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German Pages [313] Year 2019
LebensReise Klaus Garber
Blätter des Gedenkens
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Paul Klee, über land, 1937, 185. Pastell auf Grundierung auf Leinen auf Karton. 32,5/33 x 56,8 cm. Privatbesitz Schweiz, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern. Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51485-3
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Auftakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schule und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unter dem Stern der Romantik . . . . . . . . . . . . Akademische Glanzzeit Hamburgs . . . . . . . . . . Berliner Schule versetzt nach Hamburg . . . . . . . . Die akademische Zimelie des Nordens : Göttingen . . In der Kulturhauptstadt der fünfziger Jahre . . . . . . Abschied und Ankunft. . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Alewyn auf dem Podium . . . . . . . . . . . Ein Oberseminar in der alten deutschen Universität . Denaturierte Schäfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste pastorale Gehversuche. . . . . . . . . . . . . . Kritisches Weggeleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographisch-bibliothekarischer Notstand . . . . . Eine pastorale Kollektion aus zweiter Hand.. . . . . Pegnesische Spaziergänge . . . . . . . . . . . . . . . Versehrte Hinterlassenschaft des Blumenordens . . . Pegnesische Trophäen . . . . . . . . . . . . . . . . . Opus primum.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Opitz zu Wackenroder und Tieck . . . . . . . . Klopfzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archäologie des barocken Trauerspiels.. . . . . . . . Provisorisches akademisches Finale . . . . . . . . . . Arkadische Freiheit philosophisch aspiriert . . . . . . Bibliographisches Gewerbe : Eine Ehrenrettung . . . Unter den Fittichen der DFG . . . . . . . . . . . . . Schäferliche Spuren in Skandinavien . . . . . . . . . Im Habilitandenkreis Albrecht Schönes. . . . . . . . 68er-Impulse im akademischen Milieu . . . . . . . . Arkadien an der Leine . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfenbüttel erfindet sich neu. . . . . . . . . . . . . . . . Literatur des Barock sozialgeschichtlich geadelt.. . . . . . Niedersachsens Bildungslandschaft im Umbruch . . . . . . Uneigentliche Bewerbung und standhafte Verweigerung .. Ein linkes universitäres Reformprojekt . . . . . . . . . . . Eine Frühneuzeit-Community wächst heran . . . . . . . . Ein barockes Kongreßzentrum.. . . . . . . . . . . . . . . Hofkultur unter der Schirmherrschaft Herzog Augusts.. . Die Staatsbibliothek in der Hauptstadt der DDR.. . . . . Schatzhäuser des Geistes in der DDR. . . . . . . . . . . . Im Schatten des Riesengebirges . . . . . . . . . . . . . . . In der schlesischen Hauptstadt.. . . . . . . . . . . . . . . Deutsche Bibliotheken auf polnischem Boden . . . . . . . Pfade nach Utopia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Hauptstadt des europäischen Späthumanismus . . . Literatur und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Zentralinstitut für Literaturwissenschaft zu Berlin . . . Literaturgeschichtliche Reprise . . . . . . . . . . . . . . . Ständischer Ordo und Literatur des Barock. . . . . . . . . Iter Americanum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In den Weiten der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . Die baltischen Lande.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Vilnius über Minsk nach Lemberg . . . . . . . . . . . Emblem des untergegangenen alten Deutschland .. . . . . Die Frühe Neuzeit formiert sich. . . . . . . . . . . . . . . Ein Organ der Makro-Epoche.. . . . . . . . . . . . . . . Kongreßauftakt in Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . . Nachgeschichte des europäischen Barock . . . . . . . . . . Jacques Chirac empfängt die ›nobilitas litteraria‹ . . . . . . Vermessung des städtischen alten deutschen Sprachraums . Im Labyrinth der Pariser Passagen.. . . . . . . . . . . . . Polito-Philologie I : Italien. . . . . . . . . . . . . . . . . . Polito-Philologie II : Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . Benjamin in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benjamin in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Vor- und ein Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
81 85 88 89 92 94 96 98 100 104 110 114 119 126 130 133 136 141 146 151 172 187 199 204 211 215 218 220 224 227 230 235 238 243 247 251
›global Benjamin‹. Der hundertjährige WB in Osnabrück . Ein Großprojekt jenseits von Oder und Neiße . . . . . . . Ein Frühneuzeit-Institut aus alteuropäischem Geist . . . . 350 Jahre Westfälischer Friede. . . . . . . . . . . . . . . . 25 Jahre Universität Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg in das neue Jahrtausend . . . . . . . . . . . Auf Wiedervorlage : Sigmund von Birken. . . . . . . . . . Der alte deutsche Sprachraum des Ostens. . . . . . . . . . Einkehr im heimatlichen Warburg-Haus . . . . . . . . . . Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Publikationen aus dem Umkreis des Berichts in Auswahl .. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der getreuen Begleiterin des Lebens Irmhild Garber, geb. Schmitt
Vorwort
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as innere Zwiegespräch nimmt zu. Es tritt an die Stelle des Gesprächs mit den Lebenden, die von Jahr zu Jahr davongehen. Eine Erfahrung bricht sich Bahn, wie sie dem Alter vorbehalten ist. Es ist eine aus der Schwellenzeit erwachsende. Mit ihrem Eintreten verschiebt sich die Blickrichtung. Das Erlebte tritt hervor, das Gegenwärtige zurück. Was da aber aus der Vergangenheit lebendig wird, verbindet sich mit Personen. Ihre Physiognomie, ihre Stimme, ihre Worte behaupten ein Recht eigener Art. Ihnen nachzuhorchen ist das eine, ihnen Dauer zu verleihen das andere. Vergegenwärtigung möchte statthaben. Das ist etwas anderes, als eine Lebensgeschichte zu erzählen. Das Gegenüber behauptet die erste Stelle. Gebrochen im Wort des Partners, der sich rüstet zur Begegnung mit dem einstigen Gegenüber, erwächst ein Nachleben, das so intensiv ist wie die erinnernde Kraft desjenigen, der da das Wort ergreift. Wer das Glück hatte, vielen bedeutenden Menschen zu begegnen, ist am Ende der eigenen Tage belebt von dem Wunsch, Zeugnis abzulegen. Überlieferung in Form der Auslegung von Texten und ihrer materiellen Sicherung zu stiften, ist das tägliche Geschäft des Literaturwissenschaftlers. Nichts anderes begründet sein privilegiertes Dasein. Den Menschen, die ihm bei diesem schönen Tun entgegentraten, ein gedenkendes Wort zu widmen, ist nur die andere Seite eines auf Stiftung von Kontinuität bedachten Lebens. Der Erzählende ist gegenwärtig, gewiß ; er darf und soll es sein. Auge und Ohr aber, Sprache und Schrift sind gerichtet auf diejenigen, die das Leben zu einem erfüllten werden ließen. Mögen die folgenden Blätter diesem Anliegen so gut als immer möglich gerecht werden. Klaus Garber Osnabrück, Frühjahr 2019
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Auftakt
D
er Krieg ging an dem 1937 Geborenen glimpflich vorbei. Der Feuerschein der im August 1943 im Zuge der Operation Gomorrha zerstörten Heimatstadt Hamburg war auch hoch im Norden noch zu gewahren. In Südjütland bei Verwandten der Mutter waren die Kinder in den heißen Sommermonaten 1943 und 1944 vor den Schrecken bewahrt. Fließend dänisches Platt sprechend kehrten sie zu Vater und Großeltern nach HamburgLangenhorn zurück. Die Siedlung Siemershöh, ein gepflegtes Backstein-Ensemble, war unversehrt geblieben. Doch der Krieg blieb allgegenwärtig im Sirenengeheul und Lärm der anfliegenden Bomber, über deren Einflugschneisen allenthalben präsente Karten mit kreisförmig angedeuteten Entfernungsdaten informierten. Auch der Einzug der englischen Besatzung verlor sich nicht wieder aus dem Gedächtnis. Und ebensowenig die Angst, im letzten Moment doch noch in die Hitlerjugend eingezogen zu werden. Direkt gegenüber der großelterlichen Villa mütterlicherseits sah man die Braunhemden tagtäglich agieren und fürchtete sich vor ihnen und den sie dröhnend Befehlenden. Der Hausherr unmittelbar in der Nachbarschaft, früh verwitwet, zunächst von den Töchtern und dann von einer Haushälterin umsorgt, war überzeugter Sozialdemokrat und als solcher gefeit gegenüber den Versuchungen der Barbarei. Den Ersten Weltkrieg hatte er in Rußland verbracht, und in dem von den Enkeln bewunderten mächtigen eichenen Bücherschrank standen die Zimelien aus Militär und Politik der letzten Jahre des Wilhelminismus. Die ständig im Mund geführte Pfeife glühte dahin, während die Enkel, herangereift, seinen nicht endenden Erzählungen lauschten und wißbegierig ständig mit neuen Fragen zur Stelle waren. Das ausgehende 19. und frühe 20. Jahrhundert war leibhaft präsent, und mit ihnen die Alternative zu den Greueln, die so frühzeitig sich ankündigten. Über die Begegnung mit Menschen aus dem russischen Volk verlauteten die schönsten Worte. Wie oft erinnerte der Rußlandreisende sich später daran und fand sie allüberall bestätigt. 13
Der Großvater väterlicherseits hütete sein Parteiabzeichen als kleiner Verwaltungsbeamter. Die Kinder wußten nichts davon. Sie erlebten den leidenschaftlichen und sachkundigen Gärtner, Apfelbäume veredelnd und ritterlich ihnen jederzeit beispringend. Und das an der Seite der Frau, die nur Liebe, Wärme und Güte verströmte, die Enkel auch in der ärgsten Not der Nachkriegszeit stets mit Leckereien überraschend. Was mag sie bewegt haben in den kargen Jahren, da tagtäglich für das Nötigste Sorge zu tragen war ? In niemals versiegender Heiterkeit gingen die Tage dahin, und die Enkel kehrten in jeder freien Minute bei ihr ein – ein Geschenk des Lebens, wie erst viel später offenkundig. Das großelterliche und seit 1943 sodann elterliche Haus blieb alle Jahre der Schulzeit über ein gerne von Freunden und Schulkameraden aufgesuchtes Quartier. Die Mutter pflegte in guter dänischer Tradition ein offenes, von Geselligkeit geprägtes Haus. Ihr Mann war als promovierter Biologe nicht eingezogen worden, da er am Hamburger Staatsinstitut für Angewandte Botanik – in dem sich heute die Bucerius Law School befindet – u.a. in der Nesselforschung tätig war. Von dem Nazi-Regime hielt er Abstand und war erfinderisch genug, wenn es etwa dem Hitlergruß aus dem Wege zu gehen galt. Sehr wohl möglich, daß ihn seine aus früher Jugend herrührende Schwerhörigkeit vor der alltäglichen Barbarei abschirmte ; er hatte, wenn es denn ernst wurde, einfach nichts verstanden. Die Kinder, drei Jungen, erlebten ihren Vater womöglich am intensivsten, als Freundinnen und spätere Verlobte und Bräute ins Haus kamen. Spontan schloß er sie, auf den die mütterliche Warmherzigkeit übergegangen war, in sein Herz, und die Erinnerung daran bewahren sie – sofern noch am Leben – bis heute.
Schule und Kirche
I
n Hamburg-Nord wurde man auch 1943 noch ordnungsgemäß eingeschult und durchlief die ›Volksschule‹ ungehindert fünf Jahre lang. Der Umschwung kam mit dem Übergang in die 14
›Oberschule‹. In Hamburg bot sich nach wie vor als erste Adresse die ›Gelehrtenschule‹, das Johanneum, an. Der Vater ging einen anderen Weg. Er hatte auf der ›Presse‹ während der externen Vorbereitung auf das Abitur Bekanntschaft gemacht mit Erna Stahl, einer Frau aus dem späteren Widerstand gegen Hitler. Nun war sie, unter dem sozialdemokratischen Schulsenator Heinrich Landahl in die Hansestadt zurückgekehrt, zur Schulleiterin der Reform-Oberschule im Alstertal ausersehen worden. Dahin ging folglich die schulische Reise, und damit in eine Anstalt, in der just im Jahr 1948 erstmals das Modell der Koedukation, also das gemeinsame Lernen von Jungen und Mädchen in einer Klasse, erkundet wurde. In dem gleichen ansprechenden Gebäude aus der Vorkriegszeit Kurt Schumachers war die Oberschule für Jungen untergebracht. Wir Besucher der ›Stahl-Schule‹, alsbald eingeschworen auf die mannigfaltigen Reformziele, saßen in den aus Mädchen und Jungen buntgemischten Reihen, und nicht eines der denkbaren Szenarien im Umgang der Geschlechter miteinander wurde verabsäumt – ein eigenes, bis heute auf Klassentreffen gegenwärtiges Thema. Der schulische Impuls war ein bestimmender. Die musische Komponente prägte das gymnasiale Leben vom ersten bis zum letzten Jahr. Und das in allen Zweigen. Der praktische Musikunterricht war exorbitant. Die stimmliche Artikulation im Chorsingen verlor sich nicht wieder. Der kunsterzieherische Unterricht war derart professionell, daß gleich mehrere Schüler den Weg zur Kunsthochschule fanden. Hatte man aber das Glück, klavierspielend gut ausgebildet zu sein – Eckart Besch, ein Schüler des unvergessenen Eduard Erdmann hatte die Rolle des Klavierlehrers zeitweilig inne –, so standen einem am Flügel während der alljährlichen musikalischen Darbietungen die Tore offen. Tanz, Ballett und Theater waren obligatorisch. Als Poly-Artisten im Gewande von Amateuren verließen wir die Schule. Im sonstigen fachlichen Unterricht hing wie stets alles an den Personen. Die zentrale Charge blieb der Deutschunterricht. Und da kam der Klasse, die nach der Teilung in einen naturwissenschaftlichen und einen sprachlichen Zug weiterhin gemeinsamen 15
Deutschunterricht genoß, ein Coup zustatten, den nur sie erleben durfte. Ein soeben von der Universität abgegangener Kunst- und Deutschlehrer namens Karlheinz Hoche betrat die Klasse und übernahm alsbald ihre Führung. Sein Blick war nach Frankreich gerichtet, seine bildhübsche Frau arbeitete als Modefotografin in Paris. Unversehens machten wir Bekanntschaft mit Sartre und Camus, mit Hemingway und Wolfe, mit Kafka und Musil. Hinzu traten im Kunstunterricht die Leitfiguren der klassischen Moderne. Schlagartig war klar, wohin der weitere Weg zu führen hatte – in die Welt der Literatur. Die Abschlußarbeit des zukünftigen Germanisten galt Goethe in Straßburg ; die Weichen waren gestellt. Doch dann gab es einen zweiten Mittelpunkt. Keine hundert Meter entfernt von der Alstertalschule steht die Kirche zu St. Lucas in Hamburg-Fuhlsbüttel. Dort führte ein Geistlicher mit jüdischen Wurzeln namens Heinrich Zacharias-Langhans das Zepter. Der war ein gottbegnadeter Prediger, seine Hörer mit Furcht und Zittern sowie mit Hoffnung und Seligkeit erfüllend. Die allsonntäglich verlautende Botschaft grub sich ein in die Herzen, und es währte nicht Jahre, sondern Jahrzehnte, bevor man sich aus ihrem Bann befreit hatte. Vertieft wurde das Vernommene in Jugendkreisen, deren Leiter großartige Menschen waren, in deren Fußstapfen man später selbst als sog. Kreisleiter trat. Die theologische Sozialisation war folglich gleichfalls eine fundamentale, und der nichts scheuende Herr Pastor wußte bei der Mutter, die selbst allsonntäglich in St. Lucas einkehrte, durchzusetzen, daß der Zögling nicht ausschere und statt der Romanistik im Zweitfach bei der Theologie verbliebe – andere Zeiten, andere Sitten.
Unter dem Stern der Romantik
D
er einst von der Chemie träumende Gymnasiast war also zum Germanisten mutiert. Wie durch ein Wunder ging die Wehrpflicht an ihm vorbei. Der Weg ins Studium war frei und führte schnurstracks an der Seite eines Jugendfreundes ins 16
Ausland, nämlich nach Bern. Was als ein Zufall begann – der Freund studierte Rechtswissenschaft und wünschte in die franzö sische Schweiz zu ziehen, wogegen der werdende Germanist sich verwahrte –, entpuppte sich als ein grandioser Einstieg. Werner Kohlschmidt las ein Kolleg über die Frühromantik mit Novalis – der, wie er uns einschärfte, auf der ersten Silbe zu betonen sei – im Zentrum. Der Freund war dabei. Tief beeindruckt gab er den Rechtsstudien den Laufpaß und wechselte herüber in die Gefilde der Literatur. Als Gründungsdirektor eines ›Institute for German Cultural Studies‹ machte Peter Uwe Hohendahl später an der Cornell University Karriere. Nun also traten Novalis und die Schlegels in unser Leben. Die maßgeblichen Ausgaben von Minor und Körner wurden rasch antiquarisch beschafft, und ausgestattet mit ihnen zog es uns zur nahezu täglichen Lektüre ins Freie. Ein erster geistiger Haftpunkt formte sich heraus. Doch damit nicht genug. In der unmittelbaren N achbarschaft las die Musikwissenschaftlerin Lucie Dikenmann-Balmer über Robert Schumann. Zeit genug blieb, neben den literaturwissenschaftlichen und theologischen Veranstaltungen auch zu ihr herüberzuwechseln. Und wieder tat eine Welt sich auf. Der frühe Schumann stand im Mittelpunkt, die Papillons, die Kreisleriana, die Davidsbündlertänze. Was Romantik ist, erfährt man am reinsten über die Musik, und über niemanden nachhaltiger als über Schumann. Zeit, die Mysterien der Vergangenheit und die Versprechungen der Zukunft, wurde in einer jeden poetischen Miniatur musikalische Gegenwart. Eine derartige Sprache war niemals verlautet und sollte – Mendelssohn ungeachtet – nicht wieder verlauten. Zwischen den frühromantischen Fragmentaristen und dem raunenden Beschwörer der temporalen Existentialien sprang ein Funke über. Nie wieder verlor sich die romantische Leuchtspur, nie wieder jedoch schien sie so rein und verheißungsvoll auf wie in den ersten Tagen auf dem akademischen Parkett. Die Schweizer Bergwelt, an einem jeden freien Wochenende betreten, stellte die grandiose Kulisse.
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Akademische Glanzzeit Hamburgs
D
ie Rückkehr in die Heimatstadt schon zum Wintersemester 1956/57 war fällig, eine elysische Initiation rasch vorüber. Das schmucke Hauptgebäude der Hamburger Universität unweit des Dammtor-Bahnhofs in der Edmund-Siemers-Allee war dem Hamburger vertraut. Nun durfte es betreten werden. Das aber nur, weil die Größten der nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal europäischen Ruf erlangenden Hamburger alma mater in ihm ihren Auftritt hatten. Und das waren beileibe nicht an erster Stelle die Germanisten. Ein Philosoph und ein Theologe prägten für den begierig sich Umtuenden und Orientierung Suchenden das Bild. Soeben war Carl Friedrich von Weizsäcker aus Göttingen, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit für eine kurze Weile doch wohl bedeutendsten Universität, herübergewechselt nach Hamburg – was auch immer ihn dazu bewogen haben mag. Er las ein vierstündiges Kolleg über Logik. Was da verhandelt wurde, erschloß sich dem Germanisten nur gelegentlich und war nicht dazu angetan, ihn vom Sessel zu reißen. Der Sprecher faszinierte. Auf einen fernen Punkt im Raum das Auge gerichtet, legte er druckreif in freier Rede die logische Welt dar, nur gelegentlich sich abwendend, um einen Sachverhalt an der Tafel zu verdeutlichen. Nicht die Spur einer Pose war zu gewahren, die Aufmerksamkeit allein der Sache zugetan. Begegnete man dem Gelehrten etwa am benachbarten Bornplatz und scheute sich nicht, einen Gruß zu riskieren, so empfing man aus einem in Gedanken versunkenen Gesicht eine freundliche, von Lächeln umspielte Antwort. Seine ›Geschichte der Natur‹ etwa gehört seither zu den Begleitern des Lebens. Und dann der Star unter den Theologen, natürlich Helmut Thielicke. Auch er hatte einen Vierstünder parat, ›Glauben und Wissen‹ betitelt. Über mehrere Semester zog er sich hin. Nur ein Theologe vermochte ein derartiges rednerisch-intellektuelles Feuer zu entfachen. In genialer und vielfach auf der Kanzel probierter Regie wurde ein dramatisches geistiges Szenarium errichtet, und der provokante, sich und seinen Zuhörern nichts schenkende 18
Redner behielt in jedem Moment die Kontrolle über die Gluten. Da gab es keine toten Zonen, ein jedes Geschehen war begabt mit heißem und noch in der Gegenwart zu verspürendem Atem. Ein Grandseigneur ließ sich vernehmen. Betrat er im hellen sommerlichen Anzug braungebrannt den Raum und brandete Beifall auf, so quittierte er diesen mit unnachahmlicher Grandezza. Er wußte, wer er war, und genoß den Ruhm, der ihn begleitete sichtlich und ganz entgegen christlicher Demutsgebärde. Auf der Kanzel in St. Michaelis dürfte es sich kaum anders verhalten haben, und in seiner Villa in Hamburg-Wellingsbüttel gab sich die Welt ein Stelldichein.
Berliner Schule versetzt nach Hamburg
W
er 1957 in Hamburg anlangte, kam in mancherlei Hinsicht schon zu spät. Bruno Snell las nicht mehr. Man sah ihn gelegentlich auf den Korridoren am Bornplatz, wo die Literaturwissenschaft vor allem untergebracht war. Mancherlei Geschichten zirkulierten über ihn. Er hatte es offensichtlich fertiggebracht, zwischen 1933 und 1945 dem Nazitum ergebenen Kollegen niemals die Hand zu reichen und dabei doch niemals unhöflich zu erscheinen. Natürlich wußte man als Anfänger nicht, welch eine Rolle seine ›Entdeckung des Geistes‹ und seine Arkadien-Studie darin im späteren Leben spielen sollte. Doch seine Gestalt blieb bei den immer wieder einsetzenden Lektüren stets vor Augen. In der Romanistik stand der Direktor der Hamburger Staatsund Universitätsbibliothek Hermann Tiemann für den im Nachbarfach amateurhaft sich Umtuenden im Vordergrund. Mit mächtigem Pathos wußte er die französische Klassik seinen Hörern zu vergegenwärtigen. Ganz anders Hellmuth Petriconi, der später als Verfasser des ›neuen Arkadiens‹ der Renaissance in das Gesichtsfeld trat (und über Sannazaros ›Arcadia‹ auf ganz falsche Fährten gelangte). Er erschien mit zehnminütiger Verspätung, trug seinen Stoff zum fin de siècle mit merklicher Nonchalance vor und verschwand fünf bis zehn Minuten vor Ende der Vorlesungs19
zeit wieder. Man mochte wähnen, daß es vor allem die schönen Damen in den ersten Reihen waren, die vermocht hatten, ihn zu dem lästigen Geschäft zu bewegen. Und wiederum konnte der Philologe auf den so verlockenden romanistischen Abwegen seinerzeit nicht ahnen, daß Erich Köhler, der Schüler von Werner Krauss, später eine herausragende Position in seinem wissenschaftlichen Leben einnehmen sollte. Und das keineswegs nur wegen seines berühmten Beitrags zur ›Marcela-Episode‹ im ›Don Quichote‹. Der sozialgeschichtliche Ansatz selbst geleitete allenthalben zu neuen Fragen und Antworten. Ob Köhler in den späten fünfziger Jahren noch in Hamburg weilte ? Eine Begegnung mit ihm ist nicht erinnerlich. Und dann die Germanistik ! Sie war auch räumlich schön säuberlich in eine ältere und eine neuere Abteilung getrennt, und dieser Aufmachung kam mehr als symbolische Bedeutung zu. Man sprach nicht mehr, wie zu hören, miteinander, obgleich man doch, leicht zeitversetzt, aus Berlin herübergekommen war und die Aura der legendären Berliner Vorkriegsschule hütete. In der neueren Literaturwissenschaft regierte Hans Pyritz, und das unangefochten. Es war ein bitteres Regiment, wie allenthalben zu hören. Ob da auch die braune Vergangenheit kaschiert werden mußte, von der wir seinerzeit natürlich nichts wußten ? In der Vorlesung – auch sie im Hauptgebäude an der Edmund-SiemersAllee vorgetragen – stand ein wohlgewandeter, blasser und kränkelnder Redner, der seine Darbietung restlos ausgearbeitet hatte. Zweimal durften wir ihn vernehmen, und in beiden Fällen kam er nicht eigentlich über die Präsentation der Forschung hinaus. Peter Rühmkorf spottete später über die bibliographische Versorgungslage, die allemal a priori absolviert sein wollte. Im Blick auf den ›Ackermann aus Böhmen‹ mochte das gerechtfertigt sein angesichts der Kontroversen um den exponierten Ansatz von Konrad Burdach. Aber bei Stifter ? Immerhin, die Herausarbeitung der dunklen Zonen im Stifterschen Werk, wie sie dann doch erfolgte, ist erinnerlich geblieben. Auf der anderen Seite, in der sog. Alten Abteilung, wirkte ein ganzer Stab mit Werner Simon, Walther Niekerken, Karl Stack20
mann, Wolfgang Bachofer und wie sie hießen. An vorderster Stelle stand Ulrich Pretzel, Bruder Sebastian Haffners und gleich nach dem Krieg aus Berlin nach Hamburg gekommen. Der Unterschied zu Pyritz, dem er die Hamburger Karriere eröffnet hatte, hätte nicht größer sein können. Ordinariale Allüren waren ihm fremd. Vom Cello aufstehend eilte er in den Hörsaal, erkundigte sich, wo man denn stehe, setzte extemporierend ein, um jedoch sogleich abzuschweifen und, sich fangend, für einen Moment zur vorgesetzten Materie zurückzukehren. Die Berliner Schule – allen voran Alfred Hübner und Gustav Roethe – war ihm gegenwärtig, und unaufhörlich schüttete er sein Füllhorn aus – ein lebendiger Zeitzeuge des Faches in seiner Gänze. Wie persönlich gefärbte Wissenschaftsgeschichte aussah, konnte man während seiner improvisierten Rochaden hautnah erfahren. Kam er dann jedoch zu seinem Gegenstand, so war schlagartig alles anders. Er las über den Parzival, nein, genauer, er las im Parzival. Unentwegt demonstrierte er das Ausgeführte am Text, trug einige Verse vor und übersetzte sie aus dem Stegreif. Wie das aber geschah, hatte mit Gewißheit keine Parallele im Fach. Ein durch und durch musisch geprägter Gelehrter besaß ein untrügliches Gehör für die feinsten metrischen und semantischen Valenzen. Die sonore Stimme, die leuchtenden Augen, die taktierende Hand – wer das Glück hatte, Ulrich Pretzel auf dem Katheder zu erleben, wird ihn nicht vergessen haben. Karl Stackmann übrigens, Pretzels Assistent, saß wie ein kleiner Schüler in der zweiten Reihe, ein Buch unter dem Pult aufgeschlagen und darin blätternd, auf daß der Chef, der gewiß keiner war, nichts bemerke … Nicht vergessen werden dürfen indes die weiteren Lehrenden, insbesondere in der Neueren Abteilung. Sie nahm den Unterricht in den Proseminaren wahr. Dort konnte man die Entstehung des bahnbrechenden Klopstock-Buches von Karl Ludwig Schneider mitverfolgen, konnte seine exorbitanten Kenntnisse im Expressionismus bewundern und begegnete dem agilen und von Überlastung gezeichneten Nachwuchswissenschaftler gelegentlich in der Zeitung oder im Rundfunk. In dem so regen literarischen Leben der Hamburger Nachkriegszeit war er dabei, und zuweilen 21
mochte es scheinen, daß er sich in ihm eher zu Hause fühlte als in dem von Intrigen beherrschten Institut. Seinem Kollegen Heinz Nicolai waren sie ins Gesicht geschrieben. Der noble, äußerst zurückhaltende und sein Amt bitterernst nehmende Assistent, der schon ergraut war und unter der Pyritzschen Ägide womöglich besonders zu leiden hatte, las eine jede Seminararbeit in akribischer Sorgfalt, bestellte seine Studenten in die Sprechstunde und widmete ihnen viel Zeit. Zum Ordinariat sollte er es darüber – anders als Karl Ludwig Schneider – nicht mehr bringen. Als sein Schüler viel später seinerseits einen Ruf auf ein – so nun nicht mehr tituliertes – Ordinariat erhielt, kannte seine selbstlose Freude keine Grenzen. Sein schöner, viele Seiten umfassender Brief, ist sorgfältig abgelegt in Nicolais Studie über Goethe und Jacobi, die schon 1965 erschien und genau zehn Jahre später, versehen mit einer freundlichen Widmung, dem professoralen Neophyten überreicht wurde. Karl Robert Mandelkow aber, dem eine so bedeutende Karriere bevorstand, trat für uns erst in Erscheinung, als Hans Pyritz erkrankte und die für sein Hauptseminar geschriebenen Arbeiten in die Hände Mandelkows übergingen. Seine Domäne der Rezeptionsgeschichte führte in den späteren Jahren zu einem immer wieder gerne wahrgenommenen Austausch.
Die akademische Zimelie des Nordens : Göttingen
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rei bewegte sich eine akademische Jugend in den akademischen Gefilden, sofern nur die Eltern sich dazu verstanden, dieser Freiheit die materielle Basis zu sichern. Für die lebhaft Voranstrebenden zählte allein der Ruf, der den Repräsentanten in ihren Fächern vorausging. Die Theologie hier, die Geschichte dort und allemal die Germanistik bildeten die Parameter für die immer noch unzertrennlichen Freunde. Die Wahl fiel nach drei Hamburger Semestern auf das vergleichsweise nahe Göttingen, und damit nicht auf Heidelberg oder Tübingen oder Freiburg, wohin die Freunde zur Linken und Rechten bevorzugt aufbrachen. 22
Noch nicht die Bibliotheken waren es, die lockten, sondern die Personen. Wie immer aber nahmen sich die Dinge vor Ort anders aus als in der Ferne. Letztlich zählten die Entdeckungen daselbst. In der Literaturwissenschaft strahlte der Stern Wolfgang Kaysers weithin sichtbar. Der Besuch seiner Vorlesung war ein Muß. Das 19. Jahrhundert war an der Reihe. Zu bestaunen galt es einen Redner, der weitgehend frei sprechend die Aula der Universität mit ihren wenigstens tausend Plätzen stets bis auf den letzten Platz gefüllt wußte. Er hielt seine Zuhörerschaft in Atem, blieb ganz der Sache zugewandt und bot ein imponierendes, stets unmittelbar aus den Quellen geschöpftes Pensum. Wer das Geschick besaß, in den vorderen Seitenreihen auf einem Podest einen Platz zu ergattern, sah nicht nur den Redner in unmittelbarer Nähe in Aktion, sondern verharrte womöglich mehr als einmal gedankenverloren bei den ersten Reihen im Parkett. Dort nämlich versammelte sich eine Schar bildhübscher junger erlesen gekleideter Damen, um dem Meister zu huldigen und lebhaften Beifall zu spenden, wenn die eindrucksvolle Darbietung an ihr Ende gelangt war. In der historischen Göttinger Aula war der seltene Fall zu erleben, wie die Wissenschaft und ihr Dolmetscher einen von Schwärmertum und Enthusiasmus bestimmten Widerhall auszulösen vermochten. Neben Wolfgang Kayser verblaßte das sonstige Personal. Aber was besagte das ? In der älteren Abteilung las Hans Neumann über die Literatur des Spätmittelalters. Er hatte sich im Berlin der Nationalsozialisten wegen jüdischer Wurzeln versteckt halten müssen, bevor er nach Rumänien emigrierte und später noch an der Ostfront zum Einsatz kam. Erst in Göttingen gelangte er zur Wirkung. Dahin aber brachte er seine bei Alfred Hübner erworbene Kenntnis der Imponderabilien des Grimmschen Wörterbuchs mit, das er alsbald in leitender Funktion in Göttingen installierte. Er wirkte jenseits des Hörsaals vielfältig im akademischen Raum, und trat er vor seine Studenten, so ohne jedwede Allüre. Nicht rednerischer Schwung zeichnete ihn aus, sondern nüchterne Zuwendung zur Sache, welche er souverän beherrschte. In seinem Hauptseminar kehrte der ›Ackermann aus Böhmen‹ wieder. Nun konnte der erbetene Forschungsbericht gelie23
fert werden, den der Lehrer mit großem Lob bedachte und ›mit Auszeichnung‹ quittierte. Glaubt man aber, daß der namhafte Gelehrte, als die Freundin des Referenten und spätere Frau an Asthma erkrankte, am Krankenbett des Universitätsklinikums erschien, um ihr baldige Genesung zu wünschen ? Ein im Unscheinbaren verbleibender Mann hatte sich unvergeßlich in das Gedächtnis zweier Menschen eingeschrieben, die soeben erst in Göttingen über die Musik zueinandergefunden hatten. Gleichfalls mit der altgermanischen und althochdeutschen Literatur machten sie daselbst Bekanntschaft. Wolfgang Lange las über sie. Auch er kam aus der Hamburger und vermittelt über Alfred Hübner aus der Berliner Schule. Mit seinen Themen erreichte er naturgemäß nur einen kleineren Kreis. Der aber sah sich glänzend unterwiesen durch einen Lehrer, der seinem Gegenstand ungeahnte Seiten abzugewinnen wußte, tatsächlich germanisch-komparatistische Philologie in actu betrieb und bei alledem stets freundlich den Kontakt zu seinen Hörern suchte. Als später seine Edition der ›Germania‹ des Tacitus bei Winter in Heidelberg erschien, erinnerte man sich des so angelegentlich seiner Studentenschaft zugewandten Gelehrten dankbar. Von Weizsäcker hatte Göttingen bereits verlassen. Wenn die philosophische Abteilung die Hamburger Gäste anzog, so wegen der Präsenz von Josef König. In Hamburg war Platon studiert worden. Nun konnte man das lebendige Gespräch mit dem antiken Philosophen erleben. König brachte es fertig, ein ganzes Semester lang über einige wenige Sätze aus dem späten ›Theätet‹ zu meditieren und die in ihm verhandelten logischen Probleme weiterzuverfolgen. Prall gefüllt war der Hörsaal zunächst, dann lichteten sich die Reihen von Stunde zu Stunde, und am Schluß waren nur noch einige wenige Getreue dabeigeblieben. Äußerst konzentriertes Denken im Vollzug des langsamen und artikulierten freien Sprechens war zu erleben. Auf diese Übung aus sokratischem Geist bereitete sich der Gelehrte offensichtlich gerne auch spazierend vor. Im Göttinger Wald unweit des Bismarck-Turms wandelte er gedankenverloren dahin. Die Freiheit eines dem Geiste ergebenen Menschen prägte sich ein. 24
Verpaßt wurde der Besuch der Vorlesungen Helmuth Plessners, und schwere Vorwürfe waren die Folge, als bewußt wurde, was da verabsäumt worden war. ›Die verspätete Nation‹ gehört zu den immer wieder aufgeschlagenen Werken. Auf denkwürdige Weise war in dem Buch neben so vielen anderen auch der ›Dr. Faustus‹ gegenwärtig, das Buch der Bücher über Jahre. Viel später traten dann die ›Argonauten‹ Monika Plessners hinzu. Und da war von einem Besuch der Plessners bei den Adornos im Kettenhofweg die Rede, wohin man lange nach dem Tod Adornos gleichfalls aufbrach, um Gretel Adorno die Aufwartung zu machen. Natürlich ging es um Benjamin, über den sie merklich kühl sich äußerte. Was verwunderte, waren die schönsten der so reichen Briefe Benjamins in den dreißiger Jahren doch ›Felicitas‹ zugedacht. Monika Plessner aber zeichnete ein von ironischen Lichtern durchwirktes Bild, bis hin zum Meerrettich aus der Tube neben dem erlesenen Wein. Als dann die Suhrkamps vor den Gastgebern und Gästen sich zerstritten, zögerte Adorno keinen Moment und begrub die Kalamität mit mächtigen Akkorden auf dem Flügel. Verspätet trat Scholem hinzu und stürzte sich, beide Ellenbogen aufgestützt, auf die ihm zugedachte Mahlzeit. ›Ein großer Mann‹, so Plessners Kommentar zu seiner Frau auf dem Rückweg. Göttingen aber war schließlich – wie sonst womöglich nur Heidelberg und Tübingen – auch eine Domäne der Theologie, und das in so gut wie allen Sparten. Über das Alte Testament, mit dem der theologische Nebenfächler schon in Hamburg über Hans-Joachim Kraus Bekanntschaft gemacht hatte, las Kurt Galling, der Herausgeber der dritten Auflage des klassischen Lexikons ›Religion in Geschichte und Gegenwart‹, mit kämpferisch anmutendem Ingrimm in den frühen Morgenstunden im Hauptgebäude der ›Georgia Augusta‹. Das Neue Testament lag in den Händen von Joachim Jeremias. Ein unscheinbares, gebücktes, demütig anmutendes Wesen betrat den Hörsaal. Man wußte aus Hamburg um seine Autorität im Fach, galt er doch als erste Autorität auf dem komplizierten Feld der Logien Jesu. Leise strömte der Lesefluß dahin. Dann aber lief das Gesicht urplötzlich rot an vor Zorn, und mit bebender 25
Stimme empörte er sich über die Existential- und Entmythologisierungstheologie Bultmannscher Provenienz im benachbarten Marburg. Jesu Wort zähle, und dieses allein. Nicht die Spur eines Zweifels hatte den tiefgläubigen Menschen gestreift. Auch ihn vergaß man nicht wieder. Und schließlich Friedrich Gogarten. Der junge Adept wußte um seine besondere Rolle im Fach der Dogmatik und suchte die Verbindung mit dem bereits emeritierten Hochschullehrer, den man gelegentlich um Hainholz und Hainberg im einzigartigen Göttinger Ostviertel spazieren sah, wo er ein Haus besaß. Der Kontakt kam über eine Hausarbeit zustande, deren Thema man selbst bestimmen durfte. Die ›Lehre vom Wort Gottes‹ wurde da auserkoren. Das war ersichtlich ein viel zu weiter Gegenstand, und der altersweise Gelehrte bedeutete dies dezent. Der Besuch im Hause des liebenswürdigen Gastgebers, dessen kleines Bändchen ›Was ist Christentum ?‹ ein ständiger Begleiter blieb, fügte sich beglückend ein in die Begegnung mit dem akademischen Göttingen.
In der Kulturhauptstadt der fünfziger Jahre
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ie Rückkehr nach Hamburg im Anschluß an wiederum drei Göttinger Semester blieb eine kurzfristige. Das lokale Pendel war in eine unvermutete Richtung ausgeschlagen. Die Freundin aus Göttinger Tagen, alsbald schwer erkrankt, stammte aus dem Rheinland. Dorthin kehrte sie nach einem halben Jahr auf Sylt, zu dem der seit frühesten Jugendtagen mit der einzigartigen Insel Vertraute geraten hatte, in das elterliche Haus zurück, um die Genesung zu befördern. Also galt es, unter dem akademischen Deckmantel auf persönliche räumliche Nähe hinzuwirken. Und die stellte sich tatsächlich rasch ein und verschlug den Hanseaten unversehens für ein gutes Jahrzehnt an den Rhein. Unvorstellbar, daß es ein Abschied fürs Leben von der Hansestadt werden sollte. Ein letztes Mal für lange Zeit lag ein Zauber über der kulturellen Szene in einer Stadt, die sich mit den Schönen Künsten so schwer tat, ließen sie sich doch nicht in Mark und Groschen ver26
rechnen. In der Staatsoper hatte man noch Günther Rennert am Werk gesehen. Seine Inszenierung von Alban Bergs ›Wozzeck‹ mit Toni Blankenheim in der Titelrolle verfolgte einen bis in die Träume. Und wenn Martha Mödl oder Anneliese Rothenberger die Bühne betraten, die szenisch wie bildnerisch stets gleich gediegen hergerichtet war, setzte ein musikalisch-sängerisches Fest ein, dem man sich mit Leidenschaft hingab ; wobei Mozart von Beginn an die erste Rolle einnahm, und das bis heute. Der Schüler hatte die weitgehend intakte Fassade des im Krieg zerstörten Zuschauerraums noch gesehen, die dann verschwand, um dem Neubau zu weichen – leider. Auch Hamburg machte sich vieler Sünden beim Wiederaufbau schuldig. Welch unermeßliches Glück aber, daß die beiden anderen Häuser, die Laeiszhalle und das Schauspielhaus, erhalten blieben. Die Laeiszhalle am vormaligen Karl-Muck- und nunmehrigen Johannes-Brahms-Platz blieb von frühester Jugend an die Pilgerstätte der Wahl. Der Elfjährige hatte dort an der Seite des Vaters erstmals gelauscht, war Mozart begegnet, der Eindruck verlosch nicht wieder. Und nun kam die musische Mitgift der Alstertalschule dem der Musik Verschworenen zugute. Ein Chemielehrer hatte interessierte Schüler in regelmäßigem Turnus zum Klavierabend in sein Haus in Groß-Borstel eingeladen. Über unbekannte Kanäle verfügte er über ein erhebliches Kontingent an Karten für Konzerte in der Laeiszhalle. Man griff zu und saß jahrelang in der vierten Reihe des Parketts in einem Haus, das zurückgeleitete in die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und schließlich auch den Zweiten Weltkrieg wie durch ein Wunder überstanden hatte. Wie sehr verstand man später Hans Mayer, der den Verlust der meisten deutschen Konzerthäuser beklagte, die in ihrer Vielfalt und gediegenen Ausstattung einzig dagestanden hatten in der Welt. An Hamburg war diese Katastrophe vorbeigegangen, und fast mochte es scheinen, als ob die Musiker darauf dankbar antworteten, indem sie sich in dem anheimelnden, ans Rokoko gemahnenden Saal die Klinke in die Hand gaben. Wir waren über den Chemiker glückliche Abonnenten des Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks, den wir als 27
Kinder, den Schulfunk hörend, noch als Nordwestdeutschen Rundfunk unter Axel Eggebrecht und Peter von Zahn kennengelernt hatten, ohne zu wissen, daß Hans Henny Jahnn oder Arno Schmidt oder wer auch immer sonst dort zu hören waren. Das NDR Sinfonieorchester leitete Hans Schmidt-Isserstedt, auch er wie so viele andere Künstler aus Berlin nach Hamburg gelangt. Ein merkwürdig kühler Habitus prägte sein Auftreten bis hinein in sein Dirigententum. Und das im Gegensatz zu dem Philharmonischen Staatsorchester, wo zu unserer Zeit Joseph Keilberth den Stab führte. In Hamburg aber war zugleich die dirigierende Weltklasse zu Gast. Eugen Jochum, Ferenc Fricsay, Karl Böhm und wie sie hießen erlebten wir. Und so nicht anders auf seiten der solistischen Virtuosen. Wilhelm Kempff, Edwin Fischer, Rudolf Serkin und wie sie wiederum hießen genossen wir aus der Nähe, professionell dem Studium der Hände auf den Tasten hingegeben. Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ Eduard Erdmann. Von Langballigau bei Flensburg mit dem Frack im Rucksack anreisend, verströmte er sich während des fünften Klavierkonzerts von Beethoven in Tränen. Seine Vergegenwärtigung Schuberts und zumal der letzten drei Klaviersonaten ist von niemandem wieder erreicht worden. Bis heute hütet der Bibliophile den Katalog der Versteigerung seiner phantastischen Bibliothek bei Hauswedell. Erdmann hatte Italienisch gelernt, um die ›Divina Commedia‹ zu studieren, die er schließlich auswendig kannte. Weltverloren betrat der baltische Hüne die Bühne und gab sich dem Zauber der Tasten hin, dem er nicht zu widerstehen vermochte. Daß auch das Hamburger Schauspielhaus in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs dem Bombenhagel entging, widersprach aller militärischen Logik. St. Georg in der Umgebung selbst bewahrte mehr historische Bausubstanz als die meisten der anderen Hamburger Stadtteile – mit der Folge, daß dort bis heute eine urbane Vitalität bemerkbar ist, wie sie sich in den autogerechten und von Bürohäusern gesäumten Straßenzügen nirgendwo zu entfalten vermag. Wir lernten dieses Quartier frühzeitig besonders gut kennen, und das aus eher ungewöhnlicher Perspektive. 28
Die leichten Damen waren vielfach noch in der Morgendämmerung unterwegs und versuchten ihr Glück bei den jungen Burschen. Die aber hatten nur ein Ziel, nämlich für sich und den Familien- und Freundeskreis eine Karte für das Schauspielhaus zu ergattern. Zu nachtschlafender Zeit mußte man aufbrechen, eine der ersten U-Bahnen nehmen, wenn man erfolgreich sein wollte. Mehr als einmal zog man Stunden später dennoch unverrichteter Dinge wieder ab. Diesen magnetischen Sog erzeugte nur das Deutsche Schauspielhaus. Im Jahr 1955 war Gustaf Gründgens von Düsseldorf nach Hamburg gekommen. An seiner Seite Elisabeth Flickenschildt. Für eine Weile wähnte man, zurückversetzt zu sein in das Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre. Wie bitter beklagte Erika Mann nach der Rückkehr aus dem Exil den Verlust des Niveaus auf den deutschen Bühnen. Uns steht kein Urteil zu. Was in Hamburg indes zu erleben war, grenzte ans Unfaßliche. Buch und Film haben das Spektakel in Wort und Bild festgehalten. Doch das nur partiell. Der erste Teil des Goetheschen Faust mit Gründgens und Flickenschildt ist darüber bis heute gegenwärtig, nicht so der zweite. Was Gründgens dort in Szene setzte, verschlug den Atem. Ein einziges Mal, so wollte es scheinen, wurde dem antiklassischen, wurde dem barocken theatralischen Kosmos in einer im Wirbel dahinfliegenden Szenenfolge jene Gerechtigkeit auf den Brettern zuteil, die die biedere gelehrte Zunft bis in die jüngste Zeit hinein vermissen ließ. In Hamburg war Welttheater zu erleben. Und so nicht anders im Blick auf Schiller, auf Lessing, auf Shakespeare. Gründgens und sein Gefolge hielten die Stadt für wenige Jahre in Atem. Wohl dem, der dabei sein durfte. Wie in der Musik wiederholte sich auch im Theater das Mirakel wenige Jahrzehnte später auf andere Weise noch einmal. Da ging es im Herbst 1987 – wiederum ausgestattet mit einem Stipendium der VolkswagenStiftung – für den kurzfristig in die Heimatstadt Zurückkehrenden darum, sich dem Untergang der Hamburger Stadtbibliothek im Zweiten Weltkrieg zu widmen, einer dem Direktor der Stadtbibliothek Horst Gronemeyer zugedachten Studie. Im Schauspiel29
haus führte Peter Zadek das Zepter. Die Staatsoper wurde durch Rolf Liebermann noch einmal auf eine einsame Höhe geführt. Kent Nagano bekannte soeben, daß man auch aus Kalifornien nach Hamburg blickte, wenn es denn um Programm und Regie im schwierigen Fach der Oper ging. Und in der Laeiszhalle erhoben Hans Zender und sodann Gerd Albrecht den Taktstock vor dem Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks. Allabendlich führten die Schritte in eines der drei Häuser, ein gelegentlicher Schwenk ins Thalia-Theater inbegriffen.
Abschied und Ankunft
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ie Freie und Hansestadt Hamburg verpflichtete seine Lehramtskandidaten zur Ablegung eines sog. Philosophikums und Pädagogiums. Erst hernach konnte der Weg zum Staatsexamen angetreten werden. Im alten Gebäude der Schulbehörde direkt neben der Staatsoper nahm der ehemalige Schulsenator Hans Wenke das Examen für den schwer erkrankten Günter Ralfs ab, den großen Platon-Kenner. Natürlich war die Freude groß über das bravourös bestandene Examen. Und doch mischten sich alsbald sorgenvolle Gefühle in den Triumph. Auf eine bedrohliche Weise rückte die Schule als womöglich beruflicher Lebensraum näher. Dagegen versprach nur ein Remedium Abhilfe, und dessen Namen lautete auf Promotion. Neuerlich waren die Eltern zu gewinnen. Die wußten so wenig wie der Aspirant, auf was sie sich da einließen. Hans Pyritz war verstorben. Eine Promotion in der alten Abteilung kam nicht in Frage, war doch Musil der Hausgott. Das eine Semester in Hamburg nach der Rückkehr aus Göttingen hatte nicht gereicht, um sich professionell umzutun. Also richtete man sich auf den Auszug ein. Noch einmal trat Göttingen in das Blickfeld. Wolfgang Kayser war gestorben, Albrecht Schöne an seine Stelle getreten. Und so wurde tatsächlich die Aula am Wilhelmsplatz noch einmal betreten. Die war so dicht gefüllt wie zu Kaysers Zeiten. Man geriet in eine Kollegstunde über Wieland. Und die war wiederum dazu 30
angetan, dem neugierigen Besucher die Sprache zu verschlagen. Druckreif und paßgenau auf die fünfundvierzig Minuten wurde Wielands ›Musarion‹ präsentiert. Ein Kabinettstück wurde dargeboten, restlos durchgearbeitet, jedes Wort treffsicher, ein Text in eindrucksvoller Manier zum Sprechen gebracht, jedweder gelehrte Ballast vermieden. Man hörte, daß dies in jeder Stunde so sei. Tief beeindruckt verließ man den Ort des Geschehens, ohne selbstverständlich den jugendhaft daherkommenden Gelehrten anzusprechen, wie es eigentlich der Vorsatz gewesen war. Wohin also sich wenden ? Der Gedanke an Bern blitzte noch einmal auf. Man hätte alleine ziehen müssen, der Freund war in Hamburg bei Karl Ludwig Schneider geblieben. Und dann war da die Freundin in Wuppertal. Auf eine mysteriöse und im nachhinein fast als schicksalhaft sich ausnehmende Art und Weise trat Bonn in den Gesichtskreis – eine Stadt, von der man eben kaum mehr wußte als daß sie Bundeshauptstadt war. Also war eine Erkundungsreise anzutreten, und die fand im schönsten Frühjahr des Jahres 1960 statt. Ganz anders als in Hamburg prägte der Fluß das schmucke Städtchen. In wenigen Minuten war man von Rathaus und Marktplatz kommend auf einer Anhöhe mit dem Ernst-Moritz-Arndt-Denkmal in der Mitte. Der Anblick war phantastisch. Unten der an Villen, am Bundestag und an den Rheinauen dahinziehende Fluß und in der Ferne in unwiederholbarer Silhouette das Siebengebirge mit Petersberg, Drachenfels und Ölberg. Ein solcher Anblick war an Alster und Elbe nicht zu haben, die ersten Grüße in die Heimat entsprechend enthusiastisch. Die Universität hatte ihr splendides Quartier im Schloß, die Rückfront dem gepflegten Hofgarten zugewandt, an dessen Ende ein Pavillon herübergrüßte, in dem die Kunstwissenschaft unter Heinrich Lützeler residierte. Der Germanist hatte sich im Seminar für deutsche Philologie umzutun, und das lag im Erdgeschoß mit Blick auf Schloßinnenhof und Hofgarten. Der größte Hörsaal wiederum in Gestalt der Aula war dem berühmtesten unter den Germanisten, war Benno von Wiese vorbehalten. Von ihm und seinen Lehrbüchern und Einführungen hatte man gehört. 31
Nun sollte er persönlich observiert werden. Ein mächtiger, jovial dreinblickender Mann ließ sich vom Katheder aus vernehmen, und das, ohne auf Form- und Artikulationskultur bedacht zu sein. Wenn die Erinnerung nicht trügt, extemporierte er weitgehend frei. Der Unterschied zu Kayser oder Schöne hätte nicht größer sein können. Der Neuankömmling wußte rasch und eher instinktiv, den Vortragsraum verlassend, daß er hier nicht an der richtigen Adresse hereingeschaut hatte. Wohin aber dann ?
Richard Alewyn auf dem Podium
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berhard Lämmert konnte man auf dem schmalen Flur des Germanistischen Seminars gelegentlich begegnen. Auch Herbert Singer erschien zuweilen. Erst viel später machte man nähere Bekanntschaft mit beiden. Also blieb nur der N achfolger Günther Müllers, der soeben von einer Gastprofessur in den Vereinigten Staaten zurückgekehrt war und deshalb verspätet mit seinen Veranstaltungen im Sommersemester 1960 einsetzte. Mit seinem Namen verband sich nur eine einzige Erinnerung. Adolf Beck, neben Pyritz Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Hamburg lehrend, hatte ein Kolleg zu Hugo von Hofmannsthal angeboten. In dem war eine Person mehr oder weniger in Perma nenz präsent, die aus Becks Mund sich als ›Richard Alewün‹ ausnahm. Sie schien die maßgebliche Autorität in Sachen Hofmannsthal zu sein. Nun also trat sie leibhaft vor Augen. Und das nicht in der Aula, sondern im entschieden kleineren Hörsaal 10, der indes seinerseits leicht über hundert Menschen faßte. Die Szene ist unvergeßlich, weil sie sich über Jahre wiederholte. Den Seiteneingang nutzend, bahnte sich der Gelehrte, angetan mit schwerer Brille und Fliege, tastend seinen Weg zum Katheder, erklomm leicht unsicheren Schritts das Podium, sortierte offensichtlich mit Notizen angefüllte Zettel, verlor sich wie gedankenversonnen in ihnen, erinnerte sich dann offensichtlich, daß er von einem großen Publikum erwartet wurde, und aufblickend, erstaunt sich orientie32
rend, hob er mit kräftiger und gleichsam sich Mut zusprechender Stimme an : Meine Damen und Herren. So die stehende Anrede, und man vermeinte, daß der Redner dankbar für sie war, bot sie doch keine Probleme, sondern statt dessen die Chance, auf den rechten Eingang zu sinnen. Denn das nun spielte sich vor einer Zuhörerschaft ab, von der vermutlich doch nur der kleinere Teil verstand, was da geschah. Ein paar Sätze, zumeist der Rekapitulation des schon behandelten Stoffes gewidmet, waren gesprochen, und dann sollte es fortgehen in der zur Rede stehenden Materie. Der Redner aber tat sich merklich schwer. Er zögerte, zauderte, setzte ein, horchte dem Verlauteten nach, trat noch einmal zurück, versuchte es mit einer alternativen Formulierung, suchte Hilfe bei einem der Zettel, fing sich, vollendete eine Phrase und einen Gedanken und ging über zur nächsten Periode. Das war ersichtlich kein Stil, mit dem man ein Publikum begeistern konnte, und tatsächlich kam es wohl auch vor, daß sich der Raum allmählich ein wenig lichtete. Ja, es gab Vormittage – die Vorlesung war stets dreistündig angelegt –, da der Dozent am nächsten Morgen erschien, sich verschmitzt lächelnd entschuldigte, am Vortage aus dem Konzept geraten zu sein und noch einmal einsetzte. Keine Stunde, die ohne Überraschungen verlaufen wäre, immer wieder hakte und stockte es, wurden Variationen probiert, die Suche nach dem rechten Wort, dem rechten Satz nicht selten zum wiederholten Mal aufgenommen. Ein ständig um die angemessene Formulierung ringender, sprachlich mit äußerster Sensibilität ausgestatteter Redner gab sich zu erkennen, dem an Virtuosität und Wirkung nichts, an Treffsicherheit und Genauigkeit alles lag. Und dabei war ja von dem Gegenstand noch gar nicht die Rede. Dessen Behandlung war nicht weniger dazu angetan, Erstaunen und Verwunderung zu erregen. Was da zum Vortrag kam, war mit Gewißheit nur im seltensten Fall im Fach je schon verlautet. So gut wie alles war vollkommen selbständig erarbeitet, war gespickt mit frappierenden Einsichten, erschloß durchweg Neuland, ohne daß auch nur mit einem Wort Erstlingsrechte reklamiert wurden. 33
Ein Gelehrter wagte es vor seinen Hörern, diese unentwegt mit eigenen Gedanken zu konfrontieren, und über dem ›was‹ vor allem auf das ›wie‹ acht zu geben. Nicht lernbares Wissen wurde doziert, sondern historische Erfahrung vermittelt, und das so, daß deren sprachliche Artikulation sich erstmals vor seiner Zuhörerschaft vollzog. Diese wurde des Empfangs von literaturwissenschaftlicher Kost gewürdigt, welche nur hier und nur einmal bereitet wurde, war ihr eine Überführung in Schrift und Lehrbuch doch offensichtlich nicht bekömmlich. Immer wieder hatte der Zuhörer den Eindruck, der da oben Sprechende mochte selbst überrascht sein über eine gelungene Formulierung, ja einen momentan aufblitzenden Zusammenhang. Verfertigung der Gedanke beim Reden war zu gewahren, und das war ein atemberaubender Vorgang. Nicht als Ringender oder gar Zerrissener bot der Redner sich dar, sondern redend allein der größtmöglichen Annäherung an die Sache hingegeben. Die erste Stunde, womöglich die ersten Stunden im sommerlichen Bonn reichten hin, um Gewißheit zu verschaffen. Unter den Augen dieses Gelehrten wünschte man zu arbeiten, und sollte das nicht möglich sein, war auf den vorgesetzten Plan zu verzichten. Nach dieser Begegnung waren Alternativen ausgeschlossen. Das war ein riskantes Unterfangen. Es wurde eingegangen und währte schließlich und endlich ein volles Jahrzehnt. Der Gelehrte war schon emeritiert, hatte Bonn bereits verlassen und sein Haus in Perchting in unmittelbarer Nähe des Starnberger Sees bezogen, als endlich nach genossenem Doktorschmaus die Akten der Promotionszeit geschlossen wurden, in denen an manchen Stellen bereits vergilbte Seiten sich zeigten.
Ein Oberseminar in der alten deutschen Universität
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ichard Alewyn war nicht eben ein überlaufener Doktorvater. Benno von Wiese hatte mehr und womöglich aufs Ganze gesehen auch bedeutendere Doktoranden. Gleichwohl mußte die
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Hürde des Zugangs genommen werden. Der Weg führte über ein Oberseminar, in dem es sich zu bewähren galt. Für das Wintersemester, da Alewyns großer dreisemestriger Barock-Zyklus begann, war für die Fortgeschrittenen eine Übung zu ›Mensch und Natur im 18. Jahrhundert‹ angekündigt. Erst viel später wurde klar, daß da ein Kernbereich Alewyns zur Verhandlung kam. Vom Barock hatte er sich forschend verabschiedet. Seine reiche BarockBibliothek war bereits zu erheblichen Teilen in die Vereinigten Staaten gegangen. Das 18. Jahrhundert behauptete nun in ihr das Feld. Ihm galt sein vordringliches forscherliches Interesse, denn im 18. Jahrhundert vollzog sich die Wende Alteuropas. Mit der Empfindsamkeit setzte der Umbruch ein, der in den Niederungen künstlerischer Praxis und literarischer Kritik bis in die Gegenwart fortwirkte. ›Erlebnis und Dichtung‹. Dieses Syndrom spießte der Kulturhistoriker so vehement auf wie nur ein zweiter Großer, der alsbald gleichfalls ins Blickfeld trat. Dem reichen Spektrum an Themen aus dem 18. Jahrhundert, das selbst schon Stoff für mehr als eine Monographie bot, war ein einziges Angebot für ein Referat aus dem siebzehnten voran gestellt. Das Bild der Natur in der Schäferdichtung des Barock sollte erkundet werden. Ob eine solche Offerte jemals schon im akademischen Betrieb verlautet war ? Alewyn wußte, worum es ging. Der höfische wie der pikareske Roman, so hatte er in seinem Buch zu dem von ihm entdeckten Romancier Johann Beer ausgeführt, seien arm an Schilderungen von Wirklichkeit und damit auch von Natur. Nur in der Schäferdichtung, so bereits der junge Gelehrte, behauptete sich am Rande ein Bezirk, in dem auch die schöne Natur zu ihrem literarischen Recht gelangte. Die Erinnerung daran mochte Jahrzehnte später die Nominierung des auf den ersten Blick wenig einladenden Sujets begünstigt haben. Vermutlich aber ging es zugleich um mehr. Die alteuropäische Praxis in der Behandlung überkommener Topoi und Motive sollte ins Blickfeld rücken, von der im 18. Jahrhundert eine Distanzierung einsetzte, welche eben auch für die E ntstehung von ›Naturgefühl‹ verantwortlich war, das es in dieser Form bis dato nicht gegeben hatte. So der viel später in der Vorlesung zum 35
18. Jahrhundert umfassend entfaltete kulturelle Prospekt. In nuce war er auch im Oberseminar gegenwärtig. Nur ausnahmsweise sollten einzelne Texte behandelt werde, so etwa ›das Schäferleben bei Gessner‹ oder ›das Landleben bei Haller und Ewald Christian von Kleist‹. Hinein in die Kulturgeschichte führten die thematischen Angebote, die nicht ein Assistent formuliert hatte, sondern die zweifellos auf den Hochschullehrer selbst zurückgingen. ›Die Natur als Lebensraum im Rokoko (intime Geselligkeit, mäßiger Lebensgenuß)‹ oder ›Der fröhliche und der geplagte Landmann (in der Dichtung des Hainbunds etc.)‹ oder ›Natur als Lebensraum des empfindsamen Menschen (auch nach biographischen Quellen : Rousseau, K. Ph. Moritz’ ›Anton Reiser‹, ›Werther‹ etc.)‹ oder ›Formen empfindsamer Naturerfahrung : a) der Spaziergang, b) das Lieblingsplätzchen‹ oder ›Die Natur als Lebensraum des asozialen Menschen (Zigeuner, Räuber)‹ und schließlich : ›Das Wandern als Form der Naturerfahrung (von der Empfindsamkeit zur Romantik)‹. Kein Thema, das nicht Korrespondenzen in Alewyns Vorlesun gen, zuweilen auch in seinen Publikationen gehabt hätte ; alle trugen seine Handschrift. Im Haupt- wie im Oberseminar wurde grundsätzlich nur über Gegenstände gehandelt, die der Mitte der eigenen Forschung entstammten, ob zu Klopstock, ob zum lyrischen Ich um 1800, ob zur Romantik, ob zu Hofmannsthal. Und in jedem einzelnen Fall interessierte den Seminarleiter, was der Referent aus der Vorgabe gemacht hatte. Vortrag und Diskussion hielten sich grundsätzlich die Waage, und der Diskussionsleiter beobachtete gehörige Zurückhaltung. Eine Übergabe der Zügel an den Assistenten Alfred Anger erfolgte nur, wenn – wie im Fall des ›Rokoko‹ – sachlicher Anlaß dazu bestand. Und deutlich war auch, daß schon die Formulierung des Themas so gestaltet war, daß eine mögliche Marschrichtung sich abzeichnete. So nahmen die Dinge sich einst aus in einem Oberseminar der alten deutschen Universität.
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Denaturierte Schäfer
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er auf Ordnung haltende Aspirant wähnte, es sei am vernünftigsten, im 17. Jahrhundert einzusteigen. Nichts wußte man von ihm, während aus dem 18. doch immerhin die Erstausgaben eines Brockes, eines Hagedorn und eines Gessner schon im Bücherschrank standen, erworben im ›Hamburger Antiquariat‹, wo Jahrzehnte über alles zu finden war bis zum Exitus, wie er auch dieses renommierte Institut ereilte. Also machte man sich auf zur angegebenen Sprechstunde, um sich vorzustellen und die Übernahme des Themas zu verabreden. Der Gelehrte nahm sich Zeit und ließ seine gewiß sich einstellende Verwunderung nicht bemerkbar werden. »Schauen Sie, wenn Sie Texte suchen, doch mal in den ›Goedeke‹ oder den ›Hayn-Gotendorf‹«, so seine Empfehlung, Titel, von denen man nach ordnungsgemäßem achtsemestrigem Studium noch nie gehört hatte. Immer ging es um sekundäre Quellen, und dabei kaum jemals um solche, die zu den Werken selbst hinführten. Dagegen der entspannt und gelassen seines Amtes waltende Gesprächspartner, dem jede Pose fremd war : »Schauen Sie in die Texte und tun Sie so, als seien Sie ihr erster Leser.« Um Lesefrüchte und Leseerfahrungen sollte es gehen, um nichts sonst. Ein neues Studium mußte begonnen werden, lesen war zu lernen. Noch einmal wurde das Arbeitsquartier in der sommerlichen Heimatstadt aufgeschlagen, und zwar in der Staatsbibliothek. Sie war provisorisch im Wilhelms-Gymnasium untergebracht. Fotos des zerborstenen Portikus der alten Stadtbibliothek am Speersort erinnerten an die im Krieg zerstörte einzigartige Vorgängerinstitution. Im stets überbesetzten Lesesaal suchte man nach einem Platz und nahm das Bestellte entgegen, um es nach Lektüre zurückzugeben. Alte und kostbare Werke waren selbstverständlich schon damals nicht ausleihbar, und viele von ihnen kamen über den Auswärtigen Leihverkehr, denn die einstigen Hamburger Barockbestände waren dezimiert. Durchweg Raritäten gelangten in die Hände des Neophyten. Und der war ratlos. 37
Eine ›Jüngst-erbawete Schäfferey, oder keusche Liebesbeschrei bung von der verliebten Nimfen Amœna vnd dem Lobwürdigen Schäffer Amandus. Durch s. s. d. d. [recte : a. s. d. d.] Leipz. 1632. 8.‹ hatte der vom Doktorvater empfohlene Goedeke gleich eingangs in seinem Roman-Kapitel aufgeführt und zudem zahlreiche weitere Auflagen namhaft gemacht. Gleich der nächste Titel entstammte der Feder eines gewissen Friedrich von Drachsdorf, von Goedeke mit dem Zusatz versehen : »in der Fruchtbringenden Gesellschaft Der Beständige : Winter-Tags Schäfferey der schönen Coelinden Vnd derselben ergebenen Schäffer Corimbo. Leipzig 1636. 8.«. Als Standortnachweis, der bei dem vorangehen den Text und seinen diversen Auflagen ganz fehlte, firmierte allein die Stadtbibliothek Breslau. Das deutete nicht eben hin auf weite Verbreitung. Der nächste Titel – nach einem zwischengeschalteten Einschub über August Augspurger, der als Übersetzer schäferlicher Literatur geführt wurde – lautete : ›Die verwüstete vnd verödete Schäferey. Mit Beschreibung deß betrogenen Schäfers Leorianders Von seiner vngetrewen Schäferin Perelina. Gedruckt im Jahr 1642. 8.‹ Wieder gab es nur einen einzigen Nachweis. In der Sächsischen Landesbibliothek Dresden hatte das Werk gestanden. Eine doppelte Odyssee also stand bevor, die Fahndung nach Texten und das Vordringen in sie. Ein Abenteuer für das Leben kündigte sich an. Was gäbe man darum, sich zu erinnern, mit welchen Texten der Anfang gemacht wurde. War es die Opitzsche ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹, war es das ›Pegnesische Schäfergedicht‹ von Harsdörffer und Klaj oder war es womöglich doch die ›Jüngst-erbawete Schäfferey‹, die dem Ahnungslosen unter die Finger kam ? Das Erstaunen zumindest kannte keine Grenzen. Was waren das für Schäfer, die da ihren Auftritt hatten ? Gelehrte Reden verlauteten aus ihrem Mund, hingegeben an ihre Liebesleidenschaften führten sie sich ein, in rätselhaften Bünden schlossen sie sich zusammen. Kein Hilfsmittel war zur Stelle, das Aufklärung verschafft hätte. In den literaturwissenschaftlichen Veranstaltungen war bislang kein Wort über diese Zwitterwesen zu vernehmen gewesen. Und mit denen sollte man sich nun abgeben, die Lektüre 38
von Musil, Broch, Kafka hintansetzen ? Es schwante einem, daß man auf dem verkehrten Weg sein könnte.
Erste pastorale Gehversuche
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och nun war eine vorgesetzte Aufgabe zu absolvieren, und das in knapp bemessener Frist. Im Seminar stand die Behandlung des Themas naturgemäß weit vorne. Voraus gingen eine gemeinsame Erörterung von Schillers ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ und die Diskussion zweier Referate zu den Themen ›Natur und Zivilisation bei Rousseau‹ sowie ›Fremde und feindliche Natur (Wälder, Hochgebirge, Nacht etc.) vor dem 18. Jh. (auch nach Lebenszeugnissen)‹. Dann schon kam ›Pastorale Natur und Schäferleben im Barock‹ an die Reihe, gefolgt von einem komplementären Referat ›Das Lob des Landlebens und seine antiken Quellen (Vergil, Georgica, etc.) im Barock‹. Nationalliterarische Grenzen wurden nicht beachtet, der Rückgang zur Antike war ebenso selbstverständlich wie der Blick auf die Kulturkritik im Nachbarland Frankreich. Alewyn bewegte sich wie selbstverständlich in der europäischen Literatur, ohne ein irgend geartetes Aufsehen davon zu machen. Im Programm, welches das 18. Jahrhundert betraf, stellte die deutsche Literatur durchweg das Repertoire. Im Fall der Pastorale war das anders, doch nur bei dem literarischen Nachbarn, dem Lob des Landlebens, erfolgte der Verweis auf Vergils ›Georgica‹ ; für die ›Eklogen‹ Vergils fehlte er. Vermutlich wähnte der Gelehrte, daß ohnehin der Weg rasch zu dem römischen Archegeten zurückführen würde. Und so war es. Nach Jahrzehnten neuerlich Einblick nehmend in das schließlich in ein paar Wochen zustandegekommene Elaborat erstaunt der gattungsgeschichtliche Aufriß, der da auf wenigen Seiten versucht wurde. Rasch mußte klar geworden sein, daß im 17. Jahrhundert ohne Kenntnisse in der europäischen Literatur nichts, aber auch gar nichts auszurichten war. Wie intensiv doch hatte man Ernst Robert Curtius’ ›Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter‹ bereits studiert, 39
den man selbst nicht mehr erleben durfte an seiner Wirkungsstätte in Bonn. Das gute halbe Dutzend europäischer Dialekte, so seine bei Gelegenheit verlautende apodiktische Einlassung, habe man selbstverständlich zu beherrschen. Der Germanist blieb auf Übersetzungen angewiesen, und rasch stellte sich heraus, daß sich Grenzen auftaten. Immerhin, für einen ersten Zugriff reichte das Vorhandene hin. Die antiken Mustertexte lagen in mehreren Übersetzungen vor. Auf seiten der Hirtendichtung der Renaissance, der gleichfalls bereits ein Abschnitt gewidmet war, sah es durchweg anders aus. Und erneut zeichnete sich frühzeitig ab, daß ein erhebliches sprachliches Studium bevorstand, wenn es denn tatsächlich Ernst werden sollte mit eben diesem Sujet.
Kritisches Weggeleit
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ir haben den der Pastorale gewidmeten Erstling, von dem hier nichts Näheres verlauten soll, gehütet. Und das nicht aus Gründen der Pietät. Die knapp vierzig Seiten haben nämlich zwei Urheber, den Referenten und den Seminarleiter. Der doch wohl namhafteste Vertreter seines Faches war sich nicht zu schade, die vorliegende Arbeit, wie gewiß auch alle anderen, Seite für Seite durchzugehen und zu annotieren. Reichte der Platz zur rechten und zur linken nicht, wurde die Verso-Seite mit benutzt. Gewiß, auch sachliche Einwände wurden formuliert. Die weitaus größere Zahl der Eingriffe betraf Fragen des Ausdrucks, der Gedankenfolge und der mangelnden Lesbarkeit infolge zu langer Absätze. Noch nie hatte der Referent erlebt, daß so intensiv, genau und ins Detail gehend Korrektur gelesen worden wäre. Sprachliche, sachliche und darstellerische Schulung war gleich wichtig. Eine jede Intervention – und keine Seite ohne sie – traf ins Schwarze. Wähnte man aber, daß derart so gut wie alles verloren sei, so irrte man. Und das nicht nur wegen eines gelegentlichen ›ja !‹ am Rand. Am Schluß hielt der kritische Korreferent eine allgemeine Beurteilung bereit. Wieder ging es um eben nur scheinbare Ne40
bensächlichkeiten. »Gelegentliche Unschärfen der F ormulierung oder Artikulierung (zu lange Absätze), manchmal wird der 2. Schritt gemacht, bevor der erste gemacht wurde / Unterschiede herausgearbeitet, ohne dass das Gemeinsame festgestellt wurde.« Zurückblätternd waren genügend Beispiele für das Beanstandete parat. Aber es blieb nicht dabei. Ein zweiter Passus schloß sich unmittelbar an. »Aber das sind seltene und unerhebliche Mängel in einer aus reicher Kenntnis geschöpften, souverän gestalteten und ergebnisreichen Arbeit.« Die Markierung der zahlreichen Schwachstellen mündete nicht in einen Verriß. Der kritische Leser hatte sich den Blick für das de facto Geleistete bewahrt. Ein penibler erzieherischer Prozeß war beobachtet worden, ohne daß er Entmutigung im Gefolge gehabt hätte. Viel Zeit hatte sich der Lehrer genommen, und das gewiß für jedes ihm vorgelegte Schriftstück. Lag ihm der erzieherische Auftrag womöglich derart am Herzen, daß er darüber die eigene Produktion hintanstellte ? Zu dem Bilde Richard Alewyns, das uns begleiten wird, gehört diese Seite unverrückbar hinzu. Seine Hofmannsthal-Studien lesend, wußte man sich später einen Reim zu machen. Nie sprach der aus der Emigration zurückgekehrte große Gelehrte darüber, welch ein unverrückbarer Auftrag ihm nach den Jahren der Barbarei da zugefallen sein könnte, die nicht zuletzt eine Schändung der deutschen Sprache im Gefolge gehabt hatten.
Bibliographisch-bibliothekarischer Notstand
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it einem ›Sehr gut‹ war der erste – und rückblickend kühne – Ausflug in die arkadischen Gefilde bedacht worden. Man durfte also hoffen, nun auch in der Rolle eines Doktoranden unter der Ägide Richard Alewyns tätig zu werden. Neuerlich stand ein aufregender Sprechstundenbesuch bevor. Mitbewerber waren zur Stelle, darunter der Sohn aus dem Fuhlsbüttler Pfarrhaus und Freund Garleff Zacharias-Langhans, der gleichfalls für Alewyn 41
und für niemanden sonst votiert hatte. Alewyn zögerte, wenn die Erinnerung nicht trügt. Bedurfte es weiterer Beweise der Eignung ? Am Ende war der Akt besiegelt. Der Aufbruch in eine völlig offene Zukunft begann, und die gefürchtete schulische Alternative war rasch vergessen. Zeit, unermeßlich viel Zeit tat sich auf. Und die wurde alsbald zu Beschäftigungen genutzt, die auf den ersten Blick weit, weit abführten von dem Gegenstand der Dissertation, die da schlicht auf den Titel lautete : Der locus amoenus und der locus terribilis in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Hier geht es nicht um biographische Details. Personen, Konstellationen, Institutionen, welche prägenden Charakter besaßen, wollen aufgerufen sein. Schon in Hamburg war zu konstatieren gewesen, daß katalogisch nachgewiesene Texte des 17. Jahrhun derts nicht beigebracht werden konnten, weil sie im Zweiten Weltkrieg verschollen waren. Nämliches wiederholte sich auf andere Weise in Bonn. Kurz vor Ende des Krieges war die Universitätsbibliothek zerstört worden – das Schicksal so vieler Innenstädte und ihrer kulturellen Kostbarkeiten in den letzten Kriegsmonaten. Bonn war gewiß, anders als Göttingen, niemals reich gewesen an sog. Barockdrucken. Die Gründung erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Übergang der Rheinlande an Preußen machte sich auch bibliothekarisch bemerkbar. Lücken aber klafften unversehens auch in der wissenschaftlichen Literatur. Die erste Maßnahme bestand also für den Doktoranden in dem Aufbau eines Literaturapparats. Und da mußten die kuriosesten Wege beschritten werden. Rasch war klar geworden, daß so gut wie keine wissenschaftlichen Ausgaben für die zumeist seltenen Texte existierten. Und mehr als das. Es gab überhaupt so gut wie keine herausragenden musterbildenden Werke. Die Stätten der Produktion schäferlicher Literatur waren weit verstreut, und nirgendwo war ein Hilfsmittel verfügbar, das ihrer Überlieferung und gegenwärtigen Verwahrung sich widmete. Es stand prekär, um es vorsichtig auszudrücken, um die bibliographisch-bibliothekarische Fundamentierung eines Faches, das doch keinen anderen Auftrag hatte, als sich der 42
textuellen Pflege der deutschen Literatur und ihrer Auslegung zu widmen. Wann mochte sich ein erstes Mal eine Ahnung geregt haben, daß hier ein großes Wirkungsfeld zu bestellen war ? Wann und auf welchen Pfaden mochte sich eine Vorstellung von der räumlichen Erstreckung des deutschen Sprachraums herausgebildet haben, in dem diese und verwandte und eben zumeist ephemere Texte zirkuliert hatten ? Sukzessive wird das Bild sich herausgeformt haben, und das während der täglichen praktischen Arbeit. Zu dem Direktor der Bonner Bibliothek Otto Wenig hatte sich rasch ein freundlicher Kontakt hergestellt, und so nicht anders zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Fach Germanistik sowie in der Abteilung für Auswärtigen Leihverkehr. Denn der mußte nun je länger desto intensiver in Anspruch genommen werden. Fern waren die digitalen Zeiten, weniger fern die der restriktiven Handhabe im Verleihen älterer Drucke außer Haus. Zu Beginn der sechziger Jahre war fast alles noch möglich. Keine Bibliothek lieferte umstandsloser und reichhaltiger als die Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek, von der man doch im Studium so wenig gesehen hatte, weil die Seminarbibliothek glänzend ausgestattet war – aber eben vor allem mit sog. ›Sekundärliteratur‹. Jetzt aber ging es um die Quellen, und für Jahre so gut wie ausschließlich um sie. Das alte Gebäude der Bibliothek, direkt gegenüber dem Schloß gelegen, war zerstört. Ihre Nachfolgerin war oberhalb des Rheins an der Adenauer-Allee errichtet und ausgestattet worden mit einem splendiden Lesesaal, der abschloß mit einer zum Rhein hin gelegenen Fensterfront, die den Blick auf den Fluß und das Siebengebirge freigab. Ein schöneres Ambiente war nicht denkbar. Man bekam die bestellten Altdrucke an der im Lesesaal selbst plazierten Theke aus stets freundlicher Hand gereicht und nahm Platz mit Aussicht auf die herrliche Szenerie. Nicht Monate, nein Jahre des Lesens gingen an dem stets gleichen Platz dahin. Glück und Geborgenheit stellten sich ein und kehren wieder in der Erinnerung. Die kühne Entscheidung hatte sich als die richtige erwiesen. 43
Eine pastorale Kollektion aus zweiter Hand
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m Germanistischen Seminar indes war man auf den Doktoranden aufmerksam geworden, den es ausnahmsweise nicht wie die Alewynschen Doktoranden sonst in das 18. Jahrhundert verschlagen hatte, sondern der dort sich angesiedelt hatte, wo auch der Doktorvater einst begonnen hatte. Der für die – wiederum glänzend ausgestattete – Bibliothek bestellte Kustos Hans Joachim Krause, der äußerst streng über die Schätze wachte, nahm bald teil an den bibliophilen Exkursionen des ›Barockisten‹. Wo immer er helfen konnte, war er zur Stelle, ja, allmählich ließ er sich anstecken von dem ungewöhnlichen Treiben. Von allen Orten aus nah und fern strömten die seltenen Texte nach Bonn. Warum sie nach Lektüre umstandslos wieder auf die Rückreise gehen lassen ? Ein Projekt nahm Gestalt an, und nur mit einem Anflug von Scham mag von ihm berichtet sein. Der frischgebackene Doktorand wurde im Nebenberuf zum Kopisten. Alles was in Bonn nicht vorhanden war, landete auf dem Kopiergerät und wurde für das Germanistische Seminar gesichert. Darunter Unikate aus Breslau und Danzig oder Weimar und Zwickau und wie die Orte hießen, die ihre Schätze freigiebig auf den Weg gebracht hatten, von den bundesrepublikanischen Bibliotheken gar nicht zu reden. Das Seminar revanchierte sich, indem es die Kopien in marmorierte Einbände kleidete. So kommt es, daß im Bonner Schloß an versteckter Stelle bis heute eine glänzend sortierte Sammlung mit schäferlicher Literatur einschließlich der so besonders seltenen Übersetzungen aus der europäischen Literatur steht, die keine Parallele haben dürfte. Und bis heute greift der ›Arkadier‹ gerne auf sie zurück, wenn anders denn kein Textzeuge zur Stelle ist, denn lange vorbei sind ja die Tage, da man noch Originale auf den heimatlichen Schreibtisch bekam. Ein erstes Mal war ein gezielter, weil von Sachverstand gesteuerter Umweg betreten worden. Und der sollte sich auf andere Weise fortan stetig wiederholen. Auch eine berühmte Bibliothek wie die Göttinger profitierte davon … 44
Pegnesische Spaziergänge
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uf Dauer aber war derart alleine nicht alles Erforderliche zu richten. Manches besonders seltene Stück war gerade auch in der Bundesrepublik für den Leihverkehr nicht freigegeben. Also mußte man sich auf den Weg machen, wenn man Einsicht nehmen wollte. Und eben darauf bestand der Doktorvater ja so nachhaltig. Den aber sollte man schon sehr bald überraschen mit Trouvaillen, die auch er noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Frühzeitig stand fest, in welche Richtung der Aufbruch zu gehen hatte, verband sich doch eine ganze Stadt für eine Weile mit dem kuriosen schäferlichen Treiben. Sie selbst und ihre amönen Gefilde mußten aufgesucht werden, wenn anders denn ein authentischer Einblick in die pastorale Szene gewonnen werden wollte. Nürnberg trat ein erstes Mal in das Blickfeld. Und das mehrfach zeitversetzt. Dem Anreisenden stellten sich schon im Zug die Bilder wieder ein, die in der Kindheit in den Zeitungen und anläßlich späterer Reportagen in Kino und Fernsehen gegenwärtig gewesen waren. Nürnberg, versehen mit altdeutscher Patina wie kaum eine andere deutsche Stadt sonst, war von den Nationalsozialisten zur Hochburg der ›Bewegung‹ erkoren und damit in der Logik des Krieges der Vernichtung anheimgegeben worden. Mochten sich Kainsmale bewahrt haben ? O ja. Der Gast war am Rande der Stadt untergekommen, hatte in unmittelbarer Nähe des Dutzendteiches Quartier nehmen können. Daselbst erhoben sich die mächtigen Betonbauten, die dem Aufmarsch der Partei und ihres Gefolges die respekterheischende Kulisse bieten sollten. Dem Führer, der auf erhobener Bühne ans Rednerpult trat, war zu bedeuten, daß das Volk hinter ihm stand und ihn beflügelte bei seinen mit sich überschlagender Stimme herausgebrüllten immer gleichen Botschaften. Das Radio hatte gezittert und gebebt, wenn die Übertragung anhob und die Veranstaltung in Jubel und Hochrufen unterging. Das war eine nicht zu unterdrückende Reminiszenz, die sich denkbar schlecht auf das arkadische Projekt reimte, um dessentwillen man doch gekommen war. Denn nun ging es nicht zuletzt 45
darum, die Plätze aufzusuchen, an denen die Pegnitzschäfer vor mehr als dreihundert Jahren geweilt hatten und von denen aus sie zu ihren Spaziergängen aufgebrochen waren. Auf den Titelblättern ihrer Schäfereien waren die Burg und die Kirchtürme der Stadt nicht anders als die Felder und Flüsse zu sehen gewesen, die ihre Heimat prägten. Arkadien war versetzt an die Pegnitz, und die Schäfer wußten um Würde, Verpflichtung und Auftrag, die eben daraus resultierten. Auf der Hallerwiese spazierten sie, und die Schöpfer des ›Pegnesischen Blumenordens‹ hatten davon in ihrem pastoralen Erstling aus dem Jahr 1644, der alsbald zum Gründungsdokument ihrer Sozietät aufrückte, berichtet. Wie aber mochte es nunmehr den vor die Tore der Stadt Hinausziehenden berühren, die reihenweise baumbestandenen Gefilde noch so anzutreffen, wie dereinst von den Schäfer-Poeten beschrieben ? Die Stadt war in jüngster Zeit restlos zerstört worden, die Bezirke an ihrem Rande waren jedoch bewahrt. Von den Vorzügen der Natur und des natürlichen Lebens gegenüber Zivilisation und städtisch-höfischem Wesen hatten die Schäfer immer wieder gekündet. Nun bewahrheitete sich ihre Rede auf unmetaphorische und in dunkelsten Visionen nicht vorauszusehende Art und Weise.
