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German Pages [517] Year 2021
M. Azaryahu/U. Gehring/F. Meyer/J. Picard/C. Späti (Hg.)
Erzählweisen des Sagbaren und Unsagbaren Between Commemoration and Amnesia Formen des Holocaust-Gedenkens in schweizerischen und transnationalen Perspektiven Forms of Holocaust Remembrance in Swiss and Transnational Perspectives
Erinnerungsräume. Geschichte – Literatur – Kunst Herausgegeben von Franziska Metzger und Dimiter Daphinoff Band 3
M. Azaryahu/U. Gehring/F. Meyer/J. Picard/C. Späti (Hg.)
Erzählweisen des Sagbaren und Unsagbaren / Between Commemoration and Amnesia Formen des Holocaust-Gedenkens in schweizerischen und transnationalen Perspektiven / Forms of Holocaust Remembrance in Swiss and Transnational Perspectives
Böhlau Verlag wien köln weimar
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch : Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen VSJF Paul Grüninger Stiftung Stiftung Irène Bollag-Herzheimer Privater Freundeskreis der Universität Haifa
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Herausgebrochenes Gestein im Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof Bern. Künstler: Oskar Weiss. Foto: Fabienne Meyer 2020 Korrektorat : Christoph Landgraf, St. Leon-Rot Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3412-52162-2
Inhalt
Vorwort der Herausgebenden.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Maoz Azaryahu / Ulrike Gehring / Fabienne Meyer / Jacques Picard / Christina Späti
Der Namenlosen gedenken, dem Vergessen entrinnen. Debatten, Formen, Orte und Weisen der Erinnerung an den Holocaust. Eine Einleitung mit Anmerkungen zur grenzüberschreitenden Vielfalt in der Gedächtniskultur .. 15
WEGE ZU EINER REFLEXIVEN ÄSTHETIK : ERZÄHLWEISEN DER LEERE UND ABSENZ / WAYS TO A REFLEXIVE AESTHETIC: NARRATIVES OF EMPTINESS AND ABSENCE Jacques Picard
Liturgie, Poetizität, Visualität. Eine Reflexion zu Bildern und Erzählweisen im Shoah-Gedenken.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Ulrike Gehring
Leere als symbolische Form. Zur Erfahrbarkeit des Unsichtbaren und nicht mehr Existenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Joel E. Rubin
Between Authenticity and Aestheticizatio. Musical Responses to the Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Klaus-Michael Bogdal
Erinnerungen von Sinti und Roma an Diskriminierung, Verfolgung und Völkermord im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
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Inhalt
SHOAH- UND HOLOCAUSTERINNERUNG ZWISCHEN SICHT- UND UNSICHTBARKEIT / SHOAH AND HOLOCAUST REMEMBRANCE BETWEEN VISIBILITY AND INVISIBILITY Judy Tydor Baumel-Schwartz
Individual and Communal Holocaust Commemoration in Israel . . . . . . . . 121 Anna Minta
Präsenz der Leere. Ästhetische Formen des Holocaust-Gedenkens im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Maoz Azaryahu
Street Naming and Shoah-Remembrance. The Case of Tel Aviv-Yafo . . . . . . 149 Fabienne Meyer
Monumentales Gedächtnis. Shoah-Denkmäler in der Schweiz.. . . . . . . . . 161
NARRATIVE DER HILFE, RETTUNG UND OHNMACHT / NARRATIVES OF HELP, RESCUE AND POWERLESSNESS Sara Kviat Bloch
Danish Narratives of Rescue and Escape. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Helena Kanyar Becker
Unsichtbare Helferinnen ? In Erinnerung an fast alltägliche Frauen . . . . . . . 205 Nadav Kaplan
Raoul Wallenberg’s Commemoration in Sweden, Hungary, and Israel. A comparative analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Kaspar Surber
Flankenläufe in die Zukunft. Das Gedenken an Paul Grüninger in seiner Heimat- und Grenzregion.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Daniel Gerson
Zeichen und Namen. Yad Vashem, die Schweiz und die „Gerechten unter den Völkern“.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Inhalt
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DIE ERINNERUNG ERZÄHLEN : ZEITZEUGENSCHAFT UND WEGE ZUR VERMITTLUNG / NARRATING MEMORY: CONTEMPORARY WITNESSING AND WAYS OF COMMUNICATING Anna Fersztand
