation sei - versucht das Judentum vor dem „affirmativen Charakter" der „Kultur" zu retten. Das verleitet die vorliegende Arbeit dazu, den vielschichtigen Konnex von „Kultur" und Judentum zu fassen und das Selbstverständnis des deutschen Judentums als ein scheinbares zu demaskieren. Denn: „Kultur" führt das Judentum und das deutsche Bürgertum zusammen und trennt sie unvereinbar.
„Kultur" der Konversion: Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" Der innerjüdische Diskurs findet Gestalt im „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden". Junge Intellektuelle,4 sich alle der Emanzipation schon bewusst, ringen um die „Verbesserung" der gesellschaftlichen Situation der Juden, die sie sich als ideengeschichtliche und soziale „Integration" vorstellen. Programmatisch setzen sie auf „Kultur", die zum Fundament einer Urbanen bürgerlichen Schicht avanciert.5 Säkularisiertes Judentum muss „Kultur" internalisieren, leben und abbilden,6 so stellt sich der Verein die Emanzipation vor. „Kultur" fungiert dabei als Grundlage des erstrebten Akkulturationsprozesses sowie als Identifikationsmoment. Das als „Kultur" säkularisierte Judentum verharrt nicht als Idee, diese verlangt vielmehr, sich habituell7 anzupassen. Dadurch verharrt „Kultur" nicht in Abstraktion, sondern das jüdische Streben nach einer Einverleibung der „Kultur" ist wirklich und hat Konsequenzen; Kultur bedeutet Konversion. 4
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Historisch entsteht die Vorstellung des Intellektuellen erst mit der Dreyfus-Affäre. Doch wird insbesondere Heine als „Protointellektueller" (Habermas) ex post stilisiert, der geistig frei und biographisch exiliert, parteilos und unabhängig schreibt. Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1996. Die Trägerschicht von „Bildung" und „Kultur" im 19. Jahrhundert ist das Bildungsbürgertum, das zudem eine Definitionsmacht darstellte. Rachel Livneh-Freudenthal, Kultur als Weltanschauung. Der Kulturbegriff der Begründer der .Wissenschaft des Judentums', in: Bernhard Greiner/Christoph Schmidt (Hg.), Arche Noah. Die Idee d e r , Kultur' im deutsch-jüdischen Diskurs, Freiburg i.Br. 2002, 59-84; Ashraf Noor, Urarche/ Urache: Husserl, Cohen und die Idee einer Kultur der Vernunft, in: ebd., 125-139. Der Begriff „Habitus" umschreibt die spezifische Art und Weise, in der Denken und Fühlen des Einzelnen nach Ausdrucksformen sucht. „Habitus" kann als individuelle Umsetzung einer gesellschaftlichen Stimmung verstanden werden. Er reagiert auf Ideologie, ist aber nicht identisch mit ihr. „Habitus" bezieht sich auf soziale Werte und Normen, auf kulturelle Signale, die im Sinne eines gesellschaftlichen Konsenses als wirkliche oder vermeintliche zentrale Fragen interpretiert werden können. „Habitus" ist ein Begriff, ein Konzept, mit dessen Hilfe die Formen der Vermittlung zwischen den sozialen und politischen Gegebenheiten einerseits und der individuellen geistigen, sprachlichen, einstellungs- und verhaltensmäßigen Reaktionsweise andererseits verdeutlicht werden können. Habitus ist „als System der organischen oder mentalen Dis-
BILDUNG U N D KULTUR - PARADIGMEN DEUTSCH-JÜDISCHER EMANZIPATION
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Somit aber ist das Konzept „Kultur" als Nexus von Selbstbehauptung und Emanzipation nicht ohne Sprengkraft. Die spezifische Aufgabe von „Kultur" erweist sich, Herbert Marcuse zufolge, in der Verdeckung und Bejahung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse,8 - die spezifische Dialektik von Utopie wie Affirmation, Integration wie Exklusion, Freiheit wie Gewalt sind ihr immanent. Und somit stellt sich die Frage, worin die gesellschaftliche Attraktivität von „Kultur" als Identifikationsmoment und Verhaltenskodex des deutschsprachigen Judentums9 besteht. Von Bedeutung erweist sich Marcuses Postulat; denn wenn „Kultur" Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft maskiert, so argumentiert der Essay, und dem will der vorliegende Aufsatz nachgehen, stellt sie ein Symptom des Rückzugs aus der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit dar. Bemerkenswerterweise erfährt „Kultur" Attraktivität, als die politische und gesellschaftliche Emanzipation im Scheitern begriffen ist und die Restauration Wirklichkeit wird. Der Kulturverein gründet sich nicht zufällig als Folge der „Hep-Hep"-Unruhen 1819. Umso evidenter erscheint hierin die Analyse des Topos „Kultur" im inneijüdischen Kontext, die in der Forschung oftmals nur affirmativ beleuchtet wurde. 10
„Kultivierung" und Konversion: „Einem Abtrünnigen" Einem Abtrünnigen Ο des heiigen Jugendmutes! O, wie schnell bist du gebändigt! Und du hast dich, kühlem Blutes, Mit den lieben Herrn verständigt. Und du bist zu Kreuz gekrochen, Zu dem Kreuz, das du verachtest, Das du noch vor wenig Wochen In den Staub zu treten dachtest! O, das tut das viele Lesen Jener Schlegel, Haller, Burke Gestern noch ein Held gewesen, Ist man heute schon ein Schurke. 11
position und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata" zu verstehen. Vgl. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974, 40. 8 Herbert Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), hg. von Max Horkheimer, 54-94, hier 61. 9 George L. Mosse, Jüdische Intellektuelle in Deutschland, Frankfurt a.M. 1992, 21-24. 10 Ausnahmen stellen die Arbeiten Shulamit Volkovs, George L. Mosses, Sander L. Gilmans und Zygmunt Baumans dar. " Heinrich Heine, Einem Abtrünnigen (Nachgelesene Gedichte 1812-1827. III. Abteilung: Gedichte aus dem Nachlaß), in: ders., Sämtliche Schriften, 6 Bde., hg. von Klaus Briegleb, Bd. 1, München 2 1975, 266.
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Dieses Gedicht entstand im Herbst 1825. Es bezieht sich auf den ehemaligen Vorsitzenden und das wortführende Mitglied des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden", Eduard Gans, der die Taufe nahm und dadurch die Professur an der Juristischen Fakultät der Berliner Universität erlangte.12 Jenseits der persönlichen Enttäuschung über Gans' Taufe, die diese Zeilen formulieren, beschreibt das Gedicht den Prozess, der der „Konversion" vorausgeht: die Internalisierung nichtjüdischer Paradigmen. Heine referiert die Vorgeschichte und die Beziehung von „Kultur", Taufe und Konversion.13 In den Dimensionen „Bildung", „Kultur" und Habitus, stellt „Bildung" die ideelle Vorbedingung von „Kultur" dar, ohne „Bildung" kann Konversion nicht geschehen. Diesen Konnex stellen Heines Verse heraus. Dabei thematisieren die Verse nicht allein die personelle Konversion. Vielmehr verbindet Heine die persönliche Entscheidung mit einer gesellschaftlichen Situation, - die Taufe ist hernach kein persönlicher, selbstbestimmter Akt, sondern Ausdruck und Folge einer falsch gedachten Emanzipation, für die das Engagement des Kulturvereins und insbesondere Eduard Gans in persona steht. Gans' Taufe - so wie Heine sie lyrisch analysiert und kommentiert - ist ideell motiviert. Die „Abtriinnigkeit" bezieht sich weniger auf Gans' formelle Loslösung vom Judentum. Entziffert werden muss Gans' Konversion als beispielhafte Verwirklichung des Programms des Kulturvereins, als „Kultivierung" des Judentums und der Juden. An eigener Person leistet Gans der Indifferenzierung des Judentums innerhalb der deutschen Gesellschaft und Geistesgeschichte Vorschub und konkretisiert den Leitbegriff des Kulturvereins. In der Vorstellung des Vereins ist die „Kultivierung" des Judentums das evolutionär zu Erringende, das über die Anpassung des Judentums an den nichtjüdischen Kulturbegriff14 erfolgt. Das Programm des Vereins formuliert die „Kultivierung" als Säkularisierung des Judentums und fordert die habituelle Anpassung jedes Einzelnen ein. Gelöst von Tradition und Religion soll Judentum „Kultur" sein, der Einzelne „kultiviert" (eine politische Ambition wird damit ausgespart).15 Als einzuverleibendes Konzept avanciert „Kultur" zum Fundament der Selbstbestimmung und -emanzipation. 12
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Der Verein wollte durch praktische und wissenschaftliche Arbeit das Judentum emanzipieren, d.h. Juden in die deutsche Kultur und Gesellschaft einbinden. Hierzu wurde ein wissenschaftliches Institut nebst Archiv gegründet, eine Zeitschrift diente der Vermittlung neuer Ideen und Forschungsergebnisse, und eine „Unterrichtsanstalt" vermittelte jüdischen Jugendlichen Kenntnisse in Geschichte und Sprachen. 50 Mitglieder zählte der Verein bis zu seiner Auflösung 1824. Vgl. Edith Lutz, Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden" und sein Mitglied Heinrich Heine, Stuttgart 1997. Der Begriff „Konversion" umfasst nicht unbedingt die Taufe, sondern steht für eine Übernahme von nichtjüdischen Paradigmen bei einhergehender Aufgabe eigener Konzepte und Traditionen sowie des eigenen Habitus. Diner, Editorial, 9-13; Stagl, Conceptions Reconsidered, 385—407. Moses Moser, Vereinsmitglied und Freund Heines, erkennt: Eine Aufhebung der jüdischen Kultur wäre „ein bedeutender Schritt vorwärts für die Nation (die alsdann eine solche zu sein aufhörte)", zit. nach Lutz, Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden", 104f. Die Diskussion um die Namensgebung vereinschaulicht die Intention: „Wissenschaft" und „Cultur" bilden die scheinbar apolitischen Leitbegriffe des Vereins, während die Verbindung zur
BILDUNG U N D K U L T U R - PARADIGMEN DEUTSCH-JÜDISCHER EMANZIPATION
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Unverkennbar scheint hier Hegels Philosophie durch.16 Insbesondere Gans ist stark beeinflusst. Hegels Vorstellung von der welthistorischen Notwendigkeit des Christentums überzeugte ihn und war schon früh Bestandteil seines Denkens.17 Schon vor seiner Taufe galt Gans als „ungetaufter Hegelischer Christ".18 Er war überzeugt, dass das Ziel der historischen Entwicklung die Realisierung der Freiheit sei. Damit transferiert Gans die messianische Idee in den historischen Raum - und vollzieht damit eine ideelle Konversion, die wesentlich von „Kultur" determiniert wird. Denn, so das Vereinsprogramm, (jüdische) „Kultur" sollte als wesentlicher Faktor in der Entwicklung des Weltgeistes zur Verwirklichung der Freiheit fungieren. „Kultur" ersetzt dabei das eschatologische Moment des Judentums. Begriffen als Zustand der Freiheit, sei „Kultur" nach Gans dann verwirklicht, wenn die Juden ein „Bewusstsein ihrer selbst"19 erlangen - durch Bildung. Damit impliziert Gans „Bildung" als Bedingung von „Kultur" und konzipiert für das Judentum den zu beschreitenden Weg in das Bildungsbürgertum, die Trägerschicht von „Kultur" und Bildungswesen.20 Eingeschrieben in das „Bewusstsein ihrer selbst", also der Juden, sind die Ideen der Aufklärung und des deutschen Idealismus, - der Bildungsweg erscheint als Weg in die Freiheit. Diese Ideen rekurrieren auf bereits von Moses Mendelssohn einige Jahrzehnte vorher Formuliertes. In seinem Aufsatz „Ueber die Frage: Was heißt aufklären?" verweist Mendelssohn auf den Begriff: „Kultur", „ein Fremdling in der Sprache",21 korrespondiere mit den sprachlichen „neu Ankömmlingen". Dieses „neu" bezieht sich weniger auf den Wortkörper, als auf die semantische Neubestimmung des Begriffs, die bei Mendelssohn eingebettet erscheint in „Bildung" und Aufklärung. Hier formiert sich die Grundlage des bürgerlichen Lebensbildes: ,3ildung, Kultur und Aufklärung
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nationalen Vergangenheit durch Namen wie „Maccabim" oder „Zion" als politisch-national und partikular abgelehnt wurde. Vgl. Ismar Schorsch, From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism, London 1994. Livneh-Freudenthal, Kultur als Weltanschauung, 67. Diese Aussage beruft sich auf Leopold Zunz; vgl. Johann Braun, Judentum, Jurisprudenz und Philosophie. Bilder aus dem Leben des Juristen Eduard Gans (1797-1839), Baden-Baden 1997, 54f. Ebd., 42. Zit. nach Livneh-Freudenthal, Kultur als Weltanschauung, 65. Bollenbeck, Bildung und Kultur, 100. „Nicht die großen Philosophen, wohl aber Theoretiker und Praktiker des Bildungswesens wie (allen voran) W. v. Humboldt, Niethammer oder von Süvern sind die Stichwortgeber des Deutungsmusters." Die konzeptive Fassung, d.h. die Durchsetzung der Verknüpfung von „Bildung und Kultur", liegt laut Bollenbeck nicht in den komplexen Entwürfen des deutschen Idealismus, sondern in der Lebenswelt des Bildungsbürgertums. Moses Mendelssohn in einem Brief an August Hennings vom 27. November 1784, in: ders.: Gesammelte Schriften (Jubiläumsausgabe), 27 Bde., hg. von Alexander Altmann S.A., Eva J. Engel, Michael Brocke und Daniel Krochmalnik. In Gemeinschaft mit Fritz Bamberger S.A., H. Borodianski (Bar-Dayan) S.A., Simon Rawidowicz S.A., B. Strauss S.A., L. Strauss, und Werner Weinberg. Begonnen von Ismar Elbogen, Julius Guttmann s.A. und Eugen Mittwoch. Neudruck, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Bd. 13/3: Briefwechsel, 234.
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sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern."22 Mendelssohn hebt den soziopolitischen Sinn von „Kultur" hervor. Er erfasst „Kultur" als Bedingung des geselligen Lebens, d.h. als Verhaltenskodex des „Bürgers", denn, so fügt er hinzu, der „Mensch als Mensch bedarf überhaupt keiner Kultur", weil diese „bloß in Beziehung auf das gesellschaftliche Leben einen Werth" hat.23 Damit weist Mendelssohn bereits auf den Kern eines Deutungsmusters der bürgerlichen Gesellschaft voraus. Er erfasst „Kultur" als Paradigma des ,3ürgers", sie positioniere das Individuum innerhalb der Gesellschaft und schaffe den Status. Sie sei die Voraussetzung für die Partizipation an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und bestimme Stand, Beruf, Recht und Pflicht - und, was im Folgenden bedeutsam ist, sie verheiße „Integration". Diese Vorstellung vom Bürger, der Träger der „Kultur" ist, hallt noch in den Sätzen Gans' knapp vierzig Jahre später nach: „daß in der Mitte der Juden selbst Männer auferstehen, die, durch ihre Bildung der europäischen Kultur angehörend, tief ergriffen von ihrer Bedeutsamkeit, durch ihre Stellung in der Gesellschaft allein schon eine Entfernung von der Eigentümlichkeit ihrer Glaubensgenossen andeutend, [...] zugleich aber innig vertraut [...] mit dem Historischen und Dogmatischen ihres Wesens" 2 4
Diese Zeilen bezeugen ein neues Selbst- und Sendungsbewusstsein, das im vollkommenen Einverständnis mit bürgerlich-idealistischen Paradigmen gedacht und von diesen geprägt ist. Diese Selbstbestimmung integriert „Kultur" und „Bildung" kritiklos, denn sie verheißen den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft. Die vom Kulturverein imaginierte jüdische Emanzipation, die „Kultivierung" jedes Einzelnen, korrespondiert mit dem von Dan Diner geprägten Begriff der sekundären Konversion.25 Der „innere Entwicklungsprozess" ist mit der sekundären Konversion deckungsgleich - die Gans einfordert und selbst vollzieht. Hier greift die gesellschaftliche, konkretisierte Dimension in die geistige Konzeption von „Bildung" und „Kultur"; der „innere Entwicklungsprozess" erwirkt einen spezifischen Habitus. „Bildung" und „innerer Entwicklungsprozess" sind synonym - Lernprozesse, die einen spezifischen, intendierten Habitus entwickeln und soziale Integration ermöglichen sollen. Das setzt Kompatibilität und innere Mobilität voraus, d.h. Offenheit für eine Restrukturierung, und zwar ideell wie auch personell. Der „Konvertit" muss dabei die Struktur des sozialen und historischen Raumes anerkennen, will er wirklich
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Moses Mendelssohn, Ueber die Frage: Was heißt aufklären?, in: Berlinische Monatsschrift. August 1784, 130-154, hier zit. nach: Gesammelte Schriften (Jubiläumsausgabe), Bd. 6/1: Kleinere Schriften, 115-119. Ebd. 116. Zit. nach Braun, Judentum, Jurisprudenz und Philosophie, 22. Diner, Editorial, 9-13.
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„integriert" sein. 2 6 Damit aber avanciert „Bildung" z u m neuralgischen Begriff als Bedingung der Konversion. „Bildung", in Heines Versen das „viele Lesen", 2 7 wird umgesetzt in Konversion. Damit greift Heine einen spezifischen Bildungsbegriff der Aufklärung kritisierend auf, und insofern kann Adorno in „Die Wunde Heine" urteilen, dass sich „Heine allein unter den berühmten Namen der deutschen Dichtung [...] einen unverwässerten Begriff von Aufklärung bewahrt" 28 habe. Heine nimmt wahr, dass der Bildungsbegriff der Aufklärung neben der Internalisierung von W i s s e n und G e s c h m a c k 2 9 die Einverleibung von habituellen Konventionen, d.h. sittliche Erziehung beinhaltet, und endlich die primäre Konversion einfordert. 3 0 Konversion birgt d e m g e m ä ß Gewalt; die allerdings von den Mitgliedern des Kulturvereins unerkannt bleibt. D e n n die Einleitung des Entwurfs der Statuten des Kulturvereins postuliert, dass , J u d e n durch einen von innen heraus sich entwickelnden Bildungsgang mit d e m Zeitalter und den Staaten, in denen sie leben, in Harmonie zu setzen [sind]". 31 D i e s e in den Euphemismus „Harmonie" gekleidete Gewalt entziffert Heine als subtil geschönten M o d u s der Herrschaftsausübung. Der „Abtrünnige", lesbar als die
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Denkbar ist an dieser Stelle die Anknüpfung an den „Mimesis"- Begriff. Interessanterweise wird die nachahmende Handlung bei Aristoteles auf die Tragödie bezogen. Mimesis funktioniert auf der Grundlage einer Ähnlichkeit zwischen der realen und der fiktiven Welt; beide Welten sind aber nicht deckungsgleich, und die fiktive produziert eine Scheinwelt. Damit aber korrespondiert sie mit „Kultur". Die Mimesis der fiktiven Welt, hier „Kultur", ist angesichts der erstrebten Emanzipation ein Irrläufer, denn sie bedeutet das Nachahmen einer Scheinwelt. Es wäre gewinnbringend, den Begriff „Konversion" mit dem der „Mimesis" zu konfrontieren. Gemeint sind die Werke des Romantikers Friedrich Schlegel, der 1808 zur katholischen Kirche konvertierte und von dem Heine in „Die romantische Schule" schreibt: „Ich glaube, daß es Fr. Schlegeln mit dem Katholizismus Ernst war. Von vielen [...] glaube ich es nicht. Es ist hier sehr schwer die Wahrheit zu ermitteln. Religion und Heuchelei sind Zwillingsschwestern, und beide sehen sich so ähnlich, daß sie zuweilen nicht von einander zu unterscheiden sind." Heinrich Heine, Die romantische Schule, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 3, München 1975, 357^197, hier 409. Carl Ludwig v. Haller, antiliberaler Schweizer Politiker und Publizist, bereitete 1808 seine Konversion vor und trat 1820 unter großer Anteilnahme der europäischen Öffentlichkeit zum Katholizismus über. Hallers antiliberale, restaurative Staatskonzeption stieß in den konservativen Kreisen Westeuropas auf begeisterte Resonanz. Sein politischer Entwurf verband aristokratisches Standesbewusstsein mit religiöser Gläubigkeit und favorisierte die ständische Gliederung als gottgewollt. Der englische Staatsmann Edmund Burke vollzog keine religiöse, sondern eine ideelle Konversion; er bezog gegen die politischen Entwicklungen der Französischen Revolution Stellung und gilt als Begründer des Konservatismus. Theodor W. Adorno, Die Wunde Heine, in: ders., Gesammelte Schriften, 20 Bde., hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1997, 95-100, hier 96. Das Konzept des Habitus schließt „Geschmack" als eine soziale Positionsbestimmung ein, als die Ausdrucksform der Differenzierung von Lebensstilen; er klassifiziert, eint und trennt gesellschaftliche Schichten. Interessant wäre es in diesem Kontext, die ästhetische Lebenswelt des deutschen Judentums, soweit möglich, zu untersuchen. Mosse, Jüdische Intellektuelle in Deutschland, 22. Entwurf von Statuten des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden (Berlin 1822). Abteilung Β des Leopold Zunz Archivs der Jewish National and University Library in Jerusalem, Signatur 4792.
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sich kultivierenden Juden,32 verwickelt sich in eine soziale Ordnung, die zugleich im Habitus der Herrschenden sowie der Beherrschten verankert ist. Die soziale Ordnung fordert den Gleichklang subjektiver und objektiver Strukturen ein. Nichts anderes formuliert der Entwurf der Statuten des Kulturvereins. Damit verlangen diese die Inkorporation des hegemonialen Zeitgeistes und der geltenden Ordnung. Doch gleichzeitig müssen die Juden sich in ihrem Status quo selbst als minderwertige Subjekte identifizieren. (Fremd-)Herrschaft ist somit immanenter Bestandteil des Programms des Kulturvereins, das beansprucht, Juden vom Status des unmündigen Objektes zu dem des mündigen Subjektes der bürgerlichen Gesellschaft zu verhelfen. Diesen Prozess, der zur Assimilation führt, greift Adorno auf, wenn er schreibt: „Damit werden sie sich selbst gegenüber - was immer das sein mag - zu einem Äußerlichen, nach dem Modell der auswendigen, der Kausalität unterworfenen Dingwelt."33 Die in den Statuten des Kulturvereins proklamierte Emanzipation durch „Kultivierung" erscheint in Konfrontation mit der „Dingwelt" in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv; insbesondere müssen die Statuten angesichts der Entwicklung des deutschen Bildungs- und Kulturdiskurses als anachronistisch gelten: Wie „Kultur" bleibt auch „Bildung" im hegemonialen Diskurs nur scheinbar semantisch offen. Heine demaskiert jene Unbestimmtheit des Begriffs und entlarvt seinen spezifisch christlichaffirmativen Gehalt. Denn historisch und ideell diente „Bildung" der Überwindung der Ungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Schichten - zuvorderst der Emanzipierung, im Hegemonialdiskurs der moralischen des Bürgertums gegenüber der Aristokratie. Der Partikulardiskurs der Juden, für den der Kulturverein hier steht, bewertete Bildungsbegriff und -inhalt als Aufhebungsmodus der gesellschaftlichen Distinktionen zwischen sich und der nichtjüdischen Mittelklasse. Das Selbstverständnis des deutsch-jüdischen Bürgertums ist damit im hohen Maße vom Bildungsideal geprägt - mit weitreichenden Konsequenzen; denn die Konkretion des Bildungsbegriffs beginnt mit der Einverleibung des spezifischen Zeitgeistes und endet mit der geforderten „Harmonie": dem Übertritt. Gans' Vorstellung von „Harmonie" meint die Verschmelzung mit dem „Ganzen"; das Judentum solle in der europäischen Welt auf-, jedoch nicht untergehen, und er zitiert ,,eine[n] der edelsten Männer des deutschen Vaterlandes", Johann Gottfried Herder: „Es wird die Zeit kommen, wo man in Europa nicht mehr fragen wird, wer Jude und wer Christ sei."34
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Unterstützt wird diese Interpretation „des Abtrünnigen" durch Heines Gedicht „An Edom!", in dem er die habituelle Anpassung der Juden an das Christentum scharf angeht: „Ein Jahrtausend schon und länger,/ Dulden wir uns brüderlich,/ Du, du duldest, daß ich atme,/ Daß du rasest, dulde Ich.// Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,/ Ward dir wunderlich zu Mut,/ Und die liebefrommen Tätzchen/ Färbtest du mit meinem Blut!// Jetzt wird unsre Freundschaft fester,/ Und noch täglich nimmt sie zu;/ Denn ich selbst begann zu rasen,/ Und ich werde fast wie Du." Vgl. Brief an Moses Moser, Göttingen, den 25. Oktober 1824, in: Heinrich Heine, Briefe, 3 Bde., hg. von Friedrich Hirth, Bd.l, Mainz 1950, 184. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1997, 216. Eduard Gans, Halbjähriger Bericht, 4. Mai 1823, zit. nach Braun, Judentum, Jurisprudenz und Philosophie, 34.
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Gans interpretiert Herders Zeilen als wohlwollendes Bekenntnis und Vision einer Gleichheit. Anders gedeutet, verkünden sie die Aufhebung des Judentums,35 eine Konsequenz, die Heine erkennt. Das Konzept der „Bildung", die Übernahme des europäischen Geistes - Programm des Vereins versprach die Befreiung des Geistes und verdeckte (oder verkannte) aber, dass diese Übernahme ihr Versprechen nicht würde einlösen können und somit keine Befreiung des Menschen bzw. der Juden bedeuten konnte. Was die Statuten des Kulturvereins „Harmonie" nennen, kann als „Gewalt" entlarvt werden. Die „Harmonisierung" verwirklicht sich als „Assimilation" und Aufgabe eines eigenbestimmten jüdischen Bewusstseins. Als weiteres „Missverständnis" kann der im Programm verwendete Begriff „Bewusstsein" gelten, der mit „Bewusstwerden" verwechselt wird. Heines Zeilen demaskieren das „Bewusstsein ihrer selbst" als fremdbestimmtes Bewusstsein. Das „BewussLsem" ist ein „Bewusstwerden", unterliegt also den nichtjüdischen Paradigmen. Heine kritisiert damit sowohl die Voraussetzung als auch das Ergebnis der Emanzipation und bringt dies in seinem Gedicht „Einem Abtrünnigen" lyrisch auf den Punkt. „Bildung", die prozessuale Vorbedingung von „Kultur", ist kein semantisch offener Begriff, sondern vielmehr Ausdruck eines spezifischen Codes der Herrschaft. Gans fällt die Entscheidung zum Übertritt bewusst; aus Überzeugung nimmt er die Taufe. Moses Moser, Vereinsmitglied, bestätigt die sekundäre Konversion, die der primären vorausgeht: „So natürlich wie dieser Übergang (im Geiste nämlich, die dazugehörige Ceremonie ist nur unwesentliches Accidens) sich bei Gans gemacht hat, ebenso natürlich finde ich die Exklamation der Hamburger dagegen." 36 Die nüchterne Feststellung, dass Gans' Konversion „natürlich" sei, bezieht Moser auf Gans' geistige Vorbildung - und stellt damit lapidar fest, dass die Aufklärung christlich begriffen war. Damit referiert er die Verwendungsgeschichte von „Bildung" innerhalb der Aufklärung. Der Bildungsbegriff stellt keinen offenen Bruch mit der Religion dar, vielmehr ist sie impliziter Bestandteil. Anders als in Frankreich oder England kristallisiert sich im deutschen Kontext ein - positiv formuliert - lebendiges und undogmatisches Verhältnis zur Religion heraus, einhergehend mir der Vergeistigung der Sinnlichkeit und einer ausgeprägten Affinität zu anthropologischen und psychologischen Fragestellungen. Zentral erscheint die Frage nach der
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Zu Herders Haltung zum Judentum vgl. u.a. Klaus L. Berghahn, Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2001, 195-205. Das Zitat ist für die Haltung der Aufklärung charakteristisch. Als „Menschen" wurde den Juden die Gleichberechtigung und die Teilhabe am „Reich der Vernunft" prinzipiell zugestanden. Die Parallelität von aufklärerischer Polemik gegen das Judentum als Religion einerseits und der Forderung nach rechtlicher und sozialer Gleichstellung der Juden als „Bürger" andererseits, führte zu der Argumentation, dass die „Befreiung" der Juden eine Befreiung des Judentums bedeuten müsse. Besonders augenfällig erscheint Herders Affinität zu dem biblischen Volke, den „Hebräern", und ihrer Poesie bei gleichzeitiger Abneigung gegenüber den zeitgenössischen Juden. Brief von Moses Moser an Immanuel Wohlwill vom 29. August 1825, zit. nach Lutz, Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden", 196f.
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Bestimmung und Moralität des Menschen.37 Im Bildungs- und damit auch im Kulturbegriff verschränken sich protestantische Religiosität und Aufklärungsbewegung.38 Denn zwar zerfällt die religiöse Autorität im 18. Jahrhundert, doch drängt der Protestantismus in die „Kultur". An die Stelle der Religion, der religiösen Autorität, treten Kritik, Wissenschaft und Meinungsfreiheit und übernehmen die „heimatlos" gewordenen Bedürfnisse. Damit findet eine religiöse Verweltlichung statt, die sich insbesondere an „Kultur" ablesen lässt und die sich damit als Sinnbild der „deutschen Kultur" darstellt.39 Die Säkularisierung bedeutet nur eine Verweltlichung des Christentums, nicht seine Aufhebung. Der Aufklärung eingeschrieben ist das Christentum, rationalisiert40 und - später durch die romantische Schule - nationalisiert.41 Das bedeutet aber: Das religiöse Ethos von „Kultur" bildet einen regressiven Ersatz42 für die scheinbar abgelöste religiös-christliche Autorität und erscheint als „Fetisch" - historisch und ideell. Religion ist zwar im Säkularisierungsprozess der Aufklärung überkommen, ihr aber immanent und modifiziert eingeschrieben. Hierin liegt die religiöse Dimension von „Kultur"; sie wird zu einer gedanklichen und nationalen, später nationalstaatlichen „Heimat". „Kultur" fungiert hernach als symbolische Sublimierung für eine fehlende politische Einheit, sie vergesellschaftet und homogenisiert die Antagonismen innerhalb der Gesellschaft - bei gleichzeitiger Ausgrenzung derjenigen, die ohne die spezifische „Bildung" sind. Vor diesem Hintergrund kann Gans' sekundäre und primäre Konversion nicht als religiöser Übertritt gewertet werden - sondern als Einverleibung von „Kultur", als ganzheitliches Konzept und als Sinnbild des deutschen Bürgertums.43
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Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, 537-539. Bollenbeck, Bildung und Kultur, 107. Das ist auch institutionell begründbar. Denn im Gegensatz zu Frankreich fehlt die Institution Kirche als starrer und eindeutig negativer Bezugspunkt. Während der Katholizismus doktrinär Religion und Religiosität kontrolliert, erlaubt das Luthertum Heterogenität sowohl institutionell als auch in der religiösen Praxis. Vgl. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 1974, 104. Vgl. Dan Diner, Max Horkheimer's Aporien der Vernunft, in: ders., Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, 152-179, hier 173. ,,[D]er Patriotismus des Deutschen [...] besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. [...] Als endlich der deutsche Patriotismus und die deutsche Nationalität vollständig siegte, triumphierte auch definitiv die volkstümlich germanisch christlich romantische Schule, die ,neu-deutsch-religiöspatriotische Kunst'." Heine, Die romantische Schule, 379f. Vielleicht liegt hier der Grund für das sprachliche Kuriosum der gegenwärtigen politischen Rhetorik, die immer wieder vom „ße/trag der Juden zur deutschen Kultur" spricht; ähnlich wie das Wort „Mitbürger" suggeriert dies doch nur das Ergänzende, nicht aber eine Immanenz. Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-1918, München 1994, 13.
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Zu Neuralgie und Attraktivität der „affirmativen Kultur" An die Feststellung, dass „Kultur" wesentlich das neue, emanzipierte Selbstverständnis des deutschen Judentums prägte, knüpft sich die kritische semantische Überprüfung von „Kultur" an. Die Überlegungen Herbert Marcuses diskutieren die Konstitution und die Anziehung, die von „Kultur" ausgeht. In seinem Essay „Über den affirmativen Charakter der Kultur" von 1937 dekonstruiert Marcuse die bürgerliche Kultur - und bezieht sich somit historisch auf die Epoche des Kulturvereins, die eine Epoche der Konversion nicht allein der Juden, sondern auch des deutschen Geistes darstellte.44 Marcuse schreibt diesen Essay im Kontext der eigenen Vertreibung. Der Niedergang der bürgerlichen Kultur besiegelt gleichsam den Niedergang der deutschen Judenheit. Sein Abgesang auf den bürgerlichen Kulturbegriff erscheint im Augenblick des Scheiterns, des Zusammenbruchs der Weimarer Republik, des ersten demokratisch verfassten deutschen Staates. Der Essay thematisiert aber auch Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen", in denen eine heißt: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein."45 Benjamin spielt, in der Interpretation Herbert Marcuses, auf die Substanz von „Kultur" an, nämlich auf die „unwahre" Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt,46 die Marcuse 1937 als Charakteristikum der affirmativen Kultur entwickelt.47 „Kultur" analysiert er als gewaltvolles Signum deutsch-bürgerlicher Gesellschaft. Das Diktum Benjamins, dass das „Bild der Vergangenheit" sich „im
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Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, 54-94. Marcuses Essay, den Horkheimer für „besonders gelungen" erklärt (Max Horkheimer an Theodor W. Adorno am 22. Februar 1937, in: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Briefwechsel, 2 Bde., hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz, Bd. 1: Briefwechsel 1927-1937, Frankfurt a.M. 2003, 295), diente als Grundlagentext zu „Kultur" der Kritischen Theorie; als einer, der „allgemeiner kritisch in unsere Theorie hereinspielt" (ebd.). „Kultur" gelangt damit in das Zentrum des analytischen Augenmerks innerhalb des Kritischen Kreises. So scharf Marcuse 1937 im Essay argumentiert, - Adorno ist weniger überzeugt und bemerkt skeptisch: „So aber gerät er [Marcuse] in Bereiche, die nur mit der äußersten Vorsicht und dann freilich auch der äußersten Schärfe in Angriff genommen werden dürfen. [...] Vorsicht Selbstschuß. Ich sehe auf eine allzu eifrig hergestellte tabula rasa nur gar zu schnell den Schatten eines Schillerdenkmals fallen." [Adorno an Horkheimer am 12. Mai 1937, in: ebd., 355]. Die Skepsis, die Adorno angesichts Marcuses Kulturkritik äußert, ist geknüpft an das Verhältnis der Kritik zu ihrem Objekt; Kritik ist auch in der schärfsten Radikalität gebunden an das Objekt und misst es an einem Ideal. Demnach wird die bestimmte historische Gestalt der „Kultur" an einem allgemeinen Kulturideal gemessen. Hierin erweist sich aber Kritik affirmativ. Sie steht „im Schatten", ist okkupiert von Tradition und nimmt Maß an einem Ideal. Darin besteht Adornos Kritik an Marcuses Essay. Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in; ders., Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, hg. von Herbert Marcuse, Frankfurt a.M. 1965, 78-94, hier 83. Herbert Marcuse, Nachwort, in: Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 99-107, hier 104. Vgl. dazu auch einen späteren Text: Herbert Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, in: ders., Kultur und Gesellschaft, 2 Bde., Bd. 2, Frankfurt a.M. 1965, 147-171.
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Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt",48 gilt für Marcuses Analyse von „Kultur". Der Dekonstruktion49 von „Kultur" ist die Präsenz der Vertreibung, und damit das Scheitern des Konzeptes der „Kultur" als emanzipatorische Potenz eingeschrieben. Neben einer scharfen Ideologiekritik beinhaltet der Essay die Analyse zur gesellschaftlichen Auswirkung des Kulturkonzepts der bürgerlichen Epoche. Dabei demaskiert er eine bestimmte historische Gestalt der „Kultur".50 Er führt den Beweis, dass „Kultur" innerhalb der bürgerlichen Epoche als Stütze von Herrschaftsverhältnissen dient und sich als Gewalt offenbart.
„Über den affirmativen Charakter der Kultur" Analyse einer bürgerlichen Konstitution „Kultur" wisse den Nationalsozialismus deswegen zu ertragen, da sie den „affirmativen Charakter" bereits in ihrem Ideal, d.h. vor dem historischen Hintergrund der bürgerlichen Epoche, angelegt habe. Das postuliert Herbert Marcuse in seinem Essay „Über den affirmativen Charakter der Kultur": Ihre Affirmativität ist charakteristisch. Denn innerhalb der bürgerlichen Identitätsbildung erscheint „Kultur" als Ideologie. „Ideologie" deshalb, da „Kultur" als „geistige Welt" die „materielle Welt" herabsetze.51 Die Zweiteilung, „geistig" und „materiell" ist funktional; ,,[d]ie Kultur bejaht und verdeckt die [...] gesellschaftlichen Verhältnisse."52 Hierin schließt sich Adorno Marcuses Argumentation an und bringt die Bedingung von „Kultur" auf den Punkt: „weil eben Kultur selber in der radikalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit entspringt und aus dieser Trennung, der Erbsünde gleichsam, ihre Kräfte zieht."53 Die radikale Trennung von „materiell" und „geistig" erscheint hier nicht allein als Abwertung, sondern als Bedingung von Kultur. Die Genese von „Kultur" entspringe aus dem Mangel.5* Interessant ist dabei die Assoziation „Erbsünde", denn sie kon48 49
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Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, 81. Dekonstruktion deshalb, da Marcuse die „affirmative" Kultur destruiert, aber, wie auch Adorno bemerkt „Kultur" nicht grundsätzlich in Abrede stellt, - er selbst argumentiert vor dem Ideal einer „progressiven Kultur", indem er die affirmative kritisiert. Detlev Claussen, Die harte Arbeit der Theorie, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur, München 1988, 90-100, hier 92f. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, 60. Ebd., 61. Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a.M. 1997, 11-30, hier 20. Freud benennt das Entstehen von Kultur mit „Sublimierung". Heinrich Heine weist in „Schöpfungslieder VII" auf den Zusammenhang von Krankheit und „Kultur" hin. 1848 erscheinen die Verse: „Warum ich eigentlich erschuf/ Die Welt, ich will es gern bekennen:/ Ich fühlte in der Seele brennen,/ Wie Flammenwahnsinn, den Beruf.// Krankheit ist wohl der letzte Grund/ Des ganzen Schöpfertums gewesen;/ Erschaffend konnte ich genesen,/ Erschaffend wurde ich gesund." (Neue Gedichte. Verschiedene), in: Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 4, München 1971, 358f. Diese
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textualisiert „Kultur" als spezifisch christlichen, abendländischen Ausdruck, dem die Ächtung der Befriedigung immanent ist. In enger Verbindung dazu sieht Marcuse den kategorischen Imperativ: „Das Ideal, dem die entsagende, sich selbst unter den kategorischen Imperativ der Pflicht stellende Person nacheifert (dieses kantische Ideal ist nur die Zusammenfassung aller affirmativer Tendenzen der Kultur), ist unempfindlich gegen das Glück; es kann weder Glück noch Trost erwecken, da es nie gegenwärtige Befriedigung gibt." 55
Die „Kultur", die Glück verheißt, kann keinen Glückszustand - außer im Genuss von Kunst - erzeugen. Das Versprechen von Glück wird nicht eingelöst, doch der Schein erhält den Glauben daran aufrecht. Darin aber ähneln sich „affirmative Kultur" und Christentum, beide verschieben die Befriedigung ins Jenseitige. Das durch die Aufklärung säkularisierte Christentum findet, wie bereits oben angerissen, in der „Kultur" ihre Wirkung. Der kategorische Imperativ, für Marcuse stärkster Ausdruck der „affirmativen Kultur", steht für diesen Konnex; sowohl „affirmative Kultur" wie Christentum verheißen einen Glückszustand unter der Bedingung des Mangels, der Zweiteilung von Geist und Körper, Subjekt und Objekt und von Geschlecht. Die „Erbsünde" ist nicht allein im Christentum, sondern auch säkularisiert und vergesellschaftet wirksam. Das hat aber Konsequenzen; in der Verschiebung der Befriedigung manifestieren „affirmative Kultur" und das ihr eingeschriebene Christentum Herrschaftsverhältnisse. Umso mehr, als das Christentum das Andere nicht denkt,56 - die dem Judentum eingeschriebene Eschatologie wird im Christentum durch die falsche Identifizierung, nämlich mit dem Sohn Gottes, aufgehoben.57 Der Konnex von Christentum und „Kultur" ist fundamental; nicht allein historisch amalgamieren sie, sondern auch in ihrem Gehalt. Adorno und Marcuse entlarven
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Reinterpretation des Schöpfungsmythos fasst die gesamte Kultur- und Kulturproduktion des Menschen von Anfang an als einen immer erneuten Selbstheilungsversuch. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, 80. Sowohl Marcuse als auch Adorno und Horkheimer verweisen auf die spezifisch christliche Konnotation von „Kultur" und rekurrieren damit auf den christlichen Gehalt von „Aufklärung". Im Kontext der Bedingung von „Kultur" führt Adomo die „Erbsünde" und das Christentum an, die er und Horkheimer als Milderung der Furcht des Menschen vor dem Absoluten durch die Menschwerdung Gottes begreifen, nämlich dadurch, dass „die Kreatur in der Gottheit sich selbst wiederfindet: Der göttliche Mittler wird mit einem menschlichen Namen gerufen und stirbt einen menschlichen Tod." Die Vermenschlichung Gottes durch Jesus birgt aber die Absoluüerung des Endlichen. Diese Hypostasierung des Subjekts und die supranaturalistische Affirmation impliziert die Vergöttlichung und Absolutierung des Bestehenden. Das „Reich der Freiheit" wird mit dem „Reich des Bestehenden" identifiziert. Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1981, 192-234, hier 201. Hier manifestiert sich der Unterschied zwischen Judentum und Christentum deutlich: Für das Judentum steht die „diesseitige Welt", die Welt der Körperlich- und Stofflichkeit, nicht im Kampf mit der „jenseitigen Welt", der Welt der metaphysischen Realität, sondern „diese" Welt steht im Dienste , jener" Welt, sie wird von ihr geformt und durch das Gesetz erfüllt.
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„Kultur" als „christliche Kultur". Sie erscheint als moralischer Überbau bestehender Gewaltverhältnisse, denn der menschgewordene Gott statuiert ein Dogma. Das weltliche Leben wird jeglicher herrschenden Autorität und Gewalt überantwortet, jedes beliebige Opfer rationalisiert und das Endliche absolut gesetzt. In diesem Sinne wird das Metaphysische an die Natur angeglichen; in der Terminologie der Kritischen Theoretiker hieße dieses - gleichgemacht. Gleich der „Kultur" enthält das Christentum die Vorstellung des jenseitigen Paradieses aufrecht, die den ideologischen Überbau als Reich der Freiheit und Gleichheit impliziert. Damit findet eine Säkularisierung des Jenseits-Gedankens statt; die Verschiebung von Gerechtigkeit auf Erden wird durch „Kultur" ins Transzendentale verschoben. Die (auch von Gans und dem Kulturverein) erhoffte Freiheit ist demnach Utopie, sie wird nicht wirklich, nicht einmal für die „Identischen" wahr. „Kultur", entziffert als säkularisiertes Christentum und säkularisierter Glaube, kann im Kontext der Emanzipation des Judentums nur Konversion heißen. Damit bleibt aber die Frage nach der Attraktivität von „Kultur" für die sich „Kultivierenden". Sie liegt, so scheint es, in der Verheißung der Freiheit; vermittelt durch den Begriff der „Seele", denn in Marcuses Gegenüberstellung von „Geist" und „Materie" knüpft sich „Seele" als Determinante des Affirmativen der Kultur an. Die „Kultur der Seele" „soll das Gegebene veredelnd durchdringen, - nicht ein Neues an seine Stelle setzen."58 Diese Kultur erhebt damit das Individuum, ohne es befreien zu wollen; darin liegt nach Marcuse ihre Affirmativität. Die „Kultur der Seele" klammert den diesseitigen Zustand aus und wirkt darin regressiv, d.h. sie missachtet den Status quo. Die „Kultur der Seele" ist aber nicht nur ideeller Überbau: Sie schafft auch eine Wirklichkeit, sie greift ein. Marcuse findet diesen Überbau real übersetzt: „Kultur" ist eine „Haltung", ist ein „Sich-benehmen-können",59 ein habitueller Katalog zur Harmonisierung der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Gegensätze. Kultur als Ideologie und als Haltung ist ein Herrschaftsinstrument. „Kultur" als „veredelte Natur",60 in der alle menschlichen Beziehungen - Sprache, Bild, Freundschaft, Liebe und Sitten - eingebunden sind, ist „einst von den Oberen bewahrt und gepflegt, von den Unteren angenommen worden".61 Die „Haltung" zementiert Herrschaftsverhältnisse und birgt damit die nur relative Freiheit des Individuums in der äußerlichen Welt. Allein die „Idee" und die „Seele" erscheinen als Ort der Freiheit, der sich außerhalb der vom Tauschprinzip, dem Inbegriff der bürgerlichen Kultur, bestimmten (dominierten) Sphäre befindet. Das Konzept „Seele" rebelliert gegen eine „Verdinglichung"62 des Menschen im Wertgesetz der bürgerlichen Gesellschaft und lässt sich gleichzeitig integrieren - in seiner nur außerweltlichen Verabsolutierung bzw. in der Nicht-Verwirklichung im Diesseitigen. Damit wird aber das dichotomische Verhältnis von Körper und Seele gefes58 59 60
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Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, 67. Ebd., 67. Max Horkheimer, Philosophie als Kulturkritik (1959), in: ders., Gesammelte Schriften, 18 Bde., hg. von Alfed Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1990, 81-103, hier 99. Ebd. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, 71.
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tigt: Der Körper ist in der Abkopplung von der Seele Tauschwert, die Seele entzieht sich diesem, und rettet scheinbar das Individuum, das körperlich der Welt ausgesetzt ist; somit verklärt die Seele die Resignation.63 Doch bürgerliche „Kultur" ist nicht nur Ideologie; sie erhält die Illusion einer besseren Welt, im Sinne einer gewaltfreien. Indem sie hypostasiert, Glück und Freiheit für alle Menschen postuliert, wenn sie „gebildet" sind, erhält sie Sehnsucht und Versprechen wach und rettet das Individuum vor der rationalisierten Welt. Die Partizipation an der „höheren Welt" ist ein Zustand des Glücks, der Befriedigung: „Die Menschen können sich glücklich fühlen, auch wenn sie es gar nicht sind."64 Das ist das Eigentümliche an „Kultur": Ist der Zugang zu ihr (z.B. zu Lyrik, Musik, Kunst) gefunden, genießt der „Kultivierte" Schönheit, Freiheit und Frieden, aber auch Schmerz und Leid. Diese private Durchbrechung der Verdinglichung kann beliebig wiederholt werden, - und das Leben erscheint wieder, als das, was es jenseits der rationalisierten Welt ist. Nur durch das „Bewusstsein der Spannung"65 ist Genuss möglich. Befriedigung wird in der „affirmativen Kultur" somit nicht aus Trieberfüllung, sondern aus Triebverzicht gewonnen.66 Ist ein bewusster Triebverzicht kulturkonstituierend und Substanz von „Kultur", korrespondiert dies mit der durch die historischen Erfahrungen geprägten Konstitution des diasporischen Judentums.67 „Kultur" und .Judentum" träfen sich hier; und hier läge die Affinität. Das würde auch erklären, weshalb das „Entreebillet" nicht abgelehnt wurde. Die Bedingung von „Kultur", der Mangel, besteht auf der politischen Ebene als Mangel an politischer Souveränität und auf der psychologischen Ebene als Mangel an Trieberfüllung. Zumindest Ersteres trifft sowohl auf eine sich bürgerlich etablierende Gesellschaft als auch auf das Judentum zu. Gleichzeitig erschließen Judentum und „Kultur" eine Welt jenseitig des Wertgesetzes. Darin sind sie sich verwandt und hierin läge die Attraktivität von „Kultur" für das deutsche Judentum. Neben diesem denkbaren Begründungszusammenhang von „Kultur" und diasporischem Judentum steht der ideelle: Aus dem utopischen Moment der „Kultur" speist sich die emanzipatorische Hoffnung der sich „Kultivierenden". Das Ausgrenzende, Affirmative wird im „masochistischen"68 Bewusstsein integriert. Das ist umso verständlicher, als das kulturelle Versprechen, Freiheit und Harmonie, nicht einmal den „Identischen" - weder geistig noch materiell - zuteil wurde. 63 64 65
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Ebd., 72. Ebd., 83. Lothar Baier, Das Unbehagen in der affirmativen Kultur, in: Detlev Claussen (Hg.), Spuren der Befreiung - Herbert Marcuse, Darmstadt 1981, 179-189, hier 181. Der Psychoanalytiker Theodor Reik verweist in „Masochismus und Gesellschaft" auf die besondere masochistische Veranlagung der Juden. Leid, Vertreibung, Gewalt - die Geschichte des Judentums - erhält die Idee der „Auserwähltheit" am Leben sowie die Vorstellung, „daß, wer so viel gelitten, ein Recht auf eine Sonderstellung hat." Vgl. Theodor Reik, Aus Leiden Freuden. Masochismus und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1983, 457 (deutsche Erstausgabe 1940). Ebd. Ebd.
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Die Rettung des Judentums vor „Kultur" Heine entlarvt in seinen Versen „Kultur" als kolonial; kolonial deswegen, da sie okkupiert. Sie bleibt kein Abstraktum, sondern will verwirklicht, d.h. internalisiert sein. Dabei setzt er sie in Beziehung zu ihrer materiellen Grundlage, zu ihrem Entstehungszusammenhang - und demaskiert ihre Bedingung und ihren Ausdruck: Herrschaft. Heines Verse gemahnen an die Zeilen Max Horkheimers aus den Jahren 1939/1940 „Jüdischer Charakter": „Der größte Fehler der Juden ist: sie haben keine Herrschaft ausgeübt [...]. Deshalb begreifen sie so schwer, daß die Bedingung aller Kultur bis zur Stunde die Repression, die Abschreckung, die Ungerechtigkeit gewesen ist."69 Eindeutig postuliert Horkheimer hier den Konnex zwischen der Bedingung von Kultur und Gewalt und erklärt gleichzeitig den Gegensatz zwischen Nation bzw. Nationalstaat und Diaspora; er definiert das eine als eine politisch herrschaftliche Gesellschaftsform und das andere als herrschaftsfreie Lebensform. Analog zu Herbert Marcuse attackiert er einen spezifisch historischen Charakter von Kultur - eine Kultur, die sich national konstituiert und damit das Judentum a priori ausschließt. Mehr noch; das Judentum kann nicht „Kultur" sein, ohne „auswendig"70 zu werden. Damit beantwortet Horkheimer die Frage auch nach einer jüdischen Kultur negativ; das Judentum ist Zivilisation, aber keine „Kultur", weil diese nur im Zusammenhang von politischer Herrschaft existieren kann.71 So entlarvt Horkheimer das Dilemma des sich „kultivierenden" Judentums. Die Vorstellung des Kulturvereins von der „Kultivierung" des Judentums mündet in die vom Verschwinden, denn im Kontext der Nationsbildung - das bedeutet, auch im Kontext der Emanzipationsepoche - blieb den Juden die Alternative zwischen der Aufgabe ihrer selbst, d.h. der Konversion, oder aber der Gründung eines eigenen Staates: ,3eides bedeutet den Untergang des Judentums: das erste das Verschwinden aus der Welt, das zweite den Umschlag in den unvermeidlichen Nationalismus der anderen. Israel."72 „Kultur" ist das Paradigma des Christentums, das gebunden ist an Herrschaft. Das diasporische Judentum aber, ohne politische Macht, kann nicht „Kultur" sein. Horkheimer denkt „Kultur" jedoch nicht allein in politischer Dimension. Auch hinsichtlich der lebenspraktischen Konstitution des Judentums erscheint „Kultur" konträr. Das Judentum sei vielmehr eine Zivilisation, eine Praxis, da es sich als Gesetz kon69
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Max Horkheimer, Jüdischer Charakter. Aufzeichnungen und Entwürfe zur „Dialektik der Aufklärung", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931-1949, Frankfurt a.M. 1985, 263f. Adorno, Negative Dialektik, 216. Vgl. Diskussionen über die Theorie der Bedürfnisse. Horkheimer gibt zu Protokoll: „In der Welt des Bürgertums wird es klar, daß die ganze Kultur nur aus Herrschaft kommt." Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931-1949, 583. Max Horkheimer, Dialektik des Judentums. Späne. Notizen über Gespräche mit Max Horkheimer, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 14: Nachgelassene Schriften 1949-1972, Frankfurt a.M. 1988, 314f.
B I L D U N G U N D KULTUR - PARADIGMEN DEUTSCH-JÜDISCHER EMANZIPATION
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kretisiere. Seine religiös-sittliche Grundeinstellung wird nicht zu einem theologischen System formiert, sie findet ihre Form und somit die „Kultur" nicht wie das Christentum im Reich der Gedanken, sondern im Handeln. Damit kann Judentum nicht als „Überbau" existieren. „Kultur" findet ihr Äquivalent im Christentum, Zivilisation im Judentum.73 Damit retten die Kritischen Theoretiker das diasporische Judentum - und damit „ihr" Judentum - vor einem affirmativen Charakter, d.h. auch, vor totalitären Tendenzen. „Kultur" kann in seinem Kontext nicht existieren. Gekoppelt an nationale Herrschaft, ist sie dem Diaspora-Judentum fremd. So fremd, dass eine Einverleibung der Aufgabe des Judentums gleichkäme. Die Emanzipationsbestrebungen bringen Konvertiten hervor; der „Abtrünnige" wird zum „Schurken". Er gibt das Prinzip der Diaspora auf, und lässt sich auf eine Kollektivität74 ein, die im historischen Kontext zwar fortschrittlich gedacht, doch exklusionistisch in „Volkstum" umschlägt. „Die Harmonie der Gesellschaft, zu der die liberalen Juden sich bekannten, mussten sie zuletzt als die der Volksgemeinschaft an sich selbst erfahren." 75 Heine selbst, der „einen unverwässerten Begriff von Aufklärung" hatte, erliegt dem Druck und nimmt die Taufe, noch bevor er die Verse „Einem Abtrünnigen" schreibt.
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Max Horkheimer, Das Judentum - eine Zivilisation, ebd., 400. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, 85. Adorno/Horkheimer, Elemente des Antisemitismus, 193.
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The Dybbuk Reconsidered - The Emergence of a Modern Jewish Symbol between East and West An ancient wooden synagogue. Its walls are blackened with age. It is evening. Shadows dance on the walls. Inside are three Batlonim and several Yeshiva students. Among them is Khonon, a young student. Once he showed great promise, but lately he has changed. He is distracted, fasts often and is obsessively absorbed in the Kabala. Lea enters the synagogue with her old nurse Frade. She has come to see the Torah scrolls. She looks at Khonon, their eyes meet. He used to come to their home for Shabbat dinner - but not anymore. A short while after she leaves, Sender, the father of Lea, enters. He invites everybody for a drink to celebrate his daughter's betrothal. When Khonon hears the news, he collapses and dies. A hectic street near Sender's home where his daughter's wedding is to take place. Lea prepares herself for the wedding ceremony. She fasts and goes with Frade to the cemetery where she weeps at her mother's grave. When she returns, she honors the beggars and dances with them. But she is weak and can hardly stand. A.v the wedding ceremony begins, she tears the veil and cries: "You are not my bridegroom. " A Dybbuk has entered the body of the bride. Miropolye, the home of Reb Azriel, the Zaddik. Sender brings his daughter before him, seeking a cure. The Rabbi learns that the Dybbuk which has possessed her is the spirit of the dead Khonon. The deceased Nissan Ben Rivke appears in the dream of one of the Miropolye Hassidim, demanding that he summon Sender to a rabbinical court in his name. In the court it is discovered that Sender has sinned against Nissan. When they were both young yeshiva students, they swore that if they had a boy and a girl, they would wed them. Nissan died shortly afterwards and all traces of him were lost. Khonon, however, was his son. Because Sender failed to make inquiries, the destined match failed to take place. Khonon died and could only unite with his bride in the form of a Dybbuk. Reb Azriel reprimands Sender, but commands Nissan to order his son to leave Lea's body. The next scene is the exorcism ceremony. At first, Khonon refuses to leave the body of his beloved, but finally he weakens and is forced out. Lea is left alone, but when Khonon calls her, she follows him and they are united for eternity in the world of the dead.1 This is a brief synopsis of the plot of The Dybbuk, a play written by S. An-ski (pseudonym of Solomon Zainwill Rapaport) in 1914-1918. It was first performed 1
The synopsis is based on the English translation of the play. See S. Ansky, The Dybbuk, or Between Two Worlds, in: David G. Roskies (ed.), The Dybbuk and other Writings, New York
1992, 1-50. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 175-197
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in Yiddish (Warsaw, 1920) by the Vilna Troupe. Research on Habima presented its production of the play (Moscow, 1922) as a Zionist symbol.2 This paper attempts to restore The Dybbuk to the broader realm of European-Jewish culture. The enormous symbolic value achieved by this play within a short period of time is puzzling. How could a play dealing with the Hassidic milieu of the Eastern European shtetl, originally written in Yiddish and Russian and which addressed Eastern European Jewish readers and theatregoers, so readily transcend the boundaries of Eastern European Jewish culture? The present paper analyzes how cultured, German-speaking Jews in Central Europe used The Dybbuk as a platform for the discussion and exploration of modern Jewish identity. The molding of the play into a modern Jewish symbol came about as a result of Jewish cultural migration. All Eastern European Jewish theatre troupes that performed The Dybbuk toured Central Europe and were exposed to German-speaking Jewish audiences. The reception of the play in Central Europe, especially in Berlin and Vienna, was of special significance. These cities were important centers of modern Jewish culture which exerted great influence in the Ashkenazic Jewish world. The German language was accepted as the Jewish lingua franca in many quarters in Central Europe. German-Jewish intellectuals and theatre people used The Dybbuk to construct a bridge between East and West, modernity and tradition, and as a panEuropean Jewish symbol shared by Jewish audiences of varying ideologies and cultural orientations.
The Vilna Troupe and the World Premiere of The Dybbuk S. An-ski wrote several versions of The Dybbuk between 1914-1918, both in Russian and in Yiddish. Although he was a widely known poet, author and ethnographer, he had no reputation as a writer for the stage. He found it difficult to find an artistically recognized Jewish theatre troupe to produce his play. He first sent it to the MAT (Moscow Art Theatre), but Konstantin Stanislavsky, director of the theatre, believed this play should be performed by a Jewish theatre troupe.3 Only in 1916, in the midst of the First World War, the Vilna Troupe was founded and effectively became the first Yiddish art theatre. It was the first modern Jewish theatre to contend
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Much has been written about the Habima Dybbuk and the construction of the play as a Zionist symbol. The two main studies that deal with the history of Hebrew theatre stressed the Habima production of The Dybbuk as a turning point in the emergence of Hebrew professional theatre and its artistic recognition. See Emanuel Levy, The Habima. Israel's National Theatre 1917— 1977, New York 1979; Mendel Kohansky, The Hebrew Theatre. Its First Fifty Years, Jerusalem 1969. Dorit Yerushalmi related to various studies on the Dybbuk as a test case for investigation of the Hebrew theatre. See Dorit Yerushalmi, Hebrew Theatre Studies. The Dibbuk as a Case Study, in: Motar, no. 7 (1999), 89-96 [Hebrew], Shmuel Werses, From Language to Language. Literary Works and their Transformation in Hebrew Literature, Jerusalem 1996 [Hebrew].
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with such a play.4 Established with the assistance of German-Jewish intellectuals (Sammy Gronemann, Arnold Zweig) from the very beginning, both in Eastern Europe and in German-speaking areas, it was perceived as a symbol of Eastern European Jewish culture. This troupe infused the play with artistic attributes and symbolic value. From the 1870s, Yiddish theatre had begun to emerge as an important part of the Eastern European Jewish culture scene. Yet Eastern European Jewish intellectuals were displeased with the character and quality of Yiddish theatre. They condemned it for being too popular and vulgar and accused it of lacking genuine artistic standards. The influential author, Isaac Leib Peretz, was among the major figures to further Yiddish literary theatre modeled on European art theatres. Prior to World War I, there had been several attempts to establish a Yiddish theatre meeting the desired standard, but all were shortlived. The Vilna Troupe was the first Jewish theatre to fulfill Peretz's vision. It consisted of young amateur actors and Jewish intellectuals who had gathered in Vilna during the war. The aesthetics of the MAT served as their artistic model. Serving in the German occupation forces billeted in Vilna at that time were several German-Jewish officers who, in civil life, were artists and intellectuals: Sammy Gronemann, Hermann Struck, Arnold Zweig and others. The German-Jewish officers did all in their power to assist the group of ambitious but inexperienced Yiddishspeaking theatre people. They obtained permits from the German army to regulate the activity of the troupe, assisted them in finding rehearsal space and even provided them with food, badly needed in the midst of the battle areas.5 After the troupe staged its first production, the German officers publicized its activity and got permits for it to perform in the neighboring cities. This theatre troupe became an important event in the life of the German officers. They described it in their memoirs after the war and during the war, reported on it to leading Berlin newspapers: Vossische Zeitung, Deutsche Illustrierte Zeitung and Berliner Tageblatt.6 Shortly afterwards, the German forces were evacuated from the occupied territories in the East and the connection between the German-Jewish officers and the Vilna Troupe was severed. During the following years, the troupe established its status solely within the internal Jewish theatre scene. In 1917, Rachel Esther Kaminska, star actress of the Warsaw Yiddish theatre, saw this troupe and was deeply impressed by their artistic achievements. She invited them to Warsaw, the capital of Yiddish theatre in Europe.7 In Warsaw the troupe underwent a process of reorganization. Whereas some of the leading actors of the troupe returned to Vilna, where they
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Nahma Sandrow, Vagabond Stars. A World History of Yiddish Theatre, New York/San Francisco/London 1977. Luba Kadison/Joseph Bulloff/Irving Genn, On Stage, Off Stage, Cambridge 1992, 6f. See also Sandrow, Vagabond Stars, 4. Jacob Veislitz, Going to the World, in: Itzik Manger/Yonas Turkov/Moshe Perenson (eds.), Jewish Theatre Between the Two World Wars, New York 1968, 35^19 [Yiddish], Sandrow, Vagabond Stars, 4.
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were active as an independent troupe, the main group stayed in Warsaw, recruiting new actors w h o became associated with this theatre. 8 Both the Vilna and the Warsaw troupes were looking for a new repertoire based on Yiddish dramatic works that w o u l d enable them to project and advance their artistic conceptions. In the meantime, in Germany, certain German-Jewish intellectuals continued to nurture their memories o f Eastern European Jewry and the Vilna Troupe. They perc e i v e d Eastern Jewish existence as authentic and naive, utterly opposed to their o w n existence, which they regarded as modern and alienated from genuine Jewish existence. 9 In the e y e s o f these intellectuals, the Vilna Troupe became a symbol for Eastern European Jewish existence on the threshold of modernization and migration. A representative example is Arnold Z w e i g ' s recollection: "And all these together, all with persons unmentioned and those forgotten, constituted that wonderful orchestral ensemble, the Vilna Troupe, which we have dissected here into its elements. But which in our imagination, and fortunately not only in our imagination, formed a unity. They enthused and beguiled us, this despite the fact that at the beginning we understood nothing of what they were saying, and at the end only two-thirds. And despite this Yiddish language, Idish, which with an American touch of accent we call Yiddish. It is an idiom that in its power, humor, vivacity, intimacy, tenderness and commonplace vernacular character, in its stolidity of peaceful, placid life, and the ability to express the most searing misery, can readily be ranked with the great regional dialects of the German language, such as Low German. Here is a replica of Jewish life itself, also symbolic, in that it builds on an Old High German foundation, interspersed with the vitality of Russian and Polish words, and Hebrew complexes of concept and feeling. It is a conglomerate of the original and the alien, in which many centuries of Jewish life have their joint share. And in the mouths of its speakers, it presents itself as a unified whole. Jewish in its intonation, its tempo, its spirit, its very existence. The Vilna troupe actors speak Idish with a purity and reverence which actors of earlier generations once devoted to the cultivation of stage German. But then they went on tour, disappeared over the ocean, split up, scattered. We'll never see them again, never hear them speaking Idish that way again. Never be so touched again by the homely, everyday, otherly magic of the Jewish East. An East which itself is adapting, changing, vanishing from view." 10
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Zalman Zylbercweig, "Vilnaer Troupe", in: Lexicon of the Yiddish Theatre, ed. Zalman Zylbercweig, New York 1931, 704-717 [Yiddish], Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and GermanJewish Consciousness 1800-1923, Madison/London 1982, 121-214. Arnold Zweig, Juden auf der deutschen Bühne, Berlin 1927, 274f. "Und alle diese zusammen mit Ungenannten und Vergessenen machten jenen wundervollen Klangkörper aus, die ,Wilnaer', die wir hier zerlegt haben in Elemente, die aber in unserer Phantasie und zum Glück nicht nur in ihr eine Einheit waren. Sie haben uns begeistert und bezaubert, trotzdem wir von ihren Worten am Anfang nichts, am Ende nur zwei Drittel verstanden: trotz dieser jüdischen Sprache nämlich, dem Idischen, das man hier amerikanernd Jiddisch' nennt, und das an Kraft, Humor, Beiebenheit, an Innigkeit, Zartheit und Gewöhnlichkeit, in der Behäbigkeit des geruhsamen Lebens und mit der Fähigkeit zum schneidendsten Jammer neben die großen deutschen Dialekte, das Plattdeutsche etwa, sich einreiht - ein Abbild des jüdischen Lebens selber, symbolisch auch dadurch, daß es auf altdeutscher Grundlage, mit russischen und polnischen Lebensworten und
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The Dybbuk was created at the time the Vilna Troupe severed its connection with German- intellectuals. As mentioned, An-ski was looking for a Jewish troupe to perform the play. During the Russian Revolution, he stayed in Moscow, negotiating with Habima, who were interested in staging a Hebrew version of the play. In 1918, after the Bolsheviks took over the leadership of the Revolution, An-ski, as a "narodnik," had to flee the Soviet Union. He arrived in Vilna, where he began to negotiate with the Vilna Troupe to produce the play, while editing its final Yiddish version. He did not live to see the fulfillment of his dream. He died in 1920, before experiencing the play on stage.11 His death was a dramatic event in Jewish Warsaw. He was a greatly loved and acknowledged intellectual whose interest in folk culture had touched many Jews of different social status. An-ski, born in 1863, grew up in an Orthodox family but rebelled against it, becoming a socialist activist, fully assimilated within Russian culture. Roskies mentions that he even considered converting. 12 In the second half of the 1890s, he moved to Paris where he rediscovered his affinity to Eastern European Jewish culture. In France he came closer to the circles of the Jewish workers' movement, the Bund, and even wrote its hymn. During his stay in France he started to write poetry and fiction in Yiddish and began a long lasting though stormy friendship with Peretz. In 1908, he responded to the call of Simon Dubnow, and was among the founders of the "Society for Jewish History and Ethnography" in St. Petersburg. In 1912 he organized an ethnographic expedition that documented Jewish life in the Russian Pale and in Galicia. During World War I, he organized aid expeditions for Jews in Galicia who were suffering from the ravages of fighting. Intellectually, he was close to Peretz. Both of them attributed great importance to the collection and studying of Jewish folklore. Folk culture, they believed, should serve as an inspiration for the creation of modern Jewish culture, which was both innovative and connected to its roots. An-ski was buried beside his friend Peretz in the Jewish cemetery in Warsaw. In 1925 a common gravestone was erected for them. 13 At An-ski's graveside, in November 1920, the Vilna Troupe members vowed they would premiere The Dybbuk in his honor by the end of the month of mourning. The play was perfectly suited to the troupe repertoire. Combining folklore and modernity, it expressed the spirit of Peretz, whose vision had inspired the troupe.