Versehrte Hinterlassenschaft des Blumenordens
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nd so nicht anders im Blick auf ihre in Handschrift und Druck überkommene geistige Hinterlassenschaft. Der langjährige Ordenspräsident Sigmund von Birken vor allem hatte sie in seine Obhut genommen. Dort schlummerte sie im Archiv des Ordens friedlich und kaum jemals benutzt bis in die Schreckensjahre des Katastrophenjahrhunderts, als welches das zwanzigste in die Geschichte einzugehen bestimmt ist. Wie in der Heimatstadt, wie am Ort der Promotion wurde der zur Textsuche Aufgebrochene sogleich auf seiner ersten größeren Bibliotheksreise mit dem Unheil konfrontiert. Nun aber ging es – und das dann doch erstmals – durchweg um Unikate in Handschrift und Druck. 46
1928 war im estländischen Dorpat eine in Nürnberg geschriebene Dissertation zum ›deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts‹ erschienen. Das war ein gänzlich irreführender Titel. Tatsächlich wurden von dem Autor Heinrich Meyer neben den Schäferromanen vor allem Stücke vom Typ der Opitzschen ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹ behandelt, die Harsdörffer und Klaj eben mit ihrem ›Pegnesischen Schäfergedicht‹ auch in Nürnberg in Umlauf brachten und die – von uns so betitelt – als ›Prosaeklogen‹ in die jüngere Forschung eingingen. Der fruchtbarste der Schäferdichter, Sigmund von Birken, stand im Mittelpunkt, und Meyer konnte ausführlich aus den von ihm herrührenden Stücken zitieren. Sie fanden sich wohlgeordnet und mit Signaturen versehen im Archiv des ›Pegnesischen Blumenordens‹ vor, der seinerseits gemäß testamentarischer Verfügung die Hinterlassenschaft seines Präsidenten hütete. Was lag näher, als nun am Ort des Geschehens die von Meyer zitierten Titel selbst wieder in die Hand zu nehmen. In das ›Germanische Nationalmuseum‹ waren sie gelangt, das im Krieg zerstört worden war und an das der in den Neubau am Kornmarkt eingefügte Portikus erinnerte. Die das Archiv des Ordens betreuenden Beamten, an der Spitze der renommierte Kunsthistoriker Fritz Zink, taten alles, um die Wünsche des Besuchers zu befriedigen. Doch immer wieder versagten ihre Dienste, und so auch der notdürftig in den fünfziger Jahren gefertigte maschinenschriftliche Katalog. Die von Meyer aufgeführten Titel waren nicht mehr alle am Platz. Was war geschehen ? Nur langsam und sukzessive klärte das Rätsel sich auf, gab der Besucher doch zunächst vor Ort und dann über Jahre aus der Ferne keine Ruhe. Meyer hatte eine Reihe von Sammelbänden namhaft gemacht, prall angefüllt mit Birkenschen Texten. Und mehr als das. Sie waren nicht selten versehen mit Zusätzen von Birkens Hand. Es handelte sich um Exemplare aus seinem Besitz, darunter manche, die nur an dieser Stelle überliefert waren. Durchweg ging es tatsächlich um schäferliche Stücke, in denen Birken wie kein anderer im Zeitalter brillierte. Hinzu traten einzelne, gleichfalls äußerst seltene und teilweise wiederum unikale Bukolika seiner 47
Mitschäfer. Ein singulär in der Gattungsgeschichte auf deutschem Boden dastehendes pastoral getöntes literarisches Gut war zu inspizieren. Das kam einer Herausforderung für den Erforscher der Gattung gleich. Hier war goldgewirkte schäferliche Materie gleich mehrfach zu heben. Doch die Enttäuschung ließ nicht auf sich warten. Nicht nur einzelne Stücke, ganze kompakte Sammelbände waren verschwunden, und offensichtlich wurde der Verlust erst jetzt im Zuge der aktuellen Recherchen definitiv bemerkt. Der von Entdeckerfieber gepackte Spurensucher scheute sich nicht, die ersten Kapazitäten vor Ort zu konsultieren, darunter den Verfasser der einschlägigen Geschichte Nürnbergs und langjährigen Direktor des Stadtarchivs Gerhard Pfeiffer. Das Fazit war ernüchternd genug – und sollte sich an anderen Stätten vor allem im Ausland so oder ähnlich wiederholen. Quellenkunde infolge Kriegseinwirkung sollte zum zweiten forscherlichen Leben neben dem der Literatur gewidmeten avancieren. Das Archiv des ›Pegnesischen Blumenordens‹ war vor dem Krieg zu Teilen in der Stadtbibliothek und zu anderen im Stadtarchiv untergebracht. Was die berühmte Stadtbibliothek anging, so stand ihr ein Direktor namens Friedrich Bock vor, der frühzeitig ahnte, was den Schatzhäusern des Geistes im Zeichen des totalen Krieges gerade auch aus der Luft bevorstand. Gleich nach Kriegsbeginn machte er sich nach Dienstschluß auf den Weg, auf der Schulter einen Rucksack, in dem er allabendlich die größten Kostbarkeiten aus dem gefährdeten Haus heraus und an einen sicheren Ort im Umland brachte. Wenn Nürnberg Hunderte, ja womöglich Tausende seiner unschätzbaren Altdrucke aus dem Inferno retten konnte, so ist dies dem weitsichtigen couragierten Direktor zu danken, der alles daran setzte, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht in die gefährliche Aktion mit einzubeziehen und auf eigenes Risiko agierte. Ob auch die Birkenschen Stücke durch seine Hand gingen, ist offensichtlich nicht bekannt. Vielleicht wurden sie von Kräften des Archivs herausgeschafft. In jedem Fall gelangten sie gleichfalls in das Umland, und zwar vornehmlich auf die Rosenburg 48
bei Riedenburg. Und nun berichtete Gerhard Pfeiffer Jahrzehnte später, daß es nach dem Krieg zu Plünderungen vor Ort gekommen sei, bevor die ausgelagerten Bestände zurückgeführt werden konnten. Darunter mußten sich auch die vermißten Betuliana nebst Annexen befunden haben. Ein genauer Abgleich mit dem in der Vorkriegszeit Vorhandenen war nicht vorgenommen worden und konnte womöglich auch nicht erfolgen, weil es an exakten Verzeichnungen der Sammelbände fehlte. Zettelkataloge aus der Zeit vor dem Krieg waren, wie zu hören, bei der Zerstörung der Stadtbibliothek im Pellerhaus verbrannt – die immer gleiche desolate Situation. Man war auf eigene Recherchen angewiesen, gepaart mit einer gehörigen Portion Kombinationskunst. Das sollte das die Jahre über nicht endende Geschäft werden. In Nürnberg begann es, daher das Verweilen just an dieser Stelle.
Pegnesische Trophäen
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asch zeigte sich, was zu tun war. Hatte man sich schon auf ein derart abgelegenes Gebiet wie die Schäferliteratur begeben, so mußte Sorge getragen werden für eine ordnungsgemäße Bestandsaufnahme. Frühzeitig stellte sich der Gedanke zur Schaffung einer Bibliographie ein, und das Exempel Nürnberg hatte womöglich den entscheidenden Anstoß gegeben. Sogleich in Nürnberg setzte die Fahndung nach Ersatz ein. Wie in so vielen alten deutschen Stadtbibliotheken war Mehrfachbesitz aus verschiedenen sammlerischen Quellen die Regel. Und welch renommierte Sammler, angefangen bei dem Hauptpastor bei St. Sebaldus Johann Michael Dilherr, hatte nicht auch Nürnberg in seinen Mauern gesehen. Tatsächlich gelang es, schon vor Ort an diversen Stellen und also auch in Kirchenbibliotheken und Kirchenarchiven fündig zu werden. Nur in Ausnahmefällen aber hatte es Birkensche Handexemplare dahin verschlagen ; sie mußten in der Regel definitiv als verloren gelten. Und die Mehrzahl der gesuchten Stücke tauchte 49
überhaupt nicht wieder auf, weder in Nürnberg noch anderswo. Also war nicht nur eine Bestandsaufnahme ins Auge zu fassen, sondern zugleich eine Dokumentation der bezeugten aber nicht mehr verfügbaren Stücke. Ahnte der planend in die Zukunft Ausgreifende, daß ein weiteres Lebensprojekt sich ankündigte ? Immerhin mit Birken konnte ein Anfang gemacht werden. Ein glücklicher Umstand verhalf dem Suchenden in Nürnberg zu einem noch im 19. Jahrhundert verfertigten Verzeichnis der im Besitz des Ordens und von den ›Schäfern‹ selbst herrührenden Dichtungen aus der Feder des Ordensmitgliedes Christian Schwarz. Darunter war selbstverständlich auch Birken. Ausgestattet mit den daselbst aktenkundigen Daten und in Kombination mit den Meyerschen Hinweisen gelang eine womöglich nicht komplette, aber immerhin doch annäherungsweise Rekonstruktion der Birkenschen Handbibliothek nebst Ausweis des Vorhandenen wie des Verlorenen. Eine Pioniertat war vollbracht, ein Exempel statuiert. Und wenn schon der Abschluß der Dissertation auch nach Jahren noch in weiter Ferne lag, so konnte man dem gelegentlich behutsam nachfragenden Doktorvater doch am Rande Entstandenes nach Rückkehr an die Bonner alma mater zeigen, das er überaus interessiert und erfreut entgegennahm.
Opus primum
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ie Mitte der sechziger Jahre war erreicht. Hochzeit wurde gefeiert. Der Doktorvater mischte sich unter die Gratulan ten und beglückwünschte die Hochzeiter dazu, daß sie, wie er sagte, etwas so Schönes getan hätten. Und zugleich hatte er ein ganz ungewöhnliches Präsent parat. Die renommierten ›Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts‹, von Wilhelm Braune im 19. Jahrhundert begründet, hatte Alewyn nach dem Krieg wiederbelebt. Nun war der Reihentitel offener gehalten : ›Neudrucke deutscher Literaturwerke‹. Im angesehenen Max Niemeyer-Verlag, der in Westdeutschland – von 50
Halle kommend – nun in Tübingen residierte, fanden sie ein verlegerisches Dach. Fast zeitgleich wurde im nämlichen Verlag eine Reihe mit Faksimiledrucken eröffnet, firmierend unter dem nicht ganz zutreffenden Titel ›Deutsche Neudrucke‹. Die gesamte deutsche Literatur wurde ins Visier genommen. Für das Zeitalter des Barock zeichnete ein erster Sachkenner in Gestalt des Kieler Ordinarius Erich Trunz verantwortlich. Ihn kannte man vor allem aus seinen bahnbrechenden Untersuchungen zum Späthumanismus noch aus der Vorkriegszeit. Nun sollte die persönliche Begegnung folgen. Und deren Vorgeschichte gestaltete sich aufregend genug. Alewyn nämlich fragte freundlich und zugleich bescheiden an, ob man sich vorstellen könne – das Einverständnis von Erich Trunz vorausgesetzt –, eine Edition des ›Pegnesischen Schäfergedichts‹ von Harsdörffer, Klaj und Birken in den ›Deutschen Neudrucken‹ herauszugeben. Das war ersichtlich eine ebenso schöne wie sinnfällige Offerte. Der seit Jahren dahinarbeitende Doktorand sollte ermuntert werden, wenn schon nicht mit seiner Dissertation, so doch mit einem Stück aus ihrem Umfeld hervorzutreten. Und an Ermunterung fehlte es tatsächlich nicht. Um ein paar Sätze eines Vor- bzw. Nachworts würde es sich handeln, die neben den faksimilierten Texten beizubringen seien, nicht mehr und nicht weniger. Die Freude war verständlicherweise übergroß. Voller Elan bereitete man sich auf die Niederschrift vor. Alsbald füllte sich Seite für Seite, und rasch waren mehrere Dutzend Blätter beisammen. Die wurden ordnungsgemäß – und vermutlich, ohne daß eine entsprechende Aufforderung ergangen wäre – dem Doktorvater überreicht, und der wurde wie üblich alsbald tätig. Das Resultat war ernüchternd genug. Das Manuskript war übersät mit Bemerkungen, die Mehrzahl von ihnen, sofern die Erinnerung nicht trügt, kritischer Natur. Man wußte inzwischen, daß es den meisten der Schüler Alewyns ähnlich erging, aber das half wenig. Die Sache schien sich erledigt zu haben, ohne daß der gestrenge Lehrer eine Ablehnung formuliert hätte ; übersensibel hatte er allein seines Amtes gewaltet. 51
Doch dann kam überraschend eine Nachricht aus Kiel. Der Schreiber der Zeilen weile anläßlich einer Sitzung der Germanistischen Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn und wünsche den Adressaten zu treffen. Der traute seinen Augen nicht. Erich Trunz, Herausgeber der Goethe-Ausgabe und inzwischen in aller Munde, wünschte eine Begegnung ? Die Aufregung war nicht zu bezwingen, setzte einem noch zu beim Betreten des Godesberger Hotels, wo gemeinsam zu Abend gespeist werden sollte, und fiel dann doch ganz rasch ab. Ein überaus freundlicher Herr lud ein, plauderte ein wenig, und kam rasch zur Sache. Er hatte Einblick genommen in das Manuskript und äußerte sich fast überschwenglich. Da seien ganz neue Zugänge zu den Texten eröffnet worden, und das vor allem im Blick auf den bis dato so arg verkannten ›Pegnesischen Blumenorden‹. Der dem großen Gelehrten Gegenübersitzende traute seinen Ohren nicht. Richard Alewyn, so wendete er vorsichtig ein, hätte sich doch ganz anders vernehmen lassen. Nun, so Erich Trunz lächelnd, es sei bekannt, daß der verehrte Kollege überkritisch sei, das solle man nicht allzu schwer nehmen, sich an eine Überarbeitung mit leichter Hand machen und dann das Manuskript nach Kiel auf den Weg geben. Ein Durchbruch war erfolgt. Erich Trunz war in das Leben des Doktoranden getreten. Die Verbindung sollte sich nicht wieder verlieren. Wann immer möglich brach man auf nach Kiel und besuchte den über alles verehrten Kollegen in seinem Haus im Sternwartenweg. Und alsbald trat der Kreis um Erich Trunz hinzu, Dieter Lohmeier, Eberhard Mannack, Hans-Joachim Mähl. Freundschaftliche Bande knüpften sich sodann rasch zu der engsten Mitarbeiterin Irmgard Böttcher. Kiel blieb eine feste Adresse, und Erich Trunz scheute sich seinerseits nicht, die Garbers in Bonn aufzusuchen, wenn es Dringliches zu erörtern galt. Das sei ja ein Museum, äußerte er bei seinem ersten Besuch, als er den weiträumigen Altbau im Regierungsviertel unweit vom Palais Schaumburg betrat, wo eine Wohnung angemietet worden war, ausgestattet mit schlichtestem Mobiliar. 52
Das ›Pegnesische Schäfergedicht‹ hatte einen bis zum Tod von Trunz lebendigen Kontakt gestiftet. Und als es schließlich im Druck vorlag, ausgestattet mit ansprechenden Bildern aus Stadt und Landschaft der Pegnitzschäfer, die Fritz Zink herausgesucht und bereitgestellt hatte, war es auch der kritische Doktorvater zufrieden. Nobel kleidete er seine Glückwünsche in anerkennende Worte. Eine ›Erstgeburt‹, von Alewyn ausdrücklich so tituliert, war auf der Welt.
Von Opitz zu Wackenroder und Tieck
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esen lautete die Empfehlung des Doktorvaters. Und rasch führten die Wege über die Schäferliteratur hinaus. Nur vom ›Zentralmassiv‹, nur vom Roman und vom Drama, und zumal vom Theater und von der Oper, führe ein solcher in die Kernzonen des Zeitalters. So Alewyn in der Vorrede zu dem Buch, in dem er im Jahr 1932 den von ihm entdeckten Dichter Johann Beer präsentierte, den er ebenbürtig neben Grimmelshausen stellte. Der wiederholt ausgesprochenen Empfehlung folgte man gerne. Aber wäre der Elan angesichts der Ungetüme vor allem auf seiten der heroischen Romane eines Anton Ulrich und Lohenstein nicht doch versiegt, wenn anders nicht stetige Ermunterung dem Erlahmen entgegengewirkt hätte ? Man wußte, daß der Lehrer selbst in seiner Jugend die Wälzer mit dem Personal von stattlichen Telefonbüchern alle durchgearbeitet hatte. Nun, Jahrzehnte später, waren sie wieder da. Und das im Rahmen einer grandiosen, einer unvergeßlichen Vorlesung. Was da womöglich in einem Semester abgehandelt werden sollte, zog sich schließlich über dreie hin. Und das zum großen Vorteil von Hörerinnen und Hörern, die bei der Stange blieben. Mündlich kam zum Vortrag, was vor Jahrzehnten für Schrift und Druck vorgesehen war. Julius Petersen hatte den eben bei Max von Waldberg in Heidelberg promovierten Literaturwissen schaftler nach Berlin gerufen, um ihm im Rahmen einer im Metzler- Verlag erscheinenden Literaturgeschichte den Band 53
zum Barock anzuvertrauen. Eine schmale Dissertation zu Opitz’ Antigone-Übersetzung hatte hingereicht, um diesen ehrenvollen Auftrag auszusprechen. Zustande kam das erwähnte Buch über den Romancier Johann Beer, das kaum noch zur Wirkung gelangen konnte, mußte ihr Verfasser doch ein Jahr später bereits Deutschland verlassen. Als er 1948 zurückkehrte, war er ein Verwandelter. Über Köln und Berlin hatten ihn die akademischen Pfade schließlich nach Bonn geführt. Dort lehrte der bedeutende Komparatist Horst Rüdiger, Alewyn freundschaftlich und in Verehrung verbunden. So unternahm Rüdiger einen neuerlichen Versuch, Alewyn zur Abfassung einer Darstellung der Literatur des Barock zu bewegen, die der von Rüdiger herausgegebenen und bei Sigbert Mohn in Paderborn erscheinenden Literaturgeschichte eingepaßt werden sollte. Auch sie blieb ungeschrieben. So war der Vorlesung vorbehalten, was der allseits als namhaftester Barockforscher geltende Gelehrte zur Epoche vorzutragen hatte. Der Auftakt wurde selbstverständlich mit Opitz genommen. Dann aber wechselte der Redner sehr bald herüber zu einem Rundgang durch die literarischen Landschaften, und das am Leitfaden der sog. Sprachgesellschaften. Ein Grundkurs in literarischer Raumkunde war mitzuverfolgen, das von Gervinus und Scherer, Schöffler und Nadler beobachtete Verfahren erschien auf ganz eigene Art und Weise weiterentwickelt. Alewyn begriff diese um die Leipziger und Königsberger, um die Hamburger und Nürnberger gruppierten literarischen Bildungen aus dem Geist des Späthumanismus heraus, verbunden mit einem immer wieder erfolgenden Verweis auf die Studie von Erich Trunz zum ›Späthumanismus als Standeskultur‹ noch aus den Berliner zwanziger Jahren unter der Ägide von Julius Petersen. Sie setzte er ab von den in das Barock hineinführenden Großformen, denen der mittlere Teil seiner Vorlesung galt. Nur für das ›Große Welttheater‹ war eine Arbeit aus seiner Hand verfügbar, bezeichnenderweise einem Taschenbuch in der von Ernesto Grassi herausgegebenen ›deutschen enzyklopädie‹ bei Rowohlt anvertraut, die wiederum rasch Berühmtheit erlangte. Hinsicht54
lich des Romans kam er nicht darum herum, ein Wort über sich selbst zu verlieren. Es ginge ihm schwer von der Zunge, so sein Eingeständnis, aber eben ohne sein Zutun wäre der Name Johann Beers als namhafter Erzähler des Zeitalters nicht auf der Welt. Auf wenigen Seiten war später, fußend auf einem Vortrag im ›maison allemand‹ zu Paris, zum Roman des 17. Jahrhunderts zu lesen, was weitausgreifend Gegenstand der Vorlesung gewesen war. So ging es zu. Das gedruckte Wort blieb in aller Regel dem restlos durchgebildeten Essay vorbehalten ; nur mündlich durfte man sich freier bewegen, und wie dies geschah, wurde berührt. Dann senkte sich in einem dritten Semester der Bogen, und der Übergang zur Aufklärung wurde angebahnt. Über den galanten Roman war zu hören, dem einzigen zur Habilitation gelangenden Schüler Herbert Singer zur Erforschung übergeben, dem ähnliche publizistische Skrupel wie seinem Lehrer eigen waren. Nur ein Bruchteil des Manuskripts, in das wir Einblick nehmen durften, gelangte unter dem Titel ›Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko‹ zum Druck. Tief ragte das Barock zumal in Deutschland in das 18. Jahrhundert hinein. Es blieb ein höfisches Jahrhundert, aber eben nicht mehr nur das. Gottsched wurden mehrere Stunden gewidmet, wiederholte sich am Eingang des 18. Jahrhunderts doch eine Situation, wie es sie zu Zeiten Opitzens schon einmal gegeben hatte. Erneut mußten die Kräfte für die Schaffung einer anspruchsvollen deutschsprachigen Literatur mobilisiert werden, und die Gründe für eben diese ungewöhnliche Situation beschäftigten den Redner angelegentlich, führten sie doch hinein in die Geschichte und Kultur der verspäteten deutschen Nation. Wer diesen Zyklus gehört hatte, war literarhistorisch gewappnet, war eines Vorzugs gewürdigt worden, dessen sich womöglich nur wenige rühmen durften. Aber es blieb ja nicht dabei. Zu einem zweiten Zyklus wurde ausgeholt, und der erstreckte sich von Lessing, Wieland und Klopstock bis hin zu Wackenroder und Tieck. Goethe wurde ausgespart. Mit einer wiederum unvergeßlichen Vorlesung zu dem jungen Goethe verabschiedete sich der akademische Lehrer im Jahr 1967. Lessing, das war spürbar, 55
galt seine besondere Sympathie. Einen Kopf wie diesen, so sein Diktum, hatte es in der Geschichte der deutschen Literatur noch nicht gegeben und sollte es nicht wieder geben. Und am Beispiel Wielands wurde der Zauber des Rokoko entfaltet, mit dem die gleichfalls ungeschriebene Kulturgeschichte des Barock enden sollte. Der Schwerpunkt lag bei Klopstock, und wieder stand ein ungeschriebenes Buch im Hintergrund. Das Phänomen Empfindsamkeit war zu rebuchstabieren, das vordringlichste Projekt in den Augen des Gelehrten, noch im Berlin der frühen dreißiger Jahre avisiert. Es war ein zwiespältiges, und Klopstock, mehr aber noch seine Verehrer, standen dafür ein. Auf denkwürdige Weise, so Alewyn, kam es zu einer Anverwandlung des Dichters des Messias an die Person seines Urhebers. Ein Künstlerkult nahm Gestalt an, der dem Heiligenkult bedenklich ähnelte. Das rief, fast unmerklich und doch unüberhörbar, den Kulturkritiker auf den Plan. Nur allzu vertraut war ihm die Problematik aus der Beschäftigung mit Hofmannsthal und George. Heroenkult führte zum Führerkult, und die Kunst, sakral stilisiert, stellte das Medium in dieser Symbiose, die in der Politik jüngst ihr wahres Gesicht preisgegeben hatte. Der Emigrant wußte, wovon er sprach. Und sodann der Schlußpunkt und der Ausblick. Auch über Wackenroder und Tieck war ein Buch geplant. Aus dem Geist der Empfindsamkeit begriff der Redner die ›Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‹, mehr von Kunstgefühlen als von Werken, mehr von den Schöpfern als ihren Schöpfungen handelnd. Eine Verschiebung in die Innerlichkeit hatte sich vollzogen, die alteuropäischem artistischem Votieren fremd war. Die Empfindsamkeit blieb für Alewyn die einschlägige Wegscheide. Und als solche war sie durchaus zu trennen nicht nur von den klassizistischen Vorgängern, sondern genauso von den romantischen Nachfahren. Noch einmal gewannen in der Romantik künstlerische Raffinesse und spekulatives Kalkül die Oberhand. Nicht Ausdruck von Gefühl, sondern Erfahrung von Zeit wurde dem Werk überantwortet. Vergangenheit und Zukunft wurden erstmals und bis in die Tage Freuds hinein verbindlich, und das 56
hieß poetisch erkundet. Die Eichendorff- und Brentano-Studien Alewyns, die er aus dem gleichfalls geplanten Romantikbuch abzweigen konnte, stehen einzig da im Fach, wie der informierten Zunft sehr wohl bewußt.
Klopfzeichen
W
er in Bonn des Mittags zur Mensa eilte, streifte an Bücher tischen im Flur vorbei und machte kurz Station bei der Dependance der Buchhandlung Bouvier daselbst. Rasch verschaffte man sich einen Überblick das Aktuelle betreffend, das so weit ablag vom Barock. Ob es in der Mensa war, ob in den wohlgepflegten Sortimenten bei Bouvier und Röhrscheid direkt gegenüber dem Schloß und damit dem Seminar, ist nicht mehr erinnerlich und natürlich auch unerheblich. Unversehens war ein kleines Bändchen aus der ›edition suhrkamp‹ in den Händen des sich interessiert Umtuenden, Theodor W. Adornos ›Jargon der Eigentlichkeit‹. Eine Generalabfuhr Heideggers wurde da bekanntlich veranstaltet, und die kommunizierte sinnfällig mit dessen Präsenz im Philosophischen Seminar, wo Gottfried Martin und Ingeborg Heidemann ihres Amtes walteten. Ja, noch zu dem Kult von Esoterik und Heroik und dessen Flektion im Sprachgebaren, welche Alewyn in der Literaturwissenschaft beschäftigte, taten sich Verbindungen auf. Eine Spur war zu verfolgen. Adorno war nicht stehengeblieben bei Heidegger. Auch Karl Jaspers etwa wurde einbezogen in die kritische Revue. Und gerade an dieser Stelle regte sich frühzeitig Widerstand. Nicht lange war es her, daß die Rede des Trägers des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Fernsehen zu verfolgen gewesen war. Sie prägte sich nicht weniger ein als die Laudatio von Hannah Arendt. Ganz im Gegensatz zu der von Heidegger vertretenen Separierung der Philosophie von der Politik, die so fatale Konsequenzen zeitigte, arbeiteten beide Redner an einer Wiederbelebung der Würde und des Auftrags politischer Kultur. An ihr mangelte es in der Adenauer-Ära eklatant. Unbestechlich mußte man sich ein57
gestehen, daß dieses Feld schon auf der Schule und dann auf der Universität völlig aus dem Blick geraten war. Die Ahnung eines Versäumnisses regte sich, und die erhielt rasch frische Nahrung. Denn nun veränderten sich auch die Auslagen auf den Büchertischen. Zeitschriften, teils in grellen roten Farben, bestimmten das Bild. Von ihren Namen hatte man noch nie gehört, ja, die meisten waren überhaupt wohl soeben erst gegründet worden. Ihre Titel sprachen für sich ; Rotbuch, alternative, prokla, Freibeuter, Argument etc. Unvergeßlich ist die erste Begegnung mit jenem Periodikum, das es rasch zu Berühmtheit brachte und das da auf den Namen ›Kursbuch‹ lautete. Und das weniger wegen des illustren Herausgebers als wegen des Themas, das gleich im zweiten Heft – im Anschluß an ein erstes zur Emanzipation des weiblichen Geschlechts – in den Mittelpunkt rückte. Frantz Fanon, Carlos Fuentes, Fidel Castro gaben sich da ein Stelldichein, flankiert von Roland Barthes und dem Herausgeber des neuen und tatsächlich bei Suhrkamp erscheinenden Periodikums Hans Magnus Enzensberger. Schlagartig trat eine bis dato unbekannte Welt ins Blickfeld. Gänzlich anders nahmen die globalen Dimensionen sich aus der Perspektive der ›Dritten Welt‹ aus, und der Herausgeber ratifizierte in seinem Schlußbeitrag diese Wendung der Dinge : ›Europäische Peripherie‹, so betitelte er seinen Essay. Und nun gab es kein Halten mehr. Freunde links und rechts machten ähnliche Erfahrungen. Diskussionen hoben an, Lesekreise wurden gegründet, weitab von dem Vorhaben der Promotion tat sich ein ebenso komplexes wie faszinierendes Terrain auf. Lesend, kommunizierend, sinnend nahm man teil an den Ursprüngen dessen, was später auf den Namen ›68er-Bewegung‹ getauft wurde und im Moment der Niederschrift dieser Zeilen den 50. Geburtstag begeht. Journale, Monographien, audiovisuelle Medien sind in nie dagewesener Intensität mit Rückblicken, Kommentaren, Einschätzungen zur Stelle. Ein lange Zeit zurückliegender Aufbruch erlebt seine Wiederauferstehung, und erschreckend wird deutlich, wie eklatant die Zeiten sich verändert haben. 58
Archäologie des barocken Trauerspiels
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n dieser Situation trat ein Schriftsteller hervor, der bislang ein Schattendasein im geistigen Haushalt geführt hatte. In Hamburg hatte Adolf Beck ein Seminar zum Barockdrama angeboten. Die in Hamburg verbliebenen Freunde nahmen an ihm teil. Zurückkehrend aus Göttingen und zu ihnen stoßend war unversehens von einem Werk die Rede, das im Zuge des Seminars aufgestöbert worden war und Faszination ausgelöst hatte. Sein Titel : ›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹. Sein Verfasser : Walter Benjamin. Dem Fragenden wurde bedeutet, daß hier ein einschlägiger Titel vorläge, geeignet, sich als Alternative zu Einfühlungsästhetik und werkimmanenter Interpretation, beide beherrschend im Schwange in den fünfziger Jahren, darzubieten. Man stieß hinzu, bemühte sich nach Kräften, einen Zugang zur erkenntnistheoretischen Vorrede des Werkes zu gewinnen, und mußte sich doch alsbald einbekennen, vor einem Rätsel zu stehen. Doch nun, Jahre später, war Benjamin plötzlich wieder da. Auch das Trauerspielbuch erschien soeben in einer wohlfeilen Ausgabe. Doch nicht darum ging es. Titel wie ›Versuche über Brecht‹ oder ›Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‹ oder ›Über den Begriff der Geschichte‹ lagen da in den ansprechenden Ausgaben der ›edition suhrkamp‹ auf den Büchertischen. Das war eine gänzlich andere Kost. Vor allem der geschichtsphilosophische Titel schlug ein. In siebzehn knappe Thesen war er gegliedert. Man erfuhr, daß es sich um den letzten Text Benjamins handelte. Er führte ihn mit sich auf der Flucht aus Frankreich, die an der spanischen Grenze mit seinem Selbstmord endete. Ihn wollte er einem Vermächtnis gleich gerettet wissen. Aus den Händen Theodor W. Adornos und Max Horkheimers gelangte er in den vierziger Jahren erstmals an die Öffentlichkeit. Das Echo nahezu ein halbes Jahrhundert später war immens und dauert, geht es denn um einzelne Wendungen und Bilder, bis heute an ; ja, selbst in das Fernsehen hinein reicht die Strahlkraft. Und so kaum anders mit weiteren und vor allem den späten Arbeiten Benjamins. 59
Zu dem verehrten Doktorvater trat ein zweiter Autor, um den man sich angelegentlich zu kümmern begann. Und da kam dem philosophischen Amateur, dem es schwante, daß Besonderes in den Texten sich verberge, die soeben sich etablierende Kultur des gemeinsamen Lesens entgegen. Ein entschiedener und provokanter Auszug aus dem akademischen Milieu wurde exekutiert. ›Alternative Seminare‹ konstituierten sich. Nur ausnahmsweise beteiligten sich Assistenten oder gar Hochschullehrer an ihnen. Man nahm die Organisation selbst in die Hand. Und bald gehörte Benjamin zu den favorisierten Autoren. Jahrelang wurde in Bonn ein Text nach dem anderen von dem zur Kultfigur aufgerückten Denker durchgenommen. Neben die literaturwissenschaftlichen Seminare traten die theoretischen in eigener Regie. Und dann währte es gar nicht mehr so lange, bis die Zeit der publizistischen Intervention heranrückte – ein eigenes, delikates Kapitel, hatte man es doch mit Kontrahenten zu tun, die einem nichts schenkten.
Provisorisches akademisches Finale
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as bukolische Unternehmen lief fort und entfremdete sich seinem Autor in der Jahre zurückliegenden Aufmachung zunehmend. Motivgeschichte, Ausbreitung und Veränderung von Topoi, Herauskristallisierung zweier konträrer Naturtypen – so oder ähnlich lauteten die vorgesetzten Aufgaben. Und das vor dem Hintergrund der immense Ansprüche stellenden Rekonstruktion einer vitalen europäischen literarischen Gattung in nuce. Nun aber tauchten ganz andere Parameter auf. Mit dem Begriff ›Sozialgeschichte‹, der zum Kürzel von Literaturkritik aus dem Geiste der 68er avancierte, sind sie nur sehr unzureichend beschrieben. Viel mehr wurde da von den Wortführern ins Auge gefaßt, und bald wußte man sich auch mit dem vermeintlich abseitigen Thema sehr prädisponiert dafür, rüstete man nur eben die Zugangsweise entschieden um. ›Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur‹ lautete die in Umlauf befindliche zündende Formel. 60
War nicht auch die virulente Schäferdichtung ein Produkt der vehement ins Visier geratenen Gesellschaft ? Denn wie stand es um die Polarität von Innerlichkeit und Gesellschaft, die in der arkadischen Utopie doch geradezu paradigmatisch zu greifen war ? Und dann der Gegenschlag aus der Mitte eben dieser literarischen Spielart heraus im Zeichen von Sozialkritik und revolutionärer Umwälzung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ganz neue Dimensionen eröffneten sich. Sie waren dem alten Konzept nicht mehr zu integrieren, und wo in einzelnen Passagen der Versuch doch noch gemacht wurde, war er zum Scheitern verurteilt. An die zehn Jahre waren vergangen, bevor der Doktorand sein Werk schließlich dem Doktorvater überstellen konnte. Der war emeritiert, weilte gerne in seinem Ferienhaus im südfranzösischen La Croix-Valmer. Zwei dicke Bände gingen auf den Postweg. Alewyn sprach später gerne von den beiden Telefonbüchern, die er da empfangen habe. Ruhe wähnte man für eine Weile sich erkauft zu haben, dringend erwünscht, um von anderem zu handeln als von Schäfern und Schäferinnen, von lieblicher und unwirtlicher, amöner und terribler Natur. Doch nach einer guten Woche klingelte der Postbote in Bonn. Böses schwante einem, und tatsächlich waren die Wälzer zurück, der Ball lag wieder im eigenen Spielfeld. Alewyn hatte die rund tausend Seiten gelesen und in der üblichen Manier kritisch annotiert. Wenn also eines sicher nicht mehr fernen Tages auch die sorgfältig bewahrte Urschrift der Dissertation nach Marbach geht, so allein wegen ihres ersten Lesers, von dem eine jede Zeile zählt. Rasch wurde klar, wie zu verfahren sei. Dieses Ungetüm in der vorliegenden Façon zu retten, war ein Ding der Unmöglichkeit. Alewyn hatte selbst Hinweise gegeben. Der ganze Teil zum 18. Jahrhundert könne entfallen. Er war der einzige dem Autor besonders kostbare, waren eben in ihm doch die sozialpolitischen Implikationen zumal der Idylle und des bürgerlichen idyllischen Epos umrissen worden. Zurückgestutzt auf eine schlichte dreiteilige Anlage, gedachte man sich von dem inzwischen ungeliebten Kind am ehesten trennen zu können. So wurden die europäischen Grundlagen verknappt zu einer Typologie, im Anschluß daran die 61
beiden konträren Naturtypen beschrieben, eine mächtige Bibliographie, einen eigenen Band füllend, zurückgestellt für zukünftige Zeiten, und Schluß. Die Pointe verbarg sich im Vorwort. Von zehnjähriger A rbeit verabschiedete sich der Autor mit der Versicherung, bei dem Vorliegenden handele es sich bestenfalls um ein Prolegomenon. Das Entscheidende sei der Zukunft vorbehalten, nämlich einer kritischen Gattungsgeschichte im Spiegel von Subjektivität und bürgerlicher Gesellschaft. Das alles hinderte nicht, daß der Doktorvater sie – nach ausführlicher Beratung mit Horst Rüdiger und Herbert Singer – mit ›summa cum laude‹ passieren ließ und der von ihm nach dem Krieg wiederbelebten Reihe ›Literatur und Leben‹ zuführte. Ein schier endlos dünkendes Kapitel war beendet, Freiheit winkte. Arkadien indes blieb ein stetiger Begleiter, und das bis auf den heutigen Tag. Neue Zeiten – alte Bräuche. Die Vorbereitung auf das Rigorosum war verbunden mit intensiver Lektüre in der Literaturwissenschaft, der Philosophie, der Kirchengeschichte. Warum sie nicht noch ein wenig ausdehnen ? Das Staatsexamen bot sich als Alibi. Und tatsächlich zeitigte es die erhofften Früchte. Bei Karl Stackmann in Hamburg waren die weltliterarischen Idiome des Gotischen und Althochdeutschen, am Rande auch des Mittelhochdeutschen über Ablautreihen und ähnliches von hinten nach vorne und umgekehrt buchstabiert worden ; zur Textlektüre gelangte man nicht. Das wurde nun nachgeholt, und bewußt in Lyrik und Epik die staufische Klassik vorgenommen ; ein wunderbarer Reigen tat sich auf, der zum Vergleich mit dem deutschen 17. Jahrhundert geradezu herausforderte. In der Neueren Literaturwissenschaft waren ein Autor, eine Epoche und eine Gattung vorgeschrieben. Der Autor ist nicht mehr erinnerlich, als Epoche kam nur die Empfindsamkeit in Frage und als Gattung die Idylle. So ausgerüstet brach man auf nach Perchting. Statt aber vorzutragen, verwickelte der Gastgeber seinen Besucher in ein Gespräch, das je länger desto mehr faszinierende Züge annahm. Der gelöst plaudernde Gelehrte berichtete von jüngsten Lesefrüchten, sie alle dem 18. Jahrhundert 62
gewidmet, hatte er doch für das Killysche Unternehmen einer Textdokumentation nach Epochen eben dieses Saeculum übernommen – ohne damit selbstverständlich zu einem Abschluß zu gelangen. Über ›gemischte Gefühle‹ kam man zusammen, über die ›Lust an der Angst‹ und ihre Gründe, über die Formierung von ›Unheimlichkeit‹ in der Literatur, wie es sie bis dato nicht gegeben hatte. Einwürfe, Hinweise, Fragen des immerhin doch zur Prüfung bestellten Examinanden genügten dem ›Prüfer‹, um sich ein Urteil zu verschaffen. Akademische Freiheit wurde gelebt, und neuerlich bereichert zog man von dannen.
Arkadische Freiheit philosophisch aspiriert
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anz anders in der Philosophie. Über Platon hatte man vor Jahren intensiv zur Vorbereitung auf das Philosophikum in Hamburg gearbeitet. Nun sollte es unbedingt Kant sein, und das verbunden mit dem festen Vorsatz, alsbald weiterzuschreiten zu Hegel und Marx. Jetzt durfte der Prüfling erleben, wie er dem Fachmann Gottfried Martin den einen und anderen Gedanken vortragen konnte, der seinem Gegenüber einbekanntermaßen so noch nicht gekommen war. Geschickt war der König der philo sophischen Aufklärung in Kontakt gebracht worden mit den Wortführern der Kritischen Theorie, und der daraus resultierende Funkenschlag hatte gezündet. Vorwärts zu stürmen galt es, mit Adorno, Horkheimer, Marcuse und wie sie hießen im Gepäck. Die Gelegenheit kam rascher als je erhofft. Berlin, Marburg und Frankfurt waren die Zentren, von denen die geistige und politische Bewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ihren Ausgang genommen hatte, an der man rezipierend intensiv teilnahm. In Marburg war es Wolfgang Abendroth, dessen schmales Werk Faszination ausgelöst hatte. Tatsächlich wurde vor allem seinetwegen mit einem Herüberwechseln in die Politologie geliebäugelt. Dabei blieb es, aber ein Besuch in Marburg mußte sein, und die Erinnerung an die Noblesse, mit der der da Hereingeschneite von dem großen Mann empfangen wurde, verlor sich nicht wieder. 63
Frankfurt stand auch zu Beginn der siebziger Jahre noch ganz im Bann des allzufrüh verstorbenen Adorno. Er war gegenwärtig und die Freude übermächtig, daß man ihn noch zu Lebzeiten aufgesucht hatte. Erneut war dem Besucher seinerzeit ein denkbar freundlicher Empfang bereitet worden. Man konnte von Richard Alewyn berichten, den Adorno natürlich noch aus Frankfurter Vorkriegszeiten kannte, und man wagte wohl auch, am Rande den Namen Benjamins ins Gespräch zu bringen. Tatsächlich aber ging es um den phantastischen Plan, vorzuhorchen, ob Adorno sich vorstellen könne, eine sozialphilosophische Studie zur europäischen Arkadien-Utopie unter seine Obhut zu nehmen. Man wird es nicht glauben, doch der Angesprochene zeigte sich aufgeschlossen und war sogleich mit ersten Ideen zur Stelle. Vermutlich, so seine Einlassung, müsse der Weg über die Allegorie als maßgebliches Konstruktionsprinzip genommen werden. Da war denn doch für einen Moment der Autor des Trauerspielbuchs gegenwärtig. Man verabschiedete sich mit der Beteuerung, ein Konzept zu liefern. Wenig später erfuhr die intellektuelle Welt vom Tod Adornos. Die Studentenrevolte, von ihm selbst geistig vorbereitet, war über ihn hinweggegangen. Die sich auftuenden Aporien müssen beigetragen haben zu dem erschütternden Geschehen. Fortan fehlte seine Stimme, und man durfte sich glücklich schätzen, sie nicht nur immer wieder im Rundfunk, sondern eben auch persönlich vernommen zu haben. In Frankfurt war es denn auch, wo studienhalber noch einmal ein halbes Jahr Quartier genommen werden konnte. Und das ausgestattet mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, für das sich Alewyn und Trunz eingesetzt hatten. Natürlich war es für Arkadien bestimmt. Zu ihm aber führten die Wege für den Spätling der 68er-Bewegung dezidiert nun eben auch über Marx. Und so wurden einige Monate lang in engem Kontakt mit dem Institut für Sozialforschung, wo man Adorno besucht hatte, Marxens Schriften intensiv studiert, von den Frühschriften über die eben erschienenen ›Grundrisse der politischen Ökonomie‹ bis hin zum dreibändigen ›Kapital‹. Der Herrgott mochte wissen, wie es von da zurückgehen sollte nach Arkadien. Immerhin, einschlä64
gige Passagen unter dem Stichwort der Robinsonade waren auch bei Marx zu lesen gewesen, man werde schon sehen. Denn noch fehlte ja einer im Bunde, dem die entscheidende Mittelstellung zwischen Kant und Marx zukam : Hegel. Auch diese Lektion wurde nicht verabsäumt. Beredt wußte der Amateurphilosoph der DFG darzutun, daß im Frühwerk eben dieses Philosophen sich auch die Fundamente für eine sozialkritische Untersuchung der arkadischen Welt verbergen würden. Und so wurde tatsächlich im Rahmen eines auf drei Jahre bemessenen Stipendiums ein gutes Jahr auf das Studium des jungen Hegel gewandt. Unter dem Titel ›Innerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft im Frühwerk Hegels‹ firmierte das sukzessive heranwachsende Manuskript, und kein Hegel-Kenner vermöchte zu leugnen, daß unter diesem Titel nicht eine Kernzone der Jugendschriften des Autors getroffen worden wäre. Bis in die ›Phänomenologie‹ hinein erstreckte sich der Bogen einer Fragestellung, die sich als überaus erkenntnisfördernd erwiesen hatte und tatsächlich applikationsfähig blieb auf die idyllischen Bilder, war doch die Dialektik zwischen den beiden Polen luzide von Hegel entfaltet worden. Am Ende stand ein eigenes Buch. Wie andere alsbald entstehende Manuskripte wurde es im Schreibtisch gehütet, ging es doch immer noch um Grundlegung und Fundamentierung. Wer durfte sich rühmen, so frei über die Grenzen hinweg in den Gefilden des Geistes sich bewegt zu haben. Ein von Geheimnis umspieltes Geschenk hatte sich unter schäferlichem Gewand während der überlangen Zeit der Promotion verborgen.
Bibliographisches Gewerbe : Eine Ehrenrettung
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tieg man dann herab von den Höhen des Gedankens in die Niederungen des philologischen Alltags, so erwartete einen ein gänzlich anders geartetes Geschäft, wenig dazu angetan, Faszination auszulösen. Doch in der Philologie zählt nicht zuerst diese, sondern Gediegenheit. Von Kant, Hegel und Marx führte 65
kein Weg zu einer Bibliographie der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, in der Tat. Richtig angelegt und sodann mit Leidenschaft verfolgt, vermochte auch sie den Sammler und Jäger in ihren Bann zu schlagen. Die Bibliographie dient der Basis der Philologie, den Texten. Diese nicht nur lesend und auslegend, sondern dokumentierend und in ihrer materiellen Physiognomie in Augenschein zu nehmen, ist eine Kunst eigener Art. Dilettantismus gerade auch auf diesem Gebiet ist ihr Feind ; Kenntnis des Metiers von innen heraus unabdingbar. Sie erwirbt man nur über Kenner und Vorbilder. In der Hamburger Staatsbibliothek wirkte Werner Kayser, Verfasser einer großartigen Geschichte der alten Hamburger Stadtbibliothek. Frühzeitig führten die Wege zu ihm. Als es an die Abfassung einer Bibliographie für die Doktorarbeit ging, weihte er den Fragenden ein in die Regularien der analytischen Bibliographie. Hamburg war eine Domäne auf diesem Gebiet. Hier entstand unter der Ägide von Hermann Tiemann und Horst Gronemeyer die maßgebliche Klopstock-Ausgabe. Für sie wurde eine nach allen Regeln der Kunst gefertigte Bibliographie des Klopstockschen Werkes erarbeitet. Keine ordnungsgemäße Edition, die nicht fußte auf einer gediegenen Bibliographie. Bibliographisches und editorisches Gewerbe gehören zusammen, bilden zusammen die Königsdisziplinen der Philologie. Ob Kayser auch schon auf Hans von Müllers Lohenstein-Bibliographie verwies ? Sie blieb in den folgenden Jahren das Muster für eine den Verhältnissen des 17. Jahrhunderts angepaßte TextErfassung und Erschließung. Schon der Doktorarbeit war eine Hunderte von Seiten umfassende Bibliographie beigegeben worden, basierend auf persönlichen Recherchen und einer weit über hundert Titel umfassenden Umfrageliste, die an deutsche und ausländische Bibliotheken ging und in aller Regel hervorragend bearbeitet an den Absender zurückkehrte. Für den Druck wurde sie zurückgestellt, sollten doch weitere Erkundungen, vor allem über Reisen, das Bild vervollständigen. Dazu paßte, daß parallel zu dem bibliographischen Vorhaben eine Anthologie schäferlicher und ländlicher Texte ins Auge ge66
faßt wurde. Martin Bircher und Friedhelm Kemp, die beiden bibliophilen Freunde in Wolfenbüttel und München, hatten eine bildschöne Reihe unter dem schlichten Titel ›Deutsche BarockLiteratur‹ ins Leben gerufen, die zunächst im Kösel-Verlag, der Wirkungsstätte Kemps, und dann bei Francke in Bern erschien. Halbe Nächte lang konnte man in Wolfenbüttel oder in München Pläne schmieden und Lesefrüchte austauschen. Am Ende schien das verlegerisch gewagte Unternehmen dann doch gefährdet, und schweren Herzens mußte Friedhelm Kemp eine Absage übermitteln. Für die Bibliographie indes blieb ein großer Wurf auf der Tagesordnung. Alle zu den beiden Gattungen gehörigen Texte sollten ausfindig gemacht und präsentiert werden. Zugleich aber sollten alle bekannten Exemplare ermittelt und miteinander verglichen werden. Und so, als sei nicht das schon übergenug, sollte einem jeden bibliographisch-analytisch aufgeschlüsselten Werk auch noch ein gehöriger Kommentar mit Inhaltsangabe und weiteren literatur- und überlieferungsgeschichtlich sich anbietenden Informationen beigegeben werden. Provenienzen, Annotationen, Druckvarianten etc. erhielten ihren festen Platz. Für den Initiator indes verknüpfte sich das veritable Programm mit der Aussicht auf Reisen. Und womöglich war dies – kaum je eingestanden – am Ende doch das Movens des aufwendigen Unternehmens.
Unter den Fittichen der DFG
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ie ein kleines Wunder will es im Rückblick erscheinen, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft nach eben erfolgter Promotion und dann über Jahrzehnte sich von dem Reisefieber anstecken ließ. Am Ende waren die einschlägigen bibliothekarischen Quartiere auf dem europäischen Kontinent, in den Weiten der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten aufgesucht worden, und die DFG war stets mit dabei. Ob es ihr unvergessener Referent für Germanistik Manfred Briegel war, der sein Wort einlegte, ob es die Herkunft von Alewyn und Trunz war, die zu Buche 67
schlug, ob es die von ersten Fachleuten besetzte und letztlich doch wohl zuständige Abteilung für Bibliotheksfragen in der DFG war, die bewirkte, daß buchstäblich ein jeder Antrag positiv beschieden wurde ? Wir wissen es nicht. Rückblickend besteht aller Grund zu tiefer Dankbarkeit, wie sie einem jeden Reisebericht selbstverständlich voranstand. Sie alle strotzten nur so vor Entdeckungen, und stets waren Novitäten darunter. Gab es Möglichkeiten, sich erkenntlich zu zeigen ? Niemals hat der hier sich Erinnernde in der Germanistischen Kommission der DFG mitgewirkt ; eine derartige Ehre war sehr viel renommierteren Kollegen vorbehalten. Niemals auch wurde er gebeten, seine Kenntnisse in die Bibliothekskommission der DFG einzubringen. Nur einmal – und das dann freilich über Jahre – saß er mit am Tisch in Bad Godesberg, als ein Verzeichnis der deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts geplant wurde. Experten der DFG, aus dem deutschen Bibliothekswesen und der Germanistik fanden sich zusammen. Die Leitung lag stets bei einem angesehenen Bibliotheksdirektor. Horst Gronemeyer aus Hamburg und sein Nachfolger Peter Rau absolvierten das Geschäft souverän und stets bereit, den beiden Literaturwissenschaftlern – Hans-Henrik Krummacher war die Jahre über mit dabei – ihr erfahrenes Ohr zu leihen. Die aber äußerten vor allem Wünsche, und wenn sie Gehör fanden, so war das der schönste Lohn. Ohne sich abgestimmt zu haben drängten sie darauf, das Kleinschrifttum gebührend zu berücksichtigen. Sie wußten, daß es bei den Planungen für einen ›Deutschen Gesamtkatalog‹, wie sie noch vor dem Kriege über Berlin eingesetzt hatten, zu kurz gekommen war. Das sollte sich nicht wiederholen. Flugblätter und Flugschriften, akademisches Schrifttum jedweder Provenienz und sodann und vor allem Gelegenheitstexte aller Couleur in Prosa und Vers durften unter keinen Umständen fehlen. Und mehr noch. An den kleinen Formen hafteten in der Regel Beiträger und Adressaten. Sie sollten dabei sein, bestand doch nur so die Chance, dem literarischen Leben vor Ort auf der Spur zu bleiben. Wenn der sog. ›VD 17‹ heute zu einem unverzichtbaren und nicht mehr wegzudenkenden Aus68
kunftsinstrument herangewachsen ist, dann ist dies nicht zuletzt der ausgezeichneten Kooperation im Unterausschuß der Bibliothekskommission der DFG zu danken, an die alle Beteiligten mit Freude und Stolz zurückdenken.
Schäferliche Spuren in Skandinavien
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ie erste große Reise in direktem Anschluß an das Rigorosum führte 1970 in das sommerliche Skandinavien. Barockliteratur und speziell Schäferliteratur ausgerechnet im hohen Norden ? Die Sehnsucht, nach Dänemark auch Schweden und Norwegen kennenzulernen, spielte vermutlich mehr als beiläufig hinein in den ungewöhnlichen Plan, für den immerhin überzeugende Argumente beigebracht werden mußten. Insbesondere Kopenhagen lag im Blickfeld der befreundeten Kieler Kolleginnen und Kollegen. Mehr als ein aufregender Fund war von ihnen präsentiert worden, bis hin zu einer ›Astrée‹-Adaptation im Dänischen. Das ließ aufhorchen. Hinzu kam, daß Philipp M. Mitchell soeben einen bahnbrechenden Führer zu deutschen Drucken des 17. Jahrhundert aus Offizinen Dänemarks und Schleswig-Holsteins publiziert hatte. Man kannte ihn aus Göttingen, wo er regelmäßig auftauchte. Seine bibliothekarische Heimat aber war die Königliche Bibliothek in Kopenhagen. Dort begegnete man ihm wieder, plauderte in der Mittagspause im schattigen Garten der Bibliothek und tauschte Erfahrungen aus. »Eine Bibliothek, lieber Herr Garber«, so sein Diktum, »betritt man mit ihrer Öffnung und verläßt sie mit ihrer Schließung.« Dieser Grundsatz hatte teil an seinem imponierenden Lebenswerk, das sich auf Bibliographie und Edition gleichermaßen erstreckte. Wie verlockend aber wäre es nun, von den Entdeckungen im einzelnen zu sprechen. Dieser Versuchung muß hier wie im folgenden widerstanden werden. Wenn Kopenhagen als erste Station angesteuert wurde, so vor allem, um die Spuren der norddeut schen und nordostdeutschen literarischen Aktivitäten im Gefolge Opitzens im Nachbarland am Paradigma der allenthalben 69
präsenten Schäfer- und Landlebenliteratur zu studieren. Johann Rist war das konkurrenzlos dastehende dichterische Haupt. Von Opitz hatte er die Stafette übernommen und wußte sie machtvoll zu schwingen. In Kopenhagen wie an keiner anderen Stelle sonst war sein vielschichtiges pastorales Liederschaffen in seltenen und zum Teil unikalen Ausgaben zu studieren und bibliographisch zu inventarisieren. Aber auch Georg Greflinger und Zacharias Lund, Jakob Schwieger und Gabriel Voigtländer gaben sich hier ein Stelldichein in einer bibliophilen Dichte wie schwerlich irgendwo sonst. Kein Text, der nicht sorgfältig inspiziert, keine Bibliothek, in der nicht zumindest die einschlägigen Probeseiten des Vor- und Nachspanns zur Verfilmung in Auftrag gegeben wurden. Autopsie war das selbstverständlich beobachtete Gebot. Am heimatlichen Schreibtisch durfte später kein Fundstück fehlen. Der Weg zur schwedischen Hauptstadt gestaltete sich zu einem unvergeßlichen Abenteuer. Am Fenster des Renault 4 – die Frau am Steuer, die unermüdlich mitwirkte an dem pastoralen Teppich – glitten unberührte mächtige Seen vorüber, die zum Verweilen einluden. Und als Stockholm erreicht war, kannte das Staunen über die Schönheit der schwedischen Kapitale keine Grenzen. Das aber setzte sich in der wiederum Königlichen Bibliothek fort. Dutzende von Sammelbänden vorwiegend in deutscher, lateinischer und schwedischer Sprache standen da chronologisch wohlgeordnet und ohne vom Krieg versehrt zu sein zusammen. Ein erstes Mal begann in großem Stil ein kaum je endendes Blättern. Und rasch zeigte sich, daß dieses auf den ersten Blick eintönige Geschäft so gut wie immer belohnt wurde durch das Auffinden von Stücken, die in den mitgeführten Listen fehlten, in aller Regel noch nie gesichtet worden waren und nun dazu bestimmt wurden, in die in Arbeit befindliche Bibliographie inkorporiert zu werden. Eben mit diesen Rechercheergebnissen waren die Berichte an die DFG gespickt, und das wohl nicht zuletzt beförderte Wohlwollen und anhaltendes Interesse. Weiter ging die Reise nach Uppsala. Von Lars Gustafsson wußte man da noch nichts ; erst viel später erfolgte die Bekannt70
schaft. Uppsala aber wartete mehr noch als Stockholm mit einer gehörigen Überraschung auf. Keinen Reim vermochte man sich auf sie zu machen, doch die Reisenotizen hielten die Beobachtung fest. Wieder ging es vornehmlich um die gleichfalls in großer Anzahl vorhandenen Sammelbände. Schon auf der ersten Reise rückten sie in ihrer besonderen Qualität in den Mittelpunkt, und das sollte Jahrzehnte über so bleiben. Hier in Uppsala aber war das Auftreten von Drucken und also in aller Regel von Gelegenheitsgedichten aus den vergleichsweise nahen und doch so fernen baltischen Offizinen auffällig. Reval und Dorpat, auch aber Riga und Mitau firmierten da als Druckorte und hatten in den Sammlungen überraschend ihren Platz gefunden. Selbst schäferliche und wiederum unbekannte Stücke waren darunter. Es währte lange, bis der Schlüssel zur Erklärung verfügbar war. Doch so ergeht es dem Bibliotheksreisenden. Nur allmählich fügt sich das Puzzlespiel zu einem hinlänglich geformten Ganzen. Deutlich war geworden, daß in einem jeden Haus mit Entdeckungen zu rechnen sei. Es reichte eben nicht aus, die bereits bekannten Stücke an Ort und Stelle zu kollationieren, was selbstverständlich auch geschah und von der Begleiterin in stetiger Sorgfalt durchgeführt wurde. Nach Neuem mußte Ausschau gehalten werden, und das am erfolgreichsten über unbekümmertes Blättern. Mag man aber der Versicherung Glauben schenken, daß auch die Universitätsbibliothek der norwegischen Hauptstadt, die offensichtlich noch nie in die Barockphilologie hineingespielt hatte, eine Reihe pastoraler Unikate bereithielt, die mit einer gehörigen Portion Stolz dem Doktorvater und der DFG präsentiert werden konnten. Eine Exkursion in eine Region abseits der großen BarockQuartiere war mit erheblichem Gewinn absolviert worden. In der Einsamkeit der norwegischen Seen- und Gebirgswelt in einer Berghütte der Verwandten war Gelegenheit zu Rast und dankbarer Rückschau.
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Im Habilitandenkreis Albrecht Schönes
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n Bonn war nach dem Abgang Richard Alewyns auf Dauer kein Bleiben. Wohin aber sich wenden ? Frankfurt wurde ins Auge gefaßt, kurzfristig sogar Marburg. Es kam anders. Göttingen lockte neuerlich. Die Universitätsbibliothek hatte den Doktoranden über die Jahre großzügig aus ihren Barockbeständen versorgt. Da lag es nahe, sich direkt an die Quelle der Schätze zu begeben. Noch einmal wurde, wie alsbald deutlich, eine richtige, weil zukunftsweisende Entscheidung getroffen. Ausgestattet mit einem Forschungs- und alsbald einem Habilitationsstipendium der DFG konnte man sich frei bewegen. Doch selbstverständlich wurde auch der Anschluß an das akademische Leben in der Stadt gesucht. Vor gar nicht so langer Zeit war man in eine Vorlesung Albrecht Schönes hineingeraten. Damit war es jetzt vorbei. Wiederholte Störungen und sogar Sprengungen der Veranstaltung vor großem Publikum im Gefolge der Studentenrevolte, wie sie schließlich auch Göttingen erreichten, hatten den illustren Gelehrten zur Aufgabe seines großen Forums bewogen. In kleineren Kreisen wurde fortan gearbeitet. Eingeführt seit eh und je war das Habilitandenkolloquium. Es fand abwechselnd im Haus Schönes in der Grotefendstraße und in den Wohnungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer statt, trug also durchaus persönlicheren Charakter. Man suchte um Mitgliedschaft nach, und die wurde umstandslos gewährt, obgleich die Dissertation im Druck doch noch gar nicht vorlag. Vermutlich reichte die Erwähnung des Namens von Alewyn, um Zutritt zu erhalten. Alsbald stellte sich heraus, daß Schöne den älteren Kollegen tief verehrte. Das mag dem frisch Promovierten zugute gekommen sein. Der Auftakt aber war aufregend und überraschend genug. Die Zusammenkommenden kannten sich in der Regel. Mehrere von ihnen wirkten im Deutschen Seminar als Assistenten, in Akademie-Projekten oder in anderweitigen Funktionen. Nun kam der Neuling hinzu. Offensichtlich war die Anfrage ergangen, ob man sich vorstellen könne, im eben begonnenen Wintersemester den 72
Auftakt zu machen, und das mit einem Thema der Wahl. Was anderes kam in Frage als die Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts mit Ausblicken in das 18. Saeculum ? Schöne willigte ein, und man traf erste Vorkehrungen. Ist es aber willkommen, einer nicht wieder aus dem Gedächtnis sich verlierenden kleinen Szene für einen Moment Raum zu gewähren ? Auf das Fahrrad stieg der Referent, verirrte sich in der Dunkelheit im Ostviertel und traf mit Verspätung ein. Ein Kreis von zwanzig, fünfundzwanzig Personen aus dem Umkreis Schönes saß in dem großen Wohnzimmer zusammen, und immer noch sind die erwartungsvollen Blicke einzelner von ihnen gegenwärtig. Was mag man entschuldigend gestammelt haben ? Dem Hausherrn muß es auf jeden Fall bravourös gelungen sein, dem Auftritt jedwede Peinlichkeit zu nehmen. Er wird freundliche und humorvolle einführende Worte gefunden haben. Und dann war das Wort erteilt. Der darum Gebetene verfuhr ungewöhnlich. Auch Alewyn hatte regelmäßig Kolloquien abgehalten ; auch sie gingen zumeist in seiner Godesberger Wohnung vonstatten. Wenigstens einmal war auch da schon Gelegenheit gewesen, über das Dissertationsprojekt zu berichten, und das in freier Rede. Ob dieser Umstand dazu ermunterte, analog nun auch in Göttingen zu verfahren, obgleich die Situation sich doch gänzlich anders ausnahm ? Wie auch immer. Man wagte es, zu extemporieren, sachliche Mitteilungen über den Gegenstand mit Perspektiven hinsichtlich seiner weiteren Behandlung zu kombinieren, methodische Erwägungen einzuflechten und schließlich auch das bibliographische Vorhaben zu skizzieren. Vermutlich eine Stunde dürfte der Vortrag gewährt haben. Danach Stille und sodann eine unvergeßliche mimische Einlage Schönes. An dem Arm des Referenten machte er sich zu schaffen, spähend, ungläubig staunend, ablassend und nochmals zurückkehrend. Hatte der Vortragende, so seine nun mit größtem Ernst geäußerte Vermutung, die Manschetten seines Hemdes womöglich genutzt, um dort Notizen für das Ausgeführte zu anzubringen, wo doch beschriebene Blätter ersichtlich nicht vorhanden waren. Rasch hatte er die Lachenden auf seiner Seite. Und wie 73
dankbar war der Neuling in der Runde, wie dankbar auch für die köstliche Zäsur, die Atemholen erlaubte und Sammlung für die anschließende Diskussion. Schöne hatte eine glänzende Schar junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um sich. Das Niveau war imponierend, und zu vielen von ihnen stellten sich alsbald nähere Kontakte her. Noch während die Fragen verlauteten und man so gut als irgend angängig auf sie einzugehen sich bemühte, stellte sich die Erinnerung an das von Alewyn Gehörte ein. Wiederum mag es kaum glaublich erscheinen, doch fühlte man sich je länger desto nachhaltiger den Abend über gerüstet durch die in Bonn erfolgte Schulung, die nun, so wurde schlagartig deutlich, auf dem frischen Parkett ihre Früchte trug. Mit einem Schlag war der Zugang zu dem großen Germanisten und seinem Kreis eröffnet. Albrecht Schöne war fortan jederzeit ansprechbar. Er nahm rasch die Stelle ein, die Alewyn in Bonn zugekommen war, und man durfte sich schmeicheln, noch einmal einer eindrucksvollen Persönlichkeit begegnet zu sein. Und das mit Folgen. Kaum ein Jahr war man an der neuen Wirkungsstätte, da war die Vertretung einer Wissenschaftlichen Ratsstelle fällig. Hans Joachim Kreutzer, mit dem man immer wieder über die Musik zusammenkam, wechselte auf ein Stipendium, wenn die Erinnerung nicht trügt, und Schöne fragte an, ob man bereit sei, für drei Semester einzuspringen. Die Anfrage ging mit einer Ermunterung einher. Es sei gut, auch im Blick auf den weiteren Weg, Erfahrung in der Lehre zu gewinnen, an der es eklatant mangelte, war man bislang doch nur in der ›alternativen‹ Szene unterwegs gewesen. Die Zusage fiel schwer, aber sie erfolgte und bescherte in der Tat wiederum Unerwartetes und Neues mehr als genug.
68er-Impulse im akademischen Milieu
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in volles akademisches Repertoire war zu bewerkstelligen. Die Vorlesung gehörte freilich nicht dazu. Eine solche hätte man sich nicht zugetraut. Einführungsseminare, Hauptseminare und
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wohl auch Kolloquien waren erbeten. Und selbst die Mitbetreuung von Dissertationen war zumindest informell genehm. Noch heute zieren die über alle Ufer angeschwollene private Bibliothek Exemplare von Göttinger Dissertationen, in denen der Anregung dankbar gedacht wird. Kurzum, der nach Göttingen gute zehn Jahre später Zurückgekehrte sah sich einbezogen in ein lebhaftes, ja geradezu nur so sprudelndes akademisches Leben, das auch die Germanistik ergriffen hatte. Das Fach hatte wahrlich nicht im Mittelpunkt der Studenten revolte gestanden. Aber es assimilierte über eine Reihe eloquenter Vertreter die Impulse aus der geistigen Nachbarschaft, und das zumal aus der Soziologie, der Politologie, auch aber aus der kritischen Theorie und der gleichfalls ganz eigene neue Wege beschreitenden Pädagogik, von den Philologien links und rechts zur Seite gar nicht zu reden. Alle diese Disziplinen waren auch in Göttingen prominent besetzt. Kam man mit Studierenden ins Gespräch, so erzählten sie von den Anregungen, die sie von bedeutenden Persönlichkeiten vor Ort empfangen hatten, nicht zuletzt aus dem Kreis des wissenschaftlichen Nachwuchses. In den wachsten Köpfen war eine kritische Geistigkeit eingekehrt, die es in dieser Form vor 1968 nicht gegeben hatte. Ihr fühlte man sich zugehörig, ihr begegnete man nun in den erstmals unter eigener Regie abgehaltenen Veranstaltungen. Und das zunächst mit Beklommenheit und Sorge. Denn Selbstbewußtsein waltete vor unter den jungen Menschen. Man wollte teilhaben an der Planung und Ausgestaltung des zu Verhandelnden. Das aber hieß jetzt vor allem, daß die Theorie nicht zu kurz kommen dürfe. Methodologische Fragen sollten erörtert werden, gewiß. Doch es ging um mehr. Die gesellschaftliche Relevanz des zur Rede stehenden Gegenstandes war darzutun, seine Aktualität sollte sich zu erkennen geben. Das waren gewiß für den Seminarleiter keine neuen und erstmals jetzt auftauchenden Fragen. Doch nun galt es, ihnen leitend und im vorgeschriebenen akademischen Rahmen zu genügen. Da war guter Rat teuer und im Kreis der Kolleginnen und Kollegen auch nicht umstandslos einzuholen. 75
Was konnte offeriert werden ? Martin Opitz war Pflicht. Auch aber die ›Sprachgesellschaften‹ boten sich an mit dem ›Pegnesischen Hirten- und Blumenorden‹ an vorderster Stelle. Damit rückten auch die Schäferinnen und Schäfer ein in den Seminarbetrieb, was gewiß nicht eben häufig der Fall gewesen sein dürfte, weder in Göttingen noch anderwärts. Bis in das 18. Jahrhundert hinein erstreckte sich das Angebot, und sehr merklich war sogleich, daß es auf diesem Terrain leichter war sich zu verständigen als auf dem des abgelegenen 17. Jahrhunderts. Alles kam darauf an, den Nexus zwischen den beiden Epochen zu akzentuieren. Und eben dafür eigneten sich die bukolischen Texte gut, hatte man ihnen inzwischen doch eine Lesung angedeihen lassen, die über das Vehikel der Allegorie dieselben zu beredten Zeugen von Proto-Aufklärung und Aufklärung erhob. Unvergeßlich, mit welchem Elan sich eine kleine Elite auf das Unternehmen einließ und den Referenten rasch in kühnen Einfällen überbot, so daß gelegentlich gebremst werden mußte. Bis heute werden Seminararbeiten aus der Göttinger Zeit gehütet, die den Funkenschlag zwischen 1968 und den unschuldigen Hirten aus der Frühe bezeugen. Der Aufhänger war die Soziologie des humanistischen Gelehrtenstandes, wie sie sich mental in den schäferlich drapierten Auftritten der Autoren und ihrer Freunde zu erkennen gab. Auf Parität mit dem Geburtsadel pochten sie, strichen die Meriten der nobilitas litteraria heraus, forderten Sachund Fachkenntnis als unveräußerliche Ingredienzien jedweden Führungsanspruchs ein und sahen sich über derartige Praktiken unvermittelt hineingestellt in die Formierung frühbürgerlichen Bewußtseins, wie es sich im 18. Jahrhundert erfüllen sollte. Persönlich mußte an der vordersten Front gearbeitet worden sein, wenn anders dem kritischen Impetus der Seminaristen begegnet werden sollte. Nie wieder im eigenen akademischen Leben ist so intensiv gefragt und auf Antworten gesonnen worden wie in den drei unvergeßlichen Göttinger Semestern. Dazu aber trug ganz maßgeblich die dem Leiter gleichfalls abverlangte theoretische Fundierung bei. Auch in Göttingen waren aus der Mitte der Literaturwissenschaft Texte in Umlauf gebracht 76
worden, die sich rasch durchsetzten. Erinnert sei an Dieter Richters brillanten Essay ›Geschichte und Dialektik in der materialistischen Literaturtheorie‹, der in einem Sammelband unter dem unverfänglichen Titel ›Zur Kritik literaturwissenschaftlicher Methodologie‹ alsbald zusammen mit anderen und mehrfach provokanten Manifesten zu lesen war. Und traten dann Werner Krauss’ ›Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag‹ oder Benjamins ›Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft‹ hinzu, so wurde eine geistige Phalanx aufgerufen, die womöglich in dem Göttinger Seminarbetrieb erstmals auftauchte. Die Teilnehmenden dankten es auf ihre Weise. Und als am Ende eine Einführungsveranstaltung in das Fach fällig wurde, reichte der verfügbare Platz nicht mehr aus. Es hatte sich herumgesprochen, daß da ein ›linker‹ Dozent für eine Weile eingekehrt war.
Arkadien an der Leine
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er aber war in die traditionsreiche Universitätsstadt ja aufgebrochen um der Forschung und also vornehmlich der Bibliothek willen. Konnte er ahnen, daselbst auf Abwege zu geraten ? Frankfurt wäre wie für Marx so auch für Hegel das gegebene Quartier gewesen. Nun wurde ein Gutteil der Zeit auf den ebenso schwierigen wie faszinierenden frühen Hegel gewandt. Dem Seminargeschehen kam die Exkursion allemal zugute, in Göttingen ebenso wie später an anderer Stelle. Der Brückenschlag zu den Schäfern gestaltete sich delikater. Rückblickend freilich will es scheinen, als ob die vom jungen Hegel erarbeitete Phänomenologie der absoluten Innerlichkeit in ihrer systemüberwindenden Kraft inmitten einer versteinerter jüdischen Priesterkaste dazu beitrug, den Blick zu schärfen für die kritischen Valenzen der aus der Gesellschaft des Ancien régime emigrierenden und ihr mit Gegenmodellen begegnenden ›Hirten-Gelehrten‹, denen unverkennbar ein emanzipatorisches, ja ein utopische Potential eignete. ›Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt‹ lautete der Titel, schon 1959 erschienen, dem man 77
nun in Göttingen im angedeuteten Zusammenhang begegnete. Fast mochte man es nicht glauben, daß es sich bei der Studie aus der Feder Reinhart Kosellecks um eine Dissertation handeln sollte, so luzide und endgültig war ein jeder Passus geraten. Historiker im Seminar hatten teilweise mit ihr schon Bekanntschaft gemacht. Und wieder bestand die Kunst darin, jenen den Absolutismus begleitenden und in die Mitte der Aufklärung geleitenden kritischen Impetus, wie ihn Koselleck meisterhaft entfaltet hatte, mit den Ressourcen der arkadischen Welt in Kontakt zu bringen. Ganz ähnliche geistige Rochaden waren da unterschwellig am Werk, lange vorbereitet seit der Renaissance und nun im 18. Jahrhundert manifest werdend. Ein Zugang über einen exponierten Text aus der historischen Zunft hatte sich eröffnet. Und der erfuhr Bestätigung und gedankliche Befestigung gleichfalls in Göttingen. Dort residierte das Max-Planck-Institut für Geschichte. Hermann Heimpel, dem man im Dozentenlesesaal der Göttinger Bibliothek immer wieder begegnete, hatte es ins Leben gerufen. Nun stand ihm Rudolf Vierhaus vor. Wieder brauchte es Mut, um sich anzumelden, und wieder bestätigte sich, daß die großen Persönlichkeiten die sympathischsten sind. Ausführlich ließ Vierhaus sich von dem Projekt, das nach Göttingen geführt hatte, berichten, und wohl ebenso ausführlich erzählte er von Otto Brunner, dem man als Rektor der Universität noch in Hamburg begegnet war, sowie von Koselleck, mit dem er zusammen in Bochum gewirkt hatte. Zuspruch und Ermunterung erfolgten anläßlich der am Rande erwähnten Idee, dem Arkadienwerk eine historiographische Einleitung voranzustellen, zu der man fachlich ja keineswegs qualifiziert war. Das Institut nebst herrlicher Bibliothek und die Präsenz des Direktors beflügelten das Vorhaben ; das Experiment wurde gewagt. Ein weiteres kleines Buch im Buch neben der Hegel-Studie entstand. Nichts weniger war zu schultern, so der Vorsatz, als ›die alteuropäische Welt und die Heraufkunft der Moderne‹ in Gestalt eines ›historiographischen Konspekts‹ darstellerisch zu entfalten. Das Schlagwort der ›Interdisziplinarität‹, seinerzeit in 78
aller Munde, ermutigte womöglich zu derartigen Eskapaden. Nun ging es für eine Weile um Otto Hintze und Otto Brunner, um Dietrich Gerhard und Kurt von Raumer, um F. L. Carsten und Rudolf Vierhaus. Letzterem aber war es beschieden, über einen klassischen Forschungsbericht herüberzuleiten zur Historiographie der DDR in Gestalt von Gerhard Heitz und seiner Schule. Im Zeichen Marxens und seiner Kritik der Hegelschen Staatstheorie wurde ein Schlußpunkt gesetzt, und unversehens hatte sich über Philosophie, Politische Ökonomie und Historiographie ein Kreis geschlossen. Endlich konnte es zurückgehen zu den für eine Weile ferngerückten Texten. Mit Opitz wurde der Anfang gemacht. Es reizte, dem inneren Zusammenhang zwischen seinen Schäfer- und Landlebengedichten und seinen poetologisch-kulturpolitischen Texten nachzugehen. Die schäferlich-ländliche Welt war ihnen affin ; hier wie dort kam das Nämliche zur Verhandlung, und entsprechend galt es, die Bukolika aus ihrer vermeintlich zeitlosen Enklave zu befreien. Wie schon bei Vergil waren die Texte erfüllt von Zeitdiagnostik und verdeckter politischer Intervention, und entsprechend das biedere Paradigma von der Flucht aus Zeit und Gesellschaft zu verabschieden, das dem schäferlichen Agieren immer wieder nachgesagt worden war. Ein Zugang zur Vergegenwärtigung Arkadiens im wörtlichen Sinn tat sich auf. Geschichtliche Spezifizierung war gefordert, und damit die Entfaltung eines inhärenten geschichtlichen Gehalts, auf den maßgebliche Theoretiker kunstphilosophischer Provenienz, angefangen bei Benjamin und Adorno, stets wieder gedrungen hatten. Eingebettet in eine weitausholende kulturpolitische Biographie des jungen Opitz empfingen die Texte ein Nachleben, in dem sich Historizität und Aktualität denkwürdig kreuzten. Kein textuell und zugleich institutionell verankertes Repertoire bot sich mehr zur Untersuchung dieser Konfiguration an als das im Umkreis der Pegnesen entstandene mit Sigmund von Birken an der Spitze. In Göttingen war es in verschwenderischem Reichtum verfügbar. Und was fehlte, kam aus aller Herren Länder, vor allem aber aus Nürnberg selbst. Nun konnte ein erstes Mal in 79
einem Dreischritt verwirklicht werden, was dem Literaturhistoriker fortan vorschwebte. Einzusetzen war mit einer Rezeptionsgeschichte der Pegnesen, innerhalb derer so viel Unrühmliches, aber eben auch durchaus Ersprießliches sich ereignet hatte. Dann aber galt es, den Ort des Geschehens selbst in minutiöser historischer Analyse ins Auge zu fassen, und das bis hin zu Fragen der Statuskonkurrenz im Spiegel von Kleiderordnungen, in denen sich das schäferliche Maskenspiel bereits ankündigte, das eben mehr war als Spiel, erfüllt von Brisanz im Gefüge der festgefügten Ständegesellschaft. Alles aber hing an der Erschließung der Texte selbst. Unter dem Titel ›Sozietät, Ständekonflikt und Geistesadel‹ wurde der Durchgang veranstaltet. Vom ersten Muster aus dem Jahre 1644 bis in die Zeit der Wende zum 18. Jahrhundert spannte sich der Bogen. Genügend beredtes Material war verfügbar. Und unversehens stellte sich auch ein Gewährsmann ein. Arnold Hirsch, eng befreundet mit Alewyn, hatte in seiner Habilitationsschrift ›Bürgertum und Barock im deutschen Roman‹ auch den Pegnitzschäfern ein eingehendes Kapitel gewidmet. 1934 erschien das Werk in Frankfurt am Main. Da hatte der jüdische Gelehrte genauso wie Alewyn Deutschland bereits verlassen müssen. Erst über die Studentenbewegung gelangte sein Buch zur Wirkung. Plötzlich war es in vieler Munde. Der Arkadier aber sah sich beglückt bestätigt, und in den abschließenden ›forschungspolitischen Perspektiven‹ wurden die Linien nicht zuletzt im Zeichen von Hirsch ausgezogen. Die Göttinger Jahre hatten im inneren Sinn einen Abschluß gefunden. Die Studien aber blieben unter Verschluß, waren sie doch alle dem Haupt- und Staatsprojekt ›Arkadien‹ vorbehalten. Jahrzehnte später ergriffen wohlgesinnte Schüler die Initiative, leerten die Schubladen des heimatlichen Schreibtisches und überraschten den Jubilar zum 75. Geburtstag mit einem umfänglichen Opus. Es geschah dies unter dem suggestiven Titel : ›Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie‹, herausgegeben von Stefan Anders und Axel Walter. Die Wiederbegegnung mit den Texten löste freudige Überraschung aus. Ein 80
Jugendwerk hatte seinen verpflichtenden Charakter bewahrt und spornte an.
Wolfenbüttel erfindet sich neu
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n Göttingen vor den Toren der Bibliothek in der Prinzenstraße war es, daß man einer Person begegnete, die man schon in Hamburg auf den Fluren des Germanistischen Seminars in der ›Abteilung Pyritz‹ gesehen hatte. Man grüßte, stellte sich vor und war alsbald mitten im Gespräch. Paul Raabe stand vor einem. Noch aus Hamburger Zeiten war bekannt, welch einen schweren Stand auch er unter Hans Pyritz gehabt hatte. Von einer Ohrfeige, zu der der mehr als einmal Gedemütigte sich habe hinreißen lassen, verlautete da im Seminargemunkel. Das lag Jahrzehnte zurück. In den Seminaren und der eigenen Arbeit waren die quellenkundlichen und bibliographischen Hilfsmittel zur Hand, die Raabe in meisterhafter Disposition in der ›sammlung metzler‹ publiziert hatte und die ständig neue Auflagen erlebten. Gelegentlich hatte man von seinen Marbacher Projekten gehört, vor allem von der Wiederentdeckung des Expressionismus, dem eine bahnbrechende Ausstellung galt. Nun begegnete man ihm persönlich. Soeben war Raabe als Direktor der Herzog August Bibliothek nach Wolfenbüttel berufen worden. Er trat die Nachfolge von Erhart Kästner an, der es sich nicht hatte nehmen lassen, den Doktoranden Richard Alewyns in Wolfenbüttel zu empfangen und ihm die reiche Kollektion der Malerbücher zu zeigen, die er in Wolfenbüttel zusammengebracht hatte. Kaum aber waren, immer noch am Eingang zur Bibliothek der Georgia Augusta verharrend, ein paar Sätze gewechselt, da trat Paul Raabe auch schon mit einer Einladung hervor. Er plante, eine Reihe von Fachleuten zum Barock nach Wolfenbüttel zu bitten, die gemeinsam unter dem Dach der Bibliothek beraten sollten, was vordringlich auf diesem Gebiet in Angriff zu nehmen sei. Da also war offensichtlich auch die Stimme eines Nachwuchswissenschaftlers mit großen Rosinen im Sack willkommen. 81
Im Herbst des Jahres 1972 kam man zusammen. Eine illustre Runde hatte Raabe zu versammeln gewußt. Albrecht Schöne und Erich Trunz sowie Hans-Henrik Krummacher, Eberhard Mannack und Dieter Lohmeier aus Deutschland etwa waren darunter, aus Zürich war Rolf Tarot, aus Innsbruck Eugen Thurnher angereist, die Vereinigen Staaten waren durch John D. Lindberg und George Schulz-Behrend vertreten, Kanada durch Martin Bircher. Den abendlichen Festvortrag hielt Leonard Forster ; die Krönung zum poeta laureatus aus den Händen von Elida Maria Szarota empfing Schulz-Behrend. Eine derartige wissenschaftliche Gesellschaft, umrahmt von einem einfallsreichen Beiprogramm, konnte nur ein mit organisatorischem Talent und Fingerspitzengefühl begabter Impresario zusammenbringen. Und der gab sich als ein solcher in leitender Funktion die drei Tage über immer wieder zu erkennen. Alsbald zeichnete sich ab, wohin der kundige Steuermann das Schiff zu lenken gedachte. Die Herzog August Bibliothek war unter Kästner zu einem Eldorado für illustrierte Buchkunst und Malerbücher herangewachsen, dem Steckenpferd des nach Wolfenbüttel Verschlagenen, der in Dresden vor und während des Krieges noch in der einzigartigen Landesbibliothek im Japa nischen Palais vor ihrem Untergang gewirkt hatte. Auch von dieser in unendliche Ferne gerückten Zeit ließ sich der Besucher erzählen. Nun sollte die Bibliothek einer neuen und, wie ersichtlich, ihrer eigentlichen Bestimmung entgegengeführt werden. Als Sammelstätte von Drucken des 17. Jahrhunderts noch während der Herrschaft unter Herzog August stand sie nach den Versehrungen, die Berlin, Dresden und München hatten hinnehmen müssen, einzig da. Mit diesem Pfund galt es zu wuchern, und eben dazu schickte sich der jüngst berufene neue Direktor an. Die Erschließung der Bestände war das eine, doch damit allein erwarb man sich keine Meriten. Ins Licht der Öffentlichkeit mußte die Bibliothek gerückt werden, und das konnte nur gelingen über eine intensive und zugleich verlockende Mitwirkung der akademischen Zunft. Ihr galt das Angebot, in den schier unermeßlichen Schätzen sich mehr als bis dato üblich umzutun, 82
und das wo immer möglich im Verbund. Das Medium der Wahl blieben Tagungen und Kongresse, vor allem aber die Gründung eines ›Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur‹, der für Renommee und Solidität einstand. Eben diese Idee wurde 1972, geschickt lanciert von Raabe, geboren und dann zugleich in die Tat umgesetzt. Schon im nächsten Jahr sollte ein erster Kongreß stattfinden. Ort und Termin wurden fixiert und der frisch gekürte Arbeitskreis mit der Stabführung beauftragt. Freudig gestimmt ging man auseinander, und das um so mehr, als noch eine weitere und in eine andere Richtung führende Intervention erfolgt war, von der sogleich zu berichten ist. Dem in Göttingen arbeitenden Stipendiaten kam die Nähe Wolfenbüttels zupaß. Mehr als einmal wurde der Zug bestiegen, vorbei an den Ausläufern des Harzes ging es in die Welfenstadt, und stets war auch ein Empfang in dem gediegenen Direktionsgemach mit auf dem Programm. Umgeben von wertvollsten Handschriften und alten Drucken residierte Paul Raabe an einem mächtigen Schreibtisch, erzählte von den weiteren Planungen und vernahm gerne, was der Besucher vorzutragen hatte. Und der teilte mit dem großen Buchkundler und Organisator die Freude am Projektieren. So kam es, daß sehr bald die ›Frühe Neuzeit‹ ins Blickfeld rückte. Ihre Profilierung war ja eines der Ziele der jungen Reformer gewesen. Warum also sollte dieser Zug an Wolfenbüttel vorbeigehen ? Dementsprechend rückte man mit der Idee heraus, daß in Wolfenbüttel mehr geschehen müsse als eine Konzentration auf das Barock. Dieses habe doch nur eine Mittelstellung inne. Schließlich höben alle wichtigen Entwicklungen in der Renaissance und zumal in Italien an. Wenn schon ein Arbeitskreis für Barockliteratur, dann, so der eloquente Eiferer, müsse ihm ein weiterer für Renaissanceliteratur zur Seite treten. Und da alle Ströme schließlich in die Aufklärung einmündeten, sollte doch auch für diese Epoche längerfristig Sorge getragen werden. Paul Raabe hörte geduldig zu und erwiderte das einzig Richtige. Ein Schritt sei nach dem anderen zu tun und also zunächst einmal das barocke Unternehmen auf eine solide Grundlage zu stellen. Auf den geplanten Kongreß im Sommer das Jahres 1973 83
habe man das Augenmerk zu richten, weiteres möge sich dann fügen. Und dann scheute sich der so weitsichtig Vorausschauende in der Tat nicht, sein Gegenüber zu fragen, wen man denn wohl als Hauptredner für den Abendvortrag bitten solle. Die Antwort erfolgte ohne langes Zögern. Soeben war ein Artikel zur deutschen Barockdichtung in dem ›Neuen Handbuch der Literaturwissenschaft‹ erschienen, dessen zehnter Band in zwei Halbbänden unter der Ägide von August Buck dem Zeitalter von Renaissance und Barock gewidmet war, und das selbstverständlich in europäischer Perspektive. Conrad Wiedemann war der überaus schwierige Gegenstand anvertraut worden, und der löste das Problem auf wenig mehr als zwanzig verfügbaren Seiten überzeugend. Von ›ästhetischer Vorausprojektion‹ war da im Kontext der Opitzschen Reform die Rede, die im übrigen niemals eine ›Preisgabe der humanistischen Bildungsexklusivität‹ impliziert habe. Die ›traumatische Konfrontation zweier grundverschiedener semantischer Systeme‹ sei im 17. Jahrhundert erfolgt ; dort die Volkskultur, hier die Gelehrtenkultur. Und so in einem fort. Das war das Gescheiteste, was zu Beginn des neuen Jahrzehnts zu lesen war, und so lag die Empfehlung für Paul Raabe auf der Hand. Ein Jahr später war Wiedemann zu hören, und sein Abendvortrag unter dem Titel ›Barocksprache, Systemdenken und Staatsmentalität‹, an dem buchstäblich während einer langen Nacht bis zur letzten Minute gearbeitet worden war, machte rasch Karriere, ja, war zeitweilig doch wohl der meistzitierte. Die Beiträge zur Zusammenkunft im Jahre 1972 lagen noch im gleichen Jahr in dem von Hans-Gert Roloff redigierten ›Jahrbuch für Internationale Germanistik‹ vor. Das sollte nicht so bleiben. Mit der Publikation des ein Jahr später abgehaltenen Kongresses wurde die lange Reihe der Schriften zur Wolfenbütteler Barockforschung eröffnet. Paul Raabe blickte zurück auf das vorangegangene Jahr und schaute im gleichen Atemzug in die Zukunft. Wolfenbüttel hatte sich als ein Zentrum der Barockforschung etabliert und war in dieser Funktion alsbald in aller Munde. 84
Literatur des Barock sozialgeschichtlich geadelt
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erkliche Reserve zu dem rasch dahingaloppierenden Wolfenbütteler Gefährt hatte Albrecht Schöne anläßlich der ersten Zusammenkunft 1972 bewahrt, und das sollte die Jahre über so bleiben. Mit einem eigenen Projekt trat er am Schluß der Veranstaltung hervor, und dem Schreiber dieser Zeilen verschlug es den Atem. Lange genug, so die Einlassung des Göttinger Kollegen, sei es um Texte, ihre Erfassung, bibliographische Verzeichnung und editorische Präsentation die drei Tage über gegangen. Das sei begrüßenswert. Doch im Fach hätte sich in den vergangenen Jahren eine merkliche Erweiterung des Aufgabenfeldes vollzogen. Die Rahmenbedingungen der Literatur seien intensiver als in den Jahrzehnten davor in das Blickfeld getreten. Davon aber sei in der Barockforschung bislang zu wenig zu spüren gewesen. Die DFG nun habe der Sprecher für die Auflage eines neuen Symposienprogramms gewinnen können. Der Auftakt solle mit einer Veranstaltung zu den sozialgeschichtlichen Grundlagen der Literatur des Barock gemacht werden, und diese in zwei Jahren in Wolfenbüttel stattfinden. Schöne hatte ein eigenes Konzept für den Kongreß entwickelt, das verbindlich wurde auch für die vielen Veranstaltungen in der Nachfolge, für die der Initiator jeweils renommierte Kollegen gewann. Nicht weniger als 27 Bände mit den Akten der jeweiligen Kolloquien stehen in der ordnungsgemäß geführten privaten Bibliothek. Das Konzept hatte sich durchgesetzt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren gehalten, ihre kurz zu haltenden Beiträge vorab einzureichen und während der Veranstaltung selbst nur ein knappes Resümee zu bieten. Die Zeit sollte der Diskussion vorbehalten bleiben. An fehlender Zeit krankten die meisten Kongresse. Da nun explizit auf innovative Themen und Methoden gesetzt wurde, mußte Raum reserviert werden, um die Ansätze und ihre Tragfähigkeit gehörig zu erörtern. Noch bevor in Wolfenbüttel zwei Jahre später die großen Kongresse einsetzten, war am Ort ein Anfang ganz eigener Art gemacht worden, und der 85
bewahrte Glanz und Versprechen, wie sie einer jeden gelungenen Eröffnung eignen. Über Hof und Kirche war im Kontext barocker Literatur und Kultur immer schon gehandelt worden. Nun sollten, so Schönes Votum, andere Paradigmen zur Verhandlung kommen. Stadt, Schule, Universität und Buchwesen waren auserkoren worden, um in Kontakt gebracht zu werden mit der Literatur des Zeitalters. Die vier Bereiche sollten wo immer möglich gleichgewichtig behandelt werden, und entsprechend waren für sie vier angesehene Sektionsleiter nominiert worden. Die erste, ›Stadt und Literatur‹ gewidmet, lag in den Händen von Rolf Tarot aus Zürich, die Wiedergabe der Diskussion, wie sie obligatorisch war, in denen von Hans-Jürgen Schrader, wohlvertraut aus Göttingen. Enthusiastisch hatte der Schreiber dieser Zeilen sich sogleich im Anschluß von Schönes Präsentation des Vorhabens noch am runden Tisch in Wolfenbüttel geäußert. Endlich, so der Tenor, sei der Sozialgeschichte und der Institutionenkunde jene Rolle im Blick auf das 17. Jahrhundert zuerkannt, die sie im benachbarten 16. nicht anders als im benachbarten 18. Jahrhundert bereits seit längerem einnahm. Unverkennbar war, daß insbesondere die Forschung der DDR in beiden Fällen Pionierarbeit geleistet hatte, und das im einen Fall über maßgebliche Schrittmacherdienste der Anglistik, im anderen über solche aus der Romanistik. Für das 17. Jahrhundert verblieb hüben wie drüben entschiedener Nachholbedarf. Nun zeichnete sich ein Umschwung ab, und das unter prominenter Regie. Über ›Drama und Emblematik‹ und das mächtige Emblemlexikon war Schöne zur führenden Figur der Barockforschung aufgestiegen. Große Worte also waren beifällig in den Mund genommen worden, als Schöne das Konzept in Wolfenbüttel präsentierte ; glänzend wähnte man sich gerüstet. Die Pegnesen boten sich an, wenn es denn um den Zusammenhang von Stadt und Literatur ging. Ja, Nürnberg rückte geradezu zu einem Paradebeispiel auf, wie aus dem Schriftverkehr mit Tarot ersichtlich. Blake Lee Spahr aus Berkeley, dem man frühzeitig in Nürnberg begegnet war und dem das Fach einen überaus hilfreichen Führer durch 86
die Archive des ›Pegnesischen Blumenordens‹ verdankt, hatte einen Beitrag über ›Nürnbergs Stellung im literarischen Leben des 17. Jahrhunderts‹ angekündigt. Dietrich Jöns, lange Zeit in Kiel und Skandinavien wirkend, hatte sich soeben über Birken der fränkischen Metropole zugewandt und avisierte seine Teilnahme mit dem Thema ›Literaten in Nürnberg und ihr Verhältnis zum Stadtregiment in den Jahren 1643 bis 1650 nach den Zeugnissen der Ratsverlässe‹. Und auch die schäferliche Gattung war in der Sektion präsent. Wilhelm Voßkamp kündigte einen Beitrag zum Thema ›Landadel und Bürgertum im deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts‹ an. Ein Vortrag über die Nürnberger Schäfereien selbst stand ersichtlich aus. Die Stadt, die sozialen Konfigurationen, die Kooperationen wie die Konflikte mit dem Patriziat spielten so merklich in sie hinein, daß es keines großen Aufwandes bedurfte, um den kolloquialen Anforderungen zu genügen. Und das Thema Geburtsadel versus Tugend- und Gelehrtenadel behauptete ohnehin einen festen Platz in der dafür prädestinierten Gattung. Was also zu tun war, lag auf der Hand, und doch obsiegten neuerlich Zögern und Zagen. Rolf Tarot hielt nobel und zurückhaltend die Kalamität in seiner Einleitung zur Sektion fest. Alle erdenklichen Anstrengungen hätten Albrecht Schöne und er selbst unternommen, um den avisierten Beitrag über die ›soziale und kulturelle Selbstdarstellung der Nürnberger im Spiegel ihrer Schäfereien‹ dem Kolloquium zuzuführen. Vergeblich. Eine Chance war vertan. Sie kam nicht wieder. Der Kongreßband aber, bei Beck schon zwei Jahre später erschienen, wo Ernst-Peter Wieckenberg seines Amtes waltete, blieb das maßgebliche Zeugnis vielfach erstmaliger Erkundungen auf einem bis dato weitgehend unbekannten Terrain. Eine Schneise war geschlagen worden, und Schönes Abendvortrag zum Thema ›Kürbishütte und Königsberg‹ wies den Weg zurück zur Literatur über eine unvergeßliche Interpretation von Simon Dachs Gedicht auf den Untergang des Musensitzes der der Poesie und Musik ergebenen Freunde am unendlich ferngerückten Pregel. 87
Niedersachsens Bildungslandschaft im Umbruch
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ie 68er-Bewegung zeitigte erste gesellschaftliche und politische Wirkungen. Auch ins Bildungswesen geriet entschiedene Bewegung. Das Potential jugendlicher Köpfe mußte intensiver aktiviert werden als bislang. Die vorhandenen schulischen und universitären Kapazitäten reichten dafür nicht entfernt aus. Eine zweite Gründerzeit hob an in der akademischen Welt. Neugründungen schossen aus dem Boden, vielfach als Gesamthochschulen konzipiert. Nordrhein-Westfalen lag mit gleich fünfen an der Spitze. Wo verantwortliche Bildungs- und Kulturpolitik praktiziert wurde, agierten die Ministerialen entschieden zurückhaltender. Auch das notorisch arme Bundesland Niedersachsen versagte sich nicht. Es besaß eine alte, auf das 18. Jahrhundert zurückdatierende Universität von hervorragendem Ruf. Dort verfolgte man das auch in Hannover einsetzende Gründungsfieber überwiegend mit Skepsis und Reserve, befürchtete man doch Einbußen der ohnehin stets knappen Ressourcen. In der Landeshauptstadt führte ein Kulturminister die Zügel, der dem linken Flügel der SPD zugehörte und sich dazu bekannte. Für Peter von Oertzen eröffnete sich für eine kurze Weile ein spektakuläres Wirkungsfeld. Diese Chance sollte genutzt werden. Doch schon bei der Wahl des Standorts bzw. der Standorte begannen die Probleme. Pädagogische Hochschulen waren genügend vorhanden. Welche von ihnen waren geeignet, in den Rang von Universitäten gehoben zu werden ? Für einen Außenstehenden nicht anders als einen Rückblicken den lagen die Dinge auf der Hand. Sollte irgend Zukunftsfähiges neben Göttingen entstehen, mußten alle verfügbaren Mittel auf eine einzige Institution konzentriert und somit dem Modell einer Reformuniversität eine Chance gegeben werden. Konstanz in Baden-Württemberg, aber auch Bielefeld in der Nachbarschaft hatten binnen kurzem unter Beweis gestellt, welche Möglichkeiten sich auftaten, wenn tatsächlich die finanziellen und institutionellen Voraussetzungen geschaffen wurden, so daß der Wettbewerb um die besten Köpfe mit Erfolg angetreten werden konnte. 88
In Niedersachsen kam es anders – und das mit Langzeitfolgen bis in die Gegenwart hinein. Regionales Proporzdenken machte sich geltend. Der Süden und der Westen des Landes waren tradi tionell gegenüber dem Osten unterrepräsentiert. Also wurden gleich zwei Städte auserkoren. Das alte Westfalen, z erschlagen schon in der preußischen Ära, sollte befriedigt werden über die traditionsreiche bischöfliche Residenz Osnabrück. Und die gleichfalls traditionsreiche Oldenburger Grafschaft, nun ebenfalls dem neuen Bundesland Niedersachsen integriert, sollte in der einstmaligen Residenzstadt Oldenburg eine alma mater erhalten. Und da auch die Landeshauptstadt nicht leer ausgehen durfte, waren wenigstens drei Kandidaten im Spiel, von den gleichfalls zu berücksichtigenden Annexen gar nicht zu reden. Die Gründungsausschüsse waren eben nominiert, da wurde rasch erkennbar, daß nur schmale Spielräume zur Verfügung standen. Das Land hatte sich übernommen, und kluge Beobachter hatten das vorausgesagt. Die Betroffenen, um die es schließlich gehen sollte, bekamen es hautnah zu spüren, als es dann mit dem Gründungspräsidenten und dem Ministerium ans Verhandeln und damit um Ausstattung und Arbeitsbefähigung ging.