Jakub, 115110, Jake, Jacques, Jakob. Eine vorläufige Mitteilung über die Spurensuche der dritten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Barbara Bonhage
Die Geschichte(n) erzählen. Biografische Holocausterinnerungen der dritten Generation in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Sabina Bossert
Zwischen Emotionen und Erläuterungen. Eine Reflexion über die Rolle der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Erik Petry
Holocaustüberlebende in Schweizer Spiel- und Dokumentarfilmen. . . . . . . 299 Peter Gautschi
Umgang mit dem Thema „Holocaust“ im digitalisierten Unterricht. . . . . . . 315
HISTORISCHE GERECHTIGKEIT : INTERFERENZEN EINES TRANSNATIONALEN THEMAS / HISTORICAL JUSTICE: INTERFERENCES OF A TRANSNATIONAL TOPIC Balz Spörri (Mitarbeit : René Staubli und Benno Tuchschmid)
Schweizer Opfer des Nationalsozialismus. Auf der Suche nach den Vergessenen und Verdrängten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Regula Ludi
Die Schweizer NS-Opfer und das organisierte Vergessen. . . . . . . . . . . . . 349 Hans-Lukas Kieser
Gedenken an den Armeniermord und den Holocaust. Öffentliche Wahrheit als Kern historischer Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
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Inhalt
Walter A. Stoffel
Wahrheit und Negationismus im Recht und im Film . . . . . . . . . . . . . . . 387
ÖFFENTLICHE WAHRHEIT UND GEDENKEN IN DER SCHWEIZ / PUBLIC TRUTH AND REMEMBRANCE IN SWITZERLAND Marc Perrenoud
Kontext, Kritiken und Nachhaltigkeit des Bergier-Berichtes . . . . . . . . . . . 407 Wulff Bickenbach
Grüningers Schicksal auf dem Weg zur Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . 433 Christina Späti
Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Erforschung der Schweizer NS-Opfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 René Staubli/Benno Tuchschmid (Mitarbeit : Balz Spörri)
Zwischen Internet und Stolpersteinen. Eine Reflexion zu den Möglichkeiten und Vorhaben einer angemessenen Erinnerung an Schweizer Opfer des Nationalsozialismus.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Valérie Arato Salzer / Erich Bloch / Sabina Bossert / Hannah Einhaus / Remo Gysin / Fabienne Meyer / Erik Petry / Gregor Spuhler / Herbert Winter
Ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus . . . . . . . . . 477 Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Autor*innenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Vorwort der Herausgebenden
The way in which the Holocaust and the Second World War are remembered and the many forms and debates that have emerged from this contemporary field have also left their mark on Switzerland. However, the “monuments” that exist in that non-occupied country are not only material ones. What may be discovered is also evident in musical and literary works, biographies and self-testimonies, feature films and documentaries, celebrations and rituals, landscapes, teaching materials and school lessons, as well as in debates about demands for restitution, recognition, or rehabilitation. This book presents different aspects and forms of cultural remembrance, and at the same time it addresses a plea for a transnational reading of Holocaust remembrance. From the knowledge that crosses semantic and territorial borders, there is much to be learned for one’s own purposes. For this reason, this anthology takes its lift-off from Switzerland, but also presents insights and examples that touch many of Danish, German, Israeli, Austrian, Swedish or Hungarian concerns. Dieses Buch vereint Beiträge von dänischen, deutschen, israelischen, österreichischen und schweizerischen Autorinnen und Autoren. Es stellt unterschiedliche Aspekte und Modi der kulturellen Erinnerung vor und dokumentiert zudem ein Plädoyer der grenzüberschreitenden Lesart von Holocaust-Gedenken. Entscheidend war den Herausgebenden, dass nicht nur Denkmäler im monumentalen oder