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mit hebräischen Begriffs- und Gefühlskomplexen gespickt, ein Konglomerat von Fremdem und Eigenem ist, in das sich viele Jahrhunderte jüdischen Lebens teilen, und das sich im Munde der Sprechenden wieder geschlossen als Einheit darstellt - jüdisch im Tonfall, im Tempo, im Geiste, im Dasein. Die Wilnaer sprachen Idisch mit der Reinheit und Andacht, die Schauspieler früherer Generationen dem Deutsch widmeten. Dann gingen sie auf Gastspiele, verschwanden über den Ozean, teilten sich, zerstreuten sich - wir werden sie nie mehr sehen, nie mehr so Idisch sprechen hören, nie mehr so angerührt werden vom heimlichen, alltäglichen, mütterlichen Zauber des jüdischen Ostens, der auch seinerseits sich angleicht, wandelt, schwindet." Werses, From Language to Language, 3. David G. Roskies, Introduction, in: idem, The Dybbuk and Other Writings, xi-xxxvi. Corinne Ze'evi-Weil, In Search of a Lost Innocence. A Biography, in: Rivka Gonen (ed.), Back to the Shtetl. An-Sky and the Jewish Ethnographic Expedition 1912-1914, Jerusalem 1994, 13-26.
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As Leib Kadison, who usually directed the troupe's plays, felt that the Hassidic world of The Dybbuk was foreign to him, the troupe invited David Herman, an outside director, to stage the play. Herman was a Jewish-Polish director, active in both the Yiddish and the Polish theatre scenes. Since he originated from a Hassidic family in Galicia, the troupe members thought he might be closer to the world described in The Dybbuk,14 Herman was influenced by the Polish neo-romantic theatre and specialized in creating a mysterious atmosphere on stage. He was inspired by the Hassidic material in The Dybbuk, viewing it as a kind of Jewish Gothic.15 In his staging of the play, he created sharp contrasts between realism and lyricism. Each realistic scene was followed by a lyrical and symbolic scene, which presented the "outer world" on stage. Thus, he fashioned a recurrent flux "between two worlds" which was so central to the play. He used focused lighting resources, mostly candles, in order to enhance the mystical ambience.16 The play, premiered in December 1920, was an enormous success. Weislitz describes the troupe members' surprise at the overwhelming popularity of the play and the large number of theatregoers who crowded into the Eliseum theatre in Warsaw. About 200,000 people saw the performance in its first year.17 Standing side by side in the line at the box office were Orthodox Jews, Jewish bourgeois couples and Polish intellectuals.18 The play appealed to them for various reasons. The Orthodox were excited to discover on stage a world inspired by their religious and communal experience. The Polish intellectuals were enchanted by the exoticism of the Jewish world portrayed. The play turned into a kind of "cult show." Many stated they had seen it more than once.19 Surely it was not only the refined theatre language that paved the way for this production. It was likewise the memory of An-ski, a beloved intellectual and cultural leader, which attracted audiences who cherished his work. Shortly after Herman finished working on the production with the Vilna Troupe in Warsaw, he traveled to Vilna, where he staged the play with the actors who had left the original troupe. There is no evidence of the success of the second production, yet one may assume, in light of the success in Warsaw, that the play was well received there as well. The success of the play publicized both troupes, paving the way to Central Europe. The section of the Vilna Troupe in Vilna was the first to go on tour. The troupe traveled to Germany where they performed in Berlin from September 1921 till March 1922 under the name "Jüdisches Künstlertheater."20 Later on, it turned to Western Europe and then gradually disintegrated as a troupe. The 14 15 16 17 18 19
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Kadison/Bulloff/Genn, On Stage, OffStage, 28-32. Icchok Turkow-Grudberg, Jewish Theatre in Poland, Warsaw 1951, 4 5 - 5 6 [Yiddish]. Michael Weichert, Theatre and Drama, Warsaw, 1922, 105-119 [Yiddish], Veislitz, Going to the World, 6. Kadison/Bulloff/Genn, On Stage, OffStage, 5. Michael C. Steinlauf, Dybbuks On and Off the Yiddish Stage, in: Slawomir Kapraiski (ed.), The Jews in Poland, Vol. II, Cracow 1999, 273-284. Joachim Hemmerle, Jiddisches Theater im Spiegel deutschsprachiger Kritik von der Jahrhundertwende bis 1928. Eine Dokumentation, in: Michael Brocke (ed.), Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen, Frankfurt a.M. 1983, 277-312.
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main troupe, from Warsaw, performed in Vienna from October 1922 to January 1923.21 From there it went to Romania, Galicia and back to Poland.
The Reception of the Performance of The Dybbuk in Berlin and Vienna During the tour of Berlin and Vienna, the two sections of the Vilna Troupe renewed their connections with the German-Jewish intellectuals who had assisted them during the war. Sammy Gronemann played a major role in bringing the Vilna section of the Vilna Troupe to Berlin. He was a Zionist activist and author, as well as a lawyer who worked with the German actors' association. He saw mediation between GermanJewish culture and Eastern European Jewish culture as a personal mission and part of his Zionist commitment. The troupe was well-received in Berlin, arousing a lively discourse. It was received in light of small Yiddish theatre troupes who performed in the city.22 Yet it seems that Gronemann's target audience, the Zionist circles, remained mostly indifferent. Until then, the Yiddish troupes that performed in Berlin were of a popular nature and put on mainly burlesque and variety shows. The main attraction of the Vilna Troupe was its refined and professional performance. Despite the innovative nature of this theatre, it was condemned by the Zionist newspaper, Jüdische Rundschau, for using Yiddish, a supposedly "degenerate" language that should be rebelled against.23 Apart from this observation, the newspaper showed little interest in the theatre and its activities. Gronemann, disappointed by the lack of interest, attacked the Zionist audience for ignoring an important Jewish theatre troupe that was highly acclaimed in German theatre circles.24 Gronemann's criticism was appropriate. Although the Vilna Troupe did not leave much impression on Zionist circles, it proved a huge attraction for the assimilated German-Jewish theatre critics and intellectuals. The critique by Alfred Döblin is a good example reflective of the reception of this troupe. He described his first encounter with the troupe in Berlin: "A Jewish theatre that calls itself Jewish Art Theatre, a group of Vilna actors can be seen in the Kommandantenstrasse, where formerly the two Herrenfelds staged their burlesque pieces in Jewish jargon. [ . . . ] That has been replaced now by a genuine Jewish theatre. The undignified, self-prostituting Yiddish vernacular w e call 'Gemauschel' is over and done with. These are spontaneous artistic achievements of a vibrant living people." 2 5
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Brigitte Dalinger, Verloschene Sterne, Vienna 1998. Peter W. Marx. Zwischen zwei Welten. Die Inszenierungen des Dybbuk von An-Ski als Versuche kultureller Positionsbestimmung, in: Christopher Balme (ed.), Das Theater der Anderen, Tübingen 2001, 175-204. Baruch Krupnik, Jüdisches Künstlertheater, in: Jüdische Rundschau, 7. Oktober 1921. Sammy Gronemann, Jüdisches Künstlertheater, in: Jüdische Rundschau, 30. Dezember 1921. Alfred Döblin, Deutsches und jüdisches Theater, in: Prager Tagblatt, 28. Dezember 1921, quoted in: Alfred Döblin, Ein Kerl muß eine Meinung haben, Olten/Freiburg 1976, 36. "Ein jüdi-
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The Herrenfeld Theatre mentioned by Döblin was a popular burlesque theatre with a Jewish flavor, which primarily addressed the working class audience around the Scheunenviertel, Jews and non-Jews alike.26 According to Döblin, the Herrenfeld Theatre performance mirrored the marginal, hybrid and irritating identity of Eastern European Jewish immigrants in the Scheunenviertel. The Vilna Troupe created another kind of "performance of identity." A foreign, yet complete and rich culture was ingrained in the body of the troupe members. The Yiddish they spoke bore no similarity to the hybrid Yiddish 'Mauschel' vernacular. Here was an artistic language. It was a foreign language, similar to Russian, a language that could not be understood in Germany. The fact that the Vilna Troupe exhibited "spontaneous artistic achievements" made it a phenomenon worth seeing. The artistic token enabled the Vilna Troupe to break through the barriers of the marginal "immigrant culture," one often overlooked, and it was perceived as an important event on the Berlin cultural scene.27 Thus, the performance can be observed as a two-dimensional event. The first dimension related to the semiotic language of the fictional world. Döblin argued that the performance embodied a high level of artistic achievement. The other dimension in the performance of this troupe related to the sociological and cultural context in which they acted. Eastern European Jews were a common sight in Berlin. From the end of the 19th century, a constantly growing stream of emigrants had flowed into the city. Living mostly in the Scheunen viertel district, they stood out with their distinctive language and uncommon dress.28 As a cultural phenomenon, they remained on the margins of German urban life at the time. The sight of these Jewish immigrants was perceived mainly as a disturbance to the common aesthetic civil code that dominated the city, and was often overlooked by the bourgeois Berliners. However, the entrance of the Eastern European Jewish presence into the realm of the theatre changed its meaning for the Berlin audience. The Eastern European Jewish actors, whose foreign appearance was inscribed in their bodies and speech, stood now in the spotlight on the stage. Their presence became the aesthetic centre of the performance, regardless of the specific play they had put on. Thus the Eastern European Jewish presence turned from a disturbing presence that was mostly overlooked in the Jewish quarter of Berlin, into
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sches Theater, das sich Jüdisches Künstlertheater nennt, eine Gruppe Wilna Schauspieler sieht man in der Kommandantenstraße, wo früher die beiden Herrenfeld ihre burlesken Jargonstücke agierten [...] An diese Stelle ist ein echtes jüdisches Theater getreten. Das sich selbst prostituierende unwürdige Gemauschel ist vorbei; hier sind spontane Kunstleistungen eines lebendigen Volksstammes." Peter Sprengel, Populäres Jüdisches Theater in Berlin von 1877 bis 1933, Berlin 1997. The framing of the Eastern European Jews as "authentic" was discussed in several essays. See Aschheim, Brothers and Strangers, 9; Michael Brenner, The Renaissance of Jewish Culture in the Weimar Germany, New Haven/London, 1996; Paul Mendes-Flohr, Fin-de-Siecle Orientalism, the Ostjuden and the Aesthetics of Jewish Self-Affirmation, in: Studies in Contemporary Judaism 1 (1984), 96-139. Jack Wertheimer, Unwelcomed Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York/Oxford 1987.
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a fascinating presence within the theatre auditorium, that was celebrated by the Berlin audience and theatre critics. The Eastern European Jewish actors were perceived as "authentic" and thus their performance was perceived as "authentic" as well. The plays that were performed by these actors were artistic metaphors, which related to and deepened their "performance of identity," i.e. the cultural meaning of ι
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their very presence on stage. The performance of The Dybbuk became an integral part of the Vilna Troupe's performance of identity, solidifying and enriching it. It brought to the stage the strangeness and exotic nature associated with the performance of identity of the Eastern European Jews. Reflective of this is a letter written by Joseph Buloff, a member of the Vilna Troupe in Warsaw, to his friend Michael Veichert while the troupe was performing in Vienna. He claimed that: "Ironically, in Poland and Lithuania, they said that we were former professors and doctors. In Vienna, we are reputed as rabbis and Talmudic scholars."30 Later on, he described the reaction of the Viennese audience to the play. Prominent artists and authors attended the performance of The Dybbuk, among them Arnold Zweig, Hermann Struck, the tenor Leo Slezak, Richard Beer-Hofmann and Arthur Schnitzler. Yet the most important spectator of all was unquestionably the legendary theatre director active in Berlin and Vienna at the time, Max Reinhardt. Buloff described his encounter with the troupe: "Of the local leading personalities the noted playwright, Herr Hoffmann, was the first to show interest in our theatre. He saw The Dybbuk twice, and the second time brought Max Reinhardt with him. While the visit failed to augment our income, we were nevertheless enthusiastic: 'Reinhardt! Big news! Reinhardt.' He sat through the entire performance and then came backstage. An important man - Franz Josef sideburns, an elegant cane in hand. W e were speechless with awe, yet greatly encouraged by his sympathy and friendliness. At the end he said with a smile: 'Das ist nicht ein Schauspiel. Das ist ein Gottesspiel!'" 31
Reinhardt's perception of this theatre indicates to what extent the spirit of the play was internalized, forming the public image of this troupe. One of the most interesting observations about the Vilna Troupe's Dybbuk performance was made by the Berlin theatre critic Alfred Kerr. Kerr (Kempner) was born to a Jewish family in Breslau in 1867. As a young man, he had emigrated to Berlin where he converted to Christianity. In Berlin he became one of the most influential theatre critics. His criticism of the performance of the Vilna Troupe reveals not only
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The performance of identity of the Eastern European actors of the Vilna Troupe was not celebrated by all German theatre critics. Some accused this troupe of being too native and putting on ethnographical shows. But as a whole, the Vilna Troupe was well received. See Marx, Zwischen zwei Welten. Letter from Joseph BuIIoff to Michael Veichert, Vienna [undated] 1923. Quoted in: Kadison/ Bulloff/Genn, On Stage, Off Stage, 43f., here 43. Ibid.: "That's not a stage play. That's a divine performance."
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a deep understanding o f the play, but it encouraged him to define what it meant to be a Jew in Germany. First, he placed the play in the cultural context of Eastern European Jewish culture known in Germany, maintaining that this play reminded him of the Jewish legends of Micha Josef Bin-Gorion (Berdyczewski). 3 2 Berdyczewski w a s a Hebrew writer w h o had emigrated to Germany from Russia. A large amount of his work consisted of collecting and editing several anthologies o f Midrashim and folktales from the treasure of Jewish literature throughout the ages. T w o of his anthologies appeared in German: Die Sagen der Juden w a s published in five volumes between 1913 and 1927, 3 3 and Der Born Judas, in six volumes, from 1916 to 1923. 3 4 T h e tales were edited chronologically and thematically. Because they were disconnected from their original context, they formed a timeless mosaic of Jewish experience throughout the ages - from antiquity to modern times. 3 5 The Dybbuk, also based on a collection of folktales and dealing with a constant shift between the world o f the living and the world o f the dead, argued Kerr, created the same mysterious and concentrated effect that encapsulated Jewish existence. It is important to note the great intimacy inherent in Kerr's description of the effect of The Dybbuk. He used a childlike language to express the vitality of Jewish existence that emerged from the play. Later, he continued to describe the effect of the performance in Yiddish: "It's a foreign language. You only understand snippets here and there. If you've studied medieval Middle High German, you can understand a bit more. Sometimes it sounds like dialect from Tyrol, sometimes like talk from Holland, but with a softer accent. Nowhere a kind of 'Mauschel' hybrid. Rather you feel that this is an integral and genuine language of its own. It's a remarkable acquaintanceship. [...] Yes, these Hebrews who live today way down on the Volga or in the Polish lands, they adhered to German for all these centuries. Yiddish actually is a medieval German. It's proof that Jews were at home in Germany long long ago, spoke German ages ago. When the ancestors of Prussian swastika beaks were still piping their murky Slavic dialects." 36
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Alfred Kerr, S. Anski: „Der Dybuk", in: Berliner Tageblatt, 27. Oktober 1921. Die Sagen der Juden. Gesammelt von Micha Josef bin Gorion. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Emanuel bin Gorion, Leipzig 1978. Der Bom Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen. [Zwei Teile]. Gesammelt von Micha Josef bin Gorion. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Emanuel bin Gorion, Leipzig 1978. Zipora Kagan, Historical Objective Poetry. Anthological Poetics in the Work of Berdyczewski, in: Micha Josef Berdyczewski. Studies and Documents, ed. Avner Holtzman, Jerusalem 2002, 375-394 [Hebrew], Kerr, S. Ansky, 29. "Es ist eine fremde Sprache: man versteht nur Einiges. Wer mittelhochdeutsch kann, etwas mehr. Manchmal klingt es wie aus Tirol, bald wie aus Holland, mit weicherem Klangfall. Nirgends Gemauschel - sondern man fühlt eine geschlossene Eigensprache. Höchst merkwürdige Bekanntschaft. [...] Ja diese Hebräer, die heute tief an der Wolga oder in Polenreich sitzen, Jahrhunderte durch hielten sie an der deutschen Sprache fest. Das .Yiddish' ist ja praeter-propter mittelalterisches Deutsch. Ein Beweis, daß in Deutschland Juden längst heimisch waren, längst Deutsch redeten. Als die Ahnherrn preußischer Hakenkreutzschnäbel noch dunkle Slawendialekte piepsten."
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The public, high-quality Yiddish performance challenged Kerr to confront this Jewish language and its cultural meaning for German Jews. Yiddish was perceived in German culture as a deformed jargon, a strange, hybrid Jewish language based on an imitation of German, revealing "the true Jewish character" that can only emulate and exploit other cultures. In this language, argued many anti-Semites, no Jew can create a genuine, authentic and worthy work of art, but only despicable imitations.37 In the paragraph quoted, Kerr transforms the linguistic paradigm. He argued that the German components of Yiddish indicate the long and ancient connection between German and Jewish cultures. This long history constitutes the position of Jews as rightful participants in German culture, reinforcing the German-Jewish symbiosis that emerged in modern times. Yiddish, therefore, rooted Jews rightfully within German culture and did not, as anti-Semites claimed, constitute the discursive substratum of their otherness.
The Play and its German Translations With the performances of The Dybbuk in Berlin and Vienna, the play took on an independent life in the German-speaking world. Within a year, two German translations appeared. The first one in 1921 focused attention on the circle of agents who introduced the play to the German-speaking world. It was done by Arno Nadel (1878-1943), a liturgical musicologist and poet, during the tour of the Vilna section of the Vilna Troupe in Berlin.38 He was a typical "cultural agent" who through his activity as an intermediary introduced Eastern European Jewish culture to Germany. Nadel was born in Vilna and had studied music under Eduard Birnbaum in Königsberg. He relocated to Berlin in 1895, entering the Jewish Teachers Institute there as a teacher. He lived in Berlin all his adult life.39 Nadel belonged to a class of Eastern European Jewish immigrants who participated in German intellectual life. After 1887, when Tsar Nicolai had severely restricted the admittance of Jews into Russian academies, many ambitious young Jewish men who sought higher education were forced to migrate westward. The Germanspeaking world was traditionally perceived by Eastern Jewry as the cradle of enlightenment and German universities were a popular destination for young Russian Jews who left the Pale. By the beginning of the 19th century, Germany was the most sought after place for studies.40 37
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On the perception of Yiddish in German culture and its anti-Semitic implications, see Sander L. Gilman, Jewish Self-hatred, Baltimore/London 1986; Steven E. Aschheim, Reflections on Theatricality, Identity and the Modern Jewish Experience, in: Jeanette R. Malkin/Freddie Rokem (eds.), Jews and the Emergence of Modern German Theatre [forthcoming]. S. Anski, Der Dybbuk. Aus dem Jüdischen übersetzt von Arno Nadel, Berlin 1921. "Arno Nadel," in: Encyclopaedia Judaica, vol. 12, Jerusalem 1972, 752f. David A. Brenner, Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in Ost und West, Detroit 1998.
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This group of emigrant students was in a unique position. On the one hand, they had mastered the German language and were highly literate in German culture. On the other, they were socially isolated from German students and felt the rising tide of anti-Semitism within student fraternities. They were also isolated from GermanJewish students who came from assimilated German families as well as from the Jewish working class which had emigrated to Germany from Eastern Europe. But, characteristically, this group of emigrant students was not alienated from Eastern European Jewish culture. On the contrary, they recognized its richness and wanted to revive and modernize it. As such, they were active in translating, modernizing and introducing Eastern European Jewish culture into the German cultural sphere. Thus, they created a bridge that shaped a pan-European Ashkenazic Jewish culture. One of the major Jewish enterprises to establish such a bridge was the magazine and publishing house Ost und West, run by Leo Winz - himself an Eastern European Jewish immigrant. The journal and the publishing house concentrated on publishing translated Yiddish literature and plays, transforming this into an idiom acceptable for German-Jewish readers. Arno Nadel was among the main figures active in Ost und West - both in the magazine and in the publishing house. 41 An indication of the positive reception of the play in Germany can be seen in a second translation of the play, which appeared less than a year later (1922) 4 2 The translator was Rosa Nossig and it was published both in Vienna and Berlin. This edition revealed a dispute concerning the accuracy of the Nadel translation, although it seems that the two translations were done almost simultaneously. One indication of the dispute appears on the front page of the Nossig translation - it is noted that this is the "sole authorized translation." The „authoritative" nature of this translation was sanctioned in a long introduction by Dr. Jakob Heinsdorf. Heinsdorfs academic title was mentioned, which determined his authority in the field. The introduction covers An-ski's biography in depth and gives a detailed cultural background to the play, the last part is a glossary of Jewish terms mentioned in the play. 43 This second translation also reveals the cultural context in which the play was received by the German-speaking world. By the end of the Wilhelmine era, a great interest in anthropology arose in the German- speaking world, both as a newly born academic discipline and on the popular level. New museums for ethnology and folklore/folklife were established all over Germany. Many illustrated journals described the life of exotic tribes and nations inside Europe and around the world. 44 The interest of German Jewry in
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David A. Brenner, Making Jargon Respectable. Leo Winz, Ost und West and the Reception of Yiddish Theatre in Pre-Hitler Germany, in: Leo Baeck Institute Year Book 42 (1997), 51-66. An-Ski, Zwischen zwei Welten. Einzig autorisierte Übersetzung von Rosa Nossig mit einer Einleitung von Dr. Jacob Heinsdorf, Berlin/Vienna 1922. Jacob Heinsdorf, Einleitung, in: An-Ski, Zwischen zwei Welten, iii-xiii. Matti Bunzl/Glenn H. Penny, Introduction: Rethinking German Anthropology, Colonialism, and Race, in: idem (eds.), Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003, 1-30.
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Eastern European Jews can be understood in the context of the prevailing anthropological code of the time. Moreover, this very code was also present in the Jewish renaissance in Eastern Europe. The anthologies of Berdyczewski and their interpretation by Kerr were mentioned earlier. Between 1908-1911 Chaim Nachman Bialik and Yehoshua Hana Ravnitzky edited Sefer Ha'aggada (The Book of Tales),45 which was based on the literary parts of the Talmud.46 In Germany, Martin Buber also contributed his writings to the anthological enterprise of the Jewish renaissance. He assembled, edited and translated Hassidic tales, publishing them under the titles: Die Legende des Baalschem (1906), and Die Geschichte des Rabbi Nachman (1908).47 This project expanded the anthropological tendency, but this time - although the view is oriented eastwards - it was done within the realm of German-Jewish culture. The Dybbuk expressed similar anthropological tendencies. The play was constructed from the collection of folktales and legends documented by An-ski in his ethnographical expeditions. The play itself accurately mirrored the beliefs of the Hassidic milieu48 and the theatrical elements in the play, just as the beggars' dance before the bride, reflected long-rooted traditions.49 The reception of the play in Germany as a literary text was accurately summed up in a critical article by Elsbeth Meyer-Neumann that appeared in Der Morgen. This was a Jewish newspaper that dealt with religious and cultural issues concerning German Jewry and which stressed the Jewish-German symbiosis. As opposed to Ost und West, this journal did not perceive the concept of the intrinsic value of Eastern European Jewish culture.50 Meyer-Neumann interpreted the play in relation to the concept of love. The play develops the motif of love on different levels: the love of Khonon and Lea, the love of the Shehina (the holy spirit) for God, the love of the Hassidim for the Zaddik and Sender's love for his daughter. In her view, the play expresses the humanism that exists in traditional Judaism. This Jewish humanism constitutes the cultural connection between the Eastern European Jews and their brothers from Central Europe and Germany, who live by the light of universal humanism.51 Thus, in this perspective, the play constructed a bridge between the two Jewish cultures. However, the cultural difference between the two Jewish cultures was maintained and reinforced in the discussion of the play. 45
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Chaim Nachman Bialik/Y. Ch. Ravnitzky, Sefer Ha'aggada [The Book of Tales], Tel Aviv 1987. Kagan, Historical Objective Poetry, 32. Martin Buber, Die Legende des Baalschem, Berlin 1932; idem, Die Geschichte des Rabbi Nachman, Berlin 1908, 1920. Israel Ben-Joseph, Anski's "The Dibbuk" and Jewish Mysticism, in: Jewish Affairs 39 (1984), no. 12, 39-48. Sheryl Spitz, The Dance of the Dybbuk, in: Judaism 26 (1977), 467-474. Sarah Freiman, The Transformation of Jewish Consciousness as Reflected in the Journal "Der Morgen", 1925-1938, in: Modern Judaism 20 (2000), 41-59. Elsbeth Meyer-Neumann, Aus der Gedankenwelt des Dibbuk, in: Der Morgen, Dezember 1926.
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Berthold Viertel's Staging of The Dybbuk The reception of The Dybbuk did not remain confined to the theoretical and literary domain. After its publication, there were several productions of the play in Vienna and Berlin, some of which were in German. Dalinger describes early productions of the Dybbuk theme in Vienna from the end of the 1880s. In 1921 there was even an adaptation of Anski's play that was done in Yiddish in the spirit of "popular" melodrama.52 Yet these productions left no impression on the Viennese audience, Jews and non-Jews alike, remaining on the margin of the local Yiddish theatre scene. The first important encounter of the Viennese audience with the play took place through the performances of the Vilna Troupe. Following this celebrated production, there was a German production of the play staged at the Rollandbühne in 1925.53 This section will discuss one key German production of the play representative as a notable Expressionistic staging. The play was adapted and staged by the Viennese author and theatre director Berthold Viertel and was produced at the Kleines Theater in Berlin in January 1926. Viertel was a central figure in the German and Austrian expressionist and experimental theatre scene. His interpretation of the play, artistic style and casting and the reception of the production in the German press reflected the symbolic values it had acquired within German and German-Jewish culture by the mid-1920s. Viertel was a well-known intellectual and theatre artist. He was born to an assimilated Jewish family of merchants in Vienna in 1885. He attended university in Vienna and, in 1905, began to write theatre criticism. While on the staff of the Prager Tagblatt, he became acquainted with some of the prominent authors in the Prague literary circle: Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka and Paul Kornfeld. In 1911, he began to work as a dramaturg for the Wiener Volksbühne. Based on his experience, he was invited two years later to serve as director of the Royal Dramatic Theatre in Dresden.54 The Expressionist and revolutionary movement in German theatre began in the provinces during the first two decades of the 20th century and reached its peak in Berlin during the 1920s. Dresden was among the most important regional centres, and functioned as a cradle of innovative theatre in Europe. In 1909, Emile JaquesDalcroze and Adolph Appia founded an art and performance school in Hellerau, a suburb of Dresden - an institution that revolutionized the basic concepts of performance in the modern theatre.55 In this vibrant city, shortly before World War I, Viertel crystallized his artistic language as a director. He gained recognition after directing the Gas trilogy by Georg 52
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Sometimes called "Schund" or "garbage" literature. This concept relates to the popular, sometimes vulgar performances of the Yiddish stage; see Sandrow, Vagabond Stars, 4. Brigitte Dalinger, Begegnung mit Dibbukim. Chassidische Mystik im modernen Wiener Theater zwischen 1880-1938, in: Menora 11 (2000), 229-250. Gert Heidenreich, Theater-Biografie Berthold Viertels, in: Berthold Viertel, Schriften zum Theater, Munich 1970, 481^t91. Christopher Innes, Avant-Garde Theatre, London/New York 1993.
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Kaiser and Jenseits by Walter Hasenclever - two dramatic works epitomizing the new Expressionist aesthetics. After the war, he was invited to work in Munich, although his artistic language was too innovative for the conservative theatrical norms there. At the beginning of the 1920s, he relocated to Berlin, where he served as director at Max Reinhardt's Deutsches Theater and the Staatstheater, under the management of Leopold Jessner. By the mid-1920s, he was attempting to create his own independent ensemble - an effort that was fully realized only at the end of 1926, when he moved to Düsseldorf to serve as artistic director of the theatre there. The Dybbuk belongs to the period when he was concentrating on establishing his own ensemble and consolidating his position as an independent director. He specialized in adapting experimental literary works for the stage. In his staging, he used a stylized performance language and non-psychological acting methods.56 As an assimilated Jew, Viertel felt estranged from the culture of Eastern European Jewry. He first encountered the play almost by accident, when he attended the performance of the Vilna Troupe in Vienna. He recalled a rumor in the town about a great production of a visiting Yiddish theatre troupe. An enthusiastic theatregoer, he went with friends to see the play. Viertel was enchanted by the play, the acting and the bewitching atmosphere on stage. In his criticism of the play, he described the first act in great detail, every nuance in the mise en scene, every magical stage moment.57 At the end of 1925, he decided to stage the play himself. Viertel saw Tairov's Moscow Camernyi Theatre when it performed in Berlin. The stylized constructivism legend-like staging of Tairov inspired him and he applied this style when directing The Dybbuk.59 He was attracted by the universal and lyrical potential in this play, yet the folkloristic level remained foreign for him. Thus, he chose to blur the ethnography in the play and concentrate on staging the drastic shifts in the psychological structure of the main characters.59 One of the major staging choices that constituted the universal interpretation of the play was the casting. Viertel created an ensemble of Jewish and non-Jewish actors. His interpretation removed the folkloristic aspects of the play long identified with Eastern European Jewish culture. Thus, he made a significant contribution to the canonization of this play as a universal and respected work of art. The play was well received and the theatre critics praised the high artistic standards of the performance.60 Nonetheless, something was missing from the production. Arthur Michel discussed the various arising cultural aspects:
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Paul Schuhes, Expressionistische Regie, Cologne 1981. Viertel, Schriften zum Theater, 322. Schuhes, Expressionistische Regie, 52. See Emil Faktor, Dybuk, in: Berliner Börsen-Courier, 26. Januar 1926; Max Osborn, Dybuk, in: Berliner Morgenpost, 27. Januar 1926; Leo Hirsch, An-Ski: Dybuk, in: Berliner Tageblatt, 26. Januar 1926; Arthur Michel, Der Dybuk - S. An-Ski Legende im Kleinen Theater, in: Vossische Zeitung, 27. Januar 1926. See Faktor, Dybuk; Osborn, Dybuk; Arnold Zweig, Anskis „Dybuk" deutsch, in: Jüdische Rundschau, 29. Januar 1926; Michel, Der Dybuk.
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"Totally alien to the Jewish actors who performed yesterday in the Kleines Theater in a staging of the play 'Dybuk' is the Eastern Jewish world of divine mysteries and miracles, this world in which the dead live and are invited as guests, where they carry out revenge and engage in love, this atmosphere of mysticism and belief in magic. That is why they also lack the gesture of that world, which is not identical with their gesticulations. And which once became so vivid for us, in the performance of the Jewish Art Theatre six years ago. Which did not seize and beguile us because of the blood ties between the performers and the creator of the work and its characters, but rather because in their performance this work and its characters, with their atmosphere and innermost motives and emotions, took on objective form." 61
In his criticism, Michel revealed a longing for the "performance of Eastern European Jewish identity" intrinsic to the performance of the Vilna Troupe. This level of performance was missing from the current production, because most of the actors participating in the production were alienated from this mode of Jewish existence. Arnold Zweig reinforced the very same point in his criticism of the production. He criticized the play from the dramaturgical point of view. As for the performance, while he praised Gerda Müller (Lea) for her acting, he saw Frieda Blumenthal in the role of Frade as the true leading actress in this production: "When Gerda Müller (Lea) emitted her first great scream of obsession, the evening had been conquered, the audience won over. Never was her power as an actress wielded in such a free-wheeling form, her spirituality as a performer was never realized in such truthfulness devoid of all intention. But Frieda Blumenthal, totally unique in this German performance, was the most genuine, concentrated and most Jewish figure of all. Gerda Müller's Lea could be straight out of Hebbel, Oscar Wilde, Chekhov. The 'Grandmother' stepped forth from a Jewish poet directly transposed into the heart, spirit and body of a Jewish actress. Indescribable is the continuity of this accomplishment, the connection between each of its elements, the 'silent performance,' that is nothing other than beguilement, the perfect and complete bewitching cast over an artist. She was just as genuine and true to life as she was transparent. Just as much this specific old Jewish woman as the epitome of kindness, a fullness of caring, concerned sincerity, a human being and a human type - wonderful from beginning to end." 62 61
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Michel, Der Dybuk. "Den jüdischen Schauspielern, die gestern im Kleinen Theater in der Aufführung des ,Dybuk' mitwirkten, ist die ostjüdische Welt der göttlichen Geheimnisse und Wunder, diese Welt, in der die Toten leben, zu Gaste geladen werden, Rache und Liebe üben, diese Atmosphäre der Mystik und des Zauberglaubens, völlig fremd. Darum auch haben sie nicht die Gebärde dieser Welt - die nicht identisch ist mit ihren Gestikulationen, und die uns einmal lebendig wurde, damals in jener Aufführung des Jüdischen Künstlertheaters' vor sechs Jahren, die uns nicht ergriff wegen der Blutsverwandtschaft der Darsteller mit dem Schöpfer des Werks und seinen Gestalten, sondern weil in ihrer Darstellung dieses Werk und diese Gestalten mit ihrer Atmosphäre und ihren innersten Antrieben objektive Form gewannen." Zweig, Anskis „Dybuk" deutsch. "Als Gerda Müller (Lea) ihren ersten großen Schrei der Besessenheit ausstieß, war der Abend gewonnen. Noch nie spielte ihre Kraft in solcher Gelöstheit; ihre schauspielerische Durchseelung noch nie in so absichtsloser Wahrhaftigkeit. Frieda Blumenthal aber, völlig einzelartig in dieser deutschen Vorstellung, war von allen die echteste, die dichteste, die jüdischeste Gestalt. Gerda Müllers Lea konnte von Hebbel, von Oscar Wilde, von
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Zweig celebrated the performance of Frieda Blumenthal. She was the real Jewess from the shtetl, whereas Müller created a Lea like any other leading role in contemporary theatre. Only Blumenthal encapsulated the cultural dimension of "performing identity" formerly present in the performance of the Vilna Troupe. The ensemble collected by Viertel for this production exemplified his interpretation of the play, yet it carried a unique cultural significance. The group, consisting of Jewish theatre actors of various origins and non-Jewish actors, all participated in the creation of a play that constituted a milestone both in Jewish theatre and Eastern European Jewish culture and the German-speaking world. This multi-national group of actors can be compared with multi-cultural theatre groups that are common in Europe today.63 The Dybbuk of Viertel was not a universal multi-cultural theatre, but it was a pan-European Jewish theatre. Yet it put in the spotlight a very different presence than the "authentic" Eastern European Jewish presence of the Vilna Troupe. Viertel presented on stage a secular Jewish existence, which emerged from the collaboration of Russian, Eastern European Yiddish-speaking and German Jews, alongside non-Jews who participated in the creation of modern and secular Jewish culture. He instilled a Jewish existence in this production that was ignored by the theatre critics who commented on the play. This was a Jewish migration, both cultural and real: a constant transition between Central and Eastern Europe. It was a production that reflected an open Jewish identity: open to the participation of non-Jews to shape it with their own views in constant dialogue with Jewish actors and theatre people. Berlin, as a city of immigration, was the perfect location for the creation of such a play, involving such an ensemble. Viertel captured the Jewish diversity that existed in the city. However, the theatre critics continued to develop a binary perception of Jewish culture, which stressed the unbridgeable difference between the German Jews and Eastern European Jewish existence. The productions of The Dybbuk as well as the translations of the play were perceived as an authentic representation of Eastern European Jewish culture. The theatre critics and intellectuals failed to see how deeply this play and Eastern European culture permeated their own German-Jewish existence. Habima performed the play in Berlin few months later, in October 1926. This theatre put in the spotlight a Jewish existence, which suited well the projections and desires of German Jewish intellectuals and theatre people from a Jewish theatre troupe. On one hand, the Habima members were as "authentic" Eastern European Tschechow sein; die 'Großmutter', trat aus einem jüdischen Dichter unmittelbar in Herz, Geist, Körper einer jüdischen Schauspielerin. Unbeschreiblich die Kontinuität dieser Leistung, der Zusammenhang zwischen jedem ihrer Momente, das 'stumme Spiel', das ja nichts ist als die Verzauberung, die vollendete Verzauberung geworfen über einen künstlerischen Menschen. Sie war ebenso lebensecht wie transparent, ebenso diese eine bestimmte alte 'Jidenne' als die Güte, Sorglichkeit, betuliche Herzlichkeit selbst, ein Mensch und ein menschlicher Typus - wundervoll vom Anfang bis zum Ende." 63
Jacqueline Lo/Helen Gilbert, Toward a Topography of Cross-Cultural Theatre Praxis, in: The Drama Review 46 (2002), 31-53.
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Jews as the Vilna Troupe. On the other hand they presented a Jewish existence of the future: they were Zionists and performed in Hebrew - the language of the Zionist revolution, and were trained as theatre artists by avant-garde directors in vibrant Soviet Moscow.
The Dybbuk of Habima in Berlin Habima was founded in Moscow in 1917. It was composed of a group of young Eastern European Jews who wished to create a professional Hebrew theatre. All the members of this group grew up in the Russian Pale. At the time of the revolution, Moscow was open to Jews generally, and they gathered there in order to study the art of theatre. Nahum Zemach, the leader of the group, persuaded Stanislavsky to accept Habima as an independent studio inside MAT. Stanislavsky teamed the group with his directors who taught them acting and directed them. Yet the group had an independent status. The members of the group were responsible for choosing a Hebrew repertory that was compatible with their Zionist ideology. In 1926, Habima left Moscow. For five years they wandered around the Jewish world, performing in Eastern and Central Europe, Palestine and the USA. Vienna and Berlin were among the first locations where the troupe performed. They arrived in Vienna by the spring of 1926 and reached Berlin by the fall of the same year. Berlin became the homebase of the theatre until it settled in Palestine in 1931. While staying in Moscow, a unique collaboration emerged between Habima and Yevgeni Vakhtangov, one of the directors of MAT. He was a promising director who developed a new directing style known as "fantastic realism." In his staging, he combined the realistic approach of Stanislavsky with contemporary avant-garde trends from the Russian theatre.64 He began to work with Habima in 1920 and directed their first production: The Opening Ball.65 Vakhtangov worked with Habima on The Dybbuk, which turned out to be the founding performance of this theatre. The play, which had been translated into Hebrew by Η. N. Bialik in 1918, was chosen mainly for lack of more appealing dramatic repertory in Hebrew. The rehearsals of the play began in 1919 but, due to Vakhtangov's illness and previous engagements, they were constantly interrupted. They became more intense towards 1920/21. Because of the large number of characters in the play, Habima had to recruit new actors and turn itself into a genuine, active theatre ensemble. Moreover, the long process of rehearsals turned the ambitious yet amateur young actors into experienced artists who mastered the art of acting. The Dybbuk was the first complete and professional performance of Habima, formulating the artistic language of the troupe. The director himself did not enjoy the fruits of his success. By the time of the premiere, he was too sick to attend. He died at the beginning of 1922, shortly after 64 65
Nick Worral, Modernism to Realism on the Soviet Stage, New York/Cambridge 1989. The Opening Ball was a stage adaptation of four short one-act plays by Y.L. Peretz, Y.D. Berkowitz, Y. Katzenelson and Sholem Asch. See Levy, The Habima, 2.
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the first performance. After The Dybbuk, Habima worked with other MAT directors: Β. I. Vershilov, V. L. Mechidelov and B. Sushkevich, putting on four more plays. Yet the work with Vakhtangov remained a formative experience for the theatre members.66 They saw him as a spiritual leader, similar to the Hassidim who look up to their Zaddik. Vakhtangov had genuine interest in working with theatre troupes of national minorities in the Soviet Union. Nevertheless, the material of The Dybbuk, and Jewish culture more generally were completely foreign to him. He did not stress the Jewish content of the play, but interpreted the play in light of the Russian Revolution. He saw Khonon and Lea as rebels against the old social order and Sender's vulgar materialism. He shaped the beggars as an anarchic force of the uprising. The use of color in the stage-design reinforced the communist interpretation of the play.67 For example, the huppa (wedding canopy) was red - the color of the revolution. Moreover, Vakhtangov did not understand Hebrew. He based his staging on mass scenes, choreography, and tableaux vivantes. The actors spoke Hebrew with a unique musicality, infusing the performance with an opera-like flavor. This performance had the impact of a dance theatre and was readily understandable, regardless of language.68 The Dybbuk was an esoteric performance in revolutionary Moscow: a small theatre that performed in an exotic language. The wider theatre-going audience took no interest in the play. Yet it was well received by theatre artists and intellectuals like Fyodor Shalyapin, Maxim Gorky and Stanislavsky.69 All praised Vakhtangov's work with Habima. When Habima left Moscow, the troupe expected to be well received for two main reasons. On the ideological level, because of their Zionist ideology, primarily expressed in the use of Hebrew and a repertory of a messianic nature. On the artistic level, they expected to be acknowledged because of their connections with the MAT and their celebrated work with Vakhtangov. They perceived the GermanJewish audience as alienated from Zionism and Jewish identity as a whole. Because of that, they expected to gain artistic recognition in Germany and Austria, regardless of their culture or ideological orientation.70 The Habima members were right in expecting a certain modicum of artistic recognition especially in Berlin. By the time they arrived in the city, the Berlin audience
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The deep impression of Vakhtangov on the Habima theatre people was reflected in their memoirs. They described in details their work with him and his theoretical perceptions about theatre. See Reikin Ben-Ari, Habima, Chicago 1941, 364-385 [Yiddish]; Baruch Tchemerinsky, Tchemerinsky's Book, Tel Aviv 1947, 6 0 - 8 0 [Hebrew]; An Kotai, Life and Stage, Tel Aviv 1972, 127187 [Hebrew], Gad Kaynar argues that Habima can be seen as a colonized theatre, because it served as a vehicle to describe the ideological and artistic objectives of the MAT directors. The ambitions and ideological motivations of the group members were undermined. See Gad Kaynar, National Theatre as Colonized Theatre. The Paradox of Habima, in: Theatre Journal 50 (1998), no. 1, 1-20. Pearl Fishman, Vakhtangov's The Dybbuk, in: The Drama Review 24 (1980), no. 23, 43-58. Ben-Ari, Habima, 68. Levy stressed the expectations of the Habima members from the tour in Germany and Austria. See Levy, The Habima, 2.
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had become familiar with the avant-garde Soviet theatre scene. Russian theatre troupes had been touring Germany from the beginning of the 20th century. In the summer of 1923, MAT's Third Studio performed in Berlin, where Vakhtangov had served as house director. The German audience was exposed to his major productions: Princess Turandot by Gozzi, The Wedding by Chekhov, and The Miracle of St. Anthony by Maeterlinck.71 The staging of The Dybbuk by Vakhtangov was doubtless one more step toward the canonization of the play in the eyes of the German audience. It strengthened its value as an important Jewish play replete not only with Jewish folklore, but also with major theatrical potential. Yet, despite the expectation of Habima members, the appreciative reception of their Dybbuk in Germany was not solely the result of Vakhtangov's direction. The Berlin theatre critics knew the play well by the time Habima arrived in Berlin and they constantly compared this performance with former productions of the play. They found that despite the beauty of the performance, it lacked a deeper understanding of Jewish culture. Leo Hirsch satirically described the Habima Dybbuk. The spirit of the dead Vakhtangov, said Hirsch, is the Dybbuk that haunts the performance night after night.72 Similarly, Alfred Polgar, the renowned Viennese theatre critic, showed no enthusiasm for the Habima Dybbuk. He found it quite superficial in comparison with Viertel's more interesting interpretation.73 Arnold Zweig argued that the force of the Habima performance lay in the collective spirit of this troupe, which captured a primal aura, similar to paintings of Marc Chagall. This primal style expressed a primordial force. The primal and folkloristic strength of Habima did not exist solely on the level of the performed fictional world, but was projected from the presence of the actors themselves and their collective biography as Eastern European Jewish artists. He was especially enthusiastic about the use of Hebrew in the performance: "And what in other plays today is language, here has become embodied song. Song from that inner airy-fairy magic-spun world of changing levels of voice, of monotonal emotional most intimately playful streaming out of the soul that is called nigun and nigunot. From the soulful or tense dedication of the chazan to his melodious line, there mixed directly into the cadence of the drama the passion of the Bet-Midrash, the great songs of the high holidays. Together with the hieratic restfulness of gesture, they imbued this Dybuk performance with an attitude, a Yiddishkayt that was at one and the same time both liturgical and mundane, the greatest triumph of style. Thanks to its seamless expansion, it was absorbed fully as the most natural of all elements into the total contemplation." 74
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Michaela Böhmig, Das russische Theater in Bedin 1919-1931, Munich 1990. Leo Hirsch, Die „Habima" im Theater am Nollendorfplatz, in: Berliner Tageblatt, 2. Oktober 1926. Alfred Polgar, Habima, in: Die Weltbühne, 1926, 509f. Arnold Zweig, Dybuk Hebräisch, in: Jüdische Rundschau, 5. Oktober 1926. "Und was in anderen Stücken von heute Sprache ist, war hier Gesang. Gesang freilich aus jener innigen Versponnenheit wechselnder Stimmlagen, monoton bewegter aufs innigste spielender Seelenausströmung, die man Nigun und Nigunot nennt. Aus der beseeligten oder angespannten Hingabe des Chasan
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The use of the Hebrew language made the Habima performance a Jewish symbol on the threshold between old and new. The Hebrew language, said Zweig, had a unique sound and musicality. The musicality of Hebrew left a strong impression on him, particularly because he had not mastered the language. The musicality was all he could hear. Aesthetically and ideologically, the musicality of the Hebrew had profound meaning. Worral mentions that Vakhtangov himself was keen to work with Habima because he did not understand the language, and thus was able to focus on its rhythmic force.75 The use of the foreign language enabled Vakhtangov to develop his unique theatrical language, placing Habima among the innovative avantgarde theatres in Germany and the Soviet Union. The musicality of the language introduced an interesting cultural dimension as well. Hebrew was read out loud during services in the synagogue. Its musicality captured a liturgical spirituality, which was ceremonial and different from daily language. Zweig was enchanted by the use of liturgical language in the performance. He argued that this use of language imbued the performance with the unique aura of sacred theatre, locating it on the threshold between art and religion. The use of Hebrew by Habima differed from the use of Hebrew in the Jewish settlement in Palestine and in the theatres that were active there. In Palestine, the Hebrew was completely secular. It was an ordinary language used both for daily communication and for artistic purposes. Only in Moscow were a group of Eastern European Jewish actors able to capture the transition point of the language, which transcended its liturgical use. This indicates that the deep impression made by Habima's Dybbuk did not emerge solely from its artistic and performing aspects. Similar to the Vilna Troupe, it was, first and foremost, a performance of the presence of young Eastern European Jewish actors, whose identity in real life was the main attraction of the show. Yet there was a significant difference between the reception of the Vilna Troupe Dybbuk and that of Habima. The Vilna Troupe was the first Jewish art theatre to arrive from Eastern Europe. This troupe introduced both the play and a new Jewish theatre style to the German audience. Thus, the play was an integral part of the troupe's distinctive image. By the time Habima came to Berlin, The Dybbuk was a well-known even canonized play. Thus, its performance did not only enable Habima to gain artistic recognition. The play, with its mystical content, made Habima a cultural symbol of Jewish existence between two worlds: the world of the shtetl on the one hand and the modernist world of Zionism and Soviet avant-garde on the other. Habima was a Zionist theatre. The actors in the troupe discovered Zionism in different phases of their lives, and the troupe as a collective enjoyed the approval of
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an seine kultische Melodieführung traten unmittelbar in den Sprechton des Dramas aber die Leidenschaft des Bes-Medresch, die großen Gesänge der hohen Feste. Zusammen mit der hieratischen Ruhe der Gebärde gaben sie dieser Dybuk-Aufführung eine Haltung, eine zu gleicher Zeit gottesdienstliche und alltägliche Jüdischkeit, die, höchster Triumph des Stils, dank ihrer lückenlosen Ausbreitung von vornherein als das Allerselbstverständlichste in die Anschauung restlos aufging." Worral, Modernism to Realism on the Soviet Stage, 65.
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Zionist organizations. The actors' use of Hebrew turned their abstract Zionist commitment into an intimate aesthetic, expressed in their speech and performance on stage. The Dybbuk had nothing to do with the Zionist ideology of Habima. But, through the performance of the Vilna Troupe, the translations of the play into German and the performance of Viertel, the play turned into a cultural platform in Germany to discuss Jewish identity. Ironically, performing the Dybbuk strengthened the Zionist ideology of Habima. Thus, the performance of this play made a major contribution to Habima's emergence as an 'emblematic' Zionist troupe. Vakhtangov's Dybbuk provided the troupe with its biggest star, Hana Rovina, who played the leading role in the play, that of Lea/the Dybbuk. Rovina was a powerful actress who projected a magnetic spirituality. Bernhard Diebold saw the performance in Frankfurt, describing the deep impression Rovina left on him. Her performance rendered sparks of rare and magical theatrical moments, moments not to be forgotten.76 Rovina, as a leading actress, became a synonym for Habima; the theatre became her family and she absorbed the spirit and image of this theatre troupe. Her image as Lea, standing on stage, dressed in a long white gown, her black braid falling over her shoulder, her face painted white, her burning eyes staring at the audience, is an icon of Habima to this day. Arno Nadel, the musicologist, author and first translator of the play into German, was deeply moved by the Habima production of the play. He wrote an allegoric song, Die Stimme Rowina, which expressed his deliberation on the performance. He perceived the voice of the Dybbuk breaking through the mouth of Rovina as the mysterious voice of Jewish vitality: despite two thousand years of oppression, it continues to whisper, to articulate. This allegoric song expressed the cluster of cultural meanings that were woven into the Habima production through the various literal and stage adaptations of this play during the 1920s: "Hear/ 2,000 years - / How horrible!/ 2,000 years of parched and thirsting song/ beseeching the Lord/ w h o with a wild and furious hand/ let you drop,/ Dybuk - Israel!/ You stole/ Murdered people/ Into the soul/ Of this Moon woman." 77
Conclusion How did The Dybbuk, a mystical play dealing with the Eastern European Hassidic milieu, turn into a modern Jewish symbol shared by Eastern European and German Jews? The answer to this question does not lie solely in the inner artistic structure of this play, but in the cultural context and matrix of its reception.
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Bernhard Diebold, Habima, in: Frankfurter Zeitung, 10. Oktober 1927. Arno Nadel, Die Stimme Rowina, in: Jüdische Rundschau, 2. November 1926. "Horch, - / Zweitausend Jahre - / Wie grauenvoll! - / Zweitausend Jahre Verdursteter Sang,/ Flehen zum Gotte/ Der aus wilder Zürnender Hand/ Dich fallen ließ,/ Dybuk - Israel!/ Stahlst du dich,/ Gemordetes Volk/ In die Seele Dieses Mondenweibes."
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As the Vilna Troupe performed The Dybbuk and toured Berlin and Vienna, the play was integrated into the public image of this troupe. The translations of the play into German were initiated by the Eastern-European intellectual circle in Germany that aimed to introduce Eastern European Jewish culture to the German-Jewish audience. The play was compatible with the cultural norms of folklore and ethnography that spread throughout the German and German-Jewish world. Thus it reinforced the norms active within German-Jewish culture. While the Viertel production constructed the play as a reflective platform, contemporary theatre critics failed to see the new Jewish presence that Viertel created. They longed for the authentic and exotic Eastern European performance, as staged by the Vilna Troupe. The Habima production of the play captured the "authentic" performance of identity longed for by GermanJewish theatre critics and intellectuals. This production focused attention on the Zionist orientation of the Habima members. This was an "identity" that was on the threshold of modernity, combining the authenticity of Eastern European Jews with the modern ideological movement of "national rebirth" within Jewish culture. Thus, although this play had nothing to do with Zionist ideology, it came to reinforce the Zionist ideology of Habima, in this way becoming a Zionist symbol. Paradoxically, although this play created a vibrant discourse concerning Jewish identity within the German-Jewish realm, German-Jewish theatre critics and intellectuals failed to reflect on their own role in shaping this identity. They pictured Jewish identity as distant and exotic, hailing from the East. Thus, The Dybbuk also became a Jewish symbol for German Jews - a symbol of longing for Jewish authenticity, a mode of exoticism and religious tradition which could not be found within their own culture and which lay outside the theatre auditorium of the wandering Eastern European Jewish theatre troupes.
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JONATHAN KREUTNER
Die vierzig Tage des Musa Dagh Zur jüdischen Rezeption von Werfeis Roman während der NS-Herrschaft
„Die Armenier waren meine
Ersatzjuden/"'
Deutsches Judentum und die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern In den Jahren 1914 bis 1916 erreichte die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich ihren Höhepunkt. Diese Ereignisse wurden und werden häufig als „Völkermord" und - nach der Prägung des Begriffs durch Raphael Lemkin 2 - als „Genozid" bezeichnet. Doch diese Charakterisierungen des Geschehens werden bis heute nicht überall akzeptiert. Während die meisten Historiker sich über Verlauf und Ausmaß der Ereignisse inzwischen einig sind, so bleibt doch kennzeichnend, dass namhafte türkische Autoren, offizielle Stellen in der Türkei und viele Türken jegliche Mitschuld ihrer Vorfahren an den Massakern abstreiten und die Vorkommnisse gemeinhin als Umsiedlungsaktionen im Rahmen einer Kriegshandlung bezeichnen. Inzwischen beginnen auch türkische Wissenschaftler an diesem Bild zu zweifeln und es werden vermehrt türkische Forderungen laut, sich differenzierter mit der Vergangenheit und der politischen Umwälzung zur Zeit des Ersten Weltkrieges zu befassen. Noch immer wird der Völkermord an den Armeniern vergleichsweise wenig rezipiert. In den meisten Abhandlungen über den Ersten Weltkrieg und die Geschichte der Türkei wird er nur als eine Randerscheinung präsentiert. Einen besonderen, vielleicht besonders aussagekräftigen Zugang zu dieser Thematik vermag eine Untersuchung der Wahrnehmung des Völkermordes an den Armeniern unter deutschen Juden während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zu vermitteln. 3 Das jüdische und das armenische Schicksal standen durch religiöse, geschichtliche und politische Faktoren in entfernter, zum Teil auch enger Wechselwirkung. So wie die Armenier verband auch die Juden eine nähere Beziehung zum Osmanischen Reich 1
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Unbestätigtes Zitat von Franz Werfel; nachzulesen in: Meyer Weisgal, So Far. An Autobiography, Jerusalem 1971, 120. Zu Lemkin und der Prägung des Begriffs „Genozid" vgl. die Beiträge von Anson Rabinbach und Claudia Kraft im Yearbook/Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 4 (2005). Der vorliegende Beitrag präsentiert Ergebnisse aus: Jonathan Kreutner, Deutsches Judentum und die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern 1896-1939, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Zürich, 2004. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 199-213
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Teile beider Religionsgemeinschaften, wenn auch prozentual deutlich verschieden, unterstanden der Herrschaft der Osmanen. Juden und Armenier blickten auf eine ähnliche Geschichte zurück, gehörten doch beide einem sehr alten, durch religiöse Zugehörigkeit bestimmten, zahlenmäßig kleinen Volk an. Beiden Völker gemeinsam war, neben ihrer Präsenz im Osmanischen Reich, eine diasporische Situation ihre Verstreuung über größere Teile der Welt. Beide hatten über Jahrhunderte keinen unabhängigen Staat; beide erlebten in ihrer langen Geschichte immer wieder Verfolgungen und Repressalien. Aufgrund der Ähnlichkeit des armenischen Schicksals zum eigenen empfanden zahlreiche jüdische Persönlichkeiten - allen voran Sozialdemokraten - Sympathien für die Armenier. Der Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg ist von jüdischer Seite schon zur Zeit des Geschehens selbst wahrgenommen worden. An erster Stelle ist hier Henry Morgenthau (senior) zu nennen, der während der Jahre 1913-1916 als amerikanischer Botschafter in Konstantinopel tätig war. Jüdischer Herkunft, hat Morgenthau seine Regierung über die massenhaft vor sich gehenden Deportationen und Morde alarmiert. Während für ihn als Botschafter nach damals geltender Rechtsauffassung keine Möglichkeit bestand, mehr als verbalen Einfluss auf die Vorgänge zu nehmen, gründete Morgenthau als private Initiative das Armenian Atrocities Committee (später American Committee for Armenian and Syrian Relief, dann Near East Relief Committee, seit 1929 Near East Foundation), für deren Hilfsleistungen er sehr wohl diplomatische Kanäle bereitstellte.4 Hingegen scheint es eine Unterstützung der Armenier durch jüdische Institutionen und Organisationen in Deutschland zu dieser Zeit nicht gegeben zu haben. Eine offizielle Stellungnahme dieser Organisationen zum Völkermord an den Armeniern existiert nicht. Auch die jüdische Presse Deutschlands hat auf den Völkermord an den Armeniern kaum reagiert. Abgesehen von der zionistisch ausgerichteten Presse, für die die Ereignisse in der Türkei von großer Wichtigkeit waren, finden sich in den deutsch-jüdischen Zeitschriften zur Zeit des Ersten Weltkrieges nur selten Nachrichten über die Verfolgung der Armenier. Zentral für die Reaktion (oder Nicht-Reaktion) der deutschen Juden dürfte die Konstellation der internationalen Politik gewesen sein: In Anbetracht des deutschtürkischen Kriegsbündnisses berichteten fast alle jüdischen Zeitungen Deutschlands, falls sie zur türkischen Politik Stellung bezogen, pro-türkisch. Hingegen erschienen in der jüdischen Presse der Schweiz, die zwar auch mehrheitlich protürkisch war, einige wenige kritische Berichte über die Türkei sowie eine klare Thematisierung des Völkermordes an den Armeniern.5 Insgesamt waren jüdische Institutionen und Zeitungen im deutschsprachigen Raum zugunsten der türkischen Politik und ihrer Sicht der Dinge eingestellt. Die jüdische Haltung gegenüber dem Osmanischen Reich als Kriegsverbündeten des 4
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Siehe den Beitrag von Jan Henning Böttger im Yearbook/Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 4 (2005). Vgl. Israelitisches Wochenblatt vom 14.5.1915, Nr. 20 und Israelitisches Wochenblatt vom 25.5.1917, Nr. 21.
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Deutschen Reichs entsprach der deutschen Haltung insgesamt. Von zionistischer Seite wurde das Osmanische Reich noch immer als bislang zwar widerstrebender, doch potenzieller Partner betrachtet, der für die eigene Sache gewonnen werden sollte. Diese weltpolitische' Konstellation mag erklären, weshalb sich jüdische Zeitschriften und Institutionen anscheinend schwer taten, die armenische Frage und den Genozid öffentlich zu machen. Für eine größere Zahl deutschsprachiger jüdischer Zeitungen lassen sich keine Berichte ermitteln, die den Völkermord an den Armeniern ausdrücklich verurteilten.6 Auf der anderen Seite gab es eine Reihe jüdischer Persönlichkeiten, insbesondere jüdische Mitglieder sozialdemokratischer Oppositionsparteien, die ihre Stimme gegen den Völkermord an den Armeniern im deutschen Parlament oder auf Parteiveranstaltungen erhoben und ihre Sympathie für die armenische Sache bekundeten. Sie taten dies als überzeugte Kriegsgegner und Pazifisten. Hingegen erwähnte der sozialdemokratische Politiker Oskar Cohn im Mai 1917 während verschiedener Sitzungen im Reichstag den Völkermord an den Armeniern in engem Zusammenhang mit einem Massaker an Juden Palästinas.7 Im Deutschland der Zwischenkriegszeit nahmen viele jüdische Intellektuelle und Personen des öffentlichen Lebens, selbst wenn sie Kriegsgegner und Pazifisten waren, vom Völkermord an den Armeniern weiterhin kaum Notiz. In gewisser Weise scheint hier eine Parallele zu dem für weite Teile der europäischen Gesellschaft symptomatischen Unvermögen zu bestehen, dem Schock des Weltkrieges sprachlichen Ausdruck zu verleihen - für Deutschland wird hier gewöhnlich die Tatsache angeführt, dass Kriegsromane, darunter am prominentesten Erich Maria Remarques Im Westen nicht Neues (1929), erst Jahre nach Ende des Krieges erschienen. Die deutsch-jüdische Rezeption des Genozids an den Armeniern nahm Anfang der 1930er Jahre signifikant zu, als der Antisemitismus neue Höhepunkte erreichte. Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erschien der Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh des jüdischen Schriftstellers Franz Werfel. Dieses Werk sollte die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern bis in die heutige Zeit entscheidend beeinflussen. Das Werk wurde in der jüdischen Presse Deutschlands besprochen, und viele Juden sahen nun im Völkermord an den Armeniern Parallelen zur jüdischen Leidensgeschichte. Andere allerdings weigerten sich, über eine Tragödie zu sprechen, die einem anderen Volk vor zwei Jahrzehnten widerfahren war, war doch ihre eigene Bedrohung - als europäische Juden - brutale Wirklichkeit. 6
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Für seine - über diese Frage hinausgehende - Forschung wurden vom Verfasser folgende Zeitungen untersucht: Allgemeine Zeitung des Judentums, Leipzig/Berlin, Bestände 1906-1922; Der Israelit, Centraiorgan für das orthodoxe Judentum, Frankfurt a.M., Bestand 1909; Das jüdische Echo, Bayerische Blätter für jüdische Angelegenheiten, München, Bestand 1913-1916; Dr. Blochs österreichische Wochenschrift, Zentralorgan für die gesamten Interessen des Judentums, Wien, Bestände 1897-1914; Israelitisches Wochenblatt, Zürich, Bestände 1901-2004; Ost und West, Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, Berlin, Bestände 1901-1923; Palästina, Monatsschrift für die wirtschaftliche Erschliessung Palästinas, Bestände 1902-1938. Vgl. Ludger Heid, „Er ist ein Rätsel geblieben". Oskar Cohn - Politiker, Parlamentarier, PoaleZionist, in: Wolfgang Benz/Arnold Paucker/Peter Pulzer (Hg.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik, London/Tübingen 1998, 81-83.
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Franz Werfel - christlicher Jude, jüdischer Christ Franz Werfel kam am 10. 9. 1890 in Prag zur Welt. Schon mit 15 Jahren schrieb er Gedichte. Kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag hatte er erste Begegnungen mit den Schriftstellern Max Brod und Franz Kafka, mit denen ihn fortan eine enge Freundschaft verband. Nach dem Abitur zog es Werfel nach Hamburg, wo er bei einer Speditionsfirma zu arbeiten begann. Im Oktober 1912 trat er eine Stelle als Lektor beim Kurt-Wolff-Verlag in Leipzig an. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde er in die Armee der Habsburgermonarchie eingezogen. Nach kurzer Zeit wurde er jedoch, nachdem er seinen Vorgesetzten physische Krankheiten und psychische Unzurechnungsfähigkeit vorgetäuscht hatte, aus dem Armeedienst entlassen. In der Folge wurde der überzeugte Kriegsgegner Werfel mehrmals erneut in die Armee eingezogen und wieder entlassen. 1917 diente er an der Front, bevor er ins Kriegspressequartier nach Wien versetzt wurde, wo er bis Ende des Krieges tätig war. Im Rahmen dieser Arbeit unternahm er einige Reisen in die Schweiz, wo er Vorträge und Lesungen hielt. Nach Kriegsende widmete sich Werfel nur noch dem Schreiben. Sein ambivalentes Verhältnis zur Religion wird daran deutlich, dass er sich fortan als Jude bezeichnete, der an Jesus glaubt. Dabei identifizierte er sich wohl mit keiner dieser Gemeinschaften, weder mit den Christen noch mit den Juden; doch wünschte er, beiden zuzugehören.8 Werfel war von den religiösen Aussagen des Christentums und jenen des Judentums gleichermaßen überzeugt. Die zentralen Elemente des Christentums deckten sich für ihn mit jenen des Judentums.9 Auch seine Ehefrau Alma Mahler verlangte von Werfel nicht, dass er konvertiere, bestand jedoch darauf, dass er aus der jüdischen Gemeinde Wiens austreten solle.10
Die vierzig Tages des Musa Dagh ein Roman, der Geschichte schrieb Werfel publizierte in diesen Jahren eine Reihe viel beachteter Werke, darunter Verdi, Roman einer Oper (1924), Paulus unter den Juden (1926) und Barbara oder die Frömmigkeit (1929). Anfang 1930 unternahm er mit seiner Frau Alma eine Reise in den Vorderen Orient. Über Palästina und den Libanon reiste das Ehepaar weiter nach Syrien. Werfel identifizierte sich zwar nicht mit dem Zionismus, zollte aber dem jüdischen Aufbauwerk in Palästina größten Respekt.11 In Damaskus begegnete er bei der Besichtigung einer Fabrik armenischen Waisenkindern. Werfel hatte bereits zur Zeit seines Dienstes im Kriegspressequartier während des Ersten Weltkrieges 8
9 10 11
Lionel B. Steiman, Werfel's Identity as Jew and Christian, in: Joseph P. Strelka/Robert Weigel (Hg.), Unser Fahrplan geht von Stern zu Stern. Zu Franz Werfeis Stellung und Werk, Bern 1992, 97-109, hier 97. Peter Stephan Jungk, Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt a.M. 1987, 100. Ebd., 101. Ebd., 188.