Uneigentliche Bewerbung und standhafte Verweigerung
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n die Zeit intensivsten Forschens und zeitweiligen Lehrens an der Göttinger Universität platzte eine Annonce in der ›zeit‹. Eine gute Seite war gefüllt mit Ausschreibungen für Hochschullehrer- und Mitarbeiter-Stellen in neu zu gründenden Universitäten. Wohl niemals zuvor hatte es einen derartigen Boom gegeben. Gewiß, es handelte sich nicht um Gründungsakte aus dem Nichts, Pädagogische Hochschulen waren vielfach vorhanden. Nun aber traten Fächer an die Öffentlichkeit, die es in dieser Form bislang überhaupt nicht gegeben hatte bzw. deren thematischer Zuschnitt neu war. Eine Umkrempelung überkommener Strukturen war zu besichtigen, und das in Niedersachsen womöglich in besonderer 89
Drastik. Linke Gründungsmitglieder hatten Spuren ihrer Handschrift hinterlassen. War das nicht genau das, was man in Lehrveranstaltungen und ersten publizistischen Verlautbarungen auch umkreist hatte ? ›Thirteen Theses on Literary Criticism‹ hatte man soeben – und möglicherweise doch in Anlehnung an Benjamins geschichtsphilosophische ›Thesen‹ – in dem ersten Heft des neuen Organs der Linken ›new german critique‹ herausgehen lassen. Nun war auch in einer Ausschreibung der Theorie der Literatur an prominenter Stelle das Feld eingeräumt worden, und das in enger Verzahnung mit der geschichtlichen Dimension der Literatur und ihren medialen Formen. Was mochte es sein, das da in dieser Kombination erwartet wurde ? Wie nahmen sich die Personen aus, die für ein derartiges Programm einstanden ? In welche Strukturen war es eingebettet vor Ort ? Das waren womöglich die Fragen, die schon beim Blättern in der Zeitung sich regten und fortan nicht aufhörten, sich zu melden. Göttingen, so stellte sich rasch heraus, war entschieden involviert in das hochschulpolitische Spektakel, und das vor allem auf seiten des sog. Mittelbaus. Auch Assistenten aus dem Seminar für Deutsche Philologie waren mit von der Partie. Man kannte sie, sie waren zur Verschwiegenheit verpflichtet, und doch verlautete die eine und andere hilfreiche Information. Vor allem zeichnete sich rasch ab, daß ein immenser Kreis von Bewerbern sich angesprochen gefühlt hatte von der Offerte, darunter viele mit klangvollen Namen. Bremen war vorausgegangen und hatte auch in den Literaturwissenschaften bereits aufsehenerregende Besetzungen getätigt. Nun zog Niedersachsen nach. In der Göttinger Bibliothek arbeitete ein Stipendiat der DFG, zeitweilig verpflichtet für die Wahrnehmung von Lehrveranstaltungen am Seminar, dessen Dissertation noch nicht p ubliziert war und der auch eine Habilitation noch nicht vorweisen konnte. Ungeachtet dessen schickte auch er eine Bewerbung auf den Weg. Die lange Ausbildung im Fach der deutschen Literatur im europäischen Kontakt sowie die intensive Beschäftigung mit Entwürfen aus den linken philosophischen, soziologischen und polito90
logischen Nachbarbereichen mochten dazu ermutigt haben. Das Thema des Vortrags paßte in das Bild : ›Zur Rettung der historischen Dimension in der Literaturwissenschaft. Einige Erwägungen im Anschluß an Benjamins Geschichtsphilosophie und Ästhetik‹. Eine Chance rechnete man sich gleichwohl zu keinem Zeitpunkt aus. Um so überraschender die Reaktion noch vor Ort. Genau um das, was da zum Vortrag gekommen sei, ginge es. Der Ausdruck des Schreckens muß dem Referenten im Gesicht gestanden haben. Unmöglich doch, daß es Ernst werden sollte. Man war in Göttingen zu Hause, führte dort ein von allen sonstigen Anforderungen abgeschirmtes akademisches Leben, dem Schreiben und zeitweilig dem Lehren freudig ergeben. Was da in Osnabrück passiert war, durfte und konnte doch nicht mehr sein als eine mit Nonchalance und Chuzpe absolvierte Episode ohne weitere Folgen. Doch die stellten sich rasch ein. Albrecht Schöne war um ein Gutachten gebeten worden. Er ließ es an Großmut nicht fehlen und gestattete die Lektüre im Rahmen der Sprechstunde. Sofort war klar : Die dort geäußerten Worte mußten verantwortlich sein für den Ruf, der den Göttinger Eremiten unversehens erreichte. Und nun war guter Rat teuer. Mitten in ein Projekt hinein, an dem das Herz hing, platzte die Intervention aus Hannover. Wo Jubel hätte herrschen sollen, stellte sich Ratlosigkeit ein, verbunden mit dem Vorsatz, eine Ablehnung auszusprechen. Das Ministerium bewahrte Geduld. Auch die aber war nicht grenzenlos. Weit mehr als ein Jahr war vergangen, da lag wieder ein offizielles Schriftstück vor. Man sähe sich gezwungen, die Liste weiter auszuschöpfen, wenn nicht in Bälde mit einer Entscheidung gerechnet werden könne. Und so waren es schließlich die guten Freunde vor Ort nicht anders als in der Ferne, die dem Verbiesterten gehörig den Kopf wuschen. Schweren Herzens und erfüllt von dunklen Ahnungen, daß eine Zeit arkadischer Freiheit ihr Ende finden könne, erfolgte die Zusage. Osnabrück rückte näher, und kein Mittel war in Sicht, das nahezu als Verhängnis eingestufte Geschehen noch abzuwenden. Neuland, gänzliches Neuland galt es zu betreten. Was als 91
leichtsinnige Eskapade begonnen hatte, sollte – mit vielen Unterbrechungen – eine Angelegenheit fürs Leben werden.
Ein linkes universitäres Reformprojekt
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er Ruf war 1973 ergangen, zwei Jahre später wurde er angenommen. In der Zwischenzeit war die formelle Gründung der Universität Osnabrück erfolgt. Die nähere Inspektion erfolgte also mit einer gewissen Verspätung. Doch das änderte nichts an dem zu konstatierenden Sachverhalt. Man war Leser der einschlägigen und erwähnten linken Journale. Nun ereignete sich das kleine Wunder, daß man manche der Autorinnen und Autoren als Kollegin und Kollegen persönlich wiederbegegnete. Von Bremen war bekannt, daß sich nämliches daselbst einige Jahre früher ereignet hatte. Nun zog Osnabrück nach, und das entschieden intensiver als etwa Oldenburg, das als gewerkschaftsnahe Gründung galt. Mit einem Schlag fanden namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Wirkungsstätte, die an den ›alten‹ Universitäten – dieser Begriff gelangte jetzt in Umlauf – keine Chance gehabt hätten. Der Einzugsbereich war deutlich erkennbar. Aus Marburg und Frankfurt kam man, vereinzelte andere Orte waren darunter, Freiburg im Breisgau etwa oder auch ErlangenNürnberg. Die Spitzenstellung jedoch behauptete mit Abstand die Freie Universität Berlin. Wohl ein Dutzend Personen wechselte von der Spree an die Haase herüber. In der Soziologie, der Politologie, der Politischen Ökonomie war ihre Präsenz vor allem zu gewahren, aber auch die Literatur-, Sprach- und Kunstwissenschaften hatten teil an dem prominenten Zuzug, und das gleichermaßen auf der Ebene der Hochschullehrerschaft wie auf der der wissenschaftlichen Assistenturen. Namen herauszugreifen verbietet sich. Es bleibt die Hoffnung, daß ihrer aller anläßlich des 50. Geburtstages der Hochschule im Jahr 2024 gedacht wird. Das Unvergeßliche aber bestand darin, diesen Personenkreis jetzt unmittelbar in Aktion erleben zu dürfen. Rasch wurden 92
Hochschullisten geschaffen. Schon deren Nomenklatur verriet den obwaltenden Geist. Eine konservative Liste wurde kreiert, eine sog. ›mittlere‹ für die liberal Gesinnten und eine linke, in der das Gros der aus den erwähnten Hochschulen Herübergekommenen sich versammelte. In den Fachbereichen wiederholten sich die Gruppierungen auf andere Weise. Und nun wurden in regelmäßigen Abständen Sitzungen einberufen, vielfach mit klarer Zielsetzung wie der Erarbeitung von Resolutionen und ähnlichem. Der vom Schreibtisch Hereingeschneite und nun unter den agierenden Linken sich wiederfindende Outsider kam aus dem Staunen nicht heraus. Da wurde auf einem Niveau verhandelt und gestritten, daß der Atem stocken konnte. Die meisten der sich Äußernden taten das auf dieser Bühne nicht zum ersten Mal. Sie waren es gewohnt, an den Hochschulen ihrer Herkunft politisch und hochschulpolitisch aktiv zu sein, das aber ja vielfach in untergeordneter und abhängiger Stellung. Nun gab es über ihnen nur noch das Ministerium, und das war nicht nur weit weg, sondern eben auch wohlgesonnen. Eine Debattenkultur war zu erfahren, wie sie im Gefolge der 68er-Bewegung jetzt auch in der Provinz Einzug gehalten hatte. Gewiß, es gab Entgleisungen, persönliche Verletzungen, absurde Machenschaften. Doch das war eher die Ausnahme. Osnabrück war zumal in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu einem intellektuellen Zentrum avanciert, und die Wellen schlugen immer wieder hoch. In der Stadt, in der Bürgerschaft machte sich die ›rote‹ Gründung durchaus keine Freunde. Wer aber zuzuhören verstand und das Fach nicht aus den Augen verlor, konnte nur lernen. Und alsbald fruchtete die entfesselte Leidenschaft auch auf jenen Gebieten, die eher im Abseits lagen, an die jedoch zu erinnern und für die tätig zu werden auch die eher Zurückhaltenden nach geraumer Zeit sich ermutigt fühlten.
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Eine Frühneuzeit-Community wächst heran
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ermag man sich Jahrzehnte später vorzustellen, unter welchen Gegebenheiten die Arbeit in der soeben eröffneten Universität aufgenommen wurde ? Die Rechtswissenschaften fehlten anfangs komplett. Als sie später hinzutraten zeigten sie, wie man verhandelt. Undenkbar, daß die Lehrstuhlinhaber Verzicht auf wissenschaftliche Mitarbeiter geleistet hätten, wie anfangs zumindest in den Geisteswissenschaften die Regel. In den Naturwissenschaften mochte es anders zugehen. Sie auch waren es, die – mit voller Unterstützung des Gründungspräsidenten Manfred Horstmann – alsbald Sonderforschungsbereiche akquirierten. In den Geistes- und Sozialwissenschaften war alles anders. Hier galt es zunächst, überhaupt Standards der wissenschaftlichen Arbeit durchzusetzen. Nicht wenige wechselten nach erfolgter Berufung aus der Fachwissenschaft in das Berufspolitikertum. Hochschul- und Gesellschaftspolitik hieß die Devise, und böse Erinnerungen knüpfen sich an die Zeiten, da sie das Sagen hatten und gediegener wissenschaftlicher Arbeit die Wege durch endlose Sitzungsmarathons verbauten. Nicht vergessen sein will jedoch auch, daß es vielfach Mitglieder der alten Pädagogischen Hochschule waren, die denjenigen den Rücken stärkten, die in ihrem Fach auch in der Forschung etwas bewegen wollten. Sie fanden sich vielfach auf der konservativen Liste wieder, womit sogleich angedeutet ist, daß die politischen Rubrizierungen nur sehr bedingt zählten. Am Ende, wie sollte es anders sein, erhoben nach teilweise schweren Kämpfen die für die Wissenschaft Votierenden das Haupt. Und sie waren es, denen sodann auch die Unterstützung der Präsidenten und der Verantwortlichen im Ministerium galt. Schließlich hatte die Universität sich im Wettkampf zu behaupten. Das war in den Geisteswissenschaften unter den gegebenen Rahmenbedingungen keine einfache Sache. In der Germanistik fehlte die Mediävistik. Die Anglistik war durch die Abwanderung eines der wenigen Hochschullehrer in die Hochschulpolitik 94
geschwächt. Eine Romanistik gab es zunächst überhaupt nicht. Und die Altphilologie war in der mit der Universität verknüpften Dependance in Vechta angesiedelt, während die Slawistik ihren Platz in Oldenburg gefunden hatte. Ein Blick nach Göttingen reichte, um zu gewahren, wie es um die Neugründung stand. Wie sollte unter diesen Voraussetzungen auf Augenhöhe agiert werden ? Defizite mußten allenthalben kompensiert werden. Gleichwohl gelang es auf verschiedenen Feldern, und dies insbesondere in den Sozial- und Politikwissenschaften, Projekte zu entwickeln, die Langzeitwirkung zeitigten, Hier ist ein einziges vorzustellen, von dem authentisch aufgrund beständiger Mitwirkung berichtet werden kann. Und wenn von ihm später stets wieder als von einem herangewachsenen ›Leuchtturm‹ die Rede war, so darf die nachfolgende Erzählung vielleicht eine gewisse Berechtigung für sich beanspruchen. Von einem Glücksfall ist zu sprechen. An der jungen Universität fand sich nämlich von Beginn an eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen zusammen, die ihren Schwerpunkt in der nachmittelalterlichen Zeit und vor Einsatz der Moderne hatten. Der Begriff der ›Frühen Neuzeit‹ war noch kaum in Umlauf. Ja, es gehörte gerade zu den Imponderabilien, daß er erst im Zuge der Arbeit konkrete Konturen annahm. Und daran mitgewirkt zu haben, gehört zu den Verdiensten auch der Universität Osnabrück. Hier waren Germanisten, Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftler sowie Historiker, die aus den verschiedensten Gründen eben den erwähnten Zeitraum zum Schwerpunkt ihrer Arbeit erkoren hatten. Und so dauerte es nicht lange, bis es zu ersten gemeinsamen Seminarveranstaltungen kam. Die hatten zur Folge, daß einzelne Studierende sich von dem gemeinsam Erarbeiteten angezogen fühlten, ihrerseits um Themen für entsprechende Arbeiten nachsuchten, ja, alsbald selbst solche vorschlugen und sich der sukzessive herauskristallisierenden wissenschaftlichen Community gerne zugehörig wußten. Auf kleiner Flamme und in bescheidenem Rahmen vollzog sich eine analoge Entwicklung zu dem, was in Wolfenbüttel fast zeitgleich in zunehmend großem Stil praktiziert wurde. Und so 95
ergab sich die mit einem Anstrich des Kuriosen angetane Konstellation, daß Wolfenbüttel nicht zuletzt von den Osnabrücker Ideen und Ressourcen zehrte, bevor man daselbst begriff, daß auch die eigene alma mater einen Anspruch darauf hatte, an der institutionellen Ausformung eben jenes Projekts teilzuhaben, für das sich je länger desto deutlicher das Markenzeichen ›Frühe Neuzeit‹ herausschälte. Noch geraume Zeit währte es, bevor die informell zusammenarbeitende Forschergruppe auch institutionell in Erscheinung trat. Doch nach einer gehörigen Inkubationsfrist erfolgte der Schritt. Neben Wolfenbüttel trat im Land Niedersachsen unter gänzlich veränderten Bedingungen Osna brück, wenn es denn um die Makroepoche zwischen Renaissance und Revolution ging. Die ›Frühe Neuzeit‹ erlebte eine Zeit der Konjunktur. Davon wird zu berichten sein. Doch zunächst – und dies nicht zuletzt aus Gründen der historischen Gerechtigkeit – zurück nach Wolfenbüttel.
Ein barockes Kongreßzentrum
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leich mit dem Kommen Paul Raabes war in Wolfenbüttel ein Auftakt erfolgt. Ganz im Sinne des neuen Direktors standen geplante Vorhaben in den Bereichen der Edition und der Bibliographie auf dem Programm. Grundlagenforschung erfuhr die ihr gebührende Wertschätzung. Auch die Schäfer betraten erstmals die öffentliche Bühne, und das unter der Leitfigur Sigmund von Birkens, für dessen Pastoralia es eine Ausgabe zu schaffen galt. Ein Jahr später, 1973, wurde in vergleichsweise kleinem Rahmen über die Literatur des 17. Jahrhunderts gehandelt. Nur fünf Vorträge waren zu hören, darunter der erwähnte von Conrad Wiedemann. Der Schwerpunkt lag auf den Arbeitskreisen. Nicht weniger als elfe hatten sich konstituiert. Da herrschte erkennbar noch Wildwuchs. Wo Fachleute das Heft in die Hand genommen hatten, wurde alsbald zur Gründung eines Arbeitskreises geschritten. Schon ein Jahr später aber unter der Ägide von Albrecht Schöne via DFG war ersichtlich, daß es eingehender Planungen vorab 96
bedurfte, um zur Etablierung konzise strukturierter Kongresse zu gelangen. Auf eine dreijährliche Sequenz hatte sich das BarockKomitee verständigt. Entsprechend trat Wolfenbüttel erstmals 1976 mit einem weiträumig konzipierten Kongreß in Erscheinung. ›Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur‹ lautete der anspruchsvolle Titel. Und in der Tat ging es gleich in zwei Sektionen um die Rezeption der europäischen Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts sowie umgekehrt in einer dritten um die Ausstrahlungen deutscher Barockliteratur im Ausland. Die komparatistische Hand des illustren Cambridger Germanisten Leonard Forster war merklich zu spüren. Dann aber sollten auch die Gattungen zu ihrem Recht kommen. Die Gelegenheitsdichtung war soeben dank Wulf Segebrechts bahnbrechender Untersuchung ins Blickfeld getreten. Dem katholischen wie dem protestantischen Schuldrama galt eine Sektion, war doch jüngst gerade auch von polnischer Seite Maßgebliches geschehen. Und dann hatte frühzeitig Conrad Wiedemann die Prognose gewagt, daß womöglich eine Generalrevision auf einem Feld zu gewärtigen sei, das bis dato merklich im Schatten gelegen hatte. Die Rede war von der Schäferdichtung, und tatsächlich kam eine eigene Sektion zustande, für die nicht weniger als zehn Referentinnen und Referenten gewonnen werden konnten. Zu jedem der sieben Sektionsthemen – Paul Raabe hatte zusammen mit Hans-Gert Roloff eine Arbeitsgruppe zur ›Quellenkunde‹ ins Leben gerufen – wurde ein Plenarvortrag gehalten. Der zur Schäferdichtung ging an den Schreiber dieser Zeilen. Und wenn davon berichtet werden darf, so aufgrund eines Vorkommnisses, das zeigte, was die Stunde über den fachlichen Rahmen hinaus geschlagen hatte. Nun kam zur Darbietung, was für den Schöneschen Kongreß vorgesehen war. Man hatte Mut geschöpft. Und der war vonnöten, wie sich rasch zeigte. Der Referent hatte über den Gründer der europäischen Hirtendichtung Vergil und sodann über Harsdörffer und Klaj, die Schöpfer des Pegnesischen Erstlings aus dem Jahr 1644, einen utopischen Prospekt der Schäferdichtung aufgemacht. Unver97
kennbar sei, so verlautete da, wie unter der schäferlichen Maske frühbürgerlich-gelehrte Mentalität zur Ausprägung gelangte. Sie durfte als eine latente Unterminierung der alteuropäischen Prärogative des Geburtsadels gedeutet werden. Gelehrtenadel versus Geburtsadel, so der Tenor über eine durchaus eingeführte Formel, deren implizite politische Konsequenzen nun entfaltet wurden. Da schallte es mitten in den Vortrag aus dem Munde eines renommierten Göttinger Juristen : ›Kommunismus !‹ Das hatte es gewiß zumindest in Wolfenbüttel noch nicht gegeben. Ob man lächelte, ob man gefaßt blieb ? Gewiß verstand man sich nicht zu einer Replik, doch sorgenvoll ging der Blick herüber zu Paul Raabe, auch aber zu Richard Alewyn, der eigens angereist war. Schlagartig war klar, wie vermint das Gelände war, das es zu vermessen galt. Vielleicht hatte es tatsächlich nur auf einer Reform universität eine Chance.
Hofkultur unter der Schirmherrschaft Herzog Augusts
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n Wolfenbüttel aber wurde auf Großes, auf noch Größeres gesonnen. Die Stunde kam rasch. Im Jahr 1979 wurde der 400. Geburtstag Herzog Augusts II. von Braunschweig-Wolfenbüt tel begangen. Wie niemand vorher und niemand nachher aus dem Geschlecht der Welfen hatte er die Belange der Gelehrsamkeit und der Künste im Auge gehabt. Seine Emissäre waren in ganz Europa unterwegs und hielten Ausschau nach kostbarem Buchgut in Handschrift und Druck. In der herzoglichen Residenz strömte es zusammen. Der Fürst machte sich selbst an die Arbeit. Er begutachtete das Hereingekommene, zeichnete es aus, ordnete es den Fachgebieten zu und fertigte einen Katalog. Was von den Humanisten stets erhofft und proklamiert wurde, fand sich in einer den Wissenschaften und ihren Jüngern sich zugehörig wissenden Person auf der obersten Staffel der sozialen Pyramide verkörpert. Die Bibliothek trug aus ureigenstem Recht den Namen ihres Erzvaters. Und das implizierte eine Verpflichtung. Das Jahr 1979 98
mußte weithin sichtbar gebührend begangen werden. Frühzeitig setzten die Planungen im Arbeitskreis und im Komitee ein. Dem Projektieren zugetane Mitglieder traten mit Papieren hervor, in denen ein mögliches Kongreßszenario entworfen wurde, und natürlich war man dabei. Nun aber kehrte unversehens eine Problematik wieder, und die Kunst des Diplomaten auf seiten des Direktors war vonnöten, um einen Ausgleich zwischen den Diskutanten zu erwirken. Eine politische Schieflage des Kongresses mußte unter allen Umständen vermieden werden. Am Ende lag dessen Durchführung in den Händen jener, die mit ihrem Namen und ihren Voten dafür bürgten ; man trat ins zweite Glied zurück. ›Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert‹. Unter diesem Titel kam man zusammen. In Wolfenbüttel war inzwischen auch ein Arbeitskreis für Renaissanceforschung gegründet worden, der neben denjenigen zur Barockforschung trat. Vor allem aus dem Einzugsbereich beider wurde nunmehr ein Kreis von Sektionsleiterinnen und Sektionsleitern nominiert, die für die Einwerbung von Referentinnen und Referenten zuständig blieben. Tatsächlich kam es zur Formierung von zehn Sektionen, die meisten von ihnen mit einem knappen Dutzend Vortragender ausgestattet. Keine Chance also, ein Bild von der Vielseitigkeit des Kongreßgeschehens zu vermitteln. Vielleicht aber lag der tiefere Sinn der Zusammenkunft ohnehin an anderer Stelle. In den Pausen und während der abendlichen Zusammenkünfte traf man sich über die Grenzen der Sektionen hinweg. So viele Fachleute aus aller Welt waren zumindest auf deutschem Boden gewiß noch nicht zusammengekommen, um sich den beiden zentralen Epochen der Frühen Neuzeit zu widmen. Manche der Kolleginnen und Kollegen kannte man von den vorangegangenen Tagungen zumal in Wolfenbüttel. Nun aber traten viele neue Gesichter erstmals in Erscheinung. Es darf im Blick auf die allseits sich bestätigende Erfahrung bezeugt werden, daß in Wolfenbüttel die Jahre über und zumal im Jahr 1979 Kontakte geknüpft und Freundschaften geschlossen wurden, die Jahrzehnte über lebendig blieben. Wenn ein verklärter Blick sich später anläßlich der Erinnerung an Wolfenbüttel auftat, so war 99
er vor allem sachlichen Gewinn dem Gemeinschaft stiftenden Vermögen dieser Seancen an der Oker geschuldet, und noch die Verleihung des Okerschwanenordens an die eine und den anderen aus dem Kreis mochte daran Anteil haben. Zu beklagen blieb es, daß nur Kurzfassungen der Referate in der dreibändigen Kongreßdokumentation zum Abdruck gelangten. Auf einer Versammlung zur Vorbereitung der Publikation kam es tatsächlich ein erstes und einziges Mal zu einem Zusammenstoß mit dem Direktor. Es konnte und durfte nicht sein, so das Argument, daß ein so wichtiges wissenschaftliches Ereignis nicht auch zur Gänze den Weg in die Öffentlichkeit fände, und dies auch im Blick auf die Vortragenden, die nämliches erwarteten. Ganz offensichtlich mangelte es denn doch an entsprechenden Ressourcen. Und so kündigte der aufmüpfige Sprecher noch in der Versammlung an, auf Wege zu sinnen, wenigstens den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Sektion ›Hof und Absolutismus im Spiegel des theoretischen Schrifttums‹ und denjenigen in der Sektion ›Der Hof und die öffentliche Meinung‹, den Elger Blühm unter seine Fittiche genommen hatte, neben der Kurzfassung in den Kongreßakten ein eigenes Forum der Publikation zu bieten. Unter dem Titel ›Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts‹ kamen die Vorträge in der Zeitschrift ›Daphnis‹ heraus, die den Frühneuzeitlern seit einem guten Jahrzehnt dankenswerterweise im Amsterdamer Verlag Rodopi zur Verfügung stand.
Die Staatsbibliothek in der Hauptstadt der DDR
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ben angetreten in Osnabrück, wurde alsbald ein Forschungsfreijahr genommen. Paul Raabe, stets voller Verständnis, half mit einem kleinen Stipendium aus. Die einzige Verpflichtung : eine Präsentation des Projekts im Kreis der Stipendiaten. Gearbeitet werden durfte weiterhin in Göttingen. Und das ein letztes Mal ungestört, umgeben von den Schätzen der Bibliothek zu täglicher 100
Verfügung. Eine Rezeptionsgeschichte Opitzens war erschienen. So lag die Rückkehr zu dem ›Vater der deutschen Dichtung‹ noch einmal nahe, und tatsächlich konnte eine kulturpolitische Biographie zumindest des jungen Opitz unter Dach und Fach gebracht werden. Die Osnabrücker Studentenschaft in den Barockseminaren profitierte davon, einzelne Kollegen erbaten das Manuskript, das ansonsten unter Verschluß blieb. Und wieder tat sich neben dem Lehrbetrieb fast unverhofft eine einzigartige Chance auf. Der Barockforscher und der stetig an der Wissenschaftsgeschichte des Faches Interessierte fand in Göttingen ideale Arbeitsbedingungen vor. Wenn es aber auf Reisen ging, so bevorzugt nach Berlin und dort in die Staatsbibliothek Unter den Linden. Man nahm im Westen Quartier und reiste mit einem Passierschein des Morgens herüber in den sog. Osten der Stadt, der ja tatsächlich ihre Mitte war, überschritt die Grenze am Bahnhof Friedrichstraße und war mit wenigen Schritten in der Staatsbibliothek. Dort gab es einen Empfang von den Kolleginnen und Kollegen vor allem in der Abteilung der historischen Kataloge, dem stets ersten Ziel der Exkursion. Was dort im weitgehend erhaltenen Systematischen Realkatalog verzeichnet war, hatte keine Parallele im deutschen Sprachraum. Auch die sog. Barockliteratur war in verschwenderischem Reichtum vorhanden. Aber eben, der Akzent mußte jetzt auf dem Imperfekt liegen. Vieles war nicht mehr am Platz, und Bemerkungen am Rande verwiesen darauf, häufig unter Angabe von Ortsnamen und denen von Burgen und Schlössern. Über sie galt es, Näheres in Erfahrung zu bringen. Zu später Stunde hatte die Königliche Bibliothek einen Anlauf genommen, zur nationalen bibliothekarischen Zentrale des Landes aufzusteigen. Leuchtend stand in Europa die British Library in London und die Bibliothèque Nationale in Paris vor Augen. Dort war das nationale bibliophile Gut in Handschrift und Druck so gut wie komplett geborgen. Davon konnte in Berlin nicht entfernt die Rede sein. Der politischen und rechtlichen Verfaßtheit des Alten Reichs entsprechend war auch das Bibliothekswesen dezentral angelegt. Überall in Residenzen mit Höfen gab es il101
lustre bibliothekarische Schöpfungen, die Keimzellen der nachmaligen Landesbibliotheken. In den Städten ließen es sich die Magistrate nicht nehmen, Bibliotheken an bevorzugten Quartieren anzusiedeln, vielfach basierend auf den Sammlungen aus der Mitte der Bürgerschaft. In den Universitätsstädten wuchsen gelehrte Kollektionen heran, und um Kirchen, Bischofssitze und wo immer sonst gruppierten sich in aller Regel auch Handschriften und Bücher. Es gab kein anderes Land in Europa, das über eine derartige bibliothekarische Infrastruktur verfügt hätte. Und jenseits der Grenzen des Alten Reiches, im weiten alten deutschen Sprachraum, sah es kaum anders aus. Vielfalt in der sprachlichen Einheit lautete das Stichwort auf allen Gebieten der Kultur. Dann aber regte sich der Wunsch im Zuge der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts, auch bibliothekarisch wenigstens über eine Sammelstätte zu verfügen, in der die Buchkultur des Landes in größtmöglicher Vollständigkeit und die der Welt in professioneller Auswahl zusammengeführt war. Diese Aufgabe machte sich Berlin zu eigen. Punktgenaue Einkaufspolitik und die Übernahme berühmter privater Sammlungen waren das Mittel der Wahl, dem Ziel näher zu kommen. Stets war klar, daß Lücken bleiben mußten, denn auch das literarische Leben gestaltete sich ja dezentral. Alles kam auf den Einsatz und die Kennerschaft der Bibliothekare an. Über die verfügte auch Berlin in staunenswertem Umfang. Und als die Ära von Harnack und Althoff in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu Ende ging, war ein Aufbauwerk gelungen, das in der ganzen Welt von sich reden machte. In vorbildlichen großformatigen Bandkatalogen, getrennt nach Autoren und Sachgebieten, präsentierte sich der Schatz. Erinnert man sich aber, welche Folgen diese Maßnahmen auf seiten der Bibliothek für die Geisteswissenschaften und speziell für die Wissenschaft von der deutschen Literatur und nochmals eingeschränkt auf die eben sich etablierende Barockforschung zeitigte ? Studien zum deutschen Roman aus der Feder von Richard Alewyn und Arnold Hirsch, zum Drama bzw. Trauerspiel von Walter Benjamin, zur Standeskultur des deutschen Späthumanismus von Erich Trunz hätten nicht diese Physiognomie ge102
wonnen, ja, wären vielleicht gar nicht zustandegekommen ohne den Rückgriff auf die schier unerschöpflichen Quellen vor Ort. Und was nicht am Platz war, wurde durch das Auskunftsbüro der Deutschen Bibliotheken herbeigeschafft, das gleichfalls in der Staatsbibliothek residierte. Schlagartig wurde klar, in welchem Maße die Geisteswissenschaften auf hervorragende Bibliotheken angewiesen sind, und das nicht nur hinsichtlich der Texte selbst, sondern zugleich auch im Blick auf deren Erschließung. Keine digitale Praxis kann diesen bibliothekarischen Organismus ersetzen. Auch die Berliner Bibliothek wurde wie ungezählte andere in die Katastrophe des Nationalsozialismus hineingerissen. An mehr als zwanzig Stätten wurden die Raritäten ausgelagert, um dem stetig anschwellenden Bombenterror zu entgehen. Vieles kehrte nicht zurück, manches fand eine neue Bleibe im Ausland. Auch auf deutschem Boden existierten über Jahrzehnte mehrere Quartiere mit Beständen aus der Deutschen Staatsbibliothek. Wir haben die sog. Westdeutsche Bibliothek in Marburg immer wieder aufgesucht, wo die größten Kostbarkeiten aus Berlin provisorisch im Schloß der Landgrafen untergebracht waren. Manche Zimelie ging durch unsere Hand, die später definitiv verloren war. Kenner scheuten sich offensichtlich nicht, sich daselbst zu bedienen. Die Rückkehr der verstreuten Bestände aus Westdeutschland in die neu erbaute Staatsbibliothek am Potsdamer Platz bezeichnete den ersten wichtigen Schritt. Die Zusammenführung der in Ost- und Westberlin lagernden Bücher nach der Wiedervereinigung den zweiten. Intensiv nahm man teil in den Gremien an der Erörterung der bestmöglichen Aufteilung. Sie wurde, so wird man sagen dürfen, aufs Ganze gesehen angemessen vollzogen. Die wesentlichen Bestandteile der Altdrucke, von einzelnen Abteilungen abgesehen, stehen heute wieder im Haus Unter den Linden zusammen. Wie eklatant aber sind die verbliebenen Lücken ! Nie wieder wird die Staatsbibliothek im historischen Buchbestand jene einzigartige Gestalt zurückgewinnen, die ihr bis zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eignete. Der Besucher aber, der mit umfänglichen Suchlisten in den siebziger und achtziger Jahren erschien, durfte erleben, wie sich 103
die engagierte bibliothekarische Zunft unermüdlich darum bemühte, den alsbald gerne gesehenen Gast aus dem Westen mit Informationen über das Schicksal der Bücher zu versorgen. Zu einer Reihe von Personen stellte sich ein enges Vertrauensverhältnis her. Sie berichteten nicht nur über die Vorkommnisse an den diversen Stätten der Auslagerung, soweit ihnen bekannt. Auch über den Verbleib von Büchern aus der Staatsbibliothek in Polen und der Sowjetunion konnte man unter der Hand wichtige Informationen in Erfahrung bringen. Krakau, St. Petersburg, Moskau gewannen unversehens bibliothekarischen Nimbus. Und so war es vermutlich die Deutsche Staatsbibliothek in Ostberlin, in der der Plan sukzessive Gestalt annahm, selbst aufzubrechen und an Ort und Stelle Ausschau zu halten. Damit aber gelangte ein Projekt ins Blickfeld, das alsbald von dem wissenschaftlichen wie dem persönlichen Leben zunehmend Besitz ergreifen sollte. Der Germanist mutierte über Jahrzehnte zum Bibliotheksreisenden, und das auf ungewohnten Pfaden und nicht selten als Pionier.
Schatzhäuser des Geistes in der DDR
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ieder war es die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die sich für ein Reiseabenteuer gewinnen ließ. Das aber hatte vermutlich auch für sie den Anstrich des Exotischen. Viele der Kolleginnen und Kollegen waren aus anderweitigen Bibliotheken der DDR in die Staatsbibliothek gekommen. Sie berichteten über diese, und manche von ihnen kannten einzelne sogar noch aus der Vorkriegs- und Kriegszeit. Doch auch der Barockforscher war ja nicht ahnungslos. Beschäftigte man sich mit der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹, so traten Köthen, Halle und Weimar hervor. Hatte man bei dem verehrten Lehrer über die Leipziger Lyriker Verlockendes verlauten gehört, so wurde die Aufmerksamkeit auf Leipzig und Dresden gelenkt. Und war man in Göttingen oder anderwärts im Westen nicht fündig geworden, so kamen überraschend immer wieder gesuchte Drucke ausgerechnet 104
aus Zwickau. Wie mochte das zugehen, was verbarg sich hinter diesen Rätseln ? Die Idee einer Bibliotheksreise durch die DDR tauchte auf. Und die nahm überraschend Konturen an, als sich auf nicht mehr erinnerlichen Wegen der Kontakt zu einer maßgeblichen Figur im kirchlichen Leben der DDR herstellte, die über glänzende Kontakte zu den Pfarrhäusern im Land verfügte. Mit einem Schlag regelte sich die Quartierfrage. Und mehr als das. Der Würdenträger verbürgte sich für die Bonität des aus dem Westen mit seiner Frau Einreisenden. Die so gut wie unüberwindliche Grenze schien sich einen Spalt weit zu öffnen. Eine solche Chance mußte wahrgenommen werden. Selbstverständlich war die DFG vorab über die Reiseziele und die Gründe, gerade diese aufzusuchen, zu informieren. Man mußte sich also sachkundig machen. Das war unversehens ein erstes Mal vonnöten und wiederholte sich in den kommenden Jahren unentwegt. Und nun kamen dem Liebhaber der Bibliotheken die guten Kontakte zu den Direktoren in Göttingen und Wolfenbüttel, in Hamburg und Bremen, in Bonn und Nürnberg und wo immer sonst zustatten. Manche von ihnen, wie der hochverehrte Helmut Vogt in Göttingen, waren selbst aus der DDR herübergekommen und berichteten aus erster Hand. Andere waren über berufliche Kontakte informiert. Und schließlich gab es die hervorragenden Bibliotheksführer noch aus der Vorkriegszeit, mit deren Hilfe man sich unterrichten konnte. Am Schluß aber mußte man selbst über eine glückliche Hand verfügen. Reisen, ausgestattet mit Drittmitteln, sind terminlich immer beschränkt. Man kann nicht aufs Geratewohl über Monate aufbrechen. Runde vier Wochen waren für die DDR reserviert, und das schon deshalb, weil noch anderes auf dem Programm stand. Im nachhinein nimmt sich die Perlenkette der besuchten Bibliotheken wie ein kleines Mirakel aus. Keine Fehlstelle verunstaltete das Gewirk. Ein jedes Glied hatte eine eigene Physiognomie und erwies sich als unverzichtbar. Natürlich konnten nicht alle einschlägigen Häuser aufgesucht werden, immerhin aber doch die Mehrzahl von ihnen. Und in denen sich umtuend, nahm das Staunen kein Ende. 105
Je länger die Reise währte, desto überraschender stellte sich heraus, daß auf dem Boden Mitteldeutschlands die Bibliotheken den Zweiten Weltkrieg aufs Ganze gesehen offenkundig glimpflicher überstanden hatten als in den meisten Regionen der Bundesrepublik. Zwei eklatante Verluste waren auf der bereisten Wegstrecke zu beklagen. Von ihnen wußte man im voraus und hatte sich entsprechend gewappnet. Die reiche Leipziger Stadtbibliothek war untergegangen und die Sächsische Landesbibliothek in Dresden schwer versehrt. Zahlreiche Kleinode jedoch waren erhalten geblieben. Gerade sie aber bargen für den auf den Spuren des Barock und speziell der Schäferliteratur Reisenden einen unerhörten Reichtum an Quellen, waren doch gerade im Anhaltischen, in Thüringen und in Sachsen überall Dichtergruppen tätig gewesen, deren Texte in der Region die erste Stätte ihrer Verwahrung gefunden hatten. Nahe Eisenach wurde die Grenze passiert. Der kleine Renault 4, immer noch von der Ehefrau gesteuert, wurde eingehend von der Grenzpolizei gefilzt, Zeitungen, zum Einwickeln verwandt, entfernt und dann der Weg freigegeben. Er führte – vorbei an der Wartburg – nach Gotha, der ersten aufgesuchten Bibliothek, eindrucksvoll gelegen auf dem herzoglichen Schloß zum Friedenstein. Direktor Helmut Claus, den man von Publikationen her kannte, war zur Stelle und berichtete, daß die Bibliothek zu großen Teilen in die Sowjetunion abgeführt worden war, später jedoch zum Erweis der ›brüderlichen Freundschaft‹ zurückgegeben worden sei. Ob schon damals auch erzählt wurde, daß die Rückführaktion keinesfalls ohne Verluste abgegangen und mancherlei in Moskau verblieben war, ist nicht erinnerlich. Sehr wohl aber ist präsent, daß wiederum alte Vorkriegskataloge vorhanden waren. Rasch wurden die stets besonders gesuchten Sammelbände ermittelt, sie kamen auf den Schreibtisch – und die Entdeckungen setzten ein. Natürlich wurde stets zunächst nach Bukolika Ausschau gehalten für die weiterhin stetig im Wachsen begriffene Bibliographie, hatte die DFG für sie doch die Reisemittel bereitgestellt. Indes, links und rechts taten sich allenthalben weitere Funde auf. Die ›Fruchtbringende Gesellschaft‹, von 106
Fürst Ludwig zu Anhalt-Köthen gegründet, hatte in den mächtigen Kollektionen ihre Spuren hinterlassen. Literarisches Leben auf engem Raum wurde bibliothekarisch manifest. Es lag auf der Hand, daß nur über die Regionen und intakte sammlerische Institutionen eine den tatsächlichen Verhältnissen angemessene Geschichte der deutschen Literatur des Zeitalters zu schreiben wäre. Über Erfurt, wo nur kurz Station gemacht werden konnte, führte der Weg weiter nach Weimar. Den Besuchern wurde das Glück zuteil, die heil durch den Krieg gekommene und unversehrte einzigartige, im Rokoko gehaltene Bibliothek der Herzogin Anna Amalia betreten und in ihr sich umtun zu dürfen. Die Kulturfunktionäre in Berlin gedachten, sie zu einer Bibliothek der Klassik umzumodeln und hatten entsprechende katalogische Vorkehrungen getroffen. Wir ließen uns wie stets die historischen Bandkataloge kommen. Die eigentliche Bestimmung der Bibliothek war die Doku men tation des reichen Aufkommens an Schriftgut aus dem 17. Jahrhundert gewesen. Der Sekretär der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ Georg Neumark hatte sich auf zahllosen Drucken aus dem Umkreis der Sozietät handschriftlich verewigt. Das war kostbarstes Gut. Kopien über Kopien wurden in Auftrag gegeben. Und als dann nach der Wende die Bibliothek von der verheerenden Brandkatastrophe ereilt wurde, galt der erste Gedanke den geretteten Unikaten, von denen Direktor Michael Knoche Mitteilung gemacht wurde. Wenn eines Tages dann eine definitive Verlustrechnung aufgemacht wird, mögen Mikrofilme und Kopien womöglich ihre guten Dienste leisten, denn zu ersetzen sind die Originale ja nicht. Die beiden traditionsreichen Bibliotheken Jena und Halle boten ein gänzlich anderes Bild. Sie waren reich an eigenen Kollektionen. Nun aber waren sie wiederum von den Kulturfunktionären in der Ferne dazu ausersehen, fremdes Gut aufzunehmen. Keine Landschaft, Schlesien ausgenommen, war reicher an Bibliotheken des Adels. Die waren vielfach herrenlos geworden und mußten ihre historischen Quartiere räumen. Deutlich erkennbar war, daß die Häuser, in die sie gelangten, überfordert waren, den Reichtum 107
tatsächlich ordnungsgemäß zu bergen und also katalogisch nachzuweisen. Das war die Chance für die Suchenden. In Mitteldeutschland hatte insbesondere der Schäferroman in Adelskreisen floriert. Exemplare waren äußerst selten. Und so nicht anders auf seiten der Ekloge und des Schäferdramas bzw. der Schäferoper. Eine Reihe von Unikaten konnte aufgetan werden und als wohlgehüteter Schatz über das filmische Substitut den Weg an die heimatliche alma mater antreten. Die Berichte an die DFG hielten stets alle Einzelheiten fest. In Leipzig hätte der erste Schritt in die Stadtbibliothek geführt. Sie existierte als historische Institution nicht mehr. Das reiche literarische Leben des 17. Jahrhunderts vor Ort war nur noch in dem Maße bezeugt, wie es an andere Stelle gelangt war. Immerhin. In Leipzig wurde die eindrucksvolle Bibliothek der von Mencke und Gottsched geleiteten ›Deutschen Gesellschaft‹ verwahrt. Sie stand vor dem Krieg im Stadtarchiv und war nach dem Krieg in die Universitätsbibliothek überführt worden. Noch waren die Kriegsschäden an dem mächtigen Gebäude nicht beseitigt. In Dietmar Debes fanden wir einen kundigen Führer. Er hatte soeben den von dem Direktor des Stadtarchivs Ernst Kroker gefertigten handschriftlichen Katalog für den Druck bearbeitet. Nirgendwo waren gewachsene Kollektionen in den Mauern zu ersetzen. Die Stadt Leipzig aber nannte über die ›Bibliotheca Societatis Teutonicae Saeculi xvi–xviii‹ ein Schmuckstück ihr eigen, das einen Besuch allemal lohnte. Aus dem Pastorat der Thomaskirche brach man täglich auf. Bach war allgegenwärtig, und des Abends lauschte man den Klängen des Thomaskantors. Der Anblick Dresdens war erschütternd. Nur von der Brühlschen Terrasse oberhalb der Elbe aus regte sich eine Ahnung von der einstigen Silhouette. Das Schloß lag danieder, die Bährsche Frauenkirche präsentierte sich als Gedenkruine, das historische Stadtbild war ausgelöscht. Die womöglich bedeutendste fürstliche Bibliothek des alten Deutschland hatte provisorisch eine Bleibe in einer ehemaligen Kaserne am Stadtrand gefunden. Dorthin ging es allmorgendlich. Und nun, Jahrzehnte später, darf berichtet 108
werden, was seinerzeit einem sträflichen Vertrauensbruch gleichgekommen wäre. Der Besucher wußte, was er suchte, die Leipziger Liederdichter standen an vorderster Stelle. Sie waren in verschwenderischem Reichtum auf den hochformatigen Katalogkarten, verwahrt in Kapseln, bezeugt. Vorgelegt werden konnten sie nicht. Das Nachfragen setzte ein, und unter dem Versprechen, kein Wort verlauten zu lassen, erfuhr man von dem Personal aus dem Hause, das Zutrauen gefaßt hatte, wohin das kostbare Gut gelangt war. Jahre später, aus der Sowjetunion zurückgekehrt, konnte man sich erkenntlich zeigen. Zu dem Direktor des Hauses Burghard Burgemeister war sogleich während des ersten Besuchs ein freundschaftlich-kollegialer Kontakt geknüpft worden, der sich über Jahrzehnte erhielt und nicht zuletzt polito-bibliothekarische Früchte zeitigte. Darüber später. Die letzte Station bildete die Ratsschulbibliothek in Zwickau. Sie aber lockte nicht allein. Man hatte den Geburtsort Robert Schumanns betreten. Seine frühe Klaviermusik bedeutete das Höchste. So gut wie jeden Tag war das trefflich geführte Schumann-Haus aufzusuchen. Die bibliothekarische Arbeit kam darüber nicht zu kurz. Erfolgreich gerät sie nur mit qualifizierter Hilfe vor Ort. Sie erfuhren wir in der Gestalt von Dietmar Schubert, Fleming-Spezialist und daher über die Präsenz der Leipziger Liederdichter in der Bibliothek glänzend informiert. Am auffälligsten aber blieb der schier unerschöpfliche Reichtum an Texten aus dem fernen Nürnberg und der daselbst residierenden Pegnitzschäfer. Über Christian Daum, so hörten wir nun, waren sie nach Zwickau gelangt. An keiner anderen Stelle außerhalb Nürnbergs dürften die durchweg schäferlich aspirierten Texte in solcher Dichte vorhanden sein wie in der Ratsschulbibliothek Zwickau. Mit einer Art Fanfarenstoß verabschiedete sich der Arkadier überglücklich. Ein immenser Zuwachs an Quellen und an Kenntnissen hatte die Reise mit sich gebracht, verbunden mit vielen schönen menschlichen Begegnungen in Bibliotheken und gastfreundlichen Quartieren, die sich über Jahrzehnte erhalten sollten. 109
Im Schatten des Riesengebirges
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och nur der erste Teil des Programms war absolviert. Um die Förderung einer zweimonatigen Tournee hatte man bei der DFG nachgesucht, und sie willigte ein, wurde doch vielfach Neuland betreten. Wenn aber der Blick nach Polen sich richtete, so hatte das nur zum Teil sachliche Gründe. Persönliche traten hinzu. Und die waren ungewöhnlich genug. Auch in den Wissenschaften hängt alles an Personen. Großen unter ihnen zu begegnen, macht einen Gutteil des Glücks im Leben aus. Uns war es überreich beschieden. Und nur das berechtigt zur Niederschrift der vorliegenden Blätter, geht es doch über Zeugnisstiftung um Gedenken und damit um Teilhabe über die Zeiten hinweg. Wolfenbüttel war rasch zum Mittelpunkt der internationalen Barockforschung herangewachsen, und die war so ergiebig und interessant wie die Persönlichkeiten, die sie trugen. Es konnte nicht ausbleiben, daß einzelne von ihnen besondere Aufmerksamkeit auf sich zogen. Zu ihnen zählte neben der Warschauer Germanistin Elida Maria Szarota der Breslauer Germanist Marian Szyrocki. Wann er das erste Mal zu uns kam, ist nicht erinnerlich. Als dies aber geschah, war sogleich klar, daß eine außergewöhnliche Gestalt in den Wolfenbütteler Kreis eingetreten war. Man wußte, daß ihm gleich zwei bedeutende Arbeiten zum 17. Jahrhundert zu verdanken waren, nämlich eine Biographie über Martin Opitz und eine weitere über den jungen Gryphius. Beide waren in der renommierten Reihe ›Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft‹ im Verlag Rütten & Loening erschienen, die Werner Krauss und Hans Mayer zum führenden Organ in der DDR erhoben hatten, welches in dieser Form keine Parallele in der Bundesrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahre besaß. Ermißt man aber, was es bedeutete, daß ein polnischer Kollege zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im nunmehr polnischen Wrocław daran ging, sich zwei deutschen Autoren des 17. Jahrhunderts zu widmen ? Kein Land hatte nach dem Überfall der Deutschen so geblutet wie Polen. Die Erinnerung war allgegenwärtig. Wieviel Mut gehörte dazu, der Kultur des 110
Nachbarlandes sich zuzuwenden, von dem derartige Verbrechen ihren Ausgang genommen hatten. Szyrocki bewies ihn, und nicht ausgeschlossen, daß sein Lehrer Zdzisław Żygulski ihn dabei unterstützte. Für die internationale Barockforschung aber bedeutete diese Tat einen ungemeinen Gewinn. Eine Stimme verlautete aus dem deutschen Osten und gab vielfach erstmals wieder Kunde über Archive und Bibliotheken im nunmehrigen Polen. Und mehr als das. Eine forscherliche Instanz war vorhanden, über die Kontakte geknüpft und Austausch über die verminten Grenzen hinweg gepflegt werden konnte. Szyrocki aber war mehr als ein mutiger und einfallsreicher Wissenschaftler. Er war ein genialer Gesellschafter. Unentwegt wußte er zu erzählen, und eine jede Erzählung war umspielt von Charme, Witz und einer genau dosierten Portion Frechheit. In Wolfenbüttel war zu beobachten, wie stets eine Traube von Menschen sich bildete, sobald er auftauchte. Kurzweiligkeit herrschte allemal, und stets sah man sich selbst für einen Moment mit einer Prise Spott überzogen. Auf eine denkwürdige Weise wirkte auch ein Marian Szyrocki mit an dem Bild des weltläufigen Polen, der einer jeden erdenklichen Situation eine persönliche und in aller Regel heitere Wendung abzugewinnen wußte. Es war ein nicht versiegendes Vergnügen, in seiner Nähe zu weilen. Womöglich nur einem Marian Szyrocki mochte es gegeben sein, lange vor der Wende ein polnisch-deutsches Gemeinschaftswerk zu begründen, das alsbald einen legendären Ruf erlangte und singulär dastand in der Forschungslandschaft. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten einen Raum zum gegenseitigen Kennenlernen finden, zum Austausch von Gedanken, zum Vortrag aus laufenden Arbeiten und was zum Brauch einer scientific community immer sonst dazugehören mag. Vielfach aus erster Hand konnte man teilhaben an der Entstehung von Studien, über die man entweder nur an dieser Stelle etwas erfuhr oder die später Berühmtheit erlangten und bei deren originärer Präsentation und Diskussion man dabei sein durfte. Doch dabei blieb es nicht. Der Geist des Gastgebers waltete über dem Geschehen. Und dazu gehörte, daß es der Pflege, nein 111
der Feier von Geselligkeit zugute kam. Die trat nach getaner Arbeit in den späteren Abendstunden in ihre Rechte ein. Geistbegabte Getränke waren, aus welcher Quelle auch immer, in nie versiegender Fülle vorhanden, und niemand durfte es unter den Augen des gestrengen maître de plaisir wagen, sich ihres Genusses zu versagen. Keine Zusammenkunft, an der nicht einen jeden Abend bis in die Morgenstunden hinein des gemeinsamen Mahls und Umtrunks gefrönt worden wäre. Man hatte nicht nur im barocken Sinne standhaft, sondern eben auch trinkfest zu sein. Und dazu gehörte, daß man am nächsten Morgen aufgeräumt und guter Dinge wieder zur Stelle war, um fortzufahren im akademischen Geschäft. Uns ist es erlaubt, von einer weiteren und eben gleichfalls unvergeßlichen Quelle der Freude zu sprechen, ohne unziemlicher Reden sich schuldig zu machen. Szyrocki hatte all die Jahre über einen Kreis zumal von Mitarbeiterinnen um sich, deren Schönheit und Eleganz sogleich in die Augen stach. Es gehörte zu den unveräußerlichen Vorgaben des Maestros, sie ausnahmslos in die Pflicht zu nehmen. Für das Wohl der Gäste zu sorgen – und das solange, bis der letzte von ihnen das frühmorgendliche Parkett verließ – gehörte zu ihren Obliegenheiten. Das war, wie gerne am Rande einbekannt, ein hartes officium. In jedem Fall aber kam man wiederum ausnahmslos mit ihnen ins Gespräch, erfuhr von den wissenschaftlichen Plänen und durfte mehr als einmal an der Entstehung des jeweiligen Vorhabens teilhaben. Und wenn aus dem Kreis Szyrockis dann ein Besuch in der deutschen Heimat erfolgte, gab es hinlänglich Gelegenheit, sich erkenntlich zu zeigen. Ja, Drittmittelprojekte konnten gemeinsam in Angriff genommen werden, die beiden Seiten zugute kamen. Doch damit ist immer noch nicht alles gesagt. Szyrocki, offensichtlich ausgestattet mit guten Verbindungen zu den kulturfördernden Institutionen in seinem Land, hatte es verstanden, einen einzigartigen Ort für die kolloquialen Zusammenkünfte aufzutun. Nicht in der einstigen schlesischen Hauptstadt tagte man, sondern an einer der schönsten Stellen inmitten des Riesengebirges. Manchen der Gäste dürfte der deutsche Namen des Ortes noch 112
in den Ohren geklungen haben : Krummhübel. Nun lautete er auf Karpacz. Doch der nomenklatorische Wechsel änderte ja nichts an den lokalen Gegebenheiten. Das schmucke Städtchen, seit eh und je gerne besucht von Touristen, lag unterhalb der Schneekoppe. Sie grüßte auf dem Gipfel des über Kilometer sich erstreckenden Gebirgszuges schon während der Anreise aus der Ferne. Nun war man ihr ganz nahe. Und zu jedem neuen Kolloquium gehörte der gemeinsame Aufstieg zu ihr. Wer mochte sich dieses Vorzugs in den Jahren des kalten Krieges erfreuen ? Für den Kenner der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts und zumal derjenigen Opitzens verband sich mit dem Aufenthalt inmitten des Riesengebirges mehr und anderes. Eine der schönsten Erzählungen des Zeitalters hatte Opitz im Jahr 1630 mit seiner ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹ vorgelegt. Sie war erkennbar von Sannazaros ›Arcadia‹ inspiriert, auf der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert entstanden und von großer Wirkung auf das erzählende schäferliche Genre. Opitz aber ging zugleich ganz eigene Wege. Und dazu gehörte, daß er sein Werk einem der Großen des Dreißigjährigen Krieges zueignete. Hans Ulrich von Schaffgotsch, Besitzer unter anderem der Herrschaft von Warmbrunn im Riesengebirge, erkor er als Empfänger der literarischen Kostbarkeit. Und dann erzählte er in seiner ›Schäfferei‹, wie er mit befreundeten Kollegen aufbrach, um sich betrachtend, erzählend, raisonnierend eben auf diesem herrschaftlichen Flecken umzutun. Ein Mikrokosmos gelehrten Treibens entstand da unversehens vor Hörer und Leser. Und Opitz durfte sich rühmen, mit dem pastoralen Stück, gemischt aus Vers- und Prosapartien, eine neue Gattung in Deutschland begründet zu haben, der ein ungeheurer Erfolg beschert war. Auch Harsdörffers und Klajs ›Pegnesisches Schäfergedicht‹, von dem wir hörten, stand in dieser Tradition. Nun war es den Kennern der literarischen Szene des 17. Jahrhunderts vergönnt, selbst auf literarisch geweihtem Boden zu spazieren. Karpacz, die Schneekoppe, das Riesengebirge stellten den durch eine reiche Überlieferung geprägten Rahmen für ein gelehrt-geselliges Beisammensein, über dem noch einmal Glanz und Versprechen Arkadiens lagen. 113
In der schlesischen Hauptstadt
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n Dresden-Neustadt bestieg man den Zug nach Breslau. Er verband die sächsische und die schlesische Kapitale. Der Zeit nach der Wende blieb es vorbehalten, die durchgehende Verbindung zu kappen – Europa in Aktion. Die erste eindrucksvolle Station bildete Görlitz. Aus der Höhe über der Stadt auf einem Felsen an der Neiße grüßte die Peterskirche herüber. Die Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, die zu erkunden erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich war, wurde in der gleichnamigen Institution in der Neißstraße gehütet. Wie immer stand ein privates Quartier bereit. Der Weg durch die vom Krieg verschonte Stadt blieb eine tägliche Augenweide. So also nahm sich eine große alte deutsche Stadt aus, die die englischen und amerikanischen Bomberflotten nicht mehr rechtzeitig vor Kriegsende erreicht hatten. Eine bis in das späte Mittelalter und die Renaissance zurückführende Baukultur war zu bewundern. Ernst-Heinz Lemper, erste historische Autorität, entbot sich zur Führung durch die Stadt und hin zum Grab Jakob Böhmes. Und auch in der Bibliothek, in der wir von Direktorin Annerose Klammt empfangen wurden, schien die Zeit stillgestanden zu haben. Ein Duplikat der kompletten berühmten Oberlausitzischen Monatsschrift konnten wir im Tausch für Osnabrück akquirieren. Daß aber auch Görlitz seinen bibliothekarischen Tribut nach dem Krieg gezollt hatte, erfuhren wir erst später im konkreten Arbeitszusammenhang. Und das in Breslau. Die Neugierde war schier unbezwinglich. Als Barock- und insbesondere als Opitz-Forscher begegnete man der Stadt ständig. Und sie war es ja auch, aus der auf dem Postwege Bücher mit wertvollen Altdrucken zu dem Dissertanten in Bonn gelangt waren. Nun sollte sie tatsächlich betreten werden. Marian Szyrocki hatte die Formalitäten vor Ort erledigt. Und er war es auch, der tatsächlich am Hauptbahnhof in Breslau stand und den Anreisenden empfing. An alles war gedacht. Ein Stadtplan war zur Hand. Tramkarten wurden übergeben. Und – das wichtigste ! – ein Quartier war ausgemacht. Zehn Tage wohnte man bei einer ehemali114
gen Mitarbeiterin der Universitätsverwaltung und ihren Kindern. Des Morgens und des Abends standen die leckeren polnischen Gerichte bereit, der Austausch stockte nie, und am Wochenende ging es in einem kleinen Fiat hinaus in die Umgebung. Bis heute ist die Verbindung lebendig. Eine jede Bibliotheksreise hatte immer eine private Komponente, und die Dankbarkeit dafür ist eine stetige. Auch für einen ersten Gang durch die Stadt hielt sich der liebenswürdige Kollege bereit. Da aber schaltete der Besucher sich sogleich ein. Unbedingt sollten die ersten Schritte zum Roßmarkt führen. Dort lag das historische neugotische Gebäude der alten Breslauer Stadtbibliothek. Wie durch ein Wunder war es dem Inferno der letzten Monate entgangen, als Breslau – wie Danzig, wie Königsberg und andere Perlen des Ostens – zur Festungsstadt erklärt worden war, was ihrem alsbaldigen Untergang gleichkam. Das Gebäude der Stadtbibliothek war nach dem Krieg umfunktioniert worden. Nur die neuere Literatur samt historischen Katalogen und Verwaltung hatten in ihr einen Platz gefunden. Die ältere Literatur war wie die Handschriften, die Graphik, die Musik auf die Sandinsel gelangt, und zwar in das ehemalige Gebäude der Breslauer Universitätsbibliothek. Dort also in dem einstigen Augustinerstift direkt an der Oder sollte der Platz zur täglichen Arbeit eingenommen werden. Doch bevor darüber ein Wort verlautet, ist zurückzukommen auf den ersten Spaziergang mit dem kundigen Führer an der Seite. Aus dem Staunen kam man nicht heraus. Der Weg führte selbstverständlich zum Ring mit dem mächtigen Rathaus im Zentrum. Die gesamte Altstadt Breslaus war zerstört gewesen. Doch sie hatte eine Wiederauferstehung erlebt. Die polnischen Städteplaner, Ingenieure und Handwerker hatten das Wunder vollbracht, die historische Silhouette mit den reichen Fassaden der Bürgerhäuser samt der Elisabethkirche und der nur einige Schritte entfernten Kirche St. Maria Magdalena zurückzugewinnen. Natürlich waren in der unmittelbaren Nachbarschaft die Spuren des Krieges allenthalben zu gewahren, und das nicht nur angesichts von billigen Mietwohnungen, wie sie auf die Schnelle errichtet 115
werden mußten. Der historische Kern der großen Handels- und Bürgerstadt an der Oder jedoch war wieder erfahrbar. Wenn Breslau heute als eine der lebendigsten polnischen Städte gilt, so hatte das einstige restaurative Tun daran einen gewichtigen Anteil. Auf ehemals deutschem Boden war ungeachtet der nationalsozialistischen Verbrechen einer europäischen Vergangenheit einfallsreich und phantasievoll ein Tor in die Zukunft eröffnet worden, das nun der polnischen Bevölkerung und ihren Gästen zugute kam. Mußte man als Deutscher nach Polen reisen, um eine Alternative zu dem überall im Heimatland praktizierten baulichen Unwesen zu Gesicht zu bekommen ? Das über Jahrhunderte immer wieder geschundene Land wußte um den unverzichtbaren Beitrag von geschichtlich geprägter Baukultur für die Selbstfindung der Menschen in den Mauern ihrer Stadt. Das nämliche von historischem Sinn geleitete Wirken zeigte sich nun jedoch auch innerhalb der Bibliothek auf der Sandinsel. Die Breslauer Stadtbibliothek war eine späte Schöpfung, wie so häufig im alten Deutschland. Die mächtigen drei Schul- und Kirchenbibliotheken bei St. Elisabeth, bei St. Maria-Magdalena und bei St. Bernhardin waren in ihr zusammengefaßt worden. Alle drei Provenienzen blieben über ein ausgeklügeltes Signaturensystem erkennbar. Wie durch ein Wunder war der unschätzbare Bestand an alten Drucken weitgehend heil durch die Festungszeit gekommen. Und das im Unterschied zur Universitätsbibliothek. Ihre Bleibe im einstigen Augustinerkloster wurde zum Festungshauptquartier erklärt, die Bestände in die gegenüberliegende Annenkirche gebracht, die noch nach Kriegsende abbrannte, und mit ihnen ein Großteil der Bücher. Nach dem Krieg strömte nun aber in Breslau das Buchgut aus ganz Schlesien zusammen. Die polnischen Bibliothekare, vielfach noch am Ossolineum in Lemberg ausgebildet, das nun an die Ukraine gefallen war, standen einer gewaltigen Herausforderung gegenüber. Wie sollte das kostbare historische Buchgut aus der Zeit vor 1800, herrührend aus verschiedensten Quellen, sinnvoll unter einem Dach vereinigt werden ? Keine Worte reichen aus, um das, was sich da in Breslau ereignete, angemessen zu würdigen. 116
Wo immer möglich, wurden die Provenienzen beachtet, die alten Signaturen neben den neuen und nunmehr schlicht numerischen bewahrt und der schier unübersehbare Schatz wohlgeordnet nach Herkunft und einstiger Gliederung wieder aufgestellt. Mehr historisches Feingefühl war schlechterdings nicht denkbar. Bis heute ist es möglich, gewünschte Literatur nach den alten VorkriegsSignaturen zu bestellen. Wo in Deutschland in den zerstörten Bibliotheken in aller Regel ein radikaler Neuanfang praktiziert wurde, da waltete in Polen die nämliche historische Behutsamkeit, die auch beim Wiederaufbau der Stadt zu gewahren war. Die Arbeit selbst geriet schließlich zu einer über Jahrzehnte sich erstreckenden. Den Anfang machte stets die Musterung der Bestände, die auf den mitgeführten Suchlisten standen. Auch da half polnischer Einfallsreichtum. Statt Katalogkarten der nach Hunderttausenden zählenden Altdrucke zu fertigen, waren Kopien der Titelblätter hergestellt worden. Das hatte den ungemeinen Vorteil, sich auf einen Blick einen authentischen Eindruck verschaffen zu können. Kamen dann die umfänglichen Sammelbände auf den Tisch, so waren zumeist auch die alten Signaturen bewahrt. Der unvergessene Adam Skura, Chefbibliothekar der Altdruckabteilung auf der Sandinsel, stand bereit und erläuterte, wie altes und neues numerisches Katalogsystem zusammenhingen, und das nicht nur für die aus Breslau herrührenden Titel, sondern genauso für die aus Liegnitz oder Brieg oder anderen Orten in das Nachkriegs-Schatzhaus an der Oder gelangten. Bis heute hängen die entsprechenden von Skura gefertigten Tabellen im Osnabrücker Forschungsquartier. Historische Buchkunde ist dort erstes Gebot, und in Breslau konnte man lernen, wie sie in praxi funktioniert. Am Ende hat man sich in keiner Bibliothek des Auslands so oft aufgehalten wie in der der einstmaligen schlesischen Hauptstadt. Und wenn es zunächst um die Bücher ging, so traten doch sukzessive die Handschriften hinzu. Dort war alles viel kompli zierter. Die Breslauer Handschriftenkollektion galt als eine der wertvollsten in Europa. Sie wurde daher im Krieg zu einem Großteil evakuiert. Das ist eine eigene, tieftraurige Geschichte. 117
Plünderung und Vernichtung betrafen mehr als ein Quartier. Anderes fiel der russischen Armee in die Hände. Bis heute herrscht über den definitiven Verbleib keine restlose Klarheit. Gewiß ist nur, daß der einzigartige skripturale Schatz schwer versehrt ist. Wir haben uns nach Kräften – auch hier unterstützt von ersten Fachkräften – an der Erkundung einzelner Segmente, nahegelegt durch die eigene Arbeit, tatkräftig beteiligt und die Ergebnisse inzwischen in einer Reihe von Publikationen niedergelegt. Der internationalen Forschergemeinschaft steht jedoch noch eine gewaltige Aufgabe der Sichtung im einzelnen bevor. Nicht zuletzt Marian Szyrocki hat dazu immer wieder aufgerufen und vor Ort mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Erdenkliche in die Wege geleitet. Stäbe von Fachleuten müßten tätig werden und die Aufarbeitung in die Hand nehmen. Nur am Rande konnten die gleichfalls reichen Sonderbestände mit den Musikalien und der Druckgraphik auf der Sandinsel inspiziert werden. Und am Ende trat dann auch die neugebildete schlesisch-lausitzische Abteilung hinzu, in der das historische ortsspezifische Schrifttum gesammelt wird. Das Fachliche muß auf sich beruhen bleiben. Nur eines Begebnisses ist zu gedenken. In der Musikabteilung wirkte die erste Fachkraft im Land Aniela Kolbuszewska. Als wir uns vorstellten, antwortete sie auf französisch und verblieb eine längere Zeit bei dieser Praxis. Man lernte sich näher kennen und schätzen, Publikationen wurden ausgetauscht, Dankesbriefe gingen nach jedem Besuch aus der Heimat nach Breslau. Und dann geschah es, daß der Gast bei einer seiner neuerlichen Besuche auf deutsch begrüßt wurde. Eine nur allzu verständliche Reserve war gegenüber dem deutschen Kollegen beobachtet worden. Schließlich stellten Vertrauen und persönliche Verbundenheit sich ein. Über die Schranken hinweg war man sich nahe gekommen, und die Rückkehr zur deutschen Sprache besiegelte das kleine Wunder. Es sollte sich auf späteren Bibliotheksreisen wiederholen. Gesten der Versöhnung begleiteten den frühzeitig in die Fremde und zumal in den Osten aufgebrochenen Bibliotheksreisenden. Sie blieben das schönste Geschenk, das ihm zuteil wurde. 118
Deutsche Bibliotheken auf polnischem Boden
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ie über Breslau wäre über jede andere in Polen besuchte Bibliothek des näheren zu berichten. Das geschah vor Jahrzehnten in den von Martin Bircher redigierten ›Wolfenbütteler Barock-Nachrichten‹ auf Wunsch des verehrten und allzufrüh verstorbenen Kollegen. Die zumeist erstmalige Kunde über das mitteldeutsche und das – bibliothekarisch – ostdeutsche Nachkriegsbild rief erhebliches Aufsehen hervor. Hier muß eine knappe Akzentuierung genügen, ist doch weiterhin viel zu erzählen. Rückblickend regt sich Erstaunen, daß nicht beim ersten Besuch die alte polnische Hauptstadt Krakau mit der berühmten Jagiellonen-Bibliothek besucht wurde. Das geschah später und bezeichnet wiederum ein eigenes Kapitel. Man mußte sich in den einstigen Beständen der Berliner Staatsbibliothek gut auskennen, um mit Gewinn nach Krakau aufzubrechen. In die Abtei Grüssau in Schlesien waren im Krieg kostbarste Handschriften und Drucke aus Berlin verlagert worden. Nach dem Krieg waren die Polen schneller zur Stelle als die Russen und entdeckten den Schatz auf der Empore der Klosterkirche. Auf Umwegen gelangte er in die einstige königliche Bibliothek. Und dort befindet er sich bis heute. Alle Versuche, über einen Austausch – wertvollste Handschriften und Drucke lagern im sog. ›Depot Breslau‹ in der Staatsbibliothek zu Berlin ! – blieben vergeblich. Neuerlich gilt : Europa in Aktion. Am Ort aber führte uns der später häufig in Wolfenbüttel weilende Direktor Jan Pirożyński in die überaus komplizierte Materie ein, ja mehr noch, er überreichte uns Listen mit den aus Berlin herrührenden und nach Krakau gelangten Drucken. Es gehört zu den Tugenden eines Bibliotheksreisenden, erwiesenes Vertrauen unter keinen Umständen zu enttäuschen. Wir hüteten die Listen, glichen das in Berlin Vorhandene mit dem in Krakau Verwahrten ab und mühten uns, wie überall auf den Reisen, um zumindest virtuelle Restitution. Berlin war im Besitz einer einzig dastehenden, weil regional gegliederten Kollektion mit kleinen Schriften gewesen, vorwie119
gend herrührend aus dem 17. Jahrhundert und zumeist bestimmten Gelegenheiten gewidmet. Über den Freiherrn von Meusebach waren sie vielfach ins Haus gekommen. Mittels ihrer ließe sich eine Geschichte der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, gegliedert nach literarischen Landschaften, sehr wohl verfassen. Nun war die Sammlung geteilt ; ein Teil war nach Berlin zurückgekehrt, ein anderer lag in Krakau, und eine Reihe von Bänden war überhaupt nicht mehr auszumachen. Jetzt aber zahlten sich die guten, auf Vertrauen gegründeten Verbindungen aus. Aus Berlin und Krakau wurden Mikrofilme der jeweils vor Ort vorhandenen Sammelbände bestellt, in Osnabrück auf Papier abgezogen und in der vormaligen Berliner Gestalt zu Sammelbänden vereint. Auf den schmucken Einbänden prangen die in der Fachwelt berühmten Signaturen der Kollektion, welche den Forschern daheim und auswärtigen Gästen die Jahrzehnte über gute Dienste leistete und dies weiterhin tut. Von Breslau aus führte der Weg direkt in die nunmehrige polnische Hauptstadt. Die Bilder des Aufstandes im Warschauer Getto standen dem Anreisenden vor Augen und ließen sich nicht verscheuchen. Und wie rasch fanden sie weitere Nahrung. Im Krasiński-Palais in unmittelbarer Nähe der Altstadt waren die Altdrucke untergebracht. Schon beim Betreten des mächtigen Gebäudes wurde der Besucher mit einer Bilderfolge konfrontiert. Eine Silberbibliothek in Reih und Glied tat sich vor den Augen des Betrachters auf. Die Bibliothek winkte mit einem besonderen Schatz. Dessen Geheimnis jedoch bestand darin, ihn nicht berühren zu dürfen. Ein Buch, das nicht aufgeschlagen werden darf ? Ein jedes aus dieser Reihe verweigerte sich derartigem Tun, weil es sogleich in sich zusammengefallen wäre. Aus Asche war es gefügt. Die Deutschen hatten die Bibliothek nach dem Warschauer Aufstand in Brand gesteckt und dabei auch die legendäre Silberbibliothek vernichtet. Angetan mit derartigem Reisegepäck aus der jüngsten Vergangenheit betritt ein Deutscher die nationale Bibliothek des Nachbarlandes. In ihr und in einer jeden anderen begegnete er in den siebziger Jahren noch Personen, die die unsäglichen Schreckens120
taten miterlebt hatten. Über einen Abgrund hinweg geht man aufeinander zu, der sich über die Zeiten hinweg stets wieder auftut. Er gehört zur deutschen und auf ganz andere Weise zur europäischen Erbschaft. Konfrontiert mit ihm beginnt man in allen Ländern des Ostens sein nur scheinbar unschuldiges bibliothekarisches Treiben. Wohl denen, die die Gespenster der Vergangenheit für eine Weile zu bannen wissen. Geschieht dies aber, so ist zu gewahren, daß auch das Gegenüber eine Verwandlung erfährt. Bibliophile und menschliche Pfade verlaufen dicht nebeneinander, und mehr als einmal verschlingen sie sich. In Warschau tat man sich wie immer in einer bis dato unbekannten Stadt zugleich in ihr und in der Bibliothek um. In der polnischen Hauptstadt war das gleiche Wunder zu erleben, das einen auch in Breslau bereits in seinen Bann gezogen hatte. Die Stadt war von den Deutschen dem Erdboden gleichgemacht worden. Nie konnte sie als ganze in ihrer alten Schönheit, festgehalten etwa auf den Bildern Canalettos, wiedererstehen. Doch ausgewählten Quartieren war erneut die rekonstruktive Kunst zugute gekommen. Den prächtigen und wieder aufgebauten Königsweg oberhalb der Weichsel herabschreitend gelangte man in die Altstadt mit dem Warschauer Schloß in der Mitte. Daselbst schien die Zeit stehengeblieben zu sein. In Polen wußte man, daß in der Hauptstadt das Herz eines Volkes schlägt. Also gab man es ihm zurück, und kein Wort ermißt die Dankbarkeit, die vielfältig zu vernehmen war. Einen jeden Tag regte sich das Bedürfnis, des Mittags das Krasiński-Palais für ein Stündchen zu verlassen und sich an dem wiedererstandenen historischen Stadtkern zu erfreuen. In der Bibliothek aber tat sich erstmals ein bis dato unbekanntes Bild auf. In den nach Jahrhunderten gegliederten Zettelkatalogen blätternd fiel sofort auf, daß deutsche Druckorte eindeutig dominierten. Das historische polnische Buchgut hatte seinen angestammten Platz in Krakau. Warschau mußte nach dem Krieg neu aufgebaut werden, und das geschah vor allem mit Büchern aus Bibliotheken des deutschen Ostens, der nun an Polen gefallen war. Dieser Umstand bezeichnete die tiefste Zäsur in der oftmals viele Hunderte von Jahren währenden Geschichte der traditions121
reichen Häuser. Schon bei der katalogischen Durchsicht dürften sich erste Ahnungen in bezug auf zukünftige Aufgaben geregt haben. Neuerlich sollte es gelten, Provenienzforschung zu betreiben. Und als man schließlich Jahrzehnte über immer wieder auch in Warschau Station gemacht hatte, war man in der Tat in der Lage, gezielt nach Büchern aus einzelnen Bibliotheken in Schlesien, in Pommern, in Ostpreußen, ja noch aus solchen der baltischen Staaten Ausschau zu halten. Unsere Erzählung wird auch davon und wiederum in Abbreviatur handeln. Von Warschau aus ging es weiter in das alte Königlich polnische Preußen. Von drei kulturellen und bibliothekarischen Zentren wußten wir. Alle drei konnten besucht werden, und wiederum ganz verschieden nahm die Situation sich jeweils vor Ort aus. In Thorn betraten wir eine vom Krieg nicht zerstörte Stadt, in der der preußische Bauwille unverkennbar sich bewahrt hatte. Gleich zwei Bibliotheken beherbergte die Stadt. In der städtischen und nun als Wojewodschaftsbibliothek fungierenden sammelte sich, aus diversen Quellen herrührend, das historische Buchgut aus der Region. Opitz hatte in Thorn geweilt, und auch davon gaben Drucke und Personen immer noch Auskunft. Die Bibliothek war jedoch in den Schatten der nach dem Krieg neu gegründeten Universitätsbibliothek gerückt. Und sie betretend, wurde man sogleich mit einer ins Auge springenden Merkwürdigkeit konfrontiert. Urkunden- und Quellensammlungen ebenso wie Zeitschriften und Werkausgaben standen in geschlossenen Formationen im Lesesaal komplett zusammen. In ihnen blätternd, traten die Stempel hervor. Aus pommerschen Bibliotheken vor allem rührten die Bestände her. Die junge Universitätsbibliothek war mit altem deutschem Buchgut bestückt worden, und wiederum war klar, daß der auf den alten deutschen Sprachraum des Ostens sukzessive sich spezialisierende Bibliograph fortan stets auch nach Thorn reisen mußte, wenn er originäre Titel jenseits von Oder und Neiße zu Gesicht bekommen wollte. Ganz anders in Elbing. Dort hatte, gruppiert vor allem um das illustre Gymnasium, ein reges literarisches Leben im 17. Jahrhundert geherrscht. Der Bestimmungsort für dessen Dokumen122
tation blieb wie überall im alten Deutschland die Stadtbibliothek. Auch Elbing nannte sie ihr eigen, und die Geschichte führte wie so häufig zurück ins Zeitalter der Reformation. Nun war sie vom Erdboden verschwunden, und mit ihr weite Teile der Stadt, in der sie gestanden hatte. Einsam ragte der Turm der Nikolaikirche inmitten der Trümmerlandschaft empor. Elbing war das Glück des Wiederaufbaus noch nicht zuteil geworden. Was aber war aus den Büchern in den Mauern der Stadt geworden ? Nicht schon beim ersten Besuch in Thorn löste sich das Rätsel. Ein Gutteil der historischen Drucke war tatsächlich gerettet und nach Thorn in die junge Universitätsbibliothek überführt worden. Elbing war bibliothekarisch verwaist, und viele Gespräche mit dem Direktor der Thorner Bibliothek Stefan Czaja umkreisten das damit verbundene Problem. Erst seit kurzem haben die Bücher den Rückweg von der Weichsel an ihren Herkunftsort angetreten. Und die kleine Osnabrücker Forschergruppe ist stolz darauf, daß Fridrun Freise jüngst einen Katalog der Elbinger Gelegenheitsgedichte vorlegen konnte, auf dem erstmals wieder der Name der Elbinger Bibliothek zu lesen ist. Die Stadt ist in den Kreis des literarischen Lebens im Ostseeraum zurückgekehrt und harrt der tätigen Erkundung. Die Kapitale aber im Königlich polnischen Preußen war Danzig. Wie Breslau besaß die Stadt eine ehrwürdige Bibliothek, untergebracht in einem neugotischen Gebäude, das den Krieg wiederum weitgehend unversehrt überstanden hatte. Ermißt man das Glück des Opitz-Forschers, im historischen Lesesaal unter dem Porträt Opitzens Platz nehmen zu dürfen ? Wieder schien die Zeit stillgestanden zu haben. Die alten deutschen Kataloge waren erhalten, und man konnte sich ihrer bedienen. Und wie überall setzte der nämliche Rhythmus ein. Zunächst wurden bekannte Titel für die Bibliographie bestellt. Und wenn dann in einem Sammelband ein seit Generationen von Forschern vergeblich gesuchtes Schäferspiel von Simon Dach unversehens auftauchte, so kam das einer Sensation gleich. Hernach erfolgte die bibliothekarische Tiefenbohrung. Nach ortsgeschichtlichem Schrifttum jedweder Art wurde auch in Dan123
zig geforscht, und schnell war klar, daß die alte Stadt- und jetzige Akademiebibliothek gerade auf diesem Sektor schwere Verluste infolge von Auslagerungen hatte hinnehmen müssen. Wer wußte in Deutschland davon ? Zunächst zu Direktor Edmund Kotarski und sodann zu seinem Nachfolger Zbigniew Nowak knüpfte sich ein enger Kontakt, und alsbald zeichnete sich auch in der wiedererstandenen Metropole an der Ostsee das zukünftige Arbeitspensum ab. In einer Stadt, in der Opitz die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, mußte alles Erdenkliche unternommen werden, um seine Spuren zu verfolgen. Das Mittel der Wahl blieb wie stets die Rekonstruktion der Gelegenheitsgedichte vor Ort, flektierte sich in ihnen doch das literarische Leben am getreuesten. Mit Freude darf schon an dieser Stelle vermerkt werden, daß ein mächtiger, vier Bände umfassender Katalog erarbeitet werden konnte, in dem die Dichter vor, neben und nach Opitz sich ein prominentes Stelldichein geben. Einer Ehrenpflicht historischer Pietät war Genüge getan. Den Beschluß der denkwürdigen Reise machte Stettin. Ein langer und sprichwörtlich schöner polnischer Herbst ging zu Ende, und der erste Schnee fiel. Verwöhnt von der wiedererstandenen Kapitale Danzig war das Erschrecken in der einstigen Hauptstadt Pommerns groß. Die Spuren des Krieges waren allenthalben noch sichtbar. Und so auch in der einstigen Pommerschen Landesbibliothek, die nun wiederum als Wojewodschaftsbibliothek fungierte. Kein Stein war daselbst auf dem anderen geblieben. Es herrschte eine verwirrende Verschlingung von Buchbeständen verschiedenster Provenienz, und schwer fiel die Orientierung. Wie immer wandte man sich fragend an das Fachpersonal und schließlich an den Direktor. Und alsbald kam Näheres zur Sprache. Die traditionsreiche alte deutsche Bibliothek war selbstverständlich in ihren wertvollsten Beständen ausgelagert worden. Was im einzelnen gerettet werden konnte, schien bis dato ungeklärt. Gewiß war indes, daß nur Bruchteile nach Stettin zurückgekehrt waren. Die an den Auslagerungsorten vorgefundenen Bücher (und womöglich auch Handschriften ?) waren zum Wiederaufbau der Warschauer Nationalbibliothek und zum Neu124
aufbau der Thorner Universitätsbibliothek verwandt worden. Der wiederum äußerst liebenswürdige und mitteilungsbereite Direktor Stanisław Krzywicki wußte natürlich davon, und nur allzu deutlich war zu bemerken, daß sich Trauer und Empörung in seinem Gesicht spiegelten. Nichts würde er unversucht lassen, um das nach Stettin gehörige bibliophile Gut dorthin zurückzubringen. So gab es nicht nur eine deutsch-polnische, sondern auch eine innerpolnische Restitutionsdebatte, und wir waren Zeugen von deren erheblicher Brisanz geworden. Ein Abenteuer ging zu Ende. Mit erheblicher Verspätung kehrten wir in das Wintersemester zurück, und auch wohlmeinende Kollegen wie Heinrich Mohr erhoben warnend ihren Finger. Wie durfte man hoffen, auch nur eine Ahnung von dem Gesehenen und Gehörten zu vermitteln ? Das Los des Bibliotheksreisenden ist Überforderung. Die Fülle der sich auftuenden Einblicke und Perspektiven und die daran sich knüpfenden Aufgaben übersteigen die Möglichkeiten eines einzelnen. Auf viele Schultern müssen sie verteilt werden. Der hier zu vernehmende Berichterstatter hat das Glück gehabt, einen engagierten Mitarbeiterkreis über Jahrzehnte um sich zu wissen. Ihm vor allem ist es zu verdanken, wenn in regelmäßigen Abständen immer wieder Ernte gehalten werden konnte. Auch Stettin hat jüngst erstmals einen fünfbändigen Katalog seiner vor Ort immer noch vorhandenen Gelegenheitsgedichte erhalten, ausgestattet mit einer großen Einleitung von Sabine Beckmann, in der die verschlungenen bibliothekarischen Pfade nachgezeichnet werden. Nach dem Krieg hatten die Polen befürchtet, daß die exponiert an der Mündung der Oder gelegene Stadt an die Deutschen zurückfallen könnte. Auch diese Sorge hatte zum Abtransport der Bücher in das Innere des Landes beigetragen. Die Antwort aus dem Raum der Wissenschaft auf das unselige politische Treiben lautet : historische Zeugenschaft abzulegen, und das gleichermaßen in Dokumentation und Darstellung. Der alte deutsche Sprachraum des Ostens bleibt darauf in besonderer Weise angewiesen. Er war erstmals auf polnischem Boden erfahrbar geworden. 125
Pfade nach Utopia
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er Aufenthalt in der heimatlichen alma mater blieb ein denkbar kurzer. Die Schäferdichtung hatte Auftrieb erhalten und begann, Ausstrahlungskraft zu entfalten. Wilhelm Voßkamp war aus dem Kiel von Erich Trunz und Karl Otto Conrady herübergewechselt an die Reform- und explizite Forschungsuniversität in der Bielefelder Nachbarschaft. Deren Bibliothek war ausgestattet, so wie man es für eine Neugründung wünschte. Lange vor Aufnahme des Lehrbetriebs war – im Gegensatz zu Osnabrück – mit der Schaffung einer funktionstüchtigen Bibliothek begonnen worden. Wenn es denn mit dem eingeführten dualen System – hier die Universitätsbibliothek, dort die Seminarbibliotheken – ein Ende haben sollte, so war in Bielefeld mit dem sog. einschichtigen Bibliothekssystem der einzig richtige und sinnvolle Weg beschritten worden. Alle Bücher wurden in systematischer Abfolge freihand aufgestellt und als Präsenzbestand deklariert. Ausgeliehen wurden grundsätzlich nur Zweitexemplare aus der Studienbibliothek. Drei Jahrzehnte kämpfte man als ständiger Vertreter in der Osnabrücker Senatskommission für die Bibliothek für dieses Modell. Vergeblich. Es fehlte von Beginn an an Räumen und Mitteln und dem bibliothekarischen Interesse unter der Kollegenschaft. Es blieb bei dem Durcheinander von Präsenz- und Ausleihbibliothek, und bald mußte die durchgängige systematische Freihandaufstellung aufgegeben, mußten angesichts von Raumnot Magazine bestückt werden. Ein fragmentarisches Aufbauwerk, dem man die besten Kräfte gewidmet hatte, blieb ein Torso ; die Leidtragenden waren in erster Linie die Studierenden – und das bis heute. Der bibliothekarische Notstand war nicht zu beheben, und wie sollte er, wenn mehr als ein Gründungsmitglied sich dahingehend vernehmen ließ, daß man angesichts aktueller politischer Aufgaben doch umstandslos auf Bibliotheken und insbesondere historische Buchbestände verzichten könne … In Bielefeld trat neben die exzellente Bibliothek ein in der Gründungsurkunde explizit ausgewiesenes Forschungszentrum, 126
in dem satzungsgemäß interdisziplinäre Arbeit betrieben werden sollte. Interdisziplinarität war ein Credo der hochschulpoli tisch agierenden Sprecher seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gewesen. Nun war ein institutioneller Rahmen für dieses Anliegen geschaffen worden, und rasch sprach sich die Novität herum. Auch Bielefeld hatte in der Gründungsphase hervorragende Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer berufen können. Von manchen wußte man, daß sie eine führende Stellung in ihrem Fach innehatten. Nahm es Wunder, daß sie das forschungspolitische Instrumentarium, das da bereitstand, fach- und sachkundig zu nutzen wußten ? Mit dem ›Zentrum für Interdisziplinäre Forschung‹ (ZiF) im Rücken konnte man auch fachpolitisch vielerlei bewirken. Tatsächlich standen Gelder zur Verfügung, um renommierte Wissenschaftler für ein Jahr einzuladen, an den Heimatuniversitäten die Vertretung zu gewährleisten, und die in Bielefeld in schmucken Appartements Residierenden in Forschergruppen zusammenzuführen. Ausgewählte Vertreter verschiedenster Fachgebiete wirkten für eine bemessene Zeit gemeinsam unter einem Dach, und das gruppiert um ein sie verbindendes Thema, eben ein gemeinsames Forschungsprojekt, lautend auf ›Funktionsgeschichte literarischer Utopien in der Frühen Neuzeit‹. Wilhelm Voßkamp hatte in Bielefeld den Lehrstuhl für Literaturtheorie und Neuere Literatur inne, der also ganz ähnlich zugeschnitten war wie derjenige in Osnabrück. Seine Geschichte der Romantheorie, mit der er sich in Kiel habilitiert hatte, fand rasch Aufmerksamkeit. Mit Voßkamp war man schon geraume Zeit einig darin, daß auch der Literatur des 17. Jahrhunderts – und nicht nur der des 18. – eine gute Prise sozialgeschichtlicher Fundamentierung gut bekommen würde. Eine derartige Orientierung implizierte ein aufmerksames Auge und Ohr für die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Gegenwart. Voßkamp diagnostizierte einen merklichen Rückgang an vorwärtsweisenden Ideen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Dem mußte begegnet werden, und das aus der Mitte der Geisteswissenschaften heraus. Seine Idee war es, das womöglich 127
immer noch aktuelle Potential des bis in die Antike zurückführenden utopischen Denkens zu erkunden. Das war mit Aussicht auf Erfolg nur im Verbund verschiedener Fachvertreter möglich. Und so konstituierte sich unter seiner Leitung und mit tatkräftiger Unterstützung seines damaligen Assistenten Jürgen Fohrmann, der später über Jahre als Rektor der Bonner Universität fungieren sollte, eine Expertengruppe zur Utopieforschung. Mit selten glücklicher Hand gelang es, eine ebenso buntgemischte wie hochkarätige Forschergemeinschaft nach Bielefeld zu bitten. So waren etwa, um nur zwei Namen zu nennen, Karl- Otto Apel und Norbert Elias dabei. Es waren zugleich die beiden diskutierfreudigsten und angriffslustigsten Teilnehmer. Mehr als einmal gingen sie sich direkt an, und es verschlug einem den Atem. Der Arkadien-Spezialist hoffte, Elias für eine Weiterfüh rung seiner Deutung der ›Bergeries d’Astrée‹ gewinnen zu können, die dieser in seiner berühmten ›Höfischen Gesellschaft‹ vorgetragen hatte. Vergeblich. Elias blieb merkwürdig unbeteiligt, und eine gewisse Enttäuschung war nicht zu verhehlen. Um so beglückender, ihn allmorgendlich im Schwimmbad des ZiF anzutreffen. Und als man Mut gefaßt hatte, meldete man sich zu einem persönlichen Besuch in seinem Appartement. Die liebenswürdige grazile Persönlichkeit steht seither vor Augen. Und so wäre von jedem aus der Gruppe mit Vergnügen zu berichten, was ersichtlich nicht angängig ist. Voßkamp wollte das Projekt von der Verpflichtung auf die Staats- und Gesellschafts-Utopie lösen. Utopie-Entwürfe der verschiedensten Provenienz und Ausprägung sollten zur Diskussion gestellt werden. In einem öffentlichen Abendvortrag und natürlich in der Diskussion war Gelegenheit, aus dem jeweiligen Fachgebiet heraus einen entsprechenden Versuch zu skizzieren. Für uns verbindet sich mit der Eröffnung des Kollegs eine besondere Erinnerung. Der Leiter hatte für den Einführungsvortrag des auf ein Jahr berechneten Vorhabens eine Persönlichkeit gewonnen, deren Name nicht erinnerlich ist. Sie sagte aus gleichfalls nicht mehr bekannten Gründen ab. Voßkamp fragte an, ob man einspringen könne. Und da wiederholte sich eine vor fast einem 128
Jahrzehnt schon einmal erlebte Situation. Natürlich konnte man mit Fug und Recht nur über Arkadien handeln. Das geschah wie schon einmal in freier Rede und also mit dem Vorteil, sich im Kreis der Zuhörenden umschauen zu können. Ein Gesicht fiel ins Auge, und immer wieder erlag man der Versuchung herüberzublicken. Gratulierend trat er an den Sprecher heran. Es war Karl Heinz Bohrer, auch er Mitglied der utopischen Zunft. Seine ehrenden Worte blieben haften, und über den ›Merkur‹ wurde auch später die Verbindung gewahrt. Von vornherein war klar, daß der Projektleiter eine großangelegte Dokumentation des ebenso anregenden wie lebhaften Forschungsjahres plante. Besonderes Renommee in jener Zeit genoß der Metzler-Verlag unter Bernd Lutz, zu dem enge Kontakte bestanden. Nun galt es, sein Bestes zu geben, kam eine Chance in diesem Kontext doch nicht wieder. Die Arbeitsbedingungen waren ideal in der hervorragenden Bibliothek. Und als die DFG sich neuerlich generös dazu verstand, an das ZiF-Jahr noch ein Freisemester anzuhängen, gelang jener Wurf, von dem man seit den sechziger Jahren geträumt hatte. Ein großes, viele hundert Seiten umfassendes Manuskript zur europäischen Schäfer- und Landlebendichtung entstand, das – ausgehend von den griechischen und römischen Prototypen – durch so gut wie alle modernen Literaturen bis an die Schwelle des deutschen 17. Jahrhunderts führte. Nicht entfernt in allen zur Verhandlung kommenden Sprachen kannte man sich zureichend aus. Doch in der Gruppe saßen die Fachleute aus den Nachbardisziplinen und halfen generös aus. Ob Hans Ulrich Seeber oder Peter Boerner, Michael Kunze oder Reinhold R. Grimm, Bernhard Kytzler oder schließlich der unvergessene Egon Schwarz, der mit seiner Frau auch zu Gast in Osnabrück einkehrte, sie alle wurden mit Übersetzungswünschen überrascht, versagten sich nie und trugen zum Zustandekommen des Werkes bei, wie auch an dieser Stelle dankbar bezeugt werden darf. Publiziert wurde es nicht, war es doch dazu bestimmt, den ersten Band einer schon damals auf drei Bände berechneten Geschichte der europäischen Arkadien-Utopie zu bilden. Auf ›Arkadien und Gesellschaft‹ war es getauft, und genau unter jenem 129
Titel kam ein Extrakt in dem dreibändigen Sammelwerk zur Publikation, in dem das unvergeßliche ZiF-Jahr fortlebt. Über Jahrzehnte bewahrten sich die in Bielefeld geschlossenen Freundschaften. Nun ist die Zeit gekommen, da ein Mitglied nach dem anderen dahingeht und zunehmend Trauer die Erinnerung durchwirkt. Für den aus der Nähe angereisten Germanisten aber blieb Bielefeld auch in anderer Hinsicht eine besondere Station. Es war merklich, daß das Niveau aus der Gründerphase vielleicht doch nicht in dem Maße gehalten werden konnte wie zu Beginn erhofft und auf der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren noch erfahrbare Wirklichkeit. Eben dieser Umstand mag womöglich auch Wilhelm Voßkamp bewogen haben, in späteren Jahren einen Ruf an die Universität Köln anzunehmen. Tatsächlich erkühnte man sich, eine Bewerbung um die Nachfolge auf den Weg zu bringen. Sie verlief völlig wider Erwarten erfolgreich. Neuerlich wiederholte sich die Qual der Wahl. Und wieder bedurfte es eines energischen Eingriffs von außen. Der Präsident der Universität Osnabrück Rainer Künzel, dem man sich freundschaftlich verbunden wußte, rückte mit einem generösen Bleibeangebot heraus. Es betraf nicht nur eine Person, sondern zugleich ein Gebäude des werdenden Instituts für die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Da wußte man, wie zu votieren sei, und es gehört zu den beglückenden Erfahrungen, daß die enge Verbindung zu Wilhelm Voßkamp keinen Schaden nahm. Bielefeld bezeichnete eine Wegscheide.