materiellen Sinn thematisiert werden, sondern aufgezeigt wird, dass auch durch so unterschiedliche Vermittlungsträger wie Musik, Literatur, Spiel- und Dokumentarfilme, aber auch durch pädagogische Arbeit oder sogar medial dargestellte Gerichtsverfahren Erinnerung geschaffen wird. Dass diese Vermittlungsträger zunehmend grenzüberschreitend hervorgebracht und rezipiert werden, lässt sich gerade am Beispiel der Schweiz ablesen. Der Anlass zur Herausgabe dieses Buches war anfänglich den Fragen und Debatten geschuldet, die durch die Forderung der Auslandschweizer-Organisation nach einem nationalen schweizerischen Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus angestoßen wurden. Dabei soll aus guten Gründen, wie in der Einführung zu diesem Buch vermerkt wird, ein Denkmal errichtet werden, das über die Landesgrenzen der Schweiz in das europäische und globale Umfeld hinausweist. Umgekehrt führt ein Projekt – das in Deutschland entstandene Konzept der „Stolpersteine“ zur Erinnerung an die Depor-
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Vorwort der Herausgebenden
tierten und Ermordeten der NS-Zeit auch in der Schweiz zu realisieren – von außen in die helvetische Landschaft hinein. Zwar war die Schweiz während der Kriegsjahre kein von Deutschland oder Italien besetzter Staat und hat keine Deportationen im Rahmen der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gekannt. Doch zeigt sich an den im Ausland der Gewalt ausgesetzten Schweizerinnen und Schweizer, dass inzwischen auch hier das Gedenken an diese Opfer zum Thema wird, zumal Fragen des Rechts- und Opferschutzes in der Aufarbeitung dieser Geschichte grenzüberschreitend aufgeworfen werden. So erweist sich selbst die nationale Erinnerungspolitik als Denkfigur, bei deren Beschreibung nicht an Grenzen Halt gemacht werden kann, weil einst diese Grenzen ein dezisiver Ort waren, an dem sich Leben und Tod von Flüchtlingen entscheiden konnten. Dass im Weiteren Protagonisten wie Paul Grüninger und Carl Lutz, die als Lebensretter heute für Zivilcourage und Menschlichkeit stehen, international hochgeachtet werden, belegt, dass sich aus einem Grenzen überschreitenden Wissen einiges für die eigene Disposition lernen lässt. Die Produktion von nationalen Narrativen über die Zeit der Jahre 1933 bis 1945 und danach, wie sie etwa von Kleinstaaten wie der einst kriegsverschonten Schweiz oder dem besetzten Dänemark hervorgebracht wurden, kann beispielgebend dafür stehen, die lokalen Entstehungsbedingungen und den Druck äußerer Kräfte entlang der darüber geführten Diskurse zu reflektieren. Unser Buch erhebt allerdings nicht den falschen Anspruch, eine zu einer Theorie synthetisierte Folgerung zu präsentieren oder den kaum sinnvollen Versuch zu machen, zwischen dem Gedenken in unterschiedlichen Staaten urteilend vergleichen zu wollen. In der nachfolgenden Einleitung werden lediglich einige Anmerkungen zu den Theorien und Praxen der Erinnerung angesprochen. Vielmehr lenken wir die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt an Formen der Erinnerung und Weisen des Gedenkens. Dazu gehören die Wege der pädagogischen Vermittlung, die Darstellung von Rechtsfragen in Filmen, das Schreiben von Gedichten, Liedern und Prosatexten oder das Komponieren von Musik und entsprechenden musikalischen Aufführungspraxen. Das Vorhandensein von kleinen Denkmälern und intimen Formen des Gedenkens in Israel und der Schweiz, wie sie hier ebenfalls zur Sprache kommen, zeigt, dass auch die materiellen Miniaturen des Erinnerns von erheblicher Bedeutung sowohl für Individuen und Familien sind, aber erst durch die Akzeptanz seitens des Staates gesellschaftliche Bedeutung hervorbringen. In Kontrast dazu stehen die staatlich verordneten, zumeist monumentalen Formen des Gedenkens, die in Gestalt von Mahnmalen und Architektur sich oft ähneln und anonym wirken. Deswegen sind sie auch hinsichtlich ihrer ästhetischen wie semantischen Aussagen kritisch zu befragen und zu reflektieren. Die Benennung von Plätzen und Straßen, namentlich nach mutigen Rettern, ist ein weiteres Beispiel, wie sich in diffe-