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vom Völkermord an den Armeniern gehört, was schon damals sein Interesse an diesem Volk weckte. Werfel zählte zu den Autoren der expressionistischen Blätter Die Aktion und Das Ziel, die schon in den ersten Kriegsjahren Berichte von Armin T. Wegner und Martin Niepage über den ungeheuerlichen Millionenmord gedruckt hatten.12 Nach der Veröffentlichung des Romans Die vierzig Tage des Musa Dagh sagte Werfel in einem Interview mit einer exilarmenischen Zeitung, er habe schon während des Ersten Weltkrieges die Idee gehabt, einen Roman über das Schicksal der Armenier zu schreiben: „Ich las damals in den großen europäischen Zeitungen davon und gab mir damals das Versprechen, eines Tages einen geschichtlichen Roman über dieses Thema zu verfassen."13 Aber erst der persönliche Kontakt mit den armenischen Waisenkindern in Damaskus ließ „die abstrakte Zahl der Toten zur erschütternden Realität werden." 14 Der Anblick der verkrüppelten und ausgemergelten Kinder und Jugendlichen ließ ihn nicht mehr los. Nun wollte er mehr über das Schicksal der Armenier erfahren. Er versuchte Überlebende zu finden, um Genaueres über die Gräueltaten berichten zu können. 15 Dabei erfuhr er, dass sich während des Ersten Weltkrieges 5.000 Armenier - Männer, Frauen und Kinder - auf den Berg Musa Dagh in Ostanatolien zurückgezogen und tapfer gegen die türkischen Soldaten gekämpft haben, bis sie von französischen Marinesoldaten gerettet worden seien. Nach der Rückkehr nach Wien versuchte Werfel, weitere Dokumente über den Völkermord an den Armeniern aufzutreiben. Er hatte den Entschluss gefasst, das grausame historische Ereignis in literarischer Form nachzuzeichnen, um es der Vergessenheit zu entreißen.16 In Wien besuchte er ein armenisches Kloster, wo er in in dessen Bibliothek zu recherchieren begann. Dort las er zum ersten Mal die Berichte des evangelischen Theologen Dr. Johannes Lepsius, der zudem Missionar, Begründer und Vorsitzender des deutsch-armenischen Komitees war.17 Diese Berichte flocht Werfel später - leicht angepasst und nicht immer den historischen Tatsachen entsprechend18 - in zwei Kapiteln mit der Überschrift „Zwischenspiel der Götter" in seinen Roman ein. In dem armenischen Kloster fand er auch seine Hauptquelle über die Ereignisse am Musa Dagh, die auf Augenzeugenberichten beruhende Erzählung „Suedije, eine Episode aus der Zeit der Armenierverfolgungen" von Dikran Andreassian.19 Erschienen war dieser Bericht 1919 in der von Lepsius herausgegebenen Monatsschrift für Wiedergeburt des Ostens. 12 13 14 15 16 17 18
19
Norbert Abels, Franz Werfel, Hamburg 1980, 92. Nachzulesen in: Jungk, Franz Werfel, 396. Ebd., 189. Ebd. Ebd., 190. Ebd., 192. Vgl. George Schulz-Behrend, Sources and Background of Werfel's Novel Die vierzig Tage des Musa Dagh, in: Germanic Review 26 (1951), 111-123, hier 117-123. Ritchie Robertson, Leadership and Community in Werfel's Die vierzig Tage des Musa Dagh, in: Joseph P. Strelka/Robert Weigel (Hg.), Unser Fahrplan geht von Stern zu Stern. Zu Franz Werfeis Stellung und Werk, Bern 1992, 249-269, hier 252.
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Nun arbeitete Werfel bis Mitte November 1932 nahezu ohne Unterbrechung an seinem Roman,20 von dem er dann in einem Brief an seine Eltern im März 1933 schrieb, es werde vielleicht sein Hauptwerk sein,21 durch das eine ungeheure Verantwortung auf ihm laste.22 Armin T. Wegner, der zur selben Zeit an einem Epos über die Armenier arbeitete, schrieb an Werfel: „Ich glaube, dass wir beide sehr ruhig sein können, denn unsere Werke werden sicher ganz verschieden sein."23 Inzwischen hatte sich die politische Landschaft in Deutschland radikalisiert, und am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Hindenburg als Reichskanzler vereidigt. Nach dem Reichtagsbrand schrieb Werfel an die Ränder und auf die Rückseiten seines MMia-Dagft-Manuskriptes, er sei „geistig tief erschöpft". 24 Nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten erhielten die Mitglieder der Akademie der Dichtkunst, zu denen auch Werfel gehörte, ein Schreiben, in dem sie gefragt wurden, ob sie der Akademie weiterhin zur Verfügung stünden. Bei einer positiven Antwort müssten sie allerdings auf öffentliche Stellungnahmen zur Politik sowie auf eine Betätigung gegen die neue Regierung verzichten und sich verpflichten, in der Akademie im „national-kulturellen" Sinne mitzuarbeiten. Werfel unterschrieb mit „Ja". Sein Biograph Stephan Jungk meint hierzu, er habe sich zu diesem Schritt in erster Linie entschlossen, um den künftigen Verkauf des Musa-DaghRomans nicht zu gefährden: „Würde er aus der Akademie ausgeschlossen, so bestand die Gefahr eines generellen Verbotes für das Armenier-Epos, dessen Tendenz sich gerade ja gegen die Unmenschlichkeit eines fanatischen Nationalsozialismus wandte."25 Dennoch gingen einige Wochen später auch Werfeis Bücher in Flammen auf, und die Akademie für Dichtkunst schloss Werfel aus, ehe sie seine Loyalitätsbekundung erhalten hatte. Im Mai 1933 beendete Werfel die erste Fassung des Romans und begann an dessen zweiter Fassung zu arbeiten.26 Er bemühte sich, den Armeniern nicht ausschließlich gute und den Türken nicht nur schlechte Eigenschaften zuzuschreiben. In Randnotizen ermahnte er sich selber: „Nicht gegen Türken polemisieren" und „Irgendwo muss Enver im Recht sein".27 Vor der Drucklegung des Romans schrieb er noch eine dritte und vierte Fassung.28 Mitte November 1933 war das Werk endgültig abgeschlossen. Ende November erschien der Roman schließlich im Verlag Paul Zsolnay in Wien. 29 In Österreich wie in der Schweiz wurde das Buch mit großer Zustimmung 20 21 22 23
24 25 26 27 28 29
Jungk, Franz Werfel, 205. Brief an die Eltern vom 24. März 1933, zitiert in Abels, Franz Werfel, 92. Ebd., 92. Brief von Armin T. Wegner an Franz Werfel vom 10. Januar 1933, zitiert in Abels, Franz Werfel, 96. Jungk, Franz Werfel, 207. Ebd., 208. Ebd., 211. Ebd. Ebd., 212. Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, Wien 1933.
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aufgenommen;30 auch in Frankreich und in exilarmenischen Kreisen in Amerika wurde das Buch gefeiert.31 Doch in Deutschland lief man gegen Franz Werfeis Musa Dagh Sturm. Die Parallelen zwischen dem jungtürkischen Nationalismus und dem deutschen Nationalsozialismus waren allzu offensichtlich. 32 Dennoch durften die deutschen Buchhandlungen den Roman verkaufen, auch wenn Werfel per Gesetz zu den „verbannten Dichtern" zählte. Alle bestellten Bücher konnten in Deutschland abgesetzt werden.33 Die Freiburger Bücherstube GmbH schrieb am 5. Dezember 1933 an den Paul Zsolnay Verlag, bei Musa Dagh handle es sich um Werfeis „stärkstes Werk" und um eines der „besten Bücher des Jahres."34 In Die vierzig Tage des Musa Dagh fokussierte Werfel einen nicht eben exemplarischen Ausschnitt aus der Geschichte des Völkermordes an den Armeniern, nämlich eine Geschichte mit glücklichem Ausgang.35 Werfeis Romanheld Gabriel Bagradian kehrt nach zwanzig Jahren, die er in Paris mit seiner französischen Frau gelebt hatte, in sein Dorf am Fuß des Musa Dagh zurück. Doch während des Aufenthaltes in der alten Heimat bricht der Erste Weltkrieg aus, in dessen Verlauf mehr als eine Million Armenier den Deportationen zum Opfer fallen sollten. Einzig einige kleine Gemeinden am Fuß des Musa Dagh widersetzen sich erfolgreich, indem sie mit Frauen und Kindern auf den Berg ziehen. Gabriel Bagradian führt sie in ihrem aussichtslos erscheinenden Kampf gegen die türkischen Soldaten an. Über die politischen Zusammenhänge des Völkermordes erfährt der Leser in den eingeflochtenen Nebenhandlungen und durch deren Hauptfigur, den Geistlichen Johannes Lepsius er ist also authentische und literarische Figur gleichzeitig. Aus diesen Nebenhandlungen geht außerdem hervor, wie Werfel die Vorgänge um den Völkermord an den Armeniern beurteilte.36 Auch auf die Rolle der Deutschen kommt Werfel hier zu sprechen.37 Er gibt in diesem Zusammenhang Lepsius' Worte wieder, jede Person und jede Nation komme einmal in die Lage, die schwächere zu sein. Deshalb dürfe man einen „Präzedenzfall der Ausrottung" nicht dulden.38 Werfel beschrieb entmenschlichtes Handeln und hob mehrmals die Einzigartigkeit des Genozides an den Armeniern hervor. Er schrieb von „einer der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist".39 Nachdem Werfel Ende 1933 seinen Musa-Dagh-Roman beendet hatte, ersuchte er um Aufnahme in den Reichsverband deutscher Schriftsteller. Dabei machte er sich wohl wiederum Gedanken um den Verkauf seines Buches.40 In Deutschland 30 31 32 33 34 35
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Jungk, Franz Werfel, 213. Abels, Franz Werfel, 102. Jungk, Franz Werfel, 213. Ebd. Ebd., 402. Stefan Karsten, Der Völkermord an den Armeniern in Romanen von Werfel, Hilsenrath, Mangelsen und Balakian (unveröffentlichte Magisterarbeit), Universität Lüneburg, 2002, 51. Ebd., 59f. Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh 1933, Frankfurt a.M. 2002, 639f. Ebd., 645. Ebd., 117. Jungk, Franz Werfel, 213.
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liefen unterdessen von türkischer Seite aus Bestrebungen, den Roman zu verbieten. Im Februar 1934 geschah dies; die Bestände wurden beschlagnahmt. Als Hitler 1938 den Anschluss Österreichs erzwang, flohen Werfel und seine Frau über Frankreich nach Amerika, wo sie sich zunächst in New York, dann in Los Angeles niederließen. In den vierziger Jahren soll Werfel auch mit dem Gedanken gespielt haben, einen Roman über den Holocaust zu schreiben.41 Er konnte sein Vorhaben aber nicht mehr verwirklichen, er starb im August 1945 in Beverly Hills bei Los Angeles.
Parallelen Laut Werfeis historischer Quelle harrten die Aufständischen vierundzwanzig Tage auf dem Berg aus, ehe sie von der französischen Marine gerettet wurden. Werfel dehnte diese Zeitspanne auf vierzig Tage aus. Ein Außenseiter im eigenen Land, der Protagonist Bagradian, führte einen Teil des Volkes seinem Heil entgegen. Dies rief unweigerlich biblische Assoziationen hervor. Die Literaturwissenschaft deutete Musa Dagh demnach oft als ein religiöses Werk, das Werfeis religiösen Überzeugungen und seinen persönlichen Erfahrungen als Jude in Europa entspreche. Es sei eine symbolische Geschichte über Glauben und Hoffnung einer bedrohten christlichen Minderheit, die wie durch ein Wunder von Gott gerettet wurde.42 Zentrales Motiv des Romans sei, so einige Literaturwissenschaftler, der Weg der inneren Läuterung des Helden.43 Zudem müsse Werfel bekannt gewesen sein, dass am Fuße des Berges Musa Dagh örtlichen Legenden zufolge Nachkommen eines verlorenen Stammes Israels lebten.44 Und wie die Juden waren auch die Armenier Nachkommen eines uralten Volkes im Spannungsgebiet zwischen Ost und West, das aufgrund seiner religiösen Überzeugung jahrhundertelang verfolgt wurde. All dies scheint die enge Beziehung zwischen Juden und Armeniern zu reflektieren. Werfel selber hob die dem Judentum ähnlichen Aspekte der armenischen Kultur, Tradition und Geschichte deutlich hervor. So heißt es im Roman unter anderem: „Wir [Armenier] vergessen, dass wir eines der ältesten Kulturvölker der Erde sind."45 Er untermauerte seine Motivation als Jude, dieses Werk zu schreiben, indem er Enver zitierte, der - auf den amerikanischen Botschafter Henry Morgenthau angesprochen - 4 6 behauptet: „Die Juden stehen immer fanatisch auf Seiten der Minderheit."47
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Yair Auron, The Banality of Indifference. Zionsism and the Armenian Genocide, New Brunswick, N. J./London 2000, 299f. Carl Steiner, Religious Symbolism in Werfel's Die vierzig Tage des Musa Dagh, in: Strelka/ Weigel (Hg.), Unser Fahrplan geht von Stern zu Stern, 271-288, hier 274. Karsten, Der Völkermord an den Armeniern in Romanen, 54. Steiner, Religious Symbolism, 284. Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, 74. Der türkische General Enver wurde etliche Male vom amerikanischen Botschafter Henry Morgenthau auf die prekäre Lage der Armenier angesprochen. Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, 160.
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Nach literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist in Werfeis Werk die persönliche Erfahrung des Dichters als Jude eingeflossen. Wie sein Romanheld sei auch Werfel ein assimilierter Westeuropäer gewesen, der erst durch eine Reise in das Land seiner Urahnen allmählich zu seinen Wurzeln zurückfand. Viele wollen in Musa Dagh auch autobiographische Züge Werfeis erkennen. Schon Anfang der dreißiger Jahre, als Werfel den Roman niederschrieb, habe er geahnt, welches Schicksal die Juden Europas ereilen werde. Er habe von einer Tragödie geschrieben, um vor einer anderen zu warnen.48 Der Roman galt als prophetische Warnung vor dem Holocaust.49 Werfel selbst schrieb im März 1933 an seine Eltern: „Durch die Ereignisse hat das Buch eine symbolische Aktualität bekommen: Unterdrückung, Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalsozialismus."50 Solcherart Erkenntnisse beruhen wohl auch auf der Tatsache, dass viele Juden in Europa und in Palästina Werfeis Roman als ein im Kern tief jüdisches Werk empfanden. Das mag den Erfolg erklären, den das Buch unter jüdischen Lesern hatte.
Zur Rezeption durch jüdische Persönlichkeiten, in der deutschjüdischen Presse und unter deutsch-jüdischen Lesern Franz Werfel stand in engem Kontakt mit jüdischen Literaten. Doch anscheinend hat keiner von ihnen bei Erscheinen des Romans zu diesem beziehungsweise zum Völkermord an den Armeniern Stellung bezogen. Nicht einmal sein engster Freund Max Brod (1884-1968), der ab 1939 in Palästina lebte, erwähnte Werfeis Werk in seiner 1960 erschienenen Autobiographie.51 Nur wenige jüdische Intellektuelle hatten sich während des Ersten Weltkrieges und danach öffentlich mit dem Völkermord an den Armeniern auseinander gesetzt, obwohl das Ereignis bekannt war und unter ihnen durchaus diskutiert wurde. Leo Baeck (1873-1956), ab 1912 Rabbiner von Berlin, erwähnte in seinem umfangreichen Tagebuch den Völkermord an den Armeniern nicht. Nur in seinen Briefen ging er auf diesen ein einziges Mal ein, allerdings erst nach dem Holocaust, nämlich in einem Brief vom 28. Juli 1949, den er aus dem Londoner Exil an den Arzt Rudolf Jaser schrieb. Im Rahmen einer Korrespondenz über Literaturfragen erwähnte Leo Baeck, dass er das dichterische Werk von Franz Werfel sehr hoch einschätze. Werfeis Roman bezeichnete er als ,,eine[n] der größten Romane der Weltliteratur".52 Die meisten jüdischen Intellektuellen der Weimarer Republik erwähnten den Genozid an den Armeniern in ihren veröffentlichten Schriften nie, einige erst Jahre später - so der Kultur- und Sozialphilosoph Theodor W. Adorno (1903-1969) in 48 49 50 51 52
Steiman, Werfel's Identity as Jew and Christian, 103. Steiner, Religious Symbolism, 271. Brief an die Eltern vom 24. März 1933, zitiert in Abels, Franz Werfel, 98. Vgl. Max Brod, Streitbares Leben, München 1960. Leo Baeck, Briefe, Reden, Aufsätze, Gütersloh 2003, 672.
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einem Vortrag am 18. April 1966 im Hessischen Rundfunk unter dem Titel „Erziehung nach Auschwitz". Er nahm hierbei auch Bezug auf Werfeis Roman: „Ich möchte dabei auf eine Tatsache hinweisen, die sehr charakteristisch in Deutschland kaum bekannt zu sein scheint, obwohl ein Bestseller wie ,Die vierzig Tage des Musa Dagh' von Werfel seinen Stoff daraus zog. Schon im ersten Weltkrieg haben die Türken - die sogenannten Jungtürken unter der Führung von Enver Pascha und Talaat Pascha weit über eine Million Armenier ermorden lassen." 53
In der deutsch-jüdischen Presse war in den Jahren des Ersten Weltkrieges und während der Weimarer Republik nur wenig über den Völkermord an den Armeniern berichtet und diskutiert worden. Im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland erschien Werfeis Die Vierzig Tage des Musa Dagh, sodass nun, vermittelt über die Romanform, eine neuerliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik möglich wurde. Nicht nur von Literaturwissenschaftlern wurde das Werk als „großartig" bezeichnet, auch die jüdische Presse rezipierte den Roman als Meisterwerk. So erschien im Februar 1934 - jenem Monat, in dem der Roman in Deutschland verboten und die Bestände beschlagnahmt wurden - in Der Morgen, der Monatsschrift der deutschen Juden, eine Rezension des kurz zuvor erschienenen Romans. Redakteur Herbert Friedenthal schrieb, Werfel versuche zum ersten Mal eine ganze Volksgemeinschaft zu erfassen, nämlich „das Schicksal der Armenier während der türkischen Verfolgung". Der Rezensent sprach in diesem Zusammenhang von „nackter Angst" und „grauenvoller Wirklichkeit". Friedenthal bezeichnete Werfeis Werk als „glänzend" und „spannend". Auch lobte er die „Gerechtigkeit nach beiden Seiten", was den Roman davor bewahre, in ein bloßes „Tendenzwerk" abzugleiten.54 Hingegen erwähnte die Jüdische Pressezentrale Zürich in ihrer ausführlichen Rubrik „Literaturumschau" Werfeis Buch, das schon im November 1933 in jenen Ländern, in denen eine Publikation erlaubt war, enthusiastisch aufgenommen worden war,55 nicht im Mindesten. Offenbar aufgrund der politischen Umstände in Deutschland, der Beschlagnahmung der Bestände wenige Monate nach Erscheinen des Buches, ist der Roman in der deutsch-jüdischen Presse der Zeit kaum besprochen worden. Trotz dieser Rahmenbedingungen hatte Werfeis Roman Musa-Dagh-Roman eine große nichtjüdische, aber vor allem auch jüdische Leserschaft. Dies gilt unabhängig davon, dass Werfel den Roman in Anbetracht der jüdischen Geschichte schrieb und den historischen Tatsachen nicht ganz gerecht wurde. Er hat, wie der Literaturwissenschaftler Karsten meint, „nicht nur der untergegangenen westarmenischen Kultur ein Denkmal gesetzt, sondern auch den 1933 schon fast vergessenen Völkermord in 53
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Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10/2: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a.M. 1977, 675. Herbert Friedenthal, Franz Werfeis neuer Roman, in: Der Morgen 8 (1934), 479f. Ritchie Robertson, Leadership and Community, 249. Doch die am 27. August 1946 zum Todestag von Franz Werfel im Israelitischen Wochenblatt erschienene Kurzbiographie und Werkübersicht nannte Die vierzig Tage des Musa Dagh mit keinem Wort.
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die Erinnerung der Menschen in aller Welt zurückgerufen." 56 Werfeis erfundene Geschichte wirkt eigenartigerweise oft authentischer als die historische Rekonstruktion der Wirklichkeit, weil der Leser sich mit den Opfern identifizieren kann. Werfel wollte gegen das Vergessen des Völkermordes an den Armeniern wirken und alle wachrufen, ihre Pflicht wahrzunehmen, damit eine solche Katastrophe nie mehr geschehe. Sein Roman wurde von jüdischer Seite genau in diesem Sinne rezipiert.
Zur Rezeption des Romans in Palästina Das zeigt exemplarisch ein Blick auf die jüdische Rezeption in Palästina, wo der Roman ungehindert verbreitet und diskutiert werden konnte. Viele Juden in Palästina behaupteten, nur ein Jude sei imstande, ein solches Werk zu schreiben.57 Sie hatten Werfeis Werk auf Hebräisch gelesen. Der Roman war bereits im Jahr 1934 von dem jüdischen Dichter und Übersetzer Joseph Lichtenbaum ins Hebräische übersetzt worden.58 Lichtenbaum war Übersetzer vieler Klassiker der deutschen Literatur; außerdem übersetzte er aus dem Russischen und Polnischen und galt als einer der führenden hebräischsprachigen Literaturübersetzer im Palästina der dreißiger Jahre.59 Lichtenbaum erkannte in Werfels Musa Dagh klare Parallelen zum jüdischen Schicksal und projizierte dieses in die Übersetzung hinein. Er wollte die jüdischen Leser durch seine lebhafte, blumige Sprache in Bann ziehen und überdies dem zionistischen Leser von den heroischen Taten einer kleinen Gruppe berichten. So übersetzte er zum Beispiel den Satzteil „Nicht wie ein wehrloser Hammel" 60 mit „Nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt". 61 In der deutschen Fassung heißt es: „Die Austreibung wird solange dauern, bis der Letzte des Volkes durch das Schwert getötet, auf der Landstrasse verhungert, in der Wüste verdurstet, von Cholera und Flecktyphus hinweggerafft sei. Diesmal herrsche nicht regellose Willkür und aufgepeitschter Blutrausch, sondern etwas weit Entsetzlicheres - Ordnung." 62
Diese Passage übertrug Lichtenbaum in gesteigerter Form ins Hebräische, indem er Verben und Attribute hinzudichtete:
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Karsten, Der Völkermord an den Armeniern in Romanen, 67. Auron, The Banality of Indifference, 293. 2. Auflage 1947; 3. Auflage 1951; 4. Auflage 1957. 1979 entstand eine Neuübersetzung von Zvi Arad. Das Werk wurde 2003 im Am-Oved-Verlag neu aufgelegt. Diese Angaben entstammen einer Kurzbeschreibung von Joseph Lichtenbaums Leben und Werdegang, die in einem seiner Werke einleitend geschildert werden. Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, 243. Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, Hebräisch von Joseph Lichtenbaum, Tel Aviv 1934, Erstes Buch, 226. Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, 242.
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„Die Vertreibung wird solange dauern und sich verlängern, bis vom ganzen Volk kein Überlebender übrigbleiben wird [...]. Diesmal herrsche nicht Willkür, auch nicht aufgepeitschter und stürmischer Blutrausch [...]." 63
Die meisten Rezensenten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Palästinas interpretierten Werfeis Buch als Ausdruck ihrer eigenen Leidensgeschichte. Anfang 1936 schrieb eine hebräischsprachige Zeitung in Palästina, Werfeis Musa Dagh sei ein jüdisches Buch, nicht nur, weil es ein Jude geschrieben habe, sondern weil der Autor letztlich vom jüdischen Schicksal und vom jüdischen Kampf schreibe.64 Der Redakteur der Zeitung behauptete darüber hinaus sogar, es handele sich um ein „zionistisches Buch".65 Meyer Weisgal (1894-1977), ein aus Polen stammender amerikanischer Theaterproduzent, der in den dreißiger Jahren eng mit Werfel in Kontakt stand, äußerte in seiner Autobiographie, Franz Werfel habe anhand des armenischen Schicksals seine Erkenntnisse über die jüdische Tragödie ausgedrückt. Werfel habe ihm persönlich anvertraut: „Die Armenier waren meine Ersatzjuden."66 Dennoch wurden unter den Juden einige Stimmen laut, die kritisch die Frage aufwarfen, weshalb Werfel über das Leiden der Armenier und nicht über das Leiden der eigenen Leute geschrieben habe.67 Nichtsdestotrotz wurde der Roman Werfeis von jüdischen Lesern in Palästina gerade auch dann als Heldenepos verzweifelter Verteidiger im Rahmen eines nationalen Kampfes rezipiert, als auch dort der Angriff deutscher Truppen befürchtet wurde.68 Der Kampf der Armenier wurde zum modernen Mythos jüdischer Wehrhaftigkeit.69
Zur Rezeption des Romans im Warschauer Ghetto Als die Nazis in den vierziger Jahren die Vernichtung der Juden planmäßig umsetzten, wurde das Epos über seine Mahnfunktion hinaus auch zum Mythos, der die verfolgten Juden zum Widerstand antrieb. In den jüdischen Ghettos war Werfeis Die vierzig Tage des Musa Dagh neben Lew Tolstois Krieg und Frieden unter den jungen Erwachsenen und Jugendlichen weit verbreitet.70 Es wurde von Hand zu Hand gereicht71 und in deutscher, polnischer oder jiddischer 72 Sprache gelesen. 63 64 65 66 67 68
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Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, 1934 [hebr.], Erstes Buch, 225. Auron, The Banality of Indifference, 297. Ebd., 298. Weisgal, So Far, 120. Auron, The Banality of Indifference, 299. Raja Kohen, Die Geschichte als Beispiel. Franz Werfel und das „armenische Schicksal" zur Zeit der Shoa, in: Zion. Vierteljahresschrift zur Erforschung der Geschichte Israels, 62 (1997), 369-385, hier 374 [hebr.]. Ebd. Auron, The Banality of Indifference, 306. Ebd., 303. Werfeis Buch wurde in zwei Fassungen ins Jiddische übersetzt, doch ist keine der beiden Fassungen überliefert.
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Viele betrachteten das Ghetto als „ihren Musa Dagh". 73 Auch die Ghettobewohner lebten - wie die Armenier vom Musa Dagh - eingeschlossen und von ihren Peinigern in ihrer Existenz bedroht. „Musa Dagh" wurde zu einem historischen Terminus, der die Situation der verfolgten und eingeschlossenen Juden bezeichnete.74 Viele sprachen nun vermehrt von einer Ähnlichkeit der Schicksale beider Völker.75 Auch wenn die gesellschaftlichen Themen, mit denen sich der Roman befasste, den Juden „fremd" waren, so wurde der Roman dennoch als .jüdischer Mythos" rezipiert.76 Yitzhak Katznelson, ein jüdischer Dichter und Schriftsteller, der im Warschauer Ghetto lebte, schrieb am 20. August 1943 in sein Tagebuch: „Als die Armenier getötet wurden, wurden sie durch ein jüdisches Buch betrauert, aber als das jüdische Volk getötet wurde, wer wird für dieses trauern?"77 Nach dem Aufstand im Ghetto von Warschau meinte Yitzhak Zuckerman, einer der Anführer der Erhebung, man könne diesen Aufstand nicht verstehen, ohne Franz Werfeis Die vierzig Tage des Musa Dagh gelesen zu haben. Die Juden hätten demnach die „armenische Seele besser als die jüdische" verstanden.78 Die belagerten Armenier vom Musa Dagh wurden zu einem Modell der Nachahmung, und die Worte der Armenier drangen in den Wortschatz der Ghetto-Untergrundkämpfer ein, als wären sie Teil ihrer eigenen Wirklichkeit.79 Der Roman erleichterte die Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod, denn er beinhaltete den Trost, dass bewaffnetes Heldentum - auch im entferntesten Ghetto - zur Rettung, und wenn nicht zur Rettung, dann wenigstens zum ewigen Ruhm beitragen könne.80 „Musa Dagh" wurde zum Symbol des Heldentums von Belagerten. Der Völkermord an den Armeniern diente dabei als Folie, und die Ereignisse wurden als zeitlos, als außerhalb des politisch konkreten Kontextes liegend aufgefasst.81 Die Juden im Ghetto suchten eine Möglichkeit, ihr Andenken zu verewigen - wie die Armenier vom Musa Dagh.82 Dennoch erfuhr der Roman in dieser Zeit auch eine ambivalente, wenn nicht gar negative Rezeption durch jüdische Leser, gerade weil er so erfolgreich war. Gegen den Autor des Buches wurde der Vorwurf erhoben, er habe über ein anderes Volk getrauert, nicht aber über sein eigenes.83 Doch je verzweifelter und hoffnungsloser die Lage der Juden im Ghetto wurde, um so weniger konnte der „Musa Dagh"-Gedanke die Eingeschlossenen stärken. Viele folgerten aus ihrer misslichen Lage, dass ihr Schicksal beispiellos sei. Hillel
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Auron, The Banality of Indifference, 302f. Kohen, Die Geschichte als Beispiel, 375. Ebd., 370. Ebd., 371. Yitzhak Katznelson, Letzte Schriften 1940-1944, Tel Aviv 1956, 211 (neue, erweiterte Auflage), zitiert nach: Auron, The Banality of Indifference, 305. Auron, The Banality of Indifference, 305. Kohen, Die Geschichte als Beispiel, 376. Ebd. Ebd., 377. Ebd. Ebd., 379.
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Seidman, der in das Warschauer Ghetto gezwungen worden war, schrieb am 8. Dezember 1942 in sein Tagebuch:84 „Any attempted comparison with a historical precedent seems absurd, without relevance. Is the Armenian genocide comparable to what we are suffering? The churban of both Temples, the Spanish Expulsion, the massacres perpetrated by the Crusaders or the Cossacks, or any other tragedies throughout our long history soaked with the teares of centuries, all appear dwarfed in comparison with our calamity - it has a unique dimension all of its own." 85
Die vierzig Tage des Musa Dagh - Fiktion und Geschichte Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Paulsen schreibt: „Der heutige Leser kann die ,Vierzig Tage des Musa Dagh' gar nicht mehr anders lesen als aus dem Wissen um den von Hitler systematisch betriebenen Holocaust heraus, es sei denn, er sei selbst Armenier oder armenischer Abstammung."86 Werfeis Buch wird auch heute noch als jüdisches Epos verstanden. Das belegen Zeitungsartikel, die in Zusammenhang mit Werfeis Die vierzig Tage des Musa Dagh immer auch auf den jüdischen Bezug des Werkes eingehen.87 Die jüdische Sicht und Interpretation der Ereignisse hinderten die Armenier jedoch nicht, in Werfeis Buch das Nationalepos des armenischen Volkes zu sehen.88 Viele Armenier in Europa und in Amerika haben es als solches rezipiert.89 Aus ihrer Sicht beschrieb Werfel ihr Schicksal auf bewegende, heroische Weise und trug ihre Leidensgeschichte endlich in literarischer Form in die Welt hinaus. Werfel sah sich selber mehr als Chronist denn als Romanschreiber.90 Dennoch sind die Grenzen zwischen Geschichte und Fiktion in seinem Werk fast bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Er bediente sich eines literarischen Konstruktes, um historische Beispiele aufzuarbeiten. Deshalb sei sein Roman auch nicht als Geschichtsroman zu lesen.91 Zweifellos ist es Werfel zu verdanken, dass der Völkermord an den Armeniern auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa rezipiert wurde. Oft verband man in jener Zeit den Genozid an den Armeniern untrennbar mit Werfeis Roman. „Auf Romanlänge ausgebreitet", schreibt Paulsen, „wäre das ein Zeitdokument ge-
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Der Original-Druck des Tagebuchs erschien 1957 in jiddischer Sprache im Magazin Die jiddische Woch in New York. Hillel Seidman, The Warsaw Ghetto Diaries, Jerusalem 1997, 172. Wolfgang Paulsen, Franz Werfel. Sein Weg in den Roman, Tübingen 1995, 127. Zum Beispiel „Hundert Möglichkeiten des Künstlertums - Zum 50. Todestag von Franz Werfel", in: Neue Zürcher Zeitung, 27. August 1995. Robertson, Leadership and Community, 249. Paulsen, Franz Werfel, 130. Robertson, Leadership and Community, 252. Paulsen, Franz Werfel, 149.
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worden, das heute längst vergessen wäre."92 Erst dadurch, dass Werfel die Geschichte nicht als Historie behandelte, sondern dem Menschlichen in ihr nachspülte, schuf er aus diesem Stoff ein Kunstwerk.93 Nur deshalb wurde und wird das Buch gelesen und rezipiert. Die Handlung des Romans war durch die Quelle des Autors vorgegeben. „Sie bildete den Rahmen, an den er sich hielt, aber dieser Rahmen war doch so beschaffen, dass er seiner eigenen Erfindungsgabe den weitesten Spielraum ließ."94 Literaturwissenschaftlich betrachtet, handelt es sich bei Franz Werfeis Die vierzig Tage des Musa Dagh um einen historischen Roman, auch wenn diese Zuweisung in der Forschung, so etwa bei Paulsen, umstritten ist.95 Wie Karsten betont, lägen die künstlerische und wissenschaftliche Darstellung weitaus näher beieinander, als mancher Historiker wahrhaben wolle.96 Literatur- und Geschichtswissenschaft wollen beide ein sprachliches Abbild der „Wirklichkeit" geben.97 Dabei leiste die literarische Form der Überlieferung von Erfahrungen eine Erinnerungsaufgabe und warne vor historischen Wiederholungen.98 Liest man Werfeis Roman in dieser Hinsicht, so drängt sich wiederum die Annahme auf, Werfel habe als Jude über einen vergangenen Völkermord geschrieben, um den drohenden abzuwenden. Dabei stellt sich die Frage, ob Werfel Anfang der dreißiger Jahre in weiser Interpretation der Umstände den Holocaust wirklich vorausahnen konnte. Die jüdische Wahrnehmung seines Werkes auf genau diese Weise kann dabei nicht zwingend auf Werfeis tatsächliche Intention hinweisen. Allerdings entwickelte die Wirkung seines Romans durch die jüdische Rezeption eine bemerkenswerte Eigendynamik mit literarhistorischem Ausmaß. Noch Jahrzehnte nach seinem Erscheinen zieht der Roman die Leser in seinen Bann. Heute kann sein Werk als das zentrale Element und als Meilenstein der öffentlichen Rezeption des Völkermordes an den Armeniern bezeichnet werden.
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Ebd., 150. Ebd. Ebd., 156. Ebd., Franz Werfel, 149. Karsten, Der Völkermord an den Armeniern in Romanen, 6. Ebd., 8. Ebd.
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Literarische „Reterritorialisierung" und historische Rekonstruierung - Zur europäischen und arabischen Rezeption von Kafkas Schakale und Araber „Cirkusreiter auf 2 Pferden?" Kein literarisches Werk wurde und wird immer noch mit so vielen Kommentaren versehen wie das des Prager Autors Franz Kafka (1883-1924). Seine parabelhaften Texte verleiten dazu, „ihn zum Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heutigen Situation des Menschen" zu machen, wie Theodor W. Adorno schreibt.1 Was macht diese Texte für so viele Lesarten geeignet und worin liegt ihre anhaltende Aktualität? Vielleicht ist es Walter Benjamin, der ihr Geheimnis zuerst erkannte: Kafkas Parabeln entfalten sich nicht im einfachen Sinne, wie „das aus Papier gekniffte Boot [...] zum glatten Blatt", sondern vielmehr wie „die Knospe zur Blüte".2 Hinweise auf diese „Entfaltung" werden über das Werk selbst geliefert. Die kleine Türhüterlegende wird im Roman Der Proceß nach allen Seiten gedreht und gewendet und mit reichlichen Kommentaren „talmudischer Art" versehen, so dass sie beinah alles und nichts bedeuten kann. „Die einfache Geschichte" wird auf diese Weise „unförmlich". (Ρ 303) 3 Die gute Deutungsarbeit führt paradoxerweise zum Sinnentzug, wie der Protagonist des Romans Das Schloß feststellt: ,„Sie deuten, Herr Vorsteher', sagte K., ,den Brief so gut, daß schließlich nichts anders überbleibt als die Unterschrift auf einem leeren Blatt Papier.'" (S 114) Es sind aber gerade diese zur Dezentrierung des Sinnes führenden Erzählstrukturen, die seine Parabeln immer wieder aktuell machen und es vermeiden, aus ihnen eine Lehre abzuleiten. Was aus ihnen hergeleitet wird, ist vielmehr, so Benjamin, „der Dichtung ähnlich".4 Keine Allegorien, die aufgehen, und keine Metaphern, die die Deutung aushalten. Alles ist zerbrechlich, alles verweigert sich der Interpretation. Niemals erschöpft sich Kafka „in 1
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Theodor Wiesengrund Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, 12 Bde., Bd. 10/1, Frankfurt a.M. 1977, 254-287, hier 254. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen 12 Bde., Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, 420. Alle Zitate aus Kafkas Werk und Tagebüchern stammen aus: Franz Kafka, Schriften. Tagebücher. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u.a., Frankfurt a.M. 1983-1990. Die einzelnen Bände werden mit folgenden Abkürzungen angegeben: V für Der Verschollene, Ρ für Der Proceß, S für Das Schloß, D für Drucke zu Lebzeiten, NL II für Nachgelassene Schriften und Fragmente II, TB für Tagebücher. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd.2, 420. Dazu auch Bernd Witte, „Hier wird viel geschrieben", in: Karl Erich Grözinger/Stephane Moses/Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Kafka und das Judentum, Frankfurt a.M. 1987, 238-252. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 215-238
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dem, was deutbar ist", vielmehr hat er „alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen". 5 Sander L. Gilman spricht von einer Art redaktioneller Arbeit, die Kafka schon im Kopf leistet, bevor er zu schreiben beginnt, indem er aus seinen Texten alles wegstreicht, „das ihn nach Maßgabe seiner eigenen Weltwahrnehmung kenntlich machen könnte".6 Diese Schreibstrategie führt den Leser nicht selten in „eine Sackgasse. Aber natürlich ist uns auch eine Sackgasse recht, denn sie kann ja auch zum Rhizom gehören",7 schreiben Deleuze und Guattari, die Kafkas Werk wie ein unförmliches Rhizom, einen komplexen Bau, betrachten, der reichlich über Eingänge verfügt und kein einheitliches Sinnzentrum besitzt. Kafkas literarische Sprache wird von ihnen als ein Fluchtort begriffen, eine Flucht in eine „litterature mineure": „Eine kleine oder mindere Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient (z.B. die jüdische in Warschau oder in Prag). Ihr erstes Merkmal ist daher ein starker Deterritorialisierungskoeffizient, der ihre Sprache erfasst. In diesem Sinne hat Kafka die Sackgasse definiert, die den Prager Juden den Zugang zum Schreiben versperrte und ihre Literatur ,νοη allen Seiten unmöglich' machte." 8
Jenseits der Debatten um die Kafka-Rezeption von Deleuze und Guattari kann der Begriff der „Deterritorialisierung" gebraucht werden, um die bereits erwähnten Strategien in Kafkas literarischer Sprache zu beschreiben, welche eine „Reterritorialisierung" der Bedeutung verhindern. Es sind u.a. jene ausradierten Spuren oder die durch ,redaktionelle Arbeit' weggelassenen Angaben, die den Text an konkrete historische oder räumliche Realitäten binden. In diesem Sinne können auch die Deutungsarbeiten in der Rezeption von Kafkas kurzer Erzählung Schakale und Araber als ständige Reterritorialisierungsversuche diskutiert und verstanden werden. Eine Arbeit gegen die Eigenart des Textes, die mehr über den Interpreten als über Kafka selbst aussagt.9 Kafka beschreibt die Literatur der deutsch-jüdischen Autoren seiner Zeit als unmöglich. „Deutsch zu schreiben" ist unmöglich, weil es die Sprache der Assimilation ist. Das beste Beispiel dafür ist Karl Kraus, „auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte", schreibt Kafka. Es ist das „Mauscheln" im weitesten Sinne, das die Literatur ,undeutsch' macht. Und „so mauscheln wie Kraus kann niemand, trotzdem doch in dieser deutsch jüdischen Welt kaum jemand etwas anderes als mauscheln kann".10 Unmöglich ist ebenfalls, „Anders zu schreiben", 5 6
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Ebd., 422. Sander L. Gilman, Die Ängste des jüdischen Körpers, in: Literaturen, 1/2 (2003), 12-18, hier 15. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Kafka, für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1996 (erste Auflage 1976), 7. Ebd., 24. Heinz Politzer, Franz Kafka. Der Künstler, Frankfurt a.M. 1995, 43. Kafkas Brief an Max Brod von Juni 1921, in: Max Brod (Hg.), Franz Kafka. Briefe 1902-1924, New York 1983 (erste Auflagel958), 359.
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d.h. im Sinne des Zionismus oder vielleicht in Hebräisch, wie u.a. Brod und Buber. Weder Assimilation wie Kraus noch Zionismus wie Brod, das war für Kafka die Herausforderung: die „Unmöglichkeit zu schreiben".11 Gerade zwischen diesen zwei gegensätzlichen Figuren, Brod und Kraus, kommt es 1916 zu einem heftigen Streit, als Brod in Der Jude namentlich deutsch-jüdischen Autoren wie Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal und Franz Werfel den Verrat an der jüdischen Sache unterstellt und sie deshalb als dekadente Intellektuelle bezeichnet.12 Von Wien aus richtet Kraus seine Kritik an Brod und die Prager Gruppe der Selbstwehr, die er als fanatische Fraktion des Zionismus aburteilt.13 Kafkas Werk, das nach diesen Maßstäben eher als dekadente Ästhetik gelten würde, bezeichnet Brod als jüdisches Dokument. In einem Brief an Feiice Bauer schreibt Kafka: „Willst Du mir übrigens nicht auch sagen, was ich eigentlich bin. In der letzten Neuen Rundschau wird die Verwandlung' erwähnt, mit vernünftiger Begründung abgelehnt und dann heißt es etwa: ,K's Erzählungskunst besitzt etwas Urdeutsches'. In Maxens Aufsatz dagegen: ,K's Erzählungen gehören zu den jüdischsten Dokumenten unserer Zeit.' Ein schwerer Fall. Bin ich ein Cirkusreiter auf 2 Pferden? Leider bin ich kein Reiter, sondern liege am Boden." 14
Auf Brods Vorschlag bat Buber, der Herausgeber des Juden, Kafka um Mitarbeit, der jedoch höflich ablehnte.15 Inhalte dieser Zeitschrift drückten Bubers Kulturzionismus aus und behandelten vor allem die Situation der Juden in der Diaspora.16 Brod überredete den Herausgeber, „neben unsern besten Sozialdenkern auch die besten Dichter, die jüngste Generation [zu] vereinen^] z.B. Werfel, Kafka, Wolfenstein". 17 Im Folgenden schickte Kafka an Buber zwölf seiner Texte, von denen dieser Schakale und Araber und Ein Bericht für eine Akademie für die Veröffentlichung in Der Jude
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Andreas Kilcher, Franz Kafka, in: ders. (Hg.), Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart 2003, 278-283, hier 282. Max Brod, Unsere Literaten und die Gemeinschaft, in: Der Jude, Berlin 1916-1917, Oktober 1916,457^164, hier 464. Auch Werfel kritisierte Brod in einem Brief an Martin Buber. Sonja Dierks, Warum das Tier und nicht der Mensch? Unveröffentlichte Fassung zu einem „Gastvortrag zu Kafka: .Schakale und Araber'" an der TU Chemnitz, 23. Oktober 2002. Postkarte vom 7. Oktober 1916 an Feiice Bauer. Erich Heller/Jürgen Born (Hg.), Franz Kafka. Briefe an Feiice, Frankfurt a.M. 1998 (erste Auflage 1967), 719f. Seine Ablehnung formulierte er am 29. November 1915 in einem Brief an Martin Buber: „Ihre freundliche Einladung ehrt mich sehr, aber ich kann ihr nicht entsprechen." Grete Schaeder (Hg.), Martin Buber. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde., Bd. 1: 1897-1918, Heidelberg 1972, 409. In seinem Eröffnungsaufsatz „Die Losung" in der ersten Ausgabe von April 1916 kündigte Buber diese Programmatik an: Er sah „die Losung" in der Bewusstmachung der jüdischen kulturellen Gemeinschaft sowie in der Förderung von Freiheit und Gleichheit. Martin Buber, Die Losung, in: Der Jude, Berlin 1916-1917, April 1916, 1-3. Buber, Briefwechsel, Bd. 1, 429. Dazu im selben Band Brods Brief vom 9. September 1916 an Martin Buber, 432f.
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heraussuchte. Kafka reagierte mit dem mehrdeutigen Satz: „So komme ich also doch in den Juden' und habe es immer für unmöglich gehalten."18 Sowohl Kafkas Autorisierung für den Juden als auch Bubers Auswahl verliehen Schakale und Araber den ersten spezifischen Rezeptionsrahmen. Als Kafka die Oktober-Ausgabe in der Hand hatte, musste er „immer erst aufatmen von Eitelkeitsund Selbstgefälligkeitsausbrüchen", er schrieb von der „Orgie beim Lesen der Erzählung im Juden". (NL II 30) Buber wollte die zwei Erzählungen unter dem Haupttitel „Gleichnisse" veröffentlichen. Das war für Kafka vielleicht etwas zu vulgär: „Gleichnisse bitte ich die Stücke nicht zu nennen, es sind nicht eigentlich Gleichnisse; wenn sie einen Gesamttitel haben sollen, dann am besten vielleicht ,Zwei Tiergeschichten'." 19 Auch mit dieser Entscheidung wollte er eine voreilige Reterritorialisierung verhindern. Die zweite „Tiergeschichte", Ein Bericht für eine Akademie, die ebenfalls 1917 entstand und in der November-Ausgabe erschien, berichtet von der Verwandlung eines Affen in einen Variete-Künstler. Sie wird als eine Satire über die Assimilation der Westjuden verstanden, auch als direkte Anspielung auf Karl Kraus.20
Die Erzählung Schakale und Araber kann man als die Erinnerung eines Europäers auffassen, der in Begleitung eines arabischen Fremdenführers eine Reise im Orient unternimmt. Der Leser erfährt nichts über den Zweck, den Zeitpunkt oder die Dauer dieser Reise. „Wir lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen. Ein Araber, hoch und weiß, kam an mir vorüber. Er hatte die Kamele versorgt und ging zum Schlafplatz. Ich warf mich rücklings ins Gras, ich wollte schlafen; ich konnte nicht; das Klagegeheul eines Schakals in der Ferne; ich saß wieder aufrecht. Und was so weit gewesen war, war plötzlich nah. Ein Gewimmel von Schakalen um mich her; in mattem Gold erglänzende, verlöschende Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetzmäßig und flink bewegt." ( D 270)
Es kommt zu einer seltsamen Begegnung des Europäers mit einem Rudel von Schakalen, dessen ältester zu ihm spricht. Die Rede des Tieres dominiert den Text. „,Ich bin der älteste Schakal, weit und breit. Ich bin glücklich, dich noch hier begrüßen zu können. Ich hatte schon die Hoffnung fast aufgegeben, denn wir warten unendlich 18
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Kafkas Brief an Martin Buber vom 12. Mai 1917. Buber, Briefwechsel, Bd. 1, 494. Dazu auch: Hartmut Binder (Hg.), Kafka. Handbuch in zwei Bänden, Bd. 1, Stuttgart 1979, 488f. Brod schickte Buber außer seinem Aufsatz „Unsere Literaten und die Gemeinschaft", der in der Ausgabe von Oktober 1916 erschien, Kafkas Text „Ein Traum" mit der Bitte, ihn in derselben Nummer zu veröffentlichen. Der Jude, Berlin 1916-1917, Oktober 1916, 457-464. Mit einem ,,ehrenvolle[n] B r i e f an Kafka lehnte Buber seinen „Traum" ab. Hartmut Binder, KafkaKommentare zu sämtlichen Erzählungen, München 1975, 202f. Kafkas Brief an Martin Buber vom 12. Mai 1917. Buber, Briefwechsel, Bd. 1, 494. Kilcher, Franz Kafka, 279.
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lange auf dich; meine Mutter hat gewartet und ihre Mutter und weiter alle ihre Mütter bis hinauf zur Mutter aller Schakale. Glaube es!' ,Das wundert mich', sagte ich und vergaß, den Holzstoß anzuzünden, der bereit lag, um mit seinem Rauch die Schakale abzuhalten, ,das wundert mich sehr zu hören. Nur zufällig komme ich aus dem hohen Norden und bin auf einer kurzen Reise begriffen. Was wollt Ihr denn, Schakale?' Und wie ermutigt durch diesen vielleicht allzu freundlichen Zuspruch zogen sie ihren Kreis enger um mich; alle atmeten kurz und fauchend. ,Wir wissen', begann der Älteste, ,daß du vom Norden kommst, darauf eben baut sich unsere Hoffnung. Dort ist der Verstand, der hier unter den Arabern nicht zu finden ist. Aus diesem kalten Hochmut, weißt du, ist kein Funken Verstand zu schlagen. Sie töten Tiere, um sie zu fressen, und Aas mißachten sie.' ,Rede nicht so laut', sagte ich, ,es schlafen Araber in der Nähe.' ,Du bist wirklich ein Fremder', sagte der Schakal, ,sonst wüßtest du, daß noch niemals in der Weltgeschichte ein Schakal einen Araber gefürchtet hat. Fürchten sollten wir sie? Ist es nicht Unglück genug, daß wir unter solches Volk verstoßen sind?' ,Mag sein, mag sein', sagte ich, ,ich maße mir kein Urteil an in Dingen, die mir so fern liegen; es scheint ein sehr alter Streit; liegt also wohl im Blut; wird also vielleicht erst mit dem Blute enden.' ,Du bist sehr klug', sagte der alte Schakal; und alle atmeten noch schneller; mit gehetzten Lungen, trotzdem sie doch stillestanden; ein bitterer, zeitweilig nur mit zusammengeklemmten Zähnen erträglicher Geruch entströmte den offenen Mäulern, ,du bist sehr klug; das, was du sagst, entspricht unserer alten Lehre. Wir nehmen ihnen also ihr Blut und der Streit ist zu Ende.' ,Oh!', sagte ich wilder, als ich wollte, ,sie werden sich wehren; sie werden mit ihren Flinten euch rudelweise niederschießen.' ,Du mißverstehst uns', sagte er, ,nach Menschenart, die sich also auch im hohen Norden nicht verliert. Wir werden sie doch nicht töten. Soviel Wasser hätte der Nil nicht, um uns rein zu waschen. Wir laufen doch schon vor dem bloßen Anblick ihres lebenden Leibes weg, in reinere Luft, in die Wüste, die deshalb unsere Heimat ist.' Und alle Schakale ringsum, zu denen inzwischen noch viele von fernher gekommen waren, senkten die Köpfe zwischen die Vorderbeine und putzten sie mit den Pfoten; es war, als wollten sie einen Widerwillen verbergen, der so schrecklich war, daß ich am liebsten mit einem hohen Sprung aus ihrem Kreis entflohen wäre." (D 270-272)
Dieser Europäer, und nur er, ist aus der Sicht der Schakale derjenige, der sie retten kann. Über Generationen wurde diese Hoffnung auf Rettung durch ihn tradiert. ,„Herr, du sollst den Streit beenden, der die Welt entzweit. So wie du bist, haben unsere Alten den beschrieben, der es tun wird. Frieden müssen wir haben von den Arabern; atembare Luft; gereinigt von ihnen den Ausblick rund am Horizont; kein Klagegeschrei eines Hammels, den der Araber absticht; ruhig soll alles Getier krepieren; ungestört soll es von uns leergetrunken und bis auf die Knochen gereinigt werden. Reinheit, nichts als Reinheit wollen wir', - und nun weinten, schluchzten alle - ,wie erträgst nur du es in dieser Welt, du edles Herz und süßes Eingeweide? [...] Darum, ο Herr, darum ο teuerer Herr, mit Hilfe deiner alles vermögenden Hände schneide ihnen mit dieser Schere die Hälse durch!' Und einem Ruck seines Kopfes folgend kam ein Schakal herbei, der an einem Eckzahn eine kleine, mit altem Rost bedeckte Nähschere trug." (D 273f.)
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A l s die Schakale d e m Europäer das Mordinstrument übergeben wollen, tritt der Araberführer auf, u m das „Schauspiel" zu beenden: „,So hast du, Herr, auch dieses Schauspiel gesehen und gehört', sagte der Araber und lachte so fröhlich, als es die Zurückhaltung seines Stammes erlaubte. ,Du weißt also, was die Tiere wollen?' fragte ich.,Natürlich, Herr', sagte er, ,das ist doch allbekannt; solange es Araber gibt, wandert diese Schere durch die Wüste und wird mit uns wandern bis ans Ende der Tage. Jedem Europäer wird sie angeboten zu dem großen Werk; jeder Europäer ist gerade derjenige, welcher ihnen berufen scheint. Eine unsinnige Hoffnung haben diese Tiere; Narren, wahre Narren sind sie. Wir lieben sie deshalb; es sind unsere Hunde; schöner als die Eurigen. Sieh nur, ein Kamel ist in der Nacht verendet, ich habe es herbeischaffen lassen.'" (D 274) D i e Schakale haben aufgehört zu sprechen und verhalten sich ab diesem Moment wie Tiere. Sie zehren am Kadaver des verendeten Kamels und müssen die Peitsche der Araber ertragen.
Die europäische Rezeption Trotz plausibler Bezüge zu Judentum und Zionismus setzen sich einige Germanisten mit der Erzählung auseinander, ohne diese Aspekte zu berücksichtigen. 21 Andere Autoren nehmen diese B e z ü g e zwar wahr, konzentrieren sich jedoch auf andere Zusammenhänge w i e z.B. das Verhältnis zwischen Tier und Mensch. 2 2 Behandelt werden außerdem die Nahrungsproblematik im Hinblick auf Kafkas Vegetarismus sowie die Krise der Künstlerexistenz und die Beziehungen zu Frauen. 23 Der Literaturwissenschaftler Jens Tismar befasst sich am ausführlichsten mit der Erzählung und betrachtet sie im zionistischen Kontext. Auch Kafkas Interpret Hartmut Binder folgt seinen Überlegungen. 2 4 Tismar geht v o n der Konstellation Schakale/Araber „als einfem] wilde[n] Gegenstück zum zivilisierten Verhältnis von Herr und Hund" aus, welches wiederum die Situation der Diaspora-(West-)Juden ausdrückt. 25 D i e Schakale seien somit die 21
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Nach Eschweiler werden dem Erzähler zwei gegensätzliche Lebensweisen vorgeführt, die die menschliche Situation nach dem Sündenfall und der Entzweiung der Welt in Gut und Böse präsentieren. Christian Eschweiler, Kafkas Erzählungen und ihr verborgener Hintergrund, Bonn 1991, 77-87. Dagegen macht Erwin Leibfried am Beispiel der Erzählung deutlich, wie der Leser - ausgehend von der Situation des Autors als Angehöriger der jüdischen Minderheit - in eine bestimmte Richtung geführt wird und die Erzählung als Hinweis auf die geschichtliche Problematik der europäischen Juden liest. Erwin Leibfried, Kritische Wissenschaft von Text. Manipulation, Reflexion, Transparente Poetologie (Diss.), Stuttgart 1972 (erste Auflage 1970), 340f. Dierks, Warum das Tier und nicht der Mensch? Walter H. Sokel, Franz Kafka. Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst, Frankfurt a.M. 1976, 8; Jens Tismar, Kafkas ,Schakale und Araber' im zionistischen Kontext betrachtet, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 19 (1975), 306-323, hier 320. Binder, Kafka. Handbuch, 488, und Binder, Kafka-Kommentare, 202f. und 208f. Tismar, Kafkas ,Schakale und Araber', 310.
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morgenländischen wilden Pendants der abendländischen Hunde: „es sind unsere Hunde; schöner als die Eurigen". Das Verhältnis Hund/Herr als Bild der westjüdischen Abhängigkeit sieht Tismar in Alfred Döblins Aussage zur Assimilation bestätigt: „einseitige Liebe zum Herrenvolk: Das hündische Gefühl der Westjuden." 26 Tismar bewegt sich ausschließlich innerhalb der Problematik des europäischen Judentums und versteht ,Araber', ,Schakale' und ,wildes Morgenland' nur als Verweise auf ,Europäer', ,Hunde' und zivilisiertes Abendland'. Dabei existieren schon in der Sphäre des Textes zwei unterschiedliche Lebensmodelle: Hunde unter Europäern und Schakale unter Arabern. Diese könnten wiederum vom Text aus auf zwei Existenzarten verweisen, die in der Welt bestehen. Auf die historische Situation der Entstehungszeit übertragen, könnte es sich um die Juden unter Europäern einerseits und die zionistischen Kolonisatoren unter Arabern im palästinensischen Jischuw andererseits handeln. Im Bezug auf die einseitige Liebe ergibt sich ein weiterer Aspekt, welcher Tismars Analogie problematisch macht. Denn diese gilt nur für die abendländische Hund/ Herr-Metapher, die für Antisemitismus trotz Assimilation steht. Kafkas Schakale lieben die Araber nicht und können es auch nicht, solange sie „authentische" Schakale bleiben wollen. Die wilden Tiere haben keine Herren und wollen keine haben, vielmehr wollen sie die Herren im Lande werden; sie entsprechen damit der Situation der zionistischen Juden in Palästina um 1917. Kafkas Freund Hugo Bergmann beklagt ihre Stellung als Minderheit und spricht von den arabischen Einwohnern, „welche seit Generationen das Land bewohnen, es als ihre Heimat betrachten und - wenigstens jetzt - [ . . . ] die Herren dort sind".27 Die gegensätzlichen Existenztypen sowie die Nahrung und die Arten, diese zu erwerben scheinen in der Erzählung die Ursache des Streites zu sein, da Vieh von den Arabern geschlachtet und verzehrt wird, statt dass es krepiert und dann von den Schakalen naturgemäß gefressen wird. Aber gerade diese menschliche Dominanz bringt die Tiere zwangsläufig in parasitäre Abhängigkeit. Die letzte Szene zeigt eindrucksvoll diese Abhängigkeit der Schakale von der Nahrung. Nichts kann sie dazu bewegen, ihren Trieb zu überwinden: „Vier Träger kamen und warfen den schweren Kadaver vor uns hin. Kaum lag er da, erhoben die Schakale ihre Stimmen. Wie von Stricken unwiderstehlich jeder einzelne gezogen, kamen sie, stockend, mit dem Leib den Boden streifend, heran. Sie hatten die Araber vergessen, den Haß vergessen, die alles auslöschende Gegenwart des stark ausdünstenden Leichnams bezauberte sie. Schon hing einer am Hals und fand mit dem ersten Biß die Schlagader. Wie eine kleine rasende Pumpe, die ebenso unbedingt wie aussichtslos einen übermächtigen Brand löschen will, zerrte und zuckte jede Muskel seines Körpers an ihrem Platz. Und schon lagen in gleicher Arbeit alle auf dem Leichnam hoch zu Berg." (D 275)
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Zitiert nach ebd. Hugo Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, in: Palästina (Juli-September 1911) [Kongressnummer], 190-195, hier 190.
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Am Ende sagt der Araber: „,wir lassen sie bei ihrem Beruf; auch ist es Zeit aufzubrechen. Gesehen hast du sie. Wunderbare Tiere, nicht wahr? Und wie sie uns hassen!'" (D 275)
Die tierische Natur der Schakale betont einerseits ihre triebhafte Abhängigkeit; ihre menschliche Erscheinung als redende .berufliche Wesen' hebt andererseits ihre gesellschaftlich-kulturelle Prägung hervor. Die Spannung zwischen Natur/Trieb und Arbeitskultur/gesellschaftliche Situation könnte auf die Situation der Juden übertragen werden. Die erste Erklärung (Trieb) manifestiert sich in antisemitischen Diskursen, die Juden eine parasitäre Natur zuschreiben, da sie ohne „richtige Berufe" seien und ihr Brot durch Geldgeschäfte, Maklertätigkeiten, durch Kunst, Musik oder andere geistige Berufe verdienten. Während also die nichtjüdische Gesellschaft die „richtige", körperliche Arbeit durch Ackerbau, Handwerk und ähnliches verrichte, lebten Juden „wie Parasiten" auf Kosten der arbeitenden Gesellschaft.28 Innerhalb zionistischer Kreise wurde die Frage der Jüdischen Arbeit' insbesondere im Bereich der Landwirtschaft diskutiert, von der die Juden völlig entfremdet seien, da sie in Europa in der Regel weder Land besäßen noch als Landarbeiter beschäftigt seien. In Zusammenhang mit der jüdischen Kolonisation in Palästina fragte Arthur Ruppin (1876-1943), Leiter des Palästina-Amtes der Jewish Agency in Jaffa, in der Zeitschrift Palästina von 1912, wie „die Juden, die seit 2000 Jahren Städter und dem landschaftlichen Berufe fremd sind, als Arbeiter zur Landwirtschaft zurückkehren" können.29 Auch in der ersten Ausgabe von Der Jude bezeichnet der zionistische Arbeiterführer A. D. Gordon (1856-1922) das Verhältnis der Juden zur Arbeit als eine „anhaftende Krankheit", die „so tief sitzt, daß sie eine gründliche Untersuchung und radikale Heilung fordert. [...] Werden unsere Juden nicht stets kaufmännische Tätigkeit, Pendlertum, Finanzgeschäfte und besonders solche Berufe bevorzugen, wobei andere arbeiten und sie das Geschäft führen?" 30 Mit seinem Gebrauch der Krankheits-Metapher konstruiert er einen Status zwischen dem des „Naturparasiten" aus dem Arsenal des Antisemitismus und dem geschichtlich entstandenen gesellschaftlichen Status. Das Bild vom kranken Körper drückt die Spannung zwischen Natur/Trieb und Arbeitskultur/gesellschaftliche Situation aus. In einem der „Briefe aus Palästina" führt er aus: „Kleine Händler und Makler auf kleinen oder auch auf großen Börsen. Alles ist klein, kleinlich. Parasiten aber haben wir aller Art: kleine und große, ökonomische und geistige. Unser Parasitentum haben wir aus dem Golus (jidd. für Galuth, Α. B.] ungemindert hierhergebracht, frisch, gesund, kräftig."31 Durch die Verwendung antisemitischer Zuschreibungen versucht Gordon, die Juden zu mobilisieren. 28 29
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Tismar, Kafkas .Schakale und Araber' 313f. Arthur Ruppin, Die Landarbeiterfrage in Palästina, in: Palästina. Monatsschrift für die Erschließung Palästinas 9 (1912), H. 3-4, 64-75, hier 66. Aharon David Gordon, Die Arbeit, in: Der Jude, Berlin 1916-1917, April 1916, 3 7 ^ 3 , hier 38f. Ders., Briefe aus Palästina, in: Der Jude, Berlin 1916-1917, Januar 1917, 643-649, hier 644.
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Tismar meint, die Figur des Schakals in Kafkas Erzählung sei u.a. auf Grund seines parasitären Wesens eine klassische antisemitische Metapher für „Jude". Er zeigt Beispiele dafür in Werken von Heine, Grillparzer und Stifter, die Kafka wohl gekannt hat. In Heines Hebräischen Melodien beruft sich ein spanischer Mönch auf Thomas von Aquin:,Judenvolk, ihr seid Hyänen, / Wölfe, Schakals, die in Gräbern / Wühlen, um der Toten Leichnam' / Blutfraßgierig aufzustöbern." 32 Schakale zeichnen sich durch „Feigheit plus Raffgier und schmutzige Tätigkeit im Finstern, kurz die parasitäre Form des Nahrungserwerbs" aus. Das sind die Eigenschaften, „durch die ein antisemitisches Urteil den Schakal quasi zum Totemtier der Juden erklärt".33 Die nachtaktiven Tiere, ihre unheimliche Zusammenkunft und mörderische Absicht in der Erzählung können ebenso als Hinweise auf eine weitere antisemitische Vorstellung verstanden werden: die Beherrschung der Welt durch eine jüdische Verschwörung. Ferner kommt der Schakal in der jüdischen Schrifttradition ziemlich häufig vor, sogar als Gegenpart zum Araber.34 Die Erzählung ist von Elementen der jüdischen Tradition durchdrungen; dies zeigt sich vor allem durch die vielen Hinweise auf die „alte Lehre" (D 272) in der Erzählung: Exil, Reinheit und Messianismus.
Die Erzählung und die ,Araberfrage' Tismar übersieht die Situation der Zionisten in Palästina, obwohl die Handlung auf einem orientalischen Schauplatz stattfindet: „,Araber' und ,Wüste' evozieren nur eine Region, die dem Zielpunkt zionistischer Hoffnung, Palästina, nahe liegt".35 Dabei stellte die ,Araberfrage' in zionistischen Kreisen ein relevantes Thema dar. So fragt Kafkas Freund Hugo Bergmann z.B., „in welches Verhältnis man zu den derzeitigen Einwohnern Palästinas zu treten gewillt ist und welches die Richtschnur [des] ökonomischen und politischen Verhaltens ihnen gegenüber sein soll".36 Weiterhin spricht er von dem in zionistischen Kreisen bestehenden „unseligefn] Irrtum,
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Heinrich Heine, Disputation (Romanzero, Drittes Buch: Hebräische Melodien), in: ders, Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 6/1, München 1975, 163. Zum Verhältnis des Thomas von Aquin zum Judentum verweist Tismar auf die antisemitische Schrift von Josef A. Kofier, Katholische Kirche und Judentum, München 1931, 31. Dort lautet die Wiedergabe der thomasischen Auffassung: „Ein Staat, der um seine Erhaltung und seinen Fortschritt besorgt ist, kann nicht dulden, dass sie [die Juden] als Parasiten zum Nachteil der Schaffenden leben [...]." Tismar, Kafkas .Schakale und Araber', 310. Tismar, Kafkas ,Schakale und Araber', 311. In der deutschen Bibelfassung kommen die Schakale ca. fünfzehn Mal vor. Die Wüste wird dort oft als Ort der Schakale umschrieben. Hiob bezeichnet sich als „Bruder der Schakale" (Hiob 30, 29). In Jesaja 13, 19-20, 22 heißt es: „So soll Babel [...] zerstört werden von Gott [...], daß man hinfort nicht mehr da wohne [...], daß auch Araber dort keine Zelte aufschlagen [...], und wilde Hunde werden in ihren Palästen heulen und Schakale in den Schlössern der Lust." Tismar, Kafkas .Schakale und Araber', 314. Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, 190.