In der Hauptstadt des europäischen Späthumanismus
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nternationalität war wie im Berliner Wissenschaftskolleg, zu dem Walther Killy später laden sollte, auch das Signum des Bielefelder Forschungszentrums. Das mochte beigetragen haben zu dem Plan, zumindest eines der nur im Ausland zu absolvierenden Projekte während der Bielefelder Zeit in Angriff zu nehmen, und das mit dankbar entgegengenommener Unterstützung des 130
Projektleiters. In der ersten Biographie Martin Opitzens, verlautend aus dem Munde seines Freundes Christoph Colerus nach seinem Tod im Jahre 1639, die erst viel später zum Druck gelangte, war ausführlicher auch von Opitz’ diplomatischer Mission im Auftrage seines schlesischen Dienstherrn Karl Hannibal von Dohna die Rede. Frankreich stand im Begriff, in den Dreißigjährigen Krieg einzugreifen, und dem Dichter und Diplomaten Martin Opitz war es vorbehalten, im Paris Richelieus nähere Erkundungen einzuholen. Diese Episode lag bislang im Dunkeln. Das war merkwürdig genug, hatte Colerus doch bereits entscheidende Winke gegeben. Von einem Kreis der ›Puteanen‹ war da in einer hundert Jahre später erschienenen Übersetzung des lateinischen Köhlerschen Textes die Rede, in dem Opitz verkehrt und sich sachkundig gemacht habe. Was mochte sich dahinter verbergen, schließlich ging es doch um eine politische Weichenstellung von europäischer Dimension zu Beginn der dreißiger Jahre. In seiner ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹ hatten die Freunde, darunter auch Colerus, auf die bevorstehende Paris-Reise des Autors gleich mehrfach angespielt. Sie sollte eine zentrale Rolle in seinem Leben behaupten. Also galt es, für Aufklärung zu sorgen. Über Rudolf Vierhaus und über Reinhart Koselleck, der ja in Bielefeld wirkte, wurden Kontakte zum Deutschen Historischen Institut in Paris geknüpft. Dort nahmen Jürgen Voss und Fred Schrader den Ankömmling in Empfang und ebneten die ersten Pfade. Für mehr als ein Jahr sollte die Bibliothèque Nationale die bevorzugte Arbeitsstätte während immer wieder kurzfristig eingelegter Forschungsreisen werden, finanziert durch das ZiF, das seinen Gästen so gut wie alles bot. Nicht unvorbereitet kam der Germanist. Und doch stellte sich rasch heraus, daß von Grund auf neu zu beginnen sei. Die Bibliothek hegte im ›Salle de Réserve‹ auch den Nachlaß der Gebrüder Dupuy, denn um sie handelte es sich bei den ›Puteanen‹. Sie waren groß geworden im Umkreis des langjährigen Präsidenten des Pariser Parlaments Jacques-Auguste de Thou, dem Verfasser eines mehrbändigen Werkes über die jüngste Geschichte der Bürgerkriege auf französischem Boden. 131
Sie war mehr als eine Registratur der bis dato unvorstellbaren Begebenheiten. Sie war zugleich in antiker Manier ein Lehrstück, konzipiert in politischer Absicht und Aufklärung. Eine Nation, soeben unter Franz I. sich formierend, war in den Kämpfen zwischen Katholiken und Hugenotten an den Rand des Abgrunds geraten. Der Historiker gewahrte in allen Einzelheiten, was sich da abspielte und sich jederzeit wiederholen konnte. Zusammen mit seinen Freunden vor allem aus der Juristenschaft des Pariser Parlaments schickte er sich an, Konsequenzen herauszuarbeiten. Die Macht der konfligierenden Religionsparteien mußte gebrochen werden. Über ihnen hatte die königliche Autorität als Integral der Staatsmacht sich zu erheben, ausgestattet mit den beiden einschlägigen Instrumenten, die nur sie in der Hand halten durfte. Ihr oblag es, das Recht einer jeder weltanschaulichen und religiösen Gruppierung auf Praktizierung ihres Denkens und Glaubens zu garantieren. Und ihr allein kam das Recht zu, Sanktionen zu verhängen, sofern diesem Grundsatz zuwider gehandelt wurde. Privatisierung des Glaubens und Monopolisierung der Gewalt im Staat, verkörpert im Monarchen, gingen zusammen. Opitz war Zeuge dieser Formierung der modernen Staatsraison in der allein zeitgemäßen Form des frühen Absolutismus und der mit ihr verknüpften politischen Philosophie. Die Gebrüder Dupuy aber, denen er ebenso begegnete wie einem Hugo Grotius, waren eingebunden in ein Netz von Diplomaten in nah und fern, die alle sich mehr oder weniger merklich zur Fraktion der ›politiques‹ bekannten. Die wußten und verstanden sich ganz im Sinne de Thous und seiner Freunde in erster Linie als Angehörige des einen weltanschaulich und religiös neutralen Staates, dessen Einheit und dessen Handlungsfähigkeit zur obersten Maxime aufgerückt war. Über Gutachten, historische Expertisen, theoretische Traktate etc. wirkten sie mit an der Fundierung des modernen Etatismus. Dabei kam ihnen ihre humanistische Schulung vielfach zustatten. Der Humanismus selbst erfuhr eine Metamorphose. Als Späthumanismus firmierte er fortan im Zeichen von Politik. Keine Biographie der großen gelehrten Köpfe um 1600, die diesen Einschlag nicht verriete. 132
Auch das Bild Opitzens stand unversehens in veränderten Zügen da. In Paris rüstete er sich für das Werk seines letzten Lebensjahrzehnts, und das stand im Zeichen der zweiten Phase des Dreißigjährigen Krieges und damit von Diplomatie und Politik. Sein jüngster Biograph aber, gute vierhundert Jahre später, hatte in Paris die nämliche Schulung genossen, die auf ganz andere Weise seinem Helden zuteil geworden war. Ein Bild des geistigen Kräftefeldes um 1600 war lebendig geworden, das die weitreichendsten Perspektiven eröffnete. Um 1600 war erstmals ein Resümee der konfessionellen Auseinandersetzungen gezogen worden und ein postkonfessionelles Denken und Dichten ins Blickfeld gerückt, das auf verschlungenen Wegen herübergeleitete in das Zeitalter der Aufklärung. ›Wahres Christentum‹ um 1600 und Philosophie der Religion um 1800 kommunizierten miteinander. In der Hauptstadt des europäischen Späthumanismus war der Grund für Entwicklungen gelegt worden, die in den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts ihre Erfüllung finden sollten. Mit neuen Augen las man Kosellecks ›Kritik und Krise‹. Und mit einem Historiker wie Ernst Hinrichs sowie einem Juristen wie Roman Schnur eröffnete sich ein nachhaltiges Gespräch. Die Paris-Exkursion blieb für den Frühneuzeitler eine verbindliche, das weitere Werk prägende.
Literatur und Volk
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olfenbüttel war in die achtziger Jahre eingetreten. Für die lebhaft am Kongreßgeschehen teilnehmenden und im voraus planenden Köpfe rückte gemäß dem Dreijahresturnus das Jahr 1982 in das Blickfeld. Auf dem Hofkongreß war eine Sektion zu leiten gewesen, die Gesamtleitung ging neben anderen an Conrad Wiedemann. Der gab deutlich zu erkennen, daß man nun selbst am Zuge sei. Man wollte und durfte sich nicht entziehen. Nur für eine kurze Frist war guter Rat teuer. Warum nicht auch in Wolfenbüttel nach der Behandlung eingeführter Themen einmal den Schritt in unbekanntes Terrain wagen ? So gut wie gänzlich 133
unerkundet waren die Spuren nichthöfischer und nichtgelehrter literarischer und kultureller Praktiken im 17. Jahrhundert. Was war mit den verheißungsvollen Ansätzen im 16. Jahrhundert im darauffolgenden Saeculum geschehen ? Flossen Ströme auf unterirdischen Bahnen weiter ? Gab es neue Entwicklungen, und wo und in welchen Kreisen wurden sie manifest ? Hatte man soeben über die höfische Kultur im Zeitalter des Barock gehandelt, so lag es nahe, nun einmal den Gegenpol zu umkreisen. ›Literatur und Volk‹ lautete der kühne Kongreßvorschlag, den man Paul Raabe unterbreitete, kühn auch deshalb, weil man selbst noch nie den damit verbundenen Problemen forschend nähergetreten war. Raabe willigte ein, und wieviel gäbe man darum, des Gesprächs sich zu erinnern, das sich darüber entspann. Nur eine Delikatesse ist gegenwärtig geblieben und doch wohl der Mitteilung wert. Die Unterbreitung des Themas im Dienstzimmer des Direktors war bereits mit einer Personalie verknüpft, schließlich war klar, daß nur ein Gremium für das Wagnis verantwortlich zeichnen konnte. An der Seite in Osnabrück wirkte in der Kunstgeschichte Jutta Held, in späteren Jahren als die große alte Dame im Fach allseits apostrophiert. Sie hatte soeben einen gehaltreichen Sammelband zum Thema ›Volk und Kultur‹ vorgelegt. Der aber war im Argument-Verlag als Beiheft des erwähnten Periodikums ›Das Argument‹ erschienen. Der Verlag bot links orientierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wenn abgekürzt so gesprochen werden darf, ein Forum der Publikation. Jutta Held war in leitender beratender Funktion frühzeitig für dieses tätig. Paul Raabe mußte Kenntnis davon haben und winkte ab. Wolfenbüttel durfte politisch nicht ins Gerede kommen, und der erfahrene Wissenschaftsorganisator hatte auch darauf ein wachsames Auge, was es zu verstehen galt. Das Personalkarussell indes drehte sich weiter, und auch auf andere Weise bewies das Thema seine Verfänglichkeit. In jedem Fall mußte ein Historiker mit von der Partie sein. Der Name des in der Schweiz wirkenden Historikers Peter Blickle fiel. Er war zu gewinnen, und in der Tat stellte sich alsbald ein überaus er134
freulicher Arbeitskontakt her. Zudem hatte sich die Volkskunde nach dem Krieg neu formiert. Und da es keineswegs nur um die Literatur gehen sollte, lag es nahe, einen angesehenen Vertreter hinzuzubitten. Die Wahl fiel auf Wolfgang Brückner, den Verfasser des einschlägigen Werkes über ›Volkserzählung und Reformation‹. Auch er sagte zu, und das Trio konnte seine vorbereitende Arbeit aufnehmen. Eine Reihe von Sitzungen wurden abgehalten, dann warf der Initiator das Handtuch, ohne daß Näheres von Interesse wäre ; die politischen Differenzen mit Brückner waren nicht zu überwinden. An die Stelle des Literaturwissenschaftlers trat der sehr geschätzte Kollege Dieter Breuer. Mit ihm hatte man eine – wiederum von Conrad Wiedemann angeregte – Kontroverse um bürgerliche Züge in der Literatur des 17. Jahrhunderts ausgetragen, welche der persönlichen Wertschätzung und dem weiteren Zusammenwirken keinerlei Abbruch tat. Breuer hatte soeben sein Buch zur oberdeutschen Literatur im 17. Jahrhundert vorgelegt und war auch von daher bestens vertraut mit den ganz anders gearteten Bedingungen literarischen Lebens in diesem Raum. In ihm hatten sich volkstümliche Elemente im kulturellen Gebaren entschieden lebensfähiger erwiesen als in den protestantischen Landschaften. Dieses Erbe konnte nun aktiviert und dem Kongreßgeschehen zugeführt werden. Drei Jahre später war das zur Verhandlung Gelangte in gedruckter Version zu studieren. Ein Durchbruch war erfolgt. Der gesamte Radius des thematischen Komplexes, der sich da eröffnet hatte, war abgeschritten worden und Dutzende von Fachleuten waren zur Stelle gewesen, die sich an der Vermessung im einzelnen beteiligten. Fragen zur Lage des Volkes im 17. Jahrhundert waren zur Sprache gekommen, das Bild des Volkes in der Literatur war thematisiert worden, der Musik und der bildenden Kunst war die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt worden, die dem Volk zugewandten und von ihm getragenen Gattungen waren inspiziert worden, um Lesefähigkeit, Leseverhalten und Buchbesitz war es gegangen, des weiteren um Flugblatt und Flugschrift, Kalender und Zeitung sowie um die immer noch blühende Anlei135
tungsliteratur ; beschlossen wurde der Reigen mit einem Blick auf die Formen explizit unterhaltender Literatur. Mehr war schlechterdings nicht zu erhoffen. Ein ungewöhnliches Thema hatte sich als eine Herausforderung erwiesen und ein lebhaftes, um nicht zu sagen phantastisches Echo gefunden. Dem derart zustandegekommenen Werk, das war sogleich zu erkennen, würde Dauer beschieden sein. Mit Freude und Genugtuung durfte man Rückschau halten. Und als nochmals drei Jahre später Paul Raabe selbst mit einem Vorschlag für ein Kongreßthema hervortrat, war sogleich allgemeine Zustimmung zu vernehmen. Über Formen und Institutionen der Gelehrsamkeit im 17. Jahrhundert sollte es gehen. Damit wurde zwischen Hof und Volk eine soziale und kulturelle Mitte anvisiert, die sich rühmen durfte, die eigentliche Trägerschicht der Literatur gewesen zu sein, und das nicht zuletzt in Ablösung der bürgerlichen Kreise, die ein Jahrhundert vorher die literarische Szene beherrscht hatten. Ein erster Kreis hatte sich geschlossen. Und so war es ein Glücksfall, daß weitere drei Jahre später nochmals ein neuer Bogen gespannt werden konnte, wovon zu berichten sein wird.
Im Zentralinstitut für Literaturwissenschaft zu Berlin
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ie Augen des Literaturwissenschaftlers blieben seit den sechziger Jahren selbstverständlich auch auf die Entwicklungen in der DDR gerichtet. Frühzeitig war Werner Krauss in den Gesichtskreis getreten. Und das bezeichnenderweise über die Wissenschaftsgeschichte. Diese blieb eine Domäne in dem zweiten deutschen Staat, ließen sich über sie doch die gesellschaftlichen und politischen Implikationen jedweder historischen Arbeit besonders präzise dartun. Über den späten Benjamin war man selbst auf das Problem aufmerksam geworden. ›Rezeption und Rettung‹ hieß bezeichnenderweise der erste eigene Versuch einer Annäherung an sein Werk, und das im Zeichen der Historismuskritik. Eben an dieser Stelle setzte auch Krauss den Hebel an. 136
Als man sich über die Opitz-Rezeption an einen entsprechenden Versuch machte und eine explizit kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte im Metzler-Verlag vorlegte, waren es eben jene beiden Autoren, die das theoretische Gerüst lieferten. Dessen Adaptation und womöglich seine nochmalige gesellschaftskritische Zuspitzung trug dem Autor weniger direkte Kritik als vielmehr offenkundige Distanzierung in maßgeblichen Kreisen des Faches ein. Man hatte sich erstmals methodologisch ›geoutet‹, wie es später heißen sollte. Richard Alewyn freilich, erfüllt von liberaler Gesinnung, ließ den linksradikalen Schlenker im Vorwort passieren und äußerte nur freundlich, die Resultate, welche der Durchgang durch zwei Jahrhunderte der Opitz-Rezeption gezeitigt hätten, sprächen für sich, wünschenswert wäre es freilich gewesen, auch das 20. Jahrhundert mit einzubeziehen. Es wurde ausgespart, und das nicht zuletzt, um die Auseinandersetzung mit noch lebenden Autoren zu vermeiden. Nicht ausgeschlossen, daß das in seinem Vorspann exponierte Buch Aufmerksamkeit auch an der einen oder anderen Stelle in der DDR erregte. In jedem Fall erfolgte im Jahr 1982 eine Einladung, im ›Zentralinstitut für Literaturwissenschaft‹ in Berlin/Ost mit einem Vortrag und anschließender Diskussion vorstellig zu werden. Wie häufig hatte man in Berlin geweilt, doch stets war es die Staatsbibliothek, in die der Weg führte. Persönliche Kontakte zu Vertretern der Literaturwissenschaft bestanden soweit erinnerlich nicht. Wohl aber war Herbert Jacob, der über die Maßen verdienstvolle Erneuerer und Vollender des ›Goedeke‹, stets wieder besucht worden. Schon hochbetagt, ging er in den Räumen der Akademiebibliothek, welche zu Teilen in einem Seitenflügel der Staatsbibliothek untergebracht war, seiner bibliographischen Tätigkeit nach. Einen mächtigen Apparat in Form verzettelter Karteikarten hatte er daselbst aufgebaut, aus dem er für sein singulär in der Forschungslandschaft dastehendes Werk unermüdlich schöpfte. Über Veröffentlichungen war die Literaturwissenschaft der DDR präsent, und das durchaus seit den sechziger Jahren. Die Romanistik hatte eine führende Stellung erlangt, und die erstreckte 137
sich unter der Ägide von Krauss vor allem auf das Zeitalter der Aufklärung. Schon 1955 lag der Sammelband ›Grundpositionen der französischen Aufklärung‹ vor. In ihm gaben sich neben anderen Jürgen Kuczynski und Hans Mayer, Manfred Naumann und Werner Bahner sowie Walter Markov ein Stelldichein, Autoren, denen man in der Folgezeit immer wieder begegnete. Das eigene Exemplar des Bandes ist bezeichnenderweise auf den Mai des Jahres 1966 datiert. Der Sammelband, in dem Krauss nicht explizit hervortrat, womöglich aber die nicht gezeichnete ›Vorbemerkung‹ verfaßte, eröffnete die ›Neuen Beiträge zur Literaturwissenschaft‹, die Krauss und Mayer, wie erwähnt, im Verlag Rütten & Loening herausgaben und in denen noch in den fünfziger Jahren dann auch Szyrocki publizieren sollte. Werner Krauss war man nicht mehr begegnet. Doch Manfred Naumann kam später wiederholt nach Osnabrück, wo er den Ehrendoktor der Universität erhalten hatte. Eine lebendige Beziehung verlief über den Osnabrücker Romanisten Lothar Knapp, der bei Erich Köhler promoviert und auch noch Köhlers Lehrer Krauss kennengelernt hatte. Wie oft gingen fortan die Gespräche mit Naumann zurück in die glanzvollen Jahre des wissenschaftlichen Aufbruchs in der DDR. Und so ebenfalls erst nach der Wende auf seiten der Anglistik, die vor allem Robert Weimann überaus eindrucksvoll vertrat. Er war zu einem Vortrag nach Osnabrück geladen, und so durfte berichtet werden, wieviel seine Shakespeare-Studien, auch aber der von ihm herausgegebene Sammelband ›Realismus in der Renaissance‹ dem über Arkadien in die europäische Literatur verschlagenen Germanisten bedeuteten. Selbst in die Slawistik der DDR hinein verliefen wenn nicht persönliche, so doch wissenschaftliche Kontakte. Eduard Winters Werk ›Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert‹ war nach dem wiederholten Aufenthalt in der Sowjetunion ein ständiger Begleiter. Und damit sind nur einige Namen genannt. Die Germanistik trat im Blick auf die nachmittelalterliche Literatur womöglich über das 16. Jahrhundert in das Blickfeld. Und das in enger Allianz mit der Geschichte und der Kirchen138
geschichte. Das Paradigma der ›frühbürgerlichen Revolution‹ machte Furore und schlug Wellen auch in der Bundesrepublik. Über den einschlägigen Sammelband des Hamburger Historikers Rainer Wohlfeil etwa erhielt man nähere Kenntnis. Ein direkter Weg zur Literaturwissenschaft führte wiederum über einen Sammelband, der in Analogie zu dem Aufklärungsband erneut das Schlagwort ›Grundpositionen‹ im Titel führte, nun aber gemünzt auf die deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts. Das 16. wie das 18. Jahrhundert bezeichneten die beiden Domänen der Historiographie in der DDR. 1972 war der Band erschienen. Ingeborg Spriewald, Hildegard Schnabel, Werner Lenk und Heinz Entner zeichneten für ihn verantwortlich. Von allen traten alsbald Publikationen hinzu, für die eigene Bibliothek zumeist erworben während der bibliothekarischen Exkursionen nach Berlin. Eine weitere ansprechende Reihe unter dem Titel ›Literatur und Gesellschaft‹ war gegründet worden. Sie erschien unter dem Dach der ›Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin‹ und gelangte folglich im Akademie-Verlag zur Publikation, von dem bereits so viele grundlegende Werke im heimatlichen Bücherschrank standen. Die ›Grundpositionen‹ entstammten dem ›Zentralinstitut für Literaturgeschichte‹ und waren im ›Aufbau-Verlag‹ herausgekommen, gleichfalls eine weitere erste Adresse für den Sammler. Nun aber sollte der Zeitpunkt nahen, da man die Autorinnen und Autoren persönlich kennenlernte. Und das über die erwähnte Einladung ins Zentralinstitut. Sie erging über Hans-Günther Thalheim. Den kannte man als Herausgeber der Schiller-Ausgabe und vor allem als Herausgeber der stetig konsultierten ›Weimarer Beiträge‹. Als Direktor des traditionsreichen Berliner Instituts für deutsche Sprache und Literatur und als Leiter des Herausgeberkollektivs einer Geschichte der deutschen Literatur am Zentralinstitut für Literaturwissenschaft hatte er eine hochrangige Stellung in der Kulturpolitik der DDR inne. Ihm oblag auch die Begrüßung des Gastes aus dem Westen, bevor er das Wort an den Leiter der Forschergruppe zum 17. Jahrhundert Werner Lenk weitergab. Zu beiden Wissen 139
schaftlern stellte sich alsbald ein näherer Kontakt her, und so wurden mit großer Freude auch private Einladungen in Berlin bzw. Potsdam entgegengenommen, anläßlich derer es zu keinem Moment an Gesprächsstoff mangelte. Dem geladenen Referenten war es darum zu tun, das 17. Jahrhundert stark zu machen, das bis dato in der DDR merklich zurückgestanden hatte. Das konnte nur gelingen über eine Einbettung in den Prozeß der literarischen Evolution in der Frühen Neuzeit, und das selbstverständlich im europäischen Kontext. Das mit Kolleginnen und Kollegen in Osnabrück erprobte Projekt kam zur Sprache. Bürgerliches Bewußtsein auch in der Literatur, so der Tenor, war im Blick auf das 17. Jahrhundert nur über den Gelehrtenstand zu entfalten. Die Humanisten erwiesen sich seit dem Trecento in Italien als die maßgeblichen Repräsentanten einer zunächst behutsamen und sodann sich radikalisierenden Unterminierung feudaler Mentalität. Eben dafür hielt gerade auch die Schäferdichtung in Deutschland seit Opitz genügend aussagekräftige Beispiele bereit. In der Runde saß Heinz Entner, erste Autorität auf dem Gebiet des Humanismus bis an die Schwelle des 17. Jahrhunderts. Mehrere bahnbrechende Arbeiten zur Konzeption und Entwicklung der Poetologie im Umkreis des Humanismus hatte der Altphilologe vorgelegt und seine Untersuchungen bis hin zu dem Verfasser der ›Deutschen Poeterey‹ aus dem Jahr 1624 geführt. Auf seine Reaktion durfte man folglich besonders gespannt sein. Und da ergab sich die denkwürdige Situation, daß er vorsichtigen Einspruch erhob. Hier habe ein verdecktes Klassenkampfmodell Pate gestanden, das in dieser Form keine Entsprechung in der Literatur besäße. Da wurde der Gast auf dem Boden der DDR implizit eben jenes ›Linksradikalismus‹ geziehen, der schon in Wolfenbüttel zu dem lautstarken Zwischenruf geführt hatte. Nicht einfach also war es, dem sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansatz im Kontext von Humanismus und Gelehrtentum die gehörige Plausibilität zu verleihen, doch blieb es dabei ja nicht. Die Kollegen mit Werner Lenk an der Spitze verwickelten ihren Akademiekol140
legen in eine intensive Diskussion, und das um der Sache willen und keineswegs, um dem Gast beizuspringen. Ein Stein war ins Rollen geraten. Was hätte Schöneres im wissenschaftlichen Raum geschehen können ? Und als dann mehr als zehn Jahre nach den ›Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert‹ unter der Leitung von Werner Lenk die ›Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert‹ im Aufbau-Verlag erschienen, war mit Freude und Genugtuung zu registrieren, das nachhaltig in der Zwischenzeit auch in der DDR über das so lange im Schatten verbliebene 17. Jahrhundert gearbeitet worden war. Wieviel aber hätte man darum gegeben, wenn der reiche Ertrag auch der großen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts noch zugute gekommen wäre. Sie war schon 1962 als fünfter Band im Rahmen des monumentalen Unternehmens im Verlag ›Volk und Wissen‹ publiziert worden. Das war entschieden zu früh, und vielerlei Wünsche blieben offen. Zu einer Revision kam es jedoch vor der Wende nicht mehr. Im Westen mußte tatkräftig Hand angelegt werden.
Literaturgeschichtliche Reprise
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tudierende der Germanistik in den fünfziger und sechziger Jahren griffen nach dem ›de Boor/Newald‹. Ein jeder wußte, was sich hinter diesem Kürzel verbarg. Es handelte sich um die von Helmut de Boor und Richard Newald in der Nachkriegszeit an der Freien Universität in Berlin konzipierte ›Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart‹. Ein gemeinsam abgefaßtes Vorwort hielt Sinn und Zweck des Vorhabens prägnant fest : »Der Plan zu unserer Literaturgeschichte entstand im Jahr 1946 aus der unmittelbaren Notlage der Zeit. Dem Studenten sollte ein knappes Lernbuch in die Hand gegeben werden, das seine nächsten Bedürfnisse befriedigte.« Wie es zu gehen pflegt, wuchs sich das Unternehmen rasch aus. Aus einem ›Lernbuch‹ wurde ein ›Handbuch‹. Weit mehr als ein halbes Jahrhundert später liegen achtzehn Bände vor ; ein Abschluß 141
indessen ist immer noch nicht erreicht, drei Bände stehen weiterhin aus. Gleichwohl, Generationen von Studierenden hat das voluminöse Werk begleitet. Der Blick auf den angesprochenen Leserkreis hatte sich bewährt, ungeachtet der sehr verschiedenen Anlage und Durchführung der Bände. Schon im Sommer des Jahres 1955 hatte de Boor im Vorwort zur zweiten Auflage des ersten von ihm verfaßten Bandes, der bis an die Schwelle der ›höfischen Literatur‹ des Mittelalters heranführte, die traurige Mitteilung zu machen, daß sein Kollege Richard Newald im Jahr zuvor einem Herzschlag erlegen sei. Das war für das Werk wie für das Fach ein schwerer Verlust. Newald war erste Autorität auf dem Gebiet des deutschen wie des italienischen Humanismus gewesen. Er hatte vor dem Krieg engen Kontakt mit der Warburg-Bibliothek in Hamburg gehabt und über Jahre an dem nach wie vor einzig dastehenden wissenschaftsgeschichtlichen Projekt ›Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike‹ mitgewirkt. Er wäre der Mann gewesen, den Band zum Humanismus in der Literaturgeschichte zu schreiben. Statt dessen hatte er ein Jahrhundert später eingesetzt, offensichtlich daran interessiert, sich ein neues literarisches Terrain zu erobern. ›Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit. 1570–1750‹ ist der 1951 erstmals erschienene fünfte Band der Literaturgeschichte aus seiner Feder tituliert. Damit war der Nagel auf den Kopf getroffen. Aus dem Späthumanismus heraus mußte das 17. Jahrhundert in den Blick genommen werden, wenn anders der ›barocken‹ Verirrungen gewehrt werden sollte. Zugleich war markiert, daß sich die Überlieferungsbestände des Zeitalters bis tief in das 18. Jahrhundert hinein erstrecken ; zehrte doch noch ein Goethe von ihnen. Das ›lange‹ 17. Jahrhundert war Forschung und Lehre gewonnen. Und wenn das Werk sich neben den drei de Boorschen Bänden zum Mittelalter nicht gleich nachhaltig durchsetzte, so überrascht es den Kenner doch immer wieder durch am Rande eingestreute Einsichten und Ausblicke. Inzwischen ist es durch eine Neubearbeitung von Volker Meid abgelöst worden. Das darf nicht hindern, ihm eine von Respekt 142
getragene Erinnerung zu bewahren und sich stets wieder darin umzutun. Der ein Jahrzehnt später erschienene und schon erwähnte fünfte Band einer ›Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart‹ im Verlag ›Volk und Wissen‹ der DDR, dem Zeitraum zwischen 1600 und 1700 gewidmet, wurde im Westen, soweit erinnerlich, so gut wie nicht wahrgenommen. Das Augenmerk war im Blick auf die Literaturgeschichtsschreibung in der DDR, wie erwähnt, auf die beiden benachbarten Jahrhunderte konzentriert. Es war evident, daß mit einem antihöfischen Impetus, wie er das Werk prägte, für dieses Zeitalter nicht viel auszurichten war. Wenn da die Nürnberger, um nur diese Anmerkung zu machen, unter dem Stichwort »Absinken zu Formspielerei und Aussage im Dienste der höfischen und feudalabsolutistischen Ideologie« abgehandelt wurden und selbst Catharina Regina von Greiffenberg unter das Verdikt fiel, so stand es schlecht um das literaturwissenschaftliche Instrumentarium und seine ideologische Imprägnierung. Eine umfassend geschulte jüngere Generation hier wie dort war gefordert, auf Abhilfe zu sinnen, soviel zeichnete sich frühzeitig ab. In der Bundesrepublik standen für das 17. Jahrhundert neben dem Newaldschen Band vor allem die teils berühmten Werke aus der Vorkriegszeit zur Verfügung. Sie alle aber waren gekennzeichnet durch einen eigenwilligen Duktus und kamen als Lehrbücher nicht eigentlich in Frage. Je tiefer man sich jedoch einarbeitete in die Epoche, um so ergiebiger nahmen sie sich aus. Ein denkbar knappes Wort muß folglich verlauten, ist uns doch immer wieder daran gelegen, Namen von Personen und Werken zu erinnern, die den Weg begleiteten. Noch in den zwanziger Jahren hatte der Wiener Germanist Oskar Walzel ein großräumig konzipiertes ›Handbuch der Literaturwissenschaft‹ ins Leben gerufen, das in guter Wiener Tradition explizit europäisch orientiert war. Der Band zum 16. und 17. Jahrhundert war Günther Müller anvertraut. Unter dem Titel ›Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock‹ erschien er 1927 und war in der Nachkriegszeit durch 143
einen Nachdruck in der ›Wissenschaftlichen Buchgesellschaft‹ leicht greifbar. Alewyn rühmte ihn, fügte aber hinzu, daß er eigentlich nur etwas für Kenner sei. Man mußte die von Müller präsentierten Texte gelesen haben, um die stets einfallsreichen Kommentare und Bogenführungen würdigen zu können. Immerhin. Hier erstmals war klargestellt, daß der Weg in das Zeitalter über den Roman und insbesondere über das Theater führte, und eben damit traf Müller sich genau mit seinem Nachfolger in Bonn Richard Alewyn. Gleichfalls in die Vorkriegszeit zurück führte eine ›Geschichte der deutschen Literatur‹ im Metzler-Verlag, ja der erste, dem Mittelalter gewidmete Band war sogar schon 1912 erschienen. Das Werk, betitelt ›Epochen der deutschen Literatur. Geschichtliche Darstellungen‹, geriet in zwei Weltkriege hinein und kam nur in einem eher äußeren Sinn zu einem Abschluß. Wenn ein dem Nationalsozialismus nachhaltig zugetaner Germanist wie Hans Naumann 1931 den letzten Band zur ›deutschen Dichtung der Gegenwart‹ vorlegte, der nicht ersetzt wurde, dann liegt der fragmentarische Charakter des Werkes auf der Hand. Spätere Versuche des Verlages, im Zusammenwirken mit dem Beck-Verlag, der den ›de Boor/Newald‹ betreute, noch einmal einen großen Wurf zu wagen, zerschlugen sich. Dem Renommee des Metzlerschen Unternehmens tat das Angedeutete im Einzel fall jedoch keinen Abbruch. Wenn zum Beispiel ein Friedrich Sengle – mit dem das ›arkadische‹ Gespräch über den meisterhaften Essay ›Wunschbild Land und Schreckbild Stadt‹ in München gepflegt wurde – sein dreibändiges Werk zur ›Biedermeierzeit‹, wie er es apostrophierte, der Reihe zuführte, so war für eine erste Adresse gesorgt. Auch die Bände von Ferdinand Josef Schneider zur Aufklärung und zur ›Geniezeit‹, von Franz Schultz zur Klassik und Romantik sowie von Fritz Martini zum bürgerlichen Realismus wurden von den Dozenten stets wieder empfohlen und begleiteten die Studierenden. Für die Frühe Neuzeit war auf besondere Weise gesorgt, ohne daß der Begriff selbstverständlich zur Verfügung gestanden hätte. Ebenfalls noch in den zwanziger Jahren, als das Unternehmen 144
florierte, war Wolfgang Stammler mit seinem Werk ›Von der Mystik zum Barock‹ hervorgetreten, mit dem der Anschluß an das vorangegangene zum Mittelalter erfolgte. Das Buch erlebte im Jahr 1950 eine wesentlich erweiterte Neuauflage, in der es zur gebührenden Wirkung gelangte. Gewidmet ist es Paul Merker, mit dem zusammen Stammler ebenfalls noch vor dem Krieg das ›Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte‹ herausgegeben hatte, das zu einem ›Klassiker‹ im Fach aufstieg. Der Freund und Greifswalder Kollege war noch in den letzten Kriegsmonaten im Gefolge eines Luftangriffs auf Dresden ums Leben gekommen. Es wäre ansonsten gewiß an beiden gewesen, die Neuauflage zu besorgen. Sie zeichnete sich durch zwei immense Vorzüge aus. Erstmals wurde die Geschichte des Humanismus in feingliedriger räumlicher Strukturierung dargeboten. Und genauso wichtig : das Werk war mit einem schlechterdings phantastischen, viele hundert Seiten umfassenden literaturkundlichen Anmerkungsapparat ausgestattet. Es blieb ein ständiger Begleiter und war in seiner Anlage vor dem Veralten geschützt. Der Nachfolgeband führte überraschend nach Königsberg. Dort wirkte Paul Hankamer, gefolgt in den vierziger Jahren von Hans Pyritz. Die beiden grundverschiedenen Gelehrten taten sich zu einem Gemeinschaftswerk zusammen, der eine als Literaturhistoriker, der andere als Bibliograph. 1932 war Hankamer nach Königsberg berufen worden. Wußte er, was ihm bevorstand ? Die geographische und politische Exklave Ostpreußen mit ihrer Hauptstadt war nationalsozialistischer Propaganda frühzeitig besonders ausgesetzt. Bald nach der Machtübernahme wurden Hankamers Vorlesungen von den Braunhemden massiv gestört. Seine Entsetzung war nur eine Frage der Zeit. Im Jahr 1936 erfolgte sie. Pyritz rückte später von Berlin aus als Mitglied der NSDAP nach. Hankamer aber verschlug es nach Solln bei München. Dort erlebte er den Einmarsch der amerikanischen Truppen. Bei einem Gang durch ein unwegsames Waldgelände wurde er von herumstrolchenden Marodeuren erschossen. Um sein bitteres Schicksal wissend, schlug man seine Literaturgeschichte auf, die er eben noch vor seiner Entlassung in 145
Königsberg hatte zum Abschluß bringen können : ›Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts‹. Es war das Werk eines Einzelgängers. Dankbar bekannte er sich zu jenen Forschern, denen er Wesentliches verdankte : Josef Nadler, Günther Müller, Hans Pyritz und Richard Alewyn. Mit letzterem wußte er sich über Stilgeschichte als einem Zentrum literatur- und kunstwissenschaftlicher Arbeit verbunden. »Bildungsgeschichte, Soziologisches und Religionspsychologisches – alles möchte nur Mittel zur wissenschaftlichen Erkenntnis des Stils sein, in dem uns die Totalität der menschlichen Daseinsform jener Zeit entgegentritt.« (Vorwort). Das war weit ab von dem, was die Zeit erforderte. Ein Schein von Noblesse liegt über Person und Werk, welches noch einmal hohe Ansprüche an seine Leser stellt.
Ständischer Ordo und Literatur des Barock
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oweit ein Blick auf das Rüstzeug, welches in Form von Epochendarstellungen in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit zur Verfügung stand. Ist eine einzige Ergänzung statthaft, so betrifft sie die Literaturgeschichte Josef Nadlers. Massiv hatte er dem Geist der Zeit Tribut gezollt und damit Autor wie Werk gleichermaßen geschadet. Was aber mochte einen Emigranten wie Richard Alewyn bewogen haben, stets wieder auch auf Nadlers Ausführungen zu verweisen ? Nadler hatte den katholischen Kulturraum erschlossen, und mit ihm insbesondere die Macht des Theaters. Auch das mochte den Verfasser des ›Großen Welttheaters‹ zu der gerne verlautenden Reminiszenz veranlaßt haben. Doch kam anderes hinzu. Wie keiner vor ihm, auch ein Gervinus, ein Scherer, ein Burdach nicht, hatte Nadler den deutschen Sprachraum in seiner Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit vermessen. Wenn irgendwann also noch einmal eine Geschichte der Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit als allfällige Aufgabe in das Blickfeld rückt, dann bleibt Nadler dafür ein entscheidender Gewährsmann. Auch darum wußte Alewyn mit 146
Gewißheit, und in seinem Schülerkreis muß die Einsicht sich auf unterirdischen Bahnen gefestigt haben. Nach dem Gesagten ist deutlich, daß eine explizit sozialgeschichtlich orientierte Darstellung der Literatur des 17. Jahrhunderts bis dato fehlte. Um so überraschender, daß sie fast zeitgleich in zwei Anläufen versucht wurde, und das wiederum im Rahmen zweier auf die Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart zielenden Unternehmungen. Überraschend auch deshalb, weil sie allein blieben. In Westberlin war im Gefolge der 68er-Bewegung unter der Ägide von Gert Mattenklott und Klaus R. Scherpe eine Reihe ›Literatur im historischen Prozeß‹ eröffnet worden, deren Bände in keinem Seminar fehlten. Ein solcher zum 17. Jahrhundert fehlte. Ganz offensichtlich ermangelte es des Rüstzeugs, um ein so schwieriges Geschäft zu schultern, für das es eben auch um Schützenhilfe aus der DDR schlecht bestellt war. Und so nicht anders in der von Viktor Žmegač herausgegebenen ›Geschichte der deutschen Literatur‹, die gleichfalls erst im 18. Jahrhundert einsetzte, die Klippe des 17. Jahrhunderts also ebenfalls mied. Als dann später der Westdeutsche Verlag mit einem wohlfeilen ›Grundkurs Literaturgeschichte‹ auf den Markt kam und im Mittelalter einsetzte, war es ausgerechnet wieder das 17. Jahrhundert, welches nicht zur Behandlung kam. Daß in Horst Rüdigers Literaturgeschichte im Sigbert Mohn-Verlag der Richard Alewyn überantwortete Band zum Barock nicht erschien, wurde bereits erwähnt. Und daß der Reclam-Verlag in dem Reigen nicht fehlen wollte, lag auf der Hand. Er hatte für den zweiten Band seiner Literaturgeschichte den einstigen Berner Lehrer Werner Kohlschmidt gewinnen können. Er führte den Leser ›vom Barock zur Klassik‹, und es war erkennbar, daß noch einmal der Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert lag. Es bestand folglich erheblicher Handlungsbedarf im Blick auf das 17. Jahrhundert. Ein eigenständiger Band für das Zeitalter mußte konzipiert werden, um diesem die gebührende Aufmerksamkeit in neuer sozialgeschichtlicher Optik zu sichern. Zwei illustre Verlage versprachen sich Besonderes von dem Wagnis, 147
nochmals eine Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart unter ihr Dach zu nehmen, und das jeweils im Zusammenhang mit Lektoraten, die über gute Beziehungen zu vielen der angesprochenen Autoren verfügten. Im Rowohlt-Verlag nahm Horst Albert Glaser als Herausgeber die Zügel eines zehnbändigen Werkes ›Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte‹ im Zusammenwirken mit Burghard König vom Verlag in die Hand. Bei Hanser firmierte eine zwölfbändige ›Sozialgeschichte der deutschen Literatur‹ unter der Schirmherrschaft des Bielefelder Kollegen Rolf Grimminger, der mit HansJoachim Simm vom Verlag zusammenarbeitete. Den dritten Band in Rowohlts ›Deutscher Literatur‹ betreute Harald Steinhagen. Er arbeitete in Bonn und hatte soeben im Erich-Schmidt-Verlag in einer großangelegten Reihe einen Band ›Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk‹ herausgebracht. Benno von Wiese zeichnete gleichfalls als Herausgeber, doch war klar, daß der eigentliche Anteil bei Steinhagen lag. Er verfaßte den Einleitungsbeitrag ›Dichtung, Poetologie und Geschichte im 17. Jahrhundert‹, der grundlegende Perspektiven eröffnete. Der an dem Band mitwirkende Autor des vorliegenden Buches hatte besonderen Grund zur Dankbarkeit. Steinhagen räumte ihm proportional fast übermäßig viel Platz für seinen Martin Opitz gewidmeten Artikel ein, in dem die langjährigen Studien erstmals zu einem Gesamtporträt zusammenflossen. Der enge Kontakt verlor sich nicht wieder. Es war ein glücklicher Umstand, daß Steinhagen nun auch den Band bei Rowohlt übernahm. ›Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung : Späthumanismus, Barock 1572–1740‹ war er tituliert. Neuerlich also gelangte das lange 17. Jahrhundert zur Darstellung. 1572 war die Psalmenübersetzung von Schede Melissus erschienen, 1740 Gottscheds Gedenkrede auf Opitz. Die Epochengrenzen waren präzise markiert. Und Steinhagen machte nun Ernst mit dem immer wieder proklamierten ›gesamthistorischen Ansatz‹. Erste Sachkenner zur Epoche in sozialhistorischer Sicht, zur Konfessions- und Verfassungsgeschichte, zur Philosophie, zur Staatstheorie, zu Wissenschaft und Gelehrsamkeit ka148
men zum Zuge. Erst danach ging es über zur Literatur, und das in rund einem Dutzend Kapiteln, für die gleichfalls die erste Garde im Fach sich zur Verfügung hielt. Dieser Band hätte nicht besser gestaltet werden können. Sollte ein weiterer neben ihm bestehen, so mußte er ein gänzlich anderes Aussehen haben. Ohne dies zu ahnen, denn viel früher waren die Vorbereitungen zu treffen, schritt man zur Tat. Grimminger hatte darum gebeten, den Band zum 17. Jahrhundert in die Hand zu nehmen. Das geschah mit Freude, zugleich aber mit einer gehörigen Portion Besorgnis, stand doch vor Augen, was erwartet wurde und zu leisten war. Auf zwei Ebenen verliefen die Vorbereitungen. Man traf sich wiederholt im Kreis der Gesamtherausgeber und stellte das Konzept des Bandes vor, das – wie nur allzugut erinnerlich – auf heftige Kritik von Klaus Briegleb stieß, zu dem sich indes ein enger Kontakt über Hamburg bewahrte. Und man traf sich im Kreis der Mitwirkenden an dem Band zum 17. Jahrhundert, und das wiederholt und stets an wechselnden Orten. Nie wieder wurde so intensiv diskutiert und um die Anlage des Bandes gerungen wie eben unter diesen Fachleuten, die für das jeweilige Sachgebiet als die ersten Autoritäten gelten durften. Über sie und damit über das Konzept muß ein Wort verlauten. Ungewöhnlich genug waren hier wie dort die Umstände. Eine derartige Konstellation sollte sich nicht wiederholen. Der Herausgeber war mit der Skizze eines ersten Planes hervorgetreten und durfte erfahren, daß er weitgehend auf Konsens stieß. Konsequent sollte im Rahmen einer Sozialgeschichte der Literatur von den sozialen Brennpunkten her der Ausgang genommen und die Literatur um sie gruppiert werden. Das war ein überaus riskanter Ansatz. Das Mittel der Wahl blieb die Organisation des Materials nach Gattungen. Die aber rückten nun in das zweite Glied, ja, sie mußten überhaupt daraufhin abgeklopft werden, ob und wie sie sich den sozialen Kristallisationspunkten zuordnen ließen. Eben diese Frage beschäftigte die Teilnehmer am nachhaltigsten, und am Ende verblieben aus nur allzu verständlichen Gründen doch immer noch Fragezeichen im Einzelfall. Worum ging es ? 149
Ein Modell war zu entwickeln, den literarischen Verhältnissen angepaßt und doch nicht aus ihnen zu deduzieren, vielmehr dem literarischen und kulturellen Handeln vorgeordnet. Vier Zentren und Schichten wurden nominiert, der Klassenbegriff von vornherein und einvernehmlich eliminiert. Selbstverständlich war ein Artikel zur höfischen Literatur vorzusehen. Er wurde dem Marburger Kollegen Jörg Jochen Berns anvertraut, den man aus seinen grundlegenden wissenschaftsgeschichtlichen Veröffentlichungen kannte, jedoch erst in Wolfenbüttel persönlich kennenlernte. Neben den Hof-Artikel aber sollte – und das eher ungewöhnlich – einer zum Adel und seinem Beitrag zur Literatur im 17. Jahrhundert treten. Für ihn war der in Wolfenbüttel arbeitende Kollege Gotthardt Frühsorge nominiert, der gleichfalls zusagte. Den Beitrag zu ›Stadt und Literatur im 17. Jahrhundert‹ hatte sich der Herausgeber vorbehalten. Und dann sollte explizit ein besonders diffiziler Vorstoß in das Terrain der unterständischen Schichten und ihr literarisches Agieren versucht werden. Peter Ukena, frühzeitig an der Zeitschrift ›Daphnis‹ mitwirkend und gleichfalls in Wolfenbüttel residierend, hielt sich dafür bereit. Doch damit war ersichtlich nicht alles getan. Grundlagendisziplinen im 17. Jahrhundert blieben die Rhetorik und die Poetik. Noch vor Wilfried Barner und vor Volker Sinemus war Joachim Dyck mit einschlägigen Pionierstudien zum Gegenstand hervorgetreten. Auch ihn konnte man für das in Vorbereitung befindliche Werk gewinnen. An seine Seite jedoch trat sein Freiburger Kollege Wilhelm Kühlmann, beide Schüler Wolfram Mausers, über dessen richtungsweisende Arbeiten zu den Anfängen der Barockdichtung vor und neben Opitz man ins Gespräch und alsbald in freundschaftliche Verbindung getreten war. Ein womöglich weißer Fleck war verblieben, und ein Kollege hatte hellsichtig darauf aufmerksam gemacht. Es war Dieter Breuer, auch er gesellte sich voller Tatkraft dem kleinen Forscherkreis bei und blieb zuständig für den weiten katholischen Kulturraum. Ausgemachte Sache war es schließlich, daß auch bei Hanser ein historischer Grundlegungsbeitrag den Band eröffnen sollte. Der Schüler Ger150
hard Oestreichs und Bruder des Herausgebers Jörn Garber übernahm die gleichfalls schwierige Aufgabe. Soweit das Konzept und die beteiligten Personen. Nicht verhehlt werden soll, daß nach wie vor mit Stolz auf Themen und Namen zurückgeblickt wird. Innovativeres wäre nicht möglich gewesen. Doch eben im Irrealis ist zu sprechen, und das wiederum nicht zum ersten Mal. Der Herausgeber des Gesamtwerkes wie der Verlagslektor zeigten sich überaus angetan. Und sie waren es auch, die nachhaltig immer wieder ermunterten. Der Herausgeber selbst war es, der dem Vorhaben im Wege stand. Nicht vermochte er zu sehen, wie das immense Feld ›Stadt und Literatur‹ zuverlässig und flächendeckend zu bestellen sei. Es fehlte an allzu vielen Stellen an vorbereitenden Arbeiten. Ein großer Kongreß, der Abhilfe hätte schaffen können, war noch nicht in Sicht, die Lücken im eigenen Wissensbestand zu eklatant. Der schwere Gang war zu tun, Verlag und Mitautoren von der Kalamität zu unterrichten. In bleibender Dankbarkeit ist auch an dieser Stelle einzubekennen, daß kollegiale Verbindungen und nachmalige Freundschaften über dem Scheitern nicht zerbrachen. Der Kieler Kollege Albert Meier übernahm das Zepter und legte zu Ende der neunziger Jahre einen neu zugeschnittenen Band vor, zu dessen Erscheinen ein aufrichtiger Glückwunsch auszusprechen war.
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ür längere Zeit war Abschied zu nehmen. Und das nicht nur von Deutschland, sondern immer wieder auch von Europa. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, Japan und Brasilien, nicht zu vergessen Israel, traten teils wiederholt ins Blickfeld. Und immer wieder waren es neben dem bibliographischen Vademecum und dem mit ihm verknüpften arkadischen Traum auch Gestalt und Werk Benjamins, die zum Aufbruch beflügelten. In Philosophie und Praxis allegorischen Denkens und Schreibens kreuzten sich die Linien, und wenn der Funke übersprang, leuchtete die bukolische Szene in messianisch angehauchten Farben. 151
Das mochte beitragen zur Ausgestaltung von Vortragsofferten und Beiträgen zu Kongressen. So gut wie nie aber wurden darü ber die Bibliotheken und mit ihnen Antiquariate und Sammler aus den Augen verloren. Die Bibliotheks- wie die Vortragsreise blieben die Medien, über die Sponsoren gewonnen und Neuland betreten wurde. Den Anfang machten die Vereinigten Staaten. Wie stets führten die Wege zur Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn. Also war ein Programm vorzulegen. Das erstreckte sich rasch auf ein knappes Vierteljahr, wenn auch nur die wichtigsten Stationen berücksichtigt sein sollten. Wichtigkeit aber bemaß sich nach zwei durchaus divergenten Parametern. Das Bibliothekskonzept mußte überzeugen, und Universitäten bzw. Departments waren auszuweisen, an denen Kollegen wirkten, die zu Vorträgen einluden. Einfallsreichtum und gute Verbindungen sind vonnöten, wenn ungewöhnliche Pfade eingeschlagen werden. Es bleibt stets wieder dankbar zu erinnern, daß in der DFG Personen wirkten, die dafür das gehörige Verständnis aufbrachten und ihrerseits um unkonventionelle Lösungen nicht verlegen waren. Am Ende waren es Mittel des Auswärtigen Amtes und des Stifterverbandes der Deutschen Wissenschaft, die von der DFG aufgetan werden konnten. Doch eine so aufwendige Reise mußte zugleich über Vortragshonorare finanziert werden. Beides zusammengenommen ermöglichte den in dieser Form gewiß selteneren Aufbruch in die Neue Welt. Mehr als ein Dutzend Orte wurden angesteuert. Im nachweihnachtlichen New York hob der Reigen an. Im mächtigen Tower des Sheraton Hotels in Manhattan versammelte sich die ›Modern Language Association of America‹ zu ihrer Jahrestagung 1983. Man weiß um den daselbst stets herrschenden Auftrieb von Tausenden gerade auch jüngerer zukunftsfroher Talente. Entsprechend formieren sich Hunderte von Sektionen. In der von Karl F. Otto geleiteten zu Erzählformen des 17. Jahrhunderts kam man zu Wort, und das – wie sollte es anders sein – mit einem Beitrag zu ›Formen pastoralen Erzählens im frühneuzeitlichen Europa‹. Erstaunlich gut besetzt war das Forum der Zuhörerschaft. Und wenn dann aus deren Mitte heraus unversehens eine Person her152
vortritt, nachhaltig gratuliert und sich vorstellt, dann mag es sein, daß Sinn und Zweck derartiger Tourneen sich gleich bei Eröffnung erfüllen. Karl-Ludwig Selig war ans Pult getreten, hielt eine Fülle von Reisetips bereit und überreichte später, als ein intensiver Kontakt sich geknüpft hatte, ein Werk über Sannazaro, den Schlüsselautor der nachantiken Hirtenszene. New York ! Ein knappes Vierteljahr stand für ein aufwendiges Programm zur Verfügung. Die Ostküste in den Süden hinab und in den Norden hinauf abklappernd und auch in dem gleichnamigen Staat Quartier nehmend, kehrte man doch stetig in die Stadt zurück ; kein Kraut war gegen die alsbald sich einstellende Sehnsucht gewachsen. Die europäischen Hauptstädte sind das eine, und wohl dem, der sich in ihnen bewegen durfte und heimisch fühlt. Der Titel einer Weltmetropole kann nur einmal vergeben werden. Er gebührt, wie unstrittig, New York. Hier sind Mitglieder aller Völkerschaften zu Hause, und ihre Areale zu durchschlendern ist ein Vergnügen eigener Art. Andersgeartete und gewiß seltener wahrgenommene Perspektiven eröffnen sich dem Bibliotheksreisenden. Das ist seine Chance, und das allein berechtigt ihn, auch im nachhinein wiederholt das Wort zu ergreifen. Denn der erste Weg, nach einem morgendlichen Blick in den Central Park, führte die Fifth Avenue hinab zur New York Public Library und damit zuallererst zu Direktor David H. Stam, dem die Grüße Paul Raabes überbracht wurden und der sodann einlud zum Plaudern im Club. Als der Stadt zugehörige Bibliothek gibt sie sich nomenklatorisch ; als Weltbibliothek, so nur in den Vereinigten Staaten möglich, tut sie sich demjenigen auf, der sie betritt und sich anschickt, in ihr zu arbeiten. Kein denkbares Terrain auch in bezug auf die Geisteswissenschaften, das nicht bibliothekarisch in ihr bestellt wäre. Das aber sehr rasch zu gewahren, ist die beobachtete Erschließung behilflich, die der Besucher aus Europa so nicht kannte und die ihm überall in den Staaten die bibliothekarischen Wege eröffnete. Über ein System von cross-cards werden dem Benutzer über den gesuchten Titel hinaus zugleich weitere mit ihm kommuni153
zierende angeboten, und das nicht nur hinsichtlich von Monographien, sondern ebensowohl auch von unselbständiger Literatur. Mitten in einen bibliophilen Kosmos findet sich der Besucher alsbald hineinversetzt. Und wenn dann wie in New York ein Hunderte von Bänden umfassender ›Dictionary Catalogue‹ bereitsteht, sind dem Forschen keine Grenzen gesetzt. Eben in den Vereinigten Staaten angekommen wußte man, daß Besonderes, so noch nicht Erlebtes auch bibliothekarisch bevorstünde. Entsprechend rasch füllte sich der Bibliothekskoffer mit Notizen, der späteren Auswertung anheimgestellt. Verharren wir aber – und dies nicht zuletzt um des Exempels willen – bei New York, so ist stets des örtlichen wie des personellen Umfelds zu gedenken. Der – womöglich sogar einzige ? – Vorzug, den der Bibliotheksreisende genießt, besteht darin, daß er des Tages seinen Geschäften nachgeht und zumal des Abends über freie Stunden verfügt. Auch das ist in den Vereinigten Staaten bekanntlich anders, weil die Bibliotheken Tag und Nacht geöffnet haben. Man gewährt sich also Freiräume. Sie erst im Verbund mit den Bibliotheksbesuchen erschöpfen das an diese Form des Reisens geknüpfte Versprechen. Auf andere Weise wird, sofern alles glücklich sich fügt, auch jenseits der Mauern der Bibliothek eine kulturelle Totalität erfahrbar. Wenn einen jeden Abend am Rande des Central Parks in einem Haus wie der Metropolitan Opera ein verheißungsvoller Titel zur Aufführung gelangt, wenige Schritte vom Hotel entfernt die Carnegie Hall allabendlich ihre Tore öffnet und an einem freien Wochenende die einzig dastehenden Museen bis hin zur Pierpont Morgan Library durchstreift werden, dann ist in der Weltstadt Weltkultur erfahrbar. Und sollte es in Washington, in Los Angeles und Umgebung anders sein ? Amerika bot seine Glanzseite dar. Ein besonderes Glück aber hält ein jeder Ort für den Bibliotheksreisenden auch in anderer Form bereit. Keinen verläßt er, ohne nicht Bekanntschaft gemacht zu haben mit Personen, die zumeist neu in das Leben eintreten und mit denen sich in aller Regel über das mündliche Gespräch hinaus ein nachfolgender 154
Briefwechsel entspinnt. Auf der Amerikareise war manches insofern anders, als Kolleginnen und Kollegen vor allem aus gemeinsamen Wolfenbütteler Aufenthalten schon bekannt waren, die man nun wieder treffen durfte. So hatte Karl F. Otto, in Chicago lehrend und frühzeitig in Wolfenbüttel gegenwärtig, die Einladung zu der von ihm geleiteten Sektion in der ›Modern Language Association‹ ausgesprochen. In Wolfenbüttel war man sogleich über die Sprachgesellschaften ins Gespräch gekommen, denen Otto eine kleine Darstellung gewidmet hatte. Jahrzehnte später ist er weiterhin ein gern gesehener Gast in Osnabrück, und fachlich verbindet nicht zuletzt das gemeinsam betriebene und seit langem auf Hamburg konzentrierte bibliographische Gewerbe. Von New York also war ein quer durch das Land führender, an Bibliotheken und Personen entlang sich erstreckender Weg zu nehmen. Und dabei kam noch einmal ein Wolfenbütteler Glücksfall zustatten. Frühzeitig war Paul Raabe in die Planungen einbezogen worden. Er verfügte über Kontakte zu den meisten der Direktorinnen und Direktoren der Bibliotheken, die besucht werden sollten. Und so avisierte er den Kollegen, wo immer dies sich anbot. Was das aber bedeutete, ist kaum in einem Satz zu sagen. An jedem neuen Ort, an dem man eintraf und sich aufmachte zur Bibliothek, wurde man erwartet und alsbald empfangen. Stets waren Grüße dabei und stets war Vorsorge getroffen, daß der Aufenthalt ersprießlich und ertragreich verlaufen würde. Nicht selten aber hatten auch die Kolleginnen und Kollegen vor Ort die Initiative vorab in den Bibliotheken ergriffen. Eine glücklichere Ausgangslage war nicht denkbar. Nun kam es darauf an, aus der Chance etwas zu machen. Doch neben dem Erkunder von Bibliotheken war der Fachwissenschaftler als geladener Vortragender unterwegs. Man hatte der DFG Themen nominieren müssen, und dies wo immer möglich in Abstimmung mit der Kollegenschaft vor Ort. Vier Schwerpunkte schälten sich heraus, der Pastorale, der Friedensutopie im Humanismus, dem ›Cabinet Dupy‹ und Walter Benjamin gewidmet. Ein Gastvortrag ist in den Vereinigten Staaten ein gesellschaftliches Ereignis von Rang. Und dazu gehört die Einladung zu einem 155
anschließenden opulenten Mahl im Kollegenkreis und immer wieder auch im häuslichen Rahmen. Hier ist der Ort für den lebhaftesten Austausch. Und wenn dann unversehens die Aufnahme in einen Tulpenorden erfolgt, dann mag eine derartige Episode illustrieren, wie einfallsreich gerade auch der nichtoffizielle Part wahrgenommen wird. Unvergeßliche Erinnerungen knüpfen sich an die Szenen am Rande und an die vielen Personen ringsum. Ihrer zumindest teilweise namentlich zu gedenken, kann und möchte der überglücklich Zurückschauende sich nicht versagen. In New York selbst führten die Wege wiederholt sowohl zur State University als auch zur Columbia University. An der ersteren begegnete man Ulrich Maché, mit dem sich vor allem über Zesen das Gespräch entspann, während an der Columbia eben Karl-Ludwig Selig residierte. New York aber ist bekanntlich auch ein Hauptquartier des Antiquariatshandels. Der unvergessene Timm Zenner, Chef des Cicero-Verlages in Morsum auf Sylt, hatte einen Kontakt zu H. P. Kraus hergestellt, dessen Bücherreich selbstverständlich aufgesucht wurde, nicht zuletzt, um Bücherpakete für die heimische Unibibliothek zu akquirieren. Dann aber wirkte am Broadway ja auch Mary S. Rosenberg. Eben dort waren die Kostbarkeiten vor allem aus den Kreisen der Emigranten zu inspizieren. Ermißt man das Glück, daß bei ihr nach Jahrzehnten des vergeblichen Suchens die Festschrift für Richard Alewyn aufgetan wurde ? Eingeleitet wird sie mit einem Grußwort Herbert Singers, das dieser im nämlichen Wortlaut in freier Rede bereits zu Alewyns Abschied 1967 in Bonn vorgetragen hatte ; ›Dem Wesen des Festes‹, garniert mit Alewynschen Wendungen, sowie dem Sinn einer ›Fest-Schrift‹ ging er nach, und das in wenigen Sätzen, wie sie unter den Schülern Alewyns nur er zu formulieren wußte. Ist es ein Anlaß zu überschwenglichem Festjubel, so fragte Singer, wenn Prospero seinen Mantel ablegt ? »Die Verwandlung auf dem akademischen Theater, die des Festes Anlaß ist, fordert weder pompöse Triumphbögen noch den düsteren Prunk eines castrum doloris heraus ; eher Nachdenklichkeit und eine letzte Erinnerung an das Vergängliche und das 156
Dauerhafte. Rasch vergessen sind die mühseligen Tagwerke und Nachtwachen eines Gelehrtenlebens ; was dauert, ist das Geschriebene. Allzu voreilig scheint Prosperos Vorsatz : ›I’ll drowne my book.‹ Nicht Resignation steht dem Feste zu, sondern Zuversicht. Und nicht zuletzt der Jubel des befreiten Ariel : Merrily, merrily shall I live now | Under the blossom that hangs on the bough.« Der Übergang ins Neue Jahr wurde in Ithaca verbracht, wo der Jugendfreund Peter Uwe Hohendahl an der Cornell University ein weithin sichtbares ›Institute for German Cultural Studies‹ aufgebaut hatte, das der die Frühneuzeitler in Osnabrück soeben Versammelnde neugierig inspizierte. In Philadelphia erwartete John A. McCarthy den Reisenden, engagiert in der Lessing-Forschung und der soeben ins Leben gerufenen Lessing-Society, der beizutreten in den USA vereinbart wurde, und das nicht zuletzt im Blick auf den gehaltvollen Jahresband der Gesellschaft. In der Library Company of Philadelphia nahmen James N. Green sowie Edwin Wolf II. und in der Van Pelt Library Daniel Traister die überall mithingeführte BukolikaSuchliste entgegen, die dann, wie stets, wohlbearbeitet den Rückkehrenden in der Heimat erwartete. Wenn an einer Stelle das aus der Gründungszeit herrührende Versprechen, wie es sich mit dem Namen der Vereinigten Staaten verknüpft, erfahrbar wird, so ist es in Philadelphia. Nimmt es Wunder, daß die Bilder und Worte der Gründerväter neue Lebendigkeit erlangen, da ein Präsident während der Niederschrift dieser Zeilen im Begriff steht, das Land und mit ihm die Welt in den Abgrund zu reißen ? Und dann Princeton ! Wie nahe war der Ort die Jahre über in der Ferne für den Verehrer Thomas Manns gewesen. Nun durfte er betreten werden. Schon in Bielefeld war Walter Hinderer auf einem Kolloquium dabeigewesen. Nun empfing er den Gast in dem illustren Forschungsquartier. Eine Geschichte der politischen Lyrik im 17. Jahrhundert war geplant. Auf eine solche hatte man lange gewartet, wurde doch in jedem Fall über sie Neuland erschlossen. Im Südwesten im Umkreis der reformierten Pfalz war vor und neben Opitz eine unerhört reiche politische Publizi157
stik erblüht, durchweg antikatholisch orientiert und getragen von den Hoffnungen, die sich mit dem Aufbruch des Heidelberger Kurfürsten zur Übernahme der böhmischen Königskrone in Prag verbanden. Man traf sich in gemeinsamen methodischen Überzeugungen und kehrte beflügelt in die wiederum unbeschreiblich reiche Bibliothek zurück, wo Elizabeth H. Beatson am ›Index of Christian Art‹ arbeitete und so die Unterhaltung rasch herüberglitt zu den geistlichen Hirten, die in allen Künsten ihre Spuren hinterlassen hatten. Das Erlebnis an der Ostküste, man wußte es vorher, sollte sich natürlich mit Yale verbinden. Curt von Faber du Faur würde man nicht mehr antreffen, er war 1966 gestorben. Doch seine engste Mitarbeiterin und Nachfolgerin Hedwig S. Dejon hielt sich bereit, um dem immer neue Wünsche Äußernden aus dem unerschöpflichen Schatz das Begehrte herbeizubringen. War diesem aber im voraus bewußt, daß er in Yale zugleich in ein Hauptquartier der neulateinischen Studien und speziell der Barockforschung gelangt war ? Anläßlich des vierzigjährigen Bestehens der Sammlung Faber du Faur auf amerikanischem Boden bereitete George C. Schoolfield einen Barockkongreß vor. Und das mit Unterstützung seines Schülerkreises, der immer wieder mit wichtigen Arbeiten auf dem Gebiet der Neolatinistik hervorgetreten war, an verschiedenen Stellen in den USA wirkte und nun im Zuge der Reise persönlich gegenwärtig war. Intensiv war der Schriftenaustausch bereits mit Karl S. Guthke in den vorgegangenen Jahren gewesen. Jetzt hielt er sich an der Harvard University bereit, vermittelte den obligatorischen Gastvortrag und geleitete zu dem Kurator der Rara-Abteilung der wiederum einzig dastehenden Bibliothek Roger E. Stoddard, Paul Raabe freundschaftlich verbunden. Erneut aber überraschte auch Harvard auf ganz andere Weise. Raabe nämlich hatte den Reisenden bei dem Emigranten Walter Grossmann, dem Direktor der Bibliothek der University of Massachusetts in Boston, und seiner Frau Maria angekündigt. Ein wunderschönes Geschenk hielten sie bereit, eine Studie zum Wittenberger Humanismus. Würde man je auf diese aufmerksam geworden sein ? Nun fügte sie sich 158
ein in die Folge lokaler Zentren des Humanismus, die erkundet wurden, weil eben in ihnen vielfach noch die Wurzeln für die Transformation des literarischen Lebens im 17. Jahrhundert liegen. Woher aber wußten die liebenswürdigen Gastgeber, daß der Bibliotheksreisende auch in Amerika Ausschau hielt nach versprengten Sammelbänden mit Gelegenheitsdichtung ? Gleich zwei solcher Konvolute legten die Grossmanns dem Gast vor, und dankbar bestätigte dieser, daß es die einzigen gewesen seien, die er bislang auf amerikanischem Boden zu Gesicht bekommen habe. Und dann stellte sich heraus, daß Maria Grossmann an der Harvard Divinity School in Cambridge wirkte. Dorthin war der Nachlaß Paul Tillichs gekommen, und Frau Grossmann war intensiv damit befaßt, ihn zu erfassen und zu erschließen. So führte das Gespräch hinüber in die Theologie und damit zu Helmut Thielicke, aber auch zu den Frankfurtern um Horkheimer und Adorno, denen Tillich nahegestanden hatte. Als dann aber zum Abschied der Gast auch noch Walter Grossmanns Werk über den radikalen Pietisten Johann Christian Edelmann überreicht erhielt, regte sich ein Gefühl des Glücks, wie es nur der Sammler kennt. Viele Male sollte es sich auf dieser Reise neuerlich melden. Die erste Station auf dem langen Weg in den Westen war die University of Michigan in Ann Arbor, wo Roy C. Cowen mit seiner Frau das Quartier bereitete und das Vortragsarrangement in die Hand nahm. Selten gut vorbereitet traf man ein, erfolgte der Abstecher doch gezielt. Gerhard Dünnhaupt arbeitete in Ann Arbor. Er freute sich unbändig über den bevorstehenden Besuch und hielt schon vorab brieflich viele Informationen über die Bestände in den einzelnen Bibliotheken bereit. Auch erzählte er, daß die Wurzeln seiner Familie in Osnabrück und Umgebung lägen, ja, auch zu den Voßkamps in Osnabrück bestanden einst Verbindungen, wie nun zu hören. Dünnhaupt war inmitten der Vorbereitungen für eine Neuauf lage seiner Barock-Bibliographie auf das Berlin-Problem und damit auf die Auslagerungen nach Schlesien gestoßen. »Die Gröditzburger Sachen sind hoffentlich noch auffindbar. Ob Für159
stenstein noch vollständig ist, muß sich zeigen. Mir sind schon Einzeldrucke aus Fürstenstein im Antiquariat begegnet – also haben sie wohl Teile davon zerstreut und verkauft.« Postwendend gingen sogleich nähere Informationen zurück, doch zeichnete sich bereits ab, daß die Umschichtungen im Gefolge des Zweiten Weltkrieges das Kardinalproblem jedweder auf das 17. Jahrhundert gerichteten bibliographischen Arbeit bleiben würden. In Sachen Königsberg und Simon Dach sollten sie alsbald eklatant zutage treten. Kontinuierlich blieb man über das von der DFG initiierte Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts auch publizistisch in Kontakt. Schließlich aber und zu guter Letzt ? Auch noch einen Titel für einen Reisebericht hielt Dünnhaupt bereit. Jahrzehnte später gelangt er, verbunden mit einer dankbar bekundeten Referenz, zur Publikation : Iter Americanum. An der Indiana University in Bloomington lehrte Giles R. Hoyt, einem jeden ›Barockisten‹ durch sein Buch über Anton Ulrichs ›Octavia‹ vertraut. Nun wurde es dem ›Barockgelehrten und Freund‹ – so die Widmung – persönlich überreicht. Das Ehepaar Hoyt hatte die Betreuung übernommen, und alsbald stellte sich jene persönliche Verbundenheit ein, die eben die schönste Mitgift einer jeden Vortrags- und Bibliotheksreise bleibt. »Dein Aufenthalt bei uns war für meine Arbeit sehr wichtig. Man fühlt sich hier doch ein bißchen isoliert vom geistigen ›Hauptstrom‹.« Mit diesen Worten wurde der Briefwechsel eröffnet, und auf deutschem Boden traf man sich wieder. In Bloomington betrat man ein befreundetes Haus. Nancy und Peter Boerner waren ein Jahr in Bielefeld dabeigewesen, so war es selbstverständlich, bei ihnen an der Indiana University Station zu machen. Wieviel wäre zu erzählen ; es muß bei einer Episode bleiben. Die Boerners pflegten intensiven Kontakt mit Oskar Seidlin und arrangierten tatsächlich eine Begegnung. Sie stand im Zeichen Richard Alewyns. Die Eichendorff-Studie, einem einzigen Satz aus dem ›Taugenichts‹ gewidmet, den interpretierend Alewyn die Raum-Erfahrung Eichendorffs herausgesponnen hatte, bildete die Brücke. Und tatsächlich erzählte 160
Seidlin auf dezente Nachfrage hin dann doch von der Jugend in Oberschlesien, den Jahren in der Roten Studentengruppe zu Frankfurt am Main und der Emigration, zu der er von Martin Sommerfeld ermuntert worden war. Ihn kannte er aus Frankfurt, wo er auch Adorno, Horkheimer, Mannheim und wie sie hießen noch gehört hatte. Ein Jahr später war er tot. Die Boerners, von nie versagender menschlicher Güte und Freundlichkeit, waren bei ihm in seinen letzten Tagen, und ein langer Brief an eine Freundin Nancy Boerners, den man lesen und in Kopie zu sich nehmen durfte, berichtete von dem Austausch am Krankenbett im Zeichen von Goethes Faust. Nun ist auch die Stimme des Freundes Peter Boerner verstummt. In Cincinnati gab der Schüler Schoolfields Richard E. Schade seiner Freude Ausdruck, den ›vielbewunderten Schäfer‹, wie er sich ausdrückte, endlich persönlich kennenzulernen. Und dabei blieb es nicht. Schäfer von literarischer Statur tun sich gerne in ›Orden‹ zusammen. Die Pegnitzschäfer sind nur die berühmtesten unter ihnen. Ihre Sippschaft ist über alle Erdteile verstreut. In Cincinnati hatte sich in barocker Manier der ›Ohio TulpenOrden‹ konstituiert, zünftig ausgestattet mit einem Emblem und einem Motto, lautend auf ›Natur und Kunstverstand‹ sowie einer poetischen subscriptio : Nemt an von lieber Hand Die Tulpe / die gemahlt Natur und Kunstverstand / Der Gärten Sinnebild / Sie ist mit Blut besprützet / Gedüppelt / Himmelblau. Gesprenkelt / wundgeritzet / Ihr Kleid ist gelblichroht / geflammet/ schammarirt / Voraus hat sie sich heut auf dieses Fest geziert.