Vorwort der Herausgebenden
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renten lokalen Kontexten eine politisch intendierte Kultur der Erinnerung ausgebildet hat, die überall vorfindbar ist. Von besonderer Bedeutung sind die Bemühungen, die Namen derer, die ermordet und zu Asche wurden, wiederzufinden, sie aufzuschreiben und ihrer zu gedenken. Wir üben also den Blick auf sehr unterschiedliche Träger und Vermittlungsformen der kulturellen Erinnerung, und dies an unterschiedlichen Orten und in differenten Kontexten. Es geht uns sehr entschieden darum, diese Vielfalt an Modi und Formen der Vermittlung als Ganzes ins Bewusstsein zu heben. Wenn heute Menschen von „Gedenken“ sprechen, denken sie oft, wenn nicht zumeist an monumentale Architektur oder an die rituelle Abhaltung von Feiern in liturgisch anmutenden Andachtsformen. Wir gehen mit diesem Buch einen etwas anderen Weg, indem wir den Fokus ebenso sehr auf die sonst eher beiläufig oder in Spezialdisziplinen verortbaren Formen legen – jene hier genannten Modi der Erinnerung, die in unserer Kultur auffindbar sind und sie schon immer geprägt haben. Der Leser, die Leserin kann sich vielleicht mit unserem Buch bewusst machen, dass es angemessen ist, diese Vielfalt immer wieder als bedeutsam zu beherzigen und über deren jeweils eigenen Charakteristika nachzudenken. Denn letztlich geht es bei diesen divergierenden Gedenkformen um einen Kern der Erinnerung : die Restitution der Namen derer, die ermordet wurden und uns ihre Geschichte nicht erzählen konnten, und um den Respekt denen gegenüber, die als Augenzeugen überlebt haben und uns dankenswerterweise berichten können und konnten. Ihre Namen, die an die Stelle der anonymen Leere treten, aber die unwiderrufliche Absenz ihrer Träger bezeugen, werden vielleicht hörbar, wenn die Vielfalt der Erinnerungsmodi und ihrer spezifischen Medien als Ganzes wahrgenommen werden. Wir als Herausgebende hoffen dazu beizutragen, dass der Kern des Gedenkens, das Nachdenken über die Menschenwürde der Ermordeten und der Nachgeborenen, in vertiefender Weise wahrgenommen und in der Vielfalt der Weisen und Formen aufrechterhalten werden kann. Das Vorhaben, diesen Sammelband zu publizieren, ist aus verschiedenen Projekten erwachsen : Am Anfang stand eine Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Basel und Trier zum Verhältnis von ästhetisch inszenierter Leere und deren semantischer Aufladung in Gedenkmalen zum Holocaust, dann eine Forschungsarbeit an der Universität Zürich über Shoah-Denkmäler in der Schweiz, schließlich kamen Fragen zur dokumentarischen und künstlerischen Aussage in Fotografien und im öffentlichen Raum in Projekten der Universität Haifa hinzu, ebenso die Bemühungen der freien Forschung und der Universität Fribourg um die Klärung zu Schweizer NS-Opfern sowie Debatten um die rechte Form des Gedenkens an diese Opfer heute. Die Einleitung zu diesem Buch wurde von Jacques Picard, der diese Publikation initiiert
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Vorwort der Herausgebenden
hat, gemeinsam mit Fabienne Meyer abgefasst und von den weiteren Mitherausgebenden redaktionell begleitet. Die Fotografien des Vorworts und der Einleitung stammen aus einem Begleitband zur Ausstellung Sichronot, Erinnerungen, Memories des Fotokünstlers Olaf Schlote an der Universität Haifa. Der Sammelband ist durchzogen von zahlreichen weiteren Fotografien und Abbildungen, die ein eigenes Medium darstellen, Erinnerungen festhalten zu können. Die jeweiligen Urheber sind in den Bildlegenden festgehalten. Ihnen allen gebührt spezieller Dank für die Mitgestaltung dieses Sammelbandes. Dank geht auch an Tobias Eichelberger vom Studio bergerberg, der die Überblickskarte der Shoah-Denkmäler im Anhang dieses Buches gestaltet hat. Die Herausgebenden danken den Autorinnen und Autoren sehr herzlich für ihr Mittun an diesem Projekt. Ebenso