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daß Palästina ein leeres Land ist".37 Kafka las die Palästina, die bis 1912 erschien und erst nach seinem Tod fortgesetzt wurde, regelmäßig. So hatte er z.B. eine Nummer dieser Zeitschrift bei sich, als er Feiice Bauer am 13. August 1912 bei der Familie Brod kennen lernte. Bei diesem ersten Treffen und später in den Briefen „planten" sie, gemeinsam eine Reise nach Palästina zu unternehmen.38 Ein weiterer Nachweis für Informationsquellen zu Palästina findet sich in einer frühen Tagebuchnotiz vom 23. Mai 1912: „In den letzten Tagen ausgezeichneter Vortrag von Davis Trietsch über Kolonisation in Palästina." (TB 423) Trietsch war Mitherausgeber der Palästina und publizierte Bücher zum Thema Zionismus und über Palästina. In einem Tagebucheintrag vom 12. September 1912 zählte Kafka Bergmann zu den „Palästinafahrern", von denen er anscheinend viele kannte und somit Informationen aus erster Hand bekam. „Alle diese Palästinafahrer (Bergmann, Dr. Kellner) haben gesenkte Blicke, fühlen sich von den Zuhörern geblendet, fahren mit den gestreckten Fingern auf dem Tisch herum, kippen mit der Stimme um, lächeln schwach und halten dieses Lächeln mit etwas Ironie aufrecht. - Dr. Kellner erzählte, daß seine Schüler Chauvinisten sind, immerfort die Makkabäer im Munde haben und ihnen nachgeraten wollen." (TB 437)
Zwischen September 1911, als Bergmanns Artikel erschien, und der Entstehung von Schakale und Araber im Februar 1917 liegen mehr als fünf Jahre, in denen Kafka über die Situation in Palästina weitere Informationen sammeln konnte. Bergmann war bewusst, dass die jüdischen Einwohner immer noch eine kleine Minderheit unter den arabischen Einwohnern bildeten. Seinen Angaben nach machten die Araber sechs- von siebenhunderttausend Einwohnern in Palästina aus.39 Über diese Situation in Palästina berichtete auch die Prager Selbstwehr, zu deren Autorenkreis Kafka und seine Freunde gehörten, allerdings in einem optimistischen Ton: „20 % aller Einwanderer Palästinas sind Juden und das ist nur ein Anfang." 40 Noch seien die Araber die Herren in Palästina, beklagt Bergmann. Die Herren im neuen Land sollen die Zionisten sein, nicht mehr gedemütigt „wie Hunde" (Döblin) unter europäischer Herrschaft. Dies entspricht der Situation der Schakale, die die Herren in der Oase sein wollen und gegen eine Existenz als abhängige Hunde rebellieren. Die Anwesenheit der Araber in der Oase beengt und bedroht die aus der Wüste kommenden und nach reiner Luft suchenden Schakale, die, in der schwachen Position einer Minderheit, „unter solches Volk verstoßen" sind. Auch die jüdischen Einwanderer kamen aus der Diaspora (der Wüste) mit der Hoffnung auf reine Luft, auf 37 38
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Ebd., 191. Kafkas erster Brief an Feiice vom 20. September 1912, in: Erich Heller/Jürgen Born (Hg.), Franz Kafka. Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Frankfurt a.M. 1998, 43f. Dazu auch Canettis Kommentar zum ersten Treffen: Elias Canetti, Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Feiice, Leipzig 1983, 9f. und 99f., und Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M. 2002, 97f. Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, 190. Die Juden in Palästina, in: Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift (Prag), 22. November 1907, 4.
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Freiheit und vor allem auf einen Raum, in dem sie nicht in einem „hündischen" Verhältnis unter einem Herrenvolk leben. Das Ziel der zionistischen Bewegung war es nicht, (wiederum) als Minorität unter einem Volk zu leben, sondern „Palästina eine jüdische Majorität zu geben", - „die reale Inbesitznahme des Landes durch Juden", wie Bergmann wiederholt betonte.41 Er spricht mit den Worten Elias Auerbachs, der das Problem ebenfalls in der arabischen Dominanz sieht: „Es sind nicht europäische Mächte, die uns Juden Palästina vorwegnehmen könnten, sondern es ist das einheimische arabische Element, welches fortschreitend erstarkt, sich zivilisiert und mit europäischen Methoden zu arbeiten beginnt. Wie oft haben gerade unsere eifrigsten Vertreter der praktischen Arbeit den Satz ausgesprochen: ,Wenn wir uns nicht beeilen, werden andere Palästina nehmen.' Niemand wird es nehmen, sondern die arabische Bevölkerung, verstärkt durch etwa türkische und ägyptische Elemente, wird die herrschende Macht bleiben, die sie jetzt ist."42
Bereits zu dieser Zeit war es den Zionisten also klar, dass die große arabische Bevölkerung in Palästina den Plan erschweren und sogar eine Gefahr für die jüdische Existenz darstellen würde. Auerbachs mahnende Worte beziehen sich auf die politische Bedrohung für den geplanten jüdischen Staat, im Falle dass die Palästinenser einen arabischen Staat errichten und „Palästina nehmen". Die Situation verschärfte sich noch, als die Araber außer der demographischen bzw. politischen auch eine ökonomische Gefahr darstellten. In dem oben genannten, wenige Monate später erschienenen Artikel behandelte Arthur Ruppin die „Landarbeiterfrage in Palästina" und die ökonomischen Voraussetzungen für die Schaffung eines .jüdischen Landarbeiterstandfes]". Die jüdischen landwirtschaftlichen Betriebe müssten, so Ruppin, auch jüdische Landarbeiter beschäftigen, „wenn sie auf die Dauer jüdische Kolonien bleiben sollen".43 Ebenso warnt er vor einer „Überzahl der Nichtjuden", die „in kritischen Zeiten überhaupt die Existenz der ganzen Kolonie in Frage stellen kann". 44 Diesbezüglich stellt sich für Ruppin ein erhebliches Problem dar: Der osteuropäische Jude, der zum Landarbeiter in Palästina werden soll, muss „sich mit einem sehr geringen Lohn begnügen [...], weil er an dem billigen und an landwirtschaftliche Arbeit gewöhnten Araber eine gefährliche Konkurrenz hat".45 Mit finanzieller Hilfe sollte seine „Existenz und Konkurrenz mit dem arabischen Arbeiter ermöglicht" werden, da er wegen seines höheren Lebensstandards - verglichen mit dem des Arabers - mehr Lohn braucht. Dieser darf auch höher sein, „aber nur insofern die Arbeitsleistung des jüdischen Arbeiters infolge seiner größeren Anstelligkeit und Treue in gleichem Verhältnis höher ist". Er muss also deshalb seinem Arbeitgeber „ökonomische Vorteile bringfen], die dem arabischen Arbeiter abgehen (z.B. bessere Behandlung der
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Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, 190. Elias Auerbach, in: Die Welt, 1910, 1101. Zitiert nach Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, 191. Ruppin, Die Landarbeiterfrage in Palästina, 65. Ebd., 66. Ebd.
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Maschinen, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, welche eine besondere Aufsicht und Kontrolle überflüssig machen usw.)".46 Die Planer des Staates, zu denen auch Ruppin gehörte, waren von Anfang an bemüht, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in dem neuen Land nach ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit zu klassifizieren und dementsprechend ihre Stellung in der Gesellschaft festzulegen. Da die jüdischen Einwanderer bis zur Gründung des Staates überwiegend aus Osteuropa kamen, bildeten die osteuropäischen Juden auch die politische und ökonomische hegemoniale Macht. Es ging nicht um die Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden, sondern um die Privilegierung der europäischen Juden. So unterschied Ruppin z.B. zwischen den jüdischen Pionieren aus Osteuropa, die später das Establishment bildeten und für die er eine besondere finanzielle Unterstützung befürwortete, und den „orientalischen Juden (aus Jemen, Persien, Nordsyrien) [...], weil ihr standard of life niedriger ist [...]. Für den orientalischen Juden genügt der geringe Lohn, den er als Arbeiter erhält, im Gegensatz zu dem osteuropäischen Arbeiter".47 Die verallgemeinernde Vorstellung der Zionisten, dass die orientalischen Juden von Hause aus den osteuropäischen kulturell nachstehen, dominierte noch Jahrzehnte. Von Herzl bis (frühestens) Ben Gurion kann man mühelos einen von Kolonialismus geprägten Diskurs des Zionismus feststellen, in dessen Verlauf orientalische Juden deklassiert werden. In seinem Roman Altneuland beschrieb Herzl z.B. den „barbarischen" Zustand der Araber bzw. der orientalischen Juden vor der Ankunft der europäischen Juden, die die Region zivilisieren wollten.48 Aus den Berichten der Selbstwehr mussten die Prager Juden von diesem Zivilisationsgefälle in Palästina gewusst haben, von arabischem „armselig[en] Vegetieren in zähem Festhalten an Wirtschaftsmethoden biblischer Vorzeiten" einerseits und jüdischen ,JErfolge[n] des nach Vervollkommnung strebenden Menschengeistes"49 andererseits. Diese Darstellung von arabischen Juden und Nichtjuden war zu Kafkas Zeit weit verbreitet. Sie gehörte u.a. zur moralischen Rechtfertigung der zionistischen Idee, ein von einer anderen Bevölkerungsgruppe besiedeltes Gebiet beherrschen zu wollen. Die ostjüdischen Flüchtlinge indes litten in Westeuropa unter einem ganz ähnlichen rassistischen Diskurs. Kafka war mit dieser Problematik, vor allem durch seine Kontakte zu einer jiddischen Schauspielertruppe aus Osteuropa, konfrontiert. Jizchak Löwy, der erste Schauspieler dieser Gruppe, wurde Kafkas enger Freund. „Ohne ihn zu kennen", verglich Kafkas Vater diesen Freund „in einer schrecklichen Weise [...] mit Ungeziefer", wie es aus dem „Brief an den Vater" hervorgeht. (NL II 154) - Weil in Palästina eine jüdische Mehrheit im Lande entstehen sollte, mussten die arabischen Bauern durch die orientalischen Juden ersetzt werden. Der osteuropäische Arbeiter war privilegierter als Letztere und sollte an der Spitze stehen. Spannungen, 46 47 48 49
Ebd., 68. Ebd., 74. Theodor Herzl, Altneuland, Wien/Basel/Stuttgart 1962 (erste Auflage 1902). Hans Rohde, Die jüdische Kolonisation Palästinas, in: Ostjudenheft der Süddeutschen Monatshefte, zitiert nach: Selbstwehr, 25. Februar 1916, 2f.
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Vorurteile, Stereotype scheinen auch zwischen allen Gruppen in der Erzählung eine zentrale Rolle zu spielen. Die Schakale verherrlichen die europäische Kultur und nehmen eine explizite Gegenüberstellung von Arabern und Europäern vor: „Dort [im Norden, d.h. in Europa] ist der Verstand, der hier unter den Arabern nicht zu finden ist." Später stellen sie aber fest, dass der Europäer sie doch missversteht, „nach Menschenart, die sich also auch im hohen Norden nicht verliert". Während der europäische Erzähler seinen unerträglichen Ekel vor den Schakalen nicht verheimlicht, können diese Tiere nicht einmal den bloßen Anblick der Araber ertragen. Der Europäer wird von dem Schakal mit „du edles Herz und süßes Eingeweide" angesprochen, der Araber dagegen wird von ihm negativ wahrgenommen: „Schmutz ist ihr Weiß; Schmutz ist ihr Schwarz; ein Grauen ist ihr Bart; speien muß man beim Anblick ihrer Augenwinkel; und heben sie den Arm, tut sich in der Achselhöhle die Hölle auf." (D 273) Der Araber bewundert zwar die Tiere, peitscht sie aber aus und nimmt sie nicht ernst. Die subjektive Wahrnehmung des Anderen wird in der Erzählung grotesk dargestellt. Die ethnischen kulturellen Differenzen und ihre Folgen zeigen sich zwischen Europäern und Arabern einerseits und noch radikaler zwischen Mensch und Tier andererseits. Trotz des moderaten Tones Bergmanns und trotz seiner Bemühungen, eine gerechte Lösung zu finden, spürt man in seinen Äußerungen eine gewisse moralische Spannung. Ihm war klar, dass Arbeiter und Eigentümer Juden sein mussten, was zwangsläufig bedeutete, dass „die Araber also gänzlich verdrängt werden". Er fragte: „Läßt sich eine halbe Million Menschen expropriieren? Und selbst wenn wir genug Geld und Macht hätten, dies zu erreichen - wird die türkische Regierung [...] zugeben, daß wir seßhafte Bauern zu Nomaden machen?" 50 „Vielmehr muß man ihnen [den Palästinensern] einen Teil des Bodens lassen und ihnen helfen, mittelst des Geldes, daß sie als Ablösung ihrer Häuser und Gärten von dem neuen Eigentümer erhalten, zu einer intensiveren Kultur überzugehen und sich so trotz des kleinern Landbesitzes denselben Ertrag zu erhalten. Wir kommen nicht als Eroberer und Raubkolonisatoren nach Palästina (obzwar ich leider bemerken konnte, daß man sich da und dort zu den Arabern gern so stellen möchte, wie die Europäer zu den Schwarzen. Man komme mir nicht mit dem ,gesunden nationalen Egoismus'!) [...] Wir kommen nach Palästina als Kulturträger. Die Araber sollen von uns lernen [...]. Die Araber sollen in uns die Träger der Gesittung und einer wahren Kultur sehen, die durch uns auch ihnen zugänglich wird."51
In vielerlei Hinsicht begegnete Kafka Aspekten wie Rassismus, Differenz und Wahrnehmung des Fremden: Antisemitismus in Prag, innerjüdische Diskriminierung der vor den Pogromen fliehenden Ostjuden, die Araber und die orientalischen Juden in Palästina. In dem oben zitierten Auszug aus Bergmanns Aufsatz wird der Rassismus gegen Araber mit dem Verhalten der „Europäer zu den Schwarzen" verglichen. Die Sicht der Schakale auf die Araber entspricht einer rassistischen Wahrnehmung des 50 51
Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, 194. Ebd., 195.
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Anderen schlechthin, die zur Zeit Kafkas sowohl im antisemitischen und kolonialen als auch im zionistischen Diskurs verbreitet war. Im Reisebericht des Europäers erscheint der Araber „hoch und weiß" und „lachte so fröhlich". Die von Hass erfüllten Tiere liefern hingegen ein negatives Bild: kein Verstand, Schmutz, Gestank. In Kafkas Erzählung kann der Europäer den Gestank der Schakale kaum ertragen „nur mit zusammengeklemmten Zähnen". Vergleicht man die Situation der Schakale mit der der vom europäischen Antisemitismus diskriminierten Juden (insbesondere aus Osteuropa), so ergeben sich Analogien: In beiden Fällen ist eine verdoppelte Stigmatisierung zu erkennen. Die Schakale verherrlichen die Europäer, doch werden sie von ihnen negativ wahrgenommen und missverstanden. Die zionistischen Kolonisten, die hauptsächlich Ostjuden waren, betrachten sich als Träger der westlichen europäischen Kultur, obwohl sie in ihr stigmatisiert waren, und beabsichtigen die „Wilden" in Palästina zu zivilisieren. In der Erzählung hassen die Schakale die Araber eindeutig. Die Araber wiederum bewundern die Tiere und behaupten, sie zu lieben. Ihr Verhalten jedoch deutet auf Verachtung und Demütigung hin. Die Schakale bilden sich nicht nur ein, unter den Arabern zu leiden, sondern stehen tatsächlich und im Wortsinn unter der Peitsche der Araber. Konnte man bereits 1917 von einem jüdisch-arabischen Konflikt sprechen? Die Antwort ist mit Sicherheit „Ja", und sie ist sogar in Bergmanns Aufsatz zu finden. Dieser sah in den arabischen Einwanderern aus dem Libanon eine Konkurrenz für die jüdischen Kolonisten. Sie kamen nach Palästina „Boden erwerbend, die Bodenpreise in die Höhe treibend und vor allem auch - diese Araber sind Christen - gegen die Juden Hass und Feindschaft säend". Bergmann nennt Beispiele des „Judenhasses unter den Arabern" und berichtet nach der hebräischen Zeitung Hapoel Hazair von neu ankommenden Juden, die „mit Schimpfworten und mit den Rufen: ,Ihr wollt uns unseres Landes berauben!' empfangen" wurden. Er zitierte aus der jüdischen Haolam, die nach den Protesten der arabischen Öffentlichkeit schrieb: „Unsere Feinde, besonders die Christen in Galiläa, schlugen Lärm. Die in Haifa erscheinende Zeitung ,KarmeP brachte eine ganze Serie von Artikeln gegen die Juden, die Palästina erobern wollen."52 Unter dem Titel „Die Jüdische Gefahr' in Palästina" zitierte die Selbstwehr aus der protestantischen, konservativen Kreuzzeitung Preußens, die die Situation in Palästina für antisemitische Hetze missbrauchte: „Jaffa und Jerusalem sind jetzt vorherrschend jüdische Städte geworden, Städte wie Romath-Gilead, Bethlehem, Nazareth und Gaza, wo noch vor wenig Jahren kein Jude sich zu zeigen wagte, haben jetzt ihre Judenviertel und Synagogen."53 Auch in der Selbstwehr wurde die Entscheidung der türkischen Regierung, den Juden Landankauf in Palästina zu verbieten, auf die arabischen Christen zurückgeführt. Diese ließen „sich von den Missionären zur Denunziation missbrauchen".54 „Den unmittelbaren Anlaß zur Erlassung des Verbotes dürfte ein Massentelegramm christlicher Araber aus Nazareth gegeben haben, die sich bei der Regierung darüber beschwerten, 52 53 54
Ebd., 192f. Die .jüdische Gefahr" in Palästina, in: Selbstwehr, 11. März 1910, 1. Warten. Zum Landankaufs verbot in Palästina, in: Selbstwehr, 1. Juni 1910, lf.
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daß 100.000 russische Juden im Begriffe seien, Palästina zu überschwemmen. Dieses Telegramm wurde noch am selben Tage in der Konstantinopeler ,Turquie', dem Organ der französischen Missionäre, veröffentlicht, um größere Wirkung zu erzielen. Es ist somit klar, wer hinter den Arabern steht."55 Bergmann fragt, wie viel davon auf religiöse Gründe zurückgeführt werden kann, und antwortet: „Zweifellos hat die Art der Landerwerbung durch die Juden viel dazu beigetragen, uns in den Reihen der Araber Feinde zu machen." 56 In seinem Aufsatz zeigt er das Problem des jüdischen Landerwerbs detailliert auf: Die kleinen arabischen Bauern, die „Fellachen", verkauften ihr Land meistens in Notsituationen an die Großgrundbesitzer, die „Effendis", die nur formale Eigentümer wurden und sehr geringe Pachterträge von den Fellachen bekamen. Die kleinen Bauern, die weiterhin ihr Land bearbeiteten, blieben die eigentlichen Besitzer. Die „Effendis" verkauften ihren Grundbesitz nun aufgrund der geringen Erträge zu niedrigen Preisen an die jüdischen Kolonisten. Da es den neuen Besitzern aber um die Hebraisierung der Arbeit ging, mussten die palästinensischen Bauern das Land verlassen. Bergmann und andere Zionisten litten unter ihrer moralischen Zerrissenheit. Sie mussten den Zionismus stets verteidigen, denn er stellte für sie die einzige Hoffnung dar, wussten aber, dass er die Araber verdrängte. Deshalb wurden die vermeintlichen Vorteile für die Araber hervorgehoben. Die ambivalente Haltung vieler Zionisten zur ,Araberfrage' ist mit den unverständlichen und widersprüchlichen Äußerungen der Schakale vergleichbar. Denn erst wollen sie den Arabern ihr Blut nehmen, dann behaupten die Tiere, sie werden die Araber doch nicht töten, und schließlich verlangen sie von ihrem europäischen „Retter", die Hälse der Araber durchzuschneiden. Die Schakale sind entschlossen, jedoch unfähig, ihren Plan auszuführen. Wenn der Europäer sie mit den Machtverhältnissen konfrontiert - „sie werden mit ihren Flinten euch rudelweise niederschießen" - , argumentieren sie plötzlich moralisch: „Wir werden sie doch nicht töten. Soviel Wasser hätte der Nil nicht, um uns rein zu waschen." Sie sind in der schwachen Position, ihre Mittel sind lächerlich, und dennoch sind sie fest entschlossen. Dies gilt sowohl für die Schakale, deren verrostete Schere untauglich ist, als auch für die Zionisten, die zu dieser Zeit nur ein Siebentel der Bevölkerung Palästinas ausmachten und weder Geld, Macht noch Zustimmung der großen Mächte besaßen, wie Bergmann feststellt. In seinem Aufsatz ruft er dazu auf, den zunehmenden Judenhass unter den Arabern „zu verhindern, wenigstens solange [die Juden] in Palästina eine verschwindende Minderheit sind".57 Zionisten und Schakale sind fest entschlossen, ihre Konkurrenz zu beseitigen. Sie überschätzen ihre Fähigkeiten und sind sich der realen Machtverhältnisse nicht bewusst. Außerdem bedienen sich beide einer Rhetorik der Rechtfertigung und leugnen ihre Absicht, wenn es opportun ist. Kafka hat diese zionistische Rhetorik nicht für bare Münze genommen. Auch wenn er die Bewegung bewunderte und vielleicht zeitweise mit ihr sympathisierte, so stand er ihr doch skeptisch gegenüber und mischte sich im
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Ebd. Bergmann, Bemerkungen zur arabischen Frage, 192f. Ebd., 192.
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Gegensatz zu seinen Freunden nicht in die öffentliche kulturelle oder politische Diskussion ein. Die oben zitierten Tagebucheintragungen offenbaren seine Skepsis gegenüber den „Palästinafahrern", u.a. gegenüber Bergmann. Am 12. September 1916, nur wenige Monate vor der Niederschrift der Erzählung schrieb er an Feiice Bauer: „Solltest du aber Zionistin einmal Dich fühlen [...] und dann erkennen, daß ich kein Zionist bin - so würde es sich bei einer Prüfung wohl ergeben - dann fürchte ich mich nicht und auch Du mußt Dich nicht fürchten, Zionismus ist nicht etwas, was Menschen trennt, die es gut meinen."58 Es gibt also genug Gründe, die Erzählung als eine dialektische Auseinandersetzung mit dem Zionismus zu lesen. Es kommt allerdings darauf an, dass die wesentlichen Aspekte des Zionismus wahrgenommen werden. In der europäischen Rezeption ist dies, wie gezeigt, nicht der Fall. Das kann nur epistemologisch verstanden werden. Aus heutiger Sicht ist der europäische Betrachter normalerweise nicht in der Lage, auf das Jahr 1917 zurückzublicken, ohne in den gewaltigen Sog des Holocausts hineingezogen zu werden. Die ,Araberfrage' wird im europäischen Kontext auf Grund dieser Erkenntnisblockade übersehen.
Die arabische Rezeption Die erste Kafka-Rezeption im arabischen Raum ist auf das Jahr 1947 zurückzuführen, als die von dem ägyptischen surrealistischen Maler Ramses Younane übersetzte Erzählung Ein Landarzt in der Kairoer Literaturzeitschrift Al-katib al-misri erschien59 und in der darauf folgenden Ausgabe derselben Monatsschrift ein langes Essay: „Franz Kafka. Die düstere Literatur".60 Der Herausgeber der Zeitschrift und Autor dieses Essays war der Schriftsteller, Literatur- und Kulturkritiker Taha Hussayn (1889-1973), einer der bedeutendsten arabischen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts lagen die drei Romane Kafkas bereits in Übersetzung vor. In dieser intensiven Rezeptionsperiode wurde auch eine heftige Debatte um Kafkas Zionismus ausgelöst, in der die Erzählung Schakale und Araber eine wesentliche Rolle spielte. Der arabische Leser wurde zum ersten Mal mit Kafkas „Tiergeschichte" bekannt gemacht, als die palästinensischen Kritiker Darrag und Maw'id sie im Oktober 1974 aus dem Französischen übersetzten61 und kommentierten.62 Die Autoren gingen von 58
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Brief an Feiice von 12. September 1916, in: Erich Heller/Jürgen Born, Franz Kafka. Briefe an Feiice, Frankfurt a.M. 1998 (erste Auflage 1976), 697f. Dazu auch Ritchie Robertson, Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur, Stuttgart 1988, 227. Ramses Younane (Übers.), Franz Kafka, Ein Landarzt, in: Al-katib al-misri [Der ägyptische Schreiber], Bd. 5, Kairo 1999 (erste Auflage Februar 1947), 103-109 [Arab.]. Taha Hussayn, Franz Kafka. Die düstere Literatur, in: Al-katib al-misri, Bd. 5, Kairo 1999, 197-213 [Arab.]. Faysal Darrag/Mahmud Maw'id (Übers.), Franz Kafka: Schakale und Araber, in: Al-Mawqif al'Adabi [Die literarische Position] 6 (1974), 124-127. Dies., Ein Leseversuch in Kafkas politisches Denken, in: Al-Mawqif al-Adabi 6 (1974), 128-133 [Arab.].
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einer positiven Einstellung Kafkas zum Zionismus aus. Sich auf diese Übersetzung stützend reagierte die irakische Autorin Badi'a Amin und versuchte ihrerseits, die Erzählung als scharfe Kritik am Zionismus zu deuten. In ihrem Buch Soll man Kafka verbrennen? verteidigte sie ihre Positionen.63 Der irakische Autor Kazim Sa'ad ad-Din wiederum bemühte sich, mit Hilfe von Schakale und Araber Kafkas Zionismus zu demonstrieren. Die erste direkte Übersetzung aus dem Deutschen legte 1982 Salah Hatim vor, der dazu einen ausführlichen Kommentar verfasste.64 Hatim las die Erzählung als Abbild des arabisch-jüdischen historischen Streites und sah in ihr - ähnlich wie Amin - eine Kritik am Zionismus. In der Konstruktion eines „zionistischen Kafka" wurde Schakale und Araber als ein positiver Kommentar betrachtet, in dem Kafka die Juden dazu ermutigt, Palästina zu besiedeln. Der „antizionistische Kafka" hingegen habe mit der Erzählung eine scharfe Kritik am Zionismus ausdrücken wollen. Bei allen arabischen Autoren jedoch werden vorgefertigte Mustererklärungen zum Zionismus in die Kommentare eingebettet. Diese Mustererklärungen unterscheiden sich bei den zwei zerstrittenen Parteien, den Verteidigern und den Gegnern Kafkas, überhaupt nicht. Während inhaltliche Aussagen über den Zionismus sowie jüdische Fragen meistens identisch sind, liegt der Unterschied zwischen den zwei Gruppen bei der Beantwortung der Frage, ob Kafka bzw. seine Literatur zionistisch oder antizionistisch sei. Beide Gruppen erklären zwar die Intention des Autors unterschiedlich, evozieren aber ähnliche Bilder von Zionismus bzw. dem „Jüdischen", die weniger zum Verstehen des literarischen Textes beitragen, sondern vielmehr über das im Denken der Autoren bereits vorhandene Verständnis von Zionismus sowie ihre Geschichtsbilder im Bezug auf die Juden in Europa Auskunft geben. Ein wesentliches Missverständnis in der arabischen Rezeption ist bei Darrag und Maw'id entstanden und von anderen Autoren übernommen worden. Danach sei Schakale und Araber nach der Balfour-Deklaration65 verfasst worden. Das trifft sicher nicht zu, denn Kafka schrieb die Erzählung im Januar/Februar 1917. Sie wurde zum ersten Mal im Oktober desselben Jahres in Der Jude gedruckt und erschien zum zweiten Mal im Frühjahr 1919 im Kurt Wolff Verlag.66 Darrag und Maw'id scheinen 63
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Badi'a Amin, Soll man Kafka verbrennen?, Beirut 1983 (erste Auflage 1981), 234-275 [Arab.]. Die gleiche Frage „Faut-il brüler Kafka?" war bereits 35 Jahre zuvor von der Wochenzeitung der französischen moskautreuen kommunistischen Partei gestellt worden und hatte zu einer großen Diskussion im Frankreich der fünfziger Jahre geführt. Amin beruft sich darauf sowie auf die erste Bücherverbrennung der Nationalsozialisten. Die Frage richtet sich an die arabischen Intellektuellen, ob man auch hier wie in Berlin und Paris Kafka verbrennen soll. Ebd., 12. Salah Hatim, Kafkas Haltung zu Judentum und Zionismus, in: Al-ma'rifa [Das Wissen] 21 (1982), Nr. 241, 12-34 [Arab.]. Am 9. November 1917 wurde der berühmte Brief des britischen Außenministers Lord Arthur Balfour an den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Großbritannien, Lord Walter Rothschild, in der britischen Presse veröffentlicht. Dazu auch Gudrun Krämer, Die Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München 2002, 178-180. Kafkas Leipziger Verleger Kurt Wolff veröffentlichte den Text im Rahmen des Sammelbandes Franz Kafka, Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, München/Leipzig 1919. Vgl. Binder, Kafka. Handbuch, 488 sowie Binder, Kafka-Kommentare, 202f. und 208-210.
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weder von der Datierung auf Februar/Januar 1917 noch von der ersten Veröffentlichung gewusst zu haben und erwähnen nur die zweite Publikation von 1919.67 Sie gingen also davon aus, dass der Text erst eineinhalb Jahre nach der BalfourDeklaration von November 1917 entstand und verlegt wurde. Den Autoren folgend wäre es deshalb „naiv, keine Verbindung zwischen dem Text und der historischen Situation, in der Kafka lebte, herzustellen, da Palästina 1917 an die Juden versprochen wurde".68 Er sei mit den Bemühungen der zionistischen Bewegung und den einleitenden Schritten zur Besetzung Palästinas vertraut gewesen, wie es auch aus der Erzählung zu entnehmen ist, so Darrag und Maw'id. 69 In ihrer Antwort darauf übernahm Amin nicht nur die fehlerhafte Übersetzung, sondern auch dieses Missverständnis.70 Salah Hatim, der sich direkt der deutschen Quelle bediente und eine genauere Übersetzung anfertigte, wusste dagegen von der tatsächlichen Entstehungszeit (Januar/ Februar 1917) und von dem ersten Erscheinen der Erzählung in Der Jude.11 Er führte diese Veröffentlichung jedoch irrtümlicherweise auf das Jahr 1918 zurück. Obwohl er vom Entstehungszeitpunkt wusste und hätte feststellen können, dass Kafka schon ca. zehn Monate vor der Veröffentlichung der Balfour-Deklaration sein Manuskript an Buber geschickt hatte, verfiel er demselben Fehler wie Darrag, Maw'id und Amin. Fragte er zu Beginn seiner Interpretation, „ob wir die Erzählung Schakale und Araber als eine verkleinerte Abbildung der Balfour-Deklaration oder als die Prophezeiung eines Autors über den Fortgang eines tief verwurzelten Konflikts zwischen Arabern und Juden betrachten sollen", so wollte er am Ende die Antwort wie folgt gefunden haben: „Kafka schrieb diese Geschichte, nachdem Balfour, der englische Regierungschef, den Juden Palästina als eine nationale Heimstätte zu geben versprach. Er prophezeite also, was in der Zukunft als Folge dieses Versprechens geschehen wird, und er hat es treffend beschrieben."72 Schließlich verfuhr auch Sa'd ad-Din diesbezüglich nicht anders.73 Weitere Missverständnisse sind zum Teil auf die ungenauen Übersetzungen zurückzuführen, die bis auf die oben genannte Ausnahme über eine Drittsprache entstanden sind. Die Abweichungen zwischen dem deutschen Originaltext und der arabischen Fassung weisen allerdings in vielen Fällen auf tendenziöse Semantisierungen hin, die daher als Deutungsarbeit betrachtet werden können. Die Besonderheit jüdischer Geschichte in Europa wird bei Darrag und Maw'id grundsätzlich als zionistische Konstruktion verstanden und daher abgelehnt. Negative, antisemitische Zuschreibungen werden ebenfalls nicht als Reflexionen über diese Geschichte, sondern als Instrument der Rechtfertigung des zionistischen Projektes begriffen. Ebenso lehnen sie die Auffassung ab, die Er-
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Darrag/Maw'id, Ein Leseversuch in Kafkas politisches Denken, 133. Ebd., 130. Ebd. Amin, Soll man Kafka verbrennen?, 237 und 274. Hatim, Kafkas Haltung zu Judentum und Zionismus, 14f. Ebd., 14 und 34. Kazim Sa'd ad-Din, Nach welcher Wahrheit sucht Kafka?, in: Al-aqlam [Der Stift] 18 (1983), 4 1 - 6 1 , hier 50f„ und ders., Kafka - andere Tatsachen, in: Al-aqlam 20 (1985), 125-130, hier 125 [Arab.].
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zählung sei ein Ausdruck der messianischen Idee, „die bei den Juden aufgrund der ständigen europäischen Verfolgung eine große Rolle spielte". 74 Obwohl der Messianismus an sich nicht mit dem zionistischen Staatsprojekt vereinbar ist, verstehen die Autoren diese Auslegung im Sinne des Zionismus, da es um die Darstellung der Notwendigkeit eines Erlösers geht und somit die Verfolgung unterstrichen wird. Bei dieser Argumentation scheinen sie nicht in der Lage, zwei Ebenen voneinander trennen zu können. Es geht einerseits um die Geschichte der Juden in Europa, ihre Verfolgung, die mit der Shoah endet. Zweitens ist dieses jüdische Leiden in Europa die Kernaussage des Zionismus, die die Notwendigkeit einer jüdischen Heimstätte legitimiert. Die geschichtliche Realisierung dieser zionistischen Idee führte zu einem Unrecht an den Arabern. Die beiden Ebenen sollten streng voneinander getrennt werden - eine intellektuelle Herausforderung. „Der Jude (der Schakal) ist eine der wichtigsten Behauptungen des Zionismus; denn der Jude ist der Widerspruch zu jedem Anderen. Dieser Widerspruch ist im Zionismus eine Tugend oder ein Stolz. Die Verfolgung der Juden wird nicht als religiöse Unterdrückung im Mittelalter, ökonomische Herrschaft im Feudalismus oder Klassenkampf im Kapitalismus erklärt. Dagegen werden die Juden im Zionismus als ein besonderes Volk abgebildet. [...] Der Jude stehe immer außerhalb des Gesetzes, trage sein Elend als Jude und nicht als ein einer bestimmten Klasse zugehöriger Mensch. Der Zionismus entwickelte diese [Mythologie] des Leidens, die zum Hauptmotor seines irreführenden Bekenntnisses wurde."75
Darrag und Maw'id bezeichnen den modernen Antisemitismus als Klassenkampf und verschweigen den Holocaust, während sie explizit von der „Vergewaltigung Palästinas" durch den Zionismus sprechen. Die Ursache liegt auf der Hand: Aus der Besonderheit des Leidens wird ein besonderes Recht hergeleitet. In ihrer Antwort auf Darrag und Maw'id versucht die irakische Autorin Amin deren Geschichtsauffassung zu korrigieren und verweist auf zwei ihrer Bücher: Die jüdische Frage und die zionistische Bewegung und Der Zionismus ist keine nationale Bewegung. Haben die zwei Autoren den Antisemitismus als eine Form von Klassenkampf umgedeutet, so behauptet Amin, dass die europäischen Juden vor allem in West- und Mitteleuropa zur Entstehungszeit der Erzählung nicht verfolgt waren: „Es ist merkwürdig; die zionistische Bewegung entstand in einer Situation, in der nicht von einer jüdischen Frage die Rede sein konnte, vor allem nicht in West- und Mitteleuropa. Es gab also keine jüdische Frage, die die Suche nach einer Heimat in einer orientalischen warmen Region notwendig machte. Es war nicht eine Judenfrage, die zur Kolonisation eines Gebietes führte, das zwischen dem an natürlichen Schätzen armen und an Hoffnungen und Begierden reichen Europa auf der einen Seite und Asien und Afrika auf der anderen Seite lag, die reich an Naturschätzen und arm an Zukunftsplänen sowie humanen Ressourcen sind."76
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Darrag/Maw'id, Ein Leseversuch in Kafkas politisches Denken, 129. Ebd., 130-132. (Übersetzungen aus dem Arabischen hier und im Folgenden vom Autor dieses Beitrags.) Amin, Soll man Kafka verbrennen?, 244f.
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Amin hebt in ihrer monokausalen Erklärung also die kolonialistischen Aspekte des Zionismus hervor und negiert damit die Verfolgung der Juden als Teil der modernen europäischen Geschichte und als eine Ursache des Zionismus. „Verfolgung, Leiden und Isolation" betrachtet sie als Kernaussage und Rechtfertigung des Zionismus. Wenn sie von einer „Nicht-Verfolgung vor allem in West- und Mitteleuropa" spricht, umgeht sie die osteuropäischen Pogrome und die darauf folgenden großen Auswanderungswellen der Ostjuden. Weiterhin geht sie von der jüdischen Emanzipationsbewegung aus und konstruiert eine lineare Entwicklung der Situation der europäischen Juden. Nach dieser Erklärung sei eine Art ökonomisches Ungleichgewicht zwischen der relativ schwachen Klasse der aufkommenden christlichen Bourgeoisie und den bereits etablierten jüdischen Finanzleuten entstanden, „die das Finanz- bzw. Wirtschaftsleben des feudalen Europas vollständig dominierten". Nur zu dieser Zeit des Kampfes um die wirtschaftliche Stellung sei es zu einer Diskriminierung der Juden gekommen, behauptet Amin. Die Auseinandersetzung sei nach der jüdischen Emanzipationsbewegung einerseits und der wirtschaftlichen sowie politischen Stabilisierung des christlichen Bürgertums andererseits zum Ende gekommen. Später habe jene christliche bürgerliche Klasse sogar erkannt, dass sie ohne den finanziellen Beitrag der Juden - sie führt die Rolle der Rothschild-Dynastie als Beispiel aus ihre industriellen und kolonialistischen Pläne nicht hätte realisieren können. Die in früheren Zeiten diskriminierten und als „Schweine" oder „Schakale" beschimpften Juden seien daher nach der Französischen Revolution als Rettungsengel wahrgenommen worden und in hohe Positionen des bürgerlichen Staates aufgerückt. Selbst Kafkas Familie sei hierfür ein passendes Beispiel.77 Die Wahrnehmung der Aufklärung, der Französischen Revolution sowie der Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft als Verursacher eines absoluten Wendepunktes zu einer besseren Stellung der Juden in Europa offenbart eine Geschichtsauffassung, die den modernen Antisemitismus der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gänzlich verkennt. Mit ihrer marxistischen Erklärung versucht Amin, den Antisemitismus in Europa - ähnlich wie Darrag und Maw'id auf den jeweils notwendigen punktuellen Klassenkampf zu reduzieren und die Juden nach der Französischen Revolution und bis zu Kafkas Zeit als gleichberechtigte und sogar privilegierte Gruppe darzustellen. Ihre Geschichtskonstruktion setzt eine immer zum Besseren fortschreitende Entwicklung voraus. Mit diesem (Miss-)Verständnis des historischen Hintergrunds nähert sich Kafkas Verteidigerin dem Text und versucht, ihn als antizionistisch darzustellen. Sie betrachtet die Figuration der Schakale nicht als das Bild des Juden aus der europäischen Sicht, das Kafka in seiner Geschichte reflektiert, sondern als das negative Bild der Zionisten, das er gerade entblößen wolle. Kafka wolle mit dem negativen Bild der Schakale, stellt sie fest, seine eigene Haltung zu den Zionisten zum Ausdruck bringen.78 Weiterhin sei die Erzählung eine erstaunlich präzise Prophezeiung des künftigen Konfliktes, obwohl sie „die Behauptung jüdischer Theologen, von der 77 78
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Garaudy spricht: Kafka sei der letzte Prophet Israels", kritisiert.79 Nach dieser Zukunftsvision habe der Schriftsteller den Verrat der arabischen Führer, die Dramatik des Konfliktes, „die Beraubung Palästinas, die Vertreibung seiner arabischen Bevölkerung sowie deren physische Liquidierung" vorhergesehen: „wir verlangen nach reiner Luft und einem von ihnen freien Horizont [...], wir müssen ihr Blut trinken".80 Während Darrag und Maw'id die Erzählung als Teil der zionistischen Propaganda und daher als Aufruf zu einem Verbrechen verstehen wollen, wird Kafka durch ihre Verteidigung als Antizionist dargestellt und freigesprochen. Amin bezieht sich explizit auf den Konflikt, nicht nur in Bezug auf die Entstehung des Staates Israel, sondern auch auf spätere Ereignisse wie die israelische Invasion im Libanon: „Ist das nicht das Bild, das wir seit 30 Jahren sehen ... furchtbare Brände ... Blutlachen ... Rauch, Wunden und Tod. Ist dies nicht das Bild des barbarischen Massakers von Sabra und Shatila 63 Jahre nach Erscheinen dieser Erzählung?! Hat die ganze Welt die Blutlachen dort nicht g e s e h e n , . . . den Rauch, der den Tag in Beirut zur Nacht m a c h t e , . . . den Raketenhagel und die brennenden Bomben auf die Beiruter Zivilisten, ... die von israelischen Soldaten mit Messern, Dolchen zugerichteten, [ . . . ] zerfetzten und verstreuten Leichenteile von Frauen, Kindern und Männern [,..]?!" 8 1
Im Gegensatz zu Darrag und Maw'id oder Amin macht Hatim keine Exkurse in die Geschichte der Juden in Europa. Er geht von der Struktur der Erzählung aus und erkennt auf der Schaubühne eine Verschwörung zwischen den Schakalen und dem Europäer, deren Opfer die Araber sind. Die Schakale probieren verschiedene Mittel aus, um den Europäer auf ihre Seite zu ziehen. Am Anfang zeigen sie ihren Bedarf an menschlicher Wärme, später versuchen sie ihn durch Festhalten und Beißen zu erpressen. Als sie seine negative Empfindung bemerken, demonstrieren sie ihr Elend durch Heulen und Klagen, und schließlich schmeicheln sie ihm mit allen möglichen Komplimenten. Der Europäer zeigt zwar seine Abneigung, ist aber im Inneren einverstanden. Das kann man erkennen, führt Hatim aus, wenn der Reisende etwa sagt: „Rede nicht so laut, [...] es schlafen Araber in der Nähe." Als Reaktion auf die Balfour-Deklaration habe Kafka in diesem Verschwörungsakt den zionistischen Plan dargestellt. Der alte Schakal verweise auf Herzl, der für die Juden kämpft und sie in die Freiheit in den eigenen Staat führen will. Der Reisende deute auf den kapitalistischen kolonialen Staat, genauer, auf den britischen Lord Balfour. Die Annäherung zwischen dem Schakal und dem Mann aus dem Norden korrespondiere mit Herzls Aussage, dass die Antisemiten prozionistische Positionen einnehmen würden. Der Araber verweise auf die von den Briten abhängigen arabischen Führer. 79
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Ebd., 251. Sie verweist auf die arabische Übersetzung von Roger Garaudys Essay über Kafka D'un Realisme sans rivages. Picasso, Saint John Perse, Kafka, Paris 1963 - von Halim Tussun, Beirut 1968, 153. Das Buch wurde erst 1981 ins Deutsche übersetzt: Roger Garaudy, Für einen Realismus ohne Scheuklappen. Picasso, Saint John, Perse, Kafka. Mit einem Vorwort von Louis Aragon, übersetzt von Eva Alexandrowicz, Wien/München/Zürich 1981. Amin, Soll man Kafka verbrennen?, 255 und 258. Ihr Zitat stammt aus der Übersetzung von Darrag und Maw'id, Schakale und Araber, 126. Ebd., 270.
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Hatim entdeckt in der Erzählung eine ironische Haltung Kafkas dem Zionismus gegenüber, da die Schakale (die Zionisten) auf der einen Seite selbst in einer primitiven Form erscheinen und auf der anderen eine rassistische selbstgefällige Haltung an den Tag legen. Der Wunsch der Schakale, die toten Tiere in Ruhe leer zu trinken und „bis auf die Knochen" zu reinigen, soll nach Hatim die ökonomische Selbständigkeit der Zionisten in dem neuen Staat darstellen. Die Errichtung einer eigenen, erträglichen Welt setzt voraus, das Blut der Araber zu nehmen. Die wirkliche Tragik der Erzählung besteht nach Hatim darin, dass die Todesstrafe für die unschuldigen, naiven Araber heimlich vorbereitet wird, und diese nehmen die von den Schakalen ausgehende Gefahr nicht ernst. Sie halten sie für ihre Hunde und denken nicht daran, dass sie zu Wölfen werden können, wie dies die Zionisten den Arabern gegenüber wurden.82 Mit der Erzählung habe Kafka die Gefahr des Zionismus und dessen Gier ausgedrückt. Er habe gezeigt, dass der neue Staat sich nicht auf Liebe und Gerechtigkeit, sondern auf Rassismus, Neid, Hass, Gewalt, Mord und den Raub arabischen Bodens gründen wird. Unter dem Titel „Franz Kafka, jener unschuldige Angeklagte" erschien ein Aufsatz von Wasini al-A'rag im Kafka-Dossier der syrischen al-Ma'rifa von März 1982. In einem marxistischen Ton spricht al-A'rag von Europäern als Kolonialisten und Repräsentanten einer kapitalistischen, imperialen Welt, die gemeinsam mit den Zionisten den geschichtlichen Fortschritt der Menschheit blockieren.83 Zuerst kommentiert er In der Strafkolonie und stellt fest, dass Kafka zu den Erzfeinden des internationalen Zionismus gehört. Die Schreckensmaschine in der Erzählung begreift er als die zionistische Gewalt, die das grausame Schicksal des palästinensischen Volkes bedingt. Sie wird sich aufgrund ihrer Ideologie selbst zerstören. Kafka habe nicht nur den Konflikt und die israelisch-arabischen Kriege vorausgesehen, sondern auch das Ende des „zionistischen Wesens" (Israel): „Denn solche Wesen tragen von Geburt an eine selbstzerstörerische Kraft in sich. Es ist daher eine Frage der Zeit."84 Die Zionisten verfolgen die Araber unaufhörlich mit der „Schere", die im kolonialen Kontext außer Mord, Gewalt und Ausbeutung auch Teilung und Trennung vom Boden bedeutet.85 Die Tiere tragen alle Eigenschaften, die den Zionisten zugeschrieben werden können: Chauvinismus, Rassismus, Kriegs- und Mordideologie. In radikaler Art und Weise überträgt al-A'rag beliebige Details und Bilder aus der Erzähloberfläche auf andere, außertextuelle Bereiche, um seine Deutung zu unterstützen: Der Araber in der Erzählung versucht eine defensive Position einzunehmen, die der Europäer vereitelt. Dabei übersieht er aber, dass der Araber die Tiere quält, peitscht und schikaniert. - Das zeigt wiederum die Resistenz des Textes gegen eine strenge Reterritorialisierung. Wie bei den anderen oben genannten Autoren findet sich bei al-A'rag eine äußerst problematische Wahrnehmung jüdischer Geschichte in Europa. In seinem antizionis82 83
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Hatim, Kafkas Haltung zu Judentum und Zionismus, 20-23. Wasini al-A'rag, Kafka. Jener unschuldige Angeklagte, in: Al-ma'rifa [Das Wissen], Nr. 241 (1982), 84-106, hier 86 und 102 [Arab.]. Ebd., 92. Ebd., 100 und 102.
LITERARISCHE „RETERRITORIALISIERUNG" U N D HISTORISCHE REKONSTRUIERUNG
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tischen Eifer ignoriert er die jüdische Erfahrung in Europa und stellt damit die Shoah indirekt als ein rein propagandistisches Narrativ dar, um die kolonialistischen Pläne des Zionismus im Nahen Osten zu rechtfertigen. Die in der Erzählung erwähnte Wüste sei, so al-A'rag, zur Heimat der Juden geworden, nicht weil „Gott sie an sein auserwähltes Volk zurückgegeben habe, und nicht aufgrund der Texte von Talmud oder Tora, sondern weil sie von ihren Ureinwohnern geraubt wurde."86 Dabei verkennt der Autor, dass die Wüste in der Erzählung überhaupt nicht Gegenstand des Streites, sondern ein Verweis auf die Verbannung ist. Ferner bezieht er sich auf religiöse Grundlagen, die im Zionismus instrumentalisiert wurden. Allerdings spricht er nicht von dieser Instrumentalisierung, sondern von „der Unfähigkeit der gefälschten Texte der Tora oder des Talmuds, den Zionismus zu rechtfertigen". 87 Die Antwort auf zionistische Argumente religiöser Natur degradiert er zu einer sinnlosen, unzeitgemäß die Gültigkeit sakraler Schriften diskutierenden theologischen Polemik, anstatt die Relativität dieser Gültigkeit hervorzuheben und das Wesen des Konfliktes in einer universalen Sprache zu formulieren. Sa'd ad-Din versteht Kafka als einen Schriftsteller, der die Ideen des Zionismus durch die Erzählung verbreiten wollte. Die Figur des Arabers entschlüsselt er als die korrupten arabischen Regimes, die Palästina verraten haben, und das verendete Kamel als Palästina.88 Der Reisende vertrete den britischen „Kolonialismus, der mit dem Zionismus durch einen Geheimplan verbunden war", als von den Schakalen auserwählter Retter entspreche er „den Europäern [dem Westen], die die Zionisten bei ihrem großen Werk unterstützt haben: die Araber in Palästina auszurotten".89 Sa'd ad-Dins Kommentare sind die radikalsten und polemischsten in der Debatte um Kafkas Zionismus. In seiner Argumentation stützt er sich auf äußerst problematische Schriften,90 verweist auf „jüdische Bluttradition"91 und bedient sich einer Mischung aus politischer und theologischer Polemik. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung führte der in Deutschland lebende irakische Schriftsteller Najem Wali diese „wahnwitzige Kampagne gegen Kafka" auf das Regime von Saddam Hussein zurück,
86 87 88
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90
Ebd., 104. Ebd., 92. Die Betonung jenes Verrates liegt offensichtlich darin, dass sein erster Aufsatz nach dem Friedensvertrag von Camp David (März 1979) erschien: Kazim Sa'ad-Din, Die Entzifferung Kafkas zionistischer Symbole, in: al-aqlam 24 (1979), 5 5 - 6 6 [Arab.]. In der Einleitung zu dieser Sonderausgabe über die zionistische Literatur äußerte der (unbekannte) Herausgeber sein Entsetzen über eine antiarabische, „amerikanisch-zionistische Verschwörung" und vor allem über „den Friedensvertrag, der durch den Verräter Sadat und den Terroristen Menachem Begin zustande gekommen ist". Ebd., 6. Kazim Sa'd ad-Din, Nach welcher Wahrheit sucht Kafka?, in: al-aqlam 28 (1983), 41-61, hier 52 [Arab.]. Ebd., 43. Er verweist auf das antisemitische Buch von 'Ali 'Abdalwahid Wafi, Das Judentum und die Juden. Eine Untersuchung zur jüdischen Religion und Geschichte sowie zum sozialen ökonomischen System, Kairo 2002 [Arab.] (vermutlich ist die erste Ausgabe dieses Buches in den 1960er Jahren erschienen). Als Beispiele für Wafis Quellen seien hier folgende genannt: Arnold Spencer Leese, Jewish Ritual Murder, London 1938. Ebenso nennt Wafi eine ausführliche
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ATEF BOTROS
der „mittels Bestechungsgelderfn] [...] eine gewaltige Maschinerie von Medienschaffenden" lenkte. „In den Achtzigern gewann diese Kampagne, zugleich mit der zunehmenden Aggressivität des irakischen Regimes, der Kriegserklärung gegen den Iran und dem Aufschwung einer gewaltbestimmten, rassistischen ,arabischen' Mehrheitskultur, an Schärfe. Sie wandte sich gegen alle humanistischen Werte, indem sie dies als Verteidigung , unserer Kultur' gegen die ,kulturelle Aggressivität des Westens' und Vereitelung der gegen uns gerichteten .zionistischen Welt Verschwörung' hinstellte." 92
Generell kann man mühelos erkennen, dass die fünf untersuchten arabischen Autoren eine dialektische Auseinandersetzung Franz Kafkas mit dem Zionismus, die auch die interne Kontroverse dieser Strömung reflektiert, ausschließen. Das Ziel dieser Kommentare ist vielmehr, die Erzählung im Zusammenhang mit dem Zionismus zu lesen, um ein flaches ahistorisches Zionismus-Bild zu zeichnen, das viel eher dem Konflikt in seinem späteren, verschärften Stadium entstammt. Weniger geht es um die Entscheidung, ob Kafka den Zionismus verurteilte oder befürwortete, vor einem blutigen Konflikt warnte oder dazu aufrief. Im europäischen Fall hingegen wird die , Araberfrage' im historischen Stadium des Jahres 1917 nicht wahrgenommen, weil die Shoah die Erkenntnis blockiert. Und im arabischen Kontext wird ein geschichtliches Verständnis von ,Judenfrage' und ,Araberfrage' durch den gegenwärtigen Konflikt unmöglich. Auf Grund der Diskontinuität jüdischer Geschichte im europäischen sowie im arabischen Raum werden diese Erkenntnisblockaden noch verstärkt.
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Quelle für die Damaskus-Affäre (1840): August Rohling, Der Talmudjude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände, Münster 1871. Der katholische Theologe Rohling verfasste Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche antijüdische Schriften. In seinem Pamphlet „Der Talmudjude" griff er auf das pseudowissenschaftliches Traktat „Entdecktes Judentum" des Heidelberger Orientalisten Johann Andreas Eisenmenger zurück, das erstmalig 1700 erschien und als Klassiker antisemitischer Schriften gilt. Beide Autoren verbreiteten die Ritualmordlegende. „Der Talmudjude" wurde von Yusuf Nasrallah 1899 auch ins Arabische übertragen. Vgl. Wafi, Das Judentum und die Juden, 45f. Er stellt eine Verbindung zwischen dem Wunsch der Schakale nach Blut und einer .jüdischen Bluttradition" her, ohne auf die Geschichte der Blutbeschuldigung im europäischen Antisemitismus zu verweisen. Dazu nennt er drei biblische Stellen: Deuteronomium 32, 42, Levitikus 17 und Exodus 12. Najem Wali, Über das Vergnügen, Franz Kafka zu verteidigen, in: Süddeutsche Zeitung, 11./12. Dezember 2004, 16.
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"Homeland I will name the language of poetry in a foreign country" - Modes of Challenging the Home/Exile Binary in Leah Goldberg's Poetry There are only a few Hebrew poets of the stature of Leah Goldberg who played such a crucial role in the development of modern Hebrew culture. Along with nine books of poems, Goldberg wrote two novels, three plays, six books of research and nonfiction and twenty books for children. She was also a prolific translator, editor and theater critic. Among her translations we find sonnets of Petrarca, novels of Dostoevsky and Tolstoy and lyrics by various European poets. Leah Goldberg was born in Königsberg in 1911. From her childhood in Kovno/ Kaunas, despite the fact that Russian was her mother language, she started writing verses in Hebrew. After earning her doctorate in Semitic Languages from the University of Bonn, she emigrated to Palestine in 1935. That same year her first poetic volume Tabaot Ashan (Smoke rings) was published. Soon after her immigration, together with Nathan Altermann and Avraham Shlonsky, Goldberg became a leading figure in the Hebrew modernist movement. In 1952, she established the Department of Comparative Literature at the Hebrew University of Jerusalem. She held a chair of the department until her death in 1970.1 As an immigrant who refused to forget her past after her arrival to a "new homeland," Goldberg searched for various poetic solutions for the representation of her multiple existence in different cultural spaces. This article explores two of Leah Goldberg's strategies for challenging the traditional modernist binary of home/exile. On the one hand, Goldberg is not romanticizing the exile as the most productive place for writing, on the other hand, she is also questioning the traditional Zionistic perception of the place of birth as "galut." Surprisingly, the research on Leah Goldberg's poetry and prose has just started to develop in earnestness in recent years. The reasons for this fact are themselves a
1
I wish to acknowledge the support of the Simon Dubnow Institute whose generosity allowed me to undertake extensive research for my dissertation during six months in 2005. I would especially like to thank Dan Diner for the invitation and for providing me with a new perspective on my research. I am grateful to my friends and colleagues Susanne Zepp, Yvonne Kleinmann and Nicolas Berg for the ongoing dialogue and a great support. Furthermore, I would like to thank liana Pardes and her students for the inspiring discussion in the seminar "Critics and Immigrants" at the Hebrew University of Jerusalem, with whom I shared some of my ideas on the topic during my "guest-lecture". The source for the part of the biographical information is the Home Page of the Institute for the Translation of Hebrew Literature [17.09.2005]. For further biographical information see Abraham Benjamin Yoffe, Leah Goldberg. Tavey dmut vi-ytzira [Leah Goldberg. An Appreciation of the Poet and Her Work], Tel-Aviv 1994. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005). 239-253
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topic of historical-poetic research. Three important studies on the different aspects of Goldberg's poetry were published at the turn of the new century. Dan Miron dedicated a long discussion to the poetic psychological development in the early poetry of Goldberg and its relation to her late poetry in his book Ha adam eino elah.2 Ruth Kartun-Bloom and Anat Weisman edited a collection of recent essays and articles, Pgishot im meshoreret, about various thematic issues in her poetry, prose and dramaturgy.3 In 2002, Ofra Yaglin published Ulai mabat aher in which she explored the relations between classicism and modernism in the poetry of Goldberg.4 Michael Gluzman probably has been the only scholar to broach the question of homeland and its meaning in Goldberg's poetry. In his book The Politics of Canonocity, in a chapter "Modernism and exile: a view from the margins,"5 Gluzman argues that "the negation of exile in Hebrew modernism should be viewed as inverted mirror image of the celebration of exile in the writings of Anglo-American writers."6 In the section dealing with Hebrew modernists who immigrated to Palestine, he concentrates on poets who continuously "expressed ambivalence towards the Zionist project" and challenged the Zionist concept of homeland in their works. At the end of his quite brief discussion on Leah Goldberg, Gluzman makes an important remark about her ability to "question and rewrite the home/exile binary" through her "constantly problematized binary."7 However, the discussion itself does not focus on Goldberg's strategies for rewriting this binary, but rather tends to bring the reader to the conclusion that "her poems offer perhaps the most ambivalent poetic rendition of Jewish 'homelessness' in Hebrew modernism."8 It is very true that Leah Goldberg never concealed her ambivalent feelings toward her "new home." In her various poems, we can find expressions of irony and criticism towards it. But that did not turn her automatically into a "homeless" or "uprooted" person. Intending to establish a crucial difference between Gertrude Stein's and Leah Goldberg's exile in particular, and aiming to deromanticize the European modernist perception of "exile" through the perspective of Hebrew modernism in general, Gluzman seems to overlook and to simplify Goldberg's unique position.
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Dan Miron, Ha adam eino elah: hulshat ha-koah, otzmat ha-hulsha. Iyunim be shirah [Man is not Anything But: The Weakness of Power, the Power of Weakness. Study on Poetry], TelAviv 1999. Ruth Kartun-Bloom/Anat Weisman (eds.), Pgishot im meshorret. Masot ve-mehkarim al yetzirata shel Leah Goldberg [Enconters With a Poet. Essays and Researchers on the Works of Leah Goldberg], Tel-Aviv 2000. Ofra Yaglin, Ulaj mabat aher. Klasijut modernit ve-modernism klasi be-shirat Leah Goldberg [Probably a Different View. Modern Classicism and Classic Modernism in Leah Goldberg's Poetry], Tel-Aviv 2002. Michael Gluzman, The Politics of Canonicity. Lines of Resistance in Modernist Hebrew Poetry, Stanford, Calif. 2003, 36-67. Ibid., 38. Ibid., 67. Ibid., 56.
"HOMELAND I WILL NAME THE LANGUAGE OF POETRY IN A FOREIGN COUNTRY"
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A careful reading of Gluzman's approach to a "striking reversal of the home/exile binary"9 in Hebrew modernism makes it possible to reveal two assumptions, ontological and geographical-spatial, both shaping the writer's point of view. Both of these assumptions have to do with the affirmation of the binary home/ exile. The first excludes multiplicity by arguing, as becomes evident from comments on Goldberg, that a person cannot have two homes, since the choice of one of them as home poses the other as exile. The second assumption, which actually can also be seen as ontological, based on spatial continuity between home and exile, excludes spatial discontinuity, i.e. according to it, a space which is neither home nor exile does not exist. Leah Goldberg's poetry does not only oppose both assumptions, but also suggests poetic, if not existential, strategies in order to create a way out of the binary existential bind of the opposition home/exile. This article explores two such strategies. A usage of the power of poetic imagination in creating a multiple homeland will be regarded as a first strategy and will be demonstrated using the example of one poem. A different strategy is examined in the second part of the paper, which utilizes another topos of time outside the space-time of the homeland, a chronotopos in the Bakhtinian sense of the emotional experience of a person which occupies a certain position in Space and Time.
The Dual Homeland Before following Leah Goldberg in her voyages to different countries in Europe, we can focus on her programmatic poem "Oren" (The Pine; 1954) which was central for Gluzman's argument as well. Oren Kan lo eshma et kol ha-kukiya. Kan lo yahbosh ha-ets mitsnepet sheleg, aval betsel ha-oranim ha-ele kol yalduti she kama li-thiya. Tsiltsul ha-mehatim: hayo haya ekra moledet le-merhav ha-sheleg, le-kerah yerakrak kovel hapeleg, li-lshon ha-shir be erets nahriya. Ulai rak tsipoeri-mas'a yod'ot kshe-hen tluyot ben erets ve-shamaim et ze ha-keev shel shtey ha-moladot. 9
Ibid., 38.
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NATASHA GORDINSKY
Ithem ani nishtalti pa'amaim, ithem ani tsamahti oranim, ve-shorashay bi-shney nofim shonim.
The Pine Here I will not hear the cuckoo's voice, here the tree will not wear a snowy hat but in the shadow of this childhood my entire childhood was revived. The sound of the conifers: once upon a time homeland I name the snowy planes, the greenish ice which chains the stream the language of poetry in a foreign land. Perhaps only the passing birds know as they dangle between earth and sky this pain of the two homelands. With you, I was planted twice with you, pines, I grew, with my roots in two different landscapes. 10
This often quoted sonnet led Gluzman to the conclusion that a "simple sense of home is untenable for Goldberg, for she perceives her two homelands as mutually exclusive"11 and that "having 'roots in two different landscapes' is by no means liberating."12 Indeed, Goldberg lacks the "simple sense of home," simply because she has two homes and not one, even though it is rather surprising to find such an essentialistic notion used by an author who seeks to revise the home/exile binary. Goldberg finds nothing liberating in this duality and she is far from romanticizing or celebrating it. The poet is fully aware of the heavy price of this duality, which is "this pain of the two homelands." But it seems that Goldberg does not experience this as an absence, on the contrary, it is a painful presence that can even be articulated and aestheticised. We should not forget that this poem, which is a first poem in a poetic cycle called "Ilanot" (Trees)13 - is first of all a poetic performative act that can be seen as autobiographical as well. 10
Leah Goldberg, Kol ha-shirim [Collected Poems], 3 vols., Tel-Aviv 1970, vol.2, 143. I am using here Gluzman's translation quoted in the above mentioned book (62). 1 ' Gluzman, The Politics of Canonicity, 62. 12 Ibid., 63. 13 Two other poems are called "Ejcaliptus"[eucalyptus] and "Kikajon" [castor-oil plant]. They are not related at all to the subject of the first poem.
" H O M E L A N D I WILL N A M E THE LANGUAGE OF POETRY IN A FOREIGN C O U N T R Y "
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The fact that this poem is written as a Petrarchian sonnet is crucial for its interpretation. As we remember, the Italian sonnet consists of octave and sestet. Octave introduces the problem, while the sestet should supply the solution.14 This is exactly what happens in a Goldberg sonnet. In the octave we read about the inner split, but the sestet suggests a solution. The remedy lies in the recognition of the duality of homeland and double roots. Even the rhymes in the poem illustrate the conflict and its suggested denouement. Goldberg sticks in the octave to the traditional rhyme a-b-b-a, a-b-b-a as well as in the first part of the sestet, where the rhyme is supposed to be c-d-c. But the second part of the sestet breaks the classical form. Instead of continuing the sonnet according to the scheme c-d-c, Goldberg creates a new rhyme, identical in all three lines-e-e-e. Thus, the rhythmic identity of the second part of the sestet supports the semantics of the last lines and stresses its importance. But the fact that "Oren" is a sonnet is important not only because of the particular meaning the poem gains through it, but also because it refers to its own poetical source. The use of sonnet as a poetic form together with an opening line of the poem - "Here I will not hear the cuckoo's voice" - places it in the heart of the European lyric tradition.15 Thus, by writing a sonnet in Hebrew, Goldberg affirms the duality of homeland and of her ability to dwell in two separate homelands. Moreover, the close reading of the poem will show that even the octave, while building a tension, not only provides various hints for the way out, but actually, makes the solution in the sestet possible. The anaphora "here" of the first two lines stresses the lack of a cuckoo's voice and snow, which belong to the first homeland and symbolize it in this poem. Nevertheless, the pines not only exist in both places, but also bring about a revival of the speaker's childhood. It becomes evident that thanks to the mediation of the pines, the lost and maybe forgotten childhood can be revived and relived, though paradoxically enough, in another country. In this sense, the second homeland appears not as an absence but a place which allows the re-presentation of the lost world. According to the traditional reading of the second part of the octave, in these lines the poet "defines 'homeland' in terms of the landscapes she feels close to, as well as in terms of her closeness to texts."16 According to this reading, "once upon a time" is related to Goldberg's recollection of her world in Lithuania. Thus, concludes Gluzman, "Russian poetry always remains a homeland." This part is written in a grammatical Hebraic form ("ekra") which can be read both in past and future tense. Usually, it has been read as related to the past, while the reading of these lines in the present tense suggests another interpretation.
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For the detailed definition see under "sonnet" in Alex Preminger/T.V.F. Brogan (eds.), The New Princeton Encylopedia of Poetry and Poetics, Princeton, N. J. 1993, 1167-1170. Cf. Dan Diner's discussion in "Keine Nachtigall. Romantische Abspaltung im 19. Jahrhundert" on the representation of America in German Romantic poetry, in: Dan Diner, Feinbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002, 42-66. Gluzman, The Politics of Canonicity, 63.
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The ending of the first line, "once upon a time," which is a typical beginning of fairy tales, might indicate an entry into a magic world. It seems that even the number of things that are called homeland is not accidental, since three is a typological number in the fairy tales. In this fictive world, it is possible to find a homeland in different places, every time a new one. In the world of fairy tales, speech acts can turn one thing into another and this is exactly the function of the performative in these lines. In his book Problemes de linguistique generale17 Emile Benveniste defines speech as performative in such cases when it "names the action made by the utterance" ("un enonce est performatif en ce qu'il denomme l'acte performe"). 18 He explains this further in the following way: "Ego prononce une formule contenant le verbe ä la premiere personne du present",19 the speaking person ("I") pronounces a particular formula, which contains a verb in first person of present tense. Benveniste shows as well that the performative utterance does not function as a description or instruction, but as a realization. "L'enonce est l'acte; celui qui le prononce accomplit l'acte en le denommant."20 That means that the utterance is an action and the one who speaks, proceeds the action. According to this definition, Goldberg's words "I will call homeland" could be seen as a performative utterance. The perfomative poetic utterance allows to the poet to name different things homeland, while they are acted out as such at the moment of their enunciation. At this particular moment they themselves exist as homeland. The appearance of performative speech within the world of the fairy tale suggests a new point of view of the concept homeland. If anything can be turned into a homeland through a performative (magic) utterance, then the concept itself should be viewed in the frame of the fairy tale. In this case, homeland is not a transcendental concept but a fictive one. Homeland as fiction does not always have to obey the biographical or geographical rules. Since Leah Goldberg does not relate in any place specifically to the Russian language, we should not conclude automatically that in the last line of the octave "the language of poetry in a foreign land," she is referring to Russian poetry. On the contrary, it appears that a poet says that a language of poetry (or even of a song, since in Hebrew the word "shir" has both meanings) in any foreign land can be called homeland. This poetic statement about the language of poetry is a meta-poetic statement at the same time. That is through the power of poetical language, which Goldberg acquires as a poet, that she can represent her ability to call a foreign poetry a homeland. This view of poetry should not mislead us to the conclusion that language is the only home for Leah Goldberg. It is rather that within the frames of the poetic language homeland can be imagined in different ways.
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Emile Benveniste, Problemes de Linguistique Generale, Paris 1996. Ibid., 274. Ibid. Ibid.