Nun wurde der Gast inmitten des Winters der Mitgliedschaft gewürdigt, und das in stets beobachteter Gepflogenheit, ausgestattet mit einer pictura und umspielt von pastoraler Poesie unter dem Stern der Nürnberger : 161
Zu flinken Freuden Flocken frieren, musizieren, heut’ durch Himmels kalte Auen. Schäfer kommen, uns zu frommen : amöne Spiele voller Laun’. Schäfchen zu flinken Freuden uns winken, nahe Ohios frierenden Gauen. Flocken nun fließen ! Tulpen nun sprießen, wollige Bäume schöner zu schauen ! Singe wieder Schäfers Lieder, terrible Kälte aufzutauen.
Also hatten der locus amoenus und der locus terribilis auch in Cincinnati Wurzeln geschlagen und den poetischen Geist beflügelt. Die schäferliche Muse bleibt eine über die Zeiten hinweg unerschöpfliche. Auch nach Madison in Wisconsin verlief die richtungsweisende Schiene über Bielefeld. Klaus L. Berghahn hatte mit seiner Frau ebenfalls ein Jahr lang am ZiF geweilt. Dem Wissenschaftshistoriker war er natürlich über seine Schiller-Studien bekannt. Nun trat über den literarischen Austausch der methodenkritische und politische hinzu, verbunden mit immer wieder konstatierter Übereinstimmung, welche sich über einen lebhaft geführten Briefwechsel stets erneut bestätigte. Die University of Wisconsin in Madison war eines der Zentren in der lebhaften Diskussion seit den späten sechziger Jahren, kreisend um die Erneuerung der 162
Germanistik. Die ›Michigan Germanic Studies‹ waren vielleicht die sichtbarste und auch in Deutschland nachhaltig wahrgenommene Manifestation dieser gerade auch wissenschaftsgeschichtlich einschlägigen Bemühungen. Und so war es kein Zufall, daß in Madison auch Jost Hermand weilte. Ihn kannte man vor allem aus seinem Werk ›Synthetisches Interpretieren‹, das in keinem Seminar zur Einführung in die Literaturwissenschaft fehlte. Nun war es ihm vorbehalten, den Gastredner vor großem Publikum einzuführen. Was später in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik aus der Feder von Hermand aktenkundig werden sollte, klang schon hier an. Dem Gast sei über seine Rekonstruktion bürgerlich-gelehrter Mentalität im 17. Jahrhundert als eines bislang fehlenden Gliedes der Brückenschlag zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gelungen. Anschließend plauderte man entspannt am Mendotasee und wußte, daß man sich auch in Deutschland wieder begegnen würde. Jutta Held und Norbert Schneider pflegten engen Kontakt mit ihm. Vielleicht von keinem anderen Kollegen war vor und nach der Wende soviel Erhellendes über die kulturelle und politische Situation in der DDR zu erfahren, in der der Kunsthistoriker Hermand unter Richard Hamann ja begonnen hatte. Die Einladung selbst aber erfolgte über Charlotte L. Brancaforte. »Besuchen Sie uns einmal in Wisconsin ?«, hatte sie gefragt. »Man müßte es nur einige Zeit vorher wissen, um Sie liebevoll in unserem ›Round Table‹ sowohl den Kollegen als auch den Studenten vorführen zu dürfen. Hinterher verspreche ich Ihnen meine weltbekannte Lasagne …«. Voller Dankbarkeit schrieb sie, hatte sie doch einen Gesprächspartner gefunden, mit dem sie tatsächlich über Fridericus Berghius und damit über Breslau plaudern konnte. Soeben war dessen lateinische Teilübersetzung des ›Lazarillo de Tormes‹ zusammen mit einer fulminanten Einleitung in Madison erschienen. Auch auf den Spuren dieses ungewöhnlichen Mannes war man in Breslau unterwegs gewesen und hatte der verehrten Kollegin berichten können. Berghius wirkte als Kanonikus auf der Breslauer D ominsel in der wiederum einzig dastehenden, prall mit mittelalterlichen 163
Handschriften gefüllten Bibliothek und dokumentierte die Schätze im Jahr 1615 in einem ›Index Librorum Bibliothecae Eccle siae Vratislaviensis‹. Keine zwanzig Jahre später wurde die Bibliothek von den Schweden geplündert. Der ›Index‹ von Berghius blieb das letzte Zeugnis. Über das Kloster Heinrichau war er in die Handschriftenabteilung der Breslauer Universitätsbibliothek gelangt, dürfte ausgelagert worden sein und kehrte offenkundig nicht zurück ; vergeblich haben wir immer wieder auf der Sandinsel Ausschau nach ihm gehalten. Über Zeiten und Kontinente hinweg entspinnt sich derart der Austausch in der Welt der Bücher, und gewährt die launische Göttin das Glück der persönlichen Begegnung im Zeichen eines Großen der Vergangenheit, so erfüllt es sich unverhofft. Die letzte Station rund um die Seenlandschaft im nordöstlichen Amerika bildete Chicago. Persönlich vertrautes Terrain wurde neuerlich betreten, denn auf die frühen Wolfenbütteler Jahre datierte die Freundschaft mit Karl F. Otto zurück. Ihm war die Einladung in die Staaten zu danken, und nun empfing er den bereits geraume Zeit durch das Land Ziehenden in Chicago. Schon die Ankündigung eines Besuches noch von Deutschland aus war mit einer Frage und Bitte verbunden. Gerhard Dünnhaupt hatte brieflich von drei ›gewaltigen Bibliotheken‹ im Umkreis von Chicago gesprochen und insbesondere die Newberry Library hervorgehoben. Wäre es denkbar, sie zu besuchen und durfte man auf Hilfe hoffen ? Sehr Präzises verband sich mit dem Wunsch. Der Emigrant Hans Baron hatte in der Newberry Library die Stätte zur Schaffung seines zweiten Lebenswerkes gefunden. Als Herausgeber der Schriften von Ernst Troeltsch und des Florentiner Kanzlers Leonardo Bruni war er in der Vorkriegszeit hervorgetreten, dem Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte und zumal Walter Goetz verbunden. Die Erntezeit kam in den Staaten. 1955 erschien in der Princeton University Press sein zweibändiges Werk ›The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny‹. In seiner Eigenschaft als ›Research Fellow and Bibliographer‹ der Newberry Library zu Chicago hatte er 164
es verfaßt, die Quellenstudien dafür gingen jedoch noch zurück auf die Zeit der Weimarer Republik und zumal die vielen Aufenthalte in Florenz. Barons Werk blieb neben Burdachs ›Rienzo und die geistige Wandlung seiner Zeit‹ der wichtigste Begleiter auf dem Weg in die Renaissance. Von dem Florenz im Quattrocento wie es Baron gezeichnet hatte nicht anders als von dem Rom Rienzos in der Perspektive Burdachs war der Ausgang zu nehmen, wenn es um die Fundamentierung des Bildes der europäischen Frühen Neuzeit ging. Als wir in der Bibliothek eintrafen, hatte der hochbetagte Gelehrte sie bereits verlassen. Er war nach Urbana übergesiedelt, wo er 1988 starb. Doch nun hielt John A. Tedeschi sich vor Ort bereit, den Gast zu empfangen. Die Bibliothek war zu einer der großen Renaissance-Forschungsstätten im Land herangewachsen, deren Leitung Tedeschi oblag. Sehr wohl wußte auch er, daß damit eine große Tradition aus dem alten Deutschland in den Staaten eine Fortführung gefunden und durch viele namhafte Emigranten zugleich eine persönliche Verkörperung erfahren hatte. Hier im ›Center for Renaissance Studies‹ fanden Stipendiaten eine ideale Wirkungsstätte ; ein Forschungsquartier war um eine Bibliothek herum erwachsen – die ideale Kombination. Tedeschi aber verabschiedete seinen Besucher mit Handreichungen für die nächste Station. Sie lag in weiter, weiter Ferne, und zu ihr wurde die Reise nun angetreten. Karl F. Otto geleitete den Freund zum Bahnhof. Und der bestieg den sagenumwobenen Amtrak mit Bestimmungsziel Los Angeles. Zwei Tage lang bot ein Wohn- und Schlafzimmer bequemes Quartier, der Speisewagen in unmittelbarer Nähe. Was Touristen aus dem Ausland recht war, sollte auch dem Bibliotheksreisenden billig sein. Wie immer verband sich die Arbeit mit einem Vergnügen am Rande. Dazu gehörte die Erfahrung der Weiten eines Landes, das unaufhörlich mit neuen Ausblicken überraschte, und als am Ende die Rocky Mountains durchquert wurden, nahm das Staunen kein Ende. Los Angeles aber blieb wiederum für Wochen das Zentrum, von dem aus die Reisen in Kalifornien ihren Ausgang und ihr Ende nahmen. 165
Tedeschi hatte seinen Kollegen Fredi Chiapelli informiert, und so erschloß sich ein weiterer Zugang zur unerschöpflichen Renaissance. Soeben war in Los Angeles am ›Center for Medieval and Renaissance Studies‹ unter der Leitung von Chiapelli eine internationale Konferenz unter dem verheißungsvollen Titel ›The Fairest Flower. The Emergence of Linguistic National Conscious ness in Renaissance Europe‹ zu Ende gegangen. Das war das Thema der Wahl. 1985 erschienen die Akten des Kongresses, und ein Jahr später war Osnabrück am Zuge. Doch wieder blieb es dabei nicht. Chiapelli berichtete von einem Kongreß, der anläßlich der Vierhundertjahrfeier der ›Accademia della Crusca‹ in Florenz stattgefunden hatte. Unter dem Titel ›La Crusca nella tradizione letteraria e linguistica italiana‹ waren die Akten soeben erschienen. Wer unter den Kolleginnen und Kollegen mochte Kenntnis davon haben ? Der vornehmste Zweck des Reisens trat in seine Rechte ein. Taufrische Neuigkeiten waren zu erfahren, vertieft alsbald im Gespräch. Und am Ende konnte der Gast sich wie an so vielen anderen Orten mit einer Gegeneinladung revanchieren. Auch 1989 war schon im Visier, und den ersten Sachkennern in den Staaten hatte man seine persönliche Aufwartung machen dürfen. Die beiden Kongreßpublikationen aber, von Chiapelli persönlich auf den Weg gebracht, schmücken als kostbare und gewiß in Deutschland seltene Gabe den heimatlichen Bücherschrank, kehrt doch ein Bibliotheksreisender auch in dieser Hinsicht stets reich beschenkt zurück. Von Los Angeles aus wurde ausgeschwärmt an die kalifornische Küste, in den Süden hinab nach Irvine, in den Norden bis hinauf nach San Francisco. Unweit der Küste lagen Stanford und Berkeley ; desgleichen wollte die Huntington Library in San Marino besucht sein. Ein dritter kultureller, akademischer und bibliothekarischer Kosmos tat sich unter einem strahlenden Himmel auf, Wandern am Meeresstrand und Schwimmen gehörten hinzu. Und das nochmals eingebettet in gesellig-freundschaftliche Empfänge, die vergessen ließen, daß bald ein Vierteljahr vergangen war, da man unmittelbar in nachweihnachtlicher Zeit aufgebrochen war. Wo also beginnen in gebotener Kürze und Prägnanz, 166
die bewahrt sein wollen ungeachtet des vielen doch wohl Erzählenswerten. Zunächst zu dem womöglich doch berühmtesten Forschungsquartier, und also zu Stanford. Dort in der Bibliothek mit ihren soeben erreichten fünf Millionen Bänden war die ›German Collec tion‹ anzusteuern, in der in jüngster Vergangenheit vor allem die Emigranten in Handschrift und Druck so vielfältige Spuren hinterlassen hatten. Der Kurator der Abteilung Peter R. Frank hatte schon über Blake Lee Spahr von den bukolischen Avancen des Ankömmlings gehört. So lieferte er vorab wichtige Informationen. Teile der Bibliothek Rudolf Hildebrands, des Herausgebers des Grimmschen Wörterbuches, waren nach Stanford gelangt. Auch hatte die Bibliothek eine Sammlung mit Gelegenheitsdrucken erwerben können, herrührend aus Schlesien, nämlich aus der Bibliothek der von Nostiz, die soeben zur Versteigerung gelangt war, begleitet von kundigen Informationen Martin Birchers. Nicht nur Breslau selbst sowie Liegnitz und Brieg, Oels und Neisse traten da publizistisch in Erscheinung, sondern bis hinauf nach Danzig, Königsberg und Riga erstreckte sich die Kette der Druckorte. Auch die Vereinigten Staaten waren also unbedingt einzubeziehen in ein Projekt zur Erfassung dieses am Rande liegenden Schrifttums, welches keinen Eingang in den ›National Union Catalog‹ gefunden hatte und doch die erste Quelle für das literarische Leben blieb. Nicht genug zu danken war dem Hüter der Schätze in der Folgezeit für die regelmäßig eingehenden Meldungen über neu erworbene einschlägige Titel. Wie sonst hätte man Kenntnis davon erhalten sollen, daß Friedrich Cahlens ganz seltene Vergil-Übersetzung soeben nach Stanford gelangt war ? Reisen und Austausch von Informationen bleiben die beiden Seiten der einen, stets neue Züge freigebenden Medaille. Die akademische Hochburg Stanford aber blieb im Gesichtskreis, und das zunächst über den germanistischen Kollegen und zeitweiligen Sekretär der ›International Comparative Literature Association‹ Gerald Gillespie, und später über Hans Ulrich Gumbrecht, mit dem nochmals ein Forschungsjahr für Arkadien ins Auge gefaßt wurde. Es kam nicht mehr dazu ; soeben hat der renommierte Kollege seinen Dienst 167
beendet, begleitet von einer schönen Glosse, wie sie jüngst in der ›Süddeutschen Zeitung‹ zu lesen war. Selbstverständlich war ein Mitglied des ›Pegnesischen Blumen ordens‹, das man wiederholt in Nürnberg getroffen hatte, auch an seinem Wirkungsort in den Vereinigten Staaten zu besuchen. Blake Lee Spahr war anzumerken, wie sehr er sich freute, dem Gast nun auch die heimatlichen Gefilde im herrlich gelegenen Berkeley auftun zu können. Auch er war in Yale seinen auf den Nürnberger Orden gerichteten Studien nachgegangen und konnte aus erster Hand über Curt von Faber du Faur berichten. Seine Dissertation über die Schäfereien Sigmund von Birkens war nicht zum Druck gelangt. Aus seiner Hand durfte ein Exemplar entgegengenommen werden, seither ständig konsultiert und kommentiert, war es doch das erste Mal, daß das Thema seit Heinrich Meyers Vorkriegs-Dissertation wieder aufgegriffen worden war. Die Registratur des Archivs des ›Pegnesischen Blumenordens‹ mit dem Nachlaß Sigmund von Birkens im Zentrum bleibt eine nicht genug zu rühmende Pionierstat. Und wenn dann vor versammeltem Vortragspublikum erfüllten Herzens Dankesworte auch dafür formuliert werden dürfen, erfüllt sich auf andere Weise Sinn und Zweck der akademischen Exkursion in die Fremde. Berkeley geriet jedoch noch in anderer Hinsicht zu einem Brennpunkt forscherlicher Erkundung. Die Gestalt Konrad Burdachs tauchte überraschend auf. Seinen immensen Nachlaß hatte der große Gelehrte selbst noch penibel und unter Bewahrung des letzten Zettels geordnet und seiner Wirkungsstätte in der Preußischen Akademie der Wissenschaften übergeben. Er hat sich im Archiv der Akademie erhalten, ruht dort offensichtlich eher unberührt und ist doch eine wissenschaftliche Quelle ersten Ranges, die dem Burdach-Enthusiasten von Wolfgang Knobloch erschlossen wurde. Burdachs Bibliothek aber ging wie so viele andere große deutsche Gelehrtenbibliotheken in die Vereinigten Staaten und fand ihre Bleibe eben in Berkeley. Hans-Joachim Mähl hatte offenbar über die Berliner und nachmaligen Hamburger Germanisten nähere Kenntnisse und erzählte gerne, daß Burdach im Zuge seiner ausgebreiteten Studien 168
nur an den Wänden seiner Bibliothek in der Villa am Grunewald vorbeizuspazieren brauchte ; dort stand alles griffbereit beisammen. In Berkeley aber, so war seinerzeit zu hören, war die nähere Erschließung noch nicht erfolgt. Doch wie es dem Reisenden zu ergehen pflegt, tat sich an anderer Stelle unversehens ein Tor auf. In Irvine begegnete man dem Chair Thomas P. Saine. Der war auf welchen Wegen auch immer in den Besitz zahlreicher Widmungsexemplare von Burdachs Hand gekommen ; selbst Nadler befand sich darunter. In einer unvergeßlichen generösen Geste trennte er sich von einzelnen Stücken und überreichte sie dem Gast ; nun werden sie in der heimatlichen Bibliothek von gewiß Burdachschen Ausmaßen dankbar gehütet. So also mag der Übergang nach Irvine erfolgen. Hier warteten der Freund aus Bonner Tagen Helmut Schneider, der beste Kenner der Idylle auf deutschem Boden neben der unvergessenen Renate Böschenstein, sowie eine der wenigen ausgewiesenen Spezialisten bzw. Spezialistinnen des Benjaminschen Trauerspielbuchs Jane O. Newman auf den zu Vortrag und Gespräch angelangten Gast. Im kommenden Jahr, so erzählte Newman, sollte ein dem Werk Benjamins gewidmetes Symposion in Washington stattfinden, zu dem eine Einladung erging. Sie konnte aus Gründen, die sogleich hervortreten werden, nicht wahrgenommen werden. Und das blieb doppelt bedauerlich, denn der Aufenthalt in der mächtigen Library of Congress sowie der Folger Shakespeare Library war knapp genug bemessen gewesen, die reiche Gemäldekollektion der letzteren konnte auch nur in genau fokussierten Blickwinkeln angesteuert werden. Jane New man aber blieb die immer wieder gerne gesuchte Gesprächspartnerin die Jahrzehnte über, war und ist sie zugleich doch auch bestens vertraut mit der pastoralen Szene und dem allegorisch verklausulierten Sprachgebaren der Schäfer, zu welchem eine grundlegende Studie aus ihrer Feder vorliegt. Und nun hält sie sich tatsächlich bereit, dem Herausgeber des Trauerspielbuchs in der neuen Benjamin-Ausgabe von Christoph Gödde und Henri Lonitz neben Helmut Scheuer zur Seite zu stehen – Folge einer Jahrzehnte zurückliegenden Begegnung in Kalifornien. 169
Von Helmut Schneider aber, Anglist im Zweitfach, hatte man noch in Bonn Kenntnis erhalten von William Empsons ›Some Versions of Pastoral‹. Über sie und die Gespräche mit dem Freund schälte sich zunehmend der prospektive Gestus der Pastorale heraus, dem eben über das Eskapismusmodell so gar nicht beizukommen war, wie im nachhinein freimütig einzubekennen. Auch Schneider gehört seit frühesten Tagen zu den Zögernden im Fach, und dies wiederum mit Folgen für den passionierten Sammler. Eine schmale, bei Benno von Wiese entstandene Dissertation erschien 1975 in der Druckerei der Bonner Universität. Damit war sichergesellt, daß sie nur Kennern und Liebhabern zu Gesicht kommen würde, die dann freilich sogleich wußten, was sie an dem Büchlein hatten. Um die bürgerliche Idylle ging es am Beispiel von Vossens ›Luise‹. Die dieser Arbeit zugrundeliegenden Manuskripte aber holten entschieden weiter aus. Ein als ›Exposé‹ tituliertes Basiswerk gilt in eher knappen Strichen der ›bürgerlichen Idylle‹ in toto. Herausgewachsen aus ihm ist ein mehrere Hundert Seiten umfassendes Manuskript über ››Hermann und Dorothea‹ und die Tradition des bürgerlichen idyllischen Epos‹. Es führt über Goethe tief hinein in das idyllische Epos des 19. Jahrhunderts. Der Verfasser hütet die kostbaren Manuskripte und wird das ihm Mögliche tun, um sie im eigenen Arkadienwerk zu später Stunde zum Sprechen zu bringen. Groß war die Versuchung, gemeinsam nach San Diego aufzubrechen, wo Herbert Marcuse lange Jahre gewirkt hatte. Auf den endlosen Spaziergängen an der kalifornischen Küste tauchte seine Gestalt erinnernd immer wieder auf. Es kam nicht mehr dazu. Die Zeit reichte nur für einen Abstecher zusammen mit dem Freund nach San Marino und daselbst zur Huntington Library. Die Bibliothekarin Virginia J. Renner hatte gewarnt. Für die Bukolik sei nicht übermäßig viel zu erwarten, und das sollte sich bestätigen. Ein rechter Reisender aber tut keine Schritte umsonst. Die Direktorin Susan W. Hull nahm sich Zeit für die Gäste. Sie führte durch die herrliche Gemäldesammlung in ihrem Haus und verwies auf weitere Kostbarkeiten in den umliegenden Mu170
seen. Und so erfüllte sich ein weiteres Mal ein Wunsch, der die Wochen über immer wieder neue Nahrung gefunden hatte. Wo immer möglich wurde die Begegnung mit Rembrandt gesucht, dem Reisenden seit je Höchstes bedeutend. An vielen Stellen war sein Werk in zuweilen kaum faßbarer Fülle präsent, angefangen selbstverständlich gleich zu Beginn in New York. Nun, da die Reise sich dem Ende zuneigte, grüßte Rembrandt aus dem alten Kontinent, und Sehnsucht war nicht zu verhehlen. Wie gerne aber hätte man noch in Urbana bei Philipp M. Mitchell hereingeschaut, hätte in Austin Barbara Becker-Cantarino und George Schulz-Behrend die Hand geschüttelt, in St. Louis das Ehepaar Schwarz wiedergesehen, und was der Wünsche mehr sein mochten. Die Zeit aber lief ab. San Francisco durfte im kalifornischen Kaleidoskop nicht fehlen, und tatsächlich blieb es ein einziges Mal vornehmlich bei einem touristischen Programm. Der Schlußpunkt wurde schließlich in Santa Barbara gesetzt. Dort lebt und wirkt der Freund Gerhart Hoffmeister. Auch er sorgte für den obligatorischen Vortrag, lud Gäste in sein schönes Haus zu Umtrunk und Gespräch. Die freien Stunden aber gehörten dem Spazieren in einem splendiden Garten und an der Küste sowie dem täglichen Genuß von Wasser und Wellen daselbst. Rastend vermochte Rückschau gehalten zu werden. Eine derartige Reise macht man nur einmal im Leben. Wie viele Verabredungen waren getroffen worden, wie viele Besuche hier wie dort ins Auge gefaßt, wie wenige kamen zustande. Der Brief trat in seine Rechte ein. Ganze Aktenordner durchblätternd stehen Menschen und Städte wieder vor Augen. Zum Schicksal eines dem Reisen Ergebenen, stets auf Spurensuche, gehört auch, daß eine soeben erfahrene neue Welt zurücktreten muß, um der nächsten ihren Platz einzuräumen. Und nimmt diese sich dann in so gut wie jeder Hinsicht grundverschieden aus, dann ist nur das erinnernde Wort in der Lage, den immer neu zu leistenden Brückenschlag zu bewerkstelligen. Auf den hier vorgelegten Blättern treten die durchquerten Räume und die an ihnen haftenden Begebnisse und Begegnungen ein erstes und einziges Mal zusammen. 171
In den Weiten der Sowjetunion
N
icht lange Zeit verging, und neuerlich sollte gerüstet werden, das aber unter besonderen Auspizien. Sorgenfalten zeigten sich bei mehr als einem Gesprächspartner, wenn man berichtete, was da vonstatten gehen würde ; ja, in mehr als einem Fall wurde gewarnt, man möge doch bitte nicht in Sibirien enden. Eine unbekannte und von Fährnissen nur so strotzende Welt sei man zu betreten im Begriff. War das Wagnis womöglich allzu groß ? Rechtfertigte der erhoffte Ertrag das Eingehen eines unverkennbaren Risikos ? Mut wurde attestiert und zugleich doch der Hoffnung, ja der Erwartung Ausdruck gegeben, von einem Abenteuer dieses Kalibers Abstand zu nehmen. Es stand offenkundig Nicht alltägliches bevor. Der alte deutsche Sprachraum des Ostens hörte nicht auf, Faszination auszuüben und Neugierde zu erregen. Mit der Literatur hob es an. Alsbald aber traten die Bibliotheken hinzu. Und schließlich waren es die jüngsten politischen Entwicklungen, welche eine Herausforderung darstellten und am Ort vor allem im Gespräch näher erkundet sein wollten. Beherrschend aber blieb die Überwindung von Trauer. Ein Drittel deutschen Staatsgebiets, ohnehin bereits seit 1918 zurückgestutzt, war infolge eines verbrecherischen Regimes verspielt worden. Das mochte in erster Linie die Politik beschäftigen. Was aber war aus den kulturellen Institutionen, was aus den Büchern und Bibliotheken geworden ? Schon einmal, die Oder-Neiße-Grenze überschreitend, war ein erster Vorstoß unternommen worden. Doch nun galt es, entschieden weiter auszugreifen. Eignet auch wissenschaftlichem Treiben ein existentielles Wurzelwerk, dann darf keine noch so begründete Sorge davon abhalten, einer gebieterischen inneren Stimme zu folgen. Wieder trat die Deutsche Forschungsgemeinschaft ins Blickfeld. Sie unterhielt, so war zu erfahren, ein wissenschaftliches Austauschprogramm mit der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion in Moskau. Wer mochte es geknüpft haben in den Jahren des Kalten Krieges, wer den Mut aufgebracht haben, aka172
demische Netze zu knüpfen und damit der allenthalben obwaltenden Konfrontation entgegenzuwirken ? Gute Kenntnisse vor allem Rußlands waren allemal vonnöten. In der Slawistin Dr. Doris Schenk begegnete der Anklopfende einer solchen Person in Bonn. Sie war es vor allem, die dem Rat und Tat Suchenden umsichtig zur Seite stand. Und rasch stellte sich heraus, daß das von den beiden Ländern aufgelegte Programm für Bibliotheksreisen zumal von Geisteswissenschaftlern bisher kaum in Anspruch genommen worden war. So kam auch die Bibliothekskommission ins Spiel, zu der seit längerem engere und auch persönlich ersprießliche Verbindungen bestanden. Der zum Aufbruch in das Riesenreich sich Rüstende durfte wähnen, durchaus auch einem Interesse der DFG an näheren Informationen zu entsprechen. Eine idealere Ausgangssituation war nicht denkbar. Was aber mochte dazu ermutigen, neuerlich ein stolzes Reise programm zu entwerfen und der DFG zu offerieren ? Es sollte nicht bei Rußland im engeren Sinn und seinen beiden Kapitalen, der einstigen und der nunmehrigen Hauptstadt bleiben. Da schlug ganz offensichtlich dann doch die Erfahrung des Literaturwissenschaftlers zu Buche. Gewiß, die baltischen Lande hatten niemals zum Deutschen Reich gehört. Ihre Kultur aber war geprägt von Deutschen, und die Geschichte der deutschen Literatur stellte dafür die schönsten Beispiele. Auf der anderen Seite aber des östlichen Europa lagen ebenfalls kulturelle Quartiere mit klangvollem Namen, einst zumeist dem Vielvölkerstaat der Habsburger und nun vergleichsweise jungen nationalen Staaten zugehörig. Wenigstens zu Teilen sollten sie einbegriffen sein in die Pläne, auch wenn sich frühzeitig abzeichnete, daß der Südosten nicht in dem gleichen Umfang zu erkunden sein würde wie der zunächst ins Auge gefaßte Nordosten. Eine Lücke blieb bestehen, und, so darf angedeutet werden, sie schmerzt bis heute, wird sie doch nicht mehr zu schließen sein. Ausgestattet mit Empfehlungen und präzisen Vorgaben der DFG wurden die Reisevorbereitungen getroffen, Dazu gehörte die Entscheidung, das Flugzeug zu meiden und sich dem fernen Reich auf dem Landweg und also mit der Bahn zu nähern. Das 173
aber bedeutete tatsächlich, sich zurückversetzt zu fühlen in das alte Europa, und nicht nur das der Vorkriegszeit, sondern auch das vor dem Ersten Weltkrieg. Er bezeichnete die Urkatastrophe, wie genau hundert Jahre später während der Niederschrift dieser Zeilen allenthalben zu hören. Von eigenem Reiz mußte es gewesen sein, den Kontinent über die Grenzen der Länder hinweg problemlos bereisen zu können. Nicht zufällig blieben die Bilder haften, stimulierten Film und Literatur und nährten eine Sehnsucht, in der ein Verlorenes sich in denkwürdigen Zügen bewahrte. Stefan Zweig, dem Emigranten, war es gegeben, den treffenden Namen zu finden : Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Auch im Europa der Nachkriegszeit gab es Einrichtungen, von denen man wähnen mochte, daß sie aus einer anderen Zeit, ja aus einer in eine unvordenkliche Vergangenheit entrückten Epoche in eine gänzlich andersgeartete Gegenwart sich herübergerettet hätten. Von London, wenn die Erinnerung nicht trügt, möglicherweise aber auch von Paris oder Amsterdam aus, nahm ein Zug seine Fahrt auf, dessen Bestimmungsort die russische Hauptstadt war. Noch einmal schien eine alte West-Ost-Verbindung reaktiviert, und Osnabrück, eines der Drehkreuze im Bahnverkehr, sah sich des Vorzugs gewürdigt, zu den Stationen zu gehören, an denen der West-Ost-Expreß Halt machte. Ihn bestieg der zur bibliothekarischen Exploration Entschlossene – und das, ohne einen einzigen Satz in der russischen Sprache formulieren zu können. Sein Schicksal lag nunmehr in den Händen wohlwollender und in jedem Fall fremder Menschen. Zwei Tage währte die Reise. Und sie verlief wie alle folgenden kurzweilig. Man weiß nicht, auf wen man im Abteil trifft, aber die Szenen wiederholen sich stets wieder. Eben ist die Tür geschlossen und die Fahrkarte vorgezeigt, da beginnt der Versuch der Verständigung, und sei es nur über Mimik und Gestik. Ausschließlich russische Reisende sind in der Regel unterwegs, und nicht lange dauert es, bis die mitgeführten Vorräte ausgebreitet werden. Selbstverständlich ist es, zum gemeinsamen Verzehr einzuladen. Stets ist ein gutes geistvolles Getränk dabei, das gemeinsam geko174
stet wird. Und dann wird dieser wundervoll melodischen Sprache gelauscht, übergehend zumeist in russische Weisen, wie sie auch aus dem Radio erklingen. Fremdheit zerstreut sich wie im Fluge. Eine erste Einstimmung ist erfolgt, und sie könnte nicht beglückender verlaufen. Neugier auf Land und Menschen verschwistert sich mit der Gewißheit, über nie betretene Pfade auf einem guten Weg zu sein. Hier geht es um dasjenige, um dessentwillen die Reise angetreten wurde, von der schließlich ein wissenschaftlicher Ertrag erwartet wird. Am Bahnhof in Moskau steht eine junge Dame mit erhobenem Schild und dem Namenszug des Ankömmlings. Blitzschnell kehrt die deutsche Sprache zurück, und mit Staunen vernimmt der des Russischen Unkundige die fehlerfreie wohlgeformte Rede aus dem Munde derjenigen, die die folgenden Tage an seiner Seite bleiben wird. Fast immer sind es Frauen, die den Transfer am neuen Ort übernehmen, und so gut wie immer entwickelt sich rasch ein vertrauensvoller Umgang. Noch Jahre später und mehr als einmal bis auf den heutigen Tag bleiben Verbindungen lebendig, in die Familien und Freunde gerne mit einbezogen werden. Fast alle betonen, daß es auch für sie eine neue Erfahrung sein wird, einen Bibliotheksreisenden zu begleiten. Ja, vor der Wende war man Pionier und genoß dieses Privileg. In Moskau führt der erste Weg ins Akademie-Hotel und sogleich anschließend zur Akademie selbst. Denn dort werden die Rubel ausgehändigt, sage und schreibe vierhundert an der Zahl. Für gute vier Wochen sind sie bestimmt, und am Ende der Reise keinesfalls verausgabt. Man ist so gut wie ständig Gast, und wenn nicht, so ist doch mit einem einzigen Rubel viel auszurichten. Tickets, Hotels, Essensmarken – für alles ist vorab gesorgt, das Reisen unter der Obhut der Akademie und dank der DFG völlig unbeschwert. So reichlich wie irgend angängig wird Zeit zu reservieren sein, um die Riesenstadt zu erkunden. Der erste Weg aber noch am Tage der Ankunft führt in die Bibliothek, damals noch auf den Namen Lenin-Bibliothek lautend. Lenins Büste steht am Treppenaufgang zum Lesesaal, und selbstverständlich wird der Gruß entboten. 175
Dann aber glaubt man zu träumen und ist doch mitten im alltäglichen bibliothekarischen Betrieb. Alle Bibliotheken sind vorab informiert, daß sie Besuch aus der Bundesrepublik Deutschland erhalten werden. Es scheint, wenn nicht alles trügt, die schlechthinnige Ausnahme zu sein. Ob die jungen Damen wissen, was der Ankömmling im Schilde führt ? Doch wohl eher nicht. Mit unschuldiger Miene wendet man sich an sie, formuliert sein Anliegen und nimmt sodann Platz. Eben angekommen und ohne groß in der Stadt sich umgetan zu haben, geht es an die Arbeit ; eine jede Bibliothek, an welchem Ort auch immer, behauptet gebieterisch ihre Rechte. Gleichwohl ist an dieser Stelle das Bewußtsein gegenwärtig, eine derartige bibliophile Ausnahmesituation dann doch noch nicht erlebt zu haben. Deutsche Barockliteratur in der Lenin-Bibliothek zu Moskau ! Das ist eine Konstellation, die nur herrühren kann aus der jüngsten Geschichte, in der ein neues, ein tragisches Kapitel zwischen den beiden Ländern aufgeschlagen wurde, das tief hineinreicht in die vielen Gespräche die folgenden Wochen über. In dem Lesesaal stehen Katalogschränke prall gefüllt mit maschinenschriftlich gefertigten Katalogkarten. Der Bitte, Schublade für Schublade herausnehmen zu dürfen, um sich mit dem Inhalt vertraut zu machen, wird umstandslos stattgegeben. Und was nun anhebt, versagt sich dem auf Nüchternheit bedachten Bericht. Eine Welt des europäischen Buches der Frühen Neuzeit tut sich auf. Ihr begegnet man auch in anderen großen Häusern. Hier aber bietet sich ein besonderes Bild dar. Große europäische Literatur mit Schwerpunkt auf Italien und Frankreich steht neben seltensten und kostbarsten Drucken bevorzugt aus dem mitteldeutschen Raum sowie einer Phalanx großer Autoren des deutschen 17. Jahrhunderts, die gleichfalls mit seltensten Titeln vertreten sind. Im Herzen Moskaus befindet sich eine Bibliothek, die unter dem stolzen Namen des Gründers der Sowjetunion einzigartige Zimelien aus dem alten Deutschland birgt, welches uns aus gegebenem Anlaß fokussiert auf das 17. Jahrhundert entgegentritt. Wie gerne würde Näheres präsentiert, denn die nach Jahrzehnten wieder ans Tageslicht tretenden Unterlagen böten genügend 176
Stoff. Von Seite zu Seite fortschreitend ist zu beobachten, wie eine klarere Vorstellung sich sukzessive herausformt. Immerhin, wenn dem Stöbernden am ersten Tag, beginnend mit einem Blick auf Sigmund von Birken, sogleich ein rundes Dutzend Titel entgegentritt, darunter zwei Wolfenbütteler Schäfereien, die auch auf deutschem Boden nur einmal bezeugt sind, in der maßgeblichen Birken-Bibliographie für Moskau aber selbstverständlich fehlen, dann weiß der nicht unerfahrene Reisende, daß ihm hier Besonderes abgefordert wird. Und wenn sich dann mit Zesen, mit Rist, mit Opitz und wie sie heißen der Reigen unaufhörlich fortsetzt und neben gut Bezeugtem das Seltenste und Entlegenste sich zu erkennen gibt, dann ist rasch klar, daß bereits in der ersten Bibliothek über Wochen Station gemacht werden müßte. Eine deutsche Bibliothek mit einem verschwenderischen Reichtum an Drucken des Barock ist in die Tausende von Kilome tern entfernte russische Hauptstadt versetzt worden. Ihre Verzeichnung mag noch andauern, wie alsbald ersichtlich. Und ganz offensichtlich gibt es aus unbekannten Gründen ganz erhebliche Probleme mit der Bereitstellung des katalogisch doch ausgewiesenen. Dann hilft nur Hartnäckigkeit. Ein einziges Beispiel mag illustrieren, um was es da geht. Mehrere Dutzend Opitz-Titel sind aktenkundig, darunter wiederum Raritäten wie das späte Hochzeitsgedicht für den polnischen König Władysław IV. aus dem Jahr 1637, und das tatsächlich gleich in zwei Exemplaren. Zwei Exemplare aber sind auch für die gleichfalls sehr seltenen Opitzschen Poemata von 1625 ausgewiesen. Der Gast besteht darauf, daß sie ihm beide vorgelegt werden, geht es doch nicht primär um die Texte, sondern um ihre Provenienz. Das eine Exemplar ist beschädigt, und der Rücken des Bandes liegt separat dabei. Das andere aber präsentiert sich als Prachtausgabe, es entstammt kurfürstlich-sächsischem Besitz, wie das Wappen auf dem Einband beweist. Nun, das ist keine Überraschung. Mit gut präparierten Listen ist der Besucher angereist, erstellt seinerzeit in Dresden und nun in den Zettelkästen des am Platz befindlichen Katalogs überprüft. Ja, viele der Titel finden sich tatsächlich wieder. Wie aber sol177
len Texte von allergrößter Seltenheit zumal aus dem Leipzig und Dresden des frühen 17. Jahrhunderts ausgerechnet nach Moskau gelangt sein ? Nur sorgfältige Autopsie kann letzte Sicherheit bringen. Erkennbar ist, daß Spuren der Herkunft nicht selten unkenntlich gemacht wurden, dies aber keineswegs konsequent. Vielfach finden sich die einstigen Signaturen auch auf den Innenseiten mit Bleistift von der Hand der deutschen Bibliothekare notiert. Es sind die wohlvertrauten aus der Sächsischen Landesbibliothek. Keinesfalls alle Bücher können vorgelegt werden, sie befänden sich in der Restauration oder wie die Gründe sonst lauten. Doch das Beigebrachte reicht hin für Diagnose und Schlußfolgerung. Vielleicht zum ersten Mal seit den vierziger Jahren hat ein deutscher Staatsangehöriger wieder Bücher in der Hand, die einst wie selbstverständlich in Dresden standen und nun ein neues Quartier bezogen haben, zu dem keinerlei geschichtlich fundierte Beziehung besteht. In Dresden waren sie oftmals in die kurfürstliche Bibliothek gelangt, weil ihre Verfasser als Musiker oder Bibliothekare im Umkreis des Dresdener Hofes wirkten. Zeugnisse früher Liedkultur in der Nachfolge des Leipziger Thomaskantors Johann Hermann Schein waren es, einfallsreich die soeben durch Opitz und seine Freunde vorgenommene Umstellung der Verskultur fortschreibend. In der Stadt, bei Hof, in der Kirche gesungen und derart dem sächsischen literarischen und musikalischen Leben zugehörig, verliehen sie einer Landschaft einen neuen, einen so bis dato nicht vernommenen Ton. Im alten Deutschland war der natürliche Ort ihrer Verwahrung zuallererst die heimische Bibliothek. Wird dieses Netz versehrt, der Überlieferungsträger seiner oftmals Jahrhunderte über wohlgehüteten Zeugnisse entfremdet, dann hat ein Bruch statt, der unmittelbar begleitet wird von einer Krise kultureller und letztlich nationaler Identitätsbildung. Das ist Deutschlands Schicksal an ungezählten Stätten im Gefolge des Nationalsozialismus geworden. Die Konstatierung aber dieses Sachverhalts und das Bedenken seiner Konsequenzen haben einherzugehen mit dem Sinnen und Trachten auf Abhilfe. Erinnerungsarbeit ist so 178
lebendig, wie sie zur Erkundung des Zerstreuten und zur Bezeugung des Verschollenen führt. Diesem Grundsatz getreu, machte sich der Verfasser dieser Zeilen die Jahrzehnte über auf den Weg. Was aber impliziert dies im konkreten Fall, zum Beispiel im Blick auf die Entdeckungen in Moskau mehrere Jahre vor der Wende ? Groß ist die Versuchung, die Medien einzuschalten, rascher Aufmerksamkeit darf man gewiß sein. Doch ihr ist zu widerstehen. Die Lenin-Bibliothek in Moskau hat im Zusammen wirken mit renommierten Institutionen einem Besucher ihre Tore geöffnet und gewünschte Bücher vorgelegt ; besondere Vorsichtsmaßnahmen waren nicht erkennbar. Und so nicht anders während der weiteren Stationen. Ein derart entgegengebrachtes Vertrauen enttäuscht man nicht. Zurückhaltung ist geboten. Sie schließt gezielte Intervention nicht aus. Selbstverständlich ist jede leitende Person der jeweiligen Bibliothek in Deutschland über das Auffinden von Büchern aus ihrem Hause zu informieren. Das geschah, wie erwähnt, im Blick auf Dresden, und wiederholte sich im folgenden ständig. Jahrzehnte später aber ist eine gänzlich andere Situation eingetreten. Eine Reihe von Konferenzen hat stattgefunden. Auch ein spezieller deutsch-russischer Bibliotheksdialog wurde eröffnet. Wir durften wiederholt auch in Moskau und Berlin daran teilnehmen. Das Ergebnis im allgemeinen wie im speziellen, hier auf die Lenin-Bibliothek gemünzten Fall ist ernüchternd genug. Nur im Einzelfall ist es zu Restitutionen gekommen. Darüber wurde in der Presse berichtet, und wir haben uns nach Kräften beteiligt. Die großen Taten stehen aus, und es ist nicht zu erkennen, daß es zu ihnen kommen wird. Die Möglichkeiten der Bibliothekare scheinen weitgehend ans Ende gelangt zu sein. Die Stafette hätte seit langem übergehen müssen auf die Politik. Doch deren Repräsentanten zeigen sich auf besorgniserregende Art und Weise nicht eben sonderlich interessiert. Jeder Kundige weiß um die Wunden, doch sie zu heilen fehlen offenkundig nicht nur die Mittel, sondern auch der energische Wille. Der aber gründet auf der Verantwortung gleichermaßen gegenüber der Vergangenheit wie der Zukunft, und das im Blick auf die kulturelle Selbstvergewisserung 179
einer Nation, die – aller herrschenden Meinung entgegen – an intakte, tief in die Geschichte zurückführende Bibliotheken gebunden bleibt. Wir aber sind angetreten zu erzählen. Nicht nur ein einziges Mal wurde Moskau besucht. Schon das Ende der ersten Reise führte zurück an den Anfang, und sogleich ging die Arbeit fort. Wenn aber auch die russische Hauptstadt immer wieder gerne aufgesucht wurde, so nicht nur wegen der Bibliotheken, sondern weil – wie an jedem anderen Ort – Menschen in den Gesichtskreis getreten waren, die kennengelernt zu haben eine Bereicherung des Lebens bedeutete. Im Moskauer Institut für Literaturwissenschaft begrüßte uns Alexander Michailow. Er hatte ein Buch über den von Alewyn entdeckten Dichter Johann Beer verfaßt und Grimmelshausen ins Russische übersetzt. Nur staunend und zugleich ein wenig beschämt gewahrte der Gast die kaum faßliche Belesenheit Michailows auch in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Zugleich brachte er einem Gontscharow und andere russische Autoren näher. Und dann kam das Gespräch tatsächlich auf Benjamin. Auch der war dem russischen Kollegen nicht nur gegenwärtig ; er hatte über ihn gearbeitet, und aus seinen Worten sprach ein ungemeines Verständnis über den Zusammenhang von Mystik und Messianismus, Geschichte und Politik bei Benjamin. Und wenn dann die Rede auf die Musik kam, so erzählte Michailow immer wieder gerne über Alfred Schnittke, dessen tiefgründige Kammermusik sich erstmals in seinem Moskauer Heim erschloß. Eine derartige Begegnung ist prägend. In Osnabrück traf man neuerlich zusammen, die Familien traten hinzu, eine auf Verehrung gegründete Freundschaft entfaltete sich. Um so schmerzlicher war es, als erste Nachrichten über eine gesundheitliche Krise eintrafen. Sie konnte nicht bezwungen werden. Im Jahr 1995 ist der große Gelehrte und Mensch gestorben ; die Verbindung zu Frau und Tochter wird im alljährlichen Gedenken als kostbares Vermächtnis gehütet. Lange Reisen in dem großen Land erfolgen über Nacht. So wartete am Leningrader Bahnhof in Moskau der Zug nach dem seinerzeitigen Leningrad, das seinen traditionsreichen alten Na180
men noch in der Ära Gorbatschow zurückerhielt. Diese Reisen, wir deuteten es an, sind ein Vergnügen eigener Art. Stets ist man mit wildfremden Menschen unterwegs in einem Abteil, stets reicht das Personal einen Tee für die Nacht, immer teilt man die mitgeführten Speisen und Getränke, und wenn dann die Musik leise erklingt und in den Schlummer wiegt, fühlt man sich auf russischem Boden und unter russischen Menschen behaglich, um nicht zu sagen geborgen. Darum muß auch von den Menschen immer wieder die Rede sein, denn mit ihnen teilt man ja eine Geschichte, die in Rußland allgegenwärtig ist und deren Abgründe auf eine denkwürdige Weise über ein herzliches Aufeinander-zuTreten sich schließen. ›You are German ?‹, lautet die Frage in einer mittäglichen Pause im unmittelbar an der Newa gelegenen Sommerpark Katharinas der Großen. Ein Mitglied der Akademie und häufig im Westen weilender Computerspezialist stellt sich vor. Er lebe in Moskau und weile beruflich in St. Petersburg. Nun erfährt er von dem Grund des Besuches in seinem Heimatland und lädt bei nächster sich bietender Gelegenheit nach Hause in den Familienkreis in Moskau. Die Kunst des Erzählens versagt, wenn es in wenigen Worten darum geht, einer Begegnung zu gedenken, die lebendig geblieben ist. Wie Michailow und seine Familie bekannte auch dieser kleine Kreis sich tief geprägt von der deutschen Philosophie und der deutschen Musik. Ja, man wurde geradezu als Repräsentant eines Volkes aufgenommen, das diese Wunder der Welt geschenkt hatte. Nirgendwo war das Unheil vergessen, das Deutschland über die östlichen Nachbarvölker und eben auch und gerade über Rußland gebracht hatte. Einem Wunder gleich war es seiner Kultur vorbehalten, das andere Antlitz zu zeigen, Menschen zu verbinden und jenen Frieden im Kleinen zu stiften, der im Großen auf der Ebene der Politik sich nicht einstellen will. Dies zu erfahren, blieb in derartiger Intensität dem Reisenden nur in Rußland vergönnt. Wieder stand ein bequemes Hotel bereit, und wieder überschlugen sich die Ereignisse alsbald. Nun war die forscherliche Aufmerksamkeit auf zwei traditionsreiche Bibliotheken in der 181
Stadt zu richten, und auch das in den kommenden Jahren immer wieder, nahmen die Entdeckungen doch kein Ende. Vom Newski-Prospekt kommend gelangt man, mit der Schloßbrücke die Newa überschreitend und dabei die Keimzelle St. Petersburgs, die Peter-und-Paul-Festung in den Blick nehmend, auf die Wassiljewski-Insel. Sie beherbergt das Akademiequartier der einstigen Hauptstadt und damit eines seiner Zentren, die Akademiebibliothek. Unter den vielen Bestimmungen, die ihr seit ihrer Gründung im Jahre 1714 zugefallen sind, ist die jüngste womöglich die spektakulärste. Sie ist das wichtigste Quartier in Rußland zur Aufnahme von deutschen Büchern geworden, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland als ›Kriegsbeute‹ in den Osten gelangten. Prinzipiell darum wissend, doch ohne Kenntnis näherer Einzelheiten, betritt man das Haus, stellt sich vor, weiß sich erwartet, und Austausch und Arbeit beginnen. Mehrere Jahrzehnte wird die Tätigkeit währen, die Schüler werden sich alsbald beteiligen, und ein Ende ist nicht abzusehen ; wie stets sind die Kräfte eines einzelnen bzw. einer kleinen Gruppe überfordert. Und das trotz mannigfacher Unterstützung aus dem Haus selbst, wie sie über Elena Saveljeva und ihre Mitarbeiterin Galina Pitulko im Raum für die Altdrucke gerne entboten wird. Die erste Erkundung erfolgt über den Zettelkatalog, wie er auch auf der Akademieinsel zur Verfügung steht. Auch die Kunst des Blätterns ist eine eigene, Geschick und Glück müssen sich kreuzen. Was dann aber auf den Tisch kommt, verschlägt den Atem. Der Königsberger Dichterkreis mit Simon Dach an der Spitze ist gleich in mehreren Sammelbänden und ungezählten Einzelstücken gegenwärtig. Erstmals im Herbst des Jahres 1984 tritt uns das untergegangene Königsberg auf russischem Boden wieder entgegen. Darüber ist wiederholt und durchaus ins einzelne gehend berichtet worden. Die Aufgabe steht sogleich vor Augen und ist eine die Generationen übergreifende. Die in ihrer historischen Substanz nahezu gänzlich vom Erdboden verschwundene Stadt will über die Schrift dem Gedächtnis zurückgewonnen sein. Und dazu leisten auch die Königsberger Dichter des 17. Jahrhun182
derts, vereint für eine Weile in der ›Kürbishütte‹ ihres begnadeten Musikers Heinrich Albert, ihren Beitrag. Osnabrück schätzt sich glücklich, die anläßlich vieler Besuche ermittelten Texte auf Mikrofilmen in der Bibliothek des Frühneuzeit-Instituts zu bewahren, wo sie Arbeiten bereits in der Vergangenheit immer wieder dienlich waren und zukünftiger weiterer Erschließung harren. Direkt am Newski-Prospekt, gegenüber dem Park mit dem Denkmal Katharinas II. und in unmittelbarer Nähe des Platzes der Künste mit der berühmten Philharmonie liegt die russische Nationalbibliothek. Als wir sie erstmals besuchten, trug sie noch den Namen des Satirikers Saltykov-Shchedrin ; inzwischen hat sie den ihr allein zukommenden Namen zurückerhalten. Die russische Nationalbibliothek in St. Petersburg zählt zu den vier, fünf großen Häusern, die Europa sein eigen nennt, und deutsche Bibliothekare haben dazu im 19. Jahrhundert nicht unwesentlich beigetragen. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß sie unvorstellbar reich ist an genau jenem Schrifttum, dem wir auf der Spur sind. Es ist das Kleinschrifttum in Gestalt vornehmlich der Dichtung zu festlichen Ereignissen, Hochzeits-, Trauer-, Gratulationsgedichte etc., in der sich das literarische Leben vor Ort am sinnfälligsten zu erkennen gibt. Die Petersburger Bibliothek besitzt eine der größten Kollektionen dieser Art auf dem europäischen Kontinent, ja, nach der Zerschlagung der Berliner Staatsbibliothek vielleicht die größte. Und das gleichermaßen im deutschen wie im lateinischen Idiom. Bei keinem der Besuche reichte die Zeit für eine komplette Inspektion. Doch was zutage trat, war aufregend genug. Denn hier fanden sich unter den Zehntausenden von Titeln stets auch solche, die einstmals mit Sicherheit an den Orten ihrer Entstehung vorhanden waren, in den Strudel der deutschen Bibliothekskatastrophe hineingerissen wurden, in einer universalen Bibliothek wie der Petersburger sich aber erhalten hatten. Umsichtige Bibliothekare hatten sie zu einem Zeitpunkt für ihr Haus erworben, als dies ein letztes Mal möglich war, und sich damit um das geistige Leben im alten deutschen Sprachraum überaus verdient gemacht. Erwähnen wir nur drei Schwerpunkte – Straßburg, Hamburg, 183
Königsberg –, so ist einem jeden Kenner bewußt, was sich mit diesen Namen in bibliothekarischer Hinsicht verbindet, denn alle drei städtischen Schatzhäuser, über die Maßen reich bestückt, sind ja Opfer der Zerstörung geworden. Wir haben nach Kräften dies kostbare Material verfilmen lassen und derart nach Deutschland überführt. Wohlgemerkt, es handelte sich bei dieser immensen Kollektion um originäres Gut der russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg, nicht aber um ›Beutekunst‹, herrührend aus deutschen Bibliotheken. Mit dieser traurigen Spezies machten wir erst sehr viel später Bekanntschaft, als sich ein vertrauensvolles Verhältnis zu dem eindrucksvollen Direktor Vladimir Zaitsev und seiner engsten Mitarbeiterin, der Germanistin Alja Semjanowa, hergestellt hatte. Auch die traditionsreiche russische Nationalbibliothek war zur Anlaufstelle für im Nachkriegsdeutschland beschlagnahmte Bücher bestimmt worden. Sie geriet damit gleichfalls in jenes zwielichtige Odium, welches sich zwangsläufig mit derartigen Vereinnahmungen verbindet. Ein Gelehrter wie der Historiker und Direktor der polnischen Nationalbibliothek Adam Manikowski hatte sehr wohl in Erinnerung, daß schon nach der dritten polnischen Teilung zu Ende des 18. Jahrhunderts wertvollste Bestände aus der Bibliothek der Gebrüder Załuski von Warschau nach St. Petersburg verschleppt worden waren und als Grundstock für den Aufbau der Bibliothek an der Newa dienten. Süffisant flüsterte er uns diese historische Reminiszenz anläßlich der Zweihundertjahrfeier der Petersburger Bibliothek ins Ohr. Bei dem deutschen Gast indes überwog der Kummer, daß die in Rußland einzig dastehende Bibliothek, in der man viele wundervolle Menschen kennengelernt hatte, nun auch in die Enteignung deutschen Bibliotheksgutes hineingeraten war. Und das, wie sich alsbald herausstellte, sehr massiv. Schon am Bahnhof wurden wir anläßlich einer der späteren Besuche von unserer Dolmetscherin mit einer Zeitung in der Hand empfangen. Soeben hatte die uns wohlbekannte Vizedirektorin Elena V. Nebogatikova erstmals öffentlich berichtet, daß Bücher aus deutschen Bibliotheken auch in die Nationalbibliothek ver184
bracht worden seien. Das ist eine elektrisierende Botschaft, und sofort regt sich der Wunsch, Zugang zu den verlagerten Beständen zu erhalten. Der Bitte kann nicht entsprochen werden, die Bücher sind außerhalb der Bibliothek untergebracht. Doch ein Zettelkatalog existiert, und in den darf man – vielleicht als erster ? – ein Stündchen hineinschauen. Die Zeit also ist knapp, aber sie genügt, um Einschlägiges zu erkennen. Bestände aus den Stadtbibliotheken der drei Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck sind mit Gewißheit darunter. Das lehren die Druckorte und speziell im Falle Hamburgs die Erinnerung an daselbst in den Katalogen als fehlend ausgewiesene Titel, die nun in St. Petersburg lagern. So führt der erste Weg nach Rückkehr in die Heimatstadt zu Horst Gronemeyer in der Staatsbibliothek. Auch er ist in Umrissen, wenn recht erinnerlich, über die nach St. Petersburg – und nicht nur nach Moskau ! – führende Fährte bereits informiert. Nun kann genauerer Bericht erstattet und das Problem nach allen denkbaren Richtungen hin umkreist werden. Bremen und Lübeck haben ihre Bremensia und Lubecensia immerhin zu Teilen retten können ; Hamburg hat seine Hamburgensien-Sammlung 1943 so gut wie komplett eingebüßt. Nun tauchen Rara aus dem 16. und 17. Jahrhundert, ehemals in Hamburg von einer Kennerin der Schätze, wie berichtet, evakuiert, in St. Petersburg wieder auf. Das ist eine Sensation. St. Petersburg ist Partnerstadt Hamburgs. Sollte es tatsächlich ausgeschlossen sein, zu einer Übereinkunft zu gelangen ? An der Newa im Umkreis einer Weltbibliothek verschwinden deutsche Frühund Barockdrucke aus den Augen ; an der Elbe tragen sie bei zur Restitution einer schwer versehrten Bibliothek, die mit einem Schlag einen substantiellen Zuwachs erfahren würde, und das über Autoren, die vielfach aufs engste mit Hamburg verbunden sind. Das Problem ist bis heute nicht gelöst, und wenn nicht alles trügt, sind die Aussichten für seine Lösung in den vergangenen Jahrzehnten eher schlechter geworden. Ob ein Freund Putins wie der Altkanzler auch nur einen Moment lang mit ihm konfrontiert war ? Ein Mehltau liegt über der politischen Szene, wenn es um die kulturellen Belange der Nation geht. 185
Doch wir wollen heiter Abschied nehmen von der russischen Kapitale, die in ihrer einzigartigen architektonischen Schönheit und in ihrem kulturellen Reichtum die heimliche Hauptstadt des Riesenreiches geblieben ist. Seit ihrer Gründung war sie der Brückenkopf nach Europa. In der Nationalbibliothek kam diese ihre Bestimmung womöglich am sichtbarsten in dem ›Cabinet Voltaire‹ zum Ausdruck. Große Teile der Bibliothek Voltaires, aber auch Teile derjenigen Diderots sind unter Katharina II. nach St. Petersburg gelangt, unterhielten die beiden Aufklärer doch Kontakt mit der Kaiserin. Kein Besuch, bei dem nicht Station gemacht wurde in dem schmucken Saal, in dem die kostbarsten Bände in Schränken hinter Glas stehen. Dort waltete Larissa L. Albina ihres Amtes, die einen famosen Katalog der Schätze erarbeitet hat und den ›cher ami‹ aus Deutschland in diese einführte. Die von ihr gehüteten Titel blieben Gegenstand eines anhaltenden brieflichen Verkehrs. Konnte der Gast aber ahnen, daß sich in einer ›Rossica‹ titu lierten Abteilung der schier unerschöpflichen Bibliothek gleichfalls heißbegehrtes Gut findet ? Jahrhundertelang hatten die baltischen Lande – mit Ausnahme von Litauen – unter der Oberhoheit Rußlands gestanden ; als die ›baltischen Ostseeprovinzen Rußlands‹ firmierten sie. Ihre Geschichte blieb eine in Europa singuläre. Denn verglichen mit dem, was den Ländern im 20. Jahrhundert, dem Katastrophen-Jahrhundert, bevorstand, bezeichneten die ›russischen‹ Saecula, abgesehen von der Schlußphase, solche relativer Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Wie anders auch wäre das ungehinderte Wirken der deutschen Oberschicht daselbst denkbar gewesen ? Bibliothekarisch schlug die enge Verbindung in der russischen Nationalbibliothek zu Buche. Die Rossica-Sektion war und ist de facto bestückt mit wiederum kaum faßlichen Schätzen an Drucken aus den ›baltischen Ostseeprovinzen‹. Viele an anderer Stelle vergeblich gesuchte Titel waren hier greifbar. Und wenn, wie überall, der Zugang zu ihnen über Personen führte, so ist auch an dieser Stelle der Name von Frau J. G. Jakovlewa dankbar zu erwähnen. Zeit also, hinüberzuwechseln in die nordöstlichste Region des alten deutschen Sprachraums. 186
Die baltischen Lande
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ernegerückt waren die Lande um das mare balticum. Jenseits von Lübeck begannen die Zäune, und auf andere Weise erstreckten sie sich bis hinauf zur Newa. Auch entlang der Ostseeküste war die Zerschlagung des alten Europa, im Ersten Weltkrieg begonnen, nach dem Zweiten vollendet, hautnah zu erfahren. Vor den Toren der Heimatstadt lagen die mecklenburgischen Seen ; nun waren sie unerreichbar geworden. Weiter hinaus aber in den Nordosten verschwammen alle Konturen. Namen wie Tallinn oder Tartu waren Fremdworte ohne Farbe und Gesicht. Das mochte anders sein für die vielen Balten, die ihre Heimat auf Geheiß Hitlers noch vor Einsatz des Krieges verlassen mußten, wollte der Diktator sich sein Aufmarschgebiet doch frühzeitig herrichten. Ohne heimatlich-familiäre Verbindungen glichen die Lande zwischen Memel und dem Finnischen Meerbusen einer Chimäre. Den Künsten und vornehmlich der Literatur, aber eben auch den Archiven und Bibliotheken war es vorbehalten, Spuren der Erinnerung wachzuhalten. Ihnen mußte man sich anvertrauen. Und dazu bestand gerade auch für den Literaturwissenschaftler gehörige Veranlassung. Der hatte das Glück, frühzeitig über bedeutende Lehrer, von denen die Rede war, in die Welt Hamanns und Herders eingeführt zu werden. Sie blieben Wegbegleiter und lenkten den Blick nach Livland und zumal in seine Kapitale Riga. Dort hatte der Ostpreuße Johann Friedrich Hartknoch seine Buchhandlung und seinen Verlag aufgeschlagen. Nicht nur Herders ›Fragmente‹, seine ›Kritischen Wälder‹ und seine ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ erschienen dort, sondern eben auch Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. Es waren die Seminare zum ›Sturm und Drang‹, die vor allem im Umkreis von Hans Pyritz in Hamburg Konjunktur hatten und in die faszinierende Gedankenwelt der beiden Gründergestalten Hamann und Herder einführten. Als dann später August von Kotzebue und Elisa von der Recke, vor allem aber Jakob Michael Reinhold Lenz und ganz am Schluß 187
Garlieb Helwig Merkel hinzutraten, da zeichneten sich erste Konturen baltischen literarischen und publizistischen Lebens ab, vermittelt über Gestalten aus dem 18. Jahrhundert. Es bedurfte des Rückgangs in das 17. Jahrhundert, um einer ganz anders gearteten literarisch-gelehrten Konfiguration gewahr zu werden. Ihr blieb es vorbehalten, den späteren Aufbruch zu stimulieren und zu steuern, wie er sich anläßlich der Rußland-Exkursion erstmals vollziehen sollte. Erneut wurde der Nachtzug in St. Petersburg bestiegen, inzwischen ein in vielfältiger Hinsicht vertrautes Mittel der Beförderung. Doch eine lange Nacht reichte hin, um in eine andere Welt zu führen. Hansischer Zauber liegt über der estnischen Hauptstadt Tallinn an den Gestaden der Ostsee. Einem Wunder gleich sind Krieg und Zerstörung weitgehend von ihr ferngeblieben. Ein Straßenzug war von einer russischen Maschine getroffen worden, die Spuren blieben sichtbar, taten dem Stadtbild aber keinen Abbruch. Der mittelalterliche Stadtkern ist immer noch von der weitgehend erhaltenen Stadtmauer mit den mächtigen Wehrtürmen eingefaßt. Steigt man hinauf zum Schloß mit der Schloßkirche und der russisch-orthodoxen Kirche, dann bietet sich dem Blick ein buntes Gewirr von Ziegeldächern, Kirch- und Stadttürmen dar. Die Olaikirche mit ihrem steil aufragenden Turm sowie der schlanke Turm des spätgotischen Rathauses mit der HeiligGeist-Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft prägen das Bild ; die Zeit scheint still zu stehen. Und hat der Reisende das Glück, kundige Begleiterinnen und Übersetzerinnen an seiner Seite zu haben, so erfährt er, wie der Stolz auf die Heimat, ihre Sprache und Kultur, eine immer wieder gefährdete Verbindung mit der russischen Herrschaft eingehen. Noch sind die Tage der wiedererlangten Selbstbestimmung fern, umkreist aber werden sie in der Ära Gorbatschow jedoch allenthalben. Wohl dem, der die Jahre vor und nach der Wende auch in den baltischen Landen gleichermaßen miterleben durfte. Die Erwartungen des Literaturwissenschaftlers sind immens. Reval ist die Stadt, in der Paul Fleming eine Zeitlang weilte und 188
wo er seine Braut fand, die heimzuführen ihm nicht mehr vergönnt war, erlag er während der Rückreise doch seiner Krankheit und wurde in Hamburg zu Grabe getragen. Die poetische Muse verstummte nicht im fernen Reval. Im Gegenteil, in Gedichten, kreisend um Freundschaft, Liebe und das Gedenken an die Gefährten in der Heimat und in den russisch-persischen Weiten verströmte sie sich. Fleming hatte teilnehmen können an einer Handelsexpedition im Auftrage Herzog Friedrichs III. von Holstein-Gottorf, die über Rußland bis nach Persien führte. Er machte auf der vorzeitigen Rückkehr Station in Reval und fing das Erlebnis der Reise ein in Gedichten, denen er wie kein anderer einen persönlichen Atem einzubilden vermochte. Auch für die Ausformung neuer Formen blieb er empfänglich. Ja, sollte ein Paradoxon gewagt werden, so würde es dahingehend lauten, daß der Reisende, der da Jahrhunderte später nach Reval aufbrach, zuallererst dieser literarischen Novität aus der Feder Flemings wegen unterwegs war. Martin Opitz, so gerne unterschätzt, war mehr als ein Importeur und Anverwandler der europäischen Literatur ins Deutsche. Das allein hätte genügt, um ihn zu einem Großen der deutschen Literatur zu erheben. Doch er leistete weiteres und anderes. Auch auf die Ausbildung neuer Formen richtete er sein Augenmerk. Und das in einer Zeit, da normierte und durch Tradition geadelte literarische Gattungen alles galten. Ausgerechnet der schäferlichen Literatur verpaßte er eine neue Erzählform, die Schule machte und sich alsbald ganz ungewöhnlicher Beliebtheit erfreute. Vergil hatte die Versekloge in Umlauf unter den Humanisten gebracht. Schon ein berühmter italienischer Dichter namens Jacopo Sannazaro hatte auf der Wende zum 16. Jahrhundert in Neapel ein Werk geschaffen, das er auf den stolzen Namen ›Arcadia‹ taufte. Rasch eroberte es das ganze Europa, auch Opitz kannte es selbstverständlich. Von ihm dürfte er die Anregung erhalten haben, die schäferliche Ekloge um eingelegte Prosapartien zu erweitern. So wurde er zum Schöpfer der Prosaekloge in Deutschland. 1630 geschah das. Und nun vergingen eben fünf Jahre, da fand er bereits einen kongenialen Nachfolger. 189
Versteht man, was es bedeutet, daß dies weit entfernt vom heimatlichen Sachsen und seinen Leipziger Freunden im fernen Reval geschah ? Über die Grenzen der Staaten und Machtblöcke hinweg kommunizierten die Dichter über den Brief und über die Literatur miteinander. Humanistisch gebildet waren sie alle, verständigten sich über das Latein, und wenn einem von ihnen der Durchbruch gelang und ein Poem in der heimischen Sprache entstand, die soeben erst in das literarische Leben eingeführt war, dann löste das ein weithallendes Echo aus. Fleming war mit den estnischen und den deutschen Professoren am wenige Jahre zuvor auch in Reval gegründeten Gymnasium in Kontakt gekommen. Gymnasien mit ihrem Lehrkörper waren der vornehmste Heimatort der Humanisten. Nun heiratete einer der Freunde aus dem Kreis. Und damit trat das Opitzsche Erbe in seine Rechte ein. Opitz hatte in seiner Prosaekloge einem berühmten schlesischen Feldherrn und Vertrauten Wallensteins poetisch gehuldigt. Fleming übernahm die Form, schuf sie um, indem er ihr einen bescheideneren Rahmen verlieh und zur Ehrung der Hochzeiter nutzte. Er bewahrte also den gesellschaftlichen Anlaß, wie er bestimmend blieb für die Prosaekloge, nutzte diese aber vor allem für die Präsentation einzig dastehender Gedichte. Noch einmal : In Reval geschah dies. Und so lag es nahe, daß seine reizende kleine schäferliche Schöpfung auch in Reval zum Druck gelangte. In der Tat erschien sie im Jahr 1635 bei dem für das Gymnasium bestellten Drucker Christoph Reusner. Sogleich sprach sich das literarische Ereignis bei seinen Freunden, die er in Leipzig zurückgelassen hatte, herum. Also organisierten sie einen Nachdruck noch im gleichen Jahr am Ort. Und damit setzt die Erzählung des Bibliographen und Bibliophilen ein. Dieser Leipziger Nachdruck war bekannt und leicht zugänglich. In die Bibliothek Curt von Faber du Faurs in Yale war ein Exemplar gelangt. Der Bibliograph aber möchte den Erstdruck in Händen halten. Und wie es im regional und also dezentral organisierten Literaturbetrieb überall im alten deutschen Sprachraum zuging, hatte 190
sich offenbar nur ein einziges Exemplar am Druckort Reval erhalten, wo Fleming ja geweilt hatte. Wohl über Anfragen hatte man in Erfahrung gebracht, daß es sich erhalten haben müßte. Und da zu der Zeit noch kein anderes bekannt war und der zünftige Bibliophile sich mit einem Mikrofilm keineswegs zufrieden geben kann, mußte man sich auf den Weg machen. Fleming also stand Pate bei dem Wunsch, jene Stadt an der Ostsee kennenzulernen, die sich als eine Perle am mare balticum darbieten sollte. Zwei Übersetzerinnen begleiten den Neugierigen an den Ort des Geschehens in Gestalt der Akademiebibliothek, wie sie überall nach russischem Vorbild in den Satellitenstaaten entstanden waren. Dort ist eine Germanistin namens Medea Jerser in der Verwaltung zur Stelle, und in der Bibliothek wird man von der großen alten Dame der estnischen Buchkunde Kyra Robert empfangen. Der Austausch ist rege, wie sollte es anders sein, und doch bleibt es nur eine Frage der Zeit, bis die Bitte verlautet, den Flemingschen Text vorgelegt zu bekommen. Alsbald kommt das Exemplar tatsächlich auf den Tisch. Die Signatur wird notiert, die Kollationierung durchgeführt und sogleich festgehalten, was beim Blättern auffällt. Eine nicht eben zimperliche Hand hat sich auf ihnen mit Unterstreichungen in Blaustift verewigt. Zugleich sind gelegentliche Unterstreichungen mit Bleistift und Marginalien von alter Hand zu erkennen. Ansonsten, so die Notiz sogleich am ersten Tag, handelt es sich um ein schönes und sauberes Exemplar, freilich mit gelegentlich verblassendem Druck. Alles weitere und vor allen die Frage des Vorbesitzes muß späterer Erkundung vorbehalten bleiben, denn die Zeit auf Reisen ist knapp, und stets steht viel auf dem Programm. Entscheidend ist ein gutes Gedächtnis für buchkundliche Zusammenhänge. Wenn ein Autor wie Josef Nadler in seinem die Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart behandelnden Mammutwerk tatsächlich auch auf Reval zu sprechen kommt und einen Sammelband mit FlemingDrucken erwähnt, der in der Stadt verwahrt wird, dann kann und darf keine Ruhe gegeben werden, bis Aufklärung nach Maßgabe des Möglichen erfolgt ist. In der Akademiebibliothek befindet 191
sich der Band nicht. Nach zwei Weltkriegen ist auch und gerade im Baltikum bibliothekarisch kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Literarisches Leben, wir wiederholen es, gruppiert sich im 17. Jahrhundert in den Städten um die Gymnasien. Und die sind in der Regel auch die primären Institutionen der Verwahrung der zeitgenössischen Produktion. Wenn die Sammlungen dann zu späterer Zeit in die städtischen Bibliotheken oder gelegentlich auch in die städtischen Archive übergehen, sind sie dort in der Regel solange gut aufgehoben, bis die Kriegsfurie ihr Haupt erhebt. So auch im fernen Reval. Die Russen fürchteten schon im Ersten Weltkrieg einen Einmarsch der Deutschen und evakuierten wertvolle Bestände in das Innere des Landes. Nach dem Krieg kehrte vieles in die Stadt zurück, doch wie jetzt aus erster Hand zu hören, keinesfalls alles. Wir sind herübergewechselt in das städtische Archiv, wo uns wiederum eine erste Sachkennerin namens Kaja Althof empfängt. Das Spiel wiederholt sich : das Begehren wird vorgetragen, und bange Minuten des Wartens setzen ein. Wenn dann aber der gewünschte Band tatsächlich beigebracht werden kann, ist die Woge der Euphorie kaum zu bezwingen. Die Inspektion setzt ein, und insgeheim regt sich die Frage, wann wer wohl zuletzt die Zimelie in der Hand gehabt haben könnte. Sind wir die Ersten, die gewisse Unregelmäßigkeiten in dem Band feststellen ? Was tut es. Der große Dichter Paul Fleming ist in diesem Band mit ganz seltenen Stücken aus seiner Feder vertreten, und das allein zählt. Eine weiteres Fundstück darf definitiv verbucht und der Fachwelt kann nach Rückkehr Kunde gegeben werden. Zwei Momentaufnahmen. Bei ihnen soll es bleiben, ist inzwischen doch ausführlich Gelegenheit gewesen, wissenschaftlichen Bericht zu erstatten. Und das auf der Basis stets wieder erfolgter Aufenthalte in Reval, wo gute Freundinnen und Freunde den Gast erwarteten. Wenn dann der Ball aufgenommen wird, die amerikanische Fleming-Forscherin Marian Sperberg-McQueen ein zweites Exemplar von Flemings Schäferei in der Ratsschulbibliothek Zwickau auftut und sich darüber ein lebhafter Schrift192
wechsel entspinnt, dann wiederholt sich, was schon die Humanisten so gerne praktizierten. Erkunden von Quellen und Berichten über das Entdeckte sind die beiden Steckenpferde dieser offensichtlich nicht aussterbenden Spezies. Überliefern um jeden Preis lautet ihre Devise. Wir wissen uns gerade diesem Schlag dankbar zugehörig. Zwei geistige Brennpunkte besitzt das kleine Land, in dem ein so reges kulturelles Leben herrscht. Neben der Hauptstadt verfügt Estland über eine Universitätsstadt. Schon im Dreißigjährigen Krieg wurde unter den Schweden in Dorpat eine Universität gegründet, der freilich ein wechselhaftes und insgesamt kein langes Leben beschieden war. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer zweiten Gründung, und der war Dauer und Ruhm beschieden. Bedeutende Namen verbinden sich mit der jüngeren Geschichte der Universität, mit der das alte Livland, Kurland und Estland nun eine Hochschule erhielten, die sich neben der traditionsreichen im benachbarten Litauen zu behaupten vermochte. Es kam zu einer offensichtlich singulären Symbiose aus bürgerlich-gelehrter, in der Tradition der deutschen Universität und zumal Göttingens gefestigter Geistigkeit und einem Einschlag adeligen Standesbewußtseins, wie sie in dieser Ausprägung auf dem Kontinent vermutlich nur in den baltischen Landen erfolgen konnte. Massiv hatte sich die schwedische Herrschaft wie in der Bildungs- so auch in der Bibliotheksgeschichte geltend gemacht. Als die Schweden zu Beginn des 18. Jahrhunderts abzogen und die Herrschaft an Rußland überging, nahmen sie mit, was ihnen für ihr Land bemerkenswert und wertvoll dünkte. Dazu zählten Bücher an erster Stelle. Vornehmlich eben aus diesem Grund stießen wir, wie berichtet, in Stockholm und in Uppsala auf so reichhaltige Bestände, denen die Herkunft aus dem Baltikum auf die Stirn geschrieben stand. Selbst die Dorpater Druckerei wurde entführt. Wären nicht im 18. Jahrhundert großartige Gestalten in der bibliothekarisch verarmten Stadt gewesen, die ihrerseits splendide Sammlungen zusammenbrachten, hätte es in der estnischen akademischen Zentrale trübe ausgeschaut. Und wenn es dann zu Be193
ginn des 19. Jahrhunderts zur Wiederansiedlung einer Universität kam, die auch bibliothekarisch rasch zu Buche schlug, so ist dies nicht zuletzt ihr Verdienst. Es reicht, an den Namen des Dorpater Justizbürgermeisters und Schöpfers eines dreibändigen baltischen Gelehrtenlexikons Friedrich Konrad Gadebusch zu erinnern, um anzudeuten, in welche Richtung zu schauen ist. Ihm verdanken wir eine der reichsten Sammlungen mit Gedichten Paul Flemings. In der Rigaer Akademiebibliothek hatte sie sich verborgen, bevor wir sie dort entdeckten und in einer dem verehrten Kollegen Marian Szyrocki gewidmeten Festschrift darüber berichteten. Doch es blieb ja nicht bei der schwedischen Intervention im Blick auf Bücher und Bibliotheken. Im 20. Jahrhundert setzte sich das Drama fort. Wieder befürchteten russische Kulturpolitiker, daß der erfreulich angewachsenen Bibliothek Gefahr durch deutsche Soldaten drohen könnte, und also wurde neuerlich der Weg der Umquartierung wertvoller Bestände in das Innere des russischen Reichs beschritten. Nach allen was zu hören, sollen die Bücher nach Beendigung des Krieges in den jungen estnischen Staat zurückgekehrt sein. Doch damit war die Geschichte ja nicht beendet. Im Zweiten Weltkrieg wechselte die deutsch-russische Front gerade in Dorpat und Umkreis wiederholt. Ein weiteres Mal waren die Bibliothekarinnen und Bibliothekare gefordert. Sie brachten das besonders Schützenswerte außer Haus. Was dann aber definitiv zurückkehrte, was Deutschen oder Russen in die Hände fiel, was gar vernichtet wurde, scheint offensichtlich bis in die letzten Einzelheiten nicht mehr aufzuklären zu sein. Umgekehrt erfolgte Zufluß aus anderen Häusern, zumal aus Riga und Mitau, im Einzelfall auch wohl aus Reval. Vor der Wende war Dorpat militärisches Sperrgebiet. Man konnte die Stadt nicht umstandslos betreten. Die Neugierde wurde dadurch nur angestachelt. Man wird es der Russischen Akademie und den Verantwortlichen im Land hoch anzurechnen haben, daß sie für den Bibliotheksreisenden aus Deutschland eine Genehmigung erwirkten. Die war freilich auf einen einzigen Tag beschränkt. Also brach man mit den beiden liebenswerten Über194
setzerinnen zur Linken und zur Rechten des Morgens in aller Frühe in einem Wagen der Bibliothek auf und kehrte des Abends spät zurück. In den Stunden dazwischen galt es zu verrichten, was immer möglich war. Und dabei kamen die Sachkenntnis und die Hilfsbereitschaft vor Ort dem Fragenden und Suchenden neuerlich ungemein zustatten. Die Universitätsbibliothek wurde hervorragend geführt, wie sogleich zu bemerken. Fachkräfte waren damit befaßt, Ordnung in die schwierigen Bestandsverhältnisse zu bringen. Und es wurde in der Bibliothek auch von dem Personal selbst rege wissenschaftlich gearbeitet. Als erste Kapazität, wie einhellige Meinung im Haus, galt Arvo Tering. Bleich und schon damals schwer sehbehindert trat er uns entgegen. Er hatte sich der Erforschung der baltischen Studentenschaft verschrieben, wie es sich für einen Gelehrten in der Universitätsstadt nahelegte. Sein ›Album Academicum der Universität Dorpat (Tartu) 1632–1710‹ aus dem Jahre 1984, also dem Jahr, in dem wir unterwegs waren, ist geradezu ein Denkmal alter Gelehrtenkultur. Dieser fundamentalen Studie ist soeben Terings Lebenswerk ›Lexikon der Studenten aus Estland, Livland und Kurland an europäischen Universitäten 1561–1800‹ zur Seite getreten. Ein dem Buch, der Bibliothek, der Universität und der Leserschaft gewidmetes Leben hatte sich vollendet, und wir schätzen uns glücklich, den verehrten Kollegen auf diesem Weg begleitet und ihn wiederholt in unserer Göttinger Arbeitswohnung zu Gast gehabt zu haben. Neben ihm wirkte Ene-Lille Jaanson. Ihr Schwerpunkt war aus gegebenem Anlaß das 18. Jahrhundert. Sie hatte ein Buch über die Produktion des am Ort ansässigen Druckers und Verlegers M. G. Grenzius geschrieben und sich dann der Gestalt Johann Friedrich von Reckes zugewandt. Dieser hatte zusammen mit Karl Eduard von Napiersky in der Nachfolge von Gadebusch das ›Allgemeine Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland‹ geschaffen, welches bis heute das maßgebliche Kompendium geblieben ist. Arbeiten dieses Zuschnitts lassen sich nur auf der Basis vorzüglicher Bibliotheken bewerkstelligen. Über eine solche verfügte Recke. Doch 195
blieb sie nicht geschlossen an seiner Wirkungsstätte im kurländischen Mitau, sondern kam zu Teilen nach Dorpat. Und eben diesem Schatz im Hause widmete sich Ene-Lille Jaanson und führte uns in ihn ein. Recke gehört zu den großen Sammlerfiguren, die auch das alte Livland zumal im 18. Jahrhundert und auf der Wende zum 19. hervorgebracht hat. Ist eine solche Figur vor Ort tätig, überdauert durch sie stets auch kleines und ephemeres lokalspezifisches Schrifttum, das später unschätzbaren Wert erlangt, weil es zumeist den Status des Unikats genießt. Mehrere solcher Sammelbände mit ›Miscellanea Curlandica‹ aus der Bibliothek Reckes gingen durch unsere Hände. Ein Dichter mit klangvollem Namen war unter ihnen, Christian Bornmann, der idyllischen Dichtung im 18. Jahrhundert zugetan. Mit einem großen Gedicht ›Mitau‹ hat er der Residenz der kurländischen Herzöge ein bleibendes Denkmal gesetzt. Auch für Kurland ist über die ›Reckiana‹ ein Platz in der Literaturgeschichte des alten deutschen Sprachraums im Osten reserviert. Osnabrück aber schätzt sich glücklich, diese Stücke und vieles andere aus dem alten Reval und Dorpat in Mikrofilm und Papierkopie in seinen Archiven zu beherbergen. Wenn auch schon vor der Wende im Sperrgebiet Dorpat das Ordern von Texten möglich wurde, so ist dies nicht zuletzt den Direktorinnen der Bibliothek Laine Peep und Malle Ermel zu danken. Die – vorläufig – letzte Station bildete die lettische Hauptstadt Riga, denn Vilnius war 1984 noch unzugänglich. Nach Riga kamen wir gut vorbereitet, und das dank Herbert Jacob. Er hatte Ernst gemacht mit dem methodischen Ansatz seiner Vorgänger und Fortsetzer des ›Goedeke‹, das regionale Prinzip ebenfalls für das 19. Jahrhundert entschieden zur Geltung zu bringen. Das aber bedeutete, auch die baltischen Lande bibliographisch zu dokumentieren, gehörten sie doch selbstverständlich einer Geschichte der deutschen Literatur an. 1966 hatte er den ersten Halbband des 15. Bandes von Goedekes ›Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen‹ im Akademie-Verlag zu Berlin vorgelegt. Er beruhte nicht zuletzt auf Reisen, die Jacob 196
wiederholt vor allem nach Riga geführt hatten. So war er der Mann, von dem Informationen aus erster Hand zu erhalten waren, die freigiebig erteilt worden. Mit Namens- und Adressatenlisten war man ausnahmsweise einmal vorab ausgestattet. Auch sachlich aber war Vorarbeit geleistet und Vorwissen vorhanden. Riga besaß eine reiche Stadtbibliothek. Ihre Geschichte führte wie so häufig auf die Reformation zurück. Ihrem ganzen Zuschnitt nach glich sie den analogen Schöpfungen auf deutschem Boden. Wie diese war sie primär zuständig für das auf Stadt und Region bezogene Schrifttum, das in erreichbarer Vollständigkeit in den Magazinen versammelt sein sollte. Geschichtliche Ergründung der Herkunft und Bestimmung von Stadt und Land besaß in ihr die wichtigste Stütze. Riga aber war auch ein Zentrum des gelehrten Vereinswesens, wie es im Baltikum florierte. Die ›Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands‹ hatte in Riga ihren Sitz. Und auch sie verfügte über eine reiche Bibliothek. Beide waren in dem Areal in und um die Empore und den Kreuzgang des mächtigen Rigaer Doms untergebracht. Doch nur die letztere verblieb dort. Als das alte Rigaer Rathaus zu Ende des 19. Jahrhunderts in der Altstadt umquartiert wurde, bezog die Stadtbibliothek die Räume. Das sollte ihr, man sehe den Ausdruck nach, zum Schicksal werden. In unmittelbarer Nähe des alten Rathauses erhob sich der Turm der Petrikirche. Weithin erstreckte sich der Blick von seiner Spitze über die Düna hinweg ins flache Land und hin zur Ostsee. Das mochte ihn qualifizieren, für militärische Zwecke dienstbar zu sein. Beobachtungsposten und Gerät wurden in ihm von den Russen installiert. Im Frühjahr 1942 standen die deutschen Truppen vor den Toren der Stadt. Sie hatten sie noch gar nicht betreten, da lagen Petrikirche und altes Rathaus infolge von Beschuß über die Düna hinweg bereits in Schutt und Asche, und mit ihnen die Rigaer Stadtbibliothek. Die in den Kreuzgängen des Doms verbliebene Gesellschaftsbibliothek war vom Bombardement nicht betroffen. Sie wurde in den Kriegs- und Nachkriegswirren hoffnungslos zerstreut. Riga hatte seine beiden Schatzhäuser des Geistes verloren. 197
In dieser Situation reist der auswärtige Besucher an. Spurensuche lautet das Motto. Daß diese sich zu einem Jahrzehnte währenden Abenteuer auswachsen sollte, ist bei der Ankunft nicht vorauszusehen. Die Lage der Dinge, die rekonstruktive Passion und nicht zuletzt die Personen vor Ort bringen es mit sich, wenn sich derart ein weiteres Arbeitsfeld auftut. Das Interesse hatte sich auf die nunmehrige Akademiebibliothek zu konzentrieren, die sich mit einem gewissen Recht als die Nachfolgeinstitution der Stadtbibliothek verstehen durfte. Die Erkundungen hatten sich jedoch auch auf die Lettische Nationalbibliothek und das Historische Archiv vor Ort zu erstrecken. Am Schlusse war ein ganzes Buch mit den Ergebnissen der Recherchen gefüllt. Und wenn dann die Lettische Universität Riga den Verfasser mit der Verleihung eines Ehrendoktors ehrte, so durfte er diesen Akt als den schönsten Lohn seiner Bemühungen betrachten. In enger Kooperation mit den heimischen Fachkräften erfolgen derartige eher ungewöhnliche Expeditionen. Ohne den Rückhalt vor Ort laufen sie ins Leere. Am Schluß sind beide Seiten von Dankbarkeit erfüllt, haben sie doch ihr jeweils Bestes gegeben. Voraussetzung bleibt der Wille, Aufklärung über das Geschehene herbeizuführen und wo immer möglich um Restitution bemüht zu sein. In der Akademiebibliothek wirkte mit Meta Taube eine Bibliothekarin, die die deutsche Besatzung noch erlebt hatte und nun alles daran setzte, den einstigen bibliothekarischen Organismus in seiner Struktur zu erkennen und ihm nach der Katastrophe wieder zuzuführen, was immer sich dazu anbot. In Aija Melle hatte sie eine junge Bibliothekarin zur Seite, die schließlich, als die Kräfte der alten Dame erlahmten, die Arbeit in ihrem Geist fortsetzte und dem Restitutor aus Deutschland stetig mit Rat und Tat zur Seite stand. In der Nationalbibliothek ebneten Direktor Andris Vilks sowie Ināra Klekere die Wege. Und als viel später auch das Historische Staatsarchiv in die Recherchen einbezogen wurde, waren zunächst Sarmīte Pijola und sodann Valda Kvaskova und Pārsla Pētersone zur Stelle, um mitzuwirken an der Entzifferung von Provenienzen im Kontext überaus komplizierter Verhältnisse der Überlieferung gleichermaßen von Handschriften wie von Büchern. 198
Als die Arbeit von deutscher Seite aus um anderer Verpflichtungen willen beendet werden mußte und ein publizistisches Fazit gezogen wurde war klar, daß nur eine Zwischenetappe erreicht war. Die Arbeit jedoch hatte die Beteiligten zweier Völker in einer Intensität zusammengeführt, wie sie nur gemeinsames Wirken an der gemeinsamen Vergangenheit im Blick auf eine gemeinsame Zukunft mit sich bringt. In Riga wie in Osnabrück wird die Erinnerung daran nicht verblassen. Und für ein Europa, das sich so schwer mit sich tut, lägen auch auf diesem vermeintlich abseitigen Terrain Aufgaben in Hülle und Fülle bereit, geeignet, um nicht zu sagen prädestiniert dazu, Verstehen und Zusammenwachsen zu befördern.