gilt unser Dank den Herausgebenden dieser Buchreihe, Franziska Metzger und Dimiter Daphinoff, sowie Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau Verlag. Die Drucklegung wurde in dankenswerter Weise durch Beiträge der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer und der Paul Grüninger Stiftung sowie durch Beiträge aus einem deutschen Freundeskreis der Universität Haifa ermöglicht. Ebenso danken wir dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) für seine Unterstützung. Der Steuerungsgruppe für ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus danken wird dafür, dass sie ihr Konzept in diesem Sammelband abdrucken lassen. Im Weiteren danken wir den folgenden Personen : Zsolt Balkanyi-Guery, Angelo Barrile, Ruth Dreifuss, Remo Gysin, Barbara Haering, Stefan Keller, Jonathan Kreutner, Ivan Lefkovits, Markus Lüscher, Christa Markovits, Cecile, Raphael und René Meyer, Gabrielle und Roman Rosenstein, Emil, Lotta und Marie-Claire Sachs, Bernhard Schaer, Peter und Susi Scheiner, Gregor Spuhler, Res Strehle, Daniel Thürer, Kaspar von Greyerz, Anita und Herbert Winter sowie François Wisard. Während der Entstehung dieses Buches ist mit Gabor Hirsch ein weiterer Holocaustüberlebender verstorben. Ihm und vielen weiteren Überlebenden, die in der Schweiz lebten und von uns gegangen sind, gilt unser Andenken.
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Reflexionen I. Fotografie von Olaf Schlote aus der Ausstellung an der Universität Haifa 2020 und dem Begleitband Memories – Erinnerungen – Sichronot. © Olaf Schlote
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Abb. 1 : Auschwitz 2019. Fotografie von Olaf Schlote aus der Ausstellung an der Universität Haifa 2020 und dem Begleitband Memories – Erinnerungen – Sichronot. © Olaf Schlote
Maoz Azaryahu / Ulrike Gehring / Fabienne Meyer / Jacques Picard / Christina Späti
Der Namenlosen gedenken, dem Vergessen entrinnen Debatten, Formen, Orte und Weisen der Erinnerung an den Holocaust. Eine Einleitung mit Anmerkungen zur grenzüberschreitenden Vielfalt in der Gedächtniskultur Vergangenheitspolitik und Geschichtsschreibung sind Teil einer Kultur der Erinnerung, die nicht allein eine Aussage über unsere Vorstellung der Vergangenheit enthält, sondern auch über unseren Wunsch, die eigene Gegenwart in einer bestimmten Weise zu deuten. Denn „Menschen nehmen ebenso als beteiligte Akteure wie auch als Erzähler Anteil am Gang der Geschichte“, wie Michel-Rolph Trouillot über das Erinnern und Vergessen anmerkt.1 Geschichte und Geschichten konstituieren sich immer auch aus den Blick- und Schwerpunkten des Geschichtenerzählers. Unser Erinnern – wie auch unser Vergessen – wird gerade angesichts einer katastrophenartig sich auswirkenden Zeitepoche von wirkungsmächtigen Bildern durchzogen und durch die Präsenz der oft namenlosen Toten bestimmt. Im Resümee zu seinem Buch Die Erfindung der Nation vermerkt Benedict Anderson, dass „die Biografie der Nation den sich unbarmherzig anhäufenden Friedhöfen […] beispielhafte Selbstmorde, ergreifende Martyrien, Attentate, Exekutionen, Kriege und Völkermorde“ entreiße. Um einem narrativen Zweck zu dienen, müsse dieses gewaltsame Sterben jedoch als jeweils „unser eigenes“ erinnert werden.2 Auch Jules Michelet hat darauf hingewiesen, dass die Lebenden die Toten immer wieder aus ihren Gräbern holen, um ihnen ein zweites Leben zu verleihen, indem ihrem Tod eine neue Bedeutung zugewiesen wird.3 Und Idith Zertal schreibt : Der Tod ist niemals eine definitive Angelegenheit. […] Die Toten bevölkern die Gegenwart und übernehmen darin eine Rolle, je nachhaltiger sie durch die Lebenden, die ihr eigenes Leben auf die Toten projizieren und aus deren Tod persönliche Lehren ziehen, erinnert und zum Sprechen gebracht werden.4
1 Trouillot, Silencing the Past, Power and the Production of History, S. 2. 2 Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 178. 3 Michelet, Oeuvres complètes, S. 268. 4 Zertal, Nation und Tod, S. 9.