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Goldberg and Mandelstam - a hidden intertextuality? Since the Hebrew Modernism started its existence only at the end of the 1920s and became dominant in the 1930s in Palestine, Leah Goldberg and Ossip Mandelstam belong, in a certain way, to the same poetic generation, despite of the difference in age. It is hard to overestimate the importance of Mandelstam's poetry not only for the Acmeist movement, but also for Russian modernist poetry on the whole. The latter played a central role for Goldberg's poetry. In 1940, together with Abraham Shlonsky, Leah Goldberg edited an anthology of Russian poetry named Shirat Rusia. The fact that we find translations of Mandelstam poems in this book, bears an evidence for Goldberg's familiarity with his poetry. One poem by Mandelstam, written in 1911 and re-written in 1935 is particularly interesting for the context of this article. It was not included in this anthology, but was, for no doubt, known to Goldberg, since one of the four poems she and Shlonsky translated was taken from the same volume "Kamen"' (The Stone; 1908-1915):
Vozdukh pasmurnyi vlazhen i gulok; Chorosho i nestrashno ν lesu. Legkii krest odinokikh progulok Ja pokorno opiat' ponesu. I opiat' k ravnodushnoi otchizne Dikoi utkoi vzov'etsia uprek, Ja uchastvuiu ν sumrachnoi zhizni, Gde odin k odnomu odinok! Vystrel grianul. Nad ozerom sonnym Kryl'iautok teper' tiazhely, I dvoinym bytiem otrazhennym Odurmaneny sosen stvoly. Nebo tuskloe s otsvetom strannym Mirovaia tumannaia bol' O, pozvol' mne byt' takzhe tumannym I tebia ne liubit' mne pozvol' !21 The dull air is wet and loud;/ It is nice and not frightful in the forest./ The light cross of the lonely walks/1 will humbly bear again.// And again to the indifferent fatherland/ Will fly up the wild duck of blame, - / I take part in the gloomy life,/ Where everyone is lonesome!//
21
Osip Mandel'shtam, Sochineniia ν dvukh tomakh, Tom pervyi [Works in two volumes, vol. 1], Moskva 1990, 74.
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NATASHA GORDINSKY The shot broke out. A b o v e the sleepy lake/ The wings o f ducks are already heavy./ And the trunks of the pines are fuddled by/ The reflected double existence.// The heaven is dim with a strange sheen -/ The f o g g y world pain - / O, allow me to be f o g g y , too/ And allow me not to love you, as well.
The following argument will suggest a re-reading of Goldberg's "Oren" in the light of possible intertextuality with Mandelstam's poem. Mandelstam raises the question of relation with a fatherland and with a world in general, within the lyrical situation of a nature walk. A lyrical speaker describes the ease of the loneliness he feels during his walks in the forest. This sense of ease is opposed to the unbearable loneliness of walking through life, where everyone is alone. Mandelstam blames his "indifferent fatherland" for this. The third stanza of this poem functions on two levels: a literal and a metaphorical one. On a literal level, it can be read as a description of the lake. Using the literal interpretation, the "double existence" of the pines is a simple optical fact of reflection of the trunks in the water. But on the metaphorical level, using the mirroring effect, Mandelstam creates a double for the existing world. Through the realization of a metaphor, the wild duck from the previous stanza, where it was used as a metaphor for indicating the speed of blame's flight to the fatherland's sky, appears as a real being in the third stanza. In this case, the "double existence" of the pines seems to be not merely a reflection in the lake. The pines might serve, actually, as a metonymy or analogy for the lyric " I " of Mandelstam. In fact, the lyric " I " is, of course, a kind of a double as well. The lyric " I " exists as an independent being within the poem itself, in this sense, if put metaphorically, he is a lonely walker in the forest. At the same time, however, the lyric " I " is a poetic construct that represents in one way or another the poet himself and depends on him. Through his dependency on a poet, he needs to face a real life, which is beyond the borders of the forest in the poem. Thus, entering the world is for the lyric " I " a great responsibility he must assume. The final stanza of this poem continues the mirror-effect that was created in the third one. Now, the apostrophic speech of the lyric "I", whose addressee is a "world pain", is acting out the doubling, using the principle of analogy. On the semantic level, the analogy is drawn by the speaker announcing his will to be foggy like the world pain, while using the double meaning of the word " f o g g y , " which in Russian also means "obscure." On the poetic level, the lyric " I " draws an analogy between the fatherland and the World. Since the fatherland is indifferent to the life of the poet, represented by a lyric "I", the latter wants to pay back the world pain. The lyric " I " asks permission to stay indifferent like a fatherland to him and not to represent the pain of others. In this poem, the acknowledgment of the double existence of a poet - within a poem and in real life - does not provide the lyric " I " with a new poetic power. Quite on the contrary, the double existence is experienced as a split. This split can be used poetically on account of the negation of the outer world. Only within the borders of the poem is the loneliness, the indifference of the fatherland is bearable.
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We can see now what an important aspect Mandelstam's poem adds to the understanding of Goldberg's "Oren." Few elements in the poem seem to hint at its intertextual character: the thematic frame, a direct mentioning of a homeland, the metaphor of the birds and above all the notion of the pines, of course. In both of the poems, the pines are not simply a symbolic detail in the poem, but metaphoric evidence or even a participant in the double existence of a poet. The big difference between the two poems lies in the self-positioning of the poets. Mandelstam's lyric "I" takes upon himself the role of the passive participant in "gloomy life" and the lonely observer. For his loneliness, as already mentioned before, he blames his fatherland. The pines in this poem serve as a static reflection for the speaker. We should not forget that Goldberg's poem is written from another geographical and biographical point of view. Her lyric "I" is in a situation of "here" and "there", her double existence is not limited to the borders of a poem. The lyric "I" takes an active role in building the relation with the homeland. It is important to notice that Goldberg's homeland does not pass through the process of personification. To Mandelstam's romantization of the inner exile and his notion of world pain, through the poetic imagination, Goldberg opposes the negation of the exile on the one hand, and her private pain of the two homelands, on the other. Another strategy, which suggests perceiving Europe as the "other" place, not home, not exile, will be discussed in the following pages.
Europe as heterotopia Leah Goldberg used to travel to Europe from her early youth. There was almost no European country that she did not visit during her academic or pleasure trips. In her novels and poems, we find interesting remarks and descriptions of different countries before and after the Second World War. She dedicates her poems and prose to Italy, Spain, France, Germany and Denmark. In some of her poems about Europe, Goldberg represents an experience of another space, the European one. The function of this space as it appears in the poems is not to serve as "home," nor to turn to exile. For Goldberg, Europe (the "other place") exists as a place which allows a certain freedom by challenging the ontological frame of home, or, to use Michel Foucault's concept, as heterotopia. This poetic experience of Goldberg will be explored here using the example of the cycle of poems called "Mas'a le-lo shem" (A Journey without a Name), which was written by Goldberg during her stay in Copenhagen in 1960. In his programmatic article, "Des espaces autres" (1967),22 Michel Foucault suggests that a Western culture at the present time is much more concerned about the meaning of space than about the meaning of time. He mentions as well, that we still take for granted the oppositions between different places, such as a contrast between public and private place, family and social space - "entre l'espace prive et l'espace 22
Michel Foucault, Dits et Ecrits, 4 vols., Paris 1994, vol. 4, 752-762.
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public, entre l'espace de la famille et l'espace social."23 His main concern is in such places - that are related to others, namely Utopia and heterotopia - that they suspend, neutralize or invert the relation, which is designed, reflected or mirrored by themselves - "mais sur un mode tel qui'ls suspendent, neutralisent ou inversent l'ensemble des rapports qui se trouvent, par eux, designes, refletes ou reflechis."24 Foucault defines heterotopia as effectively realized Utopia, in which "les emplacements reels, tous les autres emplacements reels que Γ on peut trouver ä l'interieur de la culture sont ä la fois representee, contestes et inverses."25 These places, which are the "absolutely other ones" - "absolument autres,"26 claims Foucault, exist in every culture and have different functions within it. Foucault describes these functions while pointing out six principles. In order to describe Europe as heterotopia in Leah Goldberg's poems, the following of these principles will be applied: the principle of juxtaposition, the principle of opening and closing and the principle of the two opposite poles. The other ones can be applied as well, but would add little to the interpretation of the poem. M a s ' a le-lo shem 1. Heihan ani? Eh lehasbir hehan ani? E'nai enan nishkafot mishum halon. Panay enam mishtakfim be-shum rei, kol ha-hashmaliyot ha-rabot she-ba-i'r nos'ot bila'dai. Ve-ha-geshem yored ve-eneno martiv et yadai. Ve ani po, kuli po be-ir nohriya be-lev moledet ha gdola shel nehar. 2.
Hadri kol-kah katan she-ha-yamim bo nizharim u-mitnamhim, ve-gam ani haya bo bi-zehirut ba-reah a'shan ve-tapuhim. Ba-layla ha-shenim yadliku or: me'ever le-hatser gdola mi-ba'ad le-anpey livne gavoha, dolek halon be-sheket mi-muli. Ba-layla le-prakim kashe lizkor, ki pa'am Ei-ba-ze haya halon sheli. 23 24 25 26
Ibid., 754. Ibid., 755. Ibid. Ibid., 756.
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3. Ze shavuot she-ish eno pone elay bi-shmi, ve-ze pashut meod: ha-tukim she-be-mitbah beti o'd lo lamdu oto, ha-anashim be-kol rehavey ha-ir enam yodi'm oto. Ve hu kayam rak a'l neyar, bi-htav, ve-en lo tslil va-tav. Yamim ani holehet le-lo shem ba-rhov she-ani yoda'at et shmo. Shaot ani yoshevet le-lo shem mul ets she-ani yoda'at et shmo. V e li-prakim ani hoshevet le-lo shem al mi she eneni yoda'at et shmo. 4.
Halahti i'm ha-spinot ve-amadti i'm ha-gsharim ve-hayiti mutelet ba-rhov im a'ley ha-tidhar ha-noshrim, haya li stav ve-haya li ana muar leyad aruba shora. Ve haya li shem muzar asher ish lo yahol lenahesh. (Copenhagen, Elul tashah)
A Journey without a Name 1. Where am I? How to explain where am I?/ My eyes are not reflected in any window./ My face is not reflected in any mirror,/ all the numerous trams in the city drive without me.// And the rain falls and does not wet my hands./ And I am here, all here -/ In the foreign city/ in the heart of the big homeland of the foreign country.// 2. My room is so small/ that the days are careful and becoming shorter in it,/ and I, as well, live carefully in it/ in the smell of smoke and apples.// At night the neighbours will switch on the light:/ beyond the big yard, beyond the branches of the tall birch,/ burns the window quietly opposite to me,/ at night it is sometimes hard to remember,/ that once// somewhere -/ there was my window.// 3.
For weeks nobody uses/ my name and it is very simple:/ the parrots that are in the kitchen of my house/ did not learn it yet,/ the people in town/ do not know it./ And it exists only on the paper, written,/ and it has no voice, no sound, and no score.
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For days I walk without a name/ in the street which name I know./ For hours I sit without a name/ in front of the tree which name I know./ A n d sometimes I think without a name/ about somebody whose name I don't know.// 4. I went with the ships and I stood with the bridges/ and I was dropped on the street/ with the falling leaves of trees,/ I had an autumn/ and I had a lighted cloud near the black chimney./ And I had a strange name/ that nobody can guess.//
The following interpretation of the cycle will use Foucault's characterisations of heterotopias: According to Foucault's principle of juxtaposing, the heterotopia has the power of putting aside in a single real place different spaces and locations that are incompatible with each other.27 And this is exactly what we find in the first poem - Goldberg juxtaposes two incompatible spaces: "be-ir nohriya/ be-lev moledet ha gdola shel nehar" ("In the foreign city/ in the heart of the big homeland of the foreign country"). Aside the space of Copenhagen, the foreign city, where her presence is anonymous, she puts another space, the homeland, a space that she carries with herself from abroad: The homeland of homelessness and a no-name. The use of metaphor creates a new space - the homeland of the foreign. Heterotopia allows Goldberg to bring both spaces to a form of co-existence, without necessarily choosing one. This new space has a double function. First, it creates a sort of glass through which the poet can see but not be seen, thus protecting her from the intervention by strangers into her privacy. Its second function is to protect the lyric speaker from loneliness by keeping the element of the homeland that gives her a feeling of safety. Despite the fact the lyric speaker is invisible for her environment, or maybe even thanks to this fact, she is free to map herself on this other space. What is important, at the moment of the self-positioning in the town, is that the poet also places herself within the text - " V e ani po, kuli po - " ("And I am here, all here - " ) . The deixis "here" means for the reader the space of the poem and literally on the page of the book. W e can see that the second poem continues dealing with the self-placement of the poet. But this time it represents the relation of a personal place, her own room, to the space of the others, the neighbours. This characteristic of heterotopia can be described with the fifth principle - "Les heterotopics supposent toujours un systeme d'ouverture et de fermeture qui, ä la fois, les isole et les rend penetrables."28 In the first part of the poem, the relation of opening and closing is more abstract, but the metaphoric language is very concrete and visual. This relation is between space (the small room where she lives) and time (the days). The small dimensions of the room do not only affect its owner, but also the days in it. The smell of the smoke and of the apples penetrates the private space, while the days are isolated by the space of the room. 27 28
Ibid., 758. Ibid., 760.
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In the second part of the poem we can find another type of closing-opening relation. On the one hand, the lyric speaker has neighbours, whose life can be observed through the window. The closeness of the light in the window gives an illusion of immediacy of a possible contact. On the other hand, the same light in the opposite window stresses the isolation of the poet's small room from the other people.
A Name as a Lyrical Heterotopia The third poem in the cycle turns a name into heterotopia. In a metaphorical way, a name, or more exactly, a no-name, is represented here as a sort of a spatial construct which was created inside the space of the town. This kind of heterotopia can be described with the last characteristic in Foucault's article. It's function is to oppose to the rest of the space in a dual way. On one hand it creates a space of illusion that exposes the real space as more illusory - "un espace d'illusion qui denonce comme plus illusoire encore tout l'espace reel." 29 On the other hand it has a contrary function, it creates other place as a real place - "creant un autre espace, un autre espace reel, aussi parfait, aussi meticuleux, aussie bien arrange que le notre est desordonne." 30 The no-name in this poem can be understood as a space of illusion, while the noname in the last poem will be interpreted as real space. In the foreign town, the anonymity of the poet reaches such a level that she obtains a new ontological status - that of a person without a name. This is, of course, an illusory situation, since she still has a name, even though nobody knows it. But through the creation of this space of no-name, the real space of the city, full of different names, starts to fade. Even more than that, it seems that through the asymmetrical relation with the space of the city, in which the knowledge of different names in the town is opposed to the "ignorance" of the city to her existence, the lyric speaker gains a poetic power. The statement at the first part of the poem that the lyric speaker's name still exists on paper, in the written form - "al neyar, be ktav," can be perceived not only as literal, but also as a poetical one. Just like in daily life when the poets who are walking incognito in the streets among the people do not stop being poets because of their anonymity, the lyric speaker is still aware of her ability to write. Being unnoticed in the city allows to Goldberg to obscure different things and to represent them in her poems, without naming them. Paradoxically, the absence of any names within the poem itself that could have led to generalization effects, in this case is an encounter with personal and even intimate experience. Thus, the poetic space of no-name through the non-mentioning (non-naming) of the historical reality of Copenhagen reveals the illusory of its space, as well as its dependence on the mode of representation.
29 30
Ibid., 761. Ibid.
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One could think that the cycle that talks about a journey should represent some sort of movement from one place to another. The three first poems, however, are almost static. But the last poem concentrates in it various kinds of actions within urban space: going with the ships, standing with the bridges and lying with the leaves. The last poem returns to the urban spaces of the first poem. This time, instead of being a passive part of an urban space, the lyric speaker 'accompanies' ships and bridges, which were for Foucault typical heterotopias. What is central to the last poem is the creation of a new real private space. Through the identification with different objects, the lyric speaker appropriates a new name, "a strange name that nobody can guess." If in the previous poems the gap between the speaker and her environment was caused by anonymity, here the gap is already of an epistemological character. At the beginning there was something liberating in the fact that no one knew her name, but at the same time, this fact was an obvious evidence of loneliness. But after the appropriation of a private space, the impossibility to guess the poet's new name is perceived as an advantage. This heterotopia, says Foucault, is not one of illusion but of compensation - "Qa serait l'heterotopie non pas d'illusion mais de compensation."31 And this is one of the possible interpretations of the enigmatic end of the poem. The new other name, which was appropriated in Europe is not an illusion, but a poetic compensation. The last poem represents a poetic metamorphosis of a lyrical speaker, who achieves new images: leaves, autumn, cloud - through the use of metaphors. The new name is, actually, a poem itself. The presence in the foreign city allowed the poet to create a new private space, where the solitude was transformed into poetic freedom and within which the biographical name was changed to a unique name. This poetical cycle is a result of the poetic juxtaposition of two heterotopias. W e should not forget that the cycle is called "Mas'a le-lo shem" - " A Journey without a Name." The Hebrew title might have a second meaning: " L e " would indicate a preposition of movement towards, so that the title will be " A journey to noname". According to it, a journey turns to a teleological one, while its final goal is a no-name place. Goldberg represents in this cycle a process of transformation of the lyrical speaker during her journey. It was not only a journey from Jerusalem to Copenhagen, but it was also a journey from no-name to the new name.
Conclusion One of the aims of this article was to question the monolithic structure of the home/exile binary by exploring several poems by Leah Goldberg. Using the poetic imagination, Goldberg transforms her personal, biographical experience to forms of multiple existence in her historical chronotopos. Her poems suggest modes of resistance to the bonds of one homeland, by doubling it or by putting other places
31
Ibid., 761.
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aside. Goldberg re-writes the opposition home/exile into a form of belonging in non-belonging, which is a nomadic poetic mode. Down to the present, the historic poetics of modern Hebrew literature, written mostly from a Zionist point of view, connects immigration almost automatically with the notion of exile. It might be that taking into account the possibility of the existence of lyric heterotopias inside Hebrew poetry can add a new dimension to research on Gabriel Prail, Yehuda Amichai, Dan Pagis, Israel Pinkas and all the other poet-immigrants who experienced various kinds of cultural-biographical connections with other places.
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Political Theology and the Politics of Conversion: Hermann Cohen's Religion of Reason as Alternative to Reason
This article proposes to make sense of Cohen's philosophy of religion within the wider issue of the return to religion as a basis for a politics of the transformation of modern culture at the beginning of the 20th century in Germany. In this interpretation, the transformation of Judaism in the sense of a religion of reason is viewed as being less a demand required by religion than by modernity. This approach implies that it is possible to read Cohen's religion of reason without reference to the past or actual meaning of Judaism, because the transformation to which Judaism is subjected is a function of another end from which it obtains its meaning. Within this view, Cohen's positions are not so much determined by his interpretation of Judaism. Rather, his interpretation of Judaism sanctions his positions, which are to be understood in terms of the criteria by which they have become a demand. The interpretation proceeds from two correlated premises: the transformation to which Cohen subjected Judaism is highly determined by his critique of modernity, and therefore should be understood in terms of his own reworking of the criteria of modernity. This means by reference to Cohen's model (in which Judaism furnishes the basis for a political project born out of religion that can fulfill modernity's immanent expectation of unity and individual autonomy) that the political project at stake should be derived from the inversion of the priority scale of modernity. Accordingly, in this reading, the return to religion is seen as a strategy to secure modernity's continuity by calling on religion to perform the critical task assigned to reason. The first question to be posed to Cohen's philosophy of religion is: how can religion uphold the critical claims of reason? The answer is already presupposed in the question pointing to a fundamental assumption concerning the relation between religion and reason. Consistent with Cohen's notions that a) religion is not unconditionally autonomous,1 insofar as nothing is which is not determined by reason as human consciousness, and b) religion nonetheless has a reality2 and a truth3 claim of its own, this is the assumption that religion can constitute an alternative to reason.
1
2 3
Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, in: Helmut Holzhey (ed.), Werke, vol.10, Hildesheim/Zürich/New York 1996 (first edition Glessen 1915), passim, e.g. 15,45, 59, 80, 109-111, 119, 123. Ibid., passim, e.g. 1, 8-10, 97. Ibid., passim, e.g. 6, 16, 18, 94, 42, 114, 119. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 255-272
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On this assumption, religion encompasses reason as it transcends all forms of consciousness in a new unity wherein they are modified, i.e., religion as a new consciousness of modern culture. If this means that the newness of religion as an alternative to reason resides in what it, in its peculiarity, involves as a "modification" 4 of the modern consciousness of culture, then the preservation of modern culture is incumbent on religion. For religion remains within the unity of reason as a way to the "renewal of [its] continuity."5 Accordingly, that the transformation of Judaism can be said to furnish the basis for a political project based on religion would have to be understood by attention to the double relation of continuity and discontinuity with reason that religion presupposes. The thesis here is that, as a form of rationality, religion follows reason historically and precedes reason logically. Hence, religion can only occur at a developed stage of culture when humanity has reached the stage of articulation displayed by scientific culture;6 in it the whole consciousness of culture is implicated.7 The consequence of this position is that religion can neither be determined through reason in the manner of a rationalized religion nor can it be determined historically as a historical religion. The case is rather that religion comprises its own elucidation and the elucidation of reason, so that history should be derived from religion as a new mode of consciousness of modern culture, and all knowledge should be determined by religion as a new consciousness of time. So religion assumes a distinction between reason in the narrow sense and in the strict sense. The first corresponds to the specific forms in which reason is manifested as consciousness of culture in the logic of scientific thought, ethics and art; the second corresponds to their source, the logic of the rational as such as it is made manifest in philosophy, the science of reason.8 On the basis of this distinction, religion is found to remain within the unity of reason through its connection "if not to science, yet to philosophy." 9 Religion results in an alternative to reason in the sense of the new source and originative principle of modern culture. The inversion of the priority scale of modernity according to which religion could be seen as assuming the critical function assigned to reason involves an inversion of the evolutionary scale of modernity. This is a retrospective understanding of history from religion as a new beginning in time of culture, which coincides materially with the future of reason. By these standards, religion constitutes an alternative to reason by detaching from any set of beliefs and practices accepted on tradition, authority or common sense, with respect to the possibility that religion can be detached from the past of reason,
4 5 6 7 8
9
Ibid., 44. Ibid., 48. Hermann Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, New York 1972, 8. Ibid., 136. Cohen, Der Begriff der Religion, e.g. 9, 15; idem, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, e.g. 5, 7, 9, 90. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 7.
POLITICAL THEOLOGY AND THE POLITICS OF CONVERSION
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i.e., religious tradition as dogma. As future of reason, the new religion thus makes the claim that dogma is not a consequence of religion, but rather of the dynamics into which reason has unfolded. The move from reason to religion can then be seen in an evolutionary way as a development of reason towards its own alternative, the new religion, through the resolution of reason into dogma. The much discussed question of whether Cohen's conception of religion should be understood by taking personal experience, God or culture as one's clue comes then simply to signify this: we would be left with the false alternative of having to dismiss religion on philosophical and extra-philosophical grounds. The argument is that grounding religion on either one of the foundations proposed would result in the contrary of that which is contained in religion as a concept as implying that religion is linked to the senses (as some personal or common elemental feeling) or to the imagination (as an invention of the people or the result of the interaction of social forces).10 In that case, religion can claim no more truth than a dogma and no more reality than that of a means through which what is uncertainly the case is set up arbitrarily as being the case by the service it renders. It would then have to be dismissed as a make-believe by the same argument that it could be justified as a useful fiction, i.e. its motivation in some kind of "reflex mechanism" or "power motivated by affects."11 Religion thus becomes a means to the satisfaction of primitive instincts and animal needs. Accordingly, a religion conceived of as an alternative to reason, is religion of reason in the sense of the offspring of the generative activity of reason that exists because reason has the need to generate religion.12 Religion thus comprises its own elucidation and that of reason by comprising an elucidation of how the move to religion from reason is possible and why it is necessary. Conceived of as a religion of reason, religion assumes a basic affinity with all forms of consciousness in spite of their differences: religion is rational. This means, as conveyed by religion's connection to philosophy, that religion conforms to reason's direction and rules and falls within the systematic unity of the problems and ends of reason. However, religion is not any direction of consciousness. It presupposes some distinction from reason in the variety of ways in which it unfolds. In a model according to which religion enjoys only relative autonomy, it is its peculiarity what justifies its existence by its necessity. If one ascribes reason a generative and not a reproductive function, as Cohen does, then, ends are the outcome of the process from which they emerge as problems to be analyzed and solved. Accounting for the three-fold directions in which reason 10 11 12
Ibid., 6f. Ibid., 139 and 6 respectively. Ibid., 3-7. This point has been acknowledged by Gabriel Motzkin, The Problem of Knowledge in Hermann Cohen's Philosophy of Religion, in: Stephane Moses/Hartwig Wiedebach (eds.), Hermann Cohen's Philosophy of Religion, Jerusalem 1997, 146-159, 154. G. M o t z k i n ' s interpretation is divergent from ours, however, by implying an identification between Judaism and religion of reason as it derives from the identification of reason with the logic of the natural sciences (ibid., 147, 154) and a tradition of laws (ibid., 155).
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unfolds, if the ends are common, then the important thing is not the variety of means but rather their fitness and congruity. This suggests that religion is distinguished from reason by its ability to attain reason's ends more perfectly and certainly than any other way into which reason unfolds, for religion raises the problems to be solved and analyzed more completely and adequately. By counterposition, the other forms of consciousness tend to miss or betray reason's ends by offering a deficient or distorting elucidation of the problem to be analyzed and solved. Within this perspective, reason's need to generate religion assumes that reason diverts from its own path under the weight of the dilemmas it creates for itself when it trespasses on the limits of its employment. This is not the weak enlightenment thesis according to which religion is "a substitute for [a] privation of reason."13 The thesis here is the strong one that religion is a possibility for reason's affirmation as the unity that it is. In a model for which the logic of the rational is anticipatory, there can be no irresolvable problems for reason: it pertains to reason to set up for itself only tasks whose attainment is already presupposed in the problem posed for this purpose. The claim above then reads that a determinate resolution of the dilemmas reason creates for itself is to be given within reason, by a new form of account-giving that can establish new ends for account-giving and new forms of action towards such ends. Consequently, religion assumes a change of perspective;14 in this perspective, reason (in the variety of forms in which it unfolds) is extended and complemented15 in the sense of the double function of "renewal" and "return"16 ascribed to religion, i.e., change and transfiguration, correction and undoing, countering and breakthrough.17 So Cohen propounds a theory of religion in which religion is secured as an alternative to reason through its rationality as implying two things: a) religion can be detached from the irrational; b) the rational can degenerate into the irrational. Given that reason has a univocal meaning for Cohen, one cannot hold such implicit views to be authoritative on different criteria of evaluation of what is rational. The defense of the rationality of religion involves the identification of religion with an authentic form of rationality, and the association of belief and cultural illusion with reason as a defective form of rationality. Religion is thus raised to the status of a "kind of philosophy."18 As such, religion deserves the name of an alternative to reason by presenting, as "knowledge," 19 the capacity to uphold the claims of modernity in a transformed shape: whereas reason can be potentially deceiving, religion is certainly authenticating, and so, the new self-determining principle the critical enterprise demands and the new beginning modern culture's unfolding requires. 13 14 15 16 17
18 19
Ibid., 7. Cohen, Der Begriff der Religion, 27. Ibid., passim, e.g. 56, 58, 77, 89. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 68f. and 192f. respectively. And analogous (creation, transformation, alteration, rejection, repudiation, opposition, rebirth, death, progress, etc.). Ibid., passim, e.g. 82, 102, 111, 175, 177, 194f„ 199, 203, 302. Ibid., 291. Cohen, Der Begriff der Religion, passim, e.g. 16, 18, 25, 45, 81, 111, 137f.
POLITICAL THEOLOGY A N D THE POLITICS OF CONVERSION
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That the assurance of modernity is to be sought in a political project of the transformation of modern culture born out of religion now indicates that genuine freedom of deception and its correlative, autonomy and unity, can only be obtained on the basis of real critique, and religion involves such a critique as it can unify the theoretical and practical ends of reason. Religion is truth in the sense of the kind of knowledge that establishes "the genuine as opposed to appearance, to the images of fantasy;" 20 religion is real in the sense of a kind of action that makes possible the "fight of being against seeming."21 There is of course then, no difficulty in giving a determinate definition of reason. Reason here designates aesthetic-oriented consciousness of modern culture: the ability to link between domains is only found in aesthetics. Hence, aesthetics is distinguished from ethics and science by its capacity to bring reason to the unity that it is.22 So religion is found to constitute an alternative to reason in the sense that religion encompasses reason as a totality by transcending that form of the consciousness of culture in which reason obtains its closure and actualizes as the unity that it is. Tellingly, religion represents "a new modification" 23 of reason. As such, religion assumes two claims as regards aesthetics: a) aesthetics effects a modification of reason analogous to that of religion24 and b) is such that it can divert from its own path,25 bringing the continuity of modernity's development by permanent change to a stop. Consequently, in terms of religion, renewal means "renewal of continuity," and continuity, "creation towards preservation."26 A new hierarchy of life is thus created. In this hierarchy, aesthetics appears as a preparatory stage and a supplementary means to religion as a higher end. This means in historical terms that the beginning of religion corresponds to the end of aesthetics. Hence, "the only indispensable limiting condition" for the emergence of religion is "the degree to which humanity has reached the stage of articulation displayed in scientific culture;"27 this is the function by which aesthetics is defined. Thus, there is no historical coincidence. As indicated by the function through which they are defined as a specific form of consciousness, religion and aesthetics "are born from the same need"28 and therefore share the same goal, i.e., the humanization of culture by way of the realization of modernity's immanent expectation of individual autonomy and unity.29
20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 413. Ibid., 54. Hermann Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, Berlin 1912, e.g. 1, 4, 6, 46, 85f„ 88. Cohen, Der Begriff der Religion, 44 (my emphasis). Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, passim, e.g. 82, 91f„ 97, 224, 267. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, Berlin 1889, 280. Cohen, Der Begriff der Religion, 48. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 8. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 415. Ibid., passim, e.g. 81, 220, 418, 4 2 5 ^ 2 9 ; idem, Ästhetik des reinen Gefühls I, passim, e.g. 226-234.
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It becomes in this way clear that the controversy with reason implied by the new religion does not concern the validity of ethics, science or art, which is given by the logic generated internally by each domain. The issue at stake is the anthropological one of the appropriateness of the ways in which reason unfolds to respond to man's quest for meaning. What is incumbent on religion is to define the "purpose" of man.30 Hence, the critical enterprise focuses on the problem of man in a new way,31 which can now be identified as an alternative to the way in which aesthetics has focused on man. If this means that religion should be seen as relating to philosophy inversely as aesthetics, then, against the commonly accepted view, the admission of religion's connection to aesthetics reasserts the relation of religion to reason: when thought of in the horizon of religion as an alternative to reason, religion and aesthetics are found to constitute "opposite directions of consciousness."32 Accordingly, as a new consciousness of modern culture, religion involves "a new concept of the unity of consciousness."33 Religion thus not only concerns the unity of reason. It also postulates a new division and order of the totality of human experience on the basis of the characteristic that defines religion as a specific direction of consciousness and differentiates it from all others. If this characteristic is "making consciousness human,"34 then, the kinship with aesthetics is prompted by the link between religion and "human culture"35 as it arises from the reappraisal of the basic bifurcation of reason in a doctrine of the world and of man; namely, a distinction between the way in which reason is made worldly and is humanized. Within this scheme, reason constitutes a path from man to its objectification as culture in its theoretical and ethical aspects, and a path from culture to its subjectivization as man in its individual and general aspects. The new emerging distinction between culture-generating powers (whose point of gravity is being in a particular way), and transformation-generating powers (whose point of gravity is becoming as a whole) thus establishes a new ordering of the directions into which reason unfolds. In this new order, the bifurcation of reason in a doctrine of the world and a doctrine of man comes down to a distinction between the one-sided theoretical perspectives of the natural and cultural sciences, and the dual theoretical-practical perspective of philosophy. A connection thus arises between philosophy and humanism through religion and aesthetics as assuming a reciprocal relation between theory and ethical practice which results in their respective unfolding in a humanist project of the transformation of modern culture. Such a connection involves the transcendence of aesthetics by
30 31 32 33 34 35
Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 92f. Cohen, Der Begriff der Religion, e.g. 50, 57, 60, 92, 135. Ibid., 91. Ibid., 109. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 7. Cohen, Der Begriff der Religion, 122.
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religion, as religion exhausts and surpasses all tragedy through religion's inseparable connection to social politics.36 In these terms, the kinship with aesthetics implies religion as constituting an alternative to reason by transcending the point of view of the sciences as it transcends aesthetics in a new way to man's becoming. Religion assumes the self-transformation of reason from aesthetics as its preliminary theoretical precondition to its ethicalpractical maturity. This transformation being conditioned upon the new focus on man, Cohen conceives of his system of philosophy anew in terms of the problem of man as reason's basic problem.37 In so doing, the three-fold unity of reason that was conceived of as having its closure in aesthetics38 is extended to include a fourth moment. The upshot is that philosophy is grounded and has its final realization in religion.39 Religion is thus elevated to the status of a general function of human consciousness and the criterion by which the rationality of reason as regards the knowledge of man and the way to his becoming is to be determined. On this basis, the answer offered to the recurrent question of the location of religion vis-a-vis the other modalities of human consciousness is confirmed by another consequence capable of being derived from the relation between aesthetics and religion: "there cannot be two reasons as regards the problem of man." 40 If this means that there is only one authentic path to man as individual and humanity, then, the mutual autonomy of aesthetics and religion proves itself in the capacity of religion to transcend aesthetics, as religion makes the ends sought for by aesthetics true and real by making them socio-political. The reason for the controversy with reason being narrowed down to a quarrel with aesthetics now becomes intelligible on the grounds that it is aesthetics that makes religion necessary by its failure to ensure the ends it was meant to achieve. This involves the danger that culture may develop in a sense contrary to reason, towards the de-humanization of culture. Cohen thus avoids drawing the conclusion other neo-Kantians will later make the pillar of their endeavor to reformulate philosophy as an alternative to metaphysics: that the logic of the sciences can be equated to the logic of the imagination; meaning, reason is susceptible to be subjected to the same critique to which it subjected religion.41 The argument is that if illusion can be seen as deriving from a particular direction into which reason unfolds at a particular time, then, irrationality is not a structural condition defining reason. This means first that there is no justification for the contention that science and ethics should lose the prerogative of rationality. It secondly reconfirms the rationality of aesthetics with respect to the possibility that the develop-
36 37 38 39 40 41
Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, passim, e.g. 23, 25. Cohen, Der Begriff der Religion, 136. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, passim, e.g. xi, xii, 1. Cohen, Der Begriff der Religion, e.g. 108-111, 121f„ 124, 136. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 13. Mara Borda, Philosophy as a Critical Alternative to Metaphysics. The Reality of the "A-Real" in Lask's "Ontology of the World" and Simmel's "Ontology of Man", diss., Jerusalem 2003.
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ment of aesthetics does not need to be derived from aesthetics' logical presuppositions. Room is made finally for religion that, as a transformative power of culture, presupposes the unity of culture whose continuity it is sought to ensure. So now the diversion imputed to reason has to be explained from some basic structural condition defining aesthetics as an autonomous domain. In assuming the opposition between the logics of ethics and of science (which aesthetics presupposes as a renewal of the contents of the domains it links),42 this diversion can be clarified arguing the following: aesthetics oscillates between the subjective and the objective poles, thus running the risk of suppressing or ignoring one or other dimension of the problem to be solved and analyzed. Seen in this way, the question of the relation to aesthetics takes priority for the elucidation of the concept of religion precisely because the problem demanding a solution based on religion, i.e., illusion, is tied to the consciousness of modern culture having aestheticized, or else having become predominantly aesthetic. The path to man from aesthetics thus becomes questionable in the sense in which science and ethics can be said to fail to contribute to the elucidation of the problem of man and become inappropriate as ways to man's becoming: aesthetics presents the claim to govern all human affairs, and must deny culture by abolishing any kind of knowledge other than itself. This alerts us to the fact that the error of the aestheticization of religion occurs precisely by pondering the relation between religion and aesthetics inaccurately,43 and consequently looking for a principle of religion within either sphere, that of natural scientific knowledge or that of ethics. That is objectionable on many grounds. First, reason should be identified with the logic of either science or ethics. Secondly, science and ethics would have to be depreciated as superfluous by dissolving into each other. Third, a religion born out of reason would have to be denied as illusionary: if reason is assumed to be homogeneous, a religion born out of reason would have to arise from the need to substitute the whole by the partial abstractions to which it has to be reduced. As a result, religion would easily change into a make-belief by
42 43
Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, 180. In a general way, the error consists in misreading Cohen's concept of aesthetics in Kantian terms as not being an independent domain, and disregarding the correlative distinction between critical aesthetics and romanticism. This distinction is determinant as to the understanding of the relation between religion and aesthetics in Cohen's thought with respect to a) the emerging univocal determination of aesthetics on the pattern of critical aesthetics as true, by opposition to romantic aesthetics as false, and b) the correlative double vindicating and repudiating position-visa-vis aesthetics as a doctrine of man and a path to the humanization of culture. See Borda, The Religion of Reason out of the Sources of Judaism as a N e w Path to Man, paper delivered at the International Seminary Art and Aesthetics in German and Jewish Thought from the Eighteenth to the Twentieth Centuries, Jerusalem, 1998. For other contributions on specific issues of the relation between aesthetics and religion consistent with the arguments above, see: William Kluback, The Idea of Humanity. Hermann Cohen's Legacy to Philosophy and Theology, Lanham 1987; Andrea Poma, Humor in Religion. Peace and Contenment, in: Moses/ Wiedebach (eds.), Hermann Cohen's Philosophy of Religion, 183-204; Hartwig Wiedebach, Hermann Cohens Theorie des Mitleids, in: ibid., 231-244.
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not only having to surrender man's becoming to doubt, but also having to give up the resolution of such a doubt to arbitrary decree. Such a religion would be commensurate with dogma. Against this background, it can be said that religion does not entail an original hostility vis-a-vis aesthetics. Religion opposes aesthetics only to the extent that aesthetics makes the claim of replacing science or ethics, thus generating its own inverted image by moving in a direction contrary to reason, i.e., back to the past, through reduction to separation. The differentiation and stratification of reason along religion as a criterion is then reproduced within aesthetics as designating the unity of reason in the form of the determined mode of human consciousness of modern culture that religion is sought to contest, transcend and bring to realization. Cohen's conception is one in which religion and aesthetics share the same contents, God and man, 44 and aesthetics can convert into religion 45 by assuming a relation to a general religious perspective which is made manifest through it as its moral core. 46 Consistent with the acknowledged tendency of aesthetics to divert from the rational when it is diverted from its own path, Cohen distinguishes two forms of aesthetics, critical and romantic, as "true and false" 47 respectively. Aesthetics can then be retrospectively seen from the point of religion as a common nomenclature for two forms of religion's past: one that, agreeing with the rules of reason, falls within the dynamics into which religion unfolds; another one that, diverting from the rules of reason, falls outside of the dynamics into which religion unfolds. In this view, aesthetics becomes commensurate with religion's manifestation as two forms of belief: a) a proto-form of religion from which religion is expected to follow as a possibility, i.e., myth, b) a counter-form of religion that, making religion appear as it is not, bans the possibility of religion, i.e., dogma. Based on the characteristics of critical and romantic aesthetics, this can be explained as follows. As man's becoming takes place according to a symbolic logic 48 wherein man is called to improve on the basis of a model of perfectibility that, as a theoretical figure, a "type," 49 always points beyond man's actualization, so man's becoming remains unfulfilled: the ideal of man's perfectibility becomes an "abstraction," 50 which approaches the ethical meaning of God. 51 The result is the conversion of aesthetics into a kind of belief by which man's pessimism (as theoretical indifference) evaporates behind ethical interest 52 and the doubts arising from the impossibility to ensure man
44 45 46
47 48 49 50 51 52
Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 417, 419f. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, 229. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 17-19; cf. idem, Ästhetik des reinen Gefühls I, 35, 45, 31 lf. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 368. Ibid., 428f. Cohen, Der Begriff der Religion, 86f. Ibid., 92. Ibid., 79. Ibid.
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the certainty of his becoming are resolved into the celebration of man's nature.53 If this means that through aesthetics, man's becoming assumes an ideal of man that implies a lack on the part of the object idealized,54 then here belief signifies myth as a proto-form of religion. This is so in the sense that aesthetics contains religion in a germ form by presupposing a distinction between the real and ideal55 that it cannot make clear, and establishing man's becoming as a task56 it cannot achieve. So "mythology is overcome by the definition of the concepts of religion"57 when the ambiguities aesthetics presents (through the abstract character of its concepts) is resolved by determination. The determination demanded by aesthetics can occur, however, in a manner contradictory to religion; namely, by transposing symbols into the things for which they constitute a sign. As a result, the objects represented are freed from being a mere formula by becoming exhausted by them. Aesthetics degenerates then into romanticism in which man's becoming takes place according to a speculative logic of identity58 that brings to the identification of man's being with his ideal of perfectibility. The resulting problem of the coincidence of being and becoming is the defiguration of man by exaltation in a manner which no longer corresponds to reality59 and the consequent call upon man to accomplish a task he cannot attain, for there is no such task: the task romanticism sets up for man is a "titanic" one in the sense of a task meant for "titans,"60 which man is clearly not. So on the logic of romanticism, the ideal of perfectibility cannot only "never be given" but must also be "given up."61 What then remains to man is to have recourse to the dogma to free himself from the illusion in which he is imprisoned. Aesthetics thus violates the laws of truth converting into a dogma that, first identifies man arbitrarily with the suprasensible idea overestimating man as a God, and finally reduces him to an empirical absolute diminishing him to an animal. Belief as a counter-form of religion then signifies a "pre-critical position"62 contrary to the modern development of man and culture. On this basis, romanticism is divorced from critical aesthetics as connoting the progress of regress. In turn, the new religion is affirmed as the future of reason by assuming the following set of possibilities: a) the past of religion, i.e., critical aesthetics as myth, can be set apart from the past of reason, i.e., dogma, and b) the present form of religion's actualization, i.e., romantic aesthetics as dogma, can be brought to coincide with the past of religion's past, i.e. dogmatization of myth. The move 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Ibid., 91. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 372. Ibid., 348. Ibid., 372. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 65. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 348, 363f. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, 227. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 272. Ibid., 286. Cohen, Der Begriff der Religion, 9.
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from reason to religion can be seen, accordingly, in an evolutionary way as a move from reason towards its own alternative, religion, through the self-dissolution of aesthetics into dogma, which Cohen identifies with the "catholicization of culture." 63 The elucidation of aesthetics from the retrospective point of view of religion thus discloses aesthetics' association with Christianity. The bifurcation of aesthetics as critical and romantic corresponds with a "bifurcation of the Christian consciousness"64 in the two-fold sense of the authentic and non-authentic moral foundation and correlative character of the humanist project into which aesthetics unfolds in each case. Romantic aesthetics is then analogized as belief to Catholicism, and imputed the progress of the regression of modern culture back to the past: romanticism establishes all human truths on a medieval religious foundation, 65 i.e. a "religious morality"66 that has God as its foundation, its aim and goal. By counter-position, critical aesthetics is analogized to Protestantism and seen to correspond to a critical position in line with the development of modern culture: critical aesthetics is grounded in a "human morality"67 that has man as its foundation, its object and goal. The critique of aesthetics religion entails as an alternative to reason is thus found to be on a par with the critique of religion as it is historically understood with respect to a specific religious tradition. Religion then gains its positive meaning as the future of reason through a double negation: religion is not (as on the scheme of critical aesthetics and Protestantism) a symbolic system whose contents are signs for something else, and thus, is in need of deciphering as a code in which the purely ideal contents are to be glimpsed behind the images through which they are represented. Religion is also not (as on the scheme of romanticism and Catholicism) a speculative system wherein mysteries are resolved into dogma by the things represented being replaced by their representation in a manner that makes signs absolutely real and interpretation superfluous. The new religion "consists of concepts and is based on concepts."68 That is to say, religion is intelligible and, for the same, "does not offer a riddle but rather the riddle finds a solution in it."69 The underlying idea is that, by its connection to reason, religion provides an insight into the original spiritual substratum in which it arose as it strives to return to the ultimate basis of ideas themselves, i.e., human consciousness. In involving a connection of the contents of religion to a primary meaning function, religion can then make the claim to dissolve dogma when it frees religious contents from doubt by determining them univocally in the sense of what they are, i.e., purely human contents arising as ideas from purely human demands.70
63 64 65 66 67 68 69 70
Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 338. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls I, 228. Ibid., 11. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, 17. Ibid. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 5. Ibid., 65. Ibid., 109.
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It is this one characteristic of the contents of religion that allows the new religion to solve the problem of man's becoming in a manner alternative to that of aesthetics. If the contents of religion are purely human contents arising as ideas from purely human demands, then religion should aim at man and not at God, and relate them in a manner that they are kept apart. By recognizing the spiritual character of man's demands in distinction from animal sensual needs, religion recognizes man's capacity to elevate himself over his empirical condition, and thus constitute himself into the real unity that he is in distinction from God as an idea (God as complete has no demands nor reality). If this means that the relation through which man's becoming is to be clarified and grounded should remain at the level of abstraction so that man and God (as the conceptual poles of this relation) be kept apart, then, religion should conceive of man's becoming in terms of a logical relation. This is correlation as a relation according to which being and becoming are linked in such a manner that "the negation of one is the condition for the affirmation of the other."71 Within this scheme, as God is "only" in the sense of the "precondition for becoming," so becoming pertains to man as his own possibility by "the process of becoming belonging] to becoming itself."72 In seeking his ideal of perfectibility, i.e., God, man approaches the true meaning of man. Becoming is then ensured by resolving into a process of "self-transformation"73 that has man as its object and goal. The claim of religion to a form of rationality that constitutes the sole path to man can then no longer be made questionable. Religion makes belief as such and belief in God unnecessary,74 as it discloses the concrete man as the sufficient condition for the attainment of humanity and individuality. In turn, and precisely because man need not imitate what he is not (Protestant-oriented aesthetic scheme) or convert into what he is not (Catholic-oriented aesthetic scheme) to become, in religion, man's becoming is ascertained by two facts: a) man's becoming is man's task, and b) this task is attainable, or else, is on the measure of man's size and worth. Religion, as critique, is confirmed by ensuring both its theoretical and practical ends. So far, the problem of the transformation of Judaism at issue can be said to beg our approach from the start, by involving a suspicious reading of religion. This is a modern interpretation of religion to the extent that it should make possible the reappropriation of the truths of religion in an un-alienated form, i.e., a form that is not indebted to old traditions, accepted authority or common sense. If, in line with the claims above, these truths are both anticipated and concealed by reason, then they should be found both within and outside of the domain of reason. From this it follows that the transformation of Judaism cannot occur in the context of a specific tradition or within the limits of reason alone. The case is rather that the transformation of Judaism is grounded on a fundamental conception of religion,
71 72 73 74
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
62. 72, and 64 respectively. e.g. 50, 193. 330.
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which does not imply a radical calling into question of tradition but rather a renewed attention to it. The argument claimed thus calls attention to the inappropriateness of both the view that interprets Cohen's religious thought as an application to philosophy of the procedures developed by Judaism as a religious tradition, and as an application to Judaism of the procedures developed for the analysis of the sciences, on the following grounds. These positions imply the previous assumption of an identity between reason and Judaism, which can only be accepted as valid on the basis of some previous decision regarding the nature of either one. A situation of indecision is thus created whose resolution can not be decided either philosophically or historically. As a result, the readings proposed would prove inconsistent by being reducible to the view opposite to the one first assumed, with respect to both religion and Judaism remaining ungrounded and the characters attributed to them questionable. This should not be misinterpreted as saying that history and philosophy have the same share in the transformation to which Judaism is subjected. Cohen's position is clear: "[t]he concept [...] requires history for its own development. However, history by itself does not determine anything about the essence and peculiarity of the concept, which in the course of history up to now might not have developed to its final realization."75 Judaism is thus linked to religion insofar as it is "acknowledged as a necessary logical consequence of the concept of religion."76 Two things then hold true as regards Judaism: a) Judaism in the historical sense of a religious tradition is "begotten as a concept of being of the future;" 77 b) with respect to the emerging new Judaism, everything that remains history in the sense of the past belongs to the order of myth.78 The transformation of Judaism has then one logical meaning: the production of a "correct exegesis" against "incorrect interpretations" by making what was "taught already in a mythical way" "more exact" so that its "proper meaning"79 can become clear in terms of what "it is truly to mean. 80 By this claim, the transformation of Judaism involves "grasp[ing] the distinctiveness" of Judaism81 through a form which may well be said to express Judaism's susceptibility to be transformed in the sense of religion, but does not pertain to it. Consequently, Cohen accepts the need to consider the possibility that the sources of Judaism "veil [the] original speculative relationship"82 on which religion is grounded and has its historical right and duty. It is this reservation alone that permits that Judaism, for example, be taken as the basis for a political project of the transformation of modern culture born out of religion. But it does not imply it necessarily: the
75 76 77 78 79 80 81 82
Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 3. Ibid., 23. Ibid., 261. Ibid., 261 and 250 respectively. Ibid., 86. Ibid., 103-105. Ibid., 103. Ibid., 37.
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characters ascribed to Judaism can be extended to any religious tradition insofar as it qualifies as religious. The question remains: why should Judaism furnish the basis for a political project born out of religion that seeks the transformation of modern culture? If religion is the only standard for estimating the value of a religious tradition, the new concept of religion should comprise an elucidation of this question. Conceived of as an alternative to reason, a) religion can no longer be identified with the past of reason, b) religion is not divorced from reason as the past of religion, and c) religion is other than the past of reason insofar as its future. In terms of religion's double connection to reason through aesthetics and aesthetics' association to Christianity, this means the following: a) as a correlative of religion, the tradition to which religion should be linked can no longer coincide with Christianity from the outset; b) it cannot be completely divorced from Christianity either. If so, it belongs to the assumption of the necessity of religion's connection to Judaism that Judaism be conceived of in a relation of continuity and discontinuity with Christianity. By the same argument, Judaism also implies a relation of continuity and discontinuity with Judaism in some past and present sense. The necessity that religion should be linked to Judaism can be understood then in terms of the critical function ascribed to religion as initially born from an "opposition to Christianity, which in its various forms is predominant in modern culture."83 This however, should not be read too simply as saying that at stake in Cohen's philosophy of religion is the vindication of the worth of a tradition or the fate of its people. In this case, the opposition of Judaism to Christianity would be commensurate with the idea of religion as a self-preservation strategy. This argument is objectionable by inducing the negation of what it is sought to assert, i.e. the idea of Judaism as the expression of some instinct-motivated ideology. For Cohen, self-preservation, like any other common elemental feeling, can only become the criterion for the evaluation of a philosophy if his author is considered to "write philosophy in the same way that he yawns," namely as a "human reflex action" resulting that "an animal too should unmistakably [...] write [his] philosophy."84 The issue of Judaism's opposition to Christianity is clearly more entangled. Consistent with the correcting and completing function ascribed to religion as critique, the case is that by opposing Christianity, Judaism "must in part turn against itself."85 Judaism thus comes to designate a new Judaism in terms of which it is valid that "Christianity not only originated from [...] but [...] rejuvenates through it."86 Within this perspective, renewed Judaism has a two-fold valence: it is the source of reason's historical manifestation, i.e., Christianity, and the historical manifestation of the source of reason, i.e., religion. This means that here Judaism is no longer the historical past of Christianity, i.e., Judaism in some traditional sense, but rather 83 84 85 86
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
389. 139. 389f. 389.
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the future of Christianity. If this should be so in a manner correspondent to the character of the relation of continuity and discontinuity with reason assumed by religion, then Judaism constitutes the future of Christianity by counting as an extension of Christianity in a new form. Seen in this way, renewed Judaism is coextensive with true Christianity in the sense in which "the deepest meaning of Christianity [...] becomes intelligible from this point of view,"87 i.e., as an "original source for other [historical] sources."88 This can be explained with respect to reason's double connection to religion in terms of the distinction within reason's historical manifestations as it results from the association of critical aesthetics with Protestantism and of Romantic aesthetics with Catholicism. Christianity is a preparatory stage to Judaism in the sense that, in the new Judaism, Christianity is fulfilled as Protestantism and rectified as Catholicism, so that the contents of religion can become clear and actual. If so, true Christianity is commensurate with true Judaism in the sense that the true meaning of religion becomes manifest through Judaism and is able to be practiced through it. The double valence of Judaism thus displays the claim that a) as the source of reason's historical manifestation, i.e., Christianity, and b) the historical manifestation of the source of reason, i.e. religion, Judaism is the "means" 89 towards religion's historical realization. This is to say, the transformation of Judaism concerns religion's unfolding historically so that it connect to the reality it seeks to transform. This is the claim that Judaism has no independent function of signification because Judaism has a practical significance for religion. On this line of reasoning, Judaism does not constitute a substantial unity but a functional one. The qualities through which Judaism is related and distinguished from other religious types are then not simply given. They are the result of a constructive effort which has its logical legitimacy in the relation between religion and reason (assumed by religion as an alternative to reason) and its historical right and duty in the demand culture makes upon religion. This means that the priority assigned to Judaism speaks of its homology to the idea whose realization it is sought to ensure, and the circumstances to which it should be applied. Accordingly, and in assuming religion as a universal human tendency and culture as heterogeneous, Judaism comes to express religion most truly precisely because, as a creative synthesis, Judaism "is not a religion of a single people or the bastard offspring of a single age."90 So Judaism proves most appropriate as a means to religion's ends by its not being in the sense of any past or present form of religion's manifestation but in the future sense91 of a project that can ensure the transformation of modern culture in the sense of modernity, i.e., permanent change. And this is so, provided that the transformation of culture in this sense is a function of man's self87 88 89 90 91
Ibid., 13. Ibid., 8. Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 363. Ibid., 8. Ibid., e.g. 249, 260.
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becoming, by Judaism's discontinuous continuity with Christianity. By this relation to Christianity, Judaism involves the sort of consciousness of man required by religion's realization. The idea is that if transformation is about self-becoming, then Judaism should be able to ensure man's freedom and the moral autonomy of his act (which are nothing but Christian values lying at the basis of modern culture) by reinterpreting them in a critical view so that they can be actualized. Crucial in this sense is the idea of the uniqueness of God propounded by Judaism as allowing a conception of man that detaches Judaism from a doctrine o f faith. The idea is two-fold. Firstly, in assuming the uniqueness of God, God's being is excluded of all characters that constitute matter, nothing compares to him nor can he be conceived of as the object of representation or as representing something else. A s a result, God "is only in relation to man" 92 as an idea, for it is "in and through knowledge that God enters into necessary correlation with man," 93 becoming a "principle of being" 94 and an "archetype of action" 95 which is commensurate with man's own true being and purpose. This means that "only man is in possession of his action" 96 as "[he] acts of his own will [and can] prove to [him] self that [his] will is not an effect, but pure will." 97 The idea is that once good and bad is removed from the sphere of the divine, righteousness follows the "desire for G o d " as "my good" 9 8 out of the recognition of "human frailty" 9 9 and thus, is a consequence of man's self-knowledge as individual and human, as social man. The implication of this position is the rejection of the ideas of a vicar 100 and of Judaism as a "religion of law;" 101 ideas by which the act would be separated from its agent and from its product. Accordingly, in the new Judaism, the law becomes significant in terms of the furthering of religious consciousness with respect to it presenting the defining characteristics of religion. 102 Judaism thus appears as "teaching of man and his worth." 103 It is important because it carries the essential contents of religion back to man in a way that endures man's action in the sense of religion (permanent change) through the continuous becoming of the individual in the people, of the people in humanity. The characters of realization are therefore such that they are not limited from the outset to a specific people. The double valence of Judaism thus suggests an ambiguity. A s a result, the naming of the mission embodied in Judaism after one of the
92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103
Ibid., 101. Ibid., 90. Ibid., 91. Ibid., e.g. 56f„ 163. Ibid., 324. Ibid., 325. Ibid., 212. Ibid., 213, cf. 220. Ibid., 202f„ 261f. Ibid., 357. Ibid., 354. Ibid., 335.
POLITICAL THEOLOGY A N D THE POLITICS OF CONVERSION
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terms that Judaism (as a synthesis) unites, involves a decision. In Cohen's terms, Israel is here "deprived of anthropological or ethnic elements," and constitutes "a national ideal concept,"104 a "symbol."105 The election of Israel to represent the unity for which it stands should be understood on a "historical pragmatic basis." 106 Seen from the motive by which it is guided, which is political, the election of Israel to designate the agent in whose name a general mission is sought to be secured, is tightly bound to a historical necessity, and is valid in terms of the values that the usage of the name evokes. On this basis, the reason for the project of the transformation of modern culture born out of religion to be articulated in the name of Judaism can be said to be that Protestantism has failed to ensure the ends aspired to, Catholicism counters religion's ends in a manner that results in the regress of culture to the past, and Judaism can secure the success desired. The background idea is that Judaism has not yet written its word into history and enters history endowed with what the transformation of modern culture in crisis needs: a practical point of view107 and attention to worldly matters.108 As Judaism is attributed the characteristics that make Christianity susceptible to repudiation as "spiritualized Judaism,"109 the election of Israel appears to echo the vindication of Judaism over Christianity by its modern critiques.110 However, and as required by a transformation of modern culture sought through a religion that involves a modification of a genuine aesthetic consciousness of modern culture, in this case, the appeal to Judaism implies the preservation of the Christian sort of consciousness of man modified. Hence, the characters attributed to Judaism result from Judaism being shaped exactly on the road that made Christianity the object of modern criticism, i.e., "idealisation,"111 which is explicitly acknowledged to be the characterizing function of aesthetics.112 Accordingly, idealisation allows to make Christianity worldly, by involving both the fight against the materialization of religion ("idealisation of the Christian dogma"113) and allows the discovery of the logical meaning of the mythical configurations so that the ends of religion can become actual ("idealisation [...] becoming] real"114).
104
Ibid., 362. Ibid., 353, 420. 106 Ibid., 363. 107 Ibid., 23. 108 Ibid., 298. 109 Ludwig Feuerbach, The Essence of Christianity, New York 1957, 120: "Judaism is worldly Christianity; Christianity, spiritual Judaism." 110 Friedrich Nietzsche, The Antichrist, New York 1941 (first edition 1918), sp. parts 15, 16, 18, 24, 25, 26. '" Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, passim, e.g. 79, 81, 347. 112 Cohen, Der Begriff der Religion, 112; idem, Kants Begründung der Ästhetik, 369, 372, 375, 377f. 113 Ibid., 139. 114 Cohen, Religion of Reason out of the Sources of Judaism, 347. 105
M A R A BORDA
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If the arguments above are right, then Israel, as the carrier of the teaching Judaism represents, cannot be understood in the particular and national sense. Accordingly, Cohen extends the meaning of Israel to include all those who effect, and can therefore preserve and promote the message of monotheism: "the pious of the nations of the world."115 The election of Israel is thus connected to a "remnant"116 that is neither in the past nor in the present of Israel as a nation, but in the future of mankind. Israel thus resolves into time and into life; and is found to stand, as a symbol, for the concept of man in general.117 The "idealisation of the messiah"118 corresponds to the idealisation of Israel. As a result, the election of Israel is not only legitimated in terms of the connection between knowledge and action it implies, but also in terms of the connection between religious knowledge and action, and human freedom and purely autonomous morality. If man in general is the carrier of religion, no one person or nation can be the safeguard and doer of the religious consciousness, but only every and all men as one with respect to the consciousness of his limits and powers. The general principle of historical religious development holds true: man is in need of no belief to become, for redemption requires no other means than man himself. Judaism now confirms the necessity of religion by ensuring the conditions for the possibility of the attainment of the goal religion sets up for man. In a model wherein reason gives determination to its own certainties, the validity of a source is confirmed by the authenticity of its realization. So by proving appropriate as a means, Judaism confirms religion as an alternative to reason in terms of the reassertion of its truth and reality. The return to religion then clearly cannot imply a regress to some past or to tradition but rather a way of ensuring the continuity of modernity by assigning religion the critical function once attributed to reason.
115 116 117 118
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
329, 337. 259f. 336. 260.
LIPSIENSIA
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Good Germans, Confused Jews, and the Tragedy of Modernity: S. Y. Agnon Remembers Leipzig
The Israeli author Shmuel Yosef Agnon (1888-1970) spent a few months in Leipzig during World War I and visited the city again in 1930.1 Long decades later he immortalized his impressions of Leipzig and its inhabitants in a major novel, BeHanuto shel Mar Lublin (in English: In Mr. Lublin's Shop, in German: Herrn Lublins Laden). Written in Jerusalem in the 1960s, and published five years after his death, In Mr. Lublin's Shop is one of Agnon's central works, and the one best representing his views on the course of Jewish history and Jewish-German relations. 2 The only Hebrew book whose theme is a German city in a time of global war, In Mr. Lublin's Shop is also an important Jewish literary reaction to urbanization, modernity, and nationalism, and their effects on people's lives and minds. Agnon begins this unusual novel with a short preface in which he recalls a midrash, a rabbinical extrapolation. The midrash tells the story of a scholar who has been rewarded with a remarkable gift: the knowledge and comprehension of all the interpretations of all times on the Hebrew Bible. The author asserts that like the ancient sage, he too, during a few hours of sitting in Mr. Lublin's office, was enlightened and managed to comprehend the whole course of Jewish and non-Jewish modern history. He offers this novel as an account of his inspired hours at this fictional place, when he could finally understand the tragedy of Jews and non-Jews in the modern world. While the setting of the novel is Leipzig of World War I, In Mr. Lublin's Shop offers much more than Agnon's impressions of Leipzig and its people during the period. This seminal work gives expression to Agnon's opinions on modernity and its disruptive effects on Jews and Germans as well as on the relationship between the two peoples. Agnon sees modernity and the national German movement as causing a breach in what on the whole had been a workable, if not harmonious, relationship between Jews and Germans. The book deals at length with the universal confusion and destruction brought by the war and, more importantly, albeit less overtly, with the loss of purpose and direction that modernity has brought about among Germans and Jews.
1 2
On Agnon's life, see Dan Laor, Haii Agnon [Agnon's life], Tel Aviv 1999. Shmuel Y o s e f Agnon, BeHanuto shel Mar Lublin [In Mr. Lublin's Shop], Tel A v i v 1975. In 1993, eighteen years after the appearance of the Hebrew edition, the Leipzig based publisher Kiepenheuer issued the first German edition of this 'Leipzig novel': Schmu'el Josef Agnon, Herrn Lublins Laden, Leipzig 1993. This was followed by a paperback edition Fischer, Frankfurt a.M. 1997. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 275-292
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In Mr. Lublin's Shop deserves special attention because, among other things, it offers an important Jewish response to the end of Jewish life in Germany and to the Holocaust. Agnon's Germany is a nation that has hosted Jews in its midst for over a millennium, for the most part treating them kindly. It turned against Jews, but not before it turned against its own heritage and true nature, harming itself in the process. Agnon's analysis of the cause of the rift between the two people, although carrying a restrained sadness, is devoid of anger, and stands in contrast to more harsh Jewish analyses of the German responsibility for the Holocaust.3 The novel signifies a change of heart on Agnon's part, too. In an earlier novel on his time in Germany, Ad Hena (Until now), written during and immediately after the Holocaust, his feelings towards Germans were less generous, betraying an element of bitterness.4 In this latter novel, on the other hand, Agnon gives the Germans as individuals and as a people a clean bill of health. Their unfortunate behavior during World War II did not result from any inherent bad character. That they were sick was not their fault; they caught a virus that affected everybody. In the last analysis they were victims, too. Agnon sees modernity as having similar effects on Germans and on Jews. Both people have been at their core decent, hard working and well meaning, and he does not blame either people, or groups within them, for straying from the right path. They are all tinokot shenishbu, innocent people unaware of the long-term destructiveness of their decisions. Agnon touched in this novel on major features of the Jewish and German encounters with modernity, and his impressions of the tragedy of German and Jewish histories. Although Agnon was not an historian or a sociologist, his unique and insightful perspective on the course of Jewish and German histories is worth noting.
The Scene: A Surreal Leipzig In In Mr. Lublin's Shop, Agnon places himself, in addition to being the author, in two positions. He is the protagonist-narrator-philosopher, who shares with us his reflections; an older Agnon with a mature perspective on life. He is also the young and naive protagonist of the novel's official period, World War I. The book is clearly a work of fiction and does not shy from utilizing the supernatural to create its scenes and situations. At the same time the novel is presented as an autobiographical account: the author sharing his experiences and thoughts with his audience, either as an intelligent but naive young man, or as an experienced, reflective and analytical narrator - the author as an alleged protagonist.5 3 4
5
For example, Daniel Goldhagen, Hitler's Willing Executioners, New York 1996. S. Y. Agnon, Ad Hena [Until Now], Tel Aviv 1952. Cf. Hillel Weiss, Notes on the Holocaust in Agnon's Work, in: Nativ 5 (1997), 55-65; Hillel Weiss, Until Now [Ad Hena] by S.Y. Agnon as a preface to the Holocaust, in: Criticism and Interpretation, Winter 2002, 111-146. On Agnon's manner of presenting the narrator and its origin, see Malka Shaked, Wrinkle in the Skin of the Sky. Webs of Connections in Agnon's Fiction, Jerusalem 2000, 13-27.
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Agnon first came to Leipzig in 1917, to be near family members while recuperating from an illness and regaining his strength. While initially unenthusiastic about the place, Agnon came to like the city and its inhabitants, preferring it to what he saw as the huge and harsh Berlin. He made friends in the city, engaged in conversations with people of all walks of life, and carried on bibliographical and literary work.6 The Leipzig of World War I was home to thousands of Jews whose origins were in Agnon's old country, Galicia, the Austrian part of Poland. Together with Jews from other parts of Eastern Europe, first, second, and third-generation Galician Jews made up the majority of the Jewish population in the city. The choice of Leipzig as the place where Agnon "came to understand it all" is therefore not accidental. Leipzig, more so than other major cities in Germany was an ideal laboratory for examining the effect of the encounter of Eastern European Jews with modern German culture over a number of generations. Leipzig, more than other cities, was also Agnon's choice to make his point about the fundamental goodness of Germans. He remembered the city and its inhabitants fondly, and his memories of his stay in the city provided him with an ideal locale in which to dramatize the effect of modernity on Jews and Germans in a sympathetic yet critical manner.7 In that respect, In Mr. Lublin's Shop should be read as a novel mirroring urban life. Robert Alter pointed out that at the turn of the 20th century "the kinetic and disorienting reality of the new 19th-century urban scene" changed the modes of writing from naturalism to impressionism and symbolism.8 By turning to a poetic kind of prose, authors could express a wide, at times contradictory range of experiences. A number of authors began offering not realistic maps of cities, but portraits of urban scenes as reflecting human consciousness. Agnon's Leipzig certainly falls into that category. Agnon needed to find a way to compare and contrast different generations of Germans in their relation to Jews. For that purpose he created a fictitious as well as surreal collection of characters whose biographies are in the realm of the imaginary, yet make perfect sense within the framework of the novel. The events of In Mr. Lublin's Shop take place in a surreal office and its adjunct shops and workshops where Germans of different generations carry on their work. Mr. Lublin, a mail order merchant, has an office and not a shop front, which comes to explain why the author is asked to "guard the shop" instead of the owner, and why the narrator could spend the time quietly on his own in Lublin's office with no interruptions, reflecting on the course of Jewish and German histories. The novel blends the real and the surreal and turns the imaginary into reality.