Von Vilnius über Minsk nach Lemberg
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rst drei Jahre später konnte Vilnius betreten werden. Der nämliche Weg über Moskau und Leningrad sowie Tallinn und Riga war einzuschlagen, bevor die Hauptstadt Litauens in das Blickfeld trat. Wieder war man vorbereitet. Der seinerzeitige Direktor der Bielefelder Universitätsbibliothek Hansjochen Hancke hatte dem Reisenden ein Buch über das alte jüdische Wilna in die Hand gegeben. Wilna gehörte zu den Zentren jüdischen Lebens im Osten, das die Nationalsozialisten auslöschten. Die Stadt hatte ihr historisches Bild weitgehend bewahren können. Katholische, aber auch orthodoxe Frömmigkeit prägen über ungezählte Kirchen die Physiognomie. Der Reisende war aus den protestantischen baltischen Landen in die altgläubigen herübergewechselt. Ein neues Tor hatte sich geöffnet, weiter abliegend von den literarischen Provinzen, die im 17. Jahrhundert ihre humanistische Stimme im deutschen Idiom erhielten, dafür um so nachhaltiger geprägt von gegenreformatorisch-jesuitischem Geist. Daß es jedoch ausgerechnet in Vilnius sein sollte, daß eine OpitzZimelie ans Licht trat, gehört zu den Mirakeln der Überlieferungsgeschichte literarischer Texte. In der traditionsreichen Universitätsbibliothek gelang der Fund. Sie war 1579 gegründet worden und trat damit neben Kra199
kau und Prag. In der litauisch-polnischen Adelsrepublik war sie der gegebene Ort, an dem sich literarisches Gut aus den so ungemein fruchtbaren Grenzregionen Schlesiens, Großpolens und Litauens zusammenfand. Beuthen an der Oder, unweit von Breslau, Fraustadt und Lissa, ist ein ihnen zugehöriges kleines Städtchen. Wer weiß noch von ihm ? Dort hatte der Freiherr Georg von Schoenaich zu Anfang des 17. Jahrhunderts ein Gymnasium errichtet. Da er zu den aufgeklärten Geistern gehörte, wie sie um 1600 allenthalben hervortraten, also religiös liberal eingestellt war und die konfessionelle Frontenbildung verachtete, gelang es ihm, gleichgesinnte Köpfe für seine Anstalt zu gewinnen. Für ein gutes Jahrzehnt hatte das Gymnasium nahezu den Status einer in Schlesien ja fehlenden Universität. Der junge Opitz weilte eben zu dieser Zeit daselbst, eingeführt durch seinen Gönner, den großen Staatsmann und Freund der Künste und Wissenschaften Tobias Scultetus von Schwanensee und Bregoschitz. Eben angekommen in dem historischen Gebäude des mächtigen Areals der Universität und wie üblich sogleich im Katalog blätternd, trat tatsächlich alsbald auch der Name Opitzens hervor. Mühen des Reisens und Glück des Findens gehören zusammen. Ein einziges Exemplar einer lateinischen Ekloge von Opitz war bekannt. Es wurde in der Staatsbibliothek zu Berlin verwahrt und ist seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen. Niemand wußte, daß ein Exemplar des reizvollen schäferlichen Stücks eben in dieser Grenzregion auch in das Kloster Grodno und von dort später nach Vilnius gelangt war. Um eine pastoral verschlüsselte Ehrung des Tobias Scultetus handelte es sich. Doch damit nicht genug. Neben diesem Einzelstück kam ein Sammelband auf den Tisch in dem einzigartigen historischen Lesesaal, geschmückt mit den klassizistischen Fresken von Franciszek Smuglewicz. Er barg ein unbekanntes deutschsprachiges Hochzeitsgedicht Opitzens. Und er führte über die Hochzeiter eben an die Oder nach Beuthen. Mit einem Schlag trat die Kollegenschaft am Gymnasium hervor, gab sich ein poetisches Stelldichein und vermittelte eine Ahnung davon, daß es auch in 200
Beuthen und Umgebung ein reges literarisches Leben gegeben hatte. Opitz und seine Welt erschienen in einem neuen Licht. Darf jedoch hinzugefügt werden, daß der Beuthener Kreis eben erst ein ihm gewidmetes umfänglicheres Buch erhält, so sollte erahnbar sein, wie es um die Langzeitwirkung derartiger Entdeckungen steht ; sie geraten zu dauerhaften Begleitern. Soviel wiederum nur im Ausschnitt zur universitären Bibliothek in Vilnius. Die litauische Hauptstadt besitzt jedoch auch eine Nationalbibliothek und des weiteren eine Akademiebibliothek. Und erst mit deren Erwähnung rundet sich das Bild der baltischen Bibliothekslandschaft. Wiederum jedoch war nicht vorauszusehen, daß die Akademiebibliothek das die Jahre über stets erneut aufgesuchte Domizil werden sollte. Und das aus einem Grund, über den herübergeleitet werden mag zum folgenden Kapitel. Ein reger kultureller Verkehr herrschte zwischen Königsberg und dem benachbarten Litauen und seinen beiden Zentren Kaunas und Vilnius. Nun, in den dramatischen Monaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gewann diese Verbindung eine ganz neue Bedeutung. Vilnius reihte sich ein in die Städte, die plötzlich herrenlos gewordene Bücher aus Königsberg aufnahmen. Das ist eine atemberaubende Geschichte. Doch bevor wir uns ihr zuwenden, soll ein letzter Bogen sich runden. Denn in Vilnius bestiegen wir wiederum einen Nachtzug, und der führte uns noch einmal in eine andere Welt. Zunächst wurde Station gemacht in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Der wiederum äußerst liebenswürdige Direktor I. B.Simanowskij hatte in seiner Akademiebibliothek ein paar Dutzend Bücher ausheben lassen, von denen er vermeinte, daß sie von Interesse sein könnten. Und ist dann ein ›Summarischer Auszug des dreißigjährigen Deutschen Kriegs‹ aus dem Jahr 1649 darunter, versehen sinnigerweise mit einem Stempel ›Deutsche Heeresbücherei Berlin‹, dann weiß man sich seinen Reim zu machen. Nämliches gilt für die Staatsbibliothek zu Minsk, wo uns neben anderen Titeln solche aus der berühmten Bibliothek der Stolbergs in Wernigerode in die Hände fallen. Bücher aus dem daniederliegenden Deutschland wurden über die gesamte Sowjetunion 201
verteilt, zahllose Bibliotheken profitierten von der ›Beutekunst‹. Während Moskau und St. Petersburg ausersehen waren für besonders wertvolle Stücke, ging in andere Häuser des Riesenreichs, was darüber hinaus angefallen war. Eine vollständige Verzeichnung aller in der ehemaligen Sowjetunion lagernden deutschen Bücher nebst Provenienzen existiert bis heute nicht, und es ist mehr als fraglich, ob sie jemals noch wird zustandekommen. Die letzten Tage der bereits wieder Wochen währenden Reise in die Sowjetunion sind der Universitäts- und der Akademiebibliothek im ukrainischen Lwiw gewidmet. Wie soll es gelingen, der gerade mit dieser Stadt sich verbindenden Erinnerungen Herr zu werden, nun, da sie erstmals persönlich betreten werden darf und in ihrer Schönheit den Gast umfängt. Lange Zeit gehörte die Stadt als Lwów zu Polen, bevor sie 1772 bei der ersten polnischen Teilung an Österreich fiel, nun als Hauptstadt Galiziens Lemberg genannt. Nach dem Ersten Weltkrieg kam die Stadt kurzfristig wieder an die Polen, die in ihr ein wissenschaftlich-kulturelles Herz in Gestalt des Ossolineums besaßen. Zwischen 1939 und 1941 war sie Teil der ukrainischen Sowjetrepublik, wurde von den Deutschen besetzt, fiel zurück an die Sowjetunion und firmiert ab 1991 schließlich als Gebietshauptstadt der Ukraine. Den Besucher erwartet eine vom Krieg weitgehend verschonte Stadt, über der immer noch ein Schimmer aus der Glanzzeit der Donau-Monarchie liegt. Brückenschläge auch baulich sinnfällig zu machen, ist ihre Bestimmung geblieben, das Gedenken des alten Europa unweigerlich evozierend. Nur ein paar Schritte liegen die armenisch-katholische und die römisch-katholische Kirche auseinander, und über der Stadt thront weithin sichtbar die griechisch-orthodoxe Kirche, dicht gefüllt am Weihnachtsabend des 31. Dezember, da auch wir uns in der Stadt aufhalten. Wieder waren es die beiden Bibliotheken der Universität und der Akademie, die in die politischen Auseinandersetzungen hineingezogen wurden und schweren Tribut zollten. Die unter Joseph II. errichtete Universitätsbibliothek wurde in den Kämpfen von 1848 zerstört, und die Akademiebibliothek wurde ein Opfer der faschistischen Okkupation, verlor mehr als zehntausend 202
Altdrucke, darunter über dreihundert Inkunabeln und zudem einige tausend Manuskripte. Man ermesse danach, was es bedeutet, wenn der Direktor der Bibliothek am Schluß des Besuchs zu einer gemeinsamen Wanderung in die nahen Karpaten einlädt und die getreue Übersetzerin Larissa Tsybenko den deutschen Gast später umgekehrt gerne in seiner Heimat aufsuchen wird und sogar als Beiträgerin für Kongreßvorhaben zu gewinnen ist. Brücken zu schlagen ist wie seit eh und je die vornehmste Bestimmung des Reisenden geblieben. Zweiundzwanzig Stunden fährt der Zug von Lemberg nach Moskau. Wir reisen mit einer alten ukrainischen Bäuerin und ihrem Sohn in einem Abteil, und das geschilderte Treiben wiederholt sich. Was uns in der alten Sowjetunion räumlich auszumessen vergönnt war, ist in einem ersten Durchgang – mit einem wichtigen Annex – erfolgt. Gerne wären weitere Städte und Nationen im Vielvölkerstaat besucht worden. Statt jedoch weiter auszugreifen, galt es in den folgenden Jahren, für Vertiefung Sorge zu tragen. Das ist nach Maßgabe des Möglichen geschehen, und doch ist nur allzu gegenwärtig, wie viel zu tun bleibt. Von dieser Situation weiß ein jeder Archiv- und Bibliotheksreisende zu erzählen. Schließlich will das Gesehene am heimatlichen Schreibtisch verarbeitet und derart auf neue Weise bewahrt werden. Am Tage der Niederschrift dieser Zeilen im April des Jahres 2018, der Tag des Buches steht unmittelbar bevor, erscheint ein Zeitungsinterview des Autors mit Harro Zimmermann, betitelt ›Es ist eine Katastrophe‹. Das war gesagt im Zusammenhang mit den ins Stocken geratenen Restitutionen von Büchern in Europa. Unser kleiner Bericht über die Reisen in die Sowjetunion, wie er in einem Rückblick nicht fehlen durfte, war umspielt von vielerlei Zeichen der Hoffnung, ja des Glücks, wie sie sich an Bücher und Bibliotheken nicht anders als an Städte, Landschaften und Menschen knüpften. Auch das vielleicht dunkelste Kapitel, dem wir uns nunmehr zuzuwenden haben, ist davon nicht ausgenommen.
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Emblem des untergegangenen alten Deutschland
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önigsberg blieb vor der Wende unerreichbar. Alle Versuche der Deutschen Forschungsgemeinschaft, einen Zugang zu erwirken, scheiterten. Die Ungeduld war groß, und als eine erste Chance sich auftat, wurde sie ergriffen. Und das selbstverständlich im Zeichen der Literatur und genauer der des 17. Jahrhunderts, da sie in der Stadt am Pregel eine feste und für Kenner berühmte Heimstatt besaß. Was ist geworden aus der geistigen Hinterlassenschaft dieses Kreises ? Andeutungen mancherlei Art durchziehen unsere Zeilen bereits aus gegebenem Anlaß. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, einen Moment innezuhalten und wiederum dem erinnernden Wort, das eines auf divergenten zeitlichen Ebenen ist, Raum zu gewähren. Drei große bibliothekarische Zentren besaß der deutsche Osten. Es waren dies Breslau, Danzig und Königsberg. Daß zahlreiche weitere für die Region wichtige Bibliotheken hinzutraten, ändert an dieser Feststellung nichts. Über Breslau und Danzig wurde berichtet. Beide vor allem zur Rede stehenden Bibliotheken daselbst, nämlich die städtischen, hatten ihre Vorkriegsbleibe bewahren können. In Breslau war eine Umquartierung der Drucke vor 1800 und der Handschriften in das zerstörte, aber wieder aufgebaute Haus der Universitätsbibliothek auf der Sandinsel erfolgt, die Danziger Bibliothek hingegen verblieb ungeachtet eines nomenklatorischen Wechsels am Platz. In beiden Städten waren trotz der Umschichtungen und Verluste auch nach dem Kriege gute Arbeitsbedingungen vor Ort gegeben, ja, ein Vorkriegs-Fluidum hatte sich, wie angedeutet, erhalten. Königsberg lag im Dunkeln. Es mußte davon ausgegangen werden, daß in der zerstörten Stadt auch die bibliothekarische Habe vernichtet worden war. Königsberg war Universitätsstadt, also gab es zwei Bibliotheken, diejenige für die akademische Welt und die in erster Linie für die heimische Bevölkerung bestimmte. Beide Häuser hatten eine lange Geschichte. Der erste weltliche Herrscher im fernen Preußenland Herzog Albrecht hatte sich um den Aufbau einer höfischen Bibliothek verdient gemacht, welche 204
die Keimzelle der Universitätsbibliothek werden sollte. Und die Geschichte der Stadtbibliothek führte ebenfalls zurück in die Zeit der Reformation. Zu den Besonderheiten der Königsberger Bibliotheksszene gehörte es jedoch, daß keinesfalls nur die städtische, sondern auch die universitäre Institution prall gefüllt war mit Zeugnissen zur Geschichte und Kultur des Herzogtums und seiner Menschen. Das galt im spezielleren Sinn auch für die Literatur und nochmals zugespitzt insbesondere für die des 17. Jahrhunderts. Der Barockforscher interessiert sich, wenn er nach Königsberg blickt, keinesfalls ausschließlich, aber doch in erster Linie für den Königsberger Dichterkreis um Simon Dach, Heinrich Albert und ihre Freunde. Nach dem Gesagten bedarf es keines weiteren Wortes, daß die beiden Bibliotheken vor Ort, möglicherweise mit dem einen oder anderen Ableger im städtischen und im staatlichen Archiv, die weltweit wichtigsten Stätten für die Dokumentation des von den Dichtern im Verein mit den Musikern praktizierten musischen Treibens waren. Wurden sie versehrt oder gar vernichtet, klaffte eine nicht zu schließende Lücke im Bild der regional verfaßten deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Also mußte es im Interesse der Zunft liegen, sich ein näheres Bild über die Lage der Überlieferung zu verschaffen. Erheblich war indes das Erstaunen, daß in dieser Hinsicht bis dato kaum etwas geschehen war. Ging man davon aus, daß der Fall ohnehin hoffnungslos sei ? Wie auch immer. Ein weiteres Reiseziel und damit ein weiteres Arbeitsfeld taten sich auf, Jahrzehnte beackert und immer noch im Blick. In der glücklichen Lage, auch darüber zwischenzeitlich ausführlicher berichtet zu haben, dürfen wir uns wiederum kurz fassen. Im alten deutschen Kurort Rauschen direkt an der Ostsee wurden wir untergebracht. Der Kontrast zu unserer täglichen Arbeitsstätte hätte nicht drastischer sein können. Rauschen ist aus der deutschen Zeit so gut wie unverändert in die russische übergegangen. Das vierzig Kilometer entfernte Königsberg ist als ehemals deutsche Stadt von wenigen Außenquartieren und einigen erhaltenen Häusern in der Stadt selbst nicht mehr existent. 205
Festungszeit, Bombardement und nachfolgende Planierung haben der Stadt das Gesicht geraubt. Als wir später anläßlich einer in Rauschen abgehaltenen Konferenz Kolleginnen und Kollegen für ein paar Stunden auch nach Königsberg führten, standen einigen von ihnen, den Worten unserer Begleiterin und Übersetzerin lauschend, die Tränen in den Augen. Wo in Polen ein restaurativer Wille zu gewahren war, ist in Königsberg in brutaler Manier die Vergangenheit beseitigt und ein imperialer Wille gerade auch baulich ratifiziert worden. Seither ist jedoch keine Ruhe eingekehrt. Nicht nur von deutscher Seite, sondern auch von Teilen der Königsberger Bevölkerung selbst wird ein Umschwung eingeklagt. Empfangen von der Übersetzerin Ljuba Georgiewna, einer charmanten und eloquenten Germanistin, uns bereits freundschaftlich verbunden, vernimmt der Kollegenkreis aus ihrem Mund, daß er eingetroffen sei in einer siebenhundert Jahre alten deutschen Stadt. Wir hören ähnliche Worte nicht nur einmal und nicht nur aus ihrem Mund. Ein Wunsch und Wille nach historischer Rückvergewisserung ist spürbar, und der soll auch in der städtischen Physiognomie seinen Ausdruck finden. In der jungen Universitätsbibliothek ist man wie überall vorbereitet. Die Direktorin Alexandra Schkizkaja läßt es sich zusammen mit ihrer glänzend deutsch sprechenden Bibliothekarin Irina Kidalinskaja nicht nehmen, den Gast zu führen und alsbald auch in der Bibliothek mit Speisen aus ihrer heimischen Küche zu versorgen. Was mag sich aus altem Vorkriegsbesitz heute in ihrem Haus an Altdrucken befinden ? Nun, die Stätte war mehrere Jahrzehnte lang kahlgefegt. Es war nichts verblieben vor Ort, und erst allmählich füllten sich die Tresore wieder. Die Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau, die INIONs-Bibliothek, selbstverständlich auch von uns besucht, hatte zwischenzeitlich aus ihrem deutschen Fonds knapp 400 Altdrucke an den Ort ihrer Herkunft zurückgegeben. Doch deren Zahl wuchs stetig an. Schwerlich mag man es glauben, doch durfte man mit eigenen Ohren hören, daß eine Mitarbeiterin der Bibliothek und Kustodin des Kant-Museums 206
namens Olga Krupina stetig nach Moskau aufbrach, dort in der INIONs-Bibliothek Ausschau hielt nach Königsberg betreffenden Büchern und sodann mit prall gefülltem Rucksack an den Pregel zurückkehrte. Daß es sich bestenfalls um einen Tropfen auf den heißen Stein handeln kann, liegt auf der Hand, tut aber dem ehrenwerten Handeln keinen Abbruch und ist nur allzu symptomatisch für die Königsberger Ausnahmesituation auch auf dem Felde des Bibliothekswesens. Eine Herkulesarbeit zeichnete sich ab. Wir erzählen eine von vielen möglichen Geschichten um des Exempels willen. Der Adel bestimmte auf vielerlei Weise auch kulturell das Bild im alten Ostpreußen. So beispielsweise im Blick auf das Sammeln von Zeugnissen in Handschrift und Druck, die Kunde gaben von den Geschicken des Landes und seiner Menschen. Zu ihnen gehörten die ursprünglich aus dem Fränkischen stammenden von Wallenrodts. Sie waren in Preußen zu einem der führenden Geschlechter aufgestiegen und vielfach in Spitzenpositionen des jungen Staates aufgerückt. Und das im Verein mit ausgesprochen bibliophilen Neigungen. Der Begründer der Bibliothek des Hauses Martin von Wallenrodt wurde 1619 zum Kanzler des Herzogtums Preußen ernannt ; sein Sohn Johann Ernst besetzte als Landhofmeister den wichtigsten Posten in Preußen, und Ernst von Wallenrodt schließlich, der dritte große Förderer der Familienbibliothek, übernahm 1690 das Amt des preußischen Tribunalrats. Im 17. Jahrhundert, fast zeitgleich zum literarischen Geschehen, wurde der Grund für die Bibliothek gelegt. Sie umfaßte rund 10.000 Bände. Das schien nicht eben übermäßig viel. Doch die Zahl trügt, handelte es sich doch oftmals um Sammelbände. Diese sind das Auffangbecken von kleinen Schriften, nicht selten treten Hunderte von ihnen zwischen zwei Buchdeckeln zusammen. Und wenn dann daselbst Leichenpredigten und Trauergedichte, Hochzeits- und Gratulationsgedichte, akademische Disputationen und Flugschriften vornehmlich mit lokalem Einschlag sich ein Stelldichein geben, dann ist für jedwede geschichtliche Arbeit eine schlechterdings ideale Ausgangslage vorhanden. Genauso stand es um die Wallenrodtsche Bibliothek. 207
Sie war einer der vornehmsten Gedächtnisspeicher des Herzogtums Preußen und sodann des alten Ostpreußen. In Königsberg wußte man, was man an ihr hatte. Jahrhunderte über standen die Bücher in zwei anheimelnden Lesezimmern im ehrwürdigen Königsberger Dom. Auch ein E. T. A. Hoffmann vermochte davon zu erzählen. Dem 20. Jahrhundert war es vorbehalten, eine folgenschwere Teilung zu praktizieren. Nur die Dubletten, wohl runde 4000 Bände, verblieben im Dom, der Hauptteil wurde in die Universitätsbibliothek überführt. Und dann nahte die Katastrophe. Der Dom wurde zerstört, und so wohl auch die meisten der Wallenrodiana. Denen aber in der Universitätsbibliothek stand eine denkwürdige Odyssee bevor. Die deutschen Bibliothekare wußten um die drohende Gefahr. Sie verpackten das wertvolle Gut sorgfältig und stellten es zur Evakuierung in zweihundert Kisten bereit. Doch es war zu spät. Die Front war näher gerückt, ein Abtransport kam nicht mehr zustande. Die Bücher fielen in die Hände der Sieger, und doch auch wieder nicht. Um darüber aber Näheres zu erfahren, mußte man in Vilnius geweilt haben, und zwar in der Akademiebibliothek, in der wir unsere Erzählung unterbrachen. Wir hatten das große Glück, in dem seinerzeitigen Direktor Juozas Jurginis noch einen Zeitzeugen kennenzulernen, der uns in sein Haus einlud und berichtete. Noch im Jahr 1945 war er mit Kollegen aufgebrochen, um in Königsberg und Umgebung vor allem nach litauischen Handschriften und Büchern zu suchen. In Königsberg selbst wurde man im unzerstörten Historischen Staatsarchiv fündig. Und tatsächlich gelang es, zumindest Teilen der Wallenrodiana habhaft zu werden und sie nach Vilnius zu überführen. Im Gegensatz zu anderen Büchern, die vor allem an den Auslagerungsorten in der Umgebung durch Wasser und Feuer gelitten hatten, befanden sich die geretteten Wallenrodiana durchweg in tadellosem Zustand. Die mit Königsberg über Jahrhunderte eng verbundene litauische Kapitale wäre also der gegebene Ort für eine zumindest interimistische Verwahrung gewesen. Doch es kam anders, und Jurginis erzählte davon. Eine russische Kommission erschien in Vilnius, beschlagnahmte, was nicht vor208
her versteckt werden konnte und transportierte auf einem Lastwagen Teile des soeben nach Vilnius gelangten Bestandes ab. Eben an dieser Stelle setzt das ›Projekt Königsberg‹ ein, unter welchem Namen es in Osnabrück firmiert. Ein zerstreuter Königsberger Buchbestand alter und wertvoller Drucke ist zu rekonstruieren und zumindest virtuell wieder zusammenzuführen, und das nicht nur im Blick auf die Wallenrodiana, sondern für alle aus Königsberg herrührenden Bestände der Frühen Neuzeit. Wenn nach Jahrzehnten inzwischen ein Fazit gezogen werden kann, so bleibt es doch allemal ein vorläufiges. In der Akademiebibliothek zu St. Petersburg stießen wir schon bei unserem ersten Besuch in erheblichem Umfang auf Wallenrodiana. Ob es sich um aus Vilnius von den Russen abtransportierte Exemplare handelte, muß offen bleiben, ist aber sehr wahrscheinlich. Aber auch in Moskau müssen Bände verblieben sein, wie anders hätte die mutige Königsberger Kant-Verehrerin sonst mit Büchern dieser Herkunft nach Königsberg zurückkehren können ? In Vilnius selbst aber wurden gleichfalls zahlreiche Wallenrodiana verwahrt. Von Juozas Marcinkevičius, dem Nachfolger von Jurginis, wurden sie uns freimütig in ihrer ganzen Pracht vorgelegt, ja, sogar in die Magazine der Akademiebibliothek durften wir herabsteigen und uns eine unmittelbare Anschauung bilden. Den linguistischen Transfer bewerkstelligte bei jedem Besuch Ona Bliudžiūtė, auch sie immer wieder gern gesehener Gast in Osnabrück. In Polen ist die junge Universitätsbibliothek Thorn in den – zweifelhaften ? – Genuß von Wallenrodiana und vieler anderer Bücher aus Königsberg gekommen. Wir hatten uns also auch dort immer wieder umzutun, unterstützt von dem aufgeschlossenen und zu früh verstorbenen Direktor Stefan Czaja und der Leiterin der Altdruckabteilung Maria Strutyńska, die sich stetig mit der Herkunft der nun in ihrer Abteilung zusammengeströmten Bestände befaßte. Polen ist aber auch in anderer Hinsicht zu einer wichtigen Schaltstelle für das einstige Königsberger Bücherparadies geworden. In Allenstein werden namhafte Bestände verwahrt, die den polnischen Fachkräften bei ihren Exkursionen auf der Suche nach deutschem Kulturgut vornehmlich in Westpreu209
ßen sowie dem südlichen Ostpreußen in die Hände fielen, das nun auf polnischem Boden lag. Und selbstverständlich ist auch die polnische Hauptstadt nicht leer ausgegangen. Aus allen Regionen im östlichen Deutschland hatte sie Bücher in ihren Besitz genommen, und so auch aus Königsberg. Das aber gibt Gelegenheit zu einer letzten Bemerkung in diesem knappen Rapport. Denn was war aus der alten Königsberger Stadtbibliothek geworden ? Sie galt als zerstört, und kaum mehr als das war seinerzeit in Erfahrung zu bringen. Wie staunten wir aber, als uns nun eben in der Bibliothek des KrasińskiPalais eine Reihe von alten Drucken aus dem 17. Jahrhundert in die Hände fiel, die wiederholt mit Stempeln aus der deutschen Zeit versehen waren, welche eindeutig auf die Stadtbibliothek verwiesen. Auch für sie also durfte gehofft werden, zumindest Fragmenten doch noch habhaft zu werden. Wiederum zum Schluß nur ein einziges Beispiel. Im Jahr 1652 beging die Stadt Tilsit ihren 100. Geburtstag. Sie lag in der Nähe von Memel, der Geburtsstadt Simon Dachs. Und der griff tatsächlich zur Feder und verfaßte ein großes Gedicht anläßlich des Jubiläums, ausgestattet mit einem langen Titel, anhebend : ›Lob vnd Auffwuchs Der Churfürstlichen löblichen in dem Hertzogthum Preussen gelegenen Handels-Stadt Tilsit‹, welches eben im Jahr 1652 in Königsberg erschien. Das von uns entdeckte Exemplar stammt aus der Bibliothek Rudolf Reickes, der als Bibliothekar an der Universitätsbibliothek wirkte. Der Direktor der Stadtbibliothek wußte es nach dem Tod Reickes zu Anfang des 20. Jahrhunderts für sein Haus zu sichern. Zwei Stempel der Stadtbibliothek waren auf dem Titelblatt angebracht, und auch die Signatur war noch zu erkennen : Pb 11. Nun war es in die Nationalbibliothek Warschau gelangt. Der Schmutz des offensichtlich ausgelagerten Stücks hing noch an den vier Folioblättern ; es muß irgendwo 1944/45 in feuchter Erde gelegen haben, bevor es aufgefunden und in den bergenden Hafen einer Bibliothek zurückgeführt wurde, auch wenn diese nicht mehr in Königsberg lag. Es war der Katastrophe entkommen und war umgeben von der Aura seines Geschicks über die Jahrhunderte 210
hinweg, hatte die Gestalt eines Emblems, eines geschichtlichen Denkbildes angenommen. So teilen sich heute Rußland, Litauen und Polen aus Königsberg herrührende Schätze. Und damit ist noch gar nicht angemerkt, daß kurz vor Kriegsende wertvollste Handschriften und Drucke zumal aus dem Königsberger Historischen Staatsarchiv in den Westen verbracht werden konnten. Sie lagerten lange in Göttingen, wurden dort als einzige in Westdeutschland zugängliche Quelle viel benutzt und haben heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin eine Bleibe gefunden. Ob es eine endgültige sein wird ? Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Es käme einem Wunder gleich, wenn ein deutsches kulturelles Erbe, verteilt auf mehrere Länder, in die nunmehrige russische Exklave zurückgelangte. Die Staaten Europas und Rußland müßten sich in jenem auf friedvolles Zusammenleben gegründeten Willen treffen, der einen Moment lang auf der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich erfahrbar war. Wird er noch einmal wiederkehren ? Dann erst wäre eine verhängnisvolle Geschichte zu einem sinnfälligen Abschluß gelangt und neue Hoffnung zu schöpfen auch für die Stadt am Pregel und ihren unvergänglichen Beitrag zur geistigen Fundamentierung des einen europäischen Hauses.
Die Frühe Neuzeit formiert sich
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ie Rückkehr in die Heimat war zu bewerkstelligen. Vieles und vielfach Abenteuerliches galt es zu verarbeiten. Wie aber Kunde geben von dem Gesehenen und in mehreren Fällen erstmal wieder Zugänglichen ? Leicht vorstellbar, daß ein größerer Kreis gerne teilnehmen würde an Erzählungen aus einer ferngerückten Welt. Ja, es gab Zeiten, da Rundfunk, Zeitung, Kulturzeitschrift den Rückkehrer offenen Ohres begrüßten und Zeit und Raum in beträchtlichem Umfang gewährten. Der unvergessene Friedhelm Kemp verwandte sich im Bayerischen Rundfunk für den fliegenden Reporter ; mit Benedikt 211
Erenz und Rolf Michaelis entspann sich über ›Die Zeit‹ ein lebhaftes Gespräch ; und der gleichfalls unvergessene Günther Busch im Fischer-Verlag, mit dem jenes Opitz-Buch vereinbart war, das soeben zur Publikation gelangt, wurde ein Beitrag für die ›Neue Rundschau‹ vereinbart, die Golo Mann so eindrucksvoll erneuert hatte, von dem nach wie vor ein schöner handgeschriebener Brief im ersten Heft unter seiner Regie liegt. Blätternd in dem Reisebericht, beginnend im Moskauer Zirkus, erfüllt von Friedensrufen, steht eine von Hoffnung erfüllte Welt wieder auf, wie sie nur eine kurze Zeit erfahrbar war. Doch auch daheim warteten verheißungsvolle Aufgaben. Nach knapp zehn Jahren war es an der Zeit, der regen Frühneuzeitforschung vor Ort einen festen Rahmen zu verschaffen. Das Naheliegendste wäre die Gründung eines Instituts gewesen. Dieser Institution jedoch haftete in den Augen vieler ›Reformer‹ aus der Gründerzeit das Odium eines Teufelsdinges an. Institute erinnerten an die alte Universität, die man doch hinter sich gelassen hatte, um zu neuen Ufern aufzubrechen, und das nicht selten unter Preisgabe der an den Universitäten immer noch beheimateten wissenschaftlichen Standards. In den zumeist viele Fächer umfassenden ›Fachbereichen‹ gab es keine Institute, die hätten die Macht der Fürsten in den Fachbereichsräten ja eingeschränkt. Es mußten also andere Wege beschritten werden. Das Niedersächsische Hochschulgesetz, kurz NHG genannt – unsere Häuptlinge hatten es stets unter dem Arm, kannten es womöglich zu weiten Teilen auswendig –, wies die Richtung. Es sah ausdrücklich die Gründung interdisziplinärer Arbeitsgruppen vor, die – gesetzlich abgesegnet – durchaus einen formellen Status hatten. Die Erinnerung mag trügen, doch es dürfte sich um den ersten Zusammenschluß von Frühneuzeitlern im deutschen Sprachraum gehandelt haben. Die Idee freilich lag in der Luft, und es wäre gewiß von Interesse, den Motiven dafür nachzuspüren. Die Historiker sind damit inzwischen befaßt, doch fehlt ihnen leider oftmals der rechte Blick für das Treiben jenseits ihres eigenen Faches und damit eben jener interdisziplinären Arbeitsformen, die ihre eigenen Modalitäten und Gesetzlichkeiten besit212
zen. Das soeben unter der Obhut der Historiker erschienene Heft ›Frühe Neuzeit‹ gibt von den hier zu berichtenden Aktivitäten keine Kunde, und das will mehr als symptomatisch erscheinen. Es dauerte also nicht lange, und in Augsburg, Frankfurt am Main und Wien wurden gleichfalls interdisziplinäre Zentren gegründet, die nun selbstverständlich als Institute firmierten. Eine Sonderstellung bewahrte Halle, das Lieblingskind von Rudolf Vierhaus. Das dortige Institut war – und ist – der interdisziplinären Erforschung der Aufklärung gewidmet, wie sie in Europa und den Vereinigten Staaten vielfach seit längerem betrieben wurde. Insbesondere der Brückenschlag nach Frankreich sollte befördert werden. Die Besonderheit bewirkte aber in keiner Weise, daß nicht auch nach Halle Verbindungen hergestellt wurden. Der Osnabrücker Initiator jedenfalls ging alsbald auf Reisen. Ihm war daran gelegen in Erfahrung zu bringen, wie man an den genannten Orten vorzugehen gedachte. Und natürlich waren es die Personen, die lockten. Überall war der Empfang der denkbar freundlichste. Es war förmlich zu spüren, wie allenthalben Aufbruchstimmung herrschte. Man war sich bewußt, Neuland zu betreten. Und das weniger über Stoffe und Motive als über Zugänge und Verfahrensweisen. Jetzt zahlte sich aus, daß verschiedene Disziplinen sich zusammentaten. Die Verschiedenheit in Optik und Forschungsstand war von vornherein gegeben. Also kam es darauf an, wechselseitiges Verstehen, Austausch von Gedanken und damit Annäherung zu befördern. Gemeinsame Sitzungen, Vorträge der Mitglieder, Ringvorlesungen, gerne auch mit auswärtigen Gästen aus den Instituten, und schließlich Kongresse boten sich gleichermaßen an. Hier ist – in Erinnerung an die vielen Begegnungen mit den auswärtigen Kolleginnen und Kollegen – allein über Osnabrück ein wenig zu sprechen. Ein ganzer Aktenordner ist gefüllt mit Aufzeichnungen. Fachvertreter aus zehn Disziplinen, herkommend aus fünf verschiedenen Fachbereichen, taten sich zusammen. So, als hätte man künftige Entwicklungen vorausgeahnt, firmierte der Zusammenschluß zunächst unter dem Titel ›Spätmittelalter und Frühe Neu213
zeit‹. Das aber vermutlich eher okkasionellen Gegebenheiten als programmatischen Erwägungen geschuldet. Ein Mediävist wollte und sollte dabei sein, und als er sich später zurückzog blieb es bei der ›Frühen Neuzeit‹. Erst viel später, so in Berlin, Göttingen, München, erfreute sich die Kombination mit dem späteren Mittelalter aus naheliegenden Gründen erheblicher Beliebtheit, waren doch gleich mehrere Jahrhunderte einer Übergangszeit am besten von beiden Seiten aus zu inspizieren, und die Verständigung darüber an einem Ort der Sache nur förderlich. In Osnabrück waren es Kolleginnen und Kollegen aus der Evangelischen und der Katholischen Kirchengeschichte – WolfDieter Hauschild und Friedhelm Jürgensmeier –, der Historischen Sozialwissenschaften und der Geschichte der Sozialen Bewegungen – Dirk Axmacher, Rüdiger Griepenburg und György Széll –, der Geschichte des Erziehungswesens und der Bildungs- und Sozialgeschichte – Horst Krause und Klaus Wriedt –, der Kunstgeschichte und der Allgemeinen Sprachgeschichte – Jutta Held und Utz Maas – sowie der Germanistik und der Romanistik – Klaus Garber und Lothar Knapp –, die sich zusammentaten. Ersichtlich ist daraus, daß die Historiker der Frühen Neuzeit noch fehlten. Heinz Schilling, der alsbald einen so imponierenden Aufstieg nehmen sollte, hatte Osnabrück gerade verlassen und noch keinen Nachfolger gefunden. Auch in der Anglistik klaffte eine deutlich erkennbare Lücke – Folge der unverantwortlichen Attitüde des Lehrstuhlinhabers, sich lieber der Politik zu verschreiben. Auch die Altphilologie fehlte noch. Diese Scharten sollten in einer späteren Phase ausgewetzt werden können, und beide Bereiche mit hervorragenden Fachvertreterinnen und -vertretern besetzt werden, die zum Profil des späteren Instituts maßgeblich beitrugen. Die Universität aber war eine institutionelle Kreuzung, dem politischen Proporzdenken geschuldet, das da so überaus massiv in die Gründungsphase hineinspielte. Zwei pädagogische Hochschulen sollten in der neuen Universität Osnabrück-Vechta zusammengeführt werden. Die Rektoren bzw. Präsidenten in Osnabrück hatten ihre liebe Mühe mit den ungezählten daraus resultierenden Problemen. Die Frühneuzeit-Mannschaft scherte 214
sich darum nicht, sondern machte das Bestmögliche aus der nun einmal gegebenen Situation. Ein renommierter Anglist und ein Historiker der deutschen Sprache kamen aus Vechta hinzu. Und als dann das Institut näher rückte, die Historiker hinzutraten, die Romanistik Verstärkung erhielt, die Editionswissenschaft gewonnen wurde, da durfte sich die Universität Osnabrück doch rühmen, in schwieriger Ausgangslage Verheißungsvolles auf den Weg gebracht zu haben. Es wird alsbald zu erzählen sein, was gemeinsam unternommen wurde.
Ein Organ der Makro-Epoche
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ublizistische Optionen mußten ins Auge gefaßt werden. Eine besonders wünschenswerte schälte sich nach vielen Zusammenkünften von Vertretern der fünf Institute in Augsburg, Frankfurt, Halle, Osnabrück und Wien erst vergleichsweise spät heraus. Möglicherweise fehlte der Mut zu einer so weitgehenden Entscheidung angesichts der an den verschiedenen Orten bereits eingetretenen Entwicklungen. Die fünf Frühneuzeitzentren, so der kühne Gedanke, sollten sich zusammentun und ein gemeinsames interdisziplinäres Periodikum für die Frühe Neuzeit begründen. Dazu waren sie aufgrund ihres weiten fachlichen Einzugsbereichs hervorragend gerüstet und hatten dies teilweise ja bereits durch eigene Organe eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Nun würde die Kooperation nochmals einen Schub bewirken und zugleich die internationale Aufmerksamkeit befördern. Jede der fünf Institutionen würde ihre starken Seiten einbringen können. Besonders wichtig war den Planern, jedem Heft eine breitgefächerte Bibliographie der aktuellen Forschungsliteratur beizugeben. Die Wiener hatten das in ihrem ›Frühneuzeit-Info‹ vorgemacht. Und eben an dieser Stelle stockte das schöne Vorhaben und kam schließlich nicht mehr zustande ; die Bibliographie sollte unter Wiener Obhut verbleiben. Osnabrück besaß kein eigenes periodisches FrühneuzeitOrgan. Hier war frühzeitig ein anderer Weg beschritten worden. 215
Noch in der ersten Hälfte der achtziger Jahre führte eine Reise zu Robert Harsch-Niemeyer in Tübingen. Zu dem traditionsreichen Verlag bestanden enge Verbindungen, schließlich war bei Niemeyer vor zwanzig Jahren die erste eigene Publikation erschienen. Der Besucher hatte sich gerüstet und wußte eloquent zu erzählen von den sich vielerorts regenden Aktivitäten auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit, um sodann zuzusteuern auf sein Projekt. Die richtige Zeit wäre es, um die Gründung einer der Frühen Neuzeit gewidmeten Buchreihe ins Auge zu fassen. Und das – im Gegensatz zu dem Zeitschriften-Projekt – für das sich eben neu formierende Gebiet der Erforschung der frühneuzeitlichen Literatur in Deutschland im europäischen Kontext. Der Verleger hörte gerne zu, zeigte sich interessiert und äußerte dann eine Frage, die seine ganze Erfahrung im Umgang mit kühnen Projekteschmieden erkennen ließ. Könnte man sich vorstellen, so seine Einlassung, kompetente Kollegen für das schöne Vorhaben zu gewinnen ? Diese Frage vermochte das Gegenüber spontan und mit voller Überzeugung zu bejahen. Es dauerte nicht lange, bis dem Verleger Rückmeldung gegeben werden konnte. Noch einmal erfüllte sich ein Wunsch. Alle angesprochenen Kollegen sagten zu. Für das späte Mittelalter und die Übergänge in die Frühe Neuzeit wurde Jan-Dirk Müller gewonnen, für den in jedem Fall zu berücksichtigenden neulateinischen Schwerpunkt hielt sich Wilhelm Kühlmann bereit, speziell für das 18. Jahrhundert erteilte Gotthardt Frühsorge seine Zusage und der eben sich herausformende mediale und memoriale Aspekt im Blick auf das frühneuzeitliche Literaturgeschehen wurde durch Jörg Jochen Berns in das Projekt eingebracht. Dem Initiator oblag es, stellvertretend für die nunmehr fünfköpfige Herausgebergruppe die Ziele zu umreißen. Da hieß es in dem Geleitwort zu dem ersten Band : »Die Reihe möchte mitwirken an dem Versuch, die Kluft zwischen begriffsloser Empirie und gegenstandsloser Theorie zu überbrücken und insbesondere Unternehmungen fördern, die im Bewußtsein der unerhörten Schwierigkeiten gleichwohl festhalten an dem Bemühen, konkrete literarhistorische Arbeit an den Stoffen mit dem Nachden216
ken über die Voraussetzungen und Methoden zu verbinden. Die Herausgeber hoffen, daß sie in erheblicher Anzahl größere dokumentarische Quellenarbeiten, und zwar gleichermaßen Bibliographien, Editionen und materialintensive Untersuchungen vorlegen können. Sie werden darauf hinwirken, die eingehende Erschließung der neu ans Licht gehobenen Schätze zu fördern und wo immer angängig den damit verbundenen theoretischen Implikationen gerecht zu werden. Neben der Autoren-, Gattungs- und Regionalbibliographie bzw. Edition soll die große Monographie stehen, neben der Tagungsdokumentation das Porträt literarischer Landschaften, neben der aktuellen methodischen Diskussion die Rettung vergessener Zeugnisse der wissenschaftlichen Bemühung um die Frühe Neuzeit. Die autoren- und textsorten-, motiv- und themenspezifische Untersuchung soll die gleiche Chance haben wie die stadt- bzw. regionalhistorische oder komparatistische bzw. institutionsgeschichtlich angelegte, sofern erkennbar ist, daß das je Einzelne dem Allgemeinen Profil verleiht, das Allgemeine im Einzelnen sich konkretisiert. Auch wenn die Reihe ihren naturgemäßen Schwerpunkt in der Literatur besitzt, sind Arbeiten aus den angrenzenden kulturwissenschaftlichen Disziplinen willkommen.« Soweit das nicht eben unambitionierte Programm. In welchem Umfang es erfüllt werden konnte, ist knapp dreißig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes hinlänglich genau überschaubar. Mehr als zweihundert Bände liegen vor. Die Reihe ist zum maßgeblichen Organ frühneuzeitlicher literaturwissenschaftlicher Studien herangewachsen. Desgleichen hat sich die Hoffnung erfüllt, auch Fachvertreter aus den Nachbardisziplinen anzusprechen. Soweit zu übersehen, sind alle Jahrhunderte zwischen dem Spätmittelalter und der Spätaufklärung in etwa gleichgewichtig vertreten. Die Makroepoche der Frühen Neuzeit hat eine merkliche Festigung in wissenschaftshistorischer Optik erfahren. Daß so aber gesprochen werden darf, ist in erster Linie den Herausgebern zu danken. Jörg Jochen Berns, Gotthardt Frühsorge und der Verfasser sind seit langem nicht mehr dabei. Achim Aurnhammer, Jo217
hann Anselm Steiger und Friedrich Vollhardt sind ihnen gefolgt. Mit Genugtuung darf auf ein tatsächlich einmal im Status der Realisierung angelangtes Unternehmen geblickt werden, und das im Zeichen dankbar bekannter freundschaftlich-fachlicher Kooperation.
Kongreßauftakt in Osnabrück
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olfenbüttel war 1985 im Dreijahresrhythmus mit einem neuerlichen internationalen Kongreß an der Reihe. Er galt, wie erwähnt, den Institutionen der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hatte also ausdrücklich den zeitlichen Rahmen überschritten, für den der Arbeitskreis für Barockliteratur verantwortlich zeichnete. Auch in Wolfenbüttel hatte der umfassendere Begriff für einen Moment Einzug gehalten, und nicht zuletzt der Obertitel des Kongresses ›Res Publica Litteraria‹ stand dafür ein. Auch sie konstituiert sich im Quattrocento Italiens ; eine irgend geartete Beschränkung auf das 17. Jahrhundert wäre widersinnig gewesen. Daß in den zum Vortrag gelangenden Themen dann doch das 17. Jahrhundert merklich überwog, tat dem keinen wesentlichen Abbruch ; es war eben der Arbeitskreis, der einlud, und für den Austausch über die Fachgrenzen hinweg war unter der Ägide von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann hinreichend gesorgt. Zugleich aber war in Osnabrück, wie angedeutet, eine neue Entwicklung eingetreten. Die frühneuzeitliche Arbeitsgruppe hatte sich konstituiert. Warum also nicht auch einmal einen explizit der Frühen Neuzeit gewidmeten Kongreß vor Ort abhalten, ja, womöglich sogar gleichfalls auf eine Folge von Kongressen hinwirken ? Auch diese Idee zündete. Der Präsident der Universität Rainer Künzel nahm sie sehr interessiert auf. Und ein Thema war seit Jahren im Kopfe hin und her gegangen. Stets hatte es in die eigene Arbeit hineingespielt, doch überforderte es die Kräfte eines einzelnen, war bestenfalls im Team angemessen zu bearbeiten. Schließlich schälte sich ein internationaler Kongreß als das Me218
dium der Wahl heraus. Es versprach, die nachhaltigsten, räumlich wie zeitlich gleich ausgreifenden Ergebnisse zu erbringen. Das Arkadienwerk, ständiger Begleiter und seit langem fixiert auf den Mittelteil, das deutsche 17. Jahrhundert, verharrte bei den Anfängen, kreisend um die Frage des Ursprungs der deutschen Nationalliteratur auf der Basis der klassizistischen Grundlagen. Diese Frage hatte sich in so gut wie allen Ländern Europas zeitversetzt gestellt. Im Grunde war sie virulent seit dem Trecento und erfuhr im Italien des Quattrocento sodann jene Ausformung, welche verbindlich wurde für Europa bis in die Aufklärung hinein. Die linguistische Matrix blieb allenthalben das Lateinische. Petrarca und Boccaccio standen dafür gleich anfangs noch im 14. Jahrhundert ein. Beide aber hatten nach dem Vorgang Dantes den Schritt hin zum Italienischen getan, Petrarca in der Lyrik, Boccaccio in der Novelle. Diese Entwicklung war nicht mehr zurückzudrehen, und das um so weniger, als sie auch theoretisch abgesichert war. ›De lingua volgata‹ entfaltete ungeahnte diskursive Energien. Eigenart und Würde des Italienischen konnten aufgezeigt und die Eignung der ›Volkssprache‹ für die Behandlung auch der anspruchsvollsten Sujets überzeugend dargetan werden. Schon im 15. Jahrhundert waren in Italien alle entscheidenden Argumente in Umlauf gebracht worden, die das intellektuelle Europa fortan beherrschen sollten. Soweit der Rahmen in denkbar größter Knappheit. Alles kam darauf an, ihm ein konkretes, ein überzeugendes europaweites Profil zu verleihen. Dabei gelangten zwei Dinge nun vorteilhaft zur Wirkung. In der Arbeitsgruppe waren genügend Personen verschiedener Fächer vertreten, die Empfehlungen für zu tätigende Einladungen aussprechen konnten. Und die vielen auf den Reisen in den Osten geknüpften Verbindungen erwiesen sich als förderlich, angefangen bei der DDR. Tatsächlich gelang es, so gut wie alle einschlägigen Philologien an dem Projekt zu beteiligen. Neolatinisten und Italianisten, Hispanisten und Französisten waren dabei, Anglisten, Niederlandisten und Skandinavisten sowie Polonisten und schließlich natürlich Germanisten. Noch fehlten die Baltisten, was sich bald ändern sollte, und selbstverständlich hätte wenigstens auch ein Vertreter aus Ungarn gehört werden müssen. 219
Rückblickend erstaunt, wie viele von den Referentinnen und Referenten später einen glänzenden Ruf in ihrem Fach erlangen sollten. Um nur ein einziges Beispiel zu erwähnen. Unter den Historikern, die den Eingang bestritten, waren seinerzeit neben Jörn Garber sowohl Herfried Münkler als auch Heinz Schilling zu gewinnen. Münkler referierte über ›Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa‹, Schilling, ehemaliger Osnabrücker Kollege und stets gerne bei den interdisziplinären Séancen dabei, über ›Nation und Konfession in der frühneuzeitlichen Geschichte Europas. Zu den konfessionsgeschichtlichen Voraussetzungen der frühmodernen Staatsbildung‹. Jörn Garber handelte über ›Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. ›Nationale‹ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung‹. Alle drei Beiträge fand man später in anderweitigen Zusammenhängen stets wieder zitiert. Dem Kongreßleiter war das einleitende Referat vorbehalten : ›Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen. Implikationen und Perspektiven‹. Es hätte nicht ausgearbeitet werden können ohne den mehrjährigen Aufenthalt in den arkadischen Gefilden der Antike und der Frühen Neuzeit Europas. Dieser Fundus erwies sich immer wieder als reaktivierbar. Dem Band wurde ein überaus freundliches Echo zuteil. Und das wegen der disziplinären und thematischen Reichhaltigkeit, auch aber, weil er als Erstling einer neuen Reihe begrüßt werden konnte. Der publizistische Neubeginn und die kolloquiale Ouvertüre hatten eine Feuerprobe bestanden. Ermutigung ging von der Premiere aus. Sehr bald schon sollten Herausforderungen von ganz anderen Dimensionen geschultert werden.
Nachgeschichte des europäischen Barock
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wei Jahre später war Wolfenbüttel neuerlich an der Reihe. Ein letztes Mal wurden Überlegungen angestellt, welch ein Thema passabel sei. Die ständische Leiter von oben nach unten war beschritten worden. Eine momentane Abstandnahme von dem Zeitalter des Barock schien sich anzubieten. Das Komitee 220
tagte, die Kongreßsituation wurde beraten und – ein wenig kühn, weil ohne vorherige Abstimmung – der Vorschlag gemacht, das 17. Jahrhundert einmal aus der Retrospektive zu betrachten. Ob er erfolgt wäre ohne den Gedanken an Benjamins Theorie der ›Nachreife‹ der Werke im Kopf ? Das Paradigma der Rezeptionsgeschichte selbst hatte sich zwischenzeitlich merklich erschöpft. Für das 17. Jahrhundert aber, soviel war klar, blieb allemal viel zu tun. Die Germanistik schleppte das ›Barock‹-Problem, aus der Kunstwissenschaft importiert, unerledigt vor sich her. Würde es sich nicht lohnen, endlich Klarheit zu schaffen ? Die Zustimmung erfolgte, und Paul Raabe fand sehr schöne und das Vorhaben stützende Worte. Wieder ging es um die Erarbeitung einer überzeugenden Konzeption. Die Vertreter der europäischen Nationalphilologien sollten zu Wort kommen und den Stand der Diskussion in ihren Fächern darlegen. Dieser Aspekt stand selbstverständlich im Zentrum. Hatte es aber im Umkreis des Faches, welches die Kategorie ›Barock‹ entwickelt und mit kaum voraussehbarem Erfolg in die Debatte eingeführt hatte, einen erkennbaren und förderlichen Fortgang gegeben ? Und wie schaute es aus in den Nachbardisziplinen, etwa der Musikwissenschaft und den theatralischen Künsten ? War die Geschichtswissenschaft womöglich auch in den Fragenkomplex involviert ? Im Grunde genommen, soviel war rasch klar, ging es um ein Kardinalproblem der Geisteswissenschaften insgesamt, appliziert auf eine zentrale Epoche innerhalb der Frühen Neuzeit. Ein derartiges Problemgebirge ist von einem einzelnen nicht zu durchdringen. Und so hing, wie schon so oft, so gut wie alles an dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen, die sich zur Mitwirkung verstanden. Auf der einen Seite waren konzeptionelle Köpfe zu gewinnen, die sich an den vorbereitenden Arbeiten beteiligten. Und auf der anderen Seite mußten geeignete Referentinnen und Referenten für den durchweg doch sehr anspruchsvollen Fragenkreis gefunden werden. Die Maxime, die da für die soeben ins Leben gerufene Reihe ›Frühe Neuzeit‹ formuliert worden war, sollte ihre Gültigkeit auch auf diesem Kongreß unter Beweis stel221
len, also Textarbeit und Steuerung durch eine breite methodische Palette wo immer möglich in Einklang gebracht werden. Erneut kamen glückliche Umstände dem Initiator zustatten. In München hatte sich ein engerer Kontakt zu dem Anglisten Wolfgang Weiß hergestellt. Bei ihm klopfte man an und erhielt eine Zusage. Von Anfang an mitgewirkt in Wolfenbüttel hatte Ferdinand van Ingen. Ihm in Zusammenarbeit mit Martin Bircher war es zu verdanken, daß das Problem der Sprachgesellschaften frühzeitig wiederholt auf der Tagesordnung stand. Er ließ durchblicken, sich gerne zu beteiligen. Und zu einer Selbstverständlichkeit war es inzwischen geworden, den Freund Wilhelm Kühlmann zu allem und jedem, was man plante, hinzuzuziehen. Auch seiner Zusage durfte man sich gewiß sein. Dieses Quartett machte sich an die Arbeit. Und als das Programm schließlich fixiert war, viele Kolleginnen und Kollegen kontaktiert waren, standen tatsächlich die Themen für ein Dutzend Sektionen fest. Es war gelungen, ein knappes Dutzend Referenten für die theoretische Grundlegung zu gewinnen. Wenn da u.a. von Dilthey, von Strich und Walzel, von Benjamin, Adorno und Foucault im Kontext des Barock gehandelt wurde, dann geschah dies zumindest in Wolfenbüttel in dieser Konfiguration ein erstes Mal. Die meisten Referate zog indes überraschenderweise die zweite Sektion auf sich. Es ging um die Adaptation der Barock-Problematik im Zeitalter der Aufklärung, und das unter dem Stichwort nationaler Selbstverständigung. Mit Lessing und mit Schiller rundete sich ein Bogen, an dessen anderer Seite Morhof und Weise gestanden hatten. Die immer schon ins Blickfeld getretene Frontenbildung im 19. Jahrhundert schloß sich an. Möglicherweise ein erstes Mal wurde dezidiert über Eichendorff und Tieck und Meyer, aber eben beispielsweise auch über Gervinus unter dem Aspekt der Tagung gehandelt. Die Achillesferse blieb die Jahrhundertwende, in der das ›Barock‹ geboren wurde, dies aber zunächst unter Ausklammerung der Kunstwissenschaft, der eine eigene Sektion vorbehalten war. Die womöglich delikateste Frage betraf die zwanziger und dreißiger Jahre. Sie wurde gestellt und – wenn ausnahmsweise einmal 222
ein Name genannt werden darf – von Wilhelm Voßkamp luzide ausgeleuchtet. Zugleich aber kamen nun auch die guten Kontakte in die DDR zum Tragen. Gleich drei Vorträge wurden der Barockdiskussion im Blick auf Johannes R. Becher von Werner Lenk und Johannes Bobrowski von Eberhard Haufe sowie die Lyrik des 17. Jahrhunderts von Knut Kiesant gewidmet, an welcher das ›barocke Wesen‹ ja vornehmlich durchdekliniert worden war. Derart war ein Fundament errichtet, so daß auf wohlgegründetem Terrain die Beiträge aus den einzelnen Disziplinen zur Diskussion gestellt werden konnten. Aus der Romanistik, der Anglistik, der Niederlandistik, der Skandinavistik und der Slawistik wurde berichtet, und vermutlich erstmals wurde sichtbar, wie verschieden in den nationalen Philologien der Umgang mit dem Problem erfolgt war. Wenn dann der Schlußpunkt mit der Kunstwissenschaft gesetzt wurde, so resümierten sich die Probleme im Brennspiegel der Ahnherren, auf die inzwischen nicht selten mit erheblicher Reserve zurückgeblickt wurde. Immerhin, auch hier konnte im Anschluß an einen meisterhaften einführenden Vortrag von Martin Warnke Neuland betreten werden, wenn etwa die Bernini- oder die Vermeer-Rezeption thematisiert wurde. Und wenn dann ganz am Schluß über die Pathosformel Aby Warburgs ein Kontakt zur barocken Affektenlehre hergestellt wurde, mochte dies exemplarisch erhellen, daß es lohnend gewesen war, die teils dichten, teils verstreuten Spuren der Nachgeschichte des Barock einmal zu verfolgen. Noch bevor der Initiator das Wort ergriff, um das Barockproblem für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts zu exponieren und sich für eine Rehabilitation des Terminus ›Humanismus‹ in diesem Zusammenhang einzusetzen, hatte Paul Raabe es sich nicht nehmen lassen, den Kongreß einzuleiten. Wie sehr er aus der Mitte der eigenen Arbeit heraus sprach, wurde auch darin deutlich, daß er später in einem eigenen Referat dem Zusammenhang zwischen Barock und Expressionismus nachging. Zu Beginn aber wanderte der Blick herüber zu dem Verantwortlichen für das Thema, und sehr deutlich wurde vor dem Plenum ausgesprochen, daß es doch wohl ursprünglich nicht Sinn und Zweck der Veran223
staltung war, ein derart opulentes Programm aufzulegen ; Wolfenbüttel zumindest sei an die Grenzen seiner Möglichkeiten gelangt. Und die gedruckte Dokumentation bestätigte den besorgten Direktor nur allzu merklich. Weit mehr als tausend Seiten waren da schließlich in zwei mächtigen Bänden zusammengekommen. Wer mochte sich deren Lektüre zumuten ? Das Thema schien für lange Zeit erschöpft zu sein. Der Abschied von Wolfenbüttel war womöglich ein wenig zu monströs geraten, nun aber wurde er definitiv vollzogen, weil anderwärts Aufgaben warteten.
Jacques Chirac empfängt die ›nobilitas litteraria‹
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ie Verbindung nach Paris war erhalten geblieben. Vor allem über Heinz Wismann verlief sie, und der verfügte, wie allseits bekannt, in der französischen Hauptstadt über die besten Kontakte. Vermutlich sehr frühzeitig dürfte daher auch der Gedanke aufgekommen sein, das Jubiläumsjahr der Französischen Revolution gebührend zu begehen. Das war eine faszinierende Perspektive. Die Idee aber verpflichtete selbstverständlich zu Besonderem. Wenn schon, dann mußte ein Projekt in Angriff genommen werden, das in Deutschland wie in Frankreich konkurrenzlos dastehen würde. Die merkwürdige, um nicht zu sagen denkwürdige Affinität der Schäfer zu Bündnissen und Zusammenschlüssen hatte wahrscheinlich auf die erste Spur geführt. Eine Analogie wurde sichtbar. Die Schäferinnen und Schäfer agierten als gelehrte Wesen. Ihr gemeinsames Treiben glich demjenigen, das in den Akademien gepflegt wurde. Und tatsächlich kam der naheliegende Kontakt dann ja auch institutionell zum Tragen. In Italien stellte die ›Accademia Pontaniana‹ in Neapel das vielleicht berühmteste Beispiel. Unter dem Namen Actius Sincerus gehörte ihr Jacopo Sannazaro an, und eben als Sincero brach er in seiner ›Arcadia‹ von Neapel nach Arkadien auf. In Deutschland kehrte die Allusion wieder. Aus den sodalitates, wie sie ein Conrad Celtis ins Leben gerufen hatte, wuchsen die 224
schäferlichen Spiele heraus, in denen sozietäres Treiben in pastorales überging. Im Erfurter Kreis um Eobanus Hessus war das am deutlichsten zu gewahren. Die Nürnberger um Harsdörffer und Klaj hatten also durchaus Vorbilder, als sie sich das Hirtenkostüm anlegten. Nun aber firmierte der Kreis ausdrücklich als Hirtengesellschaft an der Pegnitz. Bis in die diskursive Praxis, ja bis hin zur Poetologie des niederen Stils wurde an der Pegnitz Ernst gemacht mit der allegorischen Statur des ›poeta eruditus et socialis‹. In den schäferlichen wie den nichtschäferlichen ›Akademien‹ waren Gepflogenheiten zu Hause, die charakteristisch abwichen von den in der Realität üblichen. Gesellschaftliche Rangordnungen kehrten spiegelverkehrt in ihnen wieder. Das Niederste erschien an die oberste Stelle gerückt und umgekehrt. In der Schäferdichtung kam dieser Mechanismus am signifikantesten zur Ausprägung. Der in der Wirklichkeit auf der untersten Stufe angesiedelte Schäfer erklomm als literarisch veredelter die oberste, und das als Träger und Inbegriff von Tugend, Gelehrsamkeit und Frömmigkeit. Ein auf reale Insignien gegründeter Ordo wurde in einen imaginären überführt, und dem eignete auf seine Weise Verbindlichkeit. Werbende, zukunftsträchtige Impulse gingen von ihm aus. Eines Tages, so mochte da mitgelesen und mitgehört werden, könnte der Tag kommen, da persönliche Verdienste genauso viel zählten wie ererbte und offiziell festgeschriebene. Ja, hatte das in der Literatur, in den Akademien beheimatete Modell nicht die Wahrheit auf seiner Seite, koinzidierte es nicht mit den in Religion und Philosophie umkreisten Vorstellungen ? Genug der Andeutungen. Die Idee für einen im Revolutionsjahr abzuhaltenden Kongreß dürfte sich auch über die Akademien hinlänglich deutlich abzeichnen. Die Vorgeschichte des revolutionären Denkens und Handelns sollte einmal auf einem sehr ungewöhnlichen Weg erkundet werden. Und dabei kam das Votieren der Protagonisten im späten 18. Jahrhundert diesem Zugang ja durchaus entgegen, hatten sie selbst sich doch immer wieder in ›Clubs‹ zusammengetan, in denen prospektiv redend und wirkend vorweggenommen wurde, was über die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse de facto herbeigeführt wer225
den sollte. Nie zuvor war derart explizit futurisch agiert worden. Doch diese futurische Mentalität besaß eben eine in vielfältigen Formen sich bekundende Tradition in der Frühen Neuzeit. Über die Sozietäten sollte sie ausgeleuchtet und ausdifferenziert werden. Neuerlich stand also ein Europa umgreifendes Projekt auf der Tagesordnung, und das durchaus mit bemerkenswerten und keinesfalls zu vernachlässigenden Bildungen in Übersee. Das Vorhaben geriet zu einem gesellschaftlichen Ereignis in der französischen Hauptstadt. Heinz Wismann hatte es vermocht, das Hôtel de Ville direkt an der Seine für die Durchführung des Kongresses zu akquirieren. In einem der großzügigen Räume wurde mehrere Tage über vorgetragen und diskutiert. Der Empfang aber der internationalen Gesellschaft fand im Festsaal statt, und der erhielt sein besonderes Gepräge dadurch, daß der Bürgermeister der Stadt Jacques Chirac es sich nicht nehmen ließ, die Gäste persönlich willkommen zu heißen. In grandioser Manier wußte er zum Ausdruck zu bringen, daß er sich über dieses deutsch-französische Gemeinschaftswerk besonders freue. Vielleicht eignete auch ihm ein symbolischer Vorschein im Blick auf das Zusammenwirken der beiden Länder. Über die illustre Tagungsstätte aber und vor allem über die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde Europa erfahrbar, und zwar das ganze, Ost und West umgreifende. Groß ist die Versuchung, Namen und Länder im einzelnen aufzuführen. So gut wie kein Land Europas, das nicht Emissäre entsandt hätte. Das sozietäre Projekt war ein länderübergreifendes, Europa verbindendes, also mußte es sich 1989 auf andere Weise wiederholen. Aus jedem Land waren charakteristische Beispiele verfügbar, die nun von den Spezialisten vorgestellt wurden. Das geschah ausdrücklich nicht in Sektionen, sondern durchgängig im Plenum, um den einen weiten Horizont gemeinsam aufzuspannen. Die einst an bestimmte Orte und Regionen gebundene Sozietätsbewegung sollte als ein europäisches Vermächtnis begriffen werden, immer noch begabt mit zukunftsweisenden Impulsen. Und dazu gehörte im Jahr 1989 vor allem, daß sich die gelehrte Gesellschaft aus Ost und West in einem vom Wendebewußtsein 226
geprägten Klima in Paris zusammenfand. Für viele der aus der DDR gekommenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer war es die erste Reise in den Westen, und daß sie nach Paris führte, wurde dankbar, ja beglückt begrüßt. Aus Deutschland und Frankreich selbstverständlich rekrutierte sich das rednerische Personal in erster Linie. Hinzu aber traten Kolleginnen und Kollegen aus der Schweiz und Österreich, aus Italien und Spanien, aus England und den Niederlanden, aus Polen und Ungarn, aus den Vereinigten Staaten und nicht zuletzt aus Rußland. So gut wie keine Region aber, die thematisch nicht bedacht worden wäre, auch wenn Redner aus dem jeweiligen Land nicht anwesend waren. Portugal, aber auch noch Dalmatien etwa wurden bedacht. Und in Übersee glitt der Blick nach Brasilien ebenso wie nach Mexiko. Wieder durfte ein europäisches Paradigma als nunmehr optimal aufgearbeitetes der gelehrten europäischen Gemeinschaft übergeben werden, von dem Ermutigung zum faktischen Zusammenschluß ausgehen sollte, der in ästhetisch-fiktionalem Gewand sowie in institutioneller gelehrter Ausprägung dem Kontinent doch schon vorexerziert worden war. ›Sozietät und Geistesadel. Von Dante zum Jakobiner-Club‹, so lautete das Motto, das da einleitend zu entfalten war. Der nobilitas litteraria mochte es vorbehalten bleiben, den ›frühneuzeitlichen Diskurs de vera nobilitate und seine institutionelle Ausformung in der gelehrten Akademie‹ in die Zukunft hinein fortzuspinnen und das ihm inhärente Versprechen einzuklagen. In zwei Bänden der ›Frühen Neuzeit‹, knapp an die zweitausend Seiten heranreichend, wurde die Pariser Ernte dem gelehrten Publikum präsentiert.
Vermessung des städtischen alten deutschen Sprachraums
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on Europa ging es zurück in die Regionen des alten deutschen Sprachraums. Der aber erstreckte sich gleichfalls über weite Teile Europas und griff zumal im Osten nachhaltig aus. Das alte Europa wurde auf andere Weise über ihn erfahrbar, war er 227
doch offener für verschiedene Populationen und eine geraume Zeitlang auch für heterogene religiöse Überzeugungen. In der Literatur aber besaß er eines der Medien, und vielleicht sogar das maßgebliche, in dem in stilistischer Vielfalt und gattungsspezifischer Varietät jener – deutlich zäsurierte – literarische Evolutionsprozeß sich vollzog, der über kurz oder lang zu einem Höhepunkt geleitete, wie er in eine wie auch immer geartete ›klassische‹ Periode einmündete. Die Achsenzeit blieb das 17. Jahrhundert. In ihm – mit Vorspielen in den vorgeschobenen Bastionen des Westens wie des Ostens – vollzog sich der Übergang von den stadtbürgerlichen Bildungen des 15. und 16. Jahrhunderts zu den über Renaissance und Humanismus vermittelten, und damit zugleich die Adaptation des neulateinischen Formenkanons im Deutschen. Dieser doppelte Transfer aber blieb wiederum der denkbar vielgestaltigste ; in einer jeden Region nahm er sich anders aus, in einer jeden machten sich die lokalen Gegebenheiten jedweder geistig-religiösen, institutionellen und politischen Provenienz geltend. Das Bild nahm sich so farbig aus wie nie wieder in der Geschichte der deutschen Literatur. Dieser ungemein in die Weite und die Tiefe sich erstreckenden literarischen Landschaft Gestalt zu verleihen in synoptischer Betrachtung mochte neuerdings ein forscherliches Wagnis sein, für das einen großen Kreis von Fachleuten zu gewinnen nur vielversprechend sein konnte. Das Experiment fiel in das Jahr des politischen Umbruchs, und eben dieser Umstand kam ihm ungemein zugute. Denn nun wurde es möglich, die vielen Kolleginnen und Kollegen, die auf den Reisen zumal in den Osten dem bibliothekarischen Archäologen – eine Prägung Wolfgang Adams ! – entgegengetreten waren, aus ihrer Heimat in die Kongreßstadt auf westfälischem Boden zu bitten. Niemals zuvor und womöglich auch niemals noch einmal hernach war eine so reiche und zugleich paritätisch aus Ost und West zusammengeströmte gelehrte Schar beieinander, wie in jenen legendären Monaten auf der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren. Osnabrück, sich selbst als Friedensstadt verstehend, durfte sich rühmen, dem im Gedanken des 228
Friedens mitschwingenden der Stiftung von Gemeinschaft und Versöhnung gastlichen Raum gewährt zu haben, und das über die Erkundung eines frühneuzeitlichen kulturellen Projekts, welchem die späteren nationalen Grenzziehungen durchaus fremd waren. Als Ort der Beobachtung wurde die frühneuzeitliche Stadt gewählt. Sie war der Ort, an dem die Literatur ihre lebhafteste Pflege erfuhr, und das gerade auch im 17. Jahrhundert, welches so gerne als das höfische apostrophiert wird. Hier sind die gelehrten Institutionen, herrührend vielfach noch aus dem Zeitalter der Reformation, hervorzuheben, vermittelt über die eine Umpolung von den ›bürgerlichen‹ auf die ›gelehrten‹ Trägerschichten sich vollzog. Im Zeichen des Humanismus geschah dies. Daß einzelne und zumeist herausragende Gestalten wie ein Martin Opitz den Weg zum Hof fanden, ändert an dem prinzipiellen Sachverhalt nichts. Als ›barocke‹ literarische Bewegung ist das, was sich da im 17. Jahrhundert abspielte, nicht zu fassen ; im Gegenteil, dieses Attribut kann nur in die Irre führen. Das Gymnasium, vornehmste Pflegestätte der antiken Sprachen und der in ihnen sich artikulierenden Geistigkeit, bot den institutionellen Rahmen für eine Literatur, die sich ausdrücklich als Wiederbelebung und Fortschreibung der antiken Erbschaft verstand. Kirchliche, administrative, juristische, medizinale Einrichtungen, wie sie in der Stadt ihren genuinen Ort hatten, traten hinzu und bildeten jenes produktive Ensemble, das als Nährboden des literarischen Lebens vor Ort fungierte. Die auf dieser Basis erblühende literarische Formenwelt in all ihrer lokalen Vielfalt zu erkunden, blieb das erklärte Ziel, zu dem geladen wurde. Ein einzelner, der sich da für eine Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts diesem Thema verschrieben hatte, war überfordert. Die forscherliche Gemeinschaft allein war in der Lage, den weiten Kreis auszuschreiten. Sie fand sich ein, und das in einer Zusammensetzung, die aufhorchen ließ. Detlef Ignasiak und Roswitha Jacobsen, Herbert Langer und Horst Langer, Werner Lenk und Knut Kiesant sowie Felicitas Marwinski aus der DDR waren dabei ; aus den baltischen Landen kamen Ene-Lille Jaanson und Laine Peep, Kyra Robert 229
und Ojar Sander, Meta Taube und Arvo Tering ; aus Polen stießen Mirosława Czarnecka und Edmund Kotarski, Lothar Noack und Ewa Pietrzak hinzu ; aus der Tschechoslowakei war die Latinistin Irena Zachová zugegen ; aus der Ukraine durften wir Larissa Tsybenko als Gast begrüßen und aus Rußland Alexander Michailow. Die meisten der Namen sind dem Leser bereits begegnet ; es waren eben jene Personen, die auf den Exkursionen in den Norden und Osten den Bibliotheksreisenden begrüßt und vielfach begleitet hatten. Hier nun in Osnabrück trafen sie auf Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und dem Westen Europas, und oft war später zu hören, daß anläßlich eines erstmaligen Verweilens im Westen Kontakte geknüpft worden seien, die sich erhielten. Zwei Parameter boten sich an, um die Masse des Stoffes zu gliedern, ein konfessioneller und ein regionaler. Mit der Literatur im Umkreis des reformierten Bekenntnisses wurde begonnen, eine thematische Sektion zur reichsstädtischen Tradition und zur Residenzkultur Oberdeutschlands schloß sich an ; dann erfolgte der Übergang zu der literarischen Kernlandschaft Mitteldeutschland, von wo der Weg weiterführte in den hansischen Kulturraum ; den Beschluß machten die mitteleuropäischen Brückenlandschaften und ein Blick auf den katholischen Kulturraum. Eine Topographie war entworfen, ein weiter Sprach- und Literaturraum vermessen, in dem wiederholt erstmals literarische Aktivitäten kenntlich wurden. Die große Aufgabe für die Zukunft blieb es, durch Bereitstellung von Quellen aus dem städtischen Raum die gehörige Fundamentierung zu besorgen. Auch dafür sollte alsbald gesorgt werden. Das jetzt erreichte Ergebnis aber fand neuerlich eine zweibändige publizistische Bleibe in der ›Frühen Neuzeit‹.
Im Labyrinth der Pariser Passagen
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ie späten achtziger und frühen neunziger Jahre hielten weitere Herausforderungen bereit. Sie alle waren selbst gewählt, gehorchten nicht anderweitigen Direktiven. Fast zu viel gewagt
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wäre es, sollte von besonderem Mut gesprochen werden, der da offensichtlich gewaltet haben müsse. Die Projekte wuchsen aus der Arbeit heraus, und stets versprach der Planende sich sachlichen Gewinn, aber eben auch persönliche Entlastung, waren sie eben doch alle sehr groß dimensioniert. Nur rückblickend regt sich der Gedanke, wie es möglich war, derartige Vorhaben überhaupt ins Auge zu fassen, denn weiter auseinanderliegen konnten sie schwerlich. Es muß nicht zuletzt das Vertrauen auf den Kollegen- und Mitarbeiterkreis an der Seite gewesen sein, der zu den Unternehmungen ermutigte. Von den literarhistorischen Projekten im weiteren Sinn wurde gesprochen. Doch nun kamen institutionelle und drittmittelgeförderte hinzu, die die Kräfte mehr als einer Person binden mußten, und dies vielfach auch taten. Zunächst aber machte eine Gestalt ihre Rechte neuerlich gebieterisch geltend, und an sie knüpfte sich zugleich die gewiß weitreichendste Herausforderung. Mit ihr und den ihr gewidmeten Aktivitäten ist folglich zu beginnen, und eben dieser Vorsatz impliziert eine kurze Rückkehr in die frühen achtziger Jahre, soll doch der thematische Zusammenhang wo immer möglich gewahrt bleiben. Auch die Geisteswissenschaften erleben in unregelmäßigen Abständen spektakuläre Ereignisse. In verschiedenen Formen mögen sie in Erscheinung treten. Zu den besonders erfreulichen gehören posthume publizistische Großtaten. Die hier zur Rede stehende hatte eine mehr als fünfzig Jahre alte Vorgeschichte. Man wußte, daß Walter Benjamin schon im Berlin der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre begonnen hatte mit Studien zum Paris des 19. Jahrhunderts. Unter verschiedenen Namen tauchen sie im Briefwechsel auf. Ein Essay sollte es werden. Und dann wuchs der sich in der Emigration zu einem Lebenswerk aus. An einen Abschluß, gar eine Publikation glaubte sein Autor schon seit langem nicht mehr. Das hinderte ihn nicht, über Jahre so gut wie täglich seiner Arbeit in der Bibliothèque Nationale nachzugehen. Exzerpieren und Kommentieren war sein Geschäft daselbst. Eine berühmte Photographie Gisèle Freunds hält das Porträt des an einem Schreib231
tisch Sitzenden und in den Katalogkästen Blätternden fest. Sprechende, verheißungsvolle Titel ausfindig zu machen, war eine eigene Kunst. Sie wurde schon auf der Berliner Staatsbibliothek für das Trauerspielbuch geübt. Mit rund 600 Zitaten verließ der Rechercheur schließlich das Haus Unter den Linden, um sich auf Capri an die Niederschrift zu machen. Nun wiederholte sich das Treiben in der Rue de Richelieu. Es währte bis kurz vor der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen. Der Emigrant hatte es abgelehnt, die Stadt zu verlassen und rechtzeitig den Weg ins außereuropäische Exil anzutreten. Dafür sind im nachhinein eine Reihe von Gründen namhaft zu machen. Ein maßgeblicher aber dürfte der Treue zum Werk geschuldet sein. Dieses opus magnum war nur in Paris zu erarbeiten. Bis in die späten dreißiger Jahre, ja bis in die ersten Monate des Jahres 1940, seines Todesjahres, fuhr Benjamin unermüdlich fort, sprechendes Material aufzustöbern, das er durchweg noch während des Lesens mit Kommentaren versah. Am Ende sollten auch diese reduziert werden oder womöglich gar ganz fortfallen. Aus der Montage der zitativen Materie sollte der Funke überspringen. Ein Essay also war zunächst geplant. Die kleine Form war die gegebene für einen Schriftsteller, der nach der gescheiterten Habilitation vom Schreiben lebte. Als ›Pariser Passagen. Eine dialektische Ferie‹ firmieren die ersten Versuche. Sie kamen schon 1929 zu einem Ende, als Benjamin bewußt wurde, daß das Vorhaben sich ausweiten würde und auf eine neue Grundlage gestellt werden müsse. Eben dies geschah in Paris. Am Ende lagen Hunderte von Seiten mit Notizen, Exzerpten und Kommentaren vor. Tatsächlich gelang es Benjamin, sie vor seiner Flucht aus Paris über Georges Bataille und Pierre Missac in der Bibliothèque Nationale in Sicherheit zu bringen. Dort überlebten sie den Krieg, wurden nach dem Krieg dem in den Vereinigten Staaten lebenden A dorno übergeben und kehrten mit ihm nach Deutschland zurück, wo sie später im Adorno-Archiv in Verwahrung genommen wurden. Adorno war es denn auch, der gelegentlich Näheres verlauten ließ. Keinen Zweifel gab es für ihn, daß es sich um Benjamins 232
chef d’œuvre handeln würde. Die Philosophie sei mit Benjamins Freitod und damit der Nichtvollendung des Passagenwerkes um ihr Bestes gebracht worden, das sie sich je hätte erhoffen können. In diesem Werk habe sich erfüllt, worauf dialektisches Denken sich gründe, nämlich die restlose Aufzehrung des Materials in einem Absolutum, das nur in dem Maße existiere, wie es sich manifestiere in dem Konkreten, intellektueller Anschauung derart zugänglich. Die Erwartungen waren immens, die Adorno erweckte, und rückblickend wird zu konstatieren sein, daß er dem Gefährten aus den zwanziger Jahren niemals näher war als in den Worten, die er dem opus magnum und seinem Autor widmete. Er sah, daß noch in dem Fragment eine Größe obwaltete, die singulär dastand im 20. Jahrhundert. Um diesen Hintergrund muß man wissen, wenn es um das Ereignis geht, welches hier zur Rede steht. 1982 kam das Werk in der Ausgabe der ›Gesammelten Schriften‹ in zwei Halbbänden heraus, editorisch verantwortet von Rolf Tiedemann. Das war eine immense Leistung, wie uneingeschränkt und stets zu betonen, ungeachtet aller unschönen Kontroversen schon zuvor und weiterhin hernach. Das Echo war gewaltig, und das bis in die Tagespresse hinein. Wohl mochte gelegentlich Enttäuschung sich regen, daß es sich eben im wesentlichen um einen so gut wie kaum übersehbaren Fundus an Materialien, zumeist in Form von Zitaten, handeln würde. Die Tieferblickenden aber, und das war die Mehrzahl, ahnte und erkannte, daß hier ein Wurf geschultert worden war, der über die heterogensten Zeugnisse hineinführte in das Zentrum des 19. Jahrhunderts, das ein vom Hochkapitalismus bestimmtes war und in Paris sein mit Anschauung gesättigtes Urbild besaß. Und Paris war es dann auch, von dem der entscheidende Impuls ausging. Heinz Wismann und seine Freunde wußten sofort, was da statthatte. Ein geistiges Jahrhundert-Ereignis war zu würdigen. Und das auf zwei Wegen. Ein großer internationaler Kongreß war nach Paris zu holen und eine Übersetzung des Mammutwerkes ins Französische zu bewerkstelligen. Der Kongreß fand tatsächlich schon ein Jahr nach Erscheinen des Textes statt. 233
Im sommerlichen Paris wurde er unter zahlreicher Beteiligung von Fachleuten aus aller Herren Länder abgehalten. Drei Jahre später, 1986, lag die Dokumentation in den ›Editions du Cerf‹ vor, die eine eigene Reihe führte, welche sinnigerweise ihrerseits den Titel ›passages‹ trug. ›Walter Benjamin et Paris‹ hatte Heinz Wismann die Publikation benannt und mit einer diabolischen Fotomontage von Herbert Bayer zieren lassen. Benjamins langjährige Wirkungsstätte hatte ein eindrucksvolles wissenschaftlich-gesellschaftliches Ereignis gezeitigt. Und dabei blieb es nicht. Weitere drei Jahre später lag Benjamins Werk in französischer Version vor, übersetzt von Jean Lacoste. Wieder waren es die ›passages‹ in den ›Editions du Cerf‹, in denen es eine verlegerische Bleibe gefunden hatte. Zugrundegelegt wurde die Tiedemannsche Edition. Doch ein Unterschied war zu konstatieren, und zwar ein gravierender, um nicht zu sagen ein fundamentaler. Tiedemann hatte die vorhandenen Texte Benjamins unter dem Titel ›Das Passagen-Werk‹ herausgegeben. Das war eine Versündigung an Intention und Willen des Autors, jener Eigenmächtigkeit geschuldet, die es immer wieder zu kritisieren galt. Das opus posthumum und chef d’œuvre Benjamins hatte einen einzigen ihm zukommenden Titel : ›Paris. Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‹. In ihm kamen die räumliche und die zeitliche Komponente in jener dialektischen Einheit zusammen, um die es schließlich ging. Entsprechend trat das Werk in Frankreich unter dem Titel ›Paris. Capitale du XIXe Siècle. Le Livre des Passages‹ in Erscheinung. Ebenso waren die Italiener schon drei Jahre früher in der Ausgabe der Schriften Benjamins bei Einaudi in Mailand verfahren : ›Parigi. Capitale del XIX Secolo. I ›Passages‹ di Parigi‹. Unter diesem Titel sollte es seinen Weg in die Welt antreten. Warum aber dieser scheinbar vom erzählerischen Pfad abführende Exkurs ? Weil es einmal Zeiten gab im deutschen Feuilleton, da Ereignisse in der geistigen Welt wie das angedeutete Redakteure auf den Gedanken brachten, einen Kenner der Materie einzuladen, vom Ort des Geschehens zu berichten. Wolfram Schütte hatte immer wieder Raum in der ›Frankfurter Rundschau‹ gewährt, um den Fortgang der Benjamin-Ausgabe bei Suhrkamp 234
kritisch zu begleiten. Nun stand in der Wochenendbeilage tatsächlich eine ganze Seite zur Verfügung, um die deutschen Leser an dem Pariser Evenement teilhaben zu lassen. Und wiederum mehr als das. Auch in Berlin war man fast zeitgleich tätig geworden. Die Kollegen und Freunde Norbert Bolz und Richard Faber hatten ihrerseits zu einem Kongreß über das Paris-Buch Benjamins geladen. Unter dem Titel ›Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins ›Passagen‹‹ legten sie ebenfalls 1986 die wesentlichen Ergebnisse des Kolloquiums vor. Heinz Wismann hatte den Gast gebeten, für seinen Kongreßband einen Beitrag zur Rezeption Benjamins und eine Bibliographie zu verfassen. So wurde dieser tatsächlich mit einer viele Dutzende von Seiten umfassenden Nachzeichnung der ›Nachgeschichte‹ Benjamins und seines Werkes nebst einer Bibliographie beschlossen. Die Berliner aber leiteten umgekehrt ihre Publikation ›Antike und Moderne‹ mit einem erweiterten Bericht über die beiden Kongresse ein, wie er drei Jahre vorher in der ›Frankfurter Rundschau‹ zu lesen gewesen war. Als fliegender Reporter hatte sich der Autor in den beiden Kapitalen bewegt, zwischen denen sich das Leben Benjamins geteilt hatte. Und das mit Folgen. Viele Kolleginnen und Kollegen konnten angesprochen werden, mit manchen knüpften sich engere Kontakte. Die aber waren geradezu unschätzbar, als es tatsächlich zum hundertsten Geburtstag Benjamins ums Ganze ging. Wir machen uns auf den Weg zu dem Jahrhundert-Ereignis, das eben auch persönlich eine Vorgeschichte hatte, welche zu skizzieren war. Doch zunächst zu weiteren Zwischenetappen.