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Wollte man diese Einsicht auf die moderne Schweiz und ihre Gesellschaft münzen, stehen wir vor Grenzen. Aus den sich „unbarmherzig anhäufenden Friedhöfen“ lassen sich Fragen nach der eidgenössischen Flüchtlingspolitik oder nach den nachrichtenlosen Konten in Banken und Versicherungen beziehen, nicht aber dramatische Narrative über das Schicksal von Schweizerinnen und Schweizern, die der Erinnerung und so der nationalen Selbstvergewisserung dienen. Die Schweiz kennt wenige „eigene“ Tote – mit Ausnahme jener Schweizerinnen und Schweizer, die Opfer der NS-Verfolgung im Ausland wurden oder jener Soldaten, die aufgrund von Verteidigungsleistungen in den beiden Aktivdiensten im 20. Jahrhundert ihr Leben ließen.5 Die als Landesverräter Abgeurteilten, die erschossen wurden, sind hingegen der Vergessenheit anheimgefallen. Was jedoch mehr und mehr in den Vordergrund trat, waren jene Opfer, die als Schutzsuchende an der Schweizer Grenze zurückgewiesen und zumeist in den Tod deportiert worden waren. Die Politik und Praxis ihnen gegenüber wurde mit dem Buch von Alfred A. Häsler „Das Boot ist voll“ (1964) zum Thema, der Titel dieses Buches, ein Zitat aus dem Jahr 1942, gar zur tragenden Erinnerungsmetapher. Als mit den „Diamant“-Feiern von 1989 landesweit die Erinnerung an die Mobilmachung der Armee vom September 1939 gefeiert und damit der Ausbruch des Krieges erinnert werden sollte, kontrastierte dies mit dem Skandalon, wie es wenige Jahre später zur Debatte stand – die Verstrickungen der Schweiz mit dem NS-Machtbereich. Kaum Berücksichtigung in der Erinnerungsarbeit zur Kriegszeit hatten bis anhin die Frauen gefunden, so auch jene Helferinnen und Retterinnen, die den Schutzsuchenden beigestanden waren, wie der Beitrag von Helena Kanyar Becker in diesem Buch zeigt.6 Jedoch wie in jedem anderen Staat auch, ist der Prozess des öffentlichen Erinnerns in der Schweiz in Übereinstimmung mit ihren herrschenden Mythen, Idealen und aktuellen Bedürfnissen vollzogen worden – um eine allgemeine Einsicht von James Young zu zitieren.7 Erinnerungen können dabei als Prozesse im Rahmen eines sozio kulturellen Umfelds betrachtet werden, die sich in einem durch die Kultur geformten und geprägten kollektiven Gedächtnis äußern, wie es der in Auschwitz ermordete
5 Die allermeisten verstorbenen Schweizer Soldaten sind hingegen den grassierenden Krankheiten, Unfällen oder Suiziden zum Opfer gefallen und lassen sich heute nur mehr mit Mühe als Schweizer „Opfer“ oder als Kriegsgefallene bezeichnen. 6 Der „Opferwille“ der Frauen insgesamt, wie es nach 1945 hieß, wenn die Situation der Schweizerinnen in den Kriegsjahren zur Sprache kam, steht als Argument mit der lang verweigerten Gewährung des Stimm- und Wahlrechtes ohnehin in einem merkwürdigen Missverhältnis. Zur Geschichte der Frauen in der Schweiz vgl. Mesmer, Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. 7 Vgl. Young, The Texture of Memory.