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On Agnon's first stay in Leipzig, see Laor, Haii Agnon [Agnon's Life], 110-116; cf. S.Y. Agnon - S. Z. Schocken, Hilufe Igrot [ S.Y. Agnon - S.Z. Shoken, An Exchange of Letters], Tel Aviv 1991,39-92. On the Leipzig Agnon encountered, see Yaakov Shavit, Belro Shel HaSoher MeLublin [In the City of Mr. Lublin] in: Makom Aher 101 (2003), 106-112. Robert Alter, Imagined Cities. Urban Experiences and the Language of the Novel, New Haven 2004.
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Yaakov Artel
Agnon offers some lively descriptions of the Leipzig of World War I. Even during the war, the Central European coffee shop culture continued, albeit in a subdued manner and with second-rate ingredients. Gottschedstraße today the heart of the city's night life was at that time an elegant shopping street with jewelry shops. The Gewandhaus-Orchester, Leipzig's internationally acclaimed symphony orchestra, pursued its performances, and bookshops continued to buy, catalogue, and sell books. Yet the atmosphere in the city was far from joyful and Agnon does a good job in portraying the depressing effects of the lingering war. He also offers tragi-comic descriptions of the atmosphere of blind patriotism, which prevailed in the city, oblivious to the destructiveness of the war. Like other novels and short stories Agnon has written, it carries a "gothic" atmosphere. 9 One group of people who are different and represent older, more sane Germans are Mr. Lublin's neighbors, but they are not ordinary citizens of their time. Agnon wished to introduce the readers to non-contemporary, pre-modern Germans, and to confront the older Germans with their modern great-grandchildren. For that he has constructed a cluster of shops and workshops that surround Mr. Lublin's office, and are more in the realm of the imaginary than a real place. 10 The narrator justifies the unusual location by explaining the nature of Mr. Lublin's business: his is not a storefront business or a conventional office that needs to be in a fashionable part of town. Clients or patrons do not visit the office as it sells its merchandise through the mail. The location of Mr. Lublin's office serves a few purposes. Creating a magical atmosphere, the fictitious compound houses shops and workshops from pre-modern times where craftsmen continue to produce artifacts using pre-industrial methods. The small-town social atmosphere of the place as well as its slow past create a pastoral and at the same time surreal and gothic scene. Agnon utilizes the colorful fairytale-like life stories and personalities of the German craftsmen to pass judgment on their modern descendants and demonstrate the destructive impact of modernity on Germans and consequently on their relations towards the Jews. At the same time, the unusual location and surreal atmosphere of Mr. Lublin's office is a statement in and of itself. It is a demonstration against the urban industrial and anonymous setting of the modern city. The narrator notes that after the GermanFrench war and the unification of Germany in 1870, many older houses were destroyed in Leipzig. By buying this strange collection of workshops and establishing his business there, Lublin saves a piece of the older city and with it some of its lost culture, which the author considers to more innocent, well-meaning and humane than that of the Great War era. The author views the unification of Germany as a destructive act. Instead of fighting small wars among themselves, he depicts the Germans as currently fighting a total war against a series of foreign nations. Their
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Cf. Arnold J. Band, Nostalgia and Nightmare. A Study in the Fiction of S. Y. Agnon, Berkeley, Calif. 1968, especially 54-125. Agnon created surreal circus-like "crazy" scenes before. For an analysis of the surreal elements in Tmol Shilshom [Only Yesterday] see Sidra Dekoven Ezrahi, Sentient Dogs, Liberated Rams, and Talking Asses. Agnon's Biblical Zoo, in: AJS Review 28 (2004), 105-136.
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imperial agenda, he argues, ultimately led to the Great War and the disintegration of the good relationship between Germans and Jews. Differentiating between the craftsmen in the old cluster of shops, who in the author's eyes are conscientious and decent, and the shallow and ultimately destructive modern Germans, the author makes his point: Jews had been safer among pre-modern, pre-industrial, and prenationalist Germans. Mr. Lublin's shop thus serves both as a metaphor and as a scenery where a changeof-time drama is being performed. Much of the novel's content however takes place outside of the compound of Lublin's shop, allowing readers opportunities to look into the lives of Germans and Jews of the period in the larger Leipzig community.
The Jews of Leipzig The author presents a series of personalities that represent different social milieus and cultural options among German Jews. Mr. Lublin himself is one such person. Initially, an Eastern European Jew, who arrived in Leipzig as a child from the author's hometown in Galicia, Lublin's biography and character stand for more than just the man Lublin. It is the story of the move of Jews from traditionalist premodern values and ways of life to the modern German urban setting, its opportunities and dangers. Within that framework, Arnold Lublin, whose original name was Aaron, represents secularized, prosperous, and acculturated German Jews. Immigrating to Germany as a child and marrying an indigenous German Jewish wife, Lublin is both an Eastern European Jew who Germanized and a German Jew going through a process of acculturation, and moving up the socio-economic ladder. Advancing from an itinerant peddler to a prosperous merchant, he represents the process of modernization and acculturation of German Jewry. In line with the middle class German demand for Bildung, Lublin immersed himself in German bourgeois culture and became a patron of the arts. He does not miss the old world and has done everything he could to become German." The German heritage is closer to his heart than the Jewish tradition. He bought unfashionable property in the older section of Leipzig in order to safeguard and preserve German history and architecture, but had no interest in Jewish texts and thought. The author offers the following observation: "Mr. Lublin was a German citizen and he saw himself ... as a German holding to the religion of Moses. There was not much of the religion of Moses in Lublin, but a German he was with all his heart."12 Had Lublin thought that being Jewish and German were incompatible, he would have left Judaism altogether.13 But the War gives him reason to be optimistic about the integration of Jews into the German nation. "Now that the Germans see how dedi-
" A g n o n , In Mr. L u b l i n ' s Shop, 30. 12
Ibid., 14.
13
Ibid.
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cated the Jews are to the German cause they will fully accept us," he asserts.14 In his vision of Jewish life in Germany, as in other realities, Lublin serves as a paradigm for German Jews in general. Agnon idealizes the history of Jewish life in Germany and sees Germans as having treated Jews decently. However, in his view, Jews are Jews, and Germans, Germans. Good Germans are Christians and it is in the best interest of Jews that Germans remain faithful to their ancestral religion, which has provided them with a moral compass. Likewise, it was in the best interest of Jews to remain loyal to their heritage, albeit such an option became almost impossible. Agnon is overt in his dissatisfaction with the proponents of acculturation. Representing an ideal type of a Germanized Jew, Lublin is a case in point. Lublin started his life as a traditionalist Jew and was certain at first that he could acculturate and make his way into German society, while at the same time remain committed to the faith of his parents. This has not been the case, and Lublin's connection to Judaism turned out to be minimal. An honest and resourceful entrepreneur, a devoted husband and father, a decent and even generous employer, a responsible citizen, self educated and cultured, Lublin is a highly sympathetic human being, almost an exemplary person. However, he has not "guarded the shop," showed no interest or devotion towards his Jewish heritage and did not provide his children with a Jewish education. His acculturation into German society had taken precedence over preserving his Jewish identity. The author does not blame Lublin, whom he portrays in more than appreciative terms. In sad and ironic undertones he points to Lublin's miscalculations. The Germans of Lublin's courtyard, whom he assisted and protected, and who appreciated the efforts, had no influence on modern nationalist German society; they represented the Germany of yesteryear, and the modern Germans that Lublin expected to appreciate his efforts would come to reject him. In Mr. Lublin's Shop examines other social circles among Leipzig's Jewry, including the Orthodox. Agnon decided to contrast the values and choices of the highly acculturated social milieu of Lublin with that of their opposites within the Jewish community: the separatist Orthodox. Before coming to Leipzig, the narratorprotagonist befriends in Berlin a separatist Orthodox rabbi from Leipzig, the rabbi of Kehal Yereim, Community of the Fearful, those who profess to be utterly obedient to God. The narrator allegedly comes to Leipzig from Berlin to study with the rabbi, but does not become the rabbi's disciple, follower, or admirer. A student of Jewish traditional texts, he finds the Orthodox rabbi a buddy with whom he can be engaged in discussions on texts that interest them both. The rabbi represents more than an individual rabbi with whom the narrator studies the Talmud, and the author makes it clear that the rabbi's halachic rulings disappoint him. The nature of his rabbinical ministry serves for Agnon to express his dissatisfaction with rigid forms of Orthodoxy, which he considers to be a distortion of the authentic spirit of Judaism. The rabbi's spiritual leadership stands in contradiction to what the author considers to be the true spirit of Judaism. Like the names of all the persons introduced in the novel,
14
Ibid, 151.
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the rabbi's name, "Rabbi Jonathan," is suggestive.15 Representing a reactionary conservative Jewish response to modernity, Rabbi Jonathan's ministry is a perversion of that of the historical Rabbi Jonathan, the first-century sage.16 In spite of differences in character, such Orthodox Jews as Rabbi Jonathan and his disciples are not unlike the acculturated Jews who have moved away from the faith of their fathers. Both are oblivious to, and distort a humane and spiritually uplifting Judaism that has been created throughout long centuries. Mr. Lublin's name, too, does not convey what it stands for, as the German-Jewish merchant represents the opposite of Lublin, the spiritual center of Polish Jewry, with its courts of pious tsadikim. Likewise, the contemporary Rabbi Jonathan of Leipzig thinks and acts in a manner that is the opposite that of Rabbi Jonathan, the disciple par excellence of Hillel the Elder, a pillar of an accommodationist liberal school of the rabbinical tradition, who made the Torah more accessible to Jews through the translation of the sacred text to Aramaic. Agnon's understanding of the course of Jewish history resembles that of Jacob Katz, whose writings became available to the public mostly after Agnon's death.17 Orthodoxy as presented by Agnon is not a legitimate heir of pre-modern Judaism and does not carry its agenda, to help Jews live decent lives among the nations while maintaining their tradition. Kehal Yereim and its rabbi represent a Judaism that deviates significantly from the spirit of traditional Judaism by building a rigid, reactionary, often impractical and at times even inhumane interpretation of Judaism. The narrator is seemingly non-judgetamental, but the readers can easily detect his feelings. Like Mr. Lublin, Rabbi Jonathan is a conscientious and hard working person, and like his secular acculturated counterpart he has little or no idea of how history is about to mock his choices. While Mr. Lublin is willing to give up on Jewish observance for the sake of admittance into the German mainstream, Rabbi Jonathan is giving up on human values for the sake of Jewish observance. Both are unrealistic in their different ways and both are contributing to the polarization, if not the demise of Judaism. While Agnon highly disapproves of Rabbi Jonathan's ministry, he treats the rabbi with respect, a far cry from Agnon's portrayal of the yereim or haredim in Tmol Shilshom (Only Yesterday), his earlier major novel on a similar theme.18 In Only Yesterday, Agnon portrays ultra-Orthodoxy and its proponents as repulsive and does not hide his assessment that separatist Orthodox Jews were leading a life that was decisively less commendable than that of the secular Palestinian Jews. Agnon's
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As a rule, every word and sentence in Agnon's stories and novels is there for a purpose. Cf. Leah Goldberg, The Art of Writing a Story, Tel Aviv 1966, the chapter: "On a Different Attitude." On the original Rabbi Jonathan, see the entry "Jonathan Ben Uzziel," in: Jewish Encyclopedia, vol. 7, New York 1904, 238. Cf. for example, Jacob Katz, Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation, 1770-1870, Cambridge, Mass. 1973. S. Y. Agnon, Tmol Shilshom, Tel Aviv, 1946. [English translation: Only Yesterday, German translation: Gestern, Vorgestern]
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point of view changed throughout the years, and Rabbi Jonathan is a more decent human being than Rabbi Grunem Yakum-Purkan, who represents ultra-Orthodoxy in Only Yesterday. His more presentable personality notwithstanding, in the author's view, Rabbi Jonathan too advocates a distorted sense of Judaism, as well as an inhumane attitude. The narrator witnesses an event which he recounts in a seemingly dispassionate and neutral manner, providing the facts and letting the readers reach their own conclusions. 19 He hears the details from Rabbi Jonathan himself who recounts them with stern conviction and even pride. A woman has come with a she'ela, a question for the rabbi, asking for Rabbi Jonathan's rabbinical halachic advice. The woman had not heard from her husband, who had been drafted into the army and assigned to a combat unit, where he served uninterruptedly for over a year. Worried over his fate, the young bride, who stayed behind in a small town near Leipzig to run the family business, wrote letters to the army authorities inquiring about the fate of her husband. It took awhile for the army bureaucrats to answer her letters of inquiry and by the time those letters arrived, reassuring her that her husband was alive and well, he himself arrived unexpectedly for one week of leave at home. Since she had not been to the mikve, the ritual bath that month, in which she was commanded to immerse seven days after menstruation, the surprised wife left her husband alone in the house and spent the night at a neighbor's home. She neither wished to disobey the law nor put her husband's passions on trial. In the morning she took the train to Leipzig to immerse in the ritual bath. Agnon crafts with great skill and subtlety a story of a loving wife and husband who give upon spending the little time they are allowed together in the midst of the war, as well as deprive themselves of the only too natural pleasures of a young loving couple. The story continues further unfolding absurd rabbinical rulings. The young lady goes to the ritual bath but then, realizing that "there is no guarantee that she would arrive on time at her town before the Sabbath," 20 goes to Rabbi Jonathan's home in Leipzig to ask him if she is allowed to take the train home or should she stay in Leipzig for the duration of the Sabbath. Trains have a reputation for departing and arriving late and she may find herself on the train when the Sabbath arrives. The rabbi is pleased with the lady's obedience to tradition. "There are no better women than pious Jewish women," he exclaims. The rabbi advises the young wife that since she is not required to make love to her husband, but is required to observe the Sabbath, she should therefore remain in Leipzig for the Sabbath. Her husband, who had not celebrated the Sabbath nor made love to his wife for a year and a half, remains alone at home. The inhumanity of this rabbinical ruling is evident and one is left wondering if it was piety or naivete that brought the young bride to ask for the rabbi's learned opinion. The disregard of a well meaning rabbi to human needs becomes even more frustrating when Agnon offers us one of his subtle hints to alert us
19 20
Agnon, In Mr. Lublin's Shop, 48-51. Ibid., 50f.
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that the rabbi's ruling was erroneous even from a traditional halachic point of view. Jewish law, as understood even by contemporary Orthodox authorities, allows Jews to travel on Friday when the normal schedule of transportation gives reason to believe that they can arrive at their destination before the Sabbath. 21 Moreover, since the travelers have no control of the vehicle in which they are driven or flown, they are in the category of captives and are exempt from responsibility for violating Sabbath laws. The rabbi also overlooked the mitsvah, promoted by Jewish mystics, for men and women to make love on the Sabbath. 22 This is not the only time that Rabbi Jonathan offers a draconian non-compromising interpretation of Jewish law that departs from traditional norms. His attitude towards the Saltzmans is a case in point. While the Saltzmans and Lublins rubbed shoulders with each other, being part of the same social circles, Mr. and Mrs. Saltzman have taken a very different attitude towards the Jewish tradition than the Lublins. They tried to be loyal to the Jewish tradition at the same time that they lived worldly modern German life. Their son's name, Moritz Ernest, signifies a mixture of Jewish and universal values. The Saltzmans participated in and contributed to Jewish institutions, including Orthodox synagogues, while keeping their business, a chain of fashionable coffee shops, open on the Jewish Sabbath. The actual work on the Sabbath was done by non-Jewish employees who accepted money from non-Jewish customers but not from Jewish ones. The latter settled their accounts after the Sabbath. Many observant Jews made such business arrangements, especially in Central Europe. Their commercial interactions were not limited any more to a Jewish clientele within the confines of exclusive Jewish towns or neighborhoods. Closing shops on Friday evenings and Saturdays and Jewish holidays, could cause such enterprises to lose their licenses to conduct business, not to mention bankrupt them. Rabbi Jonathan does not accept the Saltzmans' via media, which attempts to amalgamate Jewish observance with worldly pragmatism. He advocates a rigid approach that expects Jews in modern times to show less flexibility and adaptability than in previous generations. His vision of God is that of a stern and revengeful Deity, the God of Moses and Joshua rather than the God of Hillel and Jonathan. "What does the Torah tell us [about God]? The great and mighty and terror-inspiring God, who will not yield, or be appeased," the separatist rabbi declares. 23 The rabbi does not spare himself. He sees it as his duty to accompany a certified ritual slaughterer, to supervise the slaughtering of one cow, a procedure that takes an entire day. Agnon's literary repertoire includes numerous stories on shochtim, ritual slaughterers, whose daily work has been done for centuries without rabbis looking over their shoulders each time they slaughter an animal. 24
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22 23 24
Such a ruling goes back to the Middle Ages. See Moshe Ben Jacob of Coucy, SeMaG: Sefer Mitzvot haGadol [The Large Book of Jewish Law], Venice 1522. Gershon Scholem, Elements of the Kabbalah, Jerusalem 1977. Cf. Agnon, In Mr. Lublin's Shop, 104. Cf., for example, S. Y. Agnon, Taharich Shel Sipurim [A collection of stories], Tel Aviv 1986, 154-156.
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The difference between the mishnaic Jonathan and the modern Jonathan is striking. While the original Rabbi Jonathan helped make the tradition more accessible to the Jewish masses, the twentieth-century Rabbi opposed compromises of any kind, turning observant Judaism into an option that very few could accept. As the protagonist-narrator sits in Mr. Lublin's office he invokes another rabbinical sage, this time the greatest of all, Rambam, Maimonides. According to the novel, it was during Maimonides' yahrzeit, day of remembrance, the twentieth day of Tevet, that the long hours of the narrator's stay in Mr. Lublin's shop took place. Jews have looked upon Maimonides as more than a biblical commentator and an authoritative codifier of the Jewish law. Maimonides is remembered as his generation's guide and counselor, telling perplexed Jews how to cope with the overwhelming issues of the time as well as cut a balance between cultural continuity and physical and mental well being. Maimonides has also been remembered as a proponent par excellence of the via media, and the thinker who brought Jewish thought to mesh with Muslim philosophy of the period. Agnon looked upon Maimonides as his supreme guide and authority throughout Jewish history. In this novel, he concludes that there is no modern Maimonides, who can offer the kind of balance between contemporary culture and Jewish tradition and guide Jews how to live among or alongside nonJews in peace and harmony. But even if such a figure emerges, ultra-Orthodox Jews on the one hand and secular Jews on the other hand would not accept his advice.25 The narrator concludes that his generation has only rabbi Jonathans in reverse: overzealous, reactionary Orthodox rabbis who separate Judaism from the general culture. On that day, the yearly day of remembrance for Maimonides, the narrator guards Mr. Lublin's shop on his own. He sees himself as the only Jew who is loyal to and yearns for the lively, inspiring, and balanced Judaism, the via media, personified by the teachings of Maimonides, which in his view has existed before modern times.26 The author's revelation during his stay in Mr. Lublin's shop is the realization that there is no way of overcoming the breach that modernity has caused in the lives of the Jews. No Guide for Our Generation's Perplexed is available in modern times when rabbis such as Rabbi Jonathan are writing books of a very different character and the Mr. Lublins of our time do not bother to read the Great Eagle as Maimonides was called The Rambam's wisdom, which had informed and sustained the Jews for centuries, had become irrelevant, if not forgotten. Maimonides died in Cairo in 1204, but the relevance of his works faded out with modernity and his memory had become meaningless in the Leipzig of in 1917. Agnon is subtly ironic and at the same time sad when he describes the fate of Judaica books that children cast away when their parents die. They donate them to synagogues, but the Orthodox have not more use for the Jewish classics than acculturated Jews. At the end, the Jewish books reach non-Jewish book dealers, collectors, scholars, and libraries. The Jews have forfeited their heritage.
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Cf. Paul Mendes-Flohr's work in progress on 'Maimonides Throughout the Ages'. On Agnon's relation to Maimonides, see Laor, Agnon's Life, 21.
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Agnon pays little attention in this novel to the small but thriving moderate German Orthodox community, which made up about 20 percent of German Jewry at the time of World War I. Aimed at observing the Jewish tradition at the same time that they embraced European culture, hundreds of German Orthodox men obtained both doctoral degrees and rabbinical ordination. Unlike their Eastern European Orthodox brethren, German Orthodox Jews did not dress differently from the German bourgeoisie. The men dressed like other middle class men, shaved their beards, and took their hats off when entering buildings; the women dressed in fashionable clothes and hats, uncovering their hair inside homes and offices. The ideal of German Orthodoxy was going to the synagogue on Saturday morning and to the theater, or the opera, or the concert hall, on Saturday night.27 Numerous members of Agnon's social circle, including his wife, Esther Marx, came from that community, and he took keen and sympathetic notice of this unique German Jewish subculture in Shira, a book he wrote in the 1940s-1950s, that concentrated on the German Jewish emigres in Jerusalem, at which time German Jewish Orthodoxy was almost gone.28 In In Mr. Lublin's Shop, the Saltzmans represent the German Jewish attempt to create a via media between the Jewish tradition and the demands of life in the modern world, but Agnon makes it clear that such an option was unacceptable to the majority of Jews and virtually died out with the collapse of German-Jewish equilibrium. Dismissing the via media was essential for Agnon to make his point. The major options for Jews in the face of modernity entailed, in one way or another, negation of Judaism and its spiritual and intellectual achievements, either by abandoning it altogether, or by turning it into a caricature of its former self. In Only Yesterday, Agnon does not mention his admired rabbi Abraham Isaac Kook.29 It would have interfered with the polarized dichotomy he came to portray.30 There was, however, another reason for Agnon's overlooking what he considered moderate, humane, and at the same time worldly forms of Judaism: the time and place in which he wrote the book.
Leipzig or Jerusalem? This leads to the actual theme of In Mr. Lublin's Shop. In this novel, the author despairs from the choices that modernity had presented the Jews. He sums them up as a choice between giving up on the Jewish tradition in favor of the general culture, or creating a rigid and inhumane Jewish environment. In doing so, Agnon related to
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On German Orthodoxy, see Mordechai Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich, 1871-1918, Frankfurt a.M. 1986. S. Y. Agnon, Shira, Tel Aviv 1970. On Agnon's feelings towards Rabbi Kook, see Agnon's eulogy in: idem, MeAtzmi el Atzmi [From Myself to Myself], Tel Aviv 1976, 181-192. I owe thanks to Prof. Elhanan Reiner of Tel Aviv University for pointing that out to me.
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Jewish realities of Israel of the 1960s no less than Leipzig of the 1910s, where in fact, different from the depiction in the novel, Maimonidian forms of traditional Judaism, which aimed at amalgamating the best of Judaism with the best of European culture, did exist. One must conclude, that although the novel unfolds in Leipzig of World War I, it represents Agnon's opinions, at the time he wrote the novel, on the effects of modernity on Jews and non-Jews everywhere. He choose Leipzig as the locale of the novel in order to offer a broad perspective and make the claim that modernity destroyed an equilibrium that Jews had maintained between their neighbor's culture and their particular heritage, and caused a breach in Jewish history, putting in danger its survival and continuity. In Leipzig of the 1910s, Jews gave up on either their Jewishness, or their humanity, in an attempt to preserve one or the other and at the end of the day failed miserably in attaining those goals. The book was written in Jerusalem of the 1960s, when German Jewish Orthodoxy, as well as other forms of moderate acculturated Judaism, were fading away if not gone completely. The children of German Orthodox Jews who emigrated to Palestine or America either secularized or joined the ranks of Eastern European Orthodoxy. The conservative movement had not yet established its presence in Israel, and the movement of Return to Tradition, which brought thousands of secular or liberal Jews to take interest in the Jewish tradition and make a commitment to live an observant Jewish life, had not yet made its impact. 31 In order to fully appreciate the meaning of In Mr. Lublin's Shop, one can take a comparative approach and place the novel within Agnon's larger corpus of writings. In Mr. Lublin's Shop serves as the culmination of Agnon's seminal novels: The Bridal Canopy (in German: Bräutigamssuche), A Guest for the Night (in German: Nur wie ein Gast zur Nacht), and Only Yesterday. There is a direct connection between these four novels, and they should be read in sequence. In The Bridal Canopy, Agnon portrays pre-modern, pre-emancipated Eastern European Jewish culture as solid and cohesive. The Jewish tradition: its sacred texts, laws, and customs, as well as spirituality and ethical teachings, served as the basis for social norms and governed day to day life. At the same time, Agnon writes about traditional Jewish society from an ironic distance. He does not advocate return to pre-modern times and is fully aware that there is no turning back. In A Guest for the Night, Agnon visits again the Jewish small towns of Eastern Europe and finds them physically and spiritually bankrupt. Instead of the wholeness and cohesion of older times, he encounters a fragmented and depressed Jewry, cut from its roots and with little prospect for creativity and prosperity. Simon Halkin saw A Guest for the Night as a seminal novel which epitomizes Agnon's ideas and serves as a key to the author's views on the course of Jewish history. 32 Together with the other three seminal novels, this is certainly the case. 31
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Cf. Yaakov Ariel, Judaism in the Age of Aquarius, in: Religion and American Culture 13 (2003), 139-165. Simon Halkin, On A Guest for the Night, in: S. Y. Agnon, Essays on His Works, ed. by Hillel Barzel, Tel Aviv 1982, 186-209.
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Only Yesterday points out that Agnon did not view Zionism and immigration to Palestine as a solution to the breach in Jewish history.33 In Palestine, too, Jewish life is not whole and Jews are torn between living in their ancestral country "as all other nations" and remaining loyal to their heritage. In Only Yesterday, modernity is presented as a haunting, lithely biting dog, and the protagonist is torn to the point of madness and death between impossible polarized options he faces in Jewish Palestine of pre-World War I.34 In Mr. Lublin's Shop follows in the footsteps of Only Yesterday, which focuses on the impossible dilemmas of Jewish life in the modern era. In both novels modernity offers Judaism a cruel choice: a distorted and even prevented interpretation of Judaism in the form of rigid, humorless, and inhumane Orthodoxy, or giving up on the spiritual and intellectual richness of the Jewish tradition altogether. Both novels come to show that the Maimonidian balance that had existed, at least partially, in pre-modern times is not available any more. In In Mr. Lublin's Shop, Agnon carries this line of thought one step further. In Western cultures, just as in Eastern European countries or in Palestine, modernity does not allow Jews to live wholly as Jews. In fact, modernity, and not physical persecution, may ultimately cause the demise of Judaism. It would be helpful to read a series of interviews Agnon gave to Geula Cohen, a journalist for the Israeli daily Maariv, at the time he was writing the novel (19631966). Agnon complained about the complete lack of knowledge of the Jewish tradition among Israelis.35 Like other members of his generation he had not realized, when taking an active part in the creation of a modern, mostly secular, Hebrew culture in Palestine, the extent of the breach that would take place between Hebrewspeaking Israelis and their Jewish roots. Agnon wrote In Mr. Lublin's Shop in Israel of the 1960s, feeling that he - to speak metaphorically - was alone in guarding the shop. Few, like him, were fully open to and familiar with both European culture and Jewish texts, and in his own eyes, he was one of the last Jews to cut a balance between the two worlds and to maintain an observant Judaism that goes hand in hand with an open-minded humanistic world-view. The bitter divisions in Israeli society and culture that would polarize the country at the turn of the 21st century were only building up in the 1960s, but Agnon was reading the writing on the wall. While mostly living his life within secular Israeli society, Agnon put a yarmulke, a round symbolic head cover, on his head to signify his commitment to Jewish tradition, and spent much of the latter years of his life writing compilations of Jewish lore and wisdom that came to offer knowledge of the Jewish tradition and point to its richness and beauty.36 During his stay in Leipzig, while attached to Jewish texts and
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Although his own choice was living in Palestine. See Agnon's letters from Leipzig, S. Y. Agnon, My Dear Esterline, Tel Aviv 1983, 180-213. Todd Hasak-Lowy, A Mad Dog Attack on Secularized Hebrew. Rethinking Agnon's Temol Shilshom, Prooftexts 24 (2004), 167-198. Agnon, Answers to Geula Cohen, in: Maariv, 15 February 1963; 27 September 1964; 15 February 1966; reprinted in: From Myself to Myself, 421^428. Cf. S. Y. Agnon, You Should See, Tel Aviv 1959.
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scholarship, Agnon was not observant, but changed his mind in 1924, reaching the conclusion that observance of the Law and a regimen of prayer are essential for preserving Jewish life. He himself wandered between the two worlds, and the theme of moving between the two cultures is central for Agnon. This theme reached its peak in Only Yesterday, where the protagonist, Itshak Kumar, could not find a home for his soul and peace of mind in either the secular or Orthodox communities and ultimately went crazy and died, following a dog bite, symbolizing the lethal craziness brought about by the rootlessness caused by modernity. In Agnon's view, Jews, even in the Land of Israel, were turning their backs on their tradition in spite of the wisdom, moderation and creativity it could offer, in favor of a worldly and alluring secular culture. In a somewhat different manner, the same has been true for non-Jews, with especially devastating consequences for Germans, and for German-Jewish relations.
Germans and Jews While Only Yesterday focuses on the effects of modernity and secularization among Jews, In Mr. Lublin's Shop also focuses on the effects of modernity on non-Jews and on the relationship between Jews and non-Jews. In Agnon's view, modernity has created havoc among non-Jews just as much as among Jews, devastating their sense of cohesion and security. Worse still, modernity has ultimately created unprecedented and irreversible destruction in the form of World War I and the collapse of an age old equilibrium that existed between Jews and Germans. The breach is therefore tripled: within the religious-ethnic communities, in the relationship between the different communities, and in the international arena, where Germany was launching a futile war that brought a calamity on herself as much as on her neighbors. To illustrate the difference between pre-modern Germans and modern ones, the writer contrasts the figures of Old Hennings and his great-granddaughter, the charming and seductive Greti Hennings. Both live their lives in Leipzig, but belong to very different social circles. Old Hennings is a relic from a pre-industrial Germany and views the new political and cultural climate with suspicion. His great granddaughter, on the other hand, is a fashionable modern young woman. In spite of his incredible old age, old Hennings, a knife-sharpener of the old school, is sharper than his more educated great-granddaughter. Whereas the old man opposes the war, the great granddaughter writes shallow patriotic war poems. Unlike her great-grandfather, she oversteps what the author considers necessary boundaries: inviting herself into a young but foreign man's rooms at night. Agnon utilizes bitter irony in pointing to the actual reasons why Jews and gentiles engage in or oppose intermarriage. Such considerations have nothing to do with what should be the real concerns: the preservation of an ancient culture. Gentile women were interested in marrying Jewish men in order to promote their social status. The men were better educated and more affluent than the gentile men they could hope to marry. For that reason, acculturated Jews, such as Mr. Lublin, were
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less than happy with the prospect of non-Jewish daughters-in-law. They were not interested in their sons' marrying women whose manners and tastes were that of the working class. On the other hand, when young Germans showed interest in the Jewish tradition, the rabbis were reluctant to convert them and allow them to enter the Jewish community.37 Agnon portrays a somewhat ideal picture of the relationship between Jews and Germans in pre-modern times. He utilizes the supernatural to make his point, sharing with the readers a dream about a visit to Charlemagne's camp. 38 The Frankish king offered his protection and appreciation to the Jews who settled in his kingdom. In the author's view, a precondition for such a symbiotic relation was the loyalty of each group to its heritage and its faith. Agnon compares loyalty to one's heritage to the faithfulness of a man to his beloved. "There is no reason for you to assume that another woman would be any better," he asserts.39 Falling in love with a woman of another faith signified to Agnon a transgression. It means the abandonment of the Jewish identity and moving away into another life. Ideally, for him, there should be clear boundaries existing between the communities, each of them observing their own customs and respecting their religious leaders and texts. Agnon builds symmetry between the Jewish and Christian faiths, demonstrating a great amount of respect towards Christianity and towards Christians. Leaders of the religious traditions had supernatural powers within their own communities. When Christian Lemke, scion of a long line of Lutheran pastors, turns his back on his parents' faith and values, and runs away from his parents' home, joining a dubious wandering theater, and gets attached to someone else's mistress. His father, a Lutheran pastor, curses him and in doing so, puts a spell on him, which ensures that Christian's secular career would remain a failure. Lemke turns away from his parents' ancestral faith and ends in a morally and socially pervert and unstable environment. Judging Germans on their own terms, Agnon utilizes a classical German Bildungsromance, Goethe's Wilhelm Meister''s Apprenticeship (Wilhelm Meisters Lehrjahre). While he follows Goethe's outline, the personalities and developments described in In Mr. Lublin's Shop are meant to show the opposite of their original literary meaning. Lemke and Wilhelm adventures end in very different physical and moral results. Like Wilhelm, Lemke matures as a result of his rebellious adventures, but it is his complete failure that taught him a lesson. The choice of a grotesque theatrical environment to illustrate the German tragedy of turning away from traditional Christian and civic values in favor of a dangerous and harmful escapade is not accidental. In Agnon's opinion, under the effect of modernity and brutal nationalism the Germans turned their back on the Christian faith as well as their true nature and became morally bankrupt. In that, Agnon offers his interpretation on the Nazi experience, one in his eyes has tragic consequences for the Germans no less than for Jews. 37
A g n o n , In Mr. L u b l i n ' s Shop, 133f.
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Ibid., 1 5 3 - 1 6 1 .
39
Ibid., 118.
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Agnon was one of the first to portray the Nazi experience as a bizarre, promiscuous theater, a perversion of a structured and moral society. Such a metaphor has been used since the 1980s by a number of writers, playwrights, and artists.40 It is in line with the author's view that Germans are not by any means negative persons. Like Jews they were lured astray by powers over which they had little control: industrialization, urbanization, consumer culture, not to mention self righteous and shallow patriotism. This resulted in the crumbling of cohesive religious values and structures that offered clear social and cultural boundaries, and authoritative moral guidelines. Christian Lemke was cursed and damned after leaving his father's community, values, and faith. He was redeemed by Lublin the Jew, who, by accepting him as his assistant, offered Lemke a new lease on a respected life of a decent, hard-working citizen. Following Nazism, the author suggests, Germans and Jews still needed each other in order to rehabilitate themselves and lift themselves up from physical or moral destruction. Lemke stands up on his feet again when Lublin, in this case an embodiment of Mr. Good Will Jew, and perhaps the author's alterego, is willing to accept him as a decent citizen and a useful assistant. Agnon is relating here to a new phase in JewishGerman relationship, which began in the 1950s, in which both sides need each other in order to rehabilitate themselves, in spite of strong residues of suspicion and pain. Agnon himself began, as of the mid-1950s, to receive at his home German guests, thus accepting Germans as people in good moral standing. The relation of Jews to Germans stood at the center of tense and dramatic Jewish, and especially Israeli, public discourse in the 1950-1960s. Just when Agnon was writing In Mr. Lublin's Shop, Israel and the Federal Republic of Germany established diplomatic relations amid a huge public controversy. Agnon, like his friend Martin Buber, supported reconciliation between the two nations. This book, more than a thousand political manifestos, relates to Germans with empathy, interpreting the enormous political crises which led to the rise of Nazism as a cultural and moral breach in the history of the German relation to the Jews along the ages. Agnon provides a lively picture of a romantic triangle. One man in this entanglement is Ahmichen, the director of the dubious theatrical group, who represents Nazism and its ability to fascinate and attract the masses: "Everybody likes schmaltz," Agnon asserts, expressing his opinion that the danger of a godless and destructive regime that captures people's hearts through theatrical maneuvers is not reserved to Germany of the 1930s-1945.41 Christian Lemke, the other man in the triangle, represents the Germans who went back to their senses, learned their lesson, and rehabilitated themselves. They are the safeguards of a sane and solid German society. However, Friederike, the woman in this seemingly romantic adventure, is a shallow, impressionable person, who could have easily stayed on Ahmichen's side and have become Mrs. Ahmichen, if the old destructive order would have prevailed. 40
41
Norman L. Kleeblatt (ed.), Mirroring Evil. Nazi Imagery/Recent Art, New York 2002. An Israeli writer who related to Nazi crimes and Jewish suffering as a theatrical production in a madhouse is Yoram Kanyuk in Adam Ben Kelev. Agnon, In Mr. Lublin's Shop, 135.
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Conclusion The term post-modernist did not exist before the 1980s, yet Agnon may be regarded as being a post-modernist before the word was even coined. He was a modern writer who rejected modernity based on disappointment with the experience of modernity, and after concluding that it brought more harm than good. However, while pointing to the devastating effects of modernity, and the destruction it brought to individuals and communities, Agnon does not advocate return to traditional pre-modern Judaism and is fully aware of the fact that there is no turning back. Ironically, in the first decades of literary criticism on Agnon's works a number of critics wondered whether Agnon was, in fact, a modern writer. His themes focused on pre-modern Jews and his language was mishnaic rabbinical Hebrew. In contrast to a number of Jewish modern writers of the turn of the twentieth century, such as Peretz Smolenskin, or Mendele Mocher Sforim, he did not bash at traditional Jewish society, and did not turn himself into an advocate of modernity. In the mid-twentieth century, Israeli critics, such as Baruch Kurzweil and Gershon Shaked, began pointing to the complexity of Agnon's thinking as a writer who was neither a traditionalist nor proponent of modernity.42 But they could not define him as a post-modernist, since the term and the school of thought did not exist. A number of critics have pointed to similarities between the writings of Thomas Mann and S. Y. Agnon.43 Both dealt with the disintegration of traditional structures in the face of modernity, and the loss of authority and cohesion that came with it, in both the civic and personal realms. Mann, however, was a devoted son of the Enlightenment who rejected the supernatural, and believed that rational humanism could build a better world. A good comparison would be between Agnon and Selma Lagerlöf, a Swedish writer whom Agnon read and appreciated. Both Lagerlöf and Agnon rejected modernity from within modernity. Both saw humanity as inherently good but irrational and not always making the right choices. Both rejected the most elementary premises of the Enlightenment, the idea of a rational society working towards its own good. Both embraced the supernatural wholeheartedly and advocated the belief that there was much of nature and of God that humans could not understand. Both showed appreciation for pious persons and pre-modern communities.44 Another author who influenced Agnon's writings was Robert Musil. Like Robert Musil, who, in a rather passive manner, mourned the unavoidable decline and eventual demise of Viennese Habsburg culture, so did Agnon in In Mr. Lublin's Shop lament the disintegration of the Jewish people and their unique heritage. In a sad, minor key, and seemingly neutral language, he pointed to what the historian Jacob Katz later called "the breach that never healed": the fragmentation of Jewish 42
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For example, Baruch Kurzweil, Essays on Agnon's Stories, Tel Aviv 1963, 328-352; Gershon Shaked, S.Y. Agnon. A Revolutionary Traditionalist, New York 1989. For example, Amos Oz, A Story of Love and Darkness, Jerusalem 2002, 133f. Agnon, A Simple Story follows the theme of Lagerlöfs Jerusalem, adapting it to a Jewish small town in Eastern Europe.
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society and culture in the face of emancipation and modernity. Both Musil and Agnon dealt with themes of cultural crisis before, during, or after World War I, in central Europe. Both use the same literary techniques and create similar atmospheres. Both writers place the narrator-protagonist as a passive observer-philosopher, who does not take part in any meaningful action to change the outcome of history, and all that they offer are sad reflections. They have no solutions, no redemption to offer, and merely point with subtle irony to the disintegration of an empire or a people, the unavoidable result of modernity and nationalism. Both The Man without Character and In Mr. Lublin's Shop have no apparent plots, no beginnings, middles, or ends, but are very rich novels. Agnon had already explored the theme of the polarization of Jewish culture in Only Yesterday, pointing to the impossibility of expressing one's Jewishness in a sane, constructive manner within modern culture. Zionism, he warned in the earlier novel, could not really solve the breach between Jews and their heritage, and the dilemma became apparent in the land of Israel, too. In Mr. Lublin's Shop carries this line of thinking further: Jewish life has polarized and lost its cohesive allencompassing structure. Its fragmented parts have moved so far away from its sources that the core and spirit of Judaism has been lost. Jews have moved away from their identity or created a reactionary, perverted, caricature of their ancestral faith. Judaism, Agnon laments in this final novel, cannot be practiced any more in a manner that does justice to its core values and authentic spirit. While Only Yesterday concentrates on the effects of modernity on Jews, Agnon places the disintegration of the Jewish culture in a larger perspective in In Mr. Lublin 's Shop. Germans, too, were led astray by the power of secularization, industrialization, and urbanization and with even more destructive results. The personalities Agnon creates in his novel, including Lublin and his assistant Lemke represent these developments, and their life histories as well as the interaction between them signify the tragic effects of modernity on both nations. The inability of Jews to reconcile tradition and modern secularism has served as Agnon's source of inspiration and creativity. The dilemmas and pains of the breach in Jewish history preoccupied Agnon and he spent a lifetime lamenting over them. In that he was indeed a modernist, eager to find "solutions," to construct one "way" that would fit all. He mourned his and others inability to achieve that goal. It did not occur to Agnon that what he considered to be the problem was the solution - that there were multiple means for Jews to be Jews, and that the struggles and competitions between various forms of Judaism, as well as the tensions and pains of being Jewish, were ingredients of a dynamic and creative environment. He remained inconsolable.
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Ignaz Goldziher in Leipzig Ein ungarischer Jude studiert Orientalistik Ankunft in Leipzig „Ich dürstete nach reichlicheren Quellen. D i e Losung: Auf zu Fleischer! Drängte sich mir immer lauter auf. Rödiger selbst rieth mir nicht ab. So nahm ich denn i m August 1868 1 Abschied von Berlin, bereichert mit einer grossen Summe neuerworbener Kenntnisse." 2 Mit diesen Worten beschreibt Ignaz Goldziher, einer der Begründer der Islamwissenschaft und bedeutendsten Orientalisten seiner Zeit, in seinem Tagebuch den Abschied von Berlin und sein nächstes Ziel: Leipzig und den Orientalisten Fleischer. Im Gespräch mit seinem einflussreichen Förderer, dem ungarischen Kultus- und Bildungsminister Jozsef von Eötvös ( 1 8 1 3 - 1 8 7 1 ) , erhielt er für die nächste Zeit einen klaren Auftrag: „Es wurde mir zur Pflicht gemacht, das Doctorat der Philosophie noch im Laufe des Schuljahres 1869/70 zu erledigen und dann unverzüglich für die Habilitation an der Universität Pest einzuschreiten." 3 Wahrscheinlich Mitte Oktober, nach der Michaelis-Messe und den jüdischen Feiertagen, traf Goldziher in Leipzig ein. 4 A m 19. Oktober 1869 schrieb er sich für das Wintersemester 1869/70, das v o m 18. Oktober 1869 bis zum 15. März 1870 1
2 3 4
Die Jahreszahl ist ein Versehen, denn nachweislich handelt es sich um das Jahr 1869. Dieser Fehler steht auch in: Robert Simon, Ignäc Goldziher. His Life and Scholarship as Reflected in his Works and Correspondence, Budapest/Leiden 1986, 35f. Überhaupt erscheint die Darstellung der Studienjahre Goldzihers oft in Begeisterung übertrieben und voller Vermutungen, während die Untersuchung der Fakten außerhalb des Tagebuches in den letzten Jahren kaum vorangekommen ist. Ignac Goldziher, Tagebuch. Hg. v. Alexander Scheiber, Leiden 1978, 39. Goldziher, Tagebuch, 40. Die primären Quellen für den Aufenthalt Goldzihers in Leipzig sind mit diesem Beitrag nicht erschöpfend behandelt. Im Zentrum steht das von A. Scheiber herausgegebene deutsche Tagebuch. Vgl. dazu insbesondere die ausführliche Rezension von Edward Ullendorff in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 42 (1979), 553-555, der bedauert, dass dieses Werk überhaupt in dieser Form publiziert worden ist und nicht nur dessen Fakten und Hintergründe in eine ausführliche Biographie eingegangen sind, wie es ursprünglich auch geplant war und wie sie noch immer aussteht. Diese seit 1890 aufgeschriebenen Erinnerungen, die die Studienzeit nur summarisch und nicht in allen Details exakt behandeln, werden ergänzt durch die nur in Ungarisch vorliegende Gedenkrede von Ignaz Goldziher auf seinen Leipziger Lehrer Fleischer von 1889 unter dem Titel Emlekbeszed Fleischer H.L. felett, die Simon, Ignäc Goldziher benutzt hat, sowie den ausführlichen Artikel von Goldziher über Fleischer in: Allgemeine Deutsche Biographie (= ADB) 48 (1904), 584-594. Sowohl von Fleischer als auch Goldziher ist eine sehr ausführliche und weitreichende Korrespondenz in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen sowie in der Akademie der Wissenschaften in Budapest erhalten, die bisher nur zu einem LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 293-315
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dauerte, als Studierender der Philosophie ein.5 Nach der Promotionsakte bezog er eine Wohnung in der Reichsstrasse 3.6 Einer seiner ersten Wege dürfte ihn zu Heinrich Leberecht Fleischer (1801-1888) geführt haben, der durch ein wohlwollendes Empfehlungsschreiben seines Berliner Freundes und Kollegen Emil Rödiger auf den jungen
sehr geringen Teil ediert worden ist, vgl. den Briefwechsel Goldziher mit Theodor Nöldeke, in: Simon, Ignäc Goldziher, 157-419, mit Christian Snouck Hurgronje, vgl. Peter Sj. van Koningsveld (Hg.), Scholarship and friendship in early Islamwissenschaft: The letters of C. Snouck Hurgronje to J. Goldziher from the Oriental Collection of the Library of the Academy of Sciences - Budapest, Leiden 1985, und mit Martin Hartmann, vgl. Ludmila Hanisch (Hg.), „Machen Sie doch unseren Islam nicht gar zu schlecht". Der Briefwechsel der Islamwissenschaftler Ignaz Goldziher und Martin Hartmann 1894-1914, Wiesbaden 2000. Die unter Goldziher erfassten wenigen Texte in der Kopenhagener Sammlung konnten durch die freundliche Bereitschaft der dortigen Bibliothek genutzt werden. Sie scheinen aber nur Reste des jahrelangen Briefwechsels zu umfassen, der wahrscheinlich in Budapest erhalten ist. Die Budapester Materialien sind noch zu erschließen. Die anderen, bisher veröffentlichten Korrespondenzen erhalten beiläufige Bemerkungen zur Leipziger Zeit. Hier wäre insbesondere das große Korpus der Briefe von Emil Rödiger, der mit Fleischer eng befreundet war, auszuwerten, um weitere Details zu erfassen. Das Archiv der Universität Leipzig enthält in offiziellen Unterlagen u.a. die Promotionsakte Goldzihers in: Universitätsarchiv Leipzig (= UAL) Fak. Prom. Nr. 1067, die jedoch aus unbekannten Gründen leider unvollständig ist und den handschriftlichen Lebenslauf des Kandidaten sowie die Abgangszeugnisse von Pest, Berlin und Leipzig, die nach Bl. la von Goldziher eingereicht wurden, und auch das meist kurze Protokoll der mündlichen Prüfung nicht mehr enthält. Um bestehende Lücken zu füllen, wurden in Auswahl Promotionsakten von Studenten genutzt, die zwischen Winter 1869 und Sommer 1871 in Leipzig promoviert wurden und mit denen Goldziher hier engere Kontakte besaß. Zur Biographie Goldzihers vgl. Joseph DeSomogyi, Bibliographie [sie!] Ignaz Goldzihers (1850-1921), in: Ignaz Goldziher, Gesammelte Schriften, hg. von Joseph Desomogyi, Hildesheim 1967, 1, X I - X X X I . Unter neueren Forschungen vor allem zu seiner Bildungsphase sind zu nennen: Lawrence I. Conrad, The Near East Study Tour Diary of Ignaz Goldziher, in: Journal of the Royal Asiatic Society (= JRAS) 1 (1990), 105-126; ders., The Dervish's Disciple. On the Personality and Intellectual Milieu of the Young Ignaz Goldziher, in: JRAS 1 (1990), 225-266; ders., The Pilgrim from Pest. Goldziher's Study Tour to the Near East (1873-1874), in: Ian R. Netton (Hg.), Golden Roads. Richmond 1993, 110-159; Jozsef Nemeth, Goldzihers Jugend, in: Acta Orientalia 1 (1950-51), 7-25; Raphael Patai, Ignaz Goldziher and His Oriental Diary. A Translation and Psychological Portrait, Detroit 1987. Dabei wird immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, auch die bisher nur in Ungarisch erschienenen Arbeiten von Goldziher in Studien zu ihm und seinem Umfeld einzubeziehen, von entsprechenden Archivalien ganz abgesehen. -
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Zum Beitrag jüdischer Gelehrter zur Erforschung des Islams vgl. Martin Kramer (Hg.), The Jewish Discovery of Islam. Studies in Honor of Bernard Lewis, Tel Aviv 1999, den Beitrag des Herausgebers vgl. auch in: (21.6.2005). Nach UAL Film Nr.21: Protocoll über die den Studierenden ertheilten Studien- und Sittenzeugnisse mit Bemerkung der als gehört bescheinigten Vorlesungen und Angabe des erfolgten Abgangs von der Universität auf die Zeit vom 1. Juli bis ultimo December 1869. [= Bd. 2] Nr. 300. Übrigens ist Goldziher dort als „Goldzieher" aufgeführt, doch er selbst unterschreibt mit „Goldziher". Eine Fotoaufnahme zeigte Goldziher 1870 in Leipzig, vgl. Patai, Ignaz Goldziher and His Oriental Diary, 82. Die in diesem Artikel erwähnten Räumlichkeiten sind durch die seitherigen Umbauten und vor allem die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und danach allesamt nicht mehr in ihrer damaligen Gestalt oder überhaupt nicht erhalten.
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ungarischen Juden vorbereitet worden war. Dieser hatte ihm in launig-persönlicher Weise in der Art des damals beliebten Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert geschrieben: „Sie erhalten in Goldziher einen wirklichen Murid (ergebenen Schüler) der das Zeug nicht hat ein Märid (Widersetzlicher) zu sein."7 Fleischer empfing ihn aufgeschlossen, mitteilsam und hilfreich.,,F1. zeichnete mir, nachdem ich ihm die Richtung meiner Studien entwarf, gleich einen Plan für private Studien vor, er bepackte mich mit Büchern aus seiner Bibliothek, die ich lesen möge, stellte mich seiner Familie vor, lud mich ein, ihn des Abends zu besuchen, so oft ich will, und mich in allen wissenschaftlichen und weltlichen Dingen frei an ihn zu wenden."8 Studien und die Vorbereitung der Promotion füllten die nächsten Semesterwochen aus. „Es konnte im Winter 1869/70 von einer Concentration auf bestimmte Fachstudien nicht die Rede sein, obwohl ich ja die Universitätsbibliothek völlig ausplünderte und in den Handschriften der Rafa'ijja ganze Nächte lang wühlte. Aber wie ein Bleigewicht hing an mir die von Eötvös mir auferlegte Pflicht des Doctorexamens. Meine Dissertation hatte ich fertig mitgebracht. Aber ich musste zwei Nebengegenstände, u.z. aus eigener Wahl: alte Geschichte und Philosophie studieren. Diese Pflicht hatte die gute Seite, mich vor Einseitigkeit zu bewahren und meiner allgemeinen Bildung förderlich zu sein." 9
Die über vierzehn Monate, die Goldziher in Leipzig verbracht hat, scheinen ungetrübt gewesen zu sein. Sie waren voller bleibender Erinnerungen, weitreichender Begegnungen mit Älteren und Gleichaltrigen, die dann zu Freunden und Kollegen wurden, und zahlreicher Hoffnungen. In Berlin10 hatte er sich wenigstens anfangs oft einsam und unverstanden gefühlt, er bezeichnete es geradezu als „dies theilnahmslose Land".11 Neben den Orientalia12 befasste er sich dort besonders mit Judaica. Doch er lernte bei aller Unzufriedenheit auch anregende Lehrer kennen wie den ehemaligen preußischen Konsul in Damaskus, einen Schüler Fleischers, Johann Gottfried Wetzstein (1815-1905), 13 den Philosophen und Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal14 (1823-1899), den jüdischen Bibliographen und Orientalisten Moritz 7
Goldziher, Tagebuch, 41. Die Übersetzungen der arabischen Ausdrücke in den Klammern dürften von Goldziher stammen. 8 Goldziher, Tagebuch, ebd. 9 Goldziher, Tagebuch, 41 f. 10 Die Berliner Studienzeit Goldzihers verdiente auch eine nähere Untersuchung. Die Erinnerungen daran sind vielleicht auch durch die an Leipzig etwas zurückgedrängt worden. " Goldziher, Tagebuch, 38. 12 Zur deutschen Orientalistik im 19. Jh. vgl. Sabine Mangold, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft". Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. 13 Vgl. zu ihm besonders Ingeborg Huhn, Der Orientalist Johann Gottfried Wetzstein als preußischer Konsul in Damaskus (1849-1861) dargestellt nach seinen hinterlassenen Papieren, Berlin 1989. 14 Goldziher nennt ihn in den Erinnerungen an Berlin in seinem Tagebuch seltsamerweise nicht unter den Berliner Bekanntschaften, obwohl er in „Der Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwicklung", Leipzig 1875, sehr wohl Beachtung gefunden hat. Möglicherweise verdrängt der spätere Goldziher damit auch Erinnerungen, die mit den unterschiedlichen und für ihn auch schmerzlichen Reaktionen auf seinen „Mythos" verbunden waren. Vgl. Simon, Ignäc Goldziher, 34f.
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Steinschneider (1816-1907), der ihn in das Wesen der jüdisch-arabischen Literatur einführte,15 oder auch gute Freunde wie den ehemaligen Theologen und künftigen Orientalisten Gustav Jahn16 (1837-1917), der ihn mit aktuellen philosophischen und theologischen Problemen vertraut machte.17 In Leipzig wurde Goldziher schnell Teilnehmer eines größeren und aufgeschlossenen akademischen Kreises, der sich um Heinrich Leberecht Fleischer18 geschart hatte. Fleischer stand damals im Zenit seines Schaffens. Seit 1835 lehrte er an der Philosophischen Fakultät der Leipziger Universität Orientalische Sprachen und galt als einer der besten Kenner des Arabischen in Europa wie auch bei arabischen Aufklärern im Libanon. Im Grunde hatte er in seinem Fach die Rolle seines Pariser Meisters, Silvestre de Sacy (1758-1838) übernommen, aber eben unter den Bedingungen einer schnell expandierenden deutschen Provinzstadt, die vor allem durch Messen und Buchhandel berühmt war. Fleischer hat nicht sehr viel publiziert, war aber ein überragender und anregender Lehrer. „Fleischer's Auditorium wurde Jahrzehnte hindurch als die Stätte betrachtet, an die man sich zu wenden habe, um eine tüchtige arabische Schulung zu gewinnen",19 so dass es eine gute Gewohnheit war, dass Studierende und junge Wissenschaftler aus aller Herren Länder für ein oder zwei Semester zu ihm kamen, um bei ihm zu hören20 oder auch zu promovieren.21 Auch späterhin pflegten sie enge briefliche und persönliche Kontakte mit ihm und trat er mit seinem hohen Ansehen immer wieder vermittelnd für sie ein.22 Ebenso kümmerte er sich hingebungsvoll und erfolgreich um Fragen der außeruniversitären
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Vgl. Goldziher, Tagebuch, 38. Goldziher veröffentlichte übrigens eine erste orientalistische Miszelle unter dem Titel „Mutanabbi und ein Jude" 1870 in Steinschneiders Hebräischer Bibliographie, vgl. den Nachdruck in: Goldziher, Gesammelte Schriften. 1. Vgl. Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, 241; Goldziher, Tagebuch, 39, vgl. auch Goldziher, Der Mythos bei den Hebräern, XXVI, Fußnote, wo er ihn ausdrücklich seinen Freund nennt. Siehe Goldziher, Tagebuch, 36-39. Unübertroffen ist weiterhin die erwähnte Biographie Fleischers aus der Feder Goldzihers in der Allgemeinen Deutschen Biographie. Eine Auflistung jüngerer Studien zu ihm findet sich in Holger Preißler, Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, erweiterter Sonderdruck aus der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (1995), 4, Fußnote 10. ADB48, 591. Vgl. die unveröffentlichte Diplomarbeit von Laila Bellmann, Der Orientalist H. L. Fleischer (1801-1888) als Leipziger Hochschullehrer von internationalem Rang, Leipzig 1986, u.a. mit einem Verzeichnis seiner Hörer nach einer Liste im Nachlass Fleischers in der Leipziger Universitätsbibliothek. Vgl. die unveröffentlichte Diplomarbeit von Annett Fuhge, Der Orientalist Heinrich Leberecht Fleischer (1801-1888) als Referent und Examinator bei Promotionsverfahren an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig 1867-1888. Nach S. 10 war Heischer in diesem Zeitraum in insgesamt 169 Verfahren Gutachter bzw. Prüfer. 131 davon betrafen im weitesten Sinne orientalistische Themen. Das war für orientalische Studien eine sonst kaum erreichte Zahl. Vgl. ADB 48, 591. Briefe von ihm und an ihn finden sich in zahlreichen Gelehrtennachlässen in Europa, am umfangreichsten in der Sammlung Nr. Ny kgl. Saml. 4° 2969 in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen. Vgl. auch die Äußerungen Goldzihers zur Bedeutung des Briefwechsels bei Simon, Ignäc Goldziher, 15.
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Wissenschaftsorganisation und kompensierte damit wohl auch seinen im Zusammenhang mit seiner Berufung und der Anbindung seiner Professur an der Philosophischen Fakultät eingegangenen Verzicht auf das Dekanat und das Procancellariat. Auf seine Initiative hin wurde 1845 als wissenschaftliche Vereinigung deutscher und ausländischer Orientalisten die Deutsche Morgenländische Gesellschaft geschaffen, deren Geschäfte er lange Zeit führte. 23 Mit seiner Unterstützung und seinem Einsatz entstand 1846 die Königlich Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften, die heutige Sächsische Akademie der Wissenschaften, er fungierte 1859 bis 1883 als Sekretär der Philologisch-Historischen Klasse.24 Fleischer setzte sich dafür ein, dass in Leipzig eine gute Fachbibliothek entstand, in der man auch auf orientalische Handschriften zurückgreifen konnte. Außerdem muss er eine besondere Gabe gehabt haben, freundschaftliche Beziehungen herzustellen und zu bewahren. Dabei öffnete er bereitwillig seinen privaten Raum. Fleischer wohnte An der 1. Bürgerschule Nr. 3. Im Haushalt des Ehepaars Fleischer lebten noch vier seiner fünf Töchter und die zwei Söhne Curt und Georg, die fast gleichaltrig mit Goldziher waren. Seine Veranstaltungen gab er oft privatissime in seiner Wohnung, so dass auch der Umgang mit seinen erwachsenen Kindern für die Studenten und jungen Doktoren selbstverständlich war. Sein Schwiegersohn Ferdinand Mühlau (1839-1914) lehrte damals als Lizentiat an der Theologischen Fakultät, bevor er Anfang 1871 der Berufung zum Theologieprofessor an die Universität Dorpat nach Russland Folge leistete.
Studien in Leipzig Vor diesem persönlichen Hintergrund begann der neunzehnjährige Goldziher seine Studien bei dem achtundsechzigjährigen Professor. „Ich belegte sämmtliche Vorlesungen Fleischers über arabische, persische und türkische Literatur u. Sprache, hörte dabei noch Krehl's syrische und arabische Collegia, Brockhaus' Sanskritgrammatik, Drobisch's psychologisches Collegium u.a.m."25 Fleischer bescheinigte ihm am 5. Januar 1870 die Teilnahme an seinen Veranstaltungen in einem Zeugnis, das in seinem Nachlass in Kopenhagen im Entwurf erhalten ist: „Herr Ignaz Goldziher, Stud, orient, aus Stuhlweißenburg in Ungarn, hört in diesem Winterhalbjahr ( 1 8 6 9 / 7 0 ) bei mir Arabisch (Koran mit B e i d h a w i ' s Commentar und Fäkihat alChulafä von Ibn-Arabschah), 2 6 Persisch (Gulistan v o n Saadi), 2 7 und nimmt Theil an den
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Vgl. Preißler, Die Anfänge. Vgl. Gerald Wiemers/Eberhard Fischer, Die Mitglieder von 1846 bis 1996: Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Berlin 1996. Goldziher, Tagebuch, 41. Diese heute kaum noch bekannte Geschichtensammlung von Ibn 'Arabshah (gest. 1450) wurde unter dem Titel „Fructus imperatorum" in den Jahren 1832 bis 1852 in zwei Teilen mit einer lateinischen Übersetzung von dem Bonner Orientalisten Georg Wilhelm Freytag ( 1 7 8 8 - 1 8 6 1 ) herausgegeben, sein vierbändiges Arabisch-Lateinisches Wörterbuch, das 1830-1837 erschien, bildete auch für Fleischer und seine Hörer die lexikalische Grundlage ihrer Studien.
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Uebungen meiner arabischen Gesellschaft. Von seinen trefflichen Anlagen, seinen ausgebreiteten Kenntnissen und seinem unermüdlichen Studieneifer hat er mir stets überzeugende Beweise geliefert, dass ich ihm in allen diesen Beziehungen nur das ehrenvollste Zeugniß ausstellen kann."
Das genannte Lehrangebot erscheint auf den ersten Blick wenig fordernd, entsprach aber den damaligen Verhältnissen. Man kündigte in den orientalischen Fächern vor allem Einführungen in die Sprache und einige wichtige Texte an. Bei Fleischer nahm man im Allgemeinen an der Einführung in den Koran nach dem noch im 19. Jahrhundert unter Sunniten beliebten Kommentar des Baidäwi (gest. um 1286) teil.28 Er hatte bereits während seiner Studienzeit eine Edition dieses bis dahin nur handschriftlich bekannten Werkes vorbereitet. Doch erst 1846-1848 erschien sie nach vielen Mühen in zwei Bänden in Leipzig, 29 „ein Muster an Akribie und ein glänzendes Zeugnis seiner Vertrautheit mit der arabischen Sprache wie auch der islamischen Theologie", 30 aber ohne den zu erwartenden kritischen Apparat. Er blieb in Europa unter Orientalisten jahrzehntelang der einzige gedruckte und gut erhältliche Korankommentar, verlor dann aber durch die Ausgaben anderer exegetischer Werke für das Koranstudium zunehmend an Bedeutung. Welche Teile des Korans damals gerade durchgenommen wurden, lässt sich nicht feststellen. Aber die Art des Fleischerschen Lehrens wurde beschrieben: „Trotz seines umfassenden und sicheren Wissens ging er nie unvorbereitet in eine schwierige Vorlesung, und bei seinem Bemühen, seinen Hörem Feinheiten der Grammatik oder dunkle Textstellen verständlich zu machen, bewies er unendliche Geduld. Seine Lehrweise erschien wohl auf den ersten Blick regellos und abschweifend. Sie hatte aber, indem sie ihm die Möglichkeit gab, das Füllhorn seines Wissens über seine Hörer auszuschütten, den großen Vorteil, diese von den verschiedensten Seiten her in die zur Erörterung stehenden Probleme einzuführen. Der Kehrreim seiner Unterweisung war immer, daß man es in der Philologie mit all und jedem peinlich genau nehmen müsse." 31
Und Goldziher selbst meinte zu Fleischers Baidäwi-Kolleg: „Auf die Interpretierung dieses Werkes fiel [...] auch zumeist der Schwerpunkt seiner arabischen Vorlesungen. Dies bot den Hörern den Vortheil, neben der sprachlichen Belehrung auch in die 27
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„Der Rosengarten" (Gulistän) des persischen Dichters Sa'di (1184-1283) gehört zu den beliebtesten Werken der persisch-islamischen Literatur und war durch die deutschen Nachdichtungen, u.a. von Fleischers Schüler Karl Heinrich Graf (1815-1869) von 1864, auch dem deutschen Publikum nicht unbekannt. Diese öffentliche Veranstaltung fand gewöhnlich zweimal wöchentlich, am Montag und am Donnerstag, in den frühen Morgenstunden, ab 7.00 Uhr, statt. Aus Pietät gegenüber seinem Lehrer und in Erinnerung an die Leipziger Zeit blieb Goldziher dann bei der Behandlung desselben Stoffes auch bei diesem heute eher ungewöhnlichen Termin. Beidhawii commentarius in Coranum ex codd. Parisiensibus, Dresdensibus et Lipsiensibus edidit indicibusque instruxit H. O. Fleischer, Lipsiae 1846-1848. Fück, Die arabischen Studien, 171. August Fischer, Heinrich Leberecht Fleischer, in: Sächsische Lebensbilder, Bd. 1, Dresden 1930, 49.
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wichtigsten Fragen der islamischen Religionskunde und in die Terminologie und den Ideengang ihrer Scholastik eingeführt zu werden." 32 Hinter Fleischer traten seine jüngeren Kollegen zurück. Sein ehemaliger Schüler Ludolf Krehl33 (1825-1901), damals außerordentlicher Professor der morgenländischen Philologie und Bibliothekar an der Universitätsbibliothek, übernahm den Elementarunterricht im Arabischen und in den semitischen Sprachen, in denen vor allem das Syrisch-Aramäische mit seiner altchristlichen Literatur das Interesse der Studierenden weckte, die ja häufig von der Theologie kamen. Von den vorderasiatischen Sprachen war es ein kurzer Weg zum Sanskrit, das der Indologe Hermann Brockhaus34 (1806-1877), der Sohn des großen Leipziger Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus und Schwager des Komponisten Richard Wagner, anbot. Fleischer hatte sich seinerzeit um die Schaffung einer indologischen Professur und seine Berufung nach Leipzig bemüht. Brockhaus engagierte sich später in der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und redigierte lange Zeit deren Zeitschrift. Bei dem Mathematiker und Philosophen Moritz Wilhelm Drobisch35 (1802-1896), der seit 1826 an der Universität lehrte und damals Senior der Philosophischen Fakultät war, hörte Goldziher in Vorbereitung des Doktorexamens außerdem Psychologie, vielleicht in Ergänzung der in Berlin durch Steinthal geweckten Interessen. Mit dem nur wenig jüngeren Drobisch war Fleischer nicht nur im akademischen Rahmen und in der Gesellschaft der Wissenschaften, sondern auch familiär verbunden.