Polito-Philologie I : Italien
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or dem hundertsten Geburtstag lag der fünfzigste Todestag. Auch der wurde begangen. Wir nahmen 1990 an dem Gedenkkongreß in Brasilien teil und ein Jahr später an einem weiteren Kongreß in Italien, der im Zeichen des Rückblicks und des Vorausblicks stand. Von dem illustren Tagungsort daselbst aber 235
führten die Wege weiter durch das Land. Verharren wir also zunächst auf europäischem Boden, verharren wir in Italien. Ob eine Erinnerung lebendig geblieben ist, was Einzigartiges unter dem Stichwort ›Benjamin und Italien‹ auf der ApenninHalbinsel sich zugetragen hatte ? Es gab kein Land in Europa, das Benjamin einen derartigen Widerhall bereitet hätte, wie er aus Italien zu vernehmen war. Vorsicht ist geboten bei einfachen Erklärungen. Und doch wird man sich gerade unter gänzlich anderen gegenwärtigen Umständen zu der Behauptung verstehen dürfen, daß es die politische Kultur des Landes war, die den Boden bereitete für eine einzig dastehende Rezeption. Eine linke Intelligenz war vorhanden, gestützt auf mächtige politische linke Parteien und Gewerkschaften, die auf einen Umbruch hinwirkten und in einem Autor wie Walter Benjamin eine Stütze im revolutionären Kampf fanden. Was das im einzelnen bedeutete, woran im Werk Benjamins diesbezüglich angeknüpft werden konnte, ob und wieweit ein Nerv getroffen wurde, das alles kann hier nicht entfaltet werden und braucht es nicht, liegen doch genügend viele qualifizierte historiographische Studien vor, die auf diese und andere Fragen gehörige Auskunft erteilen. Es reicht an die Namen von Gianni Carchia und Fabrizio Desideri, Mauro Ponzi und Giulio Schiavoni sowie Vincenzo Vitiello zu erinnern, sie alle auf dem Kongreß in Rom dabei, um anzudeuten, in welche Richtung der Blick zu lenken war und gewiß vielfach immer noch ist. Die Kolleginnen und Kollegen versorgten den Benjamin-Liebhaber die Jahre über mit ihren Publikationen, so daß die Italien-Abteilung in der bis in die frühen neunziger Jahre auf Vollständigkeit erpichten Benjamin-Bibliothek gewiß die umfassendste ist. Und sie erbaten in regelmäßigen Abständen Beiträge zu Benjamin und seinem Nachleben, so daß tatsächlich eine erkleckliche Anzahl in italienischer Version zusammenkam. In Italien wurde frühzeitig auf eine umfassende Ausgabe der Schriften Benjamins hingewirkt. In zwölf Bänden kam sie bei Einaudi unter der Ägide von Giorgio Agamben heraus, den wir in Frankfurt kennenlernten. Der Direktor des Frühneuzeit236
Instituts Klaus Reichert, gleichfalls auf vielen Pfaden gleichzeitig unterwegs, hatte Agamben zu einem Vortrag gebeten, und das anschließende Gespräch stand im Zeichen Benjamins, der auch von Reichert hoch geschätzt wurde. Den Fachleuten ist bekannt, daß Agamben eine Version der ›Berliner Kindheit‹ dem BenjaminKonvolut in der Pariser Bibliothèque Nationale entnommen hatte, das eben während der Niederschrift dieser Zeilen zusammen mit anderen Versionen eine Publikation erfährt. Agamben blieb eine zentrale Figur in der lebhaften italienischen Benjamin-Szene. Der Benjamin gewidmete Kongreß fand in Rom im Zusammenwirken mit dem Goethe-Institut und dem Germanistischen Institut der ›Sapienza‹ statt. Paolo Chiarini führte das Zepter, und Michael Marschall von Bieberstein lud freimütig zu abendlichem Mahl und Austausch ins Goethe-Institut. Hier war es im Jahr 1995 anläßlich der Präsentation der Kongreßakten, daß der Verfasser ein erstes und einziges Mal mit Hans Mayer zusammenkam. Generös lud dieser nach Tübingen in sein Haus, und das auch, um seine reiche Bibliothek mit Erstdrucken zu zeigen. Mit Bedauern, um nicht zu sagen in Trauer, muß der Verfasser sich eingestehen, eine Gelegenheit für einen Besuch versäumt zu haben. Sie sollte nicht wiederkehren. Anwesend aber auf dem Kongreß war auch Stéphane Mosès, der aus Jerusalem nach Rom gekommen war. Auch er sprach eine freundliche Einladung aus, und die konnte in der Tat alsbald wahrgenommen werden. Doch die Pfade auf italienischem Boden führten weiter. In Neapel erwartete uns Giorgio Baratta. Er hatte im engen Zusammenwirken mit dem Osnabrücker Romanisten Lothar Knapp ein thematisches Netzwerk aufgebaut, das den schönen Titel ›Immaginare l’Europa‹ führte und regelmäßig zum Austausch und zu kleinen Tagungen zusammenrief. Unter dem Stichwort ›Una filosofia per l’Europa‹ versammelte man sich. Die Liste der Partnerländer war imponierend. Baratta, allzufrüh verstorben, lehrte Philosophie in Urbino und war ein an Liebenswürdigkeit und Einfallsreichtum nicht zu überbietender ›Netzwerker‹. Ob seiner so überaus verdienstvollen Initiative, aktueller denn je, ein Fortleben beschieden ist ? Es steht zu hoffen. 237
In Neapel wurde die Fähre nach Sizilien betreten. Der Anblick der im frühen Morgenlicht auftauchenden Hauptstadt Palermo, eingefaßt in einen Kranz von Bergen, steht weiterhin lebhaft vor Augen. In Palermo residiert Momme Brodersen, der wiederum im Zusammenwirken mit dem Goethe-Institut zu einem Vortrag einlud. Brodersen ist einer der Wortführer im Zuge der Einbürgerung Benjamins in Italien gewesen und geblieben. Seine frühe Biographie Benjamins hat sich ungeachtet der vielen nachfolgenden als unverzichtbarer Wegbegleiter behauptet. Nämliches gilt auch für die weiteren Studien vornehmlich zu einzelnen Etappen im Leben Benjamins, die er auf der Basis eingehender Archivarbeiten oftmals in ein neues Licht zu rücken vermochte. Sein Hauptwerk aber ist seine große Benjamin-Bibliographie, die er im Jahr 1995 in der auf Bibliographien spezialisierten CiceroPresse Timm Zenners vorlegte. Sie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß alle bis dato erschienenen Übersetzungen des Benjaminschen Werkes minutiös dokumentiert werden. Schon in den frühen neunziger Jahren war Benjamin in über zwanzig Sprachen präsent, und dieser Prozeß setzt sich seither ungebrochen fort, hat er doch nach der Wende nochmals einen neuen Schub erhalten.
Polito-Philologie II : Brasilien
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ie Schar der Benjamin-Kenner und -Verehrer ist groß. Dem lebhafteren Verkehr zwischen einzelnen von ihnen tut das keinen Abbruch. Gemeinsame Interessen und persönliche Wertschätzung – oftmals übergehend in freundschaftliche Verbindungen über Zeiten und Räume hinweg – zählen, und die Reise ist das Mittel ihrer Pflege. Zu den vielen Benjaminianern in Berlin zählte auch Willi Bolle. Als Gast kam er herüber aus Brasilien, um sich vor Ort auszutauschen und auf den Bibliotheken zu arbeiten. Sein Interesse galt dem Problem der Modernität in der Literatur und Philosophie. Ein großes Buch über die moderne Metropole im Werk Benjamins ist ihm zu verdanken. In São Paulo erschien 238
es 1994. Da währte der Kontakt schon lange. Man hatte sich in Osnabrück getroffen. Und dann erfolgte eines Tages die sensationelle Einladung. Der 50. Todestag Benjamins hatte ein lebhaftes Echo ausgelöst. Rundfunk und Zeitung waren gleichermaßen gerne bereit, Gedenkzeilen entgegenzunehmen bzw. zum Vortrag einzuladen. Davon wurde von einem Forscher, der es gewohnt war, gerade in Sachen Benjamin die Öffentlichkeit zu suchen, wiederholt Gebrauch gemacht. Nicht ausgeschlossen, daß die vergleichsweise lebhaftere publizistische Präsenz des Verfassers dazu beitrug, ihn auch in der Ferne wahrzunehmen. In jedem Fall wurde ihm die Ehre zuteil, zusammen mit Norbert Bolz und Bernd Witte zu einem in São Paulo stattfindenden Gedenkkongreß eben anläßlich der Wiederkehr von Benjamins 50. Todestag geladen zu werden. Noch einmal wiederholte sich die Begegnung mit einem Land, in dem eine Kultur des Umgangs mit dem Philosophen und freien Schriftsteller obwaltete, von der man sich in Deutschland keine Vorstellung zu machen vermochte, weil die Verhältnisse in jeder Hinsicht gänzlich andere waren. Auch in Brasilien und zumal in den Metropolen wie São Paulo und Rio de Janeiro war Benjamin mehr und anderes als ein einzigartiger Denker und Publizist. Er wurde gelesen in der Tradition der marxistischen, aber auch der Freudschen Gedankenwelt jedweder Ausprägung, die auf Befreiung von gesellschaftlichen wie psychischen Fesseln und Obsessionen hinwirkte. Nicht die Spur einer Ahnung ist dem im europäischen akademischen Milieu tätigen Intellektuellen normalerweise gegenwärtig von dieser gerade in Südamerika virulenten Rezeption, in der seriöse exegetische Arbeit und praxisbezogene Adaptation keine Widersprüche darstellen, sondern sich wechselseitig befördern. Das Erstaunen, ja fast wäre man versucht, von Erwachen zu sprechen, setzte sich auf brasilianischem Boden fort. Benjamin war auch in Edition und Forschung in einer Weise gegenwärtig, die nur verblüffen konnte. Diverse Auswahlausgaben waren schon seit den sechziger Jahren im Brasilianischen verfügbar. Dazu kamen eine Reihe von Übertragungen einzelner benjaminscher 239
Texte. Sie alle waren mit Einführungen versehen. Und eben deren Verfasser hatten wiederholt auch Monographien vorgelegt, häufig ausgreifend auch auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule oder eben den Kontext zu Scholem eröffnend. Lange vor dem Gedenkkongreß herrschte in Brasilien eine lebhafte Benjamin-Debatte. Nun aber waren die Autorinnen und Autoren zumeist anwesend. Man konnte sich mit ihnen verständigen. Und wiederum mehr als das. Sie alle hatten ein offenes Ohr für den Sammler von Benjaminiana. Die Reihe der aus Brasilien herrührenden Bücher wieder durchschauend treten die schönsten Widmungsexemplare hervor. Neben der Begegnung mit dem einzigartigen Land und seinen Menschen, das eifrig über die Goethe-Institute bereist wurde, traten Dialog und Austausch mit der brasilianischen Benjamin-Zunft, ob in São Paulo oder in Rio de Janeiro, ob in Porto Alegre oder in Salvador. Das Thema des Kongresses indes war merkwürdig genug, wäre in dieser Form in Deutschland undenkbar gewesen, indizierte aber bereits sehr treffend, wie in Brasilien der Umgang mit Benjamin gepflegt wurde und auch im Jahr 1990 erneuert werden sollte. ›Sete perguntas a Walter Benjamin‹ – ›Sieben Fragen an Walter Benjamin‹ lautete es. Mit ihnen wurden die Teilnehmer konfrontiert, zu ihnen hatten sie Stellung zu nehmen, und das durchaus nicht nur in schriftlich vorab vorbereiteten Vorträgen, sondern im Gespräch mit jeweils einem weiteren der deutschen Kollegen und zweien aus Brasilien. Das spontane Wort zählte mehr als das vorab fixierte. Niemals vorher und niemals nachher war eine derartig intensive Diskussion zu erleben wie diejenige, die sich in den Räumen des Goethe-Instituts unter Leitung von Willi Bolle und Jeanne Marie Gagnebin entspann ; der Atem stockte schlicht, wenn schneidend und scharf, jedoch stets kontrolliert und kollegial die soziale, politische und eben im weitesten Sinn öffentliche Verbindlichkeit des im Namen Benjamins Verhandelten zu einem Zeitpunkt eingefordert wurde, da das Land, nein, da ein ganzer Kontinent um seine Zukunft rang. Aktualität im wissenschaftlich-politischen Diskurs wurde in seltener Eindringlichkeit erfahrbar. 240
›Warum wurden die Erben Benjamins reicher als er selbst‹ lautete die Frage an den ersten Redner. Der versuchte sich an einer Antwort, die womöglich nicht ungewöhnlicher war als die Frage selbst. Bilder seien es, die Benjamin der Nachwelt geschenkt habe, aber Bilder ganz besonderer Art. Sie standen nicht auf der Gegenseite der Begriffe, waren aber auch nicht in sie zu überführen. Zwei Extreme in der Welt der Sprache koinzidierten in einem Sprachlosen, auf das hin beide verwiesen. In den ›Denkbildern‹ – und keineswegs nur in den von Benjamin explizit so genannten – mochte der Grund zu suchen sein für das unverwüstliches Fortleben eines Denkers, das in dieser Form keine Parallele in der Rezeptionsgeschichte des 20. Jahrhunderts besaß. Reichtum bezeugte sich in der stetig neue Energien freisetzenden Begegnung mit diesen wahrhaft dialektischen Schöpfungen. Messianische Splitter waren ihnen eingesenkt, die jenen Prozeß steuerten, der sich unentwegt erneuerte und an Tiefe gewann, ja womöglich erst am Ende der Tage selbst zu einem Ende gelangte. So in etwa die Rede. Sie zeitigte eine überraschende Konsequenz. Der Vortragende wurde gebeten, am kommenden Tag seine Gedanken zu dem Benjaminschen Diktum darzulegen, das sich aus dem Munde der Veranstalter wie folgt ausnahm : ›Por que um mundo todo nos detalhes do cotidiano ? – Passt die ganze Welt in die Einzelheiten des Alltags ?‹ Da war guter Rat teuer. Mit einem Benjaminschen Zitat, das gegenwärtig war, half der Improvisierende sich aus der Patsche : »Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behauptet – nur eine zeitliche Funktion des Erkennens, sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee.« (V/1, 578) Also war der Weg, wie stets bei Benjamin, über die Theologie zu nehmen. Das Fazit ? Den Versprechungen der Theologie die Treue zu halten hieß auch, der Wirklichkeit kritisch standzuhalten. In ihrer kleinsten Zelle spiegelte sich wie in der Leibnizschen Monade die Welt. Aber diese war keine prästabiliert-harmonische 241
mehr, sondern eine doxagesättigte. Sie verlangte immer noch nach dem Scheidekünstler, als welcher sich der theologische Materialist bis zum letzten Atemzug begriff, und das um der Echtheit des historischen Bildes willen – sei es auch verborgen in der Rüsche des Kleides, das seinen Träger über die schale Welt des Abgelebten und Toten hoffend, wünschend, Glück suchend erhob. So ging es zu in São Paulo. ›Geistesgegenwärtigkeit‹, von Benjamin immer wieder umkreist, war gefordert. Wenn aber Reichtum weiterhin fast unerschöpflich gespendet wurde, so lieferten Denken und Reden im Zeichen Benjamins auf brasilianischem Boden den schönsten Beweis. Wie sollte der aber erfahrbar werden in einer stummen Publikation ? Die Veranstalter wählten ein Periodikum ihrer Universität. Im Heft 15 des Herbstes 1992 war in der ›Revista‹ der Universität São Paulo das ›Simpósio BrasilAlemanha‹ mit den ›Sete perguntas a Walter Benjamin‹ zu lesen. Reich bebildert und ausgestattet mit seltenen Dokumenten geriet es zu einer bibliophilen Kostbarkeit. Wie oft regte sich der Wunsch, daß sie auch ihren Weg nach Deutschland gefunden hätte. Für den Osnabrücker Gast aber kam weiteres hinzu, die Reise zu einer unvergeßlichen werden zu lassen. Das Jubiläumsjahr 1992 machte sich geltend. Noch in São Paulo erfuhr er von den regen Aktivitäten in Sachen Benjamin im Nachbarland Argentinien. Also wurde kurzerhand ein Flugzeug bestiegen und der Weg für zwei, drei Tage nach Buenos Aires angetreten. Tatsächlich trat im dortigen Goethe-Institut die argentinische Benjamin-Forschergruppe auf Einladung von Gabriela Massuh zusammen. Ob man sich vorstellen könne, so die Anfrage des Gastes, in zwei Jahren in Osnabrück dabei zu sein und vorzutragen ? Ein Blick in die Kongreßakten belehrt, daß die Frage keine vergebliche geblieben war. Wie in Brasilien öffneten sich in Argentinien die Tore im Zeichen Benjamins. Und wiederum mehr als das. Der Gast, eben erst eingetroffen, erkühnte sich zu der Frage, ob das, was in São Paulo so eindrucksvoll soeben über die Bühne gegangen sei, womöglich auf andere Weise eine Fortsetzung in Argentinien nehmen könne. Natürlich knüpfte sich an die Frage 242
die Hoffnung, alsbald auf den südamerikanischen Kontinent zurückkehren zu können. Und tatsächlich kam der Kongreß zustande. Wieder war eine illustre Gesellschaft aus der ganzen Welt angereist. Nur der Osnabrücker Kollege fehlte. Für den Herbst des Jahres 1992 war der Kongreß anberaumt. Da war es hohe Zeit, wieder in den Osten aufzubrechen, war doch soeben auch Königsberg wieder zugänglich geworden. Er mußte um Verständnis bitten und fand es. Schon ein Jahr später lag der Band mit den Akten des Kongresses in Buenos Aires vor. ›Sobre Walter Benjamin. Vanguardias, historia, estética y literatura. Una visión latinoamericana‹ ist er betitelt. Das Osnabrücker Exemplar ziert eine Widmung aus der Feder von Gabriela Massuh, welche die Erinnerung an eine folgenreiche Eskapade festhält : ›Klaus Garber, spiritus rector nicht nur dieses ersten lateinamerikanischen W. B.–Treffens‹. Als es Abschied zu nehmen galt hier wie dort, war man gewiß, sich alsbald wiederzusehen. Tatsächlich waren zwei Jahre später Willi Bolle und Nicolás Casullo, Ricardo Forster und Jeanne Marie Gagnebin, Graciela Wamba Gaviña und Reyes Mate, Juan Mayorga und Günter Karl Pressler aus Argentinien und Brasilien dabei. Die Reise hatte auch im Blick auf die nahe Zukunft im Zeichen Benjamins schöne Früchte gezeitigt.
Benjamin in Japan
D
as Hauptseminar, aber auch das Oberseminar Richard Alewyns waren in Bonn keinesfalls geprägt durch die Anwesenheit fortgeschrittener Studierender aus dem Ausland. Ob es in Köln oder Berlin anders war, entzieht sich unserer Kenntnis. Der berühmte Gelehrte hätte es sehr wohl verdient gehabt, daß man ihm auch aus der Ferne zuströmte. Ob er selbst dies erwartete, ist eher zu bezweifeln. Die ungemeine Bescheidenheit, die ihn auszeichnete, das völlige Absehen von seiner Person, ließen womöglich nicht einmal entsprechende Gedanken aufkommen. Auf der anderen Seite pflegte er den selbstverständlichsten Umgang mit 243
berühmten Dichtern, lud etwa Gottfried Benn in sein Seminar ein, korrespondierte mit den namhaftesten Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und öffentlichen Lebens. Er wußte wer er war und machte kein Wesen davon. Ein junger Wissenschaftler aus dem Ausland fand sich freilich stets wieder in seinen Veranstaltungen ein. Schon in den frühen sechziger Jahren fiel er uns auf. Man lernte sich kennen, wußte sich bald zu schätzen, und eine Freundschaft erwuchs, die bis zu dem allzu frühen Tod des Dichters und Gelehrten währte und sich erinnernd lebendig bewahrt hat. Die Literatur und die Künste um die Jahrhundertwende waren es, die ihn nach Deutschland, zunächst zu Friedrich Sengle und dann gezielt zu Richard Alewyn geführt hatten. Er hätte keinen kompetenteren Sachwalter der Kreise um Hofmannsthal, George, Schnitzler und wie sie hießen erwählen können. Ginge es um eine Rangordnung der diversen Arbeitsfelder, denen Alewyn sich verschrieben hatte, so behauptete am Ende die Epoche des Jugendstils und des Symbolismus die Spitze. Wir wählen diese Begriffe bewußt, denn eben wie sie sich in Literatur und Malerei zugleich manifestierten, hatte den Germanisten aus der Ferne nach Deutschland gelockt. Seine wundervolle Bibliothek war voll mit Büchern und Bildern aus dieser Zeit. Wir sprechen von Kenzo Miyashita. Als ausgewiesener Mörike-Forscher ist er im Fach präsent. Am Ende der gemeinsamen Bonner Zeit erschien in den ›Japanischen Studien zur deutschen Sprache und Literatur‹ seine Untersuchung ›Mörikes Verhältnis zu seinen Zeitgenossen‹. Vor allem in Marbach war sie stofflich erarbeitet worden, beruhte auf breitem archivalischem Material und erfuhr auch deshalb eine freundliche Aufnahme. Auf eine denkwürdige Weise waltete zwischen dem überaus sensiblen und behutsamen Gelehrten und dem Lyriker Mörike, den Miyashita als den größten nach Goethe apostrophierte, eine Wahlverwandtschaft. Sie war stets dann besonders zu spüren, wenn Mörike wieder in unser Blickfeld trat und der Freund mit den überraschendsten Beobachtungen herausrückte. Selbst wunderschöne tiefsinnige Gedichte schreibend, von denen wir wußten, 244
daß sie im Deutschen nur unzureichend wiederzugeben waren, besaß er das feinste Organ für den verhaltenen lyrischen Duktus des Schwaben. Warum aber diese Worte ? Weil Kenzo Miyashita dem Freund den Weg in sein Heimatland bahnte, und das mit Folgen für das in diesen Kapiteln verfolgte Nachleben Benjamins im In- und Ausland. Im Jahr 1985 veranstaltete Miyashita im Zusammenwirken mit dem Japanischen Germanisten-Verband und der JapanFoundation eine Konferenz zu Naturgefühl und Landschaftsdarstellung in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Dazu konnte der Verfasser dieser Zeilen ersichtlich nichts Förderliches beitragen. Aber die Veranstalter zeigten sich interessiert an einem Vortrag zur Darstellung der Natur in der Frühen Neuzeit. So fügte sich auch Japan ein in die in jenen Jahren dichte Folge von Reisen in die außereuropäische Welt. Wie merkwürdig aber, daß sich wiederum über das GoetheInstitut in Tokyo die Spur zu Benjamin auftat. Eine Reihe von Adressen hatte man in dem glänzend geführten Haus parat, die dankbar entgegengenommen wurden. Im dem einen oder anderen Fall konnte bereits nach Rückkehr der briefliche Verkehr eingeleitet werden. Entscheidend aber blieb es, in das Land selbst zurückzukehren, um das persönliche Gespräch mit den BenjaminExperten zu suchen. Und tatsächlich kam die Gelegenheit. Es war das Jahr 1990, da die Internationale Germanistische Vereinigung in Tokyo zusammenkam. Man meldete sich an, wurde mit einem Thema über Walter Benjamin und die Moderne akzeptiert und mußte dann kurzfristig doch wieder einen Rückzieher machen, weil der Termin mit demjenigen in Brasilien kollidierte. Aber deshalb war der Gedanke an eine neuerliche Reise nach Japan doch nicht aus der Welt. Noch einmal stiftete der Freund den schönen Anlaß. Zusammen mit Miyashitas Kollegen Teruaki Takahashi von der Rikkyō-Universität in Tokyo war unter Mitwirkung von Ludger Rehm anläßlich des 60. Geburtstages von Miyashita eine Festschrift vorbereitet worden. Wenn sich in ihr neben anderen Katharina Mommsen und Renate von Heydebrand, Siegbert Pra245
wer und Victor G. Doerksen, Ulrich Fülleborn und Ralph-Rainer Wuthenow, Dieter Borchmeyer und Beda Allemann, Helmut Kreuzer und selbst noch Albrecht Goes trafen, so war ersichtlich, daß es mit Person und Werk des Geehrten Besonderes auf sich hatte, ›Sei mir, Dichter, willkommen !‹. Unter diese Worte Mörikes stellten wir das festliche Bouquet, das da in den zusammen mit Jutta Held begründeten ›Europäischen Kulturstudien‹ bei Böhlau erschien. In der ›Bambusbrücke‹ zu Tokyo wurde sie übergeben. Für den aus der Ferne dank neuerlicher großzügiger Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Auswärtigen Amtes Angereisten aber ging es zugleich um anderes. Gemeinsam mit Kenzo Miyashita und Teruaki Takahashi wurde während der zehn Tage im Dezember des Jahres 1990 der Kontakt zu den mit Walter Benjamin befaßten Kolleginnen und Kollegen aufgenommen. Miyashita hatte aus diesem Anlaß nach Tokyo ins ›Gakushi Kaikan‹ geladen, um in einem ausgewählten Kreis über Fragen der Benjamin-Rezeption speziell in Japan zu sprechen und die Vorbereitungen für den Benjamin-Kongreß 1992 zu treffen. Dabei erwies es sich als überaus glücklich, daß Peter Richter vom Tokyo-Büro des Akademischen Austauschdienstes zu der Zusammenkunft hinzukam, der eine ganze Reihe von Anregungen für eine Beteiligung weiterer Germanisten in Japan beisteuern konnte. Darüber hinaus fügte es sich glücklich, daß ein hervorragender Benjamin-Spezialist namens Josef Fürnkäs, der bei Metzler ein vielbeachtetes Buch ›Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen‹ vorgelegt hatte, als Gastprofessor an der Universität Tokyo wirkte, naturgemäß über beste Benjamin-Kontakte im Land verfügte und ebenfalls eine Reihe von weiteren Fachleuten benennen konnte, die für den Kongreß in Frage kämen. Das Resultat der Konsultation war wie im Falle Südamerikas so auch im Falle Japans eindrucksvoll. Wie wiederum aus den Kongreßakten ersichtlich, waren Kenjiro Asai und Josef Fürnkäs, Yoshihiko Hirano und Yasuo Ishimitsu, Ken’ichi Mishima und Michio Mitsugi, Osamu Nomura und Takao Tsunekawa dabei. 246
Damit stellte Japan neben Lateinamerika und den Vereinigten Staaten das dritte große außereuropäische Kontingent an Benjamin-Forschern. Die effektive Internationalität der Jubiläumsveranstaltung war sichergestellt, und das Land, das am frühesten eine eindrucksvolle sechzehnbändige Übersetzung des deutschen Philosophen zustandebrachte, angemessen und repräsentativ vertreten. Eine freundschaftliche Geste und ein von glücklichen Umständen begünstigtes Agieren auf dem wissenschaftlichen Parkett hatten neuerlich Förderliches bewirkt. Für die nahe Zukunft in Sachen Benjamin zeichnete sich Verheißungsvolles ab.
Benjamin in Jerusalem
A
uf italienischem Boden war die Einladung nach Jerusalem ergangen. Ihr folgten wir in Benjamins Jubiläumsjahr 1992. Wieder war die Erwartung eine nahezu übermäßige. Die Sammlung Scholem und innerhalb ihrer das Benjamin-Archiv des Freundes sollten erkundet werden. Ungezählte Zeilen aus dem Briefwechsel der Freunde und sonstige aus anderer Quelle bekannte Äußerungen schwirrten durch den Kopf. In den nicht endenden Auseinandersetzungen mit den Frankfurtern hatte Scholem stets zu Benjamin gehalten. Dieser hatte in ihm – wie sonst womöglich in dieser Hinsicht nur in Hannah Arendt – eine verläßliche Stütze. Die Berner Gründung der Alternativ-Universität Muri war als eine der schönsten und geistreichsten Satiren auf den akademischen Betrieb bis in den Wortlaut hinein gegenwärtig. Und natürlich wußte man um die herbe Enttäuschung, die Benjamins Hin und Her um einen Aufenthalt in Jerusalem auf seiten des geistigen Mitbegründers des jungen Staates im Gefolge hatte. Am tiefsten eingeprägt aber hatte sich die Reaktion auf den Empfang der Nachricht von Benjamins Selbstmord. Wortlos ergriff der zutiefst Getroffene seinen Hut, eilte an seiner Frau vorbei und suchte sich im Freien zu sammeln. Eine singulär dastehende Freundschaft war jäh beendet. Scholem war fortan 247
auf das gedenkende Wort verwiesen, das er immer wieder für den Freund in die Waagschale warf. Wir schätzen uns glücklich, ihm auf einer Veranstaltung des Suhrkamp-Verlages begegnet zu sein und ihn angesprochen zu haben. Eine Nachfrage zu dem Umgang der Frankfurter mit dem Freund beschied er fast unwirsch ; damit wollte er erkennbar nicht mehr befaßt werden. Der Empfang in der Jerusalemer National- und Universitätsbibliothek, wo der Scholem-Nachlaß nebst mächtiger Bibliothek verwahrt wird, war der freundlichste und entgegenkommendste. Jeder erfüllbare Wunsch wurde erfüllt, und als am Schluß auch noch das vielleicht kostbarste Dokument für den Gast kopiert wurde, durfte er sich wiederum rühmen, einer der wenigen und vielleicht der einzige zu sein, dem diese durch und durch von Vertrauen geprägte Geste zuteil wurde. Ein in Sachen Archiv- und Bibliotheksreisen erfahrener Besucher hatte das Herz der um Scholems wie Benjamins Nachleben bemühten jüdischen Menschen gewonnen ; anders war das überaus großmütige Entgegenkommen nicht zu verstehen. Itta Shedletzky und Carola Hilfrich-Kunjappu übernahmen die Betreuung des Gastes in dem von Stéphane Mosès begründeten Franz-Rosenzweig-Forschungszentrum. Und in der Handschriftenabteilung sowie in der Bibliothek standen Margot Cohn und die Benjamin noch freundschaftlich verbundene Kitty Steinschneider mit ihren Transkriptionskünsten dem Forschenden ebenso zur Seite wie Shmuel Eden und Esther Liebes in der Scholem-Bibliothek. Ihnen allen war aus tiefem Herzen zu danken. Und was der Gast dann mit ihrer Hilfe zu sehen bekam, übertraf alle Erwartungen. Eine Unmenge von Briefen von und an Benjamin hatte Scholem an sich zu bringen vermocht, von der Korrespondenz zwischen den beiden Freunden ganz abgesehen. Die Urschrift und die Reinschrift von Benjamins Wahlverwandtschaften-Studie, die Hofmannsthal zu einer enthusiastischen Reaktion bewogen hatte – er wüßte ihr nichts Vergleichbares zur Seite zu stellen, bekannte er –, fand sich ebenso im Scholem-Nachlaß wie seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1928 und 1929 ; das mit Asja 248
Lācis verfaßte Denkbild ›Neapel‹ in einer unbekannten kompletten Version aus dem Jahr 1925 ebenso wie die handschriftliche Version des Denkbildes ›Weimar‹ ; das eigenhändig von Benjamin korrigierte Typoskript seines Kafka-Essays ebenso wie das seiner Baudelaire-Abhandlung. Auch gab es eine komplette Version des Goethe-Artikels für die Große Sowjetische Enzyklopädie in Jerusalem zu lesen. In der Benjamin-Ausgabe war davon so gut wie nichts zu erfahren gewesen, und der Zorn der Herausgeber entsprechend groß, als darüber berichtet wurde, wie sogleich noch ein wenig näher zu illustrieren. Geradezu ein momentanes Erstarren löste der erste Anblick jenes Manuskripts aus, um dessentwegen die Reise in erster Linie angetreten worden war. »Im Goethe- und Schillerarchiv sind Treppenhaus, Säle, Schaukästen, Bibliothek weiß. Das Auge trifft nicht einen Zoll, wo es ausruhen könnte. Wie Kranke in Hospitälern liegen die Handschriften hingebreitet.« Diese Zeilen aus dem Eingang des Denkbildes ›Weimar‹, das da soeben im Original studiert worden war, standen gebieterisch vor Augen, als die Urschrift von Benjamins größtem abgeschlossenem Werk ›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹ auf den Schreibtisch des Jerusalem-Reisenden gelangte. In dem von Scholem beschrifteten braunen Umschlag mit dem Aufdruck der Hebräischen Universität lag eine schmale unscheinbare Schrift, die schon zur Zeit ihrer Entstehung in einem prekären Zustand gewesen sein dürfte und inzwischen durchgängig vom Prozeß der Auflösung und des Zerfalls geprägt war. Sie hat in etwa die Größe und die Stärke eines Quart-Schulheftes, entbehrt freilich des Umschlags und war den Unbilden der Zeit so gut wie schutzlos ausgesetzt. Ihr fehlt die Konsistenz des verwendeten Papiers, ihr fehlt – bis auf die erste Seite – der Rand, an den Kanten und Seiten zerbröselt das Papier unter Textverlust. Der Schreibende hat ganz offensichtlich der Lust des Rauchens beim Schreiben gefrönt. An mehreren Stellen des Manuskripts sind zumal die Ränder durch Rauch- und Brandspuren lädiert und braun gefärbt. 249
Die Tinte verblaßt oder schlägt teilweise so intensiv durch, daß eine zweifelsfreie Entzifferung selbst des Originals auch für den kundigeren Leser der Benjaminschen Handschrift nicht mehr gewährleistet sein dürfte. Nicht zu reden von der Folge der Bogen und Blätter selbst und der Anordnung des Textes auf ihnen ! So als habe Benjamin vor allem Papier sparen, zugleich aber die Mühsal der Abschrift durch das Wiederauffinden und Enträtseln der selbstangelegten Verstecke erquicklicher und kurzweiliger gestalten wollen, ist nahezu jede Seite mit einem Schweif von Einschüben, Abbrüchen, Neueinsätzen, Verweisungen übersät, in dem bestenfalls der Autor sich noch zurechtfinden und seine – leider nicht erhaltene – Reinschrift herauszufiltern vermochte. So der seinerzeitige Report über den ›jüdischen Astralleib‹ in Gestalt von Benjamins Hauptwerk. Man wußte von ihm. Das allergrößte Interesse heftete sich unter den wenigen Kennern an seine nähere Verfaßtheit. Wie mochte sich die auf Capri und sodann in Berlin rasch niedergeschriebene Erstfassung zu der gedruckten Version verhalten ? Voller Rätsel bot sich diese dar. Half der Erstling womöglich bei der Lösung des einen oder anderen Problems ? Gab es Passagen, die kein Gegenstück in der gedruckten Fassung besaßen ? Hatte Benjamin das von ihm favorisierte Montageprinzip vielleicht auch schon bei der Redaktion des Trauerspielbuchs beobachtet ? Fragen über Fragen, die doppelt wogen, weil in Benjamins schriftstellerischem Haushalt eben eine jede Formulierung zählt. Überglücklich kehrte der Reisende mit einer Kopie der ›kranken Handschrift‹ zurück. Eine fast übergroße Aufgabe wartete auf ihn. Daß sie sich lohnen würde, war schon nach einer ersten Einsichtnahme gewiß. Doch zu Hause angekommen, waren Auseinandersetzungen ganz eigener Art durchzustehen. Wenig wohlwollende Kontrahenten öffneten erstmals ihr Visier. Und was sie zu vermelden hatten, dürfte immer noch von Interesse sein im Blick auf das Genus ›Kritik‹ auf deutschem Boden und womöglich nicht nur auf ihm.
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Ein Vor- und ein Nachspiel
G
leich nach Rückkehr wurde ein erster Bericht verfaßt und wie üblich der ›Frankfurter Rundschau‹ übergeben. Unter dem Titel ›Ungehobene Schätze. Editorische Versäumnisse bei der Werkausgabe Walter Benjamins – Ein Besuch in der Sammlung Scholem in Jerusalem‹ erschien er am 3. Juni 1992 wenige Tage vor dem großen Benjamin-Kongreß. Das Echo war heftig. Walter Boehlich, mit dem Verfasser wiederholt im Gespräch über wissenschaftsgeschichtliche Fragen, replizierte in der ›Rundschau‹ unter dem schönen Titel ›Ungeschätzte Schätze‹. Die Herausgeber aber holten zunächst in einer in Tausenden von Exemplaren verbreiteten Broschüre des Suhrkamp-Verlages sowie in den ›Adorno-Blättern‹ und dann in der Zeitschrift ›Konkret‹ zu einem Rundumschlag aus. Unter dem Titel ›Schatzgräber ohne Glück‹ ließen sie sich vernehmen. Die nicht eben zimperliche Zeitschrift schlug sich in einem Vorspann auf die Seite der Kritisierten. »Was taugt die Ausgabe der Gesammelten Schriften Walter Benjamins ?« Und die Antwort : »Ihre Herausgeber nehmen die kürzlich erschienene Kritik eines bemerkenswert ignoranten Germanistik-Professors zum Anlaß, um Leistungen und Schwächen ihrer Arbeit zu verdeutlichen.« Der Ignorant aber ließ sich nicht mundtot machen. Unter dem Titel ›Umgang mit Gralshütern‹ replizierte er seinerseits, und zur Ehre der Zeitschrift ›Konkret‹ muß hinzugefügt werden, daß der Replik zügig Platz eingeräumt wurde. Eine grundsätzliche Debatte war in Gang gekommen. Und die hatte eine lange Vorgeschichte. 1972 war der erste Band – formell als Band III – in der Ausgabe der ›Gesammelten Schriften‹ Benjamins erschienen. 1989 wurde mit dem siebten Band, Nachträge enthaltend, ein Abschluß erreicht, bevor in den neunziger Jahren Supplemente vor allem mit Benjamins Übersetzungen aus dem Französischen erschienen. Wie schon in so gut wie allen vorangegangenen Fällen boten sowohl die ›Frankfurter Rundschau‹ als auch das Referaten-Organ ›Germanistik‹ Gelegenheit zu einer kritischen Stellungnahme, in der sich stets die Anerkennung des Geleisteten mit der Nominie251
rung der Monita verband. Unter dem Titel ›Benjamin – und kein Ende‹ wurde in der ›Rundschau‹ im Juni 1990 ein Fazit gezogen. Als zwei Jahre später in einem Buch des Verfassers ›Zum Bilde Walter Benjamins‹ eine erweitere Fassung erschien, wies schon die nun gewählte Überschrift auf die sich zuspitzende Situation hin : ›Die Gesammelten Schriften Benjamins – immer noch ein Torso. Zum (vorläufigen) Abschluß der Werkausgabe.‹ Hier nun kamen die in Jerusalem getätigten Funde im einzelnen zur Sprache. Und an sie knüpften sich prospektive Erwägungen, auf die sogleich zurückzukommen sein wird. Doch zunächst ein Wort über den Umgang der BenjaminHerausgeber mit dem ›Schatzgräber ohne Glück‹, für den Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser und Hella TiedemannBartels – in dieser Reihenfolge ! – verantwortlich zeichneten. Zum Schluß ihrer Replik kamen sie auf die Korrektur eines Lesefehlers zurück, wie sie über die Einsicht in das in Jerusalem lagernde Manuskript möglich wurde. Keine Rezension des Verfassers, die nicht die Leistung anläßlich der Entzifferung der schwer lesbaren winzigkleinen Benjaminschen Handschrift hervorgehoben hätte. Von ihrem Kritiker aber erwarteten sie sich keine Hilfe in dieser schwierigen Frage. Der Grund : »Was er gegen unsere Benjamin-Edition publiziert hat, ist sachlich irrelevant und war nur auf billigste publizistische Effekte aus. Sein jüngster Artikel in der ›Frankfurter Rundschau‹ enthält keinen Anhaltspunkt, daß sich daran noch etwas ändern könnte. Einst kamen aus Osna brück ›Patriotische Phantasien‹ und beeindruckten Goethe. Heute kommen von da anscheinend nur noch Phantasmen eines Germanisten von der ganz besonderen Sorte, und die können niemand beeindrucken, der zu lesen vermag und bereit ist, von dieser Fähigkeit Gebrauch zu machen. […] Wir haben geschwiegen 20 Jahre. Dieses eine Mal haben wir nicht geschwiegen. Unseren Artikel aber muß Herr Garber schon ein für allemal nehmen, auf unsere nächste Erwiderung wird er mindestens noch einmal 20 Jahre warten müssen.« So also der Duktus von Herausgebern, in deren Hände die Edition der Werke Walter Benjamins gelangt war. Unter dem 252
Stichwort ›Gralshüter‹ wurde einen Moment lang über die Implikationen ihrer kritischen Invektive nachgesonnen. »Ihr autoritärer Gestus bleibt einer der Auserwählten. Er heischt Unterwerfung. Wehe dem, der da das Recht auf eignes Sehen, Denken, Urteilen behauptet, gar ein Wort der Kritik riskiert. Er reiht sich ein in die lange Schar der Abgefallenen. Abstufungen gibt es da nur in den Graden des Abfalls. Als ›Kriegsgewinnler der Studentenrevolte‹, als ›Feind Nummer I‹ gilt da der Schreiber dieser Zeilen in internen Verlautbarungen. Wir kennen uns ein wenig aus in der Geschichte des Erwähltheits-Pathos unter den Deutschen, wissen, wohin uns die Sprache der Meister und Jünger führte, und haben immer noch – oder schon wieder – doppelten Grund zur Wachsamkeit gerade in unserem Land.« Gute fünfundzwanzig Jahre liegen die Worte zurück. Ihre Aktualität hat sich ersichtlich eher noch erhöht. So durften sie an dieser Stelle nochmals aufgerufen werden. Die Geschichte der Benjamin-Edition aber nahm eine überraschende Wende. »Das Warten auf den vollständigen Benjamin dauert an«, schrieben wir in dem erwähnten Artikel des Jahres 1990. »Die stabile Kassette der stolzen sechzehn Bände und die Vermarktung im Taschenbuch sollte da nicht täuschen.« Die Urschriften und die Zweitund Drittfassungen der Haupttexte Benjamins fehlten immer noch. »Wenden wir das Debakel positiv, so bleibt vom Suhrkamp-Verlag zumindest eine historisch-kritische Ausgabe des ›Wahlverwandtschaften‹-Aufsatzes, des Trauerspielbuches, der Abhandlung über das ›Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‹, aller Äußerungen aus dem Umkreis des (von Adorno) zerschlagenen Buches ›Charles Baudelaire, ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus‹ und schließlich der ›Berliner Kindheit um neunzehnhundert‹ einzufordern.« Viel rascher als je zu erhoffen, hat sich diese Forderung erfüllt. Seit 2006 erscheint tatsächlich eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Benjamins, in der alle vorliegenden Manuskripte ausnahmslos mit zum Abdruck gelangen. Verantwortlich für sie zeichnen Christoph Gödde und Henri Lonitz. Ihnen verdanken wir die Edition der Briefe von und an Benjamin in sechs Bänden 253
in hervorragender Kommentierung. Und sie haben ein Herausgebergremium für die große neue Ausgabe gewinnen können, die nur Gutes verheißt. Zehn Bände in Text und Kommentar liegen während der Niederschrift dieser Zeilen vor. Ein Autor von Weltrang hat die ihm gebührende editorische Zuwendung erfahren. Eine langgehegte Hoffnung, publizistisch über Jahrzehnte artikuliert, ist in Erfüllung gegangen. Welche Gedanken mögen die verdienstvollen Herausgeber der vorangegangenen Ausgabe bewegen, die da so wohlgemut in die kommenden zwanzig Jahre blickten und mit denen wir ganz wider Willen in eine so unschöne Auseinandersetzung gerieten ?
›global Benjamin‹. Der hundertjährige WB in Osnabrück
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n Frankreich und Italien nicht anders als in Mittel- und Osteu ropa sowie in der Sowjetunion waren die personellen Weichen für das Jahr 1992 gestellt worden. Die Reisen nach Japan wie nach Nord- und Südamerika und schließlich nach Israel wurden desgleichen für die Kontaktpflege genutzt. So war nach menschlichem Ermessen das Nötige geschehen, um einen internationalen Kongreß auszurichten, der diesen Titel zu Recht tragen würde. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte sich zur Schirmherrschaft verstanden. Und die Deutsche Forschungsgemeinschaft war bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gegangen, wie ihr Präsident Wolfgang Frühwald vor Präsident und Senat der Universität Osnabrück mit einem Augenzwinkern betonte, den Initiator unverkennbar in den Blick nehmend. Es blieb, darüber hatte man sich nüchtern Rechenschaft zu geben, ein ungewöhnliches Unternehmen, womöglich mit einem Anflug von Befremdlichkeit behaftet. Was mochte Osnabrück berechtigen, einen Kongreß für eine Person auszurichten, die Geltung rund um den Globus erlangt hatte. Mit Berlin oder Frankfurt, mit Paris oder Neapel, ja womöglich mit Riga oder Moskau wären mit dem Leben des Philosophen kommunizierende Orte 254
namhaft zu machen gewesen, die sich für ein derart prominentes Ereignis in ganz anderer Weise angeboten hätten als eben Osnabrück, eine Stadt, zu der über den zu Ehrenden keinerlei nähere Verbindung bestand. Dort wurde von verschiedenen Personen über Benjamin gearbeitet und nicht zuletzt über das Feuilleton ein weiterer Kreis erreicht. Es blieb ein Wagnis, das da eingegangen wurde, und wäre nicht ein jüngerer Kreis von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit an Bord gewesen – stellvertretend für sie alle seien nur Ute Széll und Winfried Siebers genannt – hätte das gutgemeinte Vorhaben leicht in einem Fiasko enden können. Auf das Programm nach mehr als fünfundzwanzig Jahren zurückblickend ist evident, daß die weltweite Benjamin-Forschung sich um die Pfingsttage des Jahres 1992 gewiß ein erstes Mal in dieser Zusammensetzung an einem Ort zusammenfand. Weit über hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren es. Folglich führte kein Weg daran vorbei, Sektionen zu bilden. Sieben an der Zahl waren es. Und schon bei den Sektionsleitern setzte das kleine Wunder ein. Günter Hartung aus Halle und Karol Sauerland aus Warschau, Richard Faber aus Berlin und Jeanne Marie Gagnebin aus Campinas in Brasilien, Michael Löwy aus Paris und Willem van Reijen aus Utrecht, Momme Brodersen aus Palermo und Lorenz Jäger aus Frankfurt, Giulio Schiavoni aus Messina und Manfred Voigts aus Berlin, Chryssoula Kambas aus Osnabrück und Uwe Steiner aus Berlin sowie schließlich Willi Bolle aus São Paulo und Lutz Niethammer aus Essen waren für diese keinesfalls ganz leichte Aufgabe zu gewinnen. Im Mikrokosmos der Sektionsleitung spiegelte sich der internationale Charakter der Veranstaltung, und genau so sollte es sein. Was aber konnte in so großem Kreis sinnvoll zur Verhandlung gelangen ? Nun, das Programm, geziert mit dem Photo des jüngeren Walter Benjamin, eine Zigarette in der Hand und den Blick nach innen gewandt, bot eingangs einen systematischen Konspekt. Um Sprache, Schrift und Schreiben, um Text, Lesen und Erzählen, um Erinnern, Theologie und Theorie des Mythos ging es in einer thematisch besonders befrachteten ersten Sektion, um Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Benjamins Bild 255
der Antike in der zweiten, um Ästhetik, Bildende Kunst, Dialektisches Bild, Moderne und Postmoderne in der dritten, um Zugänge zu einzelnen Werken sowie dem Sammler und Kritiker in einer vierten, um personelle Kontakte und Kontraste in der fünften und sechsten und schließlich um die internationale Rezeption in Politik, Philologie und Geschichtswissenschaft in der siebten und letzten. Den Eröffnungsvortrag hielt Irving Wohlfarth im Niedersach sensaal der Osnabrücker Kongreßhalle. Und der gab sogleich einen Geschmack von dem, was da die kommenden Tage über zu erwarten sein würde. ››Einige wenige schwere Gewichte‹ ? Zur ›Aktualität‹ Walter Benjamins‹ hatte er ihn betitelt. Und an den Anfang gerückt wurde eine ›kleine polemische Einleitung. Der Niedersachsensaal, oder : ›der Schuldzusammenhang des Lebendigen‹‹. Nun, das war an Kryptik für die Nichtanwesenden kaum zu überbieten. In der Kongreßpublikation gab es folglich ein ›Postskriptum‹, das für Aufklärung sorgte : »Der vorangehende Aufsatz war der Eröffnungsvortrag des Osnabrücker BenjaminKongresses und wurde als solcher konzipiert. Vorausgegangen war eine briefliche Polemik mit dem Veranstalter, dessen Konzept mir nicht frei von ›Historismus‹ erschienen war, und der mich daraufhin mit voltairescher Liberalität einlud, den Vorabend des Kongresses zu bestreiten. Der Vortrag erreichte insofern seinen Zweck, als er eine öffentliche Debatte auslöste.« Und bei der blieb es nicht. Die Benjamin-Zunft war und ist eine streitbare. Bei dem Versuch, den Kongreß zugleich zu einer Gründungsveranstaltung für eine Benjamin-Gesellschaft umzufunktionieren, kam dies vielleicht am eklatantesten zum Vorschein. Dem Kongreß aber war die überaus rege Diskussion nur zuträglich. Niemand unter den Teilnehmenden hatte eine Chance, sich ein vollständiges Bild zu verschaffen. Das erlaubte erst die Publikation. Sechs Jahre dauerte es, bevor sie im Zusammenwirken mit Ludger Rehm vorgelegt werden konnte. Drei voluminöse Bände nahm der Fink-Verlag in seine Obhut, der publizistisch so viel für Benjamin getan hatte und über Raimar Zons und später über Andreas Knop dem Verfasser freundschaftlich verbunden blieb. 256
»Walter Benjamin war einer der wenigen Großen. Ihm und seinem Andenken gegenüber haben wir eine bleibende Verpflichtung.« So äußerte sich Richard von Weizsäcker in einem Grußwort. Ihr suchte auch der Osnabrücker Kongreß gerecht zu werden. Für den Initiator aber hieß es, Abschied zu nehmen von Walter Benjamin um anderer dringlicher und gleichfalls verlockender Aufgaben wegen.
Ein Großprojekt jenseits von Oder und Neiße
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ie Wende 1989/90 zeitigte auch wissenschaftspolitisch zuweilen die groteskesten Konsequenzen. Davon konnte man sich als eifriger DDR-Reisender vor Ort und im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen immer wieder überzeugen. Für den Verfasser dieser Zeilen freilich erwies sie sich in forscherlicher Hinsicht geradezu als ein Segen. Nicht, daß sich plötzlich Zugänge angebahnt hätten, die vorher nicht bestanden hatten. Ganz im Gegenteil, möchte man rückblickend sagen, je weiter die Zeit voranschritt. Nein, das östliche Europa, das da unversehens für die weitere Öffentlichkeit erstmals wieder in den Blick rückte, sollte forschend neu erkundet werden. Und dazu bot sich für aufgeschlossene Drittmittelgeber eine Figur geradezu an, die in den östlichen Gefilden schon vor der Wende unterwegs gewesen war. Aus dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Hannover, das er geleitet hatte, war Rolf Möller als Generalsekretär in die VolkswagenStiftung herübergewechselt. Ihm waren die frühneuzeitlichen Aktivitäten in Osnabrück nicht unbekannt, und so wurde der Kontakt hergestellt. Auf den Spuren alter deutscher Bibliotheken war man im Osten auf Erkundungsreise gegangen. Folglich hätte es nahegelegen, über eben sie Näheres in einem Forschungsprojekt darzulegen. Das aber schien letztlich dann doch eine Aufgabe der bibliothekarischen Zunft zu sein. Wir wollten als Literaturwissenschaftler an der Seite der Literatur bleiben. Wie sich rasch zeigen sollte, schloß das eine das andere keineswegs aus ; im Gegenteil. 257
Die Sammelbände mit Kleinschrifttum, von denen in unserem Bericht schon so viel die Rede war, rückten neuerlich in den Fokus der Erwägungen, nun aber eben unter projektförmig orientierten. Wie oft war auf den Reisen, blätternd in den Folianten, der Gedanke aufgetaucht, daß eine Geschichte der deutschen Literatur in der Frühen Neuzeit ein völlig anderes Aussehen annehmen würde, wenn ihr das kleine Schrifttum vor allem in Gestalt der Gelegenheitsdichtung zugeführt werden würde. Im Westen war es prinzipiell greifbar, auch wenn es sich vielfach im Dunkel der Bibliotheken verbarg. In der DDR mochte es nunmehr auch durch Kollegen vor Ort gezielt in das Blickfeld rücken, wie bereits auf dem Osnabrücker Kongreß zur städtischen Literatur erkennbar. Für den Raum jenseits von Oder und Neiße mußte die Initiative ergriffen werden. Und eben dies geschah, und zwar in fast überdimensionierten Ausmaßen. Die VolkswagenStiftung – vertreten durch den Leiter für die Abteilung Geisteswissenschaften Otto Häfner und das Bibliotheksreferat in Gestalt von Günter Dege und alsbald vor allem die Jahre über durch den Generalsekretär Wilhelm Krull – zeigte sich in einer Weise offen für Vorschläge, wie dies in einer vielgefragten Institution von Rang vielleicht eher selten zu erleben ist. Der Wille war erkennbar, wirklich Durchgreifendes für die Geisteswissenschaften im östlichen Europa zu erwirken, und das auch um den Preis erheblicher Mittel und längerer Zeiträume. Gebürgt werden mußte für Qualität sowie für wissenschaftliche und öffentliche Relevanz. Beides aber war nur zu erreichen über ein konzises Thema und über die genaue Markierung der räumlichen und zeitlichen Erstreckung. Hinsichtlich der zu nominierenden Quellen und vor allem ihrer Erschließung mußte erkennbar Neuland betreten und hinsichtlich der Bibliotheken, in denen die Arbeit verrichtet werden sollte, mußte der Aspekt des Verbleibs von Material aus ehemals deutschen Bibliotheken prominent zur Geltung gebracht werden. Das Resultat der Planungen war ein Projekt, das die Dimensionen eines über mehrere Jahrzehnte sich erstreckenden Akademievorhabens angenommen hatte. Das aber verschreckte nicht, 258
sondern veranlaßte im Gegenteil die Stiftung, den Akzent auf den Auftakt zu setzen ; es sollte vielversprechende Arbeit überhaupt erst einmal in Gang gebracht werden. Ein Pilotprojekt wurde vereinbart, und erst nach erfolgreicher Absolvierung würde das Großprojekt zum Zuge kommen. Beinahe aber wäre dann doch alles gescheitert, und wenn es schließlich anders kam, so ist dies einem Großmut, aber auch einem Wagemut der Stiftung und ihrer leitenden Persönlichkeiten zu danken, die in dankbarer Erinnerung geblieben sind. Eine wiederum kleine und der Spannung nicht entbehrende Geschichte ist zu erzählen. Als Gattung wurde das personale Gelegenheitsschrifttum gewählt. Es war, wie erwähnt, die vornehmste Quelle des literarischen Lebens vor Ort, in welchem sich zudem wie an keiner anderen Stelle sonst der Übergang vom Lateinischen zum Deutschen spiegelte. Und es barg die Namen und vielfach auch die näheren Bewandtnisse von ungezählten Personen, über die gerade als einst im Osten lebende nähere Informationen erwünscht waren. Überall im Osten waren in den Bibliotheken die Bestände geteilt worden. Neben den Handschriften und den Rara wurde die ältere Literatur bis zum Stichjahr 1800 in gesonderten Abteilungen geführt. Das kam unserem auf die Frühe Neuzeit gerichteten Unternehmen entgegen. Von dem ersten gedruckten und in der jeweiligen Bibliothek erhaltenen Exemplar gleich welchen Sprachstands bis zum Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erstreckte sich unsere Recherche. Damit waren klare Grenzziehungen gegeben, die die Arbeit vor Ort erleichterten. Und was die Bibliotheken anging, so kamen uns jetzt die früher durchgeführten Reisen im Osten zustatten. Von vornherein galt der Grundsatz, nur Bibliotheken in das Projekt aufzunehmen, in denen wir selbst bereits geweilt und uns Einblick in die Situation vor Ort verschafft hatten. Alles andere hätte zu unverantwortlichen Improvisationen geführt. Also wurde eine Liste der Bibliotheken, in die neuerlich auszuschwärmen war, erstellt und der Stiftung präsentiert. Es waren allemal Häuser, von denen bekannt war, daß sie gut ausgestattet waren mit dem zu bearbeitenden Schrifttum. Und es waren zugleich solche, die einen maximalen 259
Ertrag hinsichtlich der gegenwärtigen bibliothekarischen Situation im Osten versprachen, denn eben daran war der internationalen Forschergemeinschaft ja besonders gelegen. Am Ende waren es mehr als zwanzig Bibliotheken mit gelegentlichen archivalischen und musealen Annexen, die ausgewählt und der Stiftung gegenüber nominiert wurden. Es waren dies in Polen die Institutionen in Breslau und Warschau, Thorn und Danzig sowie Stettin, in den baltischen Landen diejenigen in Vilnius und Riga, Tallinn und Tartu, und in Rußland diejenigen in Königsberg und in St. Petersburg. Nur eine Bibliothek aus dem Raum diesseits von Oder und Neiße kam hinzu : die Universitätsbibliothek in Greifswald. Sie bildete auf pommerschem Boden das Komplement zu der einstmaligen Landesbibliothek in Stettin und erforderte als solche Berücksichtigung. Der gesamte südosteuropäische Raum mußte ausgespart bleiben. Er war nicht bereist worden und hätte das Gelingen des Vorhabens zum gegenwärtigen Zeitpunkt gefährdet. In der gewählten Anlage aber war sichergestellt, daß Schlesien und Pommern, Ost- und Westpreußen sowie die baltischen Lande angemessen repräsentiert waren, und eben das hatte für den Literaturhistoriker der Frühen Neuzeit Priorität. Vorgeschlagen wurde der Stiftung, das aufgefundene Schrifttum nicht allein katalogisch zu verzeichnen, sondern auch zu verfilmen und derart der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schon damit schien das Projekt an seine Grenzen zu stoßen. In vielen Einrichtungen des Ostens fehlten die technischen Voraussetzungen für eine Reproduktion. Wieder griff die Stiftung ein und stellte erhebliche Mittel für die Beschaffung von technischen Geräten zur Verfügung – ein Akt, der umgekehrt die gebenden Bibliotheken zu größtem Entgegenkommen veranlaßte. Auf Mikrofiches sollte das Material, verknüpft mit den zumeist erstmalig erarbeiteten Katalogen, publiziert werden. Dafür bot der Verlag Olms-Weidmann sich an, der über reichhaltige Erfahrung verfügte. Er wurde gewonnen und hat dem Vorhaben über Jahrzehnte die Treue bewahrt. Dem Senior des Hauses Georg Olms und seinem Sohn Dietrich Olms bleiben wir dankbar 260
verbunden, der unlängst verstorbene ehemalige Verlagsdirektor Eberhard Mertens bleibt unvergessen. Gleich zu Beginn des Vorhabens trat der Verlag mit einer Broschüre hervor, die noch heute in vielen Bibliotheken als Zimelie verwahrt wird. Dort nämlich waren über die am Projekt beteiligten Häuser Informationen zu lesen, die vielfach erstmals in Umlauf gebracht wurden. So schien alles optimal gerichtet. Das Scheitern drohte dem Vorhaben wieder einmal angesichts eines offensichtlich allzu skrupulösen Projektleiters. Nach ersten Berechnungen war überschlägig von bis zu 100.000 anfallenden Titeln auszugehen. Wie aber sollten die in vertretbaren Zeiträumen sinnvoll erschlossen werden ? Eine einfache Wiedergabe der Titel, selbstverständlich in Kurzform, hätte das gerade an diesen Schriften haftende reichhaltige Bouquet an literatur-, personenund buchkundlich relevanten Daten nicht erbracht, um das es doch gehen mußte. Umgekehrt war es ausgeschlossen, jeden einzelnen Text durchzusehen und individuell auszuwerten. Es mußte ein Mittelweg gefunden werden. Eben dafür war das von der Stiftung vorgesehene Pilotprojekt bestimmt. Anhand von Materialien aus der Breslauer Universitätsbibliothek wurde es durchgeführt und ein Schema erarbeitet, das beides zu leisten versprach, nämlich eine mittlere Tiefenerschließung und eine zügige Bearbeitung der Drucke. Knapp zwanzig Kategorien wurden ausgewiesen und gruppiert um vier Parameter. In einem ersten Block finden sich neben dem Titelincipit die buchkundlichen Daten, also – sofern vorhanden – Druckort und Drucker, Verlagsort und Verleger, Erscheinungsjahr, Format und Kollationsformel sowie ggf. Zusätze und Provenienzen. Dann folgen die anlaßbezogenen Daten, also der Anlaß selbst sowie das Datum und ggf. der Ort nebst anlaßstiftenden Adressaten, den angesprochenen Adressaten und sonstigen genannten Personen. Ein dritter Block gilt dem Verfasser bzw. der Verfassergemeinschaft, den weiteren Beiträgern und Komponisten, den Sprachständen und vorgefundenen Formbegriffen der Gedichte. Ein letzter Block ist Annotationen und Bemerkungen zum jeweiligen Exemplar vorbehalten. Alle Personen sind jeweils 261
mit einer für die insgesamt elf Register nutzbaren angesetzten und in der vorgefundenen Namensform notiert, zudem werden verwandtschaftliche Beziehungen zu den anlaßstiftenden Adressaten dokumentiert. Nur sukzessive und in ständigem Umgang mit dem Breslauer Material schälte sich dieses Datenmodell mitsamt seiner technischen Umsetzung heraus. Nach drei Jahren war die kleine Forschergruppe in der Lage, die Ergebnisse zu präsentieren. Die Stiftung hatte ein Einsehen, schließlich war durchgängig Neuland betreten worden. Und die verausgabte Zeit zahlte sich aus. Es bedurfte keiner nachträglichen Modifikationen. Vierzehn Jahre währte die Förderung von seiten der Stiftung ; acht Jahre von seiten des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur schlossen sich an. Am Ende der Förderungszeit lagen 31 großformatige Katalogbände nebst 2735 Fiches im Verlag OlmsWeidmann vor. Über 30.000 Titel waren bearbeitet. Die Bände selbst sind alle mit ausführlichen buch- und bibliotheksgeschichtlichen Einleitungen versehen, die vielfach über die im ›Handbuch der historischen Buchbestände in Europa‹ verfügbaren Informationen hinausgehen. Zusammen mit den Volltexten erlauben die beigebrachten erschließenden Daten erstmals eine Geschichte der deutschen Literatur im alten nordöstlichen deutschen Sprachraum, die diesen Namen verdient. Das Desiderat bleibt bestehen. Das ›Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven‹ – so der Titel – ist auf Fortschreibung hin angelegt. Sie bleibt zu erhoffen. Osnabrück hält Zehntausende weiterer verfilmter Titel aus den angeführten Bibliotheken des Ostens bereit.
Ein Frühneuzeit-Institut aus alteuropäischem Geist
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ls die Bewilligung des Projekts von seiten der VolkswagenStiftung in Osnabrück ankam, sprach sich die Kunde davon in Windeseile herum. Die Summe lag so weit jenseits des in den Geisteswissenschaften Üblichen, daß auch die lokale Presse da262
von Notiz nahm und auf der ersten Seite mit der Nachricht herausrückte. Die Folge waren besorgte Anrufe von geschätzten Kollegen, auch aus der Präsidentenetage, ob man denn angesichts von so viel Geld nachts noch schlafen könne. Nun, das waren einem immer wagemutigen Antragsteller fremde Gedanken. Im Gegenteil. Es hatte immer wieder an Geld gefehlt. Nun war es da, und alle Aufmerksamkeit mußte darauf gerichtet werden, Versprochenes auch in die Tat umzusetzen. Projekte dieser Größenordnung funktionieren nur, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter es sich zu eigen machen. Auch das in Rede stehende wäre nicht zustandegekommen, wenn nicht ein Mitglied aus dem Kreis während einer der ungezählten Sitzungen mit dem Schema der Metadaten und dem Layout für eine Datenbank hervorgetreten wäre, in der alles seinen sinnvollen Platz gefunden hatte, was da als wünschenswert deklariert worden war. Ein Blick genügte und dem Projektleiter war klar, daß jetzt des Rätsels Lösung vorlag. Wenn dann die am Projekt Beteiligten an die Arbeit gehen, sich darauf einlassen, eine Dreijahresfrist nach der anderen in Kauf zu nehmen und vertraglich zu besiegeln, dann kommt eines Tages der Zeitpunkt, da die Verantwortung für den ordnungsgemäßen Fortgang auf die jungen Menschen übergegangen ist. Dem Projektleiter wurde diese schöne Erfahrung zuteil. Inzwischen sind seit langem um ihn wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ohne weitere Karrieregelüste dem einmal gewählten Vorhaben die Treue bewahren und zu nicht mehr ersetzbaren Spezialisten herangewachsen sind. Sie sitzen nicht auf Dauerstellen, sind also ein Risiko eingegangen, stehen dazu und bekennen sich vorbehaltlos zu ihrem Tun in einem Feld, auf dem sie den Projektleiter lange an Know-how übertreffen. Gibt es Schöneres im wissenschaftlichen Treiben ? Die großzügige Förderung der Stiftung und anschließend des Ministeriums aber hatte einen weiteren überaus willkommenen Effekt. Nach acht Jahren endete gemäß Vorgabe des Niedersächsischen Hochschulgesetzes die Einrichtung der interdisziplinären Forschergruppe Frühe Neuzeit. Immer noch waren die Vorbehalte gegen die Gattung Institut nicht verstummt. Immerhin, 263
dank massiver Intervention des Präsidenten gelang eine Überführung der Forschergruppe in ein Institut. Das aber hatte sich in der Satzung ausdrücklich zur Einwerbung von Drittmitteln als einem der Gründe seiner Existenz bekannt. Dem Gründungsdirektor war es eine Selbstverständlichkeit, das Personalschrifttumsprojekt unter dem Dach des eben ins Leben tretenden Instituts anzusiedeln. Andere mochten hinzutreten, ein Anfang aber war gemacht. Und das Institut erfreute sich zumal auf der präsidialen Ebene eines guten Rufes, ja rückte zu einem der ›Leuchttürme‹ auf, wie es in den für die Öffentlichkeit bestimmten Verlautbarungen gerne hieß. Dazu aber gehörte mehr als erfolgreiche Drittmitteleinwerbung. Wie immer hing alles an dem Einfallsreichtum und dem Engagement der Mitglieder. Entsprechend ist es mehr als eine Ehrenpflicht, der Personen auch namentlich zu gedenken, die zeitversetzt und durch Zuund Abgänge in wechselnder Zusammensetzung die Arbeit des Instituts in den ersten zwölf Jahren prägten. Es sind dies in der Germanistik neben dem Gründungsdirektor selbst Wolfgang Adam, Walter Fähnders, Markus Fauser und Axel Walter, in der Anglistik Thomas Kullmann, in der Romanistik Andrea Grewe, Lothar Knapp, Anne Neuschäfer und Heinz Thoma, in der Altphilologie Christina Meckelnborg und Bernd Schneider, in der Sprachwissenschaft Hans-Joachim Solms, in der Geschichtswissenschaft Ronald G. Asch, Dagmar Freist, Manfred Rudersdorf, Anton Schindling und Martin Wrede, in der Kunstwissenschaft Jutta Held und Uta Schedler, in der Musikwissenschaft Stefan Hanheide, in der Theologie Friedhelm Jürgensmeier, Friedhelm Krüger und Hans Peterse sowie in der Rechtswissenschaft Wulf Eckart Voß. Als korrespondierende Mitglieder wirkten Joachim Dyck, Wilhelm Kühlmann, Norbert Schneider und – nach seiner Berufung nach Halle – Heinz Thoma. Die Forschergruppe, die sich da zusammengetan hatte, mußte über gediegene Veranstaltungen in Erscheinung treten. Das geschah auch, und wiederum ist rückblickend Dankbarkeit zu bekunden angesichts des Engagements aus dem Kreis der Mitglieder. Schon die interdisziplinäre Arbeitsgruppe hatte eine Ringvorle264
sung veranstaltet. Aus ihr ging eine Publikation hervor, zu der die Mehrzahl der Mitglieder ihren Beitrag beisteuerte. ›Zwischen Renaissance und Aufklärung. Beiträge der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frühe Neuzeit der Universität Osnabrück/Vechta‹ war sie betitelt und hatte Aufnahme gefunden in die BeiheftReihe des Frühneuzeit-Organs ›Daphnis‹, dem sie den Namen ›Chloe‹ verdankte, das antike Hirtenpaar derart in die Gegenwart versetzend. Der gesamte Zeitraum der Frühen Neuzeit war abgesteckt, wie es dem expliziten Programm der Osnabrücker entsprach. Nun also war das Institut am Zuge. Große Themen waren auf den Kongressen in Osnabrück, Paris und Wolfenbüttel bereits verhandelt worden. Eine junge Reformuniversität und ein in ihr beheimatetes Institut tun gut daran, sich der Grundlagen frühneuzeitlicher Arbeit nicht zuletzt über die Wissenschaftsgeschichte zu versichern. Allen Vertretern im Institut standen Personen vor Augen, die Herausragendes auf ihrem Gebiet geleistet hatten. Für ein interdisziplinäres Institut aber ziemte es sich, nach jenen Gestalten Ausschau zu halten, die über die Fachgrenzen hinweg gewirkt hatten. Aby Warburg und Edgar Wind, Alfred von Martin und Arnold Hauser, Johan Huizinga und Norbert Elias, Antonio Gramsci und Raymond Williams, Umberto Eco und Michel Foucault gehörten mit Gewißheit zu ihnen. Entsprechend galt es, neben Mitgliedern aus dem Institut Fachleute von auswärts zu gewinnen. Und wenn sich dann Martin Warnke und Norbert Schneider, Hans-Gert Roloff und Monika Walter, Frank-Rutger Hausmann und Ulrich Schulz-Buschhaus, Notker Hammerstein und Wolfgang Neuber, Richard Faber und Jost Hermand, Peter Uwe Hohendahl und Jan-Dirk Müller, Martin Dinges und Wilhelm Voßkamp, Lothar Knapp und Wolfgang Karrer, Michael Nerlich und Hans Ulrich Gumbrecht an dem Vorhaben beteiligten, so war klar, daß eine derartige Retrospektive den Blick nach Osnabrück lenkte. Als ›Kulturwissenschaftler‹ waren die knapp zwanzig Personen nominiert worden, um deren Präsentation es ging. Daß zur Rehabilitation gerade dieses ›Fachs‹ auch die Erinnerung an ihre großen Förderer in der ersten Hälfte 265
des 20. Jahrhunderts gehörte, war die Prämisse, unter der die Veranstaltung abgehalten und der Ertrag der Öffentlichkeit unter dem Titel ›Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit‹ übergeben wurde. Eine thematisch darauf abgestimmte verwandte Reihe wurde von der Kunsthistorikerin Jutta Held in die Hand genommen, die sich besondere Verdienste um das intellektuelle Profil des Instituts erworben hat, wie sogleich des näheren zu zeigen. Nun ging es nicht um wissenschaftliche Leitfiguren im 20. Jahrhundert, sondern um die von ›Intellektuellen‹ in der Frühen Neuzeit angestoßenen Diskurse. Bewußt also wurde der Begriff des ›Gelehrten‹ vermieden und der weitere des ›Intellektuellen‹ gewählt, dessen ungewöhnliche frühneuzeitliche Physiognomie über ungewöhnliche und eher randständige von ihnen bearbeitete Wissensfelder nachgezeichnet wurde. Ob die Formation frühneuzeitlicher Intellektualität oder die Astronomie im Flugblatt, ob die Concordia-Debatte im Umkreis der Mainzer Ireniker zwischen 1644 und 1664 oder das Wirken der Bamboccianti in Rom, ob das Aufkommen der ›libertinage érudit‹ um Gabriel Naudé oder die Freiheitsphilosophie und Geschlechterdifferenz im Kreis um Gabrielle Suchon – ein eher seltener Zugang, wie für eine Ringvorlesung erwünscht, zog ein breites Publikum an und trug dazu bei, der frühneuzeitlichen Sozietät Statur zu verleihen. ›Intellektuelle in der Frühen Neuzeit‹ ist der Titel der Dokumentation, die Jutta Held 2002 herausgab. Den Rahmen der Veranstaltungen aber bot ein Graduiertenkolleg zum Thema ›Bildung in der Frühen Neuzeit‹, welches das Institut bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft hatte einwerben können. Mehrere Anläufe waren vonnöten. Über Formen bürgerlich-gelehrter kultureller Praxis in den Städten sollte es ursprünglich gehen, doch entsprechende Versuche scheiterten. Dann meldete sich der Historiker Anton Schindling zu einem privaten Besuch bei den Garbers. Genau verfolgt hätte er die Bemühungen um ein Kolleg, wie es für das Institut so willkommen sei. Wäre es nicht sinnvoller, so seine Frage, einen offeneren thematischen Zuschnitt zu wählen, um die Beteiligung möglichst 266
vieler im Institut vertretener Disziplinen sicherzustellen ? Und dann rückte Schindling mit dem obigen Thema heraus. Nun war der Bann gebrochen, und über einen Zeitraum von sechs Jahren wurde ein lebhaftes Gespräch mit den jungen Doktorandinnen und Doktoranden geführt. Das Institut hatte einen Kristallisationspunkt erhalten. Doch wird die Episode auch aus einem anderen Grund berührt. Niemand hat sich so intensiv für die Gründung des Frühneuzeit-Instituts eingesetzt wie der Historiker Anton Schindling. Bei jeder der Sitzungen im Präsidium war er dabei, und als er später ging, fehlte dem Schreiber dieser Zeilen über lange Zeit der verehrte Kollege am Sitzungstisch zur Linken oder zur Rechten. Man wußte in der Präsidentenetage um das Gespann. Und so war es ein schwerer Schlag für das Fach wie das Institut, als ein Abschied von Osnabrück unvermeidlich wurde. Volker Press war allzufrüh verstorben. Schindling war ihm tief verbunden. So bat er um Verständnis, daß er den an ihn ergangenen Ruf nach Tübingen annehmen würde. Es darf bezeugt werden, daß ihm dieser Schritt schwerfiel und später immer wieder zu hören war, eine so ideale Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern wie in Osnabrück sei nicht wiedergekehrt. Wir hatten ungetrübte und reiche Jahre im jungen Osnabrücker Institut erlebt. Anton Schindling hat sich um die so ungewöhnliche Schöpfung auf dem akademischen Osnabrücker Parkett verdient gemacht. Und ein Letztes. Das Ministerium für Wissenschaft und Kultur und die Wissenschaftliche Kommission des Landes Niedersachsen, die von Christiane Ebel-Gabriel geleitet wurde, begleiteten im Zusammenwirken mit der VolkswagenStiftung unter Generalsekretär Wilhelm Krull und dem Osnabrücker Präsidium unter Rainer Künzel die Aktivitäten voller Wohlwollen und mit erheblichem Engagement. Früh schon tauchte die Idee auf, daß es wünschenswert sei, neben den hervorragenden Bibliotheken im Land mit einzigartigen Beständen zur Frühen Neuzeit auch universitär die Frühneuzeit-Studien zu verankern. Nun hatte sich in Osnabrück die Chance aufgetan. Selbstverständlich konnte 267
nicht Einfluß genommen werden auf die thematische Konzeption. Doch als das Institut endlich gegründet war, schalteten sich Ministerium und Wissenschaftliche Kommission bei der Besetzung des Beirats ein. Und da waltete im Einklang mit Osnabrück eine überaus glückliche Hand. Wieder galt es, Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen zu gewinnen. Und das gelang. Vier Fachvertreter kamen während der genau zwölfjährigen Dienstzeit des Gründungsdirektors zum Zuge. Ihre Namen auch an dieser Stelle aufzurufen, verbindet sich neuerlich mit einem bleibenden Dank. Das Institut hat ungemein von dem Wirken des Beirats profitiert, wenigstens jedes zweite Jahr weilte er in Osnabrück und wurde stets ebenso freudig wie erwartungsvoll begrüßt. Es waren dies : Thomas Kaufmann, Hartmut Laufhütte, Jan-Dirk Müller und Georg Schmidt. Die Voten aber, die stets zu Protokoll gegeben wurden, waren nicht nur eine Hilfe für das Institut, sondern fanden vor allem in Präsidium und Ministerium aufmerksame Leser. Als unversehens zu Anfang des neuen Jahrzehnts erhebliche Mittel vom Land für das Institut eingeworben werden konnten, hatte nicht zuletzt das Agieren des Beirats Wirkung gezeitigt.
350 Jahre Westfälischer Friede
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s gehörte zum Selbstverständnis des Instituts, wo immer möglich die Öffentlichkeit zu suchen. Das Präsidium, gelegentlich aber auch die Stadt erwarteten dies zudem. Eine Gelegenheit dazu, wie sie nur einmal kommen konnte, ergab sich im Jahr 1998. Da war das Institut lange arbeitsfähig und mit langen Anlaufzeiten im konkreten Fall mußte von vornherein gerechnet werden. Das Institut war ja nicht allein unterwegs. Die Stadt intervenierte energisch und machte ihre Ansprüche geltend. Und der Brückenschlag nach Münster war zu bewerkstelligen, schließlich liefen auch dort die Planungen auf Hochtouren. Es gehörte zu den Merkwürdigkeiten, die einen aufmerksamen Beobachter immer wieder beschäftigen mochten, daß eine enge Kooperation 268
zwischen den beiden westfälischen Universitäten nicht eigentlich zustandegekommen war, auch nicht auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit. Nun war Kooperation eine bare Selbstverständlichkeit, ging es doch um ein Ereignis, in das beide Städte gleich nachhaltig involviert waren. Das Jubiläum ›350 Jahre Westfälischer Frieden‹ galt es festlich zu begehen. Dazu wurde von dem für die Epoche zuständigen Institut ein wegweisender Beitrag erwartet. Das aber konnte nur heißen, wiederum einen großen internationalen Kongreß auszurichten. Benjamin mochte in Osnabrück eine Zufallsexistenz geführt haben, die historischen Bilder jedoch im Rathaus der Stadt Osnabrück mit den Porträts der Gesandten anläßlich des Friedensschlusses demonstrierten zur Genüge, daß die westfälische Metropole für eine bemessene Frist im Mittelpunkt der europäischen Politik gestanden hatte. Entsprechend boten Bürgermeister, Rat und Teile der Bürgerschaft alles auf, um ein sichtbares Zeichen zu setzen. Das Institut nahm den Ball auf, und wie die Dinge sich entwickelten, lag die Vorreiterrolle alsbald bei ihm. Nun kam der Universität, auf die zuweilen immer noch mit scheelen Augen geblickt wurde, in vollem Umfang zustatten, daß sie eine Einrichtung beherbergte, in der Interdisziplinarität groß geschrieben wurde. Fachvertreter von gut einem Dutzend Disziplinen waren präsent, und alle wußten, daß es diesmal ums Ganze ging. Gewiß, zahllose auswärtige Sachkenner waren einzuladen, die vorbereitende geistige und strukturelle Arbeit mußte jedoch im Institut geleistet werden. Es hat keine Zeit gegeben, in der so intensiv diskutiert, zugleich aber auch gerungen wurde, um eine optimale Lösung herbeizuführen. Der Leiter der Institution zeichnete sich neuerlich dadurch aus, in dem endlosen Gewoge der Erwägungen den Schlußpunkt nicht zu finden. Wiederum bedurfte es eines couragierten Eingriffs, um das hin und her driftende Schiff auf klaren Kurs zu bringen. Die Situation steht auch zwanzig Jahre später prägnant vor Augen. Man kam neuerlich zu einer abendlichen Sitzung zusammen, und es wäre mit Gewißheit wie schon viele Male vorher fortgegangen, wenn nicht sogleich eine Wortmeldung erfolgt wäre. Jutta 269
Held, die verehrte Kunsthistorikerin, gab mit der ihr eigenen leisen Stimme zu erkennen, daß nun womöglich doch der Zeitpunkt gekommen sei, die Debatten zu beenden und zu einer klaren Gliederung der liquiden Materie zu kommen. Das mochte einen Moment lang als Aufforderung an die versammelte Runde verstanden werden, endlich in dieser Richtung tätig zu werden. Doch nein, die Kollegin legte selbst einen Vorschlag für die thematische Organisation und den Ablauf der Tagung fest. Und wieder war sogleich klar : genau das war es, woraufhin gedacht und argumentiert worden war, was nun aber eine verbindliche Façon gefunden hatte ; jetzt durfte man es wagen, an die Öffentlichkeit zu treten. Ein Institut lebt von der Verschiedenheit der Talente ; in actu war dieser Vorzug neuerlich unter Beweis gestellt worden. Wie nahm sich das Bild aus ? Drei große thematische Blöcke waren von Jutta Held gebildet worden, sie alle vielfältig binnendifferenziert. Sie lauteten : Krieg und Frieden im Horizont der Religionen, Krieg und Frieden und die Ordnung der Geschlechter, Krieg und Frieden im Spannungsfeld von Kultur und Natur. Ersichtlich ist daraus, daß die Mitglieder des Instituts sich frühzeitig darauf verständigt hatten, die Friedensidee in all ihren Ausprägungen im Kontext der Gegenseite zu betrachten. Eine nähere Spezifizierung der im weitesten Sinn geschichtlichen Grundlegung war den Historikern vorbehalten worden. Sie gliederten den Stoff in zwei große Blöcke, der Staatenordnung Europas sowie den Grenzen der europäischen Staatenordnung und der außereuropäischen Welt gewidmet, auch sie gleichfalls vielfältig binnendifferenziert. Tatsächlich gelang es, alle im Institut vertretenen Disziplinen an der näheren Ausgestaltung und damit der Bildung und Leitung von Sektionen zu beteiligen. Zu keinem Zeitpunkt war das Institut derart agil und inspiriert gewesen, und zuweilen mochte sich eine Ahnung regen, daß ein Kulminationspunkt erreicht sein könnte. In zwei mächtigen Bänden wurde drei Jahre später das publizistische Fazit unter dem Titel ›Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision‹ gezogen. Knapp hundert Beiträge konnten präsentiert werden ; die Reihe der großen Namen ist schlechterdings überwältigend. Die Hoffnung indes, den Faden fortspin270
nen zu können, erfüllte sich nicht. Wie nahe hätte es gelegen, die beiden Friedensstädte, die sich doch so gerne als solche titulierten, über eine potente Institution zusammenzubringen und zumal – historisch wohlfundiert – Einfluß zu nehmen auf die wahrlich nur allzu aktuellen Fragen und Probleme in der Gegenwart. Nicht vergessen ist das Plädoyer des seinerzeitigen hochverdienten Osnabrücker Oberbürgermeisters Hans-Jürgen Fip, genau in dieser Richtung gemeinsam tätig zu werden. Dem Schreiber dieser Zeilen entzieht sich eine nähere Kenntnis, warum es bei der schönen Idee blieb. Das Institut aber hatte eine Herausforderung bestanden und blickte wohlgemut in die Zukunft.