Der Namenlosen gedenken, dem Vergessen entrinnen
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Maurice Halbwachs konzipierte.8 Erinnerungen sind demnach „eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten […]“.9 Im Gedächtnis erscheint das Vergangene nicht starr als Wirklichkeit „wie es eigentlich gewesen“ sei,10 sondern vielmehr als eine Rekonstruktion aus der Perspektive und unter den Parametern der Gegenwart. Und schlussendlich bleibt nur das von der Vergangenheit bewahrt, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.“11 Aus solcher Einsicht haben sich seit den späten 1980er-Jahren die Gedächtnisforschung und die Beschäftigung mit Konzepten wie kollektivem Gedächtnis oder Erinnerungsorten intensiviert. Die Masternarrative, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den europäischen Ländern etabliert hatten und vor allem auf das je eigene Opfer- und Heldentum oder die Wehrhaftigkeit abzielten, wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren überarbeitet und durch neue Erkenntnisse und Schwerpunkte ergänzt. Die Frage nach der Mitverantwortung einzelner Länder an den Verbrechen des Nationalsozialismus stand im Zentrum dieses Wandels und führte einen neuen, selbstkritischen Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust herbei. Sie führte auch, wie Daniel Levy und Nathan Sznaider schreiben, zur „Herausbildung einer neuen ‚Schicksalsgemeinschaft‘, die sich nicht mehr durch ‚nationale‘ Erfahrungen allein definiert, sondern die eine der zentralen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zum Anlass nimmt, neue gemeinsame Bezüge jenseits des Nationalstaats herzustellen.“12
Die ab 1995 intensivierten Diskussionen um die nachrichtenlosen Vermögenswerte in der Schweiz sind Teil dieser veränderten Diskurse in Europa.13 Die unvermuteten Brisen und der Druck aus dem Ausland streiften in der Schweiz zwar nochmals die knirschenden Geister der Abwehrhaltung und des Kalten Krieges samt seinen Januswelten. In der als „Krise“ und „Kniefall“ empfundenen Situation kam schlussendlich 8 Vgl. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 2 : „Aber unsere Erinnerungen bleiben kollektiv und werden uns von anderen Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen – selbst dann, wenn es sich um Ereignisse handelt, die allein wir durchlebt und um Gegenstände, die allein wir gesehen haben.“ 9 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 55. 10 Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, S. VII. 11 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 390. 12 Levy/Sznaider, Erinnerung, S. 17. 13 Die Erledigung der in den 1950er-Jahren abgewickelten Frage der Kriegsschulden hatte die Frage der Restitutionen und Entschädigung der Opfer ignoriert. Jetzt stand diese Frage auf der Agenda und sie wurde und wird, weltweit gesehen, andernorts und in anderen Fällen auch gestellt.
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jedoch eine „verweigerte Erinnerung“ an die Opfer – Tote wie Überlebende – zutage und die fehlende, weil „vergessene“ Anerkennung der Gerechtigkeit, die ihnen entgegen zu bringen war. Mit der Schaffung der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK) im Jahr 1996, der sogenannten Bergier-Kommission, ausgestattet mit ungewöhnlichen Rechtsmitteln, setzte die Schweizer Politik ein erhebliches Zeichen. In der Kommission fand sich dann auch eine Mehrheit, die nebst zwei Zwischen- und einem Schlussbericht auch die zahlreichen Spezialstudien ihrer mandatierten oder angestellten Autorinnen und Autoren zu publizieren bereit war und so einen wissenschaftlichen Ertrag von rund 12.000 Seiten sicherte.14 Die Aufgabe der Kommission war nicht leicht. Dem NS-Regime war daran gelegen gewesen, die von ihm beherrschten oder hegemonisierten Staaten in eine gleichsam schuldproduzierende Teilnahme an Raub und Genozid einzubinden – durch politische, organisatorische oder wirtschaftliche Beteiligung an der Vernichtung, die unter besatzungspolitischen Bedingungen durchgeführt wurde. Kein Wunder, dass nach 1945 vielerorts die Aufarbeitung der einstigen Verstrickung nur zähflüssig oder überhaupt nicht zustande kam, was auch als „zweite Schuld“ bezeichnet worden ist.15 Wie also wollte sich hier die Schweiz, die nicht besetzt gewesen und deren Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich antinazistisch eingestellt waren, eine Verstrickung in die europäische Geschichte erklären ? Und wie würde sie mit den legitimen Interessen der Opfer und hier besonders schweizerischer Opfer der NS-Täter umgehen ? Welche Bilder der Vergangenheit würden als Cover für die Abwicklung