Die Promotion Im Wintersemester 1869/70 konzentrierte sich Goldziher ganz auf die Promotion zum Dr. phil. Seine Inauguraldissertation unter dem Titel „Studien über Tanchüm Jerüschalmi"36 hatte er auf Grund von Abschriften von Manuskripten aus London und Oxford, die ihm Steinschneider und Rödiger zur Verfügung gestellt hatten, hergestellt. Er untersuchte darin Lebenszeit und Quellen des arabisch schreibenden jüdischen Autors Tanchüm,37 stellte ihn als Philologen und Exegeten dar, behandelte 32 33
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A D B 4 8 , 590. Vgl. Holger Preißler, Arabistik in Leipzig (vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts), in: Progressive Traditionen der Orientalistik an der Universität Leipzig. Wissenschaftliche Zeitschrift. Karl-Marx-Universität. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 28. Jahrgang (1979), 97f. Vgl. Klaus Mylius, Bedeutende Traditionen der Indologie an der Universität Leipzig, in: Progressive Traditionen, 47-50. Vgl. ADB 48, 80-82. Leipzig 1870. Das handschriftliche Exemplar für das Promotions verfahren befindet sich nicht in Leipzig. Zum Tanchüm legte 1888 auch Simon Eppenstein (1864—1920) aus Krotoschin (Provinz Posen), der vor allem in Berlin studiert hatte, eine Dissertation in Leipzig vor. Vgl. ders., Aus dem Kohelet-Kommentar des Tanchüm Jerüschalmi (Cap. I-VI), Berlin 1988; UAL Phil. Fak. Prom. Nr. 04687. Zu dem Philologen und Bibelexegeten Tanhum ben Joseph (ha-)Yerushalmi (um 1220-1291) vgl. EJ 15, Sp. 797f.
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die Einleitung in seinen Murschid al-Käfi 38 und brachte dann noch Exzerpte aus dem Kommentar zum biblischen Buch der Richter. (Der Druck, der übrigens seinem Gönner Eötvös und seinem ungarischen orientalistischen Lehrer Hermann Vämbery (1832-1913) gewidmet ist, verweist dankend auf die Unterstützung durch Fleischer und seinen Mitstudenten Wolf Graf von Baudissin beim Herstellen des Druckes.) Bereits hier zeigte sich die Fähigkeit Goldzihers, literarische Texte überzeugend zu analysieren und in einen größeren Zusammenhang, hier in die Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft, einzuordnen. 39 Goldziher reichte die Unterlagen für das Promotionsverfahren 40 am 4. Dezember 1869 ein und bat um die mündliche Prüfung im Hauptfach Semitische Philologie und in den Nebenfächern Persische Sprache, Geschichte 41 und Philosophie. Um schriftliche Gutachten wurden vom Procancellar Georg Voigt (1827-1891) Fleischer und sein Kollege Brockhaus gebeten. Wie es auch sonst in jener Zeit in der Philosophischen Fakultät üblich war, folgt in den Unterlagen auf das etwas ausführlichere, maximal einseitige Gutachten des ersten die meist kürzere Zustimmung des zweiten Gutachters. Beide sollen hier in extenso zitiert werden: 42 „Der Verfasser vorliegender Probeschrift, Herr Ignaz Goldziher, ist unter den hier studirenden Juden, die ich bisher habe kennen lernen, einer der ausgezeichnetesten, wo nicht der allerausgezeichnetste. Er vereinigt treffliche Anlagen, einen erstaunlichen Fleiß und eine sich über die gesammte semitische Literatur erstreckende Belesenheit mit wohlthuender Frische des Geistes und einem wachen, rein wissenschaftlichen, aller Phraseologie abholden, immer nur auf das Wesen der Sache gerichteten Sinn. Als Kehrseite dieser letztgenannten Eigenschaft macht sich bei ihm freilich auch eine gewisse Vernachlässigung der sprachlichen und stilistischen Form bemerklich, die indessen zum größeren Theil auf Rechnung des Umstandes kommt, daß er als geborener Ungar des Deutschen nur unvollkommen mächtig ist und durch kein unmittelbares Sprachgefühl vor Verstößen gegen unsern Sprachgebrauch geschützt wird. Ich habe in dieser Beziehung schon an mehreren Stellen seiner Arbeit nachgeholfen oder wenigstens durch Striche und Fragezeichen noch vorzunehmende Formverbesserungen angedeutet, werde auch nicht ermangeln, ihm auch weiterhin, vor dem Drucke der Abhandlung, in derselben Richtung behülflich zu sein. Was aber den Kern der Sache betrifft, so verdienen seine .Studien' über den Religionsphilosophen, Sprachgelehrten und Bibelerklärer Tanchum aus Jerusalem alles Lob. Die Abhandlung ist gut geordnet, erschöpft, soweit die bis jetzt bekannt gewordenen Schriften Tanchums dies gestatten, ihren Gegenstand vollkommen und verwerthet die oben gerühmte Belesenheit, in Verbindung mit gründlicher Kenntniß des Hebräischen, Aramäischen und Arabischen, in zweckmäßiger Weise ohne die bei andern jüdischen Gelehrten sich oft so breit machende Herbeiziehung von Ungehörigem und Ueberflüssigem. Ge-
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Es handelt sich um ein Lexikon, das in alphabetischer Ordnung die Nomina und Verba von Maimonides' Mischneh Torah enthält. Vgl. vor allem die Einleitung [1-3]. Die Angaben stützen sich auf UAL Phil.Fak. Prom. Nr. 1067. 4 Bl. Das Fach Geschichte ist in dem Gesuch mit Bleistift durchgestrichen und wohl auch nicht geprüft worden. Vgl. ebd. Bl. Ib.
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druckt, wird sie eine wahre Bereicherung der einschlagenden Literatur sein. Ich stimme demnach für Zulassung Herrn Goldzihers zur mündlichen Prüfung. Fleischer. Die Abhandlung des Herrn Goldziher hat mich sehr lebhaft interessirt und für den jungen Mann eingenommen. Der Stoff zu derselben ist mit großem Fleiße zusammengetragen, und überall zeigt sich eine ungewöhnliche und gründliche Kenntniß in den entlegenen Gebieten der rabbinischen und arabischen Literatur. Die ganze Darstellung verräth einen klar denkenden Kopf. Ich stimme daher ebenfalls für Zulaßung zum mündlichen Examen und für den Druck der Dissertation nach Ausmerzung einiger kleiner Fehler gegen den Geist unsrer Sprache. Brockhaus."
Obwohl die Gutachten Fleischers im Allgemeinen voller Wohlwollen und Nachsicht gegenüber den nicht immer hervorragenden Petenten sind, übertreffen seine Formulierungen zu Goldzihers Arbeit doch das übliche Maß, auch wenn er schreibt, dass die Deutschkenntnisse seines Schülers noch zu wünschen übrig ließen - was in dessen noch erhaltenen Schriften sonst nicht festzustellen ist. Allerdings verweist er selbst in der gedruckten Inauguraldissertation auf die „sehr häufig vorkommenden Verstösse gegen die Grammatik", die er stillschweigend verbessert habe. Die übrigen Mitglieder der Fakultät stimmten dann für die Zulassung zur mündlichen Prüfung. Es waren nach ihren Unterschriften in alphabetischer Reihenfolge der Altphilologe Georg Curtius (1820-1885), der Mathematiker und Philosoph Moritz Wilhelm Drobisch, der auch als Examinator einbezogen wurde, der Romanist Adolph Ebert (1820-1890), der Altphilologe Reinhold Klotz (1807-1870), der Archäologe Johann Adolph Overbeck (1826-1895), der Altphilologe Friedrich Wilhelm Ritsehl (1806-1876), der Procancellar und Historiker Georg Voigt (1827-1891) und der Germanist Friedrich Zarncke (1825-1891). Fleischer war unter ihnen der Älteste. Die mündliche Prüfung fand am 7. Januar 1870 statt und das Verfahren wurde am 27. Februar 1870 abgeschlossen. Am selben Tag wie Goldziher wurde auch sein Kommilitone Wolf Wilhelm Graf von Baudissin43 (1847-1926) geprüft. Der bei Kiel Geborene stammte aus einer alten sächsischen Adelsfamilie und sein Vater trug die Titel eines oldenburgischen Kammerherrn und dänischen Hofjägermeisters. Bereits 1866 hatte er seine Studien in Erlangen aufgenommen und dort auch den noch zu erwähnenden Franz Delitzsch kennen gelernt, der sich dann auch in Leipzig in väterlicher Weise um ihn kümmerte. In Leipzig studierte er intensiv Theologie und Orientalistik. Später zeigte er neben bibelexegetischen auch religionshistorische Interessen. Baudissin hatte sein Gesuch mit den entsprechenden Unterlagen einschließlich eines umfangreichen lateinischen Lebenslaufs an die Fakultät am 11. Dezember 1869 eingereicht, wurde aber erst am 22. Juli 1870 promoviert. Die Gutachten zu seiner Inauguraldissertation sollen denen zur Goldziherschen gegenübergestellt werden, um die Aussagen zu dieser besser einordnen zu können:44 43 44
Vgl. den Personalartikel in (11.6.2005). Nach UAL Phil. Fak. Prom. Nr. 1201.
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„Herr Graf von Baudissin hat mit dieser Arbeit über das von Tischendorf gerettete, nach den Schriftzügen dem Anfange oder der ersten Hälfte des 9 ten Jahrhunderts angehörende Bruchstück einer früher unbekannten arabischen Uebersetzung des Buches Hiob einen schätzenswerthen Beitrag zur Geschichte der Bibelübersetzungen geliefert. Nach einer Uebersicht der andern arabischen Uebersetzungen desselben Buches und der übrigen fünf alten christlich-arabischen von Tischendorf nach Europa gebrachten Handschriften, die gleich sehr ähnliche Schriftzüge aufweisen, zum Theil auch bestimmte Zeitangaben enthalten und durch Vergleichung mit jenem Bruchstücke das Alter desselben bestimmen helfen, schildert er die graphischen Eigenthümlichkeiten dieser Literaturdenkmäler und besonders des von ihm behandelten. Hierauf folgt der arabische Text desselben mit einer gegenübergestellten lateinischen Uebersetzung. Den Schluß bildet eine Untersuchung über den Ursprung dieser Version und über die Quelle, aus der sie gefloßen ist, als welche mit Wahrscheinlichkeit eine syrische Uebersetzung der hexaplarisehen Septuaginta nachgewiesen wird. Das Heft Nr. II enthält sprachliche Anmerkungen zum arabischen Texte mit besonderer Berücksichtigung seines Abhängigkeitsverhältnisses zur Septuaginta. Es zeigt sich durchgängig großer Fleiß und ein hier und da fast zu sehr in's Breite gehendes Streben nach gründlicher Erschöpfung des behandelten Gegenstandes; in Beziehung hierauf werde ich, wenn die Arbeit überhaupt angenommen wird, dem Verfasser einige zweckmäßige Kürzungen vorschlagen. Die Latinität ist freilich nur die gewöhnliche kirchlichtheologische; in der möglichst wörtlichen Uebersetzung des arabischen Textes kommt hinzu noch der Umstand, daß halb oder ganz Unverständliches und Zusammenhangloses im Texte auch in der Uebersetzung als solches erscheint. Aus dieser Art von Treue lässt sich indessen dem Verfasser billigerweise kein Vorwurf machen, und einiges gar zu Unlateinische, wo es noch nicht getilgt ist, wird sich vor dem Drucke leicht beseitigen lassen. - Ich stimme für Zulassung des Bewerbers zur mündlichen Prüfung. Fleischer. Die vorliegende Arbeit ist ein höchst achtungswerthes Specimen eruditionis, in welchem großer Fleiß, Kenntniße und ein verständiges Urtheil unverkennbar sind. Ich stimme daher ebenfalls für Zulaßung zum mündlichen Examen. Brockhaus." 45
Die Umstände eines solchen Verfahrens wurden meist etwas ironisch, auf jeden Fall befreiend geschildert. Auch Goldziher tut es: „Ende Dezember 1869 46 legte ich am selben Tage mit Baudissin das mündliche Examen ab, bekleidet in einem von Theodor Redslob 47 erborgten Frack. Diesem hatte ich zusammen mit Stade und Rosen Stunden aus Raschi und Efodi gegeben. 48 Dafür promovirte ich
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Ebd. Hier irrt Goldziher, Tagebuch, 44, denn nach den Promotionsunterlagen von ihm und Baudissin fand die mündliche Prüfung am 7. Januar 1870 statt. In Goldziher, Tagebuch, 44, fälschlich Rudslob. Es handelt sich um den Sohn des Hamburger Theologen Gustav Moritz Redslob (1804-1882), der 1849 in Hamburg geboren wurde und in den Jahren 1868 bis 1872 in Leipzig studierte. Weitere publizierte Angaben waren zu ihm nicht festzustellen. Die beiden jüdischen Autoren, der Raschi (1040-1105) und der Efodi (gest. 1414?), wurden im Allgemeinen nicht ausdrücklich in Leipziger Lehrveranstaltungen behandelt. Welche Texte die kleine Runde aber gelesen hat, kann nicht exakt festgestellt werden. Entsprechend den damaligen
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in seinem Frack. Das Examen war ein glänzendes. Fleischer, Brockhaus und Drobisch waren meine Examinatoren. Alle waren des Ruhmes voll über meine Leistungen. Drobisch erklärte Fleischer gegenüber, der mir dies brühwarm mitteilte, dass er noch keinen Examinirenden, der Philosophie als Nebengegenstand trieb, besser über philosophische Fragen reden gehört habe. Ich hatte über Aristoteles' Ethik, über Kants praktische Vernunft und über Schopenhauers ethische Preisarbeit zu sprechen. Meine Vorbereitung hatte sich zumeist um Herbarts System bewegt. So war ich denn mit dem neuen Jahre 1870 Doctor, muss aber hinzufügen, dass ich die rechte Lust an diesem Titel auch in den Flitterwochen nicht verspürte. Er machte mehr meiner Wirthin Freude und Spass, als mir ... Der neue Titel änderte an meinem Studiengange nichts." Ausführlich wird das wohl auch von Goldziher ähnlich erlebte Procedere in e i n e m Freundesbrief eines anderen Kommilitonen Goldzihers, des Schweizers Conrad von Orelli, geschildert, der fast genau ein Jahr nach Goldziher, am 9. D e z e m b e r 1870, sein Gesuch mit einer Inauguraldissertation über „Die Formation des Zeitbegriffs in der hebraeischen Sprache" einreichte, die ebenfalls von Fleischer und Brockhaus begutachtet wurde, und der v o n Fleischer, dem Rechtsphilosophen Heinrich Ahrens ( 1 8 0 8 - 1 8 7 4 ) und d e m Historiker Georg Voigt geprüft wurde. 4 9 In d i e s e m Verfahren ist auch das kurze, bei Goldziher w i e bei Baudissin fehlende Protokoll der Prüfung v o m 11. Januar 1871 vorhanden. Es soll hier als Beispiel angegeben werden: „Die Prüfung des Candidaten im Arabischen ergab als Resultat, daß derselbe eine sehr achtungswerthe Kenntniß der Sprache [durchgestrichen: sowohl] in Beziehung sowohl auf den materiellen als auf den formalen Theil derselben besitzt. Fleischer. In der Prüfung aus der Geschichte der Philosophie bewies der Cand. außer guten Kenntnissen gebildetes Urtheil. Ahrens. Bei der Prüfung in der Geschichte, die sich auf das Reformationszeitalter bezog, zeigte der Cand. befriedigende Kenntnisse. Voigt." Dazu schreibt Orelli am 16. Januar 1871: „Meine Dissertation wurde am 9. Dezember eingereicht und zirkulierte bis nach Weihnachten. Professor Delitzsch, welchem ich sie vorher privatim mitgetheilt hatte, nahm sie ziemlich kühl auf und hatte viel daran auszusetzen, was ich ihm um so weniger verargen kann, als die Arbeit mir selber nachgerade sehr schwach und langweilig vorkommt. Desto mehr war es mir tröstlich, als ich hörte, Prof. Fleischer habe ein lobendes Gutachten darüber abgegeben. Erst am 8. Januar erhielt ich die Nachricht, daß am folgenden Mittwoch die mündliche Prüfung stattfinden könne. Vom 11. Januar, welcher auch sonst in der Geschichte denkwürdig bleibt durch die große Schlacht bei Le Mans und die
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Interessen Goldzihers könnte es sich um die hebräische Grammatik von Efodi handeln, die 1865 von J. Friedländer und J. Kohn in Wien herausgegeben worden war. Er verweist in seiner Inauguraldissertation auf sie und auf die 1869 erschienene Breslauer Dissertation von Selig Gronemann, De Profiatii Durani Vita ac Studiis. Vgl. UAL Phil. Fak. Prom. Nr. 1249.
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Diskussionen in der bayerischen Kammer über die Reichsverfassung, melden die Chroniken der Stadt Leipzig folgendes: Um die dritte Stunde des Nachmittags sah man einen Kandidaten in Frack und Zylinder durch ein furchtbares Schneegestöber sich einen Weg bahnen nach dem roten Kolleg, einem alten Gebäude von unheimlichem Aussehen. Als er unter dem gotischen Torbogen angelangt, sich nach einem Eingang umsah, erblickte er vor sich ein altes Männchen in langem Pelzrock, welches ihn fragend anredete: Wohl der Herr Kandidat? Und ihn durch eine kaum sichtbare Türe eine enge Wendeltreppe hinaufführte. Oben stand der Pedell der Universität in Gala und wurde nicht müde, dem Herrn Kandidaten Belehrungen und Anweisungen zu erteilen, wie er sich zu verhalten habe. Endlich hörte man eine schrille Stimme, und der besagte Kandidat wurde nun in einen andern Raum geführt, wo unter dem Vorsitz des Prokanzlers die drei Examinatoren sich versammelt hatten. Das Verhör begann, nachdem man sich höflichst begrüßt, indem Prof. Fleischer einige arabische Anekdoten zur Übersetzung und Besprechung vorlegte, wobei die übrigen Herren sich wunderten über die Eigentümlichkeiten der arabischen Literatur, indem z.B. ein arabischer Grammatiker in einer dieser Geschichten in einen Esel verwandelt wurde. Die Besprechungen waren lebhaft, und es schien den Zuhörern, der Herr Kandidat verstehe sich sehr gut aufs Arabische, zumal sie nichts davon verstanden und nichts Böses ahnten, wenn der Examinator einzelne Konstruktionen des Examinanden als poetisch bezeichnete, während man sie wohl mit demselben Recht als einfache Sprachfehler hätte qualifizieren können. Ein wenig umgekehrt machte seine Sache der nächste Examinator Hofrat Ahrens der Philosoph, er zeigte Lust zu schikanieren. Er schien ärgerlich, daß der Kandidat seinen Götzen Krause systematisch ignorierte und schien überhaupt im Fragen nicht seine starke Seite zu haben - indessen nach einigen unbefriedigenden Gedankenstrichen, verständigte man sich immer besser, und wenn man nur guten Willen hatte, so war keine Gefahr in diesem Fache. Zwischen den einzelnen Fächern fand eine Erholungspause im Nebenzimmer statt, wo der Pedell für Unterhaltung sorgte, indem er erzählte, er sei auch einmal in Zürich gewesen, habe da im Hotel Baur logiert und dgl. Noch kam die Geschichte, ein lästiges Nebenfach, Prof. Voigt fragte nach mancherlei und gleich anfangs erkundigte er sich nach gewissen geheimnisvollen Personen, welchen vorgestellt zu werden der Kandidat nicht die Ehre gehabt hatte. Nach einem Fehlgang unter die Mystiker des Mittelalters kam er aber auf die rechte Spur und fragte nach lauter Dingen, die der Kandidat ihm einige Wochen vorher in seinem Kolleg abgelauscht hatte. Nun ging es ausgezeichnet, zumal der Herr Examinator sehr schwerhörig war und in zweifelhaftem Fall stets ein Ja bei der Hand hatte. Den Schluß bildete ein Lebensabriß von Ulrich von Hutten, welchen der Herr Kandidat zu geben hatte, was er denn mit großer Behendigkeit tat. Auffallend war dabei nur, wie schnell der edle Hutten starb. Als er tot war, war die Geschichte zu Ende, und der Kandidat wurde zuerst im Vorzimmer vom Pedell als Herr Doktor begrüßt. Dann kehrte er nach einigen Minuten zurück, und der Prokanzler erklärte in einer Rede die Promotion für vollzogen, man wünschte Glück, dankte und ging. Der Kandidat war es nun nicht mehr, er war Doktor, doch man hat nicht bemerkt, daß er dadurch irgendwie geistig vollkommener, gescheiter oder gelehrter geworden ist. Wenigstens verirrte er sich sogleich in der Stadt, was ihm in Leipzig noch nie begegnet war. Nach langem Suchen in Nacht und Schnee gelangte er endlich auf das Telegraphenbureau, wo er die Drähte in Bewegung setzte: Ist's gleich nicht von Wichtigkeit, hat's doch seine Richtigkeit. Conrad Orelli, Doctor phil.
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Dann trabte er nach Hause, um sein Examenskostüm auszuziehen, verlegte dabei seinen Regenschirm, welcher nun erst eine halbe Stunde gesucht wurde, galoppierte dann zu Prof. Delitzsch, wo er herzlichst aufgenommen wurde und man ihm zur Einnahme des Mont Avron Glück wünschte. Sogleich zog man alle möglichen Bücher hervor, um sich in den Examenfragen umzusehen, und da zeigte sich dann, daß der Doctor, als er noch Kandidat war, in einer Frage unstreitig recht, der Examinator unrecht hatte, was große Freude verursachte." 50
Goldziher ging nach der Prüfung nicht zu Fleischer, sondern zu Julius Fürst, der ihm einen koscheren Doktorschmaus ausrichtete: „Der alte Professor Fürst gab mir den Doctorschmaus, an welchem eine Torte mit einer auf mich bezüglichen Aufschrift als Aufmerksamkeit der Frau Professorin paradierte, Livius Fürst, der poetische Arzt, ein Carmen zu meinen Ehren recitirte, das im Schlussatze culminirte: So ziehe Gold und ziehe Talmi Es lebe Tanchum Jeruschalmi mit Bezug auf meine Inauguraldissertation. Der alte Fürst aber liess einen gewaltigen Champagnertoast auf den jungen Doctor der Weltweisheit vom Stapel laufen." 51
Die Beziehungen zu Julius Fürst52 (1805-1873), dem Lector publicus der aramäischen und talmudischen Sprachen an der Leipziger Universität, sind wahrscheinlich doch enger gewesen, als das Fehlen sonstiger Hinweise vermuten lässt. Goldziher scheint aber im Gegenteil zu anderen seiner Kommilitonen nicht bei ihm gehört zu haben. Fürst war engagiertes Mitglied der jüdischen Gemeinde und hatte sich seinerzeit persönlich darum bemüht, dass Adolph Jellinek (1820-1893) als Rabbiner nach Leipzig kam.53 In Goldzihers Zeit amtierte als dessen Nachfolger Abraham Meyer Goldschmidt (1812-1990), der Ehemann der Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt. Leipzig war ein Zentrum der jüdischen Reformbewegung, 1869 hatte in der Stadt die berühmte Reformsynode getagt.54 Die hier genutzten und bisher bekannten Quellen schweigen sich aber über das Verhältnis Goldzihers zur großen Leipziger Gemeinde und ihren Positionen aus und heben anders als bei den Äußerungen zur Berliner Zeit keine Beziehungen zu Leipziger Juden außer Fürst hervor. Er scheint sie nicht gesucht zu haben oder es fehlten ihm die Persönlichkeiten, die ihm Anregungen
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Ernst Kappeler, Conrad von Orelli. Sein Werden und Wirken aus dem schriftlichen Nachlaß dargestellt von Emst Kappeler, Zürich 1916, 250f. Goldziher, Tagebuch, 44. Vgl. zu ihm die unveröffentlichte Magisterarbeit von Katharina Vogel, Julius Fürst (18051873) und die jüdischen Studien an der Leipziger Universität im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, Leipzig 2001. Er hörte übrigens auch zwei Semester bei Fleischer. Vgl. Conrad, The Pilgrim from Pest, 125, wo er annimmt, dass er in Berlin oder Leipzig auch Abraham Geiger begegnet sei.
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vermitteln und Unterstützung geben konnten.55 In Fleischers Kreis selbst war er damals übrigens der einzige Jude. Nachdem die Promotion bestanden war, konnte sich Goldziher intensiver seinen Studien widmen, vor allem im restlichen Winter- und im folgenden Sommersemester: „Ich studirte weiter fort mit verdoppeltem, durch Examenssorgen nicht mehr abgezogenen Eifer, ich erwarb mir eine ganz beträchtliche Kenntnis in der Literatur meiner Wissenschaft, alle Zeitschriften, deutsche, französische und englische stöberte ich durch, machte Excerpte aus den Leipziger Handschriften und gewann einen weiteren Überblick über die Leistungen der uns vorangegangenen Gelehrtengenerationen." 56
Die Belastung durch die Teilnahme an den gewöhnlichen Lehrveranstaltungen mag für ihn nicht so hoch gewesen sein, er konnte ausführlich lesen, nicht nur wissenschaftliche, auch philosophische und schöne Literatur wie Lessings „Nathan".57 Zwar erschien damals zunehmend neue Fachliteratur, aber noch immer stand die Masse der orientalischen Texte nur handschriftlich zur Verfügung und musste demzufolge im Allgemeinen in der jeweiligen Manuskriptensammlung eingesehen und exzerpiert werden. Da die Berliner Handschriften noch nicht geordnet waren und Rödiger sich vor allem den persischen Texten widmete,58 scheinen die Leipziger Materialien nach den Zitaten in verschiedenen Werken Goldzihers diesem den ersten Grundstock in der arabischen Literatur vermittelt zu haben. Seine arabistischen Lehrer Fleischer und Krehl öffneten ihm den Zugang zu den Manuskripten in der Leipziger Ratsbibliothek und in der Universitätsbibliothek, namentlich zur gut ausgewählten Sammlung der Rifä'iyya, die Fleischer mit guten Beziehungen nach Dresden durch seinen Schüler Wetzstein in Damaskus ankaufen lassen hatte.59
Der Kreis um Fleischer Doch intensive Textstudien ließen Goldziher die persönlichen Kontakte nicht vergessen. Sie umfassten vor allem den Kreis um Fleischer, gingen aber auch darüber hinaus. Als Goldziher vom Herbst 1869 bis Frühjahr 1871 in Leipzig studierte, war
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Insofern sind die Vermutungen von Conrad, The Pilgrim from Pest, 125, Goldziher habe in Leipzig auch reformjüdische Anregungen erhalten und hier oder in Berlin Abraham Geiger getroffen vorerst nicht zu begründen. Goldziher, Tagebuch, 44. Vgl. Simon, Ignäc Goldziher, 225. Vgl. Goldziher, Tagebuch, 39. Vgl. Heinrich Leberecht Fleischer, Die Refaiya, in: ZDMG 8 (1854), 573-584; Detlef Döring, Der Erwerb der Refaiya-Handschriften durch die sächsische Regierung im Jahre 1853, in: Wolfgang Reuschel (Hg.), Orientalistische Philologie und Arabische Linguistik, asien afrika lateinamerika Sonderheft 2 (1990), 19-23; Carl Völlers, Katalog der islamischen, christlichorientalischen, jüdischen und samaritanischen Handschriften der Universitäts-Bibliothek zu Leipzig, Leipzig 1906 (Nachdruck: Osnabrück 1975).
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die Schülerschaft Fleischers wahrhaft international.60 Mit unverhohlenem Stolz berichtet er später in seinem Tagebuch: „Meine Stellung unter Fleischers damaligen Schülern wurde bald eine sehr günstige. Die guten Antworten die ich auf alle, während der Vorlesung gestellten Fragen zu geben wusste, machten mich bald zum Mittelpunkte des Collegiums. Die Mitschüler nannten mich den .kleinen Scheich', Fleischer hiess ja stets der ,grosse Scheich'. Rosen, 61 Stade, 62 Almkvist, 63 Buonazia, 64 Baudissin, 65 Orelli, 66 Tischendorf 67 bildeten die Säulen des Collegiums. Auch der Finne Eneberg, 68 der Amerikaner Wiekes 69 gehörten dazu. 70
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Angesichts der Expansion und Differenzierung der orientalistischen Fächer - wie auch der Bibelwissenschaft - seit den 70er Jahren des 19. Jh. war unter diesen Hörern eine beträchtliche Zahl von später angesehenen Wissenschaftlern, die entweder orientalistische oder theologische Professuren übernehmen sollten und die Entwicklung ihrer Fächer seit dem Ende des 19. Jh. entscheidend mitprägten. Victor von Rosen (1849-1908), gebürtig aus Reval. Bernhard Stade (1848-1916) aus Arnstadt in Thüringen. Er war im WS 1870/71 und im SS 1871 Fleischers Famulus und wurde am 21.1.1871 mit einer recht mäßigen Arbeit „Über den Ursprung der mehrlautigen Thatwörter der Geezsprache" promoviert. Herman Napoleon Almkvist (1839-1904) aus Stockholm, der bereits 1866 promoviert worden war. Vgl. (21.6.2005). Lupo Buonazia (1844-1914) aus Prato in Italien, der einzige italienische Hörer Fleischers. Er verließ die Universität nach dem ausgestellten Sittenzeugnis am 19. September 1870. Goldziher begegnete ihm dann auf seiner Orientreise in Beirut wieder, vgl. Patai, Ignaz Goldziher and His Oriental Diary, 108, 111, 129. Vgl. ebd. 108 unter dem 11. Oktober 1873: „He received me with love and goodwill, and the warm handclasp of the friend whom I had missed for so long, conjured up memories of the beautiful time in Leipzig." Wolf Wilhelm Graf von Baudissin (1847-1926). Vgl. (11.6.2005). Conrad von Orelli (1846-1912) aus Zürich. Vgl. (11.6.2005). Paul von Tischendorf (1847-1915) aus Leipzig, der Sohn des bekannten Paläographen und Theologen Konstantin von Tischendorf, eines Kollegen von Fleischer, mit dem er nähere Beziehungen unterhalten zu haben scheint. Paul von Tischendorf (1815-1874), ein eifriger Student, der aber mehrfach die Fächer wechselte, war vom SS 1869 bis SS 1870 Fleischers Famulus und wurde am 1. März 1871 mit einer Arbeit „Über das System der Lehen in den moslemischen Staaten" promoviert, zu einem Thema, das bei den Leipziger Philologen selten war. Karl Fredrik Eneberg (1841-1876) aus Helsingfors. W. Wiekes aus Dover, der 1868 Principal des Huron College London in Canada West war und dann nach Berlin ging. Weitere Daten sind nicht festzustellen. Nach dem Leipziger Hörerverzeichnis ist diese Aufzählung allerdings nicht vollständig, denn zu Fleischers Schülern gehörten in den Jahren 1869 bis 1871 auch Paul Danckwardt aus Rügen, Emil Fuchs aus Mähren, Heinrich Hübschmann (1848-1908) aus Erfurt, Richard Mollweide aus Nienburg, der bereits erwähnte Theodor M. Redslob aus Hamburg, Carl Victor Ryssel (18491905) aus einem Dorf beim sächsischen Nossen und der Holländer Jan Henrik Spiro (18491914), der sich übrigens auch im WS 1869/70 immatrikulieren hatte lassen. Die bei Simön, Ignäc Goldziher, 38, als Mitstudierende genannten August Ferdinand von Mehren (1822-1907) aus Kopenhagen, Jens Peter Broch (1819-1896) aus dem norwegischen Christiana und Jaromir Kosut (1854—1880) aus Böhmen studierten entweder früher (die ersten beiden) oder später (der Letztgenannte) als Goldziher in Leipzig.
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Kautzsch, 71 der schon damals Gymnasiallehrer u. Dozent war, schloss sich uns an. Ich war Gegenstand der Anhänglichkeit und Liebe bei allen diesen; auf meiner Stube hielt ich die vorbereitende[n] Studien fürs Colleg, in Kautzsch' gastlichem Hause wurden jeden Mittwoch der Baidäwi für die ganze Woche präparirt; da hatte ich das grosse Wort und K. erkannte sich, in schriftlichen Enunziationen, mir dankbar für den wissenschaftlichen Nutzen, den ich ihm gebracht. Über alles aber muss das Leben und Lernen in Fleischers Hörsaal meine schönste Erinnerung an diese Zeit bleiben." 72 Orelli bestätigte diese Äußerungen seines Studienfreundes in einem Brief v o m 16. Januar 1871: „In den Fleischerschen Kollegien herrscht gegenwärtig reges Leben. Goldziher, Rosen und Kautzsch bilden ein Privatkollegium, welches sich auf alle Stunden vorbereitet. Die arabische Syntax wird übrigens auch vielfach komisch beleuchtet und selbst der katholische Kaplan 73 trägt das seine dazu bei. Am Sonntag soll sich die Schülerschaft Fleischers für dessen Geburtstag photographieren lassen. Am Mittwoch Abend pflegt man sich nach dem Kolleg um den alten Scheich, welcher zur Zeit sehr munter ist, in der Theater Restauration zu versammeln." 74 Goldziher wie Orelli gewähren Rosen und Kautzsch einen besonderen Platz. Zu beiden baute Goldziher ein engeres Verhältnis auf und zählte auch später zu ihren besten Freunden. Baron Victor von Rosen, der in der russischen Fachgeschichtsschreibung der „Begründer der Neueren Schule der russischen Orientforschung" 7 5 genannt wird, stammte aus einem verarmten livländischen Geschlecht, seine Mutter hatte georgische Großeltern und er war mit der deutschen Sprache aufgewachsen. N a c h d e m er 1866 die Orientalische Fakultät in St. Petersburg b e z o g e n und dort studiert hatte, kam er 1870 nach Leipzig zu Fleischer und blieb bis z u m Sommer 1873 hier. 76 Er passte seiner Geburt nach sehr wohl zu dem holsteinischen Wolf Graf von Baudissin und d e m Züricher Bankierssohn Conrad von Orelli. D o c h scheint in dem Studentenverhältnis der Standesunterschied keine erwähnenswerte Rolle gespielt zu 71 72 73
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Emil Kautzsch (1841-1910), siehe: (21.6.2005). Goldziher, Tagebuch, 41. Damit dürfte Winand Fell (1837-1908) aus Aachen gemeint sein, der 1871 als Priester der Erzdiözese Köln über „Die Canones der Apostel in aethiopischer Sprache" promovierte, 1868 bei seinem Beitritt in die DMG als Kaplan zu St. Ursula in Köln erscheint. Es ist einer der wenigen katholischen Hörer bei Fleischer. Vgl. auch dessen Indices ad Beidhawii commentarium in Coranum confecit Winand Fell, Leipzig 1878. Kappeler, Conrad von Orelli, 253. Ignatij J. Kratschkowski, Die russische Arabistik. Umrisse ihrer Entwicklung, Leipzig 1957, 134. Dieses Werk ist übrigens Rosen gewidmet, der auch in der Sowjetzeit von ihm getreu als Baron bezeichnet wird. Wahrscheinlich erhaltene Briefe von Goldziher und Rosen dürften auch für Erinnerungen an die Leipziger Zeit besonders aufschlussreich sein. In einen Brief an seinen Sohn Georg vom 12.10.1870 verweist Fleischer im familiären Ton auf Rosens Ankunft: „Daß sich bei mir wieder zwei Piepvögel, ein österreichischer und ein russischer, eingestellt haben, werden die Schwestern Dir schon gemeldet haben", nach UAL NA Fleischer. Goldziher widmete 1884 dem russischen Freund sein Werk über die Zähiriten.
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haben. Man war vereint in der Verehrung für den „großen Scheich" und achtete das erstaunliche Wissen des ungarischen Juden. Dessen Festhalten an den jüdischen Ritualgesetzen wurde anscheinend allgemein akzeptiert. Für Fleischer war der Umgang mit jungen jüdischen Studenten und Kandidaten nichts Ungewöhnliches. Sein erster Famulus war ein Dessauer Jude namens Carl Caspari77 (1814-1892), der übrigens durch den Einfluss eines Studienfreundes 1838 zum Christentum konvertierte und dann zu den bedeutenden lutherischen Theologen Norwegens zählte. In einem Verzeichnis von Fleischers Schülern, das über dreihundert Namen umfasst, finden sich viele Studenten jüdischer Herkunft. Ebenso betrifft das zahlreiche Kandidaten, deren Dissertationen er begutachtete und die er prüfte. Eine größere Zahl von ihnen hatte nicht bei ihm gehört, und mehrere wurden auch abgelehnt. Aus diesen umfangreichen Erfahrungen heraus lassen sich die kritischen Äußerungen Fleischers zu jüdischen Kandidaten in dem Gutachten für Goldziher verstehen. Er verlangte Klarheit und Konzentration, die er bei solchen oft abseits des akademischen Lebens angefertigten Arbeiten augenscheinlich häufig vermisste. Bei Fleischer hatte Goldziher auch mit lutherischen Theologen ständig Kontakte. Fleischer selbst hatte zwar Theologie in Leipzig studiert und besaß ein Königsberger Ehrendoktorat der Theologie, war aber in religiösen Dingen stets sehr zurückhaltend gewesen. Als einer seiner ersten Schüler, Eduard Amthor 78 (1820-1884), der später berühmte Alpenschriftsteller, eine Reise nach Italien unternehmen wollte, warnte er ihn: ni religion ni politique.79 Und er selbst scheint sich, auch durch seine Zeit in Frankreich geprägt, in öffentlichen Äußerungen nach Möglichkeit an diese Maxime gehalten zu haben und sie wohl auch seiner Umgebung mitgegeben zu haben. Das mochte auch ein Grund für seine Zurückhaltung gewesen sein, sich eigens zur islamischen Religion zu äußern, wie man es gelegentlich von ihm erwartete. Viele von Fleischers Studenten waren Theologen, so auch Emil Kautzsch aus dem vogtländischen Plauen, der nach Studium sowie Promotion und Habilitation in Leipzig zwischen 1863 und 1872 Lehrer an der Nikolaischule war. 1872 wurde er auf eine Professur nach Basel berufen. Obwohl er sich vor allem als literarkritischer Bibelexeget hervortat, verfügte er über eine gründliche orientalistische Bildung und interessierte sich wie Goldziher und ihr gemeinsamer Lehrer Fleischer auch für die Geschichte der arabischen Sprachgelehrsamkeit.80 Die Erwähnten versammelten sich einmal wöchentlich bei Fleischer in der Arabischen Gesellschaft, um dort wie in einem Oberseminar neue Literatur und ausgewählte kompliziertere Themen zu behandeln.81 Dann gesellten sich gelegentlich 77 78 79
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Vgl. (30.5.2005). Vgl. ADB 45, 1990, 774f. Vgl. Selbstbiographie des Dr. Eduard Amthor, Gera 2 1880, 30f., auch wenn sich das auf das Jahr 1838 bezog, in dem man, wie Amthor selbst bemerkt, mit Metternichs Spitzeln rechnen musste. Vgl. seinen Artikel „Über einen Codex der 'asrär el-'arabije des Ibn el-'Anbän, in: ZDMG 28 (1874), 331-344. Nach den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Leipzig tagte diese Gesellschaft privatissime im WS 1869/70 am Donnerstagabend zwischen 18.00 und 20.00 Uhr, im SS 1870 Donnerstags-
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auch interessierte Kollegen hinzu. In dieser Zeit betraf das insbesondere die beiden Theologieprofessoren Franz Delitzsch82 (1813-1890) und Gustav Baur83 (18161889). Delitzsch gehörte zu den ältesten Leipziger Bekannten Fleischers, war 1835 in Leipzig promoviert worden, hatte dann bei Fleischer gehört, in seiner Leipziger Zeit regelmäßig an seiner Arabischen Gesellschaft teilgenommen und zudem manchen seiner eigenen Studenten zur stärkeren Beschäftigung mit Orientalia angeregt.84 Goldziher dürfte auch seinen später wegen seines Panbabylonismus bekannten Sohn Friedrich (1850-1922) gekannt haben, der zwischen 1869 und 1874 bei Fleischer Veranstaltungen besuchte. Auf Goldziher wirkte Franz Delitzsch widersprüchlich. Einerseits war er den Juden zugetan und verteidigte sie entschieden gegen antijüdische Schmähungen und Vorwürfe, andererseits war er eben als Missionar bekannt, „der süssliche Mann [...], dessen Gelehrsamkeit und Redlichkeit ich stets bewundern musste, dessen asiatischer Mysticismus, transcendentale Liebhabereien mich aber immer w i e etwas Krankhaftes abstiessen. Zu jener Verhimmelung des Missionsfanatikers, zu welchem sich orthodoxe Juden erniedrigten, konnte ich mich schon als junger Mensch dem eisgrauen Gelehrten gegenüber nicht hergeben." 85
Baur kam 1870 von Hamburg aus als Professor für praktische Theologie nach Leipzig und gewann schnell Ansehen als Universitätsprediger. Orientalistische Interessen führten ihn dazu, „sich mit seinem Collegen Fleischer noch im höheren Alter in das Studium des Persischen zu vertiefen".86 Dieser hörte auch seine gut besuchten Predigten in der Universitätskirche.87 Goldziher nutzte zudem die Zeit in Leipzig, um neue wissenschaftliche Felder kennen zu lernen. Als Georg Ebers88 (1837-1898) im Wintersemester 1870/71 erstmals ägyptologische Lehrveranstaltungen anbot, war Goldziher unter den Hörern und gewann auf Grund seines Fleißes auch seine Freundschaft. Fleischer sah diesen Ausflug eher kritisch: „Papa Fleischer, der von meinen pharaonischen Heldenleistungen hörte, nannte mich schmunzelnd den 'Aziz Misr (so heisst der Pharao des
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abend zwischen 19.00 und 21.00 Uhr und ließ damit die zeitliche Freiheit, sie im Gespräch ausklingen zu lassen. Vgl. auch ADB 48, 591. Für die Arbeit der Gesellschaft in den vierziger Jahren vgl. M. Fleischhammer, H. L. Fleischers .Arabische Gesellschaft". Notizen aus den Jahren 1841-1846, in: Dieter Bellmann (Hg.), Gedenkschrift Wolfgang Reuschel. Akten des III. Arabistischen Kolloquiums, Leipzig, 2 1 - 22. November 1991. Stuttgart 1994,97-116. Vgl. Siegfried Wagner, Franz Delitzsch. Leben und Werk, München 1978, Basel 2 1991. Vgl. ADB 146, 266-270. Vgl. z.B. Klaus-Gunther Wesseling, Ryssel, Carl Victor, in: (21.6.2005). Goldziher, Tagebuch, 45. Zur Judenmission äußerte er sich in dem Teil über seinen Aufenthalt in Damaskus geradezu mit Abscheu, vgl. Goldziher, Tagebuch, 61. Ebd. 268. Viele von ihnen liegen im Druck vor und wären gut geeignet, die Stimmung vor allem während des Deutsch-Französischen Krieges zu erfassen, siehe die ausführliche Bibliographie in: ADB 46, 269. Vgl. Elke Blumenthal, Ägyptologie in Leipzig bis zum zweiten Weltkrieg, in: Progressive Traditionen (1979), 121-124.
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Joseph im Koran). Der Alte hatte Allotria nicht gerne. Mann [sie!] sollte voll und ganz ,den Hauptsprachen des Islam' - wie er sie nannte - angehören."89 Die Kontakte zu Ebers blieben erhalten, und als dieser 1879 sein großes Prachtwerk über Ägypten veröffentlichte, fehlte auch ein lebendiger Beitrag Goldzihers über den Islam im Nilland nicht.90
Ungarische Freunde in Leipzig Über den akademischen Kreis um Fleischer hinaus reichten weitere geistige Beziehungen Goldzihers. Mehrfach nennt er in seinen Erinnerungen an die Studienzeit seinen guten Freund Wilhelm Bacher91 (1850-1913), den er von seinen Studien in Budapest kannte und der damals in Breslau studierte. Er sollte ein bedeutender Kenner der rabbinischen Literatur werden. Er edierte übrigens auch Teile des oben erwähnten „Murschid al-Käfi",92 wandte sich aber auch dem selten beachteten Gebiet jüdisch-persischer Texte zu. Das Interesse am Persischen führte ihn auch zu seiner Inauguraldissertation über „Leben und Werke Nizämis und den 2. Theil des Nizämi'sehen Alexanderbuches", die er in Leipzig einreichte. Die Einschätzung dieser Arbeit durch Fleischer ist übrigens ähnlich würdigend wie die Goldzihers. In ihr heißt es u.a.: „Das vorliegende Promotions-Specimen ist eine in ihrer Art höchst erfreuliche Erscheinung. Ein junger Israelit von Kopf, Geist und Geschmack, ausgerüstet mit den gewöhnlichen Sprachkenntnissen der Gelehrten seines Stammes, das Arabische mit einbegriffen, legt uns hier eine Arbeit vor, die eine Vertrautheit mit dem Persischen und eine Belesenheit in der persischen Literatur beurkundet, wie sie bei jüngeren europäischen Orientalisten überhaupt selten, am seltensten aber bei Juden gefunden wird, die bei aller Rührigkeit doch gerade diesem Sprach- und Literaturfelde bisher in der Regel fern geblieben sind oder wenigstens nicht so tief in dasselbe eingedrungen sind. Die Arbeit ist aber um so verdienstlicher, da sie der persischen Literaturgeschichte wirkliche Bereicherungen zuführt."93
Auch das Protokoll vom mündlichen Examen am 4. August ist des Lobes voll. Bacher hat nicht bei Fleischer gehört und war auch nie in Leipzig immatrikuliert, aber Goldziher war in Leipzig, als Bacher promoviert wurde. Es muss daran erinnert werden, dass das Verfahren Bachers unter dem Eindruck des Deutsch-Französischen Krieges stattfand, während dessen Fleischers zweiter 89 90
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Goldziher, Tagebuch, 48f. Vgl. Aegypten in Bild und Wort dargestellt von unseren ersten Künstlern, beschrieben von Georg Ebers, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig 1879, 1880. Goldziher lieferte wichtige Informationen über die „Universitäts-Moschee El-Azhar", Bd. 2, 71-90. Vgl. EJ 4, Sp. 51f. Vgl. auch Patai, Ignaz Goldziher and His Oriental Diary, 45-50, mit der Darstellung der Freundschaft und der späteren bitteren Entfremdung zwischen beiden. Der Vater des Vf. war ein Schüler Bachers, siehe ebd. 45. Vgl. Wilhelm Bacher, Aus dem Wörterbuche Tanchum Jeruschalmi's, Straßburg 1903. UAL Phil. Fak. Prora. 01392 Bl. Ib.
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Sohn Johann Georg (1850-1922) als sächsischer Schütze wie viele seiner Altersgenossen an der Front war.94 Goldziher geht auf diese Ereignisse nicht ein und erwähnt sie nur gelegentlich wegen der durch sie eingetretenen Verkehrsbehinderungen, aufgrund derer er mit Bacher erst Anfang September, nach der französischen Kapitulation am 1. September, nach Leipzig zurückkehren konnte.95 Er dürfte damit noch den Jubel und die Illumination in Leipzig nach dem Eintreffen dieser Nachricht am 3. September erlebt haben.96 Als dann am 2. Oktober 1870 die Deutsche Morgenländische Gesellschaft, der er angehörte, in Leipzig ihr 25jähriges Bestehen feiern konnte, weilte er noch in Ungarn. Bacher verdankte Goldziher nicht nur die Bekanntschaft mit seiner künftigen Frau, sondern vorher auch die mit dem offenbar beeindruckenden jüdisch-ungarischen Pädagogen Moritz Kleinmann97 (1843-1915), der sich ungarisch Mor Kärmän nannte. Im Sommer 1886 war er ihm zum ersten Mal in Pest begegnet. Er war von Eötvös nach Leipzig delegiert worden, um hier die Ausbildung von Gymnasiallehrern zu studieren und Musterlehrpläne für ungarische Schulen auszuarbeiten. Goldziher war von seinem Landsmann zutiefst beeindruckt und pflegte in Leipzig die Freundschaft mit ihm. Bei langen Spaziergängen in der gartenreichen Umgebung der alten Stadt wurde er in sein philosophisches Denken eingeführt. „Zu meinen späteren Forschungen auf dem Gebiet der Urgeschichte der Religionsentwicklung, der vergleichenden Mythologie, wurde ich zu allererst durch diese Gespräche angeregt; mein Studium der biblischen Literaturgeschichte erhielt in ihnen ihre [sie!] erste Nahrung [...]. Er liebte es, nach grossen Zwecken zu generalisiren und zu construiren; ich gieng dann den Details nach, ohne dass er es wusste, oder merkte mir seine Gesammturtheile, um sie als zusammenfassende Formeln bei meinen Bücherkrämereien vor Augen zu haben. Nur diesem Umgange verdanke ich es, dass ich bei meinen kleinlichen Studien nicht in Details versunken, nicht in Notizenkram untergegangen bin."98
So entstanden damals die Grundlagen für Goldzihers erste ungewöhnliche Monographie „Der Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwicklung. Untersuchungen zur Mythologie und Religionswissenschaft",99 die 1876 in Leipzig erschien. Er widmete sie seinem Freund „als kleine Gegengabe für so viele geistige Anregung und Erhebung" und dankte im Vorwort gleichzeitig dem anderen Freund, nämlich Wilhelm Bacher, für die Mühen des Korrekturlesens.100 Inwiefern manche Interessen dieser Zeit aber weiter zurückreichen, kann nur vermutet werden. Bereits 1869 veröffentlichte Goldziher z.B. einen Artikel in Ungarisch, in dem der Nutzen
94
95 96 97 98 99 100
Vgl. UAL NA Fleischer, eine Sammlung von Briefen Fleischers und seiner Familienangehörigen an seinen Sohn und von diesem aus den Jahren 1870-1871. Vgl. Goldziher, Tagebuch, 46. Vgl. UAL NA Fleischer, Brief Fleischers an seinen Sohn vom 12.9.1870. Vgl. EJ 10, Sp. 79f.; Goldziher, Tagebuch, 42f. Goldziher, Tagebuch, 43f. Ein Nachdruck erschien in Leipzig 1987. Goldziher, Der Mythos bei den Hebräern, XXIX.
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von Kenntnissen des Beduinenlebens für das Studium der Bibel hervorgehoben wird. 1 0 1
Abschied von Leipzig A l s Goldziher - wahrscheinlich - Anfang April 1871 Leipzig verließ, 1 0 2 u m nach Leiden zu fahren und dort die orientalischen Handschriften zu studieren, ging w o h l einer der für ihn schönsten Abschnitte seines Lebens zu Ende. Es deuteten sich aber nach dem überraschenden T o d seines Gönners Eötvös für ihn auch bereits ungünstige Entwicklungen an. Fleischer stellte ihm abschließend am 4. April 1 8 7 0 ein vorzügliches Zeugnis aus: „Herr Dr. philosoph. Ignaz Goldziher aus Stuhlweissenburg in Ungarn hat sich in den drei Semestern, während derer er meine Vorlesungen über Arabisch, Persisch und Türkisch besucht und an den Uebungen meiner arabischen Gesellschaft Theil genommen hat, meine Achtung und Liebe in immer höherem Grade erworben, wie dies die beiden ihm von mir 103
unter dem 5. Januar und dem 28 Juli 1870 ausgestellten Specialstudienzeugnisse beweisen. Jetzt aber, am Schlüsse seiner hiesigen Studienzeit, kann ich ihm nach bestem Wissen und Gewissen im Allgemeinen bezeugen, dass er nicht nur unter den jungen Orientalisten, welche gleichzeitig mit ihm bei mir studirten, der talentvollste, kenntnisreichste und strebsamste, sondern überhaupt unter allen Schülern, die ich je gehabt, einer der tüchtigsten und hoffnungsvollsten ist. Je mehr ich von ihm erwarte und j e freudiger ich zunächst der ihm von mir anvertrauten Textausgabe von Thaalibi's Arabischer Synonymik 1 0 4 entgegensehe, desto mehr fühle ich mich gedrungen, ihn hiermit allen Freunden und Gönnern der morgenländischen Studien, besonders aber der erleuchteten Regierung seines eigenen Vaterlandes, die schon bisher so sprechende Beweise ihres Wohlwollens gegeben hat, zu kräftiger Unterstützung und Förderung auf das dringendste zu empfehlen." 5 Goldziher hatte die rund vierzehneinhalb Monate in Leipzig sehr intensiv verbracht. Künftig sollte er nur noch für kürzere B e s u c h e nach Leipzig zurückkehren, so z.B. Pfingsten 1875 oder i m August 1885. 1 0 6 Er fühlte sich aber zu Lebzeiten Fleischers 101 102
103 104
105 106
Vgl. Conrad, The Pilgrim from Pest, 125 und Anmerkung 64. Er quittierte das erwähnte Sittenzeugnis handschriftlich am 4. April 1871, kann also frühestens an diesem Tag abgereist sein, nicht schon im März, wie Simön, Ignäc Goldziher, 40, aus Goldziher, Tagebuch, 48, meint. Auf jeden Fall erlebte er die Trauer in Fleischers Haus nicht mehr, als dessen zweite Tochter Elise am 16. April mit dreißig Jahren nach längerem Leiden an Tuberkulose starb. Entwurf im Kopenhagener Fleischer-Nachlass. Diese Hoffnung hat Goldziher jedoch nicht erfüllt, auch wenn er die übertragene Aufgabe verfolgte und z.B. in Leiden die entsprechenden Handschriften kollationierte, s. TB 49, dann aber auf Grund neuer Einsichten wie anderer Aufgaben zurückstellte und schließlich ganz aufgab. Vgl. auch I. Goldziher, On the history of grammar among the Arabs. Translated and edited by Kinga Devenyi, Tamäs Ivänyi, Amsterdam/Philadelphia 1994, 63f. Entwurf im Kopenhagener Fleischer-Nachlass. Vgl. Goldziher, Tagebuch, 115f. Die Einstellung Fleischers zu seinen Schülern und seine anhaltende Wirkung auf sie lässt sich über die Jahrzehnte seines Schaffens verfolgen, vgl. für die dreißiger Jahre die Ausführungen von Eduard Amthor, Selbstbiographie, 25-36.
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immer als sein Schüler und erblickte im Tod des Leipziger Lehrers einen tiefen Einschnitt in sein Leben. 107 Für seine philologischen und orientalistischen Interessen hatte ihm Fleischer Entscheidendes mitgegeben. Dieser hätte es wohl gern gesehen, wenn Goldziher sich entsprechend seinen eigenen Vorlieben mit der arabischen Sprachgelehrsamkeit befasst hätte, wie es sich in ersten Arbeiten bereits gezeigt hatte. Doch auch wenn er sich in seinen Studien und Publikationen dem exakten Studium vor allem der arabischen Sprache hingab, beschränkten sich seine Interessen nicht darauf. Fleischer hatte bei seinem Schüler auch dessen künftige klare Ausrichtung auf die Geschichte des Islams gefördert: „Obwohl Fleischers Vorträge zumeist auf tiefes Eindringen in den Bau der Sprachen und den Geist ihres Ausdruckes gerichtet waren, wurde ich durch den Besuch seiner Collegia und dem privaten Umgang mit ihm, gleich in der ersten Zeit zum besonderen Interesse für Geschichte und Institutionen des Islam angeregt und schon im ersten Leipziger Semester begann ich, mich im ,muhammedanischen Recht' umzusehen." 108
Diese Hinlenkung verlief also vor allem mündlich, sie lässt sich demzufolge kaum konkret feststellen. Aber es war nicht nur Fleischer, sondern auch Kärmän, der ihn prägte: ,,Nur mit ihm [Kärmän] konnte ich die Gelehrsamkeit Fleischers erst nützlich für mein wissenschaftliches Leben gestalten. Zu einer Gestaltung meiner Kenntnisse wäre es ohne K. niemals gekommen." 109 Goldzihers Wanderjahre umfassten nach den Anfangsstudien in Pest vor allem fünf Stationen mit unterschiedlichen Akzenten: In Berlin befasste er sich neben Orientalia vor allem mit jüdischer und jüdisch-arabischer Literatur und erhielt wichtige Anregungen für sein Denken und Arbeiten z.B. durch Steinschneider und Steinthal. Er bewegte sich dort vor allem in jüdischen Kreisen. In Leipzig erweiterte er unter Fleischer, aber auch durch unermüdliche Lektüre von Publikationen wie arabischen Manuskripten seine orientalisch-philologischen Studien 110 und reifte frühzeitig im regen Austausch mit Älteren und Gleichaltrigen zu einer jungen anerkannten akademischen Persönlichkeit. Lebenslange Freundschaften entstanden und Goldziher bekam die beruhigende Garantie, für alle seine Wege als Orientalist die begünstigende Empfehlung und den väterlichen Rat einer allgemein hochgeschätzten wissenschaftlichen Autorität wie Fleischer zu besitzen. Der Aufenthalt in Leiden mit seinen wissenschaftlichen Kontakten sowie den dort zugänglichen Handschriften förderte stärker sein Interesse an der Geschichte des Islams. Und in Damaskus und 107 108 109 110
Vgl. Goldziher, Tagebuch , 79, 116. Goldziher, Tagebuch, 41. Ebd. 44. Carl Heinrich Becker, Ignaz Goldziher, in: Der Islam 12 (1922), 215, betont übrigens bei seiner unbedingt würdigenden Charakteristik der Goldziherschen Arbeitsweise, auch im Vergleich zu Julius Wellhausen und Snouck Hurgronje, gerade diese Seite: „G. hat immer in erster Linie als echter Philologe gearbeitet - er hat den Fleischer-Schüler nie verleugnet - , viele seiner Arbeiten sind echt philologisch-antiquarische Realienstudien, und doch ist er für uns einer der Begründer der neuen, zwar philologisch erzogenen, aber doch das kultur- oder religionsgeschichtliche Ziel als Dominante der Arbeit durchfühlen-lassenden Geschichtsbetrachtung."
IGNAZ GOLDZIHER IN LEIPZIG
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Kairo konnte er Erworbenes mit Gewinn praktizieren, in kurzer Zeit tief und aktiv in die Welt eindringen, mit der er sich dann sein Leben lang als Gelehrter befassen sollte. Gleichzeitig bestimmte Goldziher seine Positionen als Jude gegenüber dem Christentum einerseits und dem Islam andererseits. So besaß er nach der Rückkehr aus dem Nahen Osten vorzügliche Voraussetzungen für eine akademische Laufbahn, die ihm aber in seiner ungarischen Heimat nicht offen stand. Als Fleischers bester Schüler wäre Goldziher gewiss auch als einer seiner Nachfolger in Frage gekommen. Als 1899 nach dem frühen Tod von Albert Socin (1844-1899) die Besetzung des Leipziger Lehrstuhls anstand, wurde diese Frage in der Kommission sehr wohl behandelt, allerdings mit der Bemerkung, sein Kommen müsse wie das seines Straßburger Kollegen Theodor Nöldeke (1836-1930) ausgeschlossen werden, „weil er trotz seiner ausgezeichneten Leistungen als Jude doch nicht hierher gehen würde."111 So blieben Goldziher vor allem tief wirkende Erinnerungen an Leipzig und an eine angenehme und prägende Studentenzeit in der Stadt an der Pleiße.
111
UAL Personalakte 22, August Fischer, B l . l , Commissionssitzung zur Wiederbesetzung der orientalischen Professur am 30. Juni 1899.
WEGE DER FORSCHUNG
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Die arabischen Intellektuellen und der Holocaust Epistemologische Deutung einer defizitären Wahrnehmung Einleitung In einer live übertragenen Sendung des arabischen Fernsehsenders al-Jazeera wurde über das Verhältnis des Zionismus zum Nazismus diskutiert. 1 Der bekannte Moderator Faysal al-Qasim präsentierte in seinem Streitgespräch „Die entgegengesetzte Richtung" zwei arabische Intellektuelle: Hayat al-Huwayk 'Atiyya und Al-'Afif Al'Akhdar. Die aus dem Libanon stammende und in Jordanien lebende Publizistin wurde dem Zuschauer als Forscherin zum Thema „Einfluss der jüdischen Lobby und ihr Treiben" vorgestellt. Frau 'Atiyya vertrat während der Sendung wiederholt die Position, dass es nicht einen Holocaust gegen die Juden gegeben habe, sondern einen Holocaust gegen die Palästinenser. Dagegen argumentierte der aus Tunis stammende und in Paris lebende Publizist Al-'Afif Al-'Akhdar: Die Araber sollten sich von vielen hässlichen Vorstellungen verabschieden, und dazu gehört, den Holocaust zu relativieren oder ihn zu leugnen. Nach mehr als einer Stunde ideologisch-polemischer Unterhaltung, angeheizt durch dramatische Äußerungen des Moderators, waren 84,6% der Zuschauer laut einer Blitzumfrage der Meinung, dass der Zionismus den Nazismus an Bösartigkeit übertrifft. Sieht man von der Emotionalität und dem polemischen Charakter dieser Sendung einmal ab, so verdient sie Beachtung insofern, als sie die herrschenden Meinungen in den arabischen Gesellschaften widerspiegelt. Auch jenseits oberflächlicher Einschätzungen kann dort entlang tagespolitischer Befunde eine relativierende und eingeschränkte Wahrnehmung in Bezug auf den nationalsozialistischen Genozid an den Juden festgestellt werden. Diese existiert nicht nur auf dem Feld der Politik, sondern auch in den Tiefenschichten von Wissenschaft und politischer Kultur. In den arabischen Gesellschaften ist die Wahrnehmung des Holocaust durch dessen Leugnung geprägt. Die Gründe dafür, so behaupten zahlreiche Arbeiten, liegen in der Palästinafrage als der Kernfrage des arabisch-israelischen Konflikts. 2 Der vorliegende Artikel strebt dagegen keine Analyse dieses Konflikts und der damit einhergehenden Instrumentalisierbarkeit des Holocaust an. Damit entfernt er sich von
'
2
Die Sendung wurde ausgestrahlt am 15. 5. 2001 unter dem Titel as-Sahuyniyya wal-Naziyya (Zionismus und Nazismus). Die gesamte Sendung ist bei al-Jazeera abrufbar: [Stand: 18.09.2005]. Vgl. dazu Jehoschafat Harkabi, Der arabische Antisemitismus, Tel Aviv 1966 [Hebr.] und Stefan Wild, „Die arabische Rezeption der .Protokolle der Weisen von Zion"\ in: Rainer Brunner/ Monika Gronke/Jens P. Laut (Hg.), Islamstudien ohne Ende, Würzburg 2002, 517-528. LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005), 319-331
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einer ideologisch-politischen Analyse, um einen Erklärungsansatz auf der Grundlage der Epistemologie zu formulieren. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Beweggründen des arabischen Leugnungsdiskurses, der als eine die gesamte arabische intellektuelle Sphäre prägende epistemologische Blockade fungiert. Im Sinne einer Entschlüsselung des Wahrnehmungsdefizits des Holocaust in der arabischsprachigen Welt sollen nun die europäische und die arabische Geschichte als zwei kulturell unterschiedlich geprägte historische Räume in den Blick genommen werden. In dem einen Raum fand der Holocaust statt und prägte sich auf Dauer in das Gedächtnis der an ihm beteiligten und der unter ihm leidenden nationalen und transnationalen Kollektive ein. Im anderen Raum wurde und wird er relativiert bzw. es ermangelt dort einer Ereignisgeschichte wie auch eines angemessenen Gedächtnisses, das sich seiner annehmen könnte. Hier läge das begründet, was in diesem Artikel in erinnerungs- und mentalitätshistorischer Absicht das „Wahrnehmungsdefizit" des Holocaust im arabischen Raum genannt werden soll. Ausgehend von der Frage nach den Beweggründen für das Wahrnehmungsdefizit des Holocaust in der arabischen Welt soll die Antwort also weder in einem rein arabisch-islamischen Kontext noch vorrangig im arabisch-israelischen Konflikt gesucht werden, sondern dort, wo sich arabische, europäische und jüdische Geschichte und Geschichtsnarrative überschnitten haben. Diese Überschneidung findet sich in der kolonialen Erfahrung arabischer Gesellschaften. Der Diskurs der Holocaustwahrnehmung arabischer Intellektueller ist auf das Engste mit dem hegemonialen (anti-) kolonialen Diskurs verbunden. Es handelt sich bei Holocaust- und Antikolonialdiskurs um zwei antagonistische Narrative, deren gemeinsame Analyse Aufschlüsse über Wahrnehmungsblockaden verspricht, oder anders formuliert: Die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs führt zu einer wesentlich fundierteren Erkenntnis der unterschiedlichen Sichtweisen, wie sie in den mit ihnen verbundenen Holocaustdeutungen des westlichen und des arabischen Kulturraumes aufeinander treffen. Die Gründe für die eingeschränkte Wahrnehmung des Holocaust durch arabische Intellektuelle, so die Ausgangshypothese, lassen sich dort aufzeigen, wo sich das Leiden der Araber unter dem Kolonialismus als Konkurrenz zum jüdischen Leid im Holocaust in die Geschichte eingeschrieben hat.
Die Araber und der Holocaust: Eine Diskursgeschichte Zwar stand die Haltung der Araber zum Holocaust seit den frühen 1960er Jahren im Mittelpunkt einiger Studien, aber diese konzentrierten sich vornehmlich auf einen arabischen Antisemitismus. So schrieb der deutsche Islamwissenschaftler Stefan Wild im Jahre 1964 einen bemerkenswerten Aufsatz über die Rezeption von Hitlers „Mein Kampf in der arabischen Welt,3 eine Arbeit, mit der er auf Jahre und Jahrzehnte hinaus das Forschungsfeld anzuregen vermochte. Zwei Jahre nach Wilds
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Stefan Wild, „Mein Kampf in arabischer Übersetzung, in: Die Welt des Islam 9 (1964), 207-211.
DIE ARABISCHEN INTELLEKTUELLEN UND DER HOLOCAUST
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Pionierstudie veröffentlichte der israelische Politikwissenschaftler Jehoschafat Harkabi seine umfassende Arbeit über den „arabischen Antisemitismus". 4 Die Spiegelung der mit Akribie zusammengetragenen gesamten antisemitischen Literatur der arabischen Welt zum damaligen Zeitpunkt machte diese Arbeit zu einem Standardwerk und führte - allein der Breite der Quellenverarbeitung wegen - auch über Wilds Aufsatz hinaus. Heute haben beide Studien an Bedeutung verloren, wobei weniger der Zeitpunkt ihres Erscheinens entscheidend war, als vielmehr die auf das Phänomen des Antisemitismus fokussierte Fragestellung. Aufgrund dieses, seinerzeit innovativen, Erkenntnisinteresses sind sie für den vorliegende Artikel nur von randständiger Bedeutung, denn der Holocaust wird in beiden Arbeiten nicht eigens behandelt. Hinzu kommt, dass in den 70er Jahren an diese beiden Schlüsselarbeiten auffälligerweise nicht angeknüpft wurde, - sie blieben solitär und regten keine vergleichbaren Untersuchungen an. Die Beschäftigung mit dem Antisemitismus erlangte erst wieder mit der Studie des Orientalisten Bernard Lewis Mitte der 80er Jahre neue Bedeutung. Galten Harkabi und Wild als die Klassiker der Antisemitismusforschung, so begann mit der Arbeit von Lewis über „Semites and Anti-Semites" eine neue Ära der Erforschung des Antisemitismus und der Holocaustrezeption in der arabischen Welt. Lewis analysierte den Antisemitismus als eine europäische Erscheinung, die erst in Folge des arabisch-israelischen Konflikts ihren Weg in die arabisch-islamischen Gesellschaften fand. Durch die Analyse antisemitischer Schriften einiger arabischer Intellektueller kam Lewis zu der Schlussfolgerung, dass der arabische Antisemitismus mit dem Antisemitismus in Nazideutschland durchaus vergleichbar sei: „The volume of anti-Semitic books and articles published, the size and the number o f editions and impressions, the eminence and the authority of those who write, publish, and sponsor them, their place in the school and college curricula, their role in the m a s s media, would all s e e m to suggest that classical anti-Semitism is an essential part of intellectual life at the present time - almost as much as happened in Nazi G e r m a n y . " 5
Das Leugnen des Holocaust in der arabischen Welt führt Lewis nun interessanterweise nicht nur auf den Palästinakonflikt im engeren Sinn zurück, sondern er setzt es auch mit der Erfahrung der arabischen Völker während der europäischen Kolonialisierung in Verbindung.6 Arabische Nationalisten, so seine These, seien mit nationalsozialistischem Gedankengut in Berührung gekommen und hätten sich dieses in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus zu eigen gemacht. 7 Die Studie von Lewis verdient in dieser Hinsicht besondere Beachtung, weil sie die erste war, die das Verhalten arabischer Intellektueller zum Antisemitismus im Allgemeinen und zum Holocaust im Speziellen zu erklären versuchte. Doch auch Lewis entwickelte seine
4 5
6 7
Vgl. dazu: Harkabi, Der arabische Antisemitismus. Bernard Lewis, Semites and Anti-Semites. An Inquiry into Conflict and Prejudice, New York 1986, 256. Ebd., 266. Ebd., 256.