25 Jahre Universität Osnabrück
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in Jahr später beging die Universität Osnabrück ihr 25jähriges Jubiläum. Für eine durchgeschriebene Geschichte war es zu früh. Ein genauer Beobachter der Szene, der in der ›Neuen Osnabrücker Zeitung‹ immer wieder berichtet hatte, wagte im Alleingang einen Wurf. Der Titel seines Buches war nur allzu treffend. ›Turbulente Zeiten‹ nannte Wendelin Zimmer sein Werk. Der rührige Journalist, der schließlich die Ehre der Universität rettete, war sichtlich bemüht, mögliche Erwartungen herabzustimmen. ›Ein Lesebuch zur Geschichte der Universität Osnabrück‹ war da im Untertitel zu lesen. In der Tat kam viel Chronikalisches zur Sprache. Aufspießen der in der Tat vielfach sehr unschönen ›Turbulenzen‹ und Würdigung der Leistungen hielten sich in etwa ein der Sache präzise entsprechendes Gleichgewicht. Ein Verzeichnis der Mitglieder beschließt die immerhin auf über zweihundert Seiten angeschwollene und der Universität zugedachte Gabe. Wie viele mögen es sein, die sich der Mehrheit des Kreises der Personen noch erinnern, die den schwierigen Aufbau bewerkstelligten ? Der Präsident, der das Werk mit einem Vorwort eröffnete, hatte seinerseits eine Initiative ergriffen. Eine Festwoche wurde anberaumt und auf die denkbar schönste Weise begangen. Ein akademischer Festakt eröffnete die ganz im Zeichen der Wissen271
schaft stehenden Tage. Und da wurde dann doch deutlich, welchen Nimbus die Universität inzwischen errungen hatte. Der Präsident hatte gleich vier Personen für persönliche Grußworte gewinnen können. Der Oberbürgermeister der Stadt Hans-Jürgen Fip, der Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz Klaus Landfried, der Niedersächsische Minister für Wissenschaft und Kultur Thomas Oppermann und der Vorsitzende der Universitätsgesellschaft Hans-Wolf Sievert kamen zu Wort. Zugleich wurde die Gelegenheit von dem Präsidenten genutzt, drei Persönlichkeiten aus der Region, die sich um die Hochschule verdient gemacht hatten, zu Ehrensenatoren zu ernennen. Den Festvortrag selbst hielt der Präsident der Humboldt-Universität Hans Meyer. ›Universität und Gesellschaft – wer bewegt wen ?‹ lautete sein Thema. Sodann war ein Forum der Wissenschaft gebildet worden. Vier Vorträge aus verschiedenen Disziplinen sollten im Verlauf der Woche jeweils am Abend zu Gehör gebracht werden. Der Biophysiker Wolfgang Junge, langjähriger Sprecher eines Sonderforschungsbereichs, sprach über ›Licht und Leben : Kraftwerke der Zelle‹, der Gründungsdirektor des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien Klaus Bade handelte über das Thema ›Homo Migrans : Deutschland und die Einwanderer‹, der Direktor des Instituts für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Christian von Bar über ›Besonderheiten des deutschen Schadenersatzrechts – ein Störfaktor in der Angleichung des europäischen Privatrechts ?‹ und der Verfasser über den ›Weg der Deutschen im Spiegel ihrer Literatur und Bildung – ein Beitrag zum Problem politischer Kultur in Deutschland‹. Alle Vorträge erfreuten sich einer interessierten Hörerschaft. Doch konnte nur ein kleiner Ausschnitt des wissenschaftlichen Lebens an der Universität in dieser Form dargeboten werden. Und so wurde der Präsident im Jubiläumsjahr ein weiteres Mal tätig. Zusammen mit dem Hochschullehrer für Öffentliches Recht Jörn Ipsen, der Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Leiterin der ›Europäischen Studien‹ Chryssoula Kambas sowie dem Vizepräsidenten und Mathematiker Heinz W. Trapp regte er eine Vorlesungsreihe ›Profile der Wissenschaft – 25 Jahre Univer272
sität Osnabrück‹ an. Nun traten Vertreter aus den Geisteswissenschaften, den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften sowie den Naturwissenschaften mit insgesamt 28 Beiträgen vor die Öffentlichkeit, die alle auf ein größeres Publikum abgestimmt waren. Es war, sofern recht erinnerlich, das einzige Mal, daß vor einem weiteren Publikum über die ›Frühe Neuzeit an einer Neugründung‹ gesprochen werden durfte. Und da traf es sich überaus günstig, daß soeben ein Band herausgekommen war, der den Titel führte : ›Ursprünge der Moderne. Das Interdisziplinäre Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit stellt sich vor‹. Ute Széll, die sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin große Verdienste um das Institut erwarb, und der Verfasser firmierten als Herausgeber. Den Anlaß der Publikation hatte der Bezug eines eigenen Hauses gebildet, mit dem die Gründung des Instituts im nachhinein in Anwesenheit von Ministerin Helga Schuchardt feierlich besiegelt wurde. Die Festvorträge hielten Carlo Ginzburg zum Thema ›Die Venus von Giorgione‹ und Rudolf Vierhaus zum Thema ›Dimensionen einer Historischen Kulturwissenschaft‹. Und als dann wenig später die in der Forschungsstelle ›Literatur der Frühen Neuzeit‹ arbeitenden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einem Büchlein hervortraten, das den schönen Titel ›Göttin Gelegenheit‹ trug, in dem das von der VolkswagenStiftung geförderte Personalschrifttumsprojekt in Theorie und Praxis präsentiert wurde, da durften – erfüllt von Zuversicht – das Institut und die Forschungsstelle wohlgerüstet in das neue Jahrtausend hineinschreiten.
Auf dem Weg in das neue Jahrtausend
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m Jahr 2001 waren die ersten beiden Bände des ›Handbuchs des personalen Gelegenheitsschrifttums‹ nebst MikroficheEdition erschienen. In und mit Breslau war das Projekt in die Entwicklungs- und Erprobungsphase gegangen ; so lag auch die publizistische Eröffnung mit den Beständen eben dieser Bibliothek auf der Hand. Aber was besagte in diesem Zusammenhang 273
der schlichte Begriff ›Bestände‹ ? Er suggerierte Homogenität und womöglich organisches Wachstum. Das Gegenteil war der Fall. Gewiß, die Stadtbibliothek bildete auch das Herz der nach dem Krieg von den Polen neuaufgebauten Bibliothek der Universität, die ihren Platz in schöner Beobachtung von Tradition in dem Gebäude der einstigen Universitätsbibliothek aus deutscher Zeit gefunden hatte ; das zerstörte Augustinerstift Auf dem Sande war mustergültig für diese Zwecke restauriert worden. Zahlreiche andere Bibliotheken oder zumindest doch Teile von ihnen zumal aus dem schlesischen Raum waren gleichfalls in die Nachkriegsschöpfung inkorporiert worden. Das aber stets so, daß die Provenienzen, wo immer möglich, erkennbar blieben. Restauration unter Beobachtung von Tradition hießen die Zauber- und Schlüsselworte, unter denen die polnischen Rekonstrukteure in Europa Schule machen sollten. Die erste Aufgabe also bestand darin, die innere Struktur der Altbestände nachzuvollziehen. Dafür stand in Breslau der erste Sachkenner Adam Skura bereit. Von vornherein war klar, daß die Präsentation der Gelegenheitsgedichte, um die es ja ging, ihrerseits nach Provenienzen getrennt erfolgen mußte. Also galt es, vor Ort eine Bestandseinheit nach der anderen auf einschlägiges Material hin durchzusehen, die ermittelten Titel des näheren zu inspizieren und dann in Filmauftrag zu geben. Der Projektleiter hatte das Glück, für diese Aufgabe in Ewa Pietrzak, einer Schülerin von Marian Szyrocki, und dem Altphilologen Armin Grundke kenntnisreiche und engagierte Personen zu finden. Über Jahre haben sie sich in der Altdruckabteilung der Grundlegung des Breslauer Projektsegments gewidmet. Für die verehrte polnische Kollegin knüpfte sich daran das Vorhaben, eine Kulturgeschichte über Liegnitz und Brieg in der Frühen Neuzeit zu schreiben ; für den Liebhaber fremder Sprachen der Erwerb der polnischen Sprache und der Zugewinn einer zweiten Heimat. Lange bevor die Welle der Digitalisierungen einsetzte, verfügte Osnabrück über ein gewaltiges filmisches Arsenal von Casualia aus Breslau. Nun kam es darauf an, die Abfolge ihrer Beschreibung und Herausgabe festzulegen. Für den Kenner der 274
Bibliothekshistorie konnte es zu keinem Moment einen Zweifel geben, wie zu verfahren sei. Der alten Stadtbibliothek gebührte die Priorität, und innerhalb ihrer derjenigen Sammlung, welche ihr den Namen nach ihrer formellen Gründung gegeben hatte : der Rhedigerschen. Sie hatte in der Elisabethkirche ihren Platz gehabt, galt vor allem aufgrund ihrer Handschriften als das Herzstück bibliothekarischer Kultur im alten Breslau und rückte nun über ihr reichhaltiges personenbezogenes Schrifttum in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Ausgestattet mit einer fast hundertseitigen Einleitung, in welcher über die näheren Modalitäten der ›Biblioteka Uniwersytecka‹ und die ihr zugefallenen Bestände berichtet wurde, gingen die ersten beiden Bände an die Öffentlichkeit. Der Name des Instituts fehlte auf der Titelseite ebensowenig wie derjenige der Forschungsstelle zur Literatur der Frühen Neuzeit. In ihr hatten vor allem die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine institutionelle Bleibe. Stefan Anders und Sabine Beckmann fungierten – zusammen mit Martin Klöker – als Herausgeber. Sie hatten mit einem Team von studentischen Hilfskräften die Erschließung der fast 2000 Titel in Osnabrück geleistet und zeichneten auch weiterhin für die Datenerfassung verantwortlich. Das über Jahre entwickelte Modell hatte sich bewährt, die lange Vorarbeit sich ausgezahlt ; es bedurfte keiner Modifikationen. Doch es handelte sich eben auch nur um einen ersten Auftakt. Die Präsentation der Bestände aus der Bibliothek zu St. Maria Magdalena und zu St. Bernhardin schloß sich an, auch sie aus der alten Stadtbibliothek herrührend. Sodann waren aus Liegnitz und Brieg versprengte Stücke nach dem Krieg in die Universitätsbibliothek gekommen. Auf sie wartete die Fachwelt naturgemäß besonders. Auch sie konnten, verbunden mit vielfach erstmaligen näheren Informationen, wie sie der Einleitung vorbehalten blieben, in Katalog und Edition zugänglich gemacht werden. Auf die Dokumentation weiterer Breslauer Casualia mußte zunächst verzichtet werden, um ein regionales Gleichgewicht im Blick auf den alten deutschen Sprachraum zu wahren. Das aber bedeutete in knappe Worte gefaßt das Folgende : 275
Neben Schlesien war für Westpreußen Sorge zu tragen. Drei Städte kamen dafür in bibliothekarischer Optik vor allem in Betracht : Thorn, Elbing und Danzig. In Thorn konnte zunächst nur die in der dortigen Wojewodschaftsbibliothek verwahrte Sammlung des Gymnasiums dokumentiert werden, welcher Aufgabe sich Sabine Beckmann annahm ; die Universitätsbibliothek, die gleichfalls besucht und in ihren einschlägigen Beständen verfilmt worden war, blieb fürs erste außen vor. Elbing existierte bei Beginn des Projekts bibliothekarisch nicht. Die Bücher waren, wie erwähnt, zumeist nach Thorn gekommen und wurden erst zu später Stunde in die schwer zerstörte Stadt zurückgeführt – nicht zu spät jedoch für unser Vorhaben, das Elbing erstmals wieder als regulären Stammplatz unschätzbarerer Titel auch auf dem Gebiet des Kleinschrifttums ausweisen konnte. Fridrun Freise kommt das Verdienst zu, sich dieser delikaten Aufgabe bravourös unterzogen und auch die Bearbeitung der Drucke selbst vorgenommen zu haben. Das reiche Danziger Schrifttum wurde von Stefania Sychta und dem Verfasser ausgehoben und schließlich in einer vierbändigen Publikation präsentiert. Der Weg nach Ostpreußen mußte über Königsberg führen. Auch hier konnte nur ein erster Zugang eröffnet werden. Die in Königsberg verbliebenen bzw. nach Königsberg in die dortige Universitätsbibliothek zurückgekommenen Casualia wurden von Axel Walter herausgesucht und – versehen wiederum mit großer Einleitung – in Katalog und Volltext aus dem einstigen Niemandsland ans Tageslicht befördert. Königsberg in größtmöglicher Vollständigkeit den Kulturwissenschaften auch über das Kasualschrifttum zurückzugewinnen bedeutete, die von der Osnabrücker Forschergruppe vornehmlich in Warschau und Thorn sowie in Vilnius und St. Petersburg entdeckten Schätze gleichfalls dem Projekt zuzuführen. Das ist hinsichtlich der Verfilmung des Materials weitgehend geschehen ; die Bearbeitung bleibt einer hoffentlich nahen Zukunft anheimgestellt. Von den preußischen Landen war der Schritt in die baltischen zu tun. Dieser reizvollen Aufgabe unterzog sich Martin Klöker. Tatsächlich gelang es ihm, mit seinem Team die einschlägigen 276
Quellen in Bibliotheken, Archiven und Museen Rigas, Tallinns und Tartus auszuheben und gewiß nicht nur der Baltistik zurückzugewinnen. In sechs Bänden liegt das Projektsegment geschlossen vor, begleitet von der bahnbrechenden Dissertation Klökers über das literarische Leben im Reval der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Bearbeitung des von Axel Walter ermittelten Materials aus Vilnius steht aus und kann sich hoffentlich alsbald anschließen. Verblieb Pommern, infolge des Krieges geteilt nicht anders als Ostpreußen und daher der Kulturwissenschaft zu besonderer Obhut überantwortet. In Greifswald war noch vor dem Krieg eine erste Erschließung der einzigartigen Kollektion der ›Vitae Pomeranorum‹ besorgt worden. An sie kann angeknüpft werden, was geschehen soll. Die eigentliche Erkundungsarbeit war in Stettin zu leisten. Ihr unterzog sich nach vorherigen wiederholten Besuchen des Projektleiters, der an allen Orten zunächst selbstverständlich dabei war, Sabine Beckmann. Ihr ist es zu verdanken, wenn ein erster Kreis im Projekt geschlossen werden konnte. In fünf Bänden dokumentierte sie die in Stettin sich darbietende literarische Szene über das Kasualschrifttum ; ihre große Einleitung zu dem Werk wurde der Universität Osnabrück als Dissertation vorgelegt und, auch das darf gesagt werden, mit summa cum laude bewertet. Ein zentraler Baustein im Projekt hatte auch einen persönlichen Erfolg gezeitigt. Die Kernmannschaft, wenn so gesprochen werden darf, also das kleine Team der Spezialisten in Gestalt von wissenschaftlichen Mitarbeitern, hält sich dankenswerterweise für eine Fortsetzung des Projekts bereit.
Auf Wiedervorlage : Sigmund von Birken
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icht ausgeschlossen, daß es wissenschaftliche Werdegänge im Zeichen von mehr oder weniger strikt beobachteter Kontinuität gibt. Dann stellen sich von Zeit zu Zeit wiederkehrende Konstellationen ein. So auch im Blick auf ein weiteres Herzens 277
projekt. Gleich nach Dienstantritt im Jahre 1975 war ein großspuriger Antrag an die DFG herausgegangen, Eine Ausgabe der Werke Sigmund von Birkens sollte erarbeitet werden. Der Antragsteller wurde auf Schloß Reisensburg in Schwaben gebeten, wo die illustre Germanistische Kommission der DFG tagte. Das Projekt wurde vorgestellt. Albrecht Schöne erhob sich und warb leidenschaftlich um Zustimmung. Doch die Kommission wollte es mehrheitlich anders, und an Hans-Joachim Mähl als Vorsitzendem war es, dem Antragsteller in noblen Worten die Entscheidung zu übermitteln. Eben im Amt, sollten zunächst die Aufgaben an der jungen, im Aufbau befindlichen Universität tatkräftig mit angepackt werden. Nicht vergessen war die Niederlage in Sachen Sigmund von Birken. Doch war das natürlich nicht der Grund, zu gegebener Zeit auf das schöne Vorhaben zurückzukommen. An seiner Dringlichkeit hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten nichts geändert. Aber waren die Voraussetzungen andere geworden ? Im Zeichen der sich allenthalben auch in der Drittmittelförderung bemerkbar machenden Digitalisierung mochte man das Gegenteil wähnen. Ein neuerlicher Versuch jedoch mußte unternommen werden, nachdem das Großprojekt der VolkswagenStiftung aus den Kinderschuhen heraus war. Denn wo gab es das noch einmal im langen 17. Jahrhundert, daß gleich beides verfügbar war : ein schier unerschöpflicher handschriftlicher Nachlaß, von dem Dichter selbst gehütet und gepflegt, und ein nicht minder breitgefächertes gedrucktes Werk. Im 18. Jahrhundert mochte diese Situation gleich mehrfach anzutreffen sein, und die Forschung reagierte darauf seit dem 19. Jahrhundert. Das 17. Jahrhundert lag im Schatten, und als es daraus auftauchte, schienen andere Aufgaben dringlicher als die Edition eines Dichters, dem ohnehin nicht nur Lobeshymnen an der Wiege gesungen worden waren. Mit einem ehrgeizigen Aufsteiger wähnte man es immer wieder zu tun zu haben. Und was die poetische Produktion anging, so schien insbesondere die von dem Dichter bevorzugte Schäferpoesie dazu angetan, das Odium eines 278
öden und geschraubten Poeten zu verbreiten, von dem schon ein Goedeke gekündet hatte. Der Umschwung setzte bezeichnenderweise in den sechziger Jahren ein, und wir schätzen uns glücklich, dabeigewesen zu sein. Aber von der Rückgewinnung eines authentischen Bildes bis zur Wiedererweckung in Gestalt einer großen Edition war und ist es ein langer Weg. Er mußte überhaupt erst einmal vermessen werden, bevor es an die Arbeit gehen konnte. Dabei lagen die maßgeblichen Beweggründe auf der Hand. Wenn da ein Dichter des 17. Jahrhunderts über sein handschriftliches Archiv in seine Werkstatt blicken läßt, dann ist a priori eine singuläre Situation gegeben. Und wenn dann die Werkschicht im engeren Sinn umgeben ist von Tagebüchern, Briefen, persönlichen Aufzeichnungen, dann verspricht eine derartige Überlieferung Einblick in die mentale Disposition eines gelehrten Lebens im 17. Jahrhundert, für die ansonsten so gut wie keine Zeugnisse zur Verfügung stehen. Darüber hinaus aber blieb schließlich dem urphilologischen Geschäft nachzugehen und also dem Zusammenhang zwischen handschriftlichem Nachlaß und gedrucktem Werk nachzuspüren – allesamt schwierige aber vielversprechende Aufgaben. Neuerlich mußte der Antragsgriffel gespitzt werden. Keine Scheu durfte obwalten, wiederum Großdimensioniertes zu wagen. Das aber hieß, den handschriftlichen wie den gedruckten Fundus im Sinne des Gesagten als gleichberechtigte Größen zu behandeln, sie also sukzessive beide zum Gegenstand eines Projekts zu erheben. Daß dieses nur mit einem größeren Personenkreis zu bewerkstelligen sein würde, lag von vornherein auf der Hand. Vor allem die in Mannheim unter Dietrich Jöns und in Passau unter Hartmut Laufhütte betriebene Erschließung und Transkription des Nachlasses ließ die Hoffnung berechtigt erscheinen, im Verbund die Aufgabe bewerkstelligen zu können. Im Grunde war es neuerlich ein Langzeit-Akademievorhaben, das da anvisiert wurde. Und insofern blieb die bei der DFG obwaltende Zurückhaltung in gewisser Weise verständlich. Es mußte, so der Bescheid nach Begutachtung des Antrags, entschieden zurückgefahren werden. 279
Immerhin, ein Anfang war gemacht. Die Zukunft mochte über den weiteren Fortgang belehren. Eben waren die ersten Bände der Gelegenheitsschriften erschienen, da setzte die Arbeit an der Birken-Ausgabe ein. Zunächst auf Osnabrück und Passau verteilt, trat alsbald Hamburg mit Johann Anselm Steiger hinzu. In dieser Formation vollzog sich die Arbeit schließlich tatsächlich über nahezu zwanzig Jahre und kommt soeben erst in den seinerzeit vorgegebenen Margen zum Abschluß. Gewiß hatte die DFG maßgeblichen Anteil daran. Genauso entschieden ist jedoch des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur zu gedenken. Es hatte sich bereits die Fortführung des Kasualschrifttumsprojekts für eine Weile zu eigen gemacht, als dieses bei der VolkswagenStiftung ausgelaufen war. Und nachdem auch die ministeriellen Gelder verausgabt waren, sprang abschließend die Thyssen-Stiftung ein und ermöglichte es, das Projekt zu Ende zu führen. Für ein derartiges Procedere ist stets zweierlei vonnöten. Es müssen Anträge geschrieben werden, denen Überzeugungskraft innewohnt. Und es müssen Förderinstitutionen vorhanden sein, die sich über Fachpersonal und Beiräte darauf verständigen können, daß eine Investition auch in schwieriger Situation sich tatsächlich lohnt. In großer Dankbarkeit ist der erfahrenen Förderung rückblickend im einen wie im anderen Fall zu gedenken. Für Osnabrück aber, auf das hier allein zu blicken ist, stellte sich ein doppelter Effekt ein. In vielen Schriftsätzen war auf die Bedeutung von Grundlagenforschung für das Fach rekurriert worden. Bibliographische und editorische Arbeit standen dabei im Mittelpunkt. Nun konkretisierte sich die Forderung in zwei auf eben diesen beiden Sektoren angesiedelten Projekten. Gewiß, sie waren an einen Lehrstuhl gebunden. Doch sie blieben im einen Fall explizit und im anderen ohne nominellen Ausweis zugleich an das junge Institut gebunden. Es bewies wie auf anderen von dem Kollegenkreis bearbeiteten Forschungsfeldern, daß es richtig gewesen war, an der jungen Universität und im reichen bibliothekarischen Umfeld Niedersachsens, der Frühen Neuzeit die Möglichkeit zur akademischen Entfaltung geboten zu haben. 280
Durfte mehr erwartet werden als das, was tatsächlich geschah ? Die Frage zu beantworten, ist nicht an uns.
Der alte deutsche Sprachraum des Ostens
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ie Grundlagenforschung behauptete Priorität. Stets gehörte es jedoch zur schriftstellerischen Philosophie, auf Auswertung und damit auf historische Linienführung und Darstellung bedacht zu sein. Der Prospekt einer Geschichte der Literatur im alten deutschen Sprachraum des Ostens stand verlockend vor Augen. Hier ist nicht der Ort, über bereits unternommene Schritte zu berichten. Daher nur das Folgende. Es ließ sich nicht hindern, sondern war im Gegenteil zwingend von der Sache her geboten, mit Prag und also mit Böhmen den Anfang zu machen. Das hatte niemand überzeugender gezeigt als Konrad Burdach. Automatisch traten damit die italienisch-deutschen über Böhmen vermittelten Beziehungen des Frühhumanismus an den Anfang. Mit der Präsenz Petrarcas in Prag war zu beginnen, und damit von vornherein ein europäischer Akzent zu setzen. Denn von dem Herzen Mitteleuropas führten die pulsierenden literarischen und kulturellen Schlagadern gleichermaßen in den Südosten wie in den Nordosten. In der einen Richtung traten Mähren und Ungarn mit der heute in Rumänien liegenden Kernlandschaft Siebenbürgen in das Blickfeld, in der anderen Kleinpolen, Schlesien und Großpolen, von wo die Ströme weiterflossen bis hinauf zum mare balticum. Bis auf den Südosten waren diese Regionen alle quellenkundlich von dem Osnabrücker Team erkundet worden, und auch nach dorthin bestanden stabile Beziehungen. Das ehrgeizige Projekt war also keine Chimäre. Dennoch wurde ein anderer Weg beschritten. Noch einmal waren großangelegte Kongresse das Mittel der Wahl, nun explizit gleichermaßen regional begrenzt und kulturgeschichtlich ausgerichtet. Wieder wurde zu Anfang des neuen Jahrtausends begonnen, und soeben erst ist ein sinnvoller Abschluß erreicht. 281
Die Region, welche im ›Handbuch‹ an ein – vorläufiges – Ende gerückt ist, trat in der Kongreßsequenz an den Anfang. In Pommern war schon zu Zeiten der DDR eine lebhafte regionale Literaturgeschichtsschreibung betrieben worden. Horst Langer und sein Mitarbeiterkreis standen dafür ein. Vergleichsweise rasch nach der Wende kam tatsächlich denn auch von Greifswald der erste Anstoß, der sich sehr genau mit den Osnabrücker Überlegungen traf. Zusammen mit Wilhelm Kühlmann wurde 1992 von Horst Langer in der alten pommerschen Universitätsstadt ein Kongreß zu ›Pommern in der Frühen Neuzeit‹ abgehalten, dessen Akten – wie alle folgenden – in der Reihe ›Frühe Neuzeit‹ im Jahr 1994 erschienen. Ausdrücklich wurde auf die intensive landeskundliche Forschung in Pommern seit der Gründung der ›Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde‹ im Jahr 1824 verwiesen. Selbst in der DDR kamen die Arbeiten, freilich mit gänzlich anderer Zielsetzung, nicht zum Erliegen. Und nun wurde nach der Wiedervereinigung der Faden wieder aufgenommen. Eine Geschichte Pommerns als Teil einer vergleichenden deutschen Landesgeschichte hatte der Marburger Historiker Roderich Schmidt gleich 1991 gefordert. Der ein Jahr später abgehaltene Kongreß durfte sich durchaus als Beitrag auch dazu verstehen. Dann ging die Stafette über nach Osnabrück. Wieder machte die am stärksten versehrte Region des alten deutschen Ostens mit ihrer Hauptstadt als erste gebieterisch ihre Rechte geltend. Es war dies Ostpreußen mit seinem kulturellen Zentrum Königsberg. Nun aber sollte ein besonderer Schritt gewagt werden, ja geradezu ein Paukenschlag ertönen. Wenn schon nicht am Ort des Geschehens selbst, so doch in seiner unmittelbaren Nähe sollte ein der Kulturgeschichte Ostpreußens gewidmeter Kongreß abgehalten werden. Als Tagungsort bot sich das alte vor den Toren Königsbergs gelegene Kurzentrum Rauschen an der Kurischen Nehrung an. Manfred Komorowski, Axel Walter und der Verfasser luden zu ihr ein. Die Tagung stand im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 450. Jahrestag der Gründung der Universität Königsberg. Für 282
viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die da aus Deutschland sowie aus Estland und Litauen, Polen und Rußland kamen, war es die erste Begegnung mit der einstigen Krönungsstadt und der ostpreußischen Landschaft. Sie prägte sich vermutlich nicht weniger ein als das in Rauschen Vorgetragene. Eine alte deutsche Kulturlandschaft wurde nach mehr als einem halben Jahrhundert erstmals wieder zugänglich, und die Künste und Wissenschaften, die da zur Sprache kamen, bildeten wie seit eh und je die Brücke, um die tiefste Kluft, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgetan hatte, diskursiv zu überwinden. Drei Jahre später erfolgte ein analoger Vorstoß. Nun galt es, das so vielgestaltige Preußen königlich polnischen Anteils kulturgeschichtlich zu vermessen. Und wieder war es fester Vorsatz, in der Region selbst zusammenzukommen. Die Ostseemetropole Danzig wurde gewählt, auch sie ja auf Bibliotheksreisen hin zur Stadtbibliothek wiederholt besucht. Wenn es dann aber tatsächlich möglich wurde, die nun vornehmlich aus Deutschland und Polen anreisenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer im altstädtischen traditionsreichen Danziger Rathaus zu versammeln, so war dies einem ungewöhnlichen Entgegenkommen der städtischen Verwaltung im Zusammenwirken mit der Bibliothek und der Kunstwissenschaft vor Ort zu danken. Wieder standen gewichtige geschichtliche Daten im Hintergrund. 1997 feierte die Danziger Stadtbibliothek ihr vierhundertjähriges Jubiläum, und die Stadt selbst beging ihre Gründung vor tausend Jahren. Im Dom zu Oliva war die Uraufführung eines Werkes von Elżbieta Sikora zu hören, und in Sopot am Strand der Danziger Bucht erholten sich die Disputanten des Abends. Auf eine denkwürdige Weise blieb der Kongreß eingebettet in eine deutsch-polnische Vergangenheit, die in der Frühen Neuzeit in Danzig, Elbing und Thorn so viele Schöpfungen gezeitigt hatte, die nun gemeinsam betrachtet und bedacht wurden. Sabine Beckmann und der Verfasser legten die Ergebnisse 2005 vor. Für die baltischen Lande blieb die Historische Kommission in Göttingen die erste Adresse. Sie feierte 1997 unter ihrem Vorsitzenden Gerd von Pistohlkors ihr fünfzigjähriges Beste283
hen. Sollte also auch die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit in diesem Kontext einen Platz finden, so lag es nahe, die vielen die Jahre über geknüpften Verbindungen zu aktivieren und wiederum ein reiches Bouquet zu flechten. Die Buch- und Bibliotheksgeschichte behauptete naturgemäß eine prominente Rolle. Gerade im Blick auf die baltischen Lande kam es darauf an, den grenzüberschreitenden Erfahrungen, wie sie sich nicht zuletzt in Sprache und Literatur flektierten, gehörigen Raum zu geben. Der Literaturgeschichte im engeren und der Gelehrtengeschichte im weiteren Sinn wurde durch eine Reihe von Porträts vorgearbeitet, die vielfach erstmals in dieser Prägnanz gezeichnet wurden. Erinnerung blieb für die Deutschbalten das beherrschende Thema, und ihr wurde eben deshalb auch auf der Tagung Rechnung getragen. Ein Landstrich am mare balticum war auch im Spiegel der Kultur wieder sichtbar geworden. Martin Klöker und der Verfasser legten die symposiale Ernte 2003 in der ›Frühen Neuzeit‹ vor. Das Jahrhundert – oder genauer : das Jahrtausend – ging in Osnabrück mit einem großen, von Axel Walter einberufenen Kongreß zur Buch- und Bibliotheksgeschichte Königsbergs zu Ende, aus dem eine grundlegende handbuchförmige Publikation resultierte, die einem Osnabrücker Forschungsschwerpunkt gehöriges Relief verlieh. Die Direktoren der Bibliotheken aus Polen und Litauen sowie aus Moskau und St. Petersburg berichteten erstmals im Westen über das Schicksal zumal der Königsberger Handschriften und Bücher. ›Die Suche nach Büchern in Königs berg und Ostpreußen in den Jahren 1945/46‹ geriet zu einer spektakulären Veranstaltung. Und erstmals wurde nun von den Fachkräften vor Ort Bericht erstattet über ›Bestände Königsberger Provenienz in europäischen Archiven und Bibliotheken‹, ergänzt um ›Forschungsprojekte und Forschungsperspektiven‹ in der Zukunft. Dem Verfasser blieb es vorbehalten, Königsberg vor Augen, über ›Bibliothek und Stadt als Orte des Eingedenkens‹ zu meditieren. Eine neue Reihe ›Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas‹, herausgegeben von Axel Walter und dem Verfasser, wurde mit den Akten des Kongresses bei Böhlau eröffnet. 284
Ein anderer Schwerpunkt kam in Gestalt einer Tagung nicht mehr zustande. Selbstverständlich sollte auch Schlesien einbezogen werden in die kulturgeschichtliche Folge. Als Tagungsort war Kreisau als eines der Zentren des Widerstandes auf nunmehr polnischem Boden vorgesehen, das zu einem Begegnungs- und Tagungszentrum für europäische Verständigung ausgebaut worden war ; Jürgen Uwe Ohlau, Direktor der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, hatte die Option eröffnet. Länger sich hinziehende Vorbereitungen der Tagung hatten zur Folge, daß sie schließlich doch nicht mehr wahrgenommen werden konnte. An dem Projekt selbst wurde festgehalten. In zwei Bänden vermochte der Verfasser im Jahr 2005 in der ›Frühen Neuzeit‹ eine Synopsis vorzulegen, an der sich wiederum deutsche und polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gleich intensiv beteiligten. Möge das Werk, so hieß es im Vorwort, »beitragen zum Brückenbau in einer Zeit, da in Deutschland – einem Wunder gleich – die Stigmata einer unseligen jüngsten Vergangenheit sechzig Jahre nach Kriegsende nicht länger aus dem Bewußtsein eines Volkes zu verbannen sind, das mehrheitlich wähnte, seiner Geschichte vergessend entkommen zu können.« Von diesem Geist war die kulturgeschichtliche Pentalogie nebst Prodromus getragen, von der hier kurz berichtet werden sollte. Und wenn soeben nach einem Dutzend weiterer Jahre ein Band aus dem Südosten Europas hinzutritt, so ist die Richtung markiert, in der zukünftig vor allem weiter zu schreiten sein wird. ›Siebenbürgen. Eine frühneuzeitliche Kulturlandschaft in Mittelosteuropa im Spiegel ihrer Literatur‹ ist die Publikation tituliert, herausgegeben von Axel Walter und dem Verfasser. Beiträge wurden versammelt, die im Jahr 2009 in Szeged zum Vortrag gelangten. Ihren publizistischen Platz fanden sie in einer von FrankLothar Kroll herausgegebenen Reihe, die auf den Punkt genau die Intention trifft, um die es regionaler Kulturraumforschung im weiteren Sinne geht : ›Literarische Landschaften‹. Daß diejenigen des alten deutschen Sprachraums des Ostens eines Tages alle wieder zusammengetreten sein werden und ein europäisches Vermächtnis derart bewahrt wird, bleibt die Hoffnung. 285
Einkehr im heimatlichen Warburg-Haus
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eit Jahrzehnten wollte man zurückgekehrt sein in die Heimatstadt. Bis auf weiteres mußten gelegentliche Besuche die Erfüllung des Wunsches überbrücken. Die Staatsbibliothek und die Laeiszhalle, die Kunsthalle und das Museum für Kunst und Gewerbe werden regelmäßig angesteuert, das Museum für Hamburgische Geschichte, das Jenisch-Haus etc. treten gelegentlich hinzu. Vom Warburg-Haus in der Heilwigstraße wußte man selbstverständlich, für Besuche bestand, soweit erinnerlich, kein direkter Anlaß. Für Literaturrecherchen wurde das ausgezeichnet bestückte Kunsthistorische Institut in der Moorweidenstraße aufgesucht. Dort traf man gelegentlich Martin Warnke, häufiger aber wohl noch in Wolfenbüttel. Es war auf einer gemeinsamen Zugfahrt von Wolfenbüttel nach Hamburg, da man wieder einmal ins Plaudern kam. Warnke erzählte von seiner nicht zum Druck gelangten Habilitationsschrift, der Verfasser von seinem nach wie vor in Arbeit befindlichen Arkadienwerk. Wir waren uns einig, daß dies ein durchaus unbefriedigender Zustand sei und gelobten Besserung. Warnke hielt sich an die Abmachung. Wenige Jahre später lag sein Werk ›Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers‹ vor. Gar nicht sehr viel länger währte es, und der verehrte kunsthistorische Kollege wurde mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet, dieser angesehensten Trophäe im akademischen Raum. Und nun geschah, was auch aus der Ferne so lebhaft erwünscht worden war. Das Warburg-Haus konnte zurückgewonnen und über Projekte wie die politische Bilderkunde zu einem Forschungsquartier ersten Ranges in der Hansestadt ausgebaut werden. So bedeutete es einen Glücksfall, wie er nur einmal im Leben sich einstellen mag, daß die von Hans-Harald Müller und Jörg Schönert angeregte Verleihung eines Ehrendoktors der Hamburger Universität im Jahr 2003 im Warburg-Haus über die Bühne ging. Warburg war für den passionierten Büchersammler und Bibliotheksgründer gleichsam die Verkörperung eines imaginären Schutzheiligen. Er hatte das einzig dastehende Exempel für 286
die Symbiose eines der Forschung ergebenen Lebens und einer mit der aktuellen Arbeit zeitgleich heranwachsenden Bibliothek gestellt. Das geschah unter großbürgerlichen Bedingungen und war schon deshalb nicht kopierbar. Der Impetus aber war ein nämlicher, wie ihn ein jeder in sich trägt, der um das Geheimnis der Imagination spendenden Kräfte eines auf eigene Rechnung, sprich eigene Arbeit gegründeten Bücherkosmos weiß. Die Warburgsche Schöpfung war unwiederholbar. Aber sie spornte an, auf ganz anderem Gebiet und bescheiden ausgestattet Ähnliches zu versuchen. Aus der privaten Bibliothek Warburgs war die spätere öffentliche herausgewachsen. Ohne die Erfahrung in den eigenen vier Wänden kein Segen über einer später einem Publikum zugeeigneten. In der Arbeitsbibliothek im Umkreis des Schreibtisches ist es ein selbstverständliches Gebot, das innerlich Zusammengehörige auch zusammenstehen zu haben. Die Bibliothek mag noch so sehr anwachsen, sich schließlich über Etagen erstrecken und nur noch über Leitern zur Gänze greif bar sein – ein jeder Forscher und Sammler weiß um jede Position eines Buches in seiner Kollektion. Ihr Gesicht, ihre Physiognomie, ihr innerer Bauplan ist ihm gegenwärtig und steuert seine Produktion. In Osnabrück – die anmaßende Attitüde im Kontext von Warburg ist dem Verfasser bewußt – waren gleich vier Bibliotheken aufzubauen. Die Mitarbeit an der Universitätsbibliothek vom ersten Moment an war eine Selbstverständlichkeit. Der indes nur langsam heranwachsende Bücherfundus führte dazu, kräftig in eine private Bibliothek zu investieren. Dann aber begannen die Forschungsprojekte, und notwendige Spezialliteratur sollte bereitgestellt werden. Und schon hier setzte eine Zweiteilung ein. Was aus öffentlichen Mitteln nicht beschafft werden konnte, wurde privat finanziert und dem kleinen Kreis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertrauensvoll zur Verfügung gestellt. Als dann aber die VolkswagenStiftung und das Ministerium erhebliche Mittel bewilligten und an den Aufbau einer Institutsbibliothek gedacht werden konnte, war der Zeitpunkt gekommen, da das privat immer schon beobachtete Verfahren im Geiste Warburgs in beschei287
denerem Rahmen auch in Osnabrück praktiziert werden konnte. Ein Wort darüber darf verlauten. Wie jede Institutsbibliothek hat auch die frühneuzeitliche in Osnabrück einen soliden Grundbestand an Bibliographien, Lexika, Nachschlagewerken etc. Das organisierende Prinzip ist jedoch ein regionales. Die Länder Europas zunächst und sodann der weite alte deutsche Sprachraum werden im Aufbau der Bibliothek nachgebildet. Und zwar so, daß die gesamte Literatur zu einer jeden Region an dieser einen Systemstelle versammelt ist und derart kulturwissenschaftlicher Arbeit unmittelbar vorgearbeitet wird. Von Warburg sind die schönsten Äußerungen bekannt, was es für einen Forscher bedeutet, neben dem gesuchten Titel zu einem weiteren rechts und links greifen zu können. Beim absichtslosen Blättern mag der Funke überspringen und ein Strahl der Erkenntnis aufblitzen, der durch nichts sonst in der Welt herbeigezaubert werden kann. Die Bibliothek als ein innerer Organismus ist die Quelle jedweder innovativen kulturgeschichtlichen Arbeit. In der Osnabrücker Bibliothek zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit mag davon ein Abglanz erfahrbar sein. Zusammen mit einem Mikrofilmarchiv, ausgestattet mit Zehntausenden von Titeln zumal aus dem alten deutschen Sprachraum des Ostens, und einem Archiv der unselbständigen Literatur, gleichfalls regional durchstrukturiert, ist ein kleiner bibliophiler Kosmos erwachsen, der schließlich in erster Linie dafür verantwortlich ist, daß das Verbleiben vor Ort und fern von der Heimatstadt zu einem Gebot wissenschaftlichen Überlebens, sprich fortzeugender Produktivität wurde. Man sehe dem Verfasser die dem Gründer der Bibliothek Warburg geschuldete Abschweifung nach. Der Blick ging hinauf zu der Empore in der Heilwigstraße, wo im Halbrund die kunstvoll gefertigten Bücherschränke ihren Platz hatten. Die Gründungsphase der Universität stand vor Augen. Der Zenit war gleich am Anfang erklommen worden. Die jüdische Intelligenz hatte maßgeblichen Anteil daran. Eine solche Zeit konnte nicht wiederkehren, Nun aber, im Jahre 2003, beklagte der Dekan des Fachbereichs Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft Knut 288
Hickethier die bevorstehenden Kürzungen im Haushaltsplan des Senats, welche die Geisteswissenschaften in eine Existenzkrise zu treiben drohten. Und Jörg Schönert, der Universität Osnabrück und ihrem Frühneuzeit-Institut als Gutachter seit Jahren verbunden, nahm den Ball auf. In Hamburg wäre der Platz des Frühneuzeitlers und nunmehrigen Ehrendoktors gewesen, wenn denn eine entsprechende Stelle hätte geschaffen werden können. Dem Festtag taten diese Worte keinen Abbruch, im Gegenteil, beförderten sie doch die Dankbarkeit für das, was da im Warburg-Haus zu erleben war. Wolfgang Adam war die Rolle des Laudators zugefallen. Ob er ahnte, daß er in wenigen Jahren die Nachfolge des Geehrten antreten würde ? Der sah sein bescheidenes Tun in einer Weise sinnfällig zusammengeführt, daß nur dankbares Staunen sich regen konnte. Den Vertreter eines Faches hätte er anzusprechen, so Adams Worte, das bislang im Kanon der Disziplinen gefehlt hätte. Das ehrwürdige Fach der Klassischen und Christlichen Archäologie sei inskünftig um das der ›BiblioArchäologie‹ zu ergänzen. Was da einst anläßlich der Grabungen in Pompeji und Herculaneum geschah, wiederhole sich verwandlungsreich in einem auf den Osten gewandten ›Memoria-Projekt‹. Solche Worte im Warburg-Haus zu vernehmen blieb bewegend und mochte, wiederum rückblickend, den Beweggrund bilden für einen kleinen Exkurs über das Buch und die Bibliothek und ihrer beider unvertretbaren Beitrag für eine Geistes- und Kulturwissenschaft im Zeichen von Gedenken.
Abschied
E
in Jahr später galt es Abschied zu nehmen. Der Zeitpunkt war selbstgewählt. Der Präsident der Universität Rainer Künzel beendete seine Amtszeit nach dem Sommersemester im Jahr 2004. Er hatte den Aufbau des Instituts in großzügiger Weise unterstützt. Manche der mehrbändigen Kongreßpublikationen, von denen die Rede war, hätten ohne seine Hilfe das Licht der Welt nicht erblickt. Und als für eine knapp bemessene Frist das Institut 289
in eine schwierige Lage geriet, war er es, der durch seine Präsenz den zu steuernden Kurs bestimmte. Wenn das Institut schließlich gut dastand und sich eines ausgezeichneten Rufes erfreute, war dies wesentlich auch sein Verdienst. Die zwölfjährige Präsidentschaft Künzels ist in weiten Kreisen der Universität in der besten Erinnerung. Für den Leiter der Einrichtung, der da gleichfalls inzwischen auf ein Dutzend Jahre zurückblickte, war das letzte Jahr eines, das sich geradezu mit einem Hochgefühl verband. Angeregt aus Hamburg zurückgekehrt versammelte er alsbald die Mitglieder des Instituts, um ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten. Wie wäre es, wenn man sich zu einem gemeinsamen Forschungsprojekt aufmachte und diesem einen festeren Rahmen zu geben versuchte ? Als Thema bot sich in Osnabrück der ›Frieden‹ an. Das mochte nicht besonders originell sein. Also kam es darauf an, einen Skopus auszumachen. Oberster Gesichtspunkt blieb eine Beteiligung möglichst aller im Institut vertretenen Disziplinen. Ein Stichwort wurde gefunden : Semantik des Friedens. Und eine zeitliche Koordinate wurde eingezogen. Der Gedanke des Friedens sollte fokussiert werden auf drei prägnante Zeitpunkte : 1600, 1800, 2000. Das waren selbstverständlich nur ungefähre Größen, immerhin, die Richtung war angezeigt. Zugleich war ersichtlich, daß das Frühneuzeit-Institut überfordert sein könnte. Also wurde Ausschau gehalten. Nach Dresden und nach Münster richtete sich der Blick, hier wie dort war von verwandten Aktivitäten zu hören. Damit aber gewann auch der anzustrebende institutionelle Rahmen deutlichere K onturen. Soeben hatte die DFG das Modell des ›transregio‹ in die Forschungslandschaft eingeführt. Es bot sich insbesondere für kleinere Universitäten an. Was allein aus eigener Kraft nicht zu bewerkstelligen war, mochte im Dreierverbund gelingen. Zugeschnitten war das entsprechende Format auf das heißbegehrte Förderinstrument der DFG, den Sonderforschungsbereich. Ein solcher war von den Osnabrücker Naturwissenschaftlern wiederholt akquiriert worden ; in den Geisteswissenschaften fehlte er bislang. 290
Und nun zählt es zu schönsten Erlebnissen gewiß nicht nur des Initiators zu gewahren, wie aus jedem Fach Vorschläge für eine nähere Ausgestaltung des Projekts kamen. Sie wurden ausnahmslos im Plenum diskutiert, im Anschluß daran schriftlich festgehalten, mit Bemerkungen für Erweiterungen, Modifikationen, Anschlüsse an die Fächer rechts und links zur Seite versehen und derart dem Kreis der Diskutierenden und Projektierenden zu weiterer Befassung neuerlich zugeführt. Geradezu von Sitzung zu Sitzung war mitzuverfolgen, wie das Vorhaben sich konkretisierte, innere Verstrebungen sich herausschälten, offene Positionen hervortraten, die es zu füllen galt, und schließlich ein Verbund von mehr als einem Dutzend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf Rundung und innere Kohärenz bedacht war und die Osnabrücker Forschergemeinschaft so eng wie nie zuvor zusammenschloß. Am Ende wurde der Weg zur DFG nicht gescheut. Mit dem Dresdener spiritus rector des dortigen Projekts Walter Schmitz wurde er angetreten. Durchaus offenen Ohres wurde man angehört und beraten. Nicht ganz chancenlos schien das Projekt sich auszunehmen. Doch nun war die Zeit abgelaufen. Die verehrte Nachfolgerin Siegrid Westphal war aus Jena eingetroffen, und so konnte ihr in der letzten Sitzung das bislang Erarbeitete zu weiterer Pflege übergeben werden. Neue Wege waren zu erkunden und einzuschlagen, doch das Thema blieb auf der Tagesordnung, es beschäftigt den Kreis der Mitglieder des Instituts weiterhin, und allein das möchte als ein verheißungsvolles Zeichen verstanden sein. Der Abschiedstag selbst geriet zu einem festlichen Ereignis. Wie viele Kolleginnen und Kollegen, von denen auch in unseren Zeilen die Rede war, hatten sich aus nah und fern eingestellt, und bereiteten mit ihrer Anwesenheit das schönste Geschenk. Und auch das Buch war gleich mehrfach gegenwärtig. Nicht nur fehlte die Festschrift nicht, die Axel Walter vorbereitet hatte und die dankbar entgegengenommen wurde. Nein, auch der Präsident war zur Stelle. Unversehens tauchten an der Rückwand der Schloßaula blinkende Fetzen von Buchstaben und Bildern auf. Langsam nahmen sie Konturen an. 291
Und dann löste sich das Rätsel. Der Titel des Zedlerschen Universal-Lexikons zeichnete sich ab. Über unbekannte Kanäle hatte der Präsident in Erfahrung gebracht, daß da in den Räumen der Bibliothek ein Exemplar der 68 ledergebundenen Bände aus London eingetroffen war, das von dem tollkühnen scheidenden Direktor geordert, aber noch nicht bezahlt worden sei. Das war keine Kleinigkeit. Und nähere Nachfragen zu tätigen, auf welchem Wege dem leichtsinnigen Treiben eines Büchernarren begegnet worden war, verbot sich. Genug, fortan stand der Zedlersche Wissenskosmos neben der 35bändigen ›Encyclopédie‹ der französischen Aufklärer wohlverschlossen hinter Glas neben ungezählten anderen Altdrucken im Lesesaal der Institutsbibliothek. Die Freude war übergroß, und gehörige Dankesworte wollten ad hoc gefunden sein. Und bei ihnen sollte es vor dem festlichen Publikum und angesichts der Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde, die ihr Wort erhoben hatten, nicht bleiben. ›Von Arkadien zu den Orten des Eingedenkens‹ betitelte Martin Klöker die kleine Schrift, in der das feierliche Ereignis festgehalten wurde. Dem nunmehrigen Emeritus, so das auch öffentlich bekannte Gelöbnis, stand ein neuer Lebensabschnitt bevor, der der Erledigung der bis dato verabsäumten Hausarbeiten gewidmet sein sollte. Arkadien mahnte und wurde, wie ersichtlich, angemahnt. Nahm es aber nach allem tatsächlich noch Wunder, daß ein Buch nach dem anderen geschrieben wurde, das opus magnum aber immer noch auf sich warten läßt ? Es gibt keine erfülltere Form der Existenz in einem der Wissenschaft zugewandten Leben als die des Emeritus. Sitzungen, Gremien, Verwaltungen darf er ungestraft meiden und sich dem Geschäft des Forschens und Schreibens widmen. Dieses Glück ist dem Schreiber dieser Zeilen seit nun mehr als einem Dutzend Jahren zuteil geworden. So mischt sich Dankbarkeit in die Rückschau. Und sollte das neue Lebensjahrzehnt dann auch die Vollendung des vor fünfzig Jahren Begonnenen zeitigen, so hätte in der Tat sich ein Bogen gerundet. Die Menschen stehen vor Augen, die Begleiter auf einem langen Weg waren. Mögen ihre Namen so bewahrt bleiben wie die 292
derjenigen, die aus der fernen Vergangenheit aufzurufen waren. Über die Zeiten hinweg lebt Gedichtetes und Gedachtes fort. Daran teilgehabt zu haben und für eine unbestimmte Frist weiter teilhaben zu dürfen, begründet eine Erfahrung, in der sich am Schluß irdische und metaphysische Züge in einem dem eigenen Wesen nicht mehr zugänglichen Bild kreuzen, dessen Enthüllung der Zukunft vorbehalten bleibt.
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Publikationen aus dem Umkreis des Berichts in Auswahl
Monographien Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts.– Köln, Wien : Böhlau 1974 (Literatur und Leben ; 16). Martin Opitz – ›der Vater der deutschen Dichtung‹. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.– Stuttgart : Metzler 1976. Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin.– Tübingen : Niemeyer 1987 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; 22). Zum Bilde Walter Benjamins. Studien – Porträts – Kritiken.– München : Fink 1992. Nation – Literatur – Politische Mentalität. Beiträge zur Erinnerungskultur in Deutschland. Essays, Reden, Interventionen.– München : Fink 2004. Walter Benjamin als Briefschreiber und Kritiker.– München : Fink 2005. Zum Bilde Richard Alewyns.– München : Fink 2005. Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents.– München : Fink 2006. Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum.– Köln, Weimar, Wien : Böhlau 2007 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas ; 3). Das alte Königsberg. Erinnerungsbuch einer untergegangenen Stadt.– Köln, Weimar, Wien : Böhlau 2008. Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur.– München : Fink 2009. Reisen in eine untergegangene Welt. Auf Spurensuche in Bibliotheken jenseits von Werra und Fulda, Oder und Neiße.– Dresden : Technische Universität Dresden 2011 (Oskar-Walzel-Vorlesungen). Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie. Hrsg. von Stefan Anders und Axel E. Walter.– Berlin, Boston : De Gruyter 2012. Martin Opitz – Paul Fleming – Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahr-
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hunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas.– Köln, Weimar, Wien : Böhlau 2013 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittelund Osteuropas ; 4). Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole.– Köln, Weimar, Wien : Böhlau 2014. Mare balticum. Studien zur Kultur- und Bibliotheksgeschichte des Ostseeraums. Hrsg. und mit einem einleitenden Vorwort versehen von Martin Klöker.– Berlin, Münster : LIT 2018 (Baltische literarische Kultur ; 1). Der Reformator und Aufklärer Martin Opitz (1597–1639). Ein Humanist im Zeitalter der Krisis.– Berlin, Boston : De Gruyter 2018. Das alte Liegnitz und Brieg. Humanistisches Leben im Umkreis der schlesischen Piastenhöfe.– Köln, Weimar, Wien : Böhlau 2020. Geistesadel und Glauben in Schlesien. Das Gymnasium Schoenaichianum in Beuthen an der Oder als Hort der Irenik inmitten des Konfessionalismus am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges.– Köln, Weimar, Wien : Böhlau 2020 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas ; 5).
Sammelbände Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Elger Blühm, Jörn Garber und Klaus Garber.– Amsterdam : Rodopi 1982 (Daphnis ; 11/1–2). Zwischen Renaissance und Aufklärung. Beiträge der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frühe Neuzeit der Universität Osnabrück/Vechta.– Hrsg. von Klaus Garber und Wilfried Kürschner unter Mitwirkung von Sabine Siebert-Nemann.– Amsterdam : Rodopi 1988 (Chloe. Beihefte zum Daphnis ; 8). Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des 1. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit.– Tübingen : Niemeyer 1989 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext ; 1). Europäische Barock-Rezeption. Band I–II. In Verbindung mit Ferdi nand van Ingen, Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Weiß hrsg. von Klaus Garber.– Wiesbaden : Harrassowitz 1991 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung ; 20/1–2).
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Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Band I–II. Hrsg. von Klaus Garber und Heinz Wismann unter Mitwirkung von Winfried Siebers.– Tübingen : Niemeyer 1996 (Frühe Neuzeit ; 26–27). Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Band I–II. Hrsg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders und Thomas Elsmann.– Tübingen : Niemeyer 1998 (Frühe Neuzeit ; 39). Ursprünge der Moderne. Das Interdisziplinäre Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück stellt sich vor. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll unter Mitwirkung von Jörn Fielitz, Christina Milde und Myriam Mommertz.– Osnabrück : Rasch 1998 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 1). global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992. Band I–III. Hrsg. von Klaus Garber und Ludger Rehm.– München : Fink 1999. 25 Jahre Universität Osnabrück. Akademische Eröffnungsfeier. Forum der Wissenschaft. Hrsg. vom Präsidenten der Universität Osnabrück [Rainer Künzel].– Osnabrück : Rasch 1999. Profile der Wissenschaft. 25 Jahre Universität Osnabrück. Hrsg. von Rainer Künzel zusammen mit Jörn Ipsen, Chryssoula Kambas und Heinz W. Trapp.– Osnabrück : Rasch 1999. Göttin Gelegenheit. Das Personalsschrifttums-Projekt der Forschungsstelle ›Literatur der Frühen Neuzeit‹ der Universität Osnabrück. Hrsg. von der Forschungsstelle ›Literatur der Frühen Neuzeit‹ der Universität Osnabrück unter redaktioneller Bearbeitung von Stefan Anders und Martin Klöker.– Osnabrück : Rasch 2000 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 3). Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter.– Tübingen : Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit ; 56). Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Hrsg. von Klaus Garber und Jutta Held. Band I : Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. Hrsg. von Klaus Garber, Jutta Held, Friedhelm Jürgensmeier, Friedhelm Krüger, Ute Széll ; Band II : Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die eu-
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ropäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt. Hrsg. von Ronald G. Asch, Wulf Eckart Voß, Martin Wrede.– München : Fink 2001 (Akten des Internationalen Jubiläums-Kongresses anläßlich der Dreihundertfünfzig-Jahrfeier des Westfälischen Friedens Osnabrück 1998). Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne. Hrsg. von Klaus Garber und Martin Klöker.– Tübingen : Niemeyer 2003 (Frühe Neuzeit ; 87). Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte. Hrsg. von Axel E. Walter.– Köln, Weimar, Wien : Böhlau 2004 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas ; 1). Gedächtnis der Menschheit. Ein Prachtexemplar der Diderotschen Encyclopédie im Osnabrücker Frühneuzeit-Institut. Hrsg. von Klaus Garber und Felicitas Hundhausen unter Mitwirkung von Beate Mrohs.– Münster : agenda 2004 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 6). Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Sabine Beckmann und Klaus Garber.– Tübingen : Niemeyer 2005 (Frühe Neuzeit ; 103). Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Band I–II. Hrsg. von Klaus Garber. Redaktion : Stefan Anders, Holger Luck und Winfried Siebers.– Tübingen : Niemeyer 2005 (Frühe Neuzeit ; 111). Simon Dach im Kontext preußischer Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber und Hans-Günther Parplies.– Berlin : Duncker & Humblot 2012 (Literarische Landschaften ; 13). Siebenbürgen. Eine frühneuzeitliche Kulturlandschaft in Mittelosteuropa im Spiegel ihrer Literatur. Hrsg. von Klaus Garber und Axel E. Walter.– Berlin : Duncker & Humblot 2017 (Literarische Landschaften ; 16).
Personenbezogene Publikationen Richard Alewyn. Mit unveröffentlichten Dokumenten und Fragmenten aus dem Nachlaß und einem Beitrag von Klaus Garber. Ausstellung der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin vom 24. Februar bis 17. April 1982. [Hrsg. von Eberhard Lämmert].– Berlin : Universitätsbibliothek der Freien Universität 1982 (Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der Freien Universität ; 6).
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„Sei mir, Dichter, willkommen !“ Studien zur deutschen Literatur von Lessing bis Jünger. Festschrift Kenzo Miyashita. Hrsg. von Klaus Garber und Teruaki Takahashi unter Mitwirkung von Ludger Rehm.– Köln, Wien : Böhlau 1995 (Europäische Kulturstudien ; 4). Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Natalie Zemon Davis. Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Kultur- und Geowissenschaften im Zusammenwirken mit dem Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück an Natalie Zemon Davis. Hrsg. von Jutta Held und Ute Széll.– Bramsche : Rasch 1998 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 2). Fragmente zu einer Geschichte der Forschungsstelle ›Literatur der Frühen Neuzeit‹. Klaus Garber zur Vollendung des 60. Lebensjahres am 3. Juli 1997 übereicht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Durchgesehene und erweiterte Auflage hrsg. von Martin Klöker.– Osnabrück 1999. Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit. Unter Mitwirkung von Sabine Kleymann hrsg. von Klaus Garber.– München : Fink 2002. Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Jutta Held.– München : Fink 2002. Ansprachen zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Professor Dr. Klaus Garber am 5. Februar 2003 im Warburg-Haus.– Hrsg. vom Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft [von HansHarald Müller und Jörg Schönert].– Hamburg : University Press 2004 (Hamburger Universitätsreden. N. F.; 7). Frühe Neuzeit und Moderne. Jutta Held zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.– Münster : agenda 2004 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 4). Osnabrücker Rückblick auf ein Jahrhundert-Konzil. Friedhelm Jürgensmeier und Friedhelm Krüger zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.– Münster : agenda 2004 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 5). Von Arkadien zu den Orten des Eingedenkens. Klaus Garber zum Abschied. Hrsg. von Martin Klöker.– Münster : agenda 2004 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 7). Literatur und Gesellschaft. Vom vorrevolutionären Sturm und Drang
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zum Realen Sozialismus. Heinrich Mohr zum Abschied. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.– Münster : agenda 2005 (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit ; 8). Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hrsg. von Klaus Garber und Ute Széll.– München : Fink 2005. Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber. Hrsg. von Axel E. Walter.– Amsterdam, New York : Rodopi 2005 (Chloe. Beihefte zum Daphnis ; 36).
Edition und Bibliographie Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken, Johann Klaj : Pegnesisches Schäfergedicht 1644–1645.– Tübingen : Niemeyer 1966 (Deutsche Neudrucke. Reihe : Barock ; 8). Sigmund von Birken : Werke und Korrespondenz. Hrsg. von Klaus Garber, Ferdinand van Ingen, Hartmut Laufhütte und Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Ralf Schuster. Band I–XIV [in 29 Halbbänden].– Tübingen : Niemeyer ; Berlin, Boston : De Gruyter (Edition Niemeyer) 1988–2018. Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Kataloge nebst Mikrofiche-Edition. Im Zusammenwirken mit dem Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit und der Forschungsstelle für Literatur der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück hrsg. von Klaus Garber. Band I–XXXI.– Hildesheim, Zürich, New York : Olms-Weidmann 2001–2013.
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Personenregister Abendroth, Wolfgang 63 Adam, Wolfgang 228, 264, 289 Adenauer, Konrad 57 Adorno, Gretel 25 Adorno, Theodor W. 25, 57, 59, 63, 64, 79, 159, 161, 222, 232, 233, 251, 253 Agamben, Giorgio 236, 237 Albert, Heinrich 183, 205 Albina, Larissa L. 186 Albrecht (Herzog von Preußen) 204 Albrecht, Gerd 30 Alewyn, Richard 32, 34 – 36, 39, 41, 42, 50 – 54, 56, 57, 61, 64, 67, 72 – 74, 80, 81, 98, 102, 137, 144, 146, 147, 156, 160, 180, 243, 244 Allemann, Beda 246 Althof, Kaja 192 Althoff, Friedrich 102 Anders, Stefan 80, 275 Anger, Alfred 36 Anna Amalia (Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach) 107 Anton Ulrich (Herzog von Braun schweig-Wolfenbüttel) 53, 160 Apel, Karl-Otto 128 Arendt, Hannah 57, 247 Arndt, Ernst Moritz 31 Asai, Kenjiro 246 Asch, Ronald G. 264 Augspurger, August 38 August II. (Herzog von Braun schweig-Wolfenbüttel) 82, 98 Aurnhammer, Achim 217 Axmacher, Dirk 214 Bach, Johann Sebastian 108 Bachofer, Wolfgang 21
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Bade, Klaus J. 272 Bahner, Werner 138 Bar, Christian von 272 Baratta, Giorgio 237 Barner, Wilfried 150 Baron, Hans 164, 165 Barthes, Roland 58 Bataille, Georges 232 Baudelaire, Charles 249, 253 Bayer, Herbert 234 Beatson, Elizabeth H. 158 Becher, Johannes R. 223 Beck, Adolf 32, 59 Becker-Cantarino, Barbara 171 Beckmann, Sabine 125, 275 – 277, 283 Beer, Johann 35, 53 – 55, 180 Beethoven, Ludwig van 28 Benjamin, Walter 25, 59, 60, 64, 77, 79, 90, 91, 102, 136, 151, 155, 169, 180, 221, 222, 231 – 243, 245 – 257, 269 Benn, Gottfried 244 Berghahn, Klaus L. 162 Berghius, Friedrich 163, 164 Bernini, Gian Lorenzo 223 Berns, Jörg Jochen 150, 216, 217 Besch, Eckart 15 Bircher, Martin 67, 82, 119, 167, 222 Birken, Sigmund von 46, 47, 50, 51, 79, 87, 96, 168, 177, 277, 278, 280 Blankenheim, Toni 27 Blickle, Peter 134 Bliudžiūtė, Ona 209 Blühm, Elger 100 Bobrowski, Johannes 223 Boccaccio, Giovanni 219 Bock, Friedrich 48
Boehlich, Walter 251 Boerner, Nancy 160, 161 Boerner, Peter 129, 160, 161 Böhm, Karl 28 Böhme, Jakob 114 Bohrer, Karl Heinz 129 Bolle, Willi 238, 240, 243, 255 Bolz, Norbert W. 235, 239 Boor, Helmut de 141, 142 Borchmeyer, Dieter 246 Bornmann, Christian 196 Böschenstein, Renate 169 Böttcher, Irmgard 52 Brancaforte, Charlotte L. 163 Braune, Wilhelm 50 Brecht, Bert(olt) 59 Brentano, Clemens 57 Breuer, Dieter 135, 150 Briegel, Manfred 67 Briegleb, Klaus 149 Broch, Hermann 39 Brockes, Barthold Hinrich 37 Brodersen, Momme 238, 255 Brückner, Wolfgang 135 Bruni, Leonardo 164 Brunner, Otto 78, 79 Buck, August 84 Burdach, Konrad 20, 146, 165, 168, 169, 281 Burgemeister, Burghard 109 Busch, Günther 212
Chiarini, Paolo 237 Chirac, Jacques 224, 226 Claus, Helmut 106 Cohn, Margot 248 Colerus, Christoph 131 Conrady, Karl Otto 126 Cowen, Roy C. 159 Curtius, Ernst Robert 39 Czaja, Stefan 123, 209 Czarnecka, Mirosława 230 Dach, Simon 87, 123, 160, 182, 205, 210 Dante Alighieri 219, 227 Daum, Christian 109 Debes, Dietmar 108 Dege, Günter 258 Dejon, Hedwig S. 158 Desideri, Fabrizio 236 Diderot, Denis 186 Dikenmann-Balmer, Lucie 17 Dilherr, Johann Michael 49 Dilthey, Wilhelm 222 Dinges, Martin 265 Doerksen, Victor G. 246 Dohna, Karl Hannibal von 131 Drachsdorf, Hans Friedrich von 38 Dünnhaupt, Gerhard 159, 160, 164 Dupuy, Jacques 131, 132 Dupuy, Pierre 131, 132 Dyck, Joachim 150, 264
Cahlen, Friedrich 167 Camus, Albert 16 Canaletto (Bernardo Bellotto) 121 Carchia, Gianni 236 Carsten, F[rancis]. L[udwig]. 79 Castro, Fidel 58 Casullo, Nicolás A. 243 Celtis, Conrad 224 Chiapelli, Fredi 166
Ebel-Gabriel, Christiane 267 Eco, Umberto 265 Edelmann, Johann Christian 159 Eden, Shmuel 248 Eggebrecht, Axel 28 Eichendorff, Joseph von 57, 160, 222 Elias, Norbert 128, 265 Empson, William 170 Entner, Heinz 139, 140
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Enzensberger, Hans Magnus 58 Erdmann, Eduard 15, 28 Erenz, Benedikt 212 Ermel, Malle 196 Faber, Richard 235, 255, 265 Faber du Faur, Curt von 158, 168, 190 Fähnders, Walter 264 Fanon, Frantz 58 Fauser, Markus 264 Fip, Hans-Jürgen 271, 272 Fischer, Edwin 28 Fleming, Paul 109, 188 – 192, 194 Flickenschildt, Elisabeth 29 Fohrmann, Jürgen 128 Forster, Leonard 82, 97 Forster, Ricardo 243 Foucault, Michel 222, 265 Frank, Peter R. 167 Franz I. (franz. König) 132 Freise, Fridrun 123, 276 Freist, Dagmar 264 Freud, Sigmund 56 Freund, Gisèle 231 Fricsay, Ferenc 28 Friedrich III. (Herzog von HolsteinGottorf ) 189 Frühsorge, Gotthardt 150, 216, 217 Frühwald, Wolfgang 254 Fuentes, Carlos 58 Fülleborn, Ulrich 246 Fürnkäs, Josef 246 Gadebusch, Friedrich Konrad 194, 195 Gagnebin, Jeanne Marie 240, 243, 255 Galling, Kurt 25 Garber, Jörn 151, 220 George, Stefan 56, 244
302
Georgiewna, Ljuba 206 Gerhard, Dietrich 79 Gervinus, Georg Gottfried 54, 146, 222 Gessner, Salomon 36, 37 Gillespie, Gerald 167 Ginzburg, Carlo 273 Giorgione 273 Glaser, Horst Albert 148 Gödde, Christoph 169, 253 Goedeke, Karl 37, 38, 137, 196, 279 Goes, Albrecht 246 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 22, 52, 55, 142, 161, 170, 244, 249, 252 Goetz, Walter 164 Gogarten, Friedrich 26 Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch 180 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 181, 188 Gotendorf, Alfred N. 37 Gottsched, Johann Christoph 55, 108, 148 Gramsci, Antonio 265 Grassi, Ernesto 54 Green, James N. 157 Greflinger, Georg 70 Greiffenberg, Catharina Regina von 143 Grenzius, M[ichael] G[erhard] 195 Grewe, Andrea 264 Griepenburg, Rüdiger 214 Grimm, Reinhold R. 129 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 53, 180 Grimminger, Rolf 148, 149 Gronemeyer, Horst 29, 66, 68, 185 Grossmann, Maria 158, 159 Grossmann, Walter 158, 159 Grotius, Hugo 132 Gründgens, Gustaf 29
Grundke, Armin 274 Gryphius, Andreas 110 Gumbrecht, Hans Ulrich 167, 265 Gustafsson, Lars 70 Guthke, Karl S. 158 Haffner, Sebastian 21 Häfner, Otto 258 Hagedorn, Friedrich von 37 Haller, Albrecht von 36 Hamann, Johann Georg 187 Hamann, Richard 163 Hammerstein, Notker 265 Hancke, Hansjochen 199 Hanheide, Stefan 264 Hankamer, Paul 145 Harnack, Adolf von 102 Harsch-Niemeyer, Robert 216 Harsdörffer, Georg Philipp 38, 47, 51, 97, 113, 225 Hartknoch, Johann Friedrich 187 Hartung, Günter 255 Haufe, Eberhard 223 Hauschild, Wolf-Dieter 214 Hauser, Arnold 265 Hausmann, Frank-Rutger 265 Hayn, Hugo 37 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 63, 65, 77, 78 Heidegger, Martin 57 Heidemann, Ingeborg 57 Heimpel, Hermann 78 Heitz, Gerhard 79 Held, Jutta 134, 163, 214, 246, 264, 266, 270 Hemingway, Ernest 16 Herder, Johann Gottfried 187 Hermand, Jost 163, 265 Hessus, Helius Eobanus 225 Heydebrand, Renate von 245 Hickethier, Knut 289
Hildebrand, Rudolf 167 Hilfrich-Kunjappu, Carola 248 Hinderer, Walter 157 Hinrichs, Ernst 133 Hintze, Otto 79 Hirano, Yoshihiko 246 Hirsch, Arnold 80, 102 Hitler, Adolf 15, 45, 187 Hoche, Karlheinz 16 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 208 Hoffmeister, Gerhart 171 Hofmannsthal, Hugo von 32, 36, 41, 56, 244, 248 Hohendahl, Peter Uwe 17, 157, 265 Horkheimer, Max 59, 63, 159, 161 Horstmann, Manfred 94 Hoyt, Giles R. 160 Hübner, Alfred 21, 23, 24 Huizinga, Johan 265 Hull, Susan W. 170 Ignasiak, Detlef 229 Ingen, Ferdinand van 222 Ipsen, Jörn 272 Ishimitsu, Yasuo 246 Jaanson, Ene-Lille 195, 196, 229 Jacob, Herbert 137, 196 Jacobi, Friedrich Heinrich 22 Jacobsen, Roswitha 229 Jäger, Lorenz 255 Jahnn, Hans Henny 28 Jakovlewa, J.G. 186 Jaspers, Karl 57 Jeremias, Joachim 25 Jerser, Medea 191 Jochum, Eugen 28 Jöns, Dietrich 87, 279 Joseph II. (röm.-dt. Kaiser) 202 Junge, Wolfgang 272
303
Jürgensmeier, Friedhelm 214, 264 Jurginis, Juozas 208, 209 Kafka, Franz 16, 39, 249 Kambas, Chryssoula 255, 272 Kant, Immanuel 63, 65, 187, 206, 209 Karrer, Wolfgang 265 Kästner, Erhart 81, 82 Katharina die Große (russ. Kaiserin) 181, 183, 186 Kaufmann, Thomas 268 Kayser, Werner 66 Kayser, Wolfgang 23, 30, 32 Keilberth, Joseph 28 Kemp, Friedhelm 67, 211 Kempff, Wilhelm 28 Kidalinskaja, Irina 206 Kiesant, Knut 223, 229 Killy, Walther 130 Klaj, Johann 38, 47, 51, 97, 113, 225 Klammt, Annerose 114 Kleist, Ewald Christian von 36 Klekere, Ināra 198 Klöker, Martin 275 – 277, 284, 292 Klopstock, Friedrich Gottlieb 21, 36, 55, 56, 66 Knapp, Lothar 138, 214, 237, 264, 265 Knobloch, Wolfgang 168 Knoche, Michael 107 Knop, Andreas 256 Köhler, Erich 20, 138 Kohlschmidt, Werner 17, 147 Kolbuszewska, Aniela 118 Komorowski, Manfred 282 König, Burghard 148 König, Josef 24 Körner, Josef 17 Koselleck, Reinhart 78, 131, 133 Kotarski, Edmund 124, 230 Kotzebue, August von 187
304
Kraus, Hans-Joachim 25 Kraus, H[ans]. P[eter]. 156 Krauss, Werner 20, 77, 110, 136, 138 Krause, Hans Joachim 44 Krause, Horst 214 Kreutzer, Hans Joachim 74 Kreuzer, Helmut 246 Kroker, Ernst 108 Kroll, Frank-Lothar 285 Krüger, Friedhelm 264 Krull, Wilhelm 258, 267 Krummacher, Hans-Henrik 68, 82 Krupina, Olga 207 Krzywicki, Stanisław 125 Kuczynski, Jürgen 138 Kühlmann, Wilhelm 150, 216, 222, 264, 282 Kullmann, Thomas 264 Kunze, Michael 129 Künzel, Rainer 130, 218, 267, 289, 290 Kvaskova, Valda 198 Kytzler, Bernhard 129 Lācis, Asja 249 Lacoste, Jean 234 Lämmert, Eberhard 32 Landahl, Heinrich 15 Landfried, Klaus 272 Lange, Wolfgang 24 Langer, Herbert 229 Langer, Horst 229, 282 Laufhütte, Hartmut 268, 279 Lemper, Ernst-Heinz 114 Lenin, Wladimir Iljitsch 175 Lenk, Werner 139 – 141, 223, 229 Lenz, Jakob Michael Reinhold 187 Lessing, Gotthold Ephraim 29, 55, 157, 222 Liebermann, Rolf 30 Liebes, Esther 248
Lindberg, John D. 82 Lohenstein, Daniel Casper von 53, 66 Lohmeier, Dieter 52, 82 Lonitz, Henri 169, 253 Löwy, Michael 255 Ludwig (Fürst von Anhalt-Köthen) 107 Lund, Zacharias 70 Lutz, Bernd 129 Lützeler, Heinrich 31 Maas, Utz 214 Maché, Ulrich 156 Mähl, Hans-Joachim 52, 168, 278 Mandelkow, Karl Robert 22 Manikowski, Adam 184 Mann, Erika 29 Mann, Golo 212 Mann, Thomas 157 Mannack, Eberhard 52, 82 Mannheim, Karl 161 Marcinkevičius, Juozas 209 Marcuse, Herbert 63, 170 Markov, Walter 138 Marschall von Bieberstein, Michael 237 Martin, Alfred von 265 Martin, Gottfried 57, 63 Martini, Fritz 144 Marwinski, Felicitas 229 Marx, Karl 63 – 65, 77, 79 Massuh, Gabriela 242, 243 Mate, Reyes 243 Mattenklott, Gert 147 Mauser, Wolfram 150 Mayer, Hans 27, 110, 138, 237 Mayorga, Juan 243 McCarthy, John A. 157 Meckelnborg, Christina 264 Meid, Volker 142 Meier, Albert 151
Melle, Aija 198 Mencke, Johann Burkhard 108 Mendelssohn Bartholdy, Felix 17 Merkel, Garlieb Helwig 188 Merker, Paul 145 Mertens, Eberhard 261 Meusebach, Karl Hartwig Gregor von 120 Meyer, Conrad Ferdinand 222 Meyer, Hans 272 Meyer, Heinrich 47, 168 Michaelis, Rolf 212 Michailow, Alexander 180, 181, 230 Minor, Jakob 17 Missac, Pierre 232 Mishima, Ken’ichi 246 Mitchell, Philipp M. 69, 171 Mitsugi, Michio 246 Miyashita, Kenzo 244 – 246 Mödl, Martha 27 Mohr, Heinrich 125 Möller, Rolf 257 Mommsen, Katharina 245 Morhof, Daniel Georg 222 Mörike, Eduard 244, 246 Moritz, Karl Philipp 36 Mosès, Stéphane 237, 248 Mozart, Wolfgang Amadeus 27 Müller, Günther 32, 143, 144, 146 Müller, Hans-Harald 286 Müller, Hans von 66 Müller, Jan-Dirk 216, 265, 268 Münkler, Herfried 220 Musil, Robert 16, 30, 39 Nadler, Josef 54, 146, 169, 191 Nagano, Kent 30 Napiersky, Karl Eduard von 195 Naudé, Gabriel 266 Naumann, Hans 144 Naumann, Manfred 138
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Nebogatikova, Elena V. 184 Nerlich, Michael 265 Neuber, Wolfgang 265 Neumann, Hans 23 Neumark, Georg 107 Neumeister, Sebastian 218 Neuschäfer, Anne 264 Newald, Richard 141, 142 Newman, Jane O. 169 Nicolai, Heinz 22 Niekerken, Walther 20 Niethammer, Lutz 255 Noack, Lothar 230 Nomura, Osamu 246 Nostiz, von (Geschlecht) 167 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 17 Nowak, Zbigniew 124 Oertzen, Peter von 88 Oestreich, Gerhard 151 Ohlau, Jürgen Uwe 285 Olms, Dietrich 260 Olms, W. Georg 260 Opitz, Martin 53 – 55, 69, 70, 76, 79, 101, 110, 113, 114, 122 – 124, 131 – 133, 137, 140, 148, 150, 157, 177, 178, 189, 190, 199 – 201, 212, 229 Oppermann, Thomas 272 Otto, Karl F. 152, 155, 164, 165 Peep, Laine 196, 229 Peterse, Hans 264 Petersen, Julius 53, 54 Pētersone, Pārsla 198 Petrarca, Francesco 219, 281 Petriconi, Hellmuth 19 Pfeiffer, Gerhard 48, 49 Pietrzak, Ewa 230, 274 Pijola, Sarmīte 198
306
Pirożyński, Jan 119 Pistohlkors, Gerd von 283 Pitulko, Galina 182 Platon 24, 30, 63 Plessner, Helmuth 25 Plessner, Monika 25 Ponzi, Mauro 236 Prawer, Siegbert 246 Press, Volker 267 Pressler, Günter Karl 243 Pretzel, Ulrich 21 Putin, Wladimir 185 Pyritz, Hans 20 – 22, 30, 32, 81, 145, 146, 187 Raabe, Paul 81 – 84, 96 – 98, 100, 134, 136, 153, 155, 158, 221, 223 Ralfs, Günter 30 Rau, Peter 68 Raumer, Kurt von 79 Recke, Elisa(beth) von der 187 Recke, Johann Friedrich von 195, 196 Rehm, Ludger 245, 256 Reichert, Klaus 237 Reicke, Rudolf 210 Reijen, Willem van 255 Rembrandt, Harmensz van Rijn 171 Renner, Virginia J. 170 Rennert, Günther 27 Reusner, Christoph 190 Richelieu, Armand-Jean du Plessis de 131 Richter, Dieter 77 Richter, Peter 246 Rienzo, Cola di 165 Rist, Johann 70, 177 Robert, Kyra 191, 229 Roethe, Gustav 21 Roloff, Hans-Gert 84, 97, 265 Rosenberg, Mary S. 156 Rosenzweig, Franz 248
Rothenberger, Anneliese 27 Rousseau, Jean-Jacques 36, 39 Rudersdorf, Manfred 264 Rüdiger, Horst 54, 62, 147 Rühmkorf, Peter 20 Saine, Thomas P. 169 Saltykov-Shchedrin, Michail E. 183 Sander, Ojar 230 Sannazaro, Jacopo 19, 113, 153, 189, 224 Sartre, Jean-Paul 16 Sauerland, Karol 255 Saveljeva, Eleena A. 182 Schade, Richard E. 161 Schaffgotsch, Hans Ulrich von 113 Schede Melissus, Paul 148 Schedler, Uta 264 Schein, Johann Hermann 178 Schenk, Doris 173 Scherer, Wilhelm 54, 146 Scherpe, Klaus R. 147 Scheuer, Helmut 169 Schiavoni, Giulio 236, 255 Schiller, Friedrich 29, 39, 139, 162, 222, 249 Schilling, Heinz 214, 220 Schindling, Anton 264, 266, 267 Schkizkaja, Alexandra D. 206 Schlegel, August Wilhelm 17 Schlegel, Friedrich 17 Schmidt, Arno 28 Schmidt, Georg 268 Schmidt, Roderich 282 Schmidt-Isserstedt, Hans 28 Schmitz, Walter 291 Schnabel, Hildegard 139 Schneider, Bernd 264 Schneider, Ferdinand Josef 144 Schneider, Helmut J. 169, 170 Schneider, Karl Ludwig 21, 22, 31
Schneider, Norbert 163, 264, 265 Schnittke, Alfred 180 Schnitzler, Arthur 244 Schnur, Roman 133 Schoenaich, Georg von 200 Schöffler, Herbert 54 Scholem, Gershom 25, 240, 247 – 249, 251 Schöne, Albrecht 30, 32, 72 – 74, 82, 85 – 87, 91, 96, 278 Schönert, Jörg 286, 289 Schoolfield, George C. 158, 161 Schrader, Fred E. 131 Schrader, Hans-Jürgen 86 Schröder, Gerhard 185 Schubert, Dietmar 109 Schubert, Franz 28 Schuchardt, Helga 273 Schultz, Franz 144 Schulz-Behrend, George 82, 171 Schulz-Buschhaus, Ulrich 265 Schumacher, Kurt 15 Schumann, Robert 17, 109 Schütte, Wolfram 234 Schwarz, Christian 50 Schwarz, Dorle 171 Schwarz, Egon 129, 171 Schweppenhäuser, Hermann 252 Schwieger, Jakob 70 Scultetus (von Schwanensee und Bregoschitz), Tobias 200 Seeber, Hans Ulrich 129 Segebrecht, Wulf 97 Seidlin, Oskar 160, 161 Selig, Karl-Ludwig 153, 156 Semjanowa, Albina 184 Sengle, Friedrich 144, 244 Serkin, Rudolf 28 Shakespeare, William 29, 138 Shedletzky, Itta 248 Siebers, Winfried 255
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Sievert, Hans-Wolf 272 Sikora, Elżbieta 283 Simanowskij, I.B. 201 Simm, Hans-Joachim 148 Simon, Werner 20 Sinemus, Volker 150 Singer, Herbert 32, 55, 62, 156 Skura, Adam 117, 274 Smuglewicz, Franciszek 200 Snell, Bruno 19 Solms, Hans-Joachim 264 Sommerfeld, Martin 161 Spahr, Blake Lee 86, 167, 168 Sperberg-McQueen, Marian 192 Spriewald, Ingeborg 139 Stackmann, Karl 21, 62 Stahl, Erna 15 Stam, David H. 153 Stammler, Wolfgang 145 Steiger, Johann Anselm 218, 280 Steiner, Uwe 255 Steinhagen, Harald 148 Steinschneider, Kitty 248 Stifter, Adalbert 20 Stoddard, Roger E. 158 Stolberg, von (Geschlecht) 201 Strich, Fritz 222 Strutyńska, Maria 209 Suchon, Gabrielle 266 Suhrkamp, Annemarie 25 Suhrkamp, Peter 25 Sychta, Stefania 276 Szarota, Elida Maria 82, 110 Széll, György 214 Széll, Ute 255, 273 Szyrocki, Marian 110 – 112, 114, 118, 138, 194, 274 Tacitus 24 Takahashi, Teruaki 245, 246 Tarot, Rolf 82, 86, 87
308
Taube, Meta 198, 230 Tedeschi, John A. 165, 166 Tering, Arvo 195, 230 Thalheim, Hans-Günther 139 Thielicke, Helmut 18, 159 Thoma, Heinz 264 Thou, Jacques-Auguste de 131, 132 Thurnher, Eugen 82 Tieck, Ludwig 53, 55, 56, 222 Tiedemann, Rolf 233, 234, 252 Tiedemann-Bartels, Hella 252 Tiemann, Hermann 19, 66 Tillich, Paul 159 Traister, Daniel 157 Trapp, Heinz W. 272 Troeltsch, Ernst 164 Trunz, Erich 51 – 54, 64, 67, 82, 102, 126 Tsunekawa, Takao 246 Tsybenko, Larissa 203, 230 Ukena, Peter 150 Vergil 39, 79, 97, 167, 189 Vermeer van Delft, Jan 223 Vierhaus, Rudolf 78, 79, 131, 213, 273 Vilks, Andris 198 Vitiello, Vincenzo 236 Vogt, Helmut 105 Voigtländer, Gabriel 70 Voigts, Manfred 255 Vollhardt, Friedrich 218 Voltaire (François-Marie Arouet) 186 Voss, Jürgen 131 Voß, Johann Heinrich 170 Voß, Wulf Eckart 264 Voßkamp (Familie) 159 Voßkamp, Wilhelm 87, 126 – 128, 130, 223, 265
Wackenroder, Wilhelm Heinrich 53, 55, 56 Waldberg, Max von 53 Wallenrodt, Ernst von 207 Wallenrodt, Johann Ernst von 207 Wallenrodt, Martin von 207 Wallenrodt, von (Geschlecht) 207 Wallenstein, Albrecht von 190 Walter, Axel E. 80, 264, 276, 277, 282, 284, 285, 291 Walter, Monika 265 Walzel, Oskar 143, 222 Wamba Gaviña, Graciela 243 Warburg, Aby 142, 223, 265, 286 – 289 Warnke, Martin 223, 265, 286 Weimann, Robert 138 Weise, Christian 222 Weizsäcker, Carl Friedrich von 18, 24 Weizsäcker, Richard von 254, 257 Weiß, Wolfgang 222 Wenig, Otto 43 Wenke, Hans 30 Westphal, Siegrid 291 Wieckenberg, Ernst-Peter 87 Wiedemann, Conrad 84, 96, 97, 133, 135, 218 Wieland, Christoph Martin 30, 31, 55, 56 Wiese, Benno von 31, 34, 148, 170 Williams, Raymond 265 Wind, Edgar 265
Winter, Eduard 138 Wismann, Heinz 224, 226, 233 – 235 Witte, Bernd 239 Władysław IV. (poln. König) 177 Wohlfarth, Irving 256 Wohlfeil, Rainer 139 Wolf, Edwin II. 157 Wolfe, Thomas 16 Wrede, Martin 264 Wriedt, Klaus 214 Wuthenow, Ralph-Rainer 246 Zacharias-Langhans, Garleff 41 Zacharias-Langhans, Heinrich 16 Zachová, Irena 230 Zadek, Peter 30 Zahn, Peter von 28 Zaitsev, Vladimir N. 184 Załuski, Andrzej Stanisław 184 Załuski, Józef Andrzej 184 Zender, Hans 30 Zenner, Timm 156, 238 Zesen, Philipp von 156, 177 Zimmer, Wendelin 271 Zimmermann, Harro 203 Zink, Fritz 47, 53 Žmegač, Viktor 147 Zons, Raimar 256 Zweig, Stefan 174 Żygulski, Zdzisław 111
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EINE EINLADUNG IN DAS ALTE BRESLAU
Klaus Garber Das alte Breslau Kulturgeschichte einer geistigen Metropole 2014. 597 Seiten, 38 s/w-Abb., gebunden € 40,00 D | € 42,00 A ISBN 978-3-412-22252-9
Breslau galt als eine geistige und künstlerische Hochburg im alten deutschen Sprachraum des Ostens. Wie Schlesien selbst nahm seine Hauptstadt eine Brückenstellung ein. Vom Herzogtum und vom Königlich Polnischen Preußen über Böhmen und Mähren bis hinab nach Ungarn und Siebenbürgen verliefen rege Kontakte. Wie im Land behauptete sich auch in der Stadt eine konfessionelle Offenheit mit merklichen Sympathien für das reformierte Bekenntnis. Klaus Garber zeichnet diese geistigen Zusammenhänge nach. Über die Landschaft und die städtische Silhouette geht es zu den prägenden kulturellen Institutionen, immer die Menschen im Blick, die ihnen Leben verliehen. Vieles ist im Zweiten Weltkrieg untergegangen, mehr aber hat sich erhalten und findet sich heute in Breslau wieder. Garbers Buch ist eine Einladung in das alte Breslau, das in seinen geistigen Schätzen nicht anders als in seinen wiedererstandenen Bauten eindrucksvoll in der Gegenwart fortlebt.
SCHLAGLICHTER AUF DIE GROSSE KULTURELLE VERGANGENHEIT DER STADT KÖNIGSBERG
Klaus Garber Das alte Königsberg Erinnerungsbuch einer untergegangenen Stadt 2008. 343 Seiten, 30 Illustrationen, schwarz-weiß, gebunden € 30,00 D | € 32,00 A ISBN 978-3-412-16304-4
Klaus Garber leuchtet die große Vergangenheit der Metropole im Nordosten Europas neu aus. Der Untergang Königsbergs 1945 war total. Mit der Silhouette der Stadt versanken auch ihre Bibliotheken, Museen und Archive. Die alte preußische Krönungsstadt ist Sinnbild der Katastrophen, die das 20. Jahrhundert über die Kultur Mitteleuropas brachte, und nur aus versprengten Zeugnissen ist ihre bewegte Vergangenheit zu rekonstruieren. Königsberg, am Rande des Reiches gelegen, war Bollwerk des Protestantismus und Hort intellektuellen Lebens. Sammler und Bibliothekare, die Wahrer und Mehrer der Tradition und ihre Wirkungsstätten werden ebenso gewürdigt wie das große Jahrhundert der Stadt, das Zeitalter der Aufklärung. Bedeutende Dichter, Gelehrte und Schriftsteller dieser Zeit wie Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann und Immanuel Kant wurden in Königsberg geboren, lebten und starben auch dort. Die locker gefügten Essays umkreisen das Geheimnis der schöpferischen Erneuerung im hohen Norden des alten deutschen Sprachraums über die Jahrhunderte hinweg.