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Argumente nicht in einem gedanklichen Raum zwischen der europäisch-christlichen und der arabisch-islamischen Welt. Letztendlich bleibt seine Erklärung „rein" europäisch, anstatt die Lösung im Hiatus zwischen einer europäischen und einer arabischen Perspektive zu suchen. Lewis wies zwar auf ein Defizit arabischer Intellektueller bei der Wahrnehmung des Holocaust hin, allerdings ohne dieses epistemologisch zu begründen. So war zwar auch seine Studie literaturkritisch, hatte allerdings durch ihren eurozentristischen Blickwinkel auf die Antisemitismus- und Holocaustwahrnehmung arabischer Intellektueller eine geringe Wirkung auf die unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte. Seit den 90er Jahren erregte die arabische Wahrnehmung des Holocaust - nun eine Gedächtnischiffre in einer sich zunehmend globalisierenden Welt - wieder mehr Aufmerksamkeit. 8 Vor allem jüngere Wissenschaftler wandten sich nun Themen zu wie die Leugnung des Holocaust in den arabischen Medien, 9 die Araber und die Shoah 10 und die antisemitischen Motive islamistisch-fundamentalistischer Gruppen." Diese Arbeiten standen allesamt noch stark in der Tradition von Harkabi. Nordbruch fasste vornehmlich die direkte Leugnung des Holocaust in den arabischen Medien zusammen. Webmann wiederum wertete mit ähnlicher Intention ausgewählte Schriften von Hamas und Hizbullah aus, während Zimmer-Winkel in dem von ihm herausgegebenen Heft arabische und europäische Artikel zum Holocaust in deutscher Übersetzung wiedergab und somit eher dokumentierende Absichten vertrat. 12 Bei allen drei Autoren fehlte indes durchgängig ein Interesse an der erkenntnistheoretischen Fragestellung, warum die Wahrnehmung des Holocaust in der arabischen Welt so stark deterministische Züge trug und immer noch trägt. Dass in den letzten Jahren Arbeiten zum weiteren Umkreis der Thematik erschienen sind, ist zumindest ein deutliches Indiz für die beginnende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rezeption des Holocaust in der arabischen Welt, auch wenn diese wiederum keine historisch-erkenntnistheoretischen Erklärungen vorgeschlagen und nicht versucht haben, den problematischen Umgang der arabischen Welt mit dem Holocaust kultur- und mentalitätsgeschichtlich darzulegen. Wir verfügen nach wie vor über keine umfassende und systematisch fragende Studie, die die Holocaustrezeption in der arabischen Welt als Forschungsziel thematisiert hat. Der vorliegende Artikel betritt demzufolge Neuland. Der Hauptgrund hierfür ist nicht zuletzt darin zu sehen, dass der Holocaust und seine Wahrnehmung durch die arabischen Intellektuellen bisher meistens im engen Zusammenhang mit einem arabischen Antisemitismus betrachtet wurde. 13 War also die arabische Rezeption des Holocaust Forschungsthema, so verblieben die vorgelegten Annäherungen primär in zwei Varianten befangen.
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11 12 13
Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter, Frankfurt a.M 2001. Götz Nordbruch, Leugnungen des Holocaust in arabischen Medien, in: Wolfgang Benz (Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10(2001), 184-203. Rainer Zimmer-Winkel, Die Araber und die Shoa: Über die Schwierigkeiten dieser Konjunktion, Trier 2000. Esther Webman, Anti-Semitic Motifs in the Ideology of Hizbullah and Hamas, Tel Aviv 1994. Vgl. Zimmer-Winkel, Die Araber und die Shoa, 6. Vgl. Lewis, Semites and Anti-Semites.
D I E ARABISCHEN INTELLEKTUELLEN U N D DER H O L O C A U S T
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Die eine besteht darin, den deskriptiven Nachweis eines positiven Verhältnisses „der" arabischen Welt zum Nationalsozialismus zu erbringen; die leugnende oder relativierende Haltung der Araber zum Holocaust nach 1945 schien damit gleichsam miterklärt. Die zweite Variante besteht in einer Engführung des historischen und des aktuellen arabisch-israelischen Konflikts, in der die eingeschränkte Holocaustwahrnehmung auf bloßes politisches Kalkül zurückgeführt und somit auch nur sehr oberflächlich erklärt wird.14 Diese Leerstelle der Holocaustwahrnehmung durch arabische Intellektuelle ist indes erkannt und als der Erklärung bedürftig empfunden worden, nicht nur im europäisch-amerikanischen Kontext, sondern auch im Nahen Osten selbst.15 Aber die Erklärungen, die hierfür bisher angesetzt werden, sind noch unbefriedigend, - sie wechseln zwischen den Polen des parteilichen Werbens für Verständnis und einer allgemeinen moralischen Kritik an dieser Leerstelle, mitunter in ein und demselben Text. Dafür ist der Beitrag des palästinensischen Israeli Azmi Bishara aus dem Jahre 1995 ein gutes Beispiel. Er stellt eine der ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust aus arabischer Feder dar, die sich explizit um eine Vermittlung des erkenntnistheoretischen Hiatus zwischen dem europäisch-westlichen und dem arabischen Kulturraum bemühen. Sein Artikel „Die Araber und der Holocaust. Die Problematisierung einer Konjunktion" versammelt eine Fülle von Hinweisen auf die Problematik des Themas. Doch auch seine Erklärungsversuche bleiben dem direkten politischen israelisch-palästinensischen Konflikt seit 1917 bzw. seit 1948 verhaftet. Bishara, der hier auch die Frage diskutiert, ob sich die Araber überhaupt mit dem Holocaust beschäftigen sollten, plädiert zwar für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem. Doch auch für ihn war das Thema „mysteriös", „provokativ" und nicht zuletzt „verdächtig".16 Der Schauplatz der verheerenden Katastrophe des Holocaust sei Europa gewesen, sowohl in ideologischer als auch in historischer Hinsicht; die „Wiedergutmachung" hingegen habe vor allem im Nahen Osten zum Nachteil der Palästinenser stattgefunden: „Der jüdische Staat entstand nicht in Bayern oder Schleswig-Holstein."17 Auch Bishara nimmt die Thematik „Die Araber und der Holocaust" letztendlich nicht anders als in einer Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses wahr: „Die palästinensischen Opfer wurden kriminalisiert. Keine Erwähnung des Holocaust im Zusammenhang mit dem israelischpalästinensischen Konflikt trägt der heutigen Rolle der Palästinenser Rechnung. Die Israelis hingegen bleiben Opfer, auch wenn sie Besatzer sind."18 Sein Eintreten für eine Beschäftigung mit dem Holocaust erfolgt daher in einer universalgeschichtlichen Neutralisierung dieses Konflikts und er plädiert folgerichtig dafür, dem Staat
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Vgl. Lukasz Hirszowicz, The Third Reich and the Arab East, London 1966; Harkabi, Der arabische Antisemitismus, sowie Webman, Anti-Semitic Motifs. Azmi Bishara, Die Araber und der Holocaust. Die Problematisierung einer Konjunktion, in: Rolf Steininger (Hg.), Der Umgang mit dem Holocaust, Wien 1994, 407^432. Bishara, Die Araber und der Holocaust, 407. Ebd. Ebd.
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Israel den Holocaust als „Eigentum" zu entziehen und der „ganzen Menschheit" anzuvertrauen.19 Er formuliert darüber hinaus drei weitere Gründe für eine arabische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, „die über ein normales, menschliches Interesse Intellektueller" hinausgehen: Erstens sei die Palästinafrage unmittelbar mit der jüdischen Frage verknüpft. Ohne diese Verwicklung wäre sie schon längst im Prozess der Dekolonialisierung gelöst worden.20 Zum zweiten müsse jeder politische Kompromiss zwischen Israelis und Arabern den zwei verschiedenen „kollektiven Gedächtnissen" Rechnung tragen, weshalb seiner Meinung nach eine Verständigung nur „mit Rücksicht auf die Geschichte" erfolgen könne. Der dritte Grund schließlich, den Bishara anführte, liegt in der bisher nicht ausreichend geübten historischen Selbstkritik der palästinensischen Nationalisten, die in den 1930er Jahren mit dem nationalsozialistischen Deutschland gegen England und die Zionisten kooperierten. Bishara bewertete diese Kooperation als „gravierenden Fehler", der gesehen werden müsse, „um der Geschichte und der Gegenwart willen".21 Insgesamt analysiert Bishara die Haltung der arabischen Intellektuellen zum Holocaust zwar scharfsinnig und kritisch, - dennoch büßt seine Studie immer dort an argumentativer Stringenz ein, wo er den Leugnungsdiskurs arabischer Intellektueller isoliert im Rahmen des arabisch-israelischen Konfliktes interpretiert, sozusagen als „Verhandlungsmasse" für einen erwünschten politischen Ausgleich zwischen beiden politischen Parteien und beiden Völkern. Zudem ist seine Darstellung nicht frei von .schiefen' Wertungen, zumal dort, wo er die israelische Seite für den Leugnungsdiskurs arabischer Intellektueller verantwortlich zu machen sucht. Der Panarabismus, der wie kaum eine andere Ideologie den arabischen Diskurs um Israel im Allgemeinen und den Holocaust im Besonderen geprägt hat, wird von ihm dagegen nicht ausreichend kritisch gewichtet, die Ideologisierung des arabischen Diskurses wird deshalb im Rahmen seiner Arbeit nicht thematisiert. Für die westliche Diskussion hat Bishara zwar einen ersten Anstoß gegeben, dagegen ist sein Einfluss auf den arabischen Diskurs selbst eher beschränkt geblieben, da er seinen Diskussionsbeitrag zwar auf Hebräisch und Deutsch, nicht aber auf Arabisch veröffentlicht hat. Interessant an seinem Beitrag ist darüber hinaus vor allem die klare Stellungnahme, dass der palästinensische Blick auf den Holocaust epistemologisch begrenzt sei: Er sei „der Herausforderung des Vergleichens und der Relativierung des eigenen Leidens" nicht gewachsen - „und könne es nicht sein".22 Es handele sich mithin bei dem Thema „Die Araber und der Holocaust" um eine „ausschließende Erinnerung",23 um eine „Scheinfrage", innerhalb derer „Worte" mitunter über geradezu „magische Kräfte" verfügten;24 das Verhältnis der Araber zum Holocaust sei a priori „konstruiert";25 der „Holocaust selbst als historisches Ereignis" stehe 19 20 21 22 23 24 25
Ebd., Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,
409.
408. 407. 410.
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im arabischen Kontext „nicht zur Debatte",26 vielmehr werde er zu einem Vehikel, um „die Problematik des Verhältnisses zu Europa"27 insgesamt zu thematisieren oder sich in Abgrenzung „zum Westen" zu begreifen.
Die Araber und der Holocaust - warum? In dem oben genannten Artikel betont Bishara die Notwendigkeit, die Haltung der Araber zum Holocaust zu untersuchen. Damit geht er auf arabische Kritiker ein, die eine arabische Beschäftigung mit dem Holocaust als konstruiert und substanzlos ablehnen. Die Araber waren weder die „Täter" noch die „Opfer". Solche Beschäftigung, so die Kritiker, kann der Palästinafrage nur Schaden zufügen, denn die Anerkennung des jüdischen Leidens würde mindernd auf das bis heute nicht anerkannte Leid der Palästinenser wirken. Arabische Stimmen, die aus unterschiedlichen Gründen dafür plädieren, den Holocaust zum Gegenstand der Forschung zu machen, sind demnach im letzten Jahrzehnt nicht selten. Es handelt sich um sehr verschiedene Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen und diversen wissenschaftlichen Forschungskontexten - häufig mittelbar der arabischen Sicht verbunden, nicht aber ständig im arabischen Raum lebend oder lehrend. Diese Ansätze vereint jedoch, dass sie sich durch ihre Konfrontation mit der unterschiedlichen Wahrnehmung des Holocaust im europäischen und amerikanischen Kontext, vor allem aber durch die zunehmenden internationalen Vorwürfe gegenüber der arabischen Welt, ihr Leugnen des Holocaust sei keine Erscheinung am Rande der Gesellschaft, sondern in deren Kern als prägendes Konstitutivum vorhanden, herausgefordert sahen, in der arabischen Öffentlichkeit für eine neue Wahrnehmung des Holocaust zu plädieren. Dies war nicht zuletzt der Raison jedes politischen Versuchs geschuldet, die Konfrontation zwischen Israel und Palästina ideologisch zu deeskalieren. So schrieb der verstorbene Literaturwissenschaftler Edward Said für die Tagungszeitung al-Hayat einen Artikel über das Verhältnis von Israelis und Arabern, der die Grundlagen der Koexistenz zwischen den Völkern auszuloten versuchte. Said diskutierte auch den Holocaust und wies darauf hin, was dieser für die Juden in der ganzen Welt bedeutet. Zugleich charakterisierte er die moderne Geschichte der arabischen Völker als ein „hässliches Bild", das viele diskreditierte und überholte Vorstellungen beinhalte, allen voran diejenige, „der Holocaust und das Leiden der Juden seien nichts weiter als eine propagandistische Lüge". Somit bekam der arabische Leser in einer klaren Form eine in dieser Deutlichkeit selten formulierte Kritik an der Wahrnehmung des Holocausts präsentiert, - noch dazu in einer arabischen Zeitung. Said wandte sich scharf gegen die „Behauptung, der Holocaust sei nur eine Erfindung der Zionisten", und er distanzierte sich von einem Diskurs, in welchem diese Auffassung „in unerträglicher Weise immer noch
26 27
Ebd. Ebd., 407-410.
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in Umlauf sei.28 Schuld an der Unfähigkeit, den Holocaust zu erkennen und anzuerkennen, waren für Said nicht die unaufgeklärten Massen, sondern die Intellektuellen selbst. Er kritisierte diese für ihre Unterstützung des zum Islam konvertierten Franzosen Roger Garaudy, der mit seinen pseudowissenschaftlich vorgetragenen Zweifeln am Tod von sechs Millionen Juden in der arabischen Welt zum Helden wurde. Statt einen „Dekadenten" wie Garaudy zu verteidigen, so Said, und sich Sorgen über die Meinungsfreiheit in Frankreich zu machen, sollten sich die arabischen Intellektuellen intensiver für die Demokratisierung ihrer eigenen Gesellschaften einsetzen. Doch auch diese mutige Intervention Saids hatte - jenseits ihrer intellektuellen Redlichkeit und ihrer argumentativen Radikalität - politische Aufklärung im Sinn, und damit verbunden natürlich einen „Wandel durch Annäherung" zum Ziel. Eine historische oder gar erkenntnistheoretische Erklärung für den massiven Holocaustleugnungs-Diskurs der arabischen Welt vermochte auch Said nicht zu leisten. In ihrem Artikel „Die Universalisierung des Holocaust" kritisierten auch Hazim Sagyah und Salih Baschir, zwei in London lebende Publizisten, die bisherige arabischpalästinensische wie auch die israelische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und schlugen eine neue Grundlage der Diskussion vor.29 Sagyah und Baschir verglichen die europäische Diskussion über den Holocaust mit der abwehrenden oder bestenfalls reservierten Haltung, die arabische Intellektuelle einzunehmen pflegen. Dass beispielsweise Frankreich von seiner bisherigen ausschließlichen Selbstwahrnehmung als Opfer und Gegner des Nationalsozialismus abrückte und eine Mitschuld an der Deportation französischer Juden einräumte, dass auch in so genannten neutralen Ländern wie Schweden oder der Schweiz ähnliche Debatten geführt wurden, sei keinesfalls - wie von arabischer Seite oft behauptet - ein weiterer Sieg der „weltweit agierenden zionistischen Lobby".30 Die Autoren konstatierten vielmehr ein sich in Europa entwickelndes neues Verständnis der eigenen geschichtlichen Verstrickung in die Vernichtung des europäischen Judentums. Obwohl der Titel des Artikels erwarten ließe, dass Sagyah und Baschir sich auf die neuesten deutscheuropäischen , Universaldiskurse' über die globalen Lehren des Holocaust beziehen, vermeiden sie jeden Querverweis auf diesen Zweig der aktuellen Debatten. Ihr Ansatz konzentriert sich allein auf den Nahen Osten, wo es ihrer Meinung nach weniger um Fragen der Landverteilung und Sicherheit gehe, als darum, „wie Araber und Palästinenser sich gegenüber dem Holocaust und wie die Juden sich gegenüber den palästinensischen Opfern verhalten".31 Erst eine konstruktive Beantwortung dieser Frage könne die Grundlage einer wirklichen Koexistenz in der Region sein.
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Edward Said, Grundlagen der Koexistenz, in: al-Hayat, London, 5. November 1997, 17 [Arab.]. Hazim Sagyah und Salih Baschir, Die Universalisierung der Holocaust, in: al-Hayat, London, 18. Dezember 1997, 19 [Arab.]. Ebd. Ebd.
D I E ARABISCHEN INTELLEKTUELLEN UND DER HOLOCAUST
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Konkurrierende Erfahrungen: Holocaust und Kolonialismus Eine größere Bedeutung erlangt der Holocaust in den Arbeiten von Abd Al-Wahab al-Missiri.32 Der ägyptische Literaturwissenschaftler versuchte sich auf den Kontext des Ereignisses einzulassen und die Geschichte des Holocaust in diesem Ereignisund Geschehenszusammenhang zu verstehen. Al-Missiri unterscheidet sehr wohl die zivilisatorischen Unterschiede zwischen der europäisch-christlichen und der arabischislamischen Kultur. Diese Unterschiede führt al-Missiri auf die unterschiedlichen religiösen Traditionen sowie auf die verschiedenen historischen Erfahrungen zurück. Al-Missiri geht aber über die Grenzen der Religion hinaus und präsentiert ein zivilisatorisches Projekt, das die gemeinsame Existenz von Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft ermöglicht.33 Dabei geht es al-Missiri hier nicht um einen islamisch-missionarischen Ansatz, vielmehr geht es ihm darum, das islamische Modell - auch mit seinen ,Makeln' - als eine Antwort auf die europäische Moderne zu präsentieren.34 Diese Moderne zeitigte nach al-Missiri sowohl positive als auch negative Wirkungen. Al-Missiri konzentriert sich jedoch auf die negativen Aspekte der europäischen Moderne. In den Vordergrund stellt er die europäische Säkularisierung und die Industrialisierung als den Beginn einer bis heute andauernden europäischen Hegemonie. Das religiöse Europa beanspruchte nichtchristliche Gebiete, das säkularisierte Europa brachte mit der Industrialisierung Ideologien hervor, deren Ziel die Vernichtung des Anderen war. Dazu gehörten der Kolonialismus und der Holocaust. 35 Al-Missiri nähert sich damit der von verschiedenen arabischen Intellektuellen angesprochenen Konstruktion einer Verbindung zwischen Holocaust und Kolonialismus. Letztendlich blieb auch seine Arbeit in kulturell-ideologischen Erklärungsmustern befangen und scheiterte durch die Polemik, die er sowohl gegen die europäische Zivilisation, als auch gegen die zionistische Ideologie führte. Schon der Titel „Der Zionismus, der Nazismus und das Ende der Geschichte" verdeutlicht dies, denn dass er den Zionismus mit dem Nazismus gleichsetzt - als zwei europäische Ideologien - , verweist geradezu exemplarisch auf das Defizit arabischer Intellektueller, den ereignisgeschichtlichen Kontext des Holocaust historisch wahrzunehmen bzw. die erkenntnistheoretische Differenz zwischen dem Ereignis und seinen kulturell spezifischen Deutungen kritisch zu reflektieren oder auch nur zu thematisieren. In einem Unterkapitel behandelte al-Missiri die Stellung des Nazismus in der europäischen Zivilisation,36 wobei er weder den Begriff „Holocaust" noch den der „Shoah" verwendete; aber er sprach von „Vernichtung" (Ibada),37 wenn auch ohne Rückbezug auf die große
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Abd Al-Wahab al-Missiri, Der Zionismus, Der Nazismus und das Ende der Geschichte, Kairo 1997 [Arab.]. Al-Missiri, Der Zionismus, 17f. Ebd., 21 f. Ebd., 13f. Ebd., 21-66. Ebd., 24.
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Studie von Raul Hilberg aus den frühen 1960er Jahren.38 Zudem war seine Argumentation eine grundlegend andere, wandte er sich doch gegen die These von der Einzigartigkeit der Vernichtung des europäischen Judentums. Der Nazismus wurde hier sozusagen verallgemeinernd europäisiert und als „ein fundamentaler Bestandteil der westlichen Zivilisation" interpretiert.39 Mit diesem Zugriff konnte al-Missiri den Nazismus explizit mit dem europäischen Kolonialismus gleichsetzen, denn beide Ideologien schöpften, so seine Sicht, aus dem Glauben an die Überlegenheit einer Rasse: „Diese Überlegenheit ist die Legitimation der Vernichtung der Unterlegenen".40 Diese Gleichsetzung von Kolonialismus und Nazismus führte al-Missiri zu der Schlussfolgerung, dass „die Naziverbrechen die logische Folge der modernen westlichen Zivilisation und nicht deren Ausnahme" seien.41 Neben Nazismus und Kolonialismus stellte der Verfasser den Zionismus, der, so die Konsequenz dieser Reihung, die Vernichtung ebenfalls als Mittel zum Zweck benutze. Das wesentliche und somit verbindende Merkmal aller drei Erscheinungen war nach al-Missiri die „Rationalisierung der Maßnahmen und der Mittel"; die Ziele hingegen seien unterschiedlich 42 Diese fundamentale Kritik der „westlichen" Rationalisierung war nun bei al-Missiri zum Interpretament geworden, Nazismus mit dem Kolonialismus zu erklären, beide wiederum als Kern des Zionismus ausfindig zu machen und somit Nazideutschland und das zionistische Israel als verwandte politische Erscheinungen zu deuten. Gegen die Studie von al-Missiri gibt es vor dem Hintergrund dieser Deutung viele Einwände. Sie verdient sicher nicht wegen des Ergebnisses dieses komparativen Blicks Beachtung, sondern aus anderen, eher methodischen Gründen. Al-Missiri hatte nämlich die erste arabische Studie vorgelegt, die den Versuch wagte, die Vernichtung der Juden in einem europäischen Kontext zu erklären und somit den Holocaust in einem europäisch-kulturellen Raum zu betrachten, einem Raum, den er als „das Andere" zu entschlüsseln versuchte. Zwar führten ihn die Schlussfolgerungen der Engfiihrung von Nazismus und Zionismus dann zu den oben referierten Ergebnissen, aber der Ansatz der Studie offenbart - unabhängig davon, wie unterschiedlich die europäischen und die arabischen Wahrnehmungsräume sind - eine Differenz, die allem Anschein nach zu einem konstitutiven Defizit bei der Wahrnehmung des jeweils anderen kulturellen Raumes zu führen scheint. Dieses Defizit, so das Fazit auch bei der Betrachtung dieses arabischen Beitrags zum Verständnis des Holocaust, manifestiert sich offensichtlich als eine grundlegende epistemische Blockade zwischen beiden Kulturräumen. Noch bedeutender ist die Tatsache, dass, wenn man den missirischen Diskurs von seinen ideologisch-polemischen Inhalten befreit, man den epistemologischen Gehalt seines Ansatzes aufdecken kann. Denn al-Missiri betrachtet den Holocaust als eine jüdische Erfahrung mit einer europäischen Vernich-
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Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, London 1961. Al-Missiri, Der Zionismus, 24. Ebd., 25. Ebd., 14. Ebd.
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tungsideologie, die anderen Erfahrungen gleicht: der der Schwarzen mit der Sklaverei, der der Ausrottung der nordamerikanischen Indianer und der der Araber mit dem Kolonialismus. Eine Frage hebt al-Missiri besonders hervor: Warum erkennen die Europäer das Leiden der Juden an und verschweigen das „andauernde" Leiden der Araber unter dem Kolonialismus und dessen Wirkungen? Damit ist die Studie von al-Missiri ein .Aufschrei' gegenüber Europa; Europa soll das von Europäern verursachte Leid der Araber anerkennen. Die Arbeit von al-Missiri zeigt also, dass eine Annäherung an die Lücken der Holocaustwahrnehmung arabischer Intellektueller nicht über eine wohlmeinende aufklärende Empirie zu leisten ist, sondern nur in einer Methode, die die zugrunde liegenden Wahrnehmungsstrukturen und ihre Epistemata zu begreifen versucht. Verfolgt man die Überschneidung jüdischer, europäischer und arabischer Geschichte in Schriften arabischer Intellektueller weiter, so begegnet man der Arbeit von Georges Corm.43 Auch er konstruiert die Verbindung zwischen Holocaust und Kolonialismus. Zuerst untersucht der libanesische Publizist die Konstruktion einer imaginären Grenzziehung zwischen der europäischen und arabisch-islamischen Zivilisation. In einem von Edward Said geprägten Ansatz dekonstruiert Corm diese zivilisatorische Grenzziehung zwischen Orient und Okzident und ordnet sie als eine europäische Erfindung ein.44 Neu ist in seinem Ansatz die jüdische' Dimension. Nach Corm begreift das heutige Europa sich nicht kontinental, sondern eher zivilisatorisch.45 Das Europa von heute steht für Zivilisation. Dabei ist es interessant, so Corm, die Entstehung des Zivilisationsprojekts Europa im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit anderen, als nichteuropäisch geltenden Völkern wie den Juden zu betrachten. Corm sieht den Holocaust und den Kolonialismus als zwei europäische Ideologien, die von der Überlegenheit des Europäischen gegenüber dem Anderen ausgehen.46 Während der Holocaust auf das Jüdische als das Andere innerhalb Europas abzielte, richtete sich der Kolonialismus gegen das Andere außerhalb Europas, gegen die außereuropäischen Völker. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann Europa ,seine' jüdische Prägung zu entdecken. Die Anerkennung des Holocaust als Genozid bedeutete dabei eine Art „Wiedergutmachung", in der Europa das Jüdische nicht mehr als das Andere, sondern als das Eigene betrachtete. So sieht sich das heutige Europa gern als eine auf der judeo-christlichen Tradition basierende Wertegemeinschaft 47 Die Synonymie des Jüdischen zum Europäischen erfolgte, so die Argumentation von Corm, nicht als Folge des Holocaust, sondern am Ende der Europäisierung des Jüdischen. Somit sei die Anerkennung des nach innen gerichteten Holocaust eine Anerkennung des eigenen Leids. Dagegen sieht Corm den nach außen gerichteten Holocaust, den Kolonialismus, als eine offene Rechnung, die Europa noch begleichen sollte. 43 44 45 46 47
Georges Corm, Orient und Okzident. Imaginäre Grenzen, Bairut 2003 [Arab.]. Ebd., 12f. Ebd., 89-92. Ebd., 53f. Ebd., 140f.
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Die Überlegungen Corms verdienen Beachtung, zumal sie sich in der Überschneidungszone des europäischen, jüdischen und arabisch-islamischen historischen Erfahrungsraumes bewegen. Dennoch büßt die Studie dort an epistemologischem Gehalt ein, wo der Autor epistemologische Kategorien in ideologische Instrumente hinsichtlich des arabisch-israelischen Konflikts transformiert.48 So reduziert er die Wirkung der Säkularisierung des Jüdischen im europäischen Kontext auf den Zionismus und verwechselt damit, bewusst oder unbewusst, Säkularisierung als epistemologische Kategorie und deren ideologische Instrumentalisierung.
Zusammenfassung Das Wahrnehmungsdefizit des Holocaust ergibt sich aus dem Erfahrungsraum der arabischen Intellektuellen und des in den arabischen Gesellschaften herrschenden wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins. Das Affiziertwerden arabischer Intellektueller durch die Geschichte ist als das Korrelat ihrer Wirkung auf sie zu begreifen. Bei diesem Affiziertwerden handelt es sich letzten Endes um eine scheinbare Antinomie zwischen Diskontinuität und Kontinuität im Geschichtsbild arabischer Intellektueller. Diese Antinomie ergibt sich daraus, dass einerseits bereits die bloße Rezeption der historischen Vergangenheit durch das präsente Bewusstsein die Kontinuität eines gemeinsamen arabischen Gedächtnisses vorauszusetzen scheint und andererseits die durch die „nouvelle histoire" vollzogene dokumentarische Revolution die Einschnitte, Brüche und Krisen, den plötzlichen Einbruch von Ereignissen im Denken - kurz: die Diskontinuität - zu bevorzugen scheint, wenn es darum geht, die historische Vergangenheit zu rekonstruieren. Die negative Einstellung arabischer Intellektueller zum Holocaust geht auf die Transformationserfahrung arabischer Völker im 19. Jahrhundert zurück, d.h. auf eine Zeit, in der der arabisch-islamische Kulturraum - bis dahin determiniert durch die religiös-islamische Tradition - dem europäischen Kulturraum begegnete, der den Paradigmenwechsel von einer religiösen zu einer säkularisierten Weltsicht gerade durchlaufen hatte. Genau in dieser Begegnung erfahren die arabischen Gesellschaften den Kolonialismus und nehmen das Judentum wahr, - beides ist von grundlegender Bedeutung für ihr Verstehen heute. Die Begegnung arabischer Intellektueller mit der europäischen Moderne führte zu einem historischen Bruch bezüglich der Wahrnehmung der Juden: Bis dahin galten diese gemäß der religiösen Normen als marginalisierte Schwache und daher Schutzbefohlene - Dhimmis - innerhalb des arabisch-islamischen Kulturraums. Mit dem Kolonialismus erschien der mit Europa assoziierte Jude als Teil der Kolonialmächte. Diese Erfahrung führte zur Negativierung seiner Wahrnehmung. In dieser Transformationserfahrung der Araber liegen nicht nur die Gründe für die Holocaustleugnung im arabischen Raum, sondern auch für den arabischen Antisemitismus und die ideologisierte Wahrnehmung des Zionismus als eine Fortsetzung des europäischen Kolonialismus.
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Ebd., 143f.
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Die beiden Arbeiten von al-Missiri und Corm zeigen jenes erwähnte Wahrnehmungsdefizit und die Rezeptionsblockaden im arabischen Raum. Das Wahrnehmungsdefizit ist Folge einer Dialektik, die im arabischen Erfahrungsraum vorherrscht. Diese Dialektik geht zurück auf die im Herzen des Erfahrungsraumes angesiedelte Spannung zwischen der Wirkung der kolonialen Vergangenheit, „die wir erleiden", und der Rezeption des „europäischen" Holocaustereignisses, „das wir vollziehen". Um dieses dialektische Verhältnis zu denken, helfen zwei ergänzende Begriffe - zum einen der Begriff der „Situation", zum anderen der Begriff des „Horizonts". Arabische Intellektuelle befinden sich in einer Situation; von diesem Punkt aus sehen sie alles im Gesichtskreis eines weiten, aber begrenzten Horizonts. Dieser weite arabische - aber mithin auch limitierte - Horizont ist beweglich, d.h. er umfasst all das, was das geschichtliche Bewusstsein in sich enthält. Dieser Gedanke eines beweglichen und singulären arabischen Horizonts richtet sich gegen Nietzsches Gedanken von einem Hiatus zwischen den wechselnden Horizonten, in die man sich zu versetzen habe. Was zur Rezeptionsblockade europäischer Erscheinungen bei arabischen Intellektuellen im Allgemeinen führt, ist die Tatsache, dass zwischen dem absoluten Wissen, das die Horizonte aufhebt, und dem Gedanken einer Vielheit inkommensurabler Horizonte ein Platz für den Gedanken einer Horizontverschmelzung fehlt, zu der es erst kommen könnte, wenn auf die Angleichung der Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen zugunsten des Entwurfs eines eigenen historischen Horizonts verzichtet würde. Indem arabische Intellektuelle einen historischen Horizont entwerfen, verspüren sie in der Spannung zum Gegenwartshorizont die Wirkung der Geschichte.
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Abstracts Yaakov Ariel Good Germans, Confused Jews, and the Tragedy of Modernity: S.Y. Agnon Remembers Leipzig Set in Leipzig of World War I, the novel In Mr. Lublin's Shop offers much more than the description of a German city, and a German Jewish community, during the Great War. While the book deals with the purposelessness of the war it also points to the destructive effect of modernity in general. The author, Shmuel Y. Agnon (18881970), has given expression in this novel to his opinions on modernity and its disruptive effects on Jews and Germans as well as on the relationship between the two peoples. Agnon sees modernity and nationalism as creating a breach in what had historically been a good relationship between Germans and Jews. The novel also offers an important Jewish reaction to the end of Jewish life in Germany and the rehabilitation of the German nation following World War II. It relates to Germans as inherently good people who had been led astray by pervert theatrical leaders. Mara Borda Political Theology and the Politics of Conversion: Hermann Cohen's Religion of Reason as Alternative to Reason This article explores Cohen's philosophy of religion within the wider issue of the return to religion as the basis for the elaboration of a political project of the transformation of modern culture at the beginning of the twentieth Century in Germany. In this interpretation, the transformation of Judaism is less a demand required by religion than by modernity. If Judaism can furnish the basis for a political project of the transformation of modern culture born out of religion, then the return to religion should ensure modernity's continuity by calling religion to perform the critical task assigned to reason. The transformation of Judaism is then elucidated in terms of the conception of religion as an alternative to reason, attending to its implications regarding the relation between religion, history and the politics of the transformation of modern culture in the context of the critical understanding of European thought and history. Atef Botros Literarische „Reterritorialisierung" und historische Rekonstruierung Zur europäischen und arabischen Rezeption von Kafkas Schakale und Araber Ausgehend von Benjamins hermeneutischen Überlegungen zu Kafkas Parabeln sowie von Deleuzes und Guattaris Begriff der „Deterritorialisierung" wird die KafkaDeutung generell als eine reterritorialisierende Arbeit gegen die Erzählstrukturen des Textes begriffen. Sowohl in der europäischen als auch in der arabischen Rezeption LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005)
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von Kafkas kurzer Erzählung Schakale und Araber finden sich viele Anhaltspunkte, die eine Lektüre im Hinblick auf das Phänomen „Zionismus" rechtfertigen. Allerdings handelt es sich um verschiedene Rekonstruktionen des Zionismus. In der europäischen Rezeption findet eine „Reterritorialisierung" statt, in der der Zionismus nur aus europäischer Warte begriffen, die Verfolgung der europäischen Juden hervorgehoben und die Situation im palästinensischen Jischuw vollständig ignoriert wird. In den arabischen politisierten Diskussionen um die Erzählung werden Geschichtsbilder reproduziert, die mehr mit dem aktuellen Konflikt als mit der Situation zur Entstehungszeit zu tun haben. Während europäische Post-Holocaust-Kommentare die , Araberfrage' im Palästina von 1917 nicht registrieren, dokumentiert die arabische Rezeption eine Erkenntnisblockade, die auf den aktuellen Konflikt zurückzuführen ist und daher weder die ,Judenfrage' noch die .Araberfrage' jener Zeit erkennt. Arndt Engelhardt Ordnungen des Wissens und Kontexte der Selbstdefinition Zur Besonderheit deutsch-jüdischer Enzyklopädieprojekte im 19. Jahrhundert Der Beitrag analysiert vor dem Hintergrund der allgemeinen Wissenschafts- und Enzyklopädieentwicklung die Projekte zu jüdischen Enzyklopädien, die im Laufe des 19. Jahrhunderts diskutiert wurden. Diesen programmatischen Schriften ging es neben einer systematischen Fundierung der Wissenschaft des Judentums um die Etablierung einer reformierten .jüdischen Theologie" und um eine Anbindung der Jüdischen Studien an die Universitäten. Parallel dazu erschienen erste Entwürfe für alphabetisch geordnete Nachschlagewerke zur Geschichte und Kultur der Juden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden erstmals Beiträge jüdischer Wissenschaftler in die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1818-1889) aufgenommen. Dieses Medium ermöglichte es, im Gegensatz zum weiterhin bestehenden Ausschluss jüdischer Forschungen aus der Universität, neben und in Konkurrenz zur christlich-dominierten Wissenschaft, jüdische Positionen und Geschichtsbilder zu popularisieren. Die enzyklopädischen Projekte von Leopold Zunz, Abraham Geiger, Phöbus Philippson, Isaak Markus Jost, Moritz Steinschneider und David Cassel verweisen somit auf die Entwicklung der jüdischen Enzyklopädien, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Eszter Brigitta Gantner „Dagegen rathe ich sehr, eine annembahre Stelle in Ungarn anzunehmen ..." Ungarisch-jüdische Assimilation und der neo-orthodoxe Rabbiner Esriel Hildesheimer In der Spanne zwischen der niedergeschlagenen Revolution von 1848/49 und der wirtschaftlichen Blütezeit Ungarns nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich 1867 wurden unter den ungarischen Juden in verschärfter Form Widersprüche ausgetragen, die schon in den 1820er und 1830er Jahren herangereift waren. Die Auseinandersetzung um die verschiedenen Interessen und Ziele innerhalb der Judenheit
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in Ungarn - die seitens der Reformpartei geforderte Emanzipation bzw. die Angst der Orthodoxie vor der Zerstörung der jüdischen Integrität - spitzten sich besonders nach 1849 zu. Vollends zum Riss zwischen den Parteiungen kam es auf dem Landeskongress der Israeliten 1868/69. Der Beitrag thematisiert diese Entwicklungen mittels eines Blicks auf die von 1851 bis 1869 währende Tätigkeit des deutschen Rabbiners Esriel Hildesheimer in Ungarn. Auf diese Weise werden sowohl Hildesheimer als Repräsentant der deutschen NeoOrthodoxie als auch die ungarisch-jüdischen Lebenswelten, insbesondere die Orientierung der ungarischen Orthodoxie, im Kontext zunehmender Ungarisierung pointiert charakterisiert. Hildesheimer ist vor allem als der erste und langjährige Direktor des 1873 eingeweihten orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin bekannt; seine Zeit in Ungarn ist nichtsdestoweniger eine bedeutende, wenn auch letztlich wenig erfolgreiche Phase seines Lebens gewesen. Natasha Gordinsky "Homeland I will name the language of poetry in a foreign country" Modes of Challenging the Home/Exile Binary in Leah Goldberg's Poetry Leah Goldberg (1911-1970) is one of the most important female figures of Hebrew Poetry. After her immigration to Palestine in 1935, she became a leader of the Hebrew Modernist Movement, together with Abraham Shlonsky and Natan Alterman. Already in her childhood Leah Goldberg chose to write poems in Hebrew, even though her mother language was Russian. This article explores two of Leah Goldberg's strategies for challenging the traditional European and Hebrew modernist binary of home and exile. Through a detailed reading of Goldberg's poems, the article focuses on two main issues: the duality of homeland and Europe as a lyrical heterotopia. Using the poetic imagination, Goldberg transforms her personal, biographical experience to forms of multiple existence in her historical chronotopos. Jürgen Heyde Polnischer Adel und jüdische Elite Über rechtliche Oberhoheit und soziale Kontakte 1454-1539 Die rechtliche Oberhoheit über die jüdische Bevölkerung in Polen lag im Mittelalter ausschließlich beim Landesherren. Der Herzog bzw. später der König setzte aber Adelige als Stellvertreter ein, um in seinem Namen Streitigkeiten zwischen Juden und Nichtjuden zu richten. Als im 15. Jahrhundert der Einfluss des Adels auf die politische Willensbildung zunahm, war davon auch die königliche Judenpolitik betroffen. Im Einklang mit kirchlichen Forderungen wandte sich ein Teil des Adels gegen die Einbindung von Juden in den Königsdienst, vor allem im Bereich der Zoll- und Steuerpacht. Andere intensivierten ihre Kontakte zu den jüdischen Wirtschaftseliten und verringerten so deren Abhängigkeit vom Monarchen als oberstem Schutzherren. An die Stelle des Königsdienstes trat zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Tätigkeit für polnische Hochadelige, die auf dem Reichstag von 1539 auch die rechtliche Oberhoheit über die auf ihren Besitzungen lebenden Juden erlangten.
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Alexander Joskowicz „Aber einen Sturz des Katholicismus möchte ich erleben" Religiöse Polemiken liberaler deutscher Juden im 19. Jahrhundert Building on past research on the Jewish entry into the middle-class and the denominational divisions of German society, the article explores how Jews appropriated and participated in the often discriminatory discourses of liberal religious polemics. The methodological challenges and the benefits of a study of negative discourses of 19th century German Jews are discussed. Using the Jewish appropriation of the anti-clerical and anti-Catholic discourse of the German liberals as a case study, the potential of an analysis of pejorative religious rhetoric for our understanding of the limits and opportunities of Jewish attempts to integrate into various social formations is discussed. The article argues that an analysis of pejorative statements by marginalized actors about other groups should be seen in the context of their strategic function and suggests that such an approach also opens up possibilities for comparative research. Omar Kamil Die arabischen Intellektuellen und der Holocaust Epistemologische Deutung einer defizitären Wahrnehmung Während sich in den Jahren nach 1945 der „Zivilisationsbruch" (Dan Diner) des Holocaust in Europa - wenn auch langsam und nicht ohne Widerstände - zu einem Schlüsselthema der jeweiligen Historiographien und politischen Kulturen entwickelte, blieb seine Rezeption durch arabische Intellektuelle in einem besonderen Maße eingeschränkt, ja „blockiert". Hier wurde er einerseits als Ereignis kaum wahrgenommen, andererseits sein Ausmaß, seine Ursachen und seine Bedeutung - wenn überhaupt relativiert oder geleugnet und seine Folgen verengt dargestellt. Die Grundthese des vorliegenden Artikels ist aber, dass ein solches Phänomen nur mittels einer kulturell unabhängigen Epistemologie untersucht werden kann. Der Artikel situiert sich deswegen inhaltlich in der Überschneidungszone zweier kulturell unterschiedlicher Kulturräume - des europäischen und des arabischen. Es soll dabei methodisch Kultur-, Geistes- und Mentalitätsgeschichte zusammengeführt werden, um jene „Rezeptionsblockade" zu dechiffrieren und eben jenes Wahrnehmungsdefizit sowohl historisch wie unter epistemologischer Fragestellung zu entschlüsseln. Jonathan Kreutner Die vierzig Tage des Musa Dagh Zur jüdischen Rezeption von Werfeis Roman während der NS-Herrschaft In den Jahren 1915-1916 wurden über eine Million Armenier im Osmanischen Reich zu Opfern eines Völkermordes. Während jüdische Institutionen und Zeitschriften in Deutschland diese Vorgänge zunächst wenig thematisierten, waren es sehr wohl jüdische Persönlichkeiten, die ihre Stimme erhoben, um etwas gegen die Ausrottung des armenischen Volkes zu unternehmen und an den Genozid zu erinnern.
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In diesem Kontext thematisiert der Beitrag Aspekte der Rezeption des von Franz Werfel im Jahr 1933 veröffentlichten Romans Die vierzig Tage des Musa Dagh. Dieser weit verbreitete und erfolgreiche Roman prägt die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern bis zum heutigen Tage. Viele Juden erkannten unterdessen in seinem Buch ein jüdisches Werk, das zu Zeiten des Nationalsozialismus entstand, um vor der drohenden Vernichtung des jüdischen Volkes zu warnen. Yael Kupferberg Bildung und Kultur Paradigmen deutsch-jüdischer Emanzipation Der Aufsatz befasst sich mit dem Begriff „Kultur", der sich als neuralgisches Paradigma deutsch-jüdischer Emanzipation des 19. Jahrhunderts darstellt. „Kultur" installierte nicht allein die ersehnte Gleichberechtigung. Vielmehr ist sie konstitutioneller Bestandteil einer christlich-national begriffenen Gesellschaft. Aufzeigen möchte der Aufsatz unter Einbeziehung kritischer Kulturtheorie, weshalb „Kultur" als Konzept der Emanzipation nicht zu Selbstbestimmung führte, sondern das deutschsprachige bürgerliche Judentum begrifflich und strukturell isolierte. Unter Einbeziehung des Gedichts „Einem Abtrünnigen" (Heinrich Heine), erörtert die vorliegende Arbeit den Konnex zwischen Bildung, Habitus und Kultur. Dabei entlarven die Verse das „Entrebillet"; Kultur fordert die ideelle, habituelle und personelle Konversion ein der Weg in die Selbstbestimmung endet mit der Aufgabe des (diasporischen) Judentums. Jüdische „Kultur" kann es ohne Herrschaft nicht geben - Herrschaft aber bedeutet die Aufgabe des diasporischen Judentums, so die These des Aufsatzes, die sich an Arbeiten Ardornos, Horkheimers und Marcuses anlehnt. Birgit Lang Ein Aufenthalt der Dauer Walter A. Berendsohn und die Exilforschung 1945 gilt in der Exilforschung als das Ende des Exils, obwohl diese Einschätzung von Exilantenseite und durch neuere Arbeiten zur Akkulturation hinterfragt wird. Während die Stellungnahmen der Exilierten meist persönlichen Charakter besaßen und von der eigenen Exilerfahrung geprägt waren, legte Walter A. Berendsohn bereits Mitte der sechziger Jahre einen wissenschaftlichen Vorschlag zur Weiterentwicklung des Exilbegriffs vor, der bislang in der Forschungsliteratur nicht diskutiert wurde. Der vorliegende Artikel untersucht die Voraussetzungen für die mangelnde Rezeption von Berendsohns Modell und sieht diese in der Ideologisierung der Exilforschung sowie im innerdeutschen Kampf um die Vormachtstellung im Forschungsfeld gegeben. Die Konzentration auf ein antifaschistisches Narrativ führte dabei nicht nur auf Seiten der jungen Exilforscher, sondern auch bei den in der Exilforschung aktiven Exilanten zu einer Sprachlosigkeit bezüglich der Nichtzugehörigkeit von ehemaligen Exilanten nach 1945. Der Artikel kontextualisiert Berendsohns Modell in biografischer und ideengeschichtlicher Hinsicht und erklärt die Gründe für seine (problematische) Verabsolutierung der Exilerfahrung.
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Walter Ζ. Laqueur Geboren in Deutschland Portrait einer exilierten Generation Gegenstand des Essays ist das Schicksal einer bestimmten - jüdischen, deutschen Generation. Dabei handelt es sich nicht um Albert Einstein oder Sigmund Freud, um berühmte Schriftsteller und Nobelpreisträger, sondern um die jungen Menschen jüdischer Herkunft, die nach 1933 Deutschland verlassen mussten. Der Beitrag folgt den Schicksalen jener jüdischen Jugendlichen ausgehend von ihrer Erziehung in Deutschland, der Rolle der Familie, der Schule und des Jugendbundes über ihre Auswanderung nach Palästina, England, Amerika und in viele andere Teile der Welt bis hin zu den Schwierigkeiten der Eingliederung in der neuen Heimat. Zugleich geht der Beitrag der Frage nach, ob eine Art Vermächtnis dieser Generation besteht, und gibt zu bedenken, dass ein endgültiges Portrait vielleicht erst in hundert Jahren mit dem notwendigen Abstand zu zeichnen ist. Aber der Abstand wird dann dazu geführt haben, dass man diese Generation im Grunde nicht mehr versteht.
Holger Preißler Ignaz Goldziher in Leipzig Ein ungarischer Jude studiert Orientalistik Ignaz Goldziher (1850-1921), einer der Begründer der islamischen Studien in Europa, weilte vom Oktober 1869 bis April 1871 in Leipzig, um hier zu promovieren und seine orientalistischen Studien fortzusetzen, die er im ungarischen Pest und in Berlin begonnen hatte. In der aufgeschlossenen Atmosphäre eines wahrhaft internationalen Akademikerkreises um den Arabisten Heinrich Leberecht Fleischer (18011888) gewann der neunzehnjährige ungarische Jude auf Grund seiner umfangreichen Kenntnisse und seines außerordentlichen Fleißes bald die uneingeschränkte Hochachtung des Lehrers, seiner orientalistischen und theologischen Kollegen und Mitstudenten sowie ungarischer Freunde. In regem Gedankenaustausch entstanden bleibende freundschaftliche Beziehungen, die sich in jahrzehntelangen Korrespondenzen und wiederholten Begegnungen widerspiegelten. Gleichzeitig nutzte Goldziher die Schätze der Leipziger Bibliotheken, um sich gründlich in die arabische Literatur einzuarbeiten. Sein Lehrer orientierte ihn auf die Geschichte der arabischen Grammatik, der auch seine ersten wissenschaftlichen Publikationen gewidmet sind. Doch Goldzihers nächste Stationen, Leiden und der Nahe Osten, lenkten ihn dann auf die Geschichte der unterschiedlichen Richtungen im Islam und die kritische Erforschung seiner Grundtexte. Leipzig ist für den in Budapest tätigen Gelehrten immer eine Stätte persönlicher Prägung und angenehmer Erinnerungen geblieben. In dem Artikel werden neben veröffentlichten Selbstäußerungen Goldzihers erstmals unveröffentlichte Materialien aus dem Universitätsarchiv Leipzig und dem Nachlass Fleischers in Kopenhagen herangezogen und die summarischen Angaben aus Goldzihers Tagebuch verifiziert bzw. korrigiert.
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Eran J. Rolnik Migration and Interpretation German-Speaking Psychoanalysts in Jewish Palestine, 1920-1950 The reception of psychoanalysis outside the German cultural sphere is an important chapter in the historiography of psychoanalysis and in the social and intellectual history of mandatory Jewish Palestine. This essay traces the early history of psychoanalysis in Palestine/Israel and places it within the context of the migration of German speaking analysts following the Nazi accession to power and the establishment of native Hebrew culture. The paper aims at locating the reception of the Freudian paradigms in mandatory Palestine in the context of the cultural and ideological climate that shaped the Zionist endeavor. It points to the inherent tension between Freudian theory of man and the Zionist constructivist quest to reconstruct a unified Jewish-national past. Zoltän Tarr The Odyssey of an Emigre Sociologist Werner J. Cahnman, 1902-1980 Werner Jacob Cahnman was born in Munich, Germany. Majoring in history, economics and sociology at the universities of Berlin and Munich, he received his doctoral degree with a dissertation on Ricardo. He was a spokesman for the Jews of Bavaria and a leader of the Central Union of German Jews during the early years of the Hitler regime. He was imprisoned in the Dachau concentration camp, and shortly before the outbreak of World War II, he was released to emigrate to the U.S. He taught at Fisk University, Hunter College, Yeshiva University, the New School for Social Research and Rutgers University. Cahnman was a prominent scholar of historical sociology and culture contacts and of the sociology of the Jews. He was a major example of an emigre German intellectual who enriched and transformed American university life during WWII and the postwar period. Shelly Zer-Zion The Dybbuk Reconsidered The Emergence of a Modern Jewish Symbol between East and West In this paper four stations in the emergence of The Dybbuk as a pan-Jewish symbol will be delineated: first, the play itself, as written by S. An-ski in 1918; second, the Yiddish production of the play (by the Vilna Troupe, Warsaw and Vilna, 1920); third, the German production (directed by Berthold Viertel, Berlin, 1926) and fourth, the Hebrew production of the play (Habima, Moscow, 1922). The Dybbuk was written by An-ski in light of his ethnographic research. The play stood from the very beginning on the threshold between tradition and modernity. In 1921/22, it was translated and published in Germany. At the same time the Vilna Troupe performed the play in the Theater in Kommandantenstrasse, Berlin. In
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ABSTRACTS
January 1926 Berthold Viertel's Dybbuk premiered in Kleines Theater in the city, and in October that year Habima performed her version of the play in Theater am Nollendorfplatz. Berlin, as a migration city, served as a single location that enabled the crystallization of a unified, yet polyphonic, modern Jewish symbol. The three major theatre productions of this play during the 1920s ghosted one another, thus expanding and thickening the symbolic goods contained in this play, and turning it into a concentrated cultural metaphor. Each new production blurred its formers both containing them and replacing them simultaneously. Therefore the Habima production of The Dybbuk, the last important production that was put on in Berlin, crystallized and overshadowed all former productions of the play, and turned to be the remembered theatrical symbol of modern Jewish renaissance.
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Autorenverzeichnis
YAAKOV ARIEL
geb. 1954, studierte an der Hebrew University Jerusalem und an der University of Chicago und promovierte in den Religionswissenschaften. Yaakov Ariel ist Professor für Religionswissenschaften an der University of North Carolina at Chapel Hill. Im Sommer 2004 war er zu einem Forschungsaufenthalt Gast am Simon-DubnowInstitut. Er hat zu verschiedenen Aspekten christlich-jüdischer Beziehungen in der Moderne publiziert, darunter: Evangelizing the Chosen People. The History of Missions to the Jews in America, Chapel Hill 2000; Philosemites or Antisemites? Evangelical Christian attitudes toward Jews, Judaism, and the State of Israel, Jerusalem 2002. Migration and Conversion. Jewish Converts to Christianity in America at the Turn of the 20th Century, in: Simon-Dubnow-Institute-Yearbook 3 (2004), 71-87. MARA BORDA
geb. 1970, studierte Makroökonomie und Politikwissenschaften sowie Soziologie und Sozialanthropologie an der University of Buenos Aires und der Hebrew University Jerusalem. Im Jahr 2003 promovierte sie in Philosophie an der Hebrew University mit einer Arbeit unter dem Titel „Philosophy as a Critical Alternative to Metaphysics" (Publikation in Vorbereitung). Zurzeit arbeitet sie an ihrer Habilitation an der Fakultät für Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin, wo sie auch als Dozentin lehrt. Im Jahr 2003 war sie Gastwissenschaftlerin am SimonDubnow-Institut. ATEF BOTROS
geb. 1965, studierte Germanistik und Literaturwissenschaft an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Seit 2001 ist er Doktorand am Zentrum für Höhere Studien an der Universität Leipzig mit einer Arbeit zum Thema „ Z w i s c h e n ästhetischen und politischen Diskursen. De- und Reterritorialisierung der arabischen Kafka-Rezeption". Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Wahrnehmung des Anderen und die Konstruktion des .Fremden' in der arabischen Literatur und Film. Botros ist Herausgeber des Sammelbandes Der Nahe Osten - Ein Teil Europas. Reflexionen zu Raumund Kulturkonzeptionen im modernen Nahen Osten, Würzburg 2005, sowie Autor mehrerer Beiträge, darunter: Die Rezeption deutscher Literatur in Ägypten als Teil des interkulturellen Dialoges, in: Würzburger Geographische Manuskripte 60 (2002), 71-84. ARNDT ENGELHARDT
geb. 1976, studierte Geschichte, Komparatistik und Germanistik an den Universitäten Leipzig und Coimbra, Portugal. Er ist seit August 2004 mit dem Dissertationsprojekt „Identität und Kanonbildung - Jüdische Enzyklopädien und die Konstruktion LBJGK · LEIPZIGER BEITRÄGE ZUR JÜDISCHEN GESCHICHTE UND KULTUR III (2005)
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AUTORENVERZEICHNIS
eines raum-zeitlich ubiquitären Wissenskorpus" Doktorand am Simon-DubnowInstitut. BRIGITTA ESZTER GANTNER
geb. 1971, studierte Jura an der Eötvös-Lorändt-Universität Budapest sowie Jüdische Studien und Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Nach dem Magisterabschluss im Jahr 2000 übte sie eine Lehrtätigkeit am Jüdischen Lehrhaus in Berlin und an der Eötvös-Lorändt-Universität Budapest aus. Seit 2003 ist sie Promovendin an der Humboldt-Universität Berlin mit einer Arbeit zum Thema „Ungarischjüdische linksgerichtete Emigranten in Berlin in der Weimarer Republik". Zu ihren Veröffentlichungen zählen: J u d e n auf den deutschen Parnaß!', in: Das Jüdisches Echo 11 (1999), 169-174; Die Hildesheimer'sehe Jeschiwa in Eisenstadt, in: Mnemosyne. Zeitschrift für jüdische Kultur 27 (2002), 154—163; „Was wir sind, das sind unsere Vorfahren in uns". Der Einfluss Martin Bubers auf die deutsch-jüdische Intelligenz, in: Mnemosyne 28 (2003), 101-118. NATASHA GORDINSKY
geb. 1979, studierte Vergleichende und Hebräische Literaturwissenschaft und Philosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seit 2003 unterrichtet sie am dortigen Institut für Vergleichende und Hebräische Literaturwissenschaft und arbeitet an einer komparatistischen Dissertationsschrift über Ethik und Ästhetik in den Werken von Ingeborg Bachmann, Leah Goldberg und Adrienne Rieh. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Lyriktheorie und Poetik. Im Jahr 2005 war sie Gastwissenschaftlerin am Simon-Dubnow-Institut. JÜRGEN HEYDE
geb. 1965, studierte Osteuropäische Geschichte, Slavistik und Mittlere Geschichte an den Universitäten Gießen, Mainz, Warschau und Berlin. Nach Promotion an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zum Thema „Bauer, Gutshof und Königsmacht. Die estnischen Bauern in Livland unter polnischer und schwedischer Herrschaft 1561-1650" (Köln 2000) war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am DHI Warschau tätig. Seit November 2003 ist Heyde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle. Er ist Autor zahlreicher Beiträge, darunter: Jüdische Eliten in Polen zu Beginn der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 13 (2003), 117-165; „Ghetto" and the Construction of Jewish History. The Case of the Polish-Lithuanian Commonwealth. Considerations on an Research Project, in: Kwartalnik Historii Zydow/Jewish History Quarterly 212 (2004), 511-518. ALEXANDER JOSKOWICZ
geb. 1975, studierte Geschichte, Philosophie und Europäische Studien an den Universitäten Wien und Amsterdam. Er ist seit 2000 PhD-Student am Department of History und am Committee on Jewish Studies der University of Chicago mit einer
AUTORENVERZEICHNIS
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Arbeit zu Beziehungen zwischen politischem Liberalismus und Konfessionalismus in den Schriften jüdischer Liberaler in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Im Jahr 2004/2005 war er Lady-Davis-Fellow an der Hebrew University of Jerusalem. 2004 war er zudem Gastwissenschaftler am Simon-Dubnow-Institut. Zu seinen Publikationen zählen: Symbolische Vergangenheitspolitik als Strategie der politischen Ermächtigung. Die Gedenkdiskurse der jüdischen Gemeinde in Wien, in: Ljubomir Bratic (Hg.), Landschaften der Tat. Vermessung, Transformationen und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa, St. Pölten 2002, 143-156; Liberal Judaism and Confessional Politics of Difference in the German Kulturkampf: The Allgemeine Zeitung des Judenthums and the Israelitische Wochen-Schrift in the 1870s, in: Leo Baeck Institute Yearbook (forthcoming). OMAR KAMIL
geb. 1965, studierte Islamwissenschaft, Ethnologie und Politikwissenschaft in Bayreuth. An der Universität Leipzig wurde er mit einer Arbeit unter dem Titel „Von Ben Gurion zu Ovadia Yosef. Der aschkenasische Staat und die Funktion der arabischen Juden" promoviert, deren Publikation in Vorbereitung ist. Kamil ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut; seine Forschungsschwerpunkte sind die arabische Intellektualitätsgeschichte und Wahrnehmung des Holocaust in den arabischen Gesellschaften. Zu letzterem Themenbereich bearbeitet Omar Kamil am Institut ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Die Wüstengeneration. Die arabischen Juden in der zionistischen Ideologie von den Anfängen bis in die 1950er Jahre, in: Klaus-Gerd Giesen (Hg.), Ideologien in der Weltpolitik, Leverkusen 2004, 96112; The Synagogue as Civil Society, or How we can Understand the Shas Party, in: Mediterranean Quarterly 12 (2001), H. 3, 128-143; Rabbi Ovadia Yosef and his Culture War in Israel, in: Middle East Review of International Affairs 4 (2000), H. 4, 22-29. JONATHAN KREUTNER
geb. 1978 in Zürich, studierte Allgemeine Geschichte, Neuere deutsche Literatur und Allgemeines Staatsrecht an der Universität Zürich. Seine Magisterarbeit aus dem Jahr 2004 schrieb er zu dem Thema „Deutsches Judentum und die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern (1896-1933)". Zurzeit ist Jonathan Kreutner als Journalist und Übersetzer tätig. YAEL KUPFERBERG
geb. 1978, studierte Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Zurzeit ist sie Doktorandin an der Freien Universität, mit einer Arbeit unter dem Titel „,Kultur' als Bedingung der Emanzipation. Begriff, Inhalt und Konsequenzen eines deutsch-jüdischen Paradigmas im 19. Jahrhundert". Seit 2001 ist Kupferberg auch als freie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Jüdischen Museum Berlin tätig. Neben verschiedenen Artikeln in
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deutschen Tageszeitungen ist sie Autorin des Beitrags: Philosemitismus im Kontext der deutschen Nachkriegszeit, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Leben im Land der Täter. Juden im Nachkriegsdeutschland, Berlin 2001, 267-283. BIRGIT LANG
geb. 1971, studierte Germanistik an der Universität Wien und promovierte 2001 mit einer Arbeit unter dem Titel „Inszenierungen zwischen den Kulturen. Deutschsprachiges Exiltheater und -kabarett in Australien" (Monographie in Vorbereitung). 2003 war sie Gastwissenschaftlerin am Simon-Dubnow-Institut, zurzeit ist sie Austrian Lektorin an der Universität Oxford. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Exilforschung und Nachkriegsgeschichte. Zu ihren Publikationen zählen: Exilkabarett und die „Politik der Repräsentation". Die Kabarettaufführungen des „Kleinen Wiener Theaters" in Sydney, Australien (1945-1973), in: Joanne McNally/Peter Sprengel (Hg.), Hundert Jahre Kabarett zwischen Protest und Propaganda. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität, Würzburg 2003, 96-116; The Dunera Boys. Dramatizing History from a Jewish Perspective, in: Yearbook of the Centre for German and Austrian Exile Studies 7 (2005), 175-187. WALTER Z . LAQUEUR
geb. 1921, war von 1965-1994 Direktor des Institute of Contemporary History and Wiener Library in London sowie von 1970-2000 Direktor des International Research Council des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington. Er lehrte an den Universitäten von Tel Aviv, Brandeis und Georgetown und war Gastprofessor in Harvard, Chicago und an der Johns Hopkins University. Laqueur ist zugleich Gründer und Herausgeber des Journal for Contemporary History. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Internationalen Politik, zur jüdischen sowie zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, darunter: Russia and Germany. Α Century of Conflict, Boston 1965; A History of Zionism, New York 1972; Weimar. A Cultural History, 1918-1933, New York 1974; Krieg dem Westen. Terror im 21. Jahrhundert, Berlin 2003; Generation Exodus. The Fate of Young Jewish Refugees from Nazi Germany, London 2004. HOLGER PREISSLER
geb. 1943, studierte Arabistik und Semitistik in Leipzig und ist Professor für Nahöstliche Religionsgeschichte und Islamwissenschaft am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die traditionelle Wissensvermittlung in traditionsstrengen sunnitischen Richtungen im Islam in Westasien im 12.-14. Jahrhundert sowie die Geschichte der Orientalischen Studien in Deutschland, insbesondere in Leipzig. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Stimmen des Islam. Zwischen Toleranz und Fundamentalismus, Leipzig 2002; Der Koran in Leipzig, in: Leipziger Universitätsreden. Vorträge aus dem Studium universale 2003-2004, Leipzig 2005,12-32; Gräber und Begräbnisse in Baghdad. Zur öffentlichen Funeralkultur einer islamischen Metropole, in: Armenuhi Drost-Abgarjan/
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Jürgen Tubach/Mohsen Zakeri (Hg.), Sprache, Mythen, Mythizismen. Festschrift für Walter Beltz zum 65. Geburtstag, Halle/Saale 2004, 675-690. ERAN J. ROLNIK
geb. 1965, studierte in Israel und in Deutschland Biologie, Medizinische Psychiatrie und Geschichte und ist heute als Psychiater, Psychotherapeut und Historiker tätig. Er ist zugleich Candidate-in-training der Israel Psychoanalytic Society und PostDoctoral Fellow am Stephen Roth Institute for Contemporary Anti-Semitism and Racism der Tel Aviv University. Rolnik ist zudem Übersetzer und wissenschaftlicher Berater bei der Herausgabe verschiedener Essays Sigmund Freuds in das Hebräische. 2004 und 2005 war Eran Rolnik Gastwissenschaftler am Simon-Dubnow-Institut. Zu seinen Publikationen zählen u.a. Arbeiten zur Evolution der psychoanalytischen Theorie und der Geschichte der Psychoanalyse. Seine Monographie zur Migration der deutschsprachigen Psychoanalysten und der Rezeption der Freudschen Paradigmen in Palästina/Israel wird in diesem Jahr (2005) erscheinen. ZOLTÄN TARR
geb. 1929, studierte Ökonomie, Soziologie und Geschichte in Budapest, Deutschland und den Vereinigten Staaten. Er lehrte Soziologie und Geschichte am City College of New York, der New School for Social Research und an der Rutgers University. Er ist Mitherausgeber der Schriften von Werner J. Cahnman. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn veröffentlichte Tarr, der im Herbst 2004 zu Gast am Simon-Dubnow-Institut war, mehr als 50 Artikel in englischer, deutscher, französischer, ungarischer und hebräischer Sprache. SHELLY ZER-ZION
Geb. 1971, studierte Theaterwissenschaften, Vergleichende Literatur und Jüdische Geschichte an den Universitäten Jerusalem, Tel-Aviv und München und wurde 1999 an der Universität Tel Aviv magistriert. Gegenwärtig lehrt sie am Fachbereich für Theaterwissenschaft der Hebräischen Universität und arbeitet an einer Dissertation zu den Beziehungen zwischen deutsch-jüdischen Intellektuellen und Theaterleuten zu Hebräischen Theatergruppen in den 1920er Jahren. Im Jahr 2004 war sie Forschungsgast am Simon-Dubnow-Institut. Zu ihren Publikationen zählen u.a.: Von einer hebräischen Studiobühne zum Nationaltheater - Die Transformation von Habima in Berlin, in: Moshe Zimmermann/Yotam Hotam (Hg.), Zweimal Heimat - Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost, Frankfurt a.M. 2005; Shylock on the Shores of Mandatory Palestine. Shakespeare's "The Merchant of Venice" directed by Leopold Jessner, Tel Aviv, 1936, in: Forum Modernes Theater 19 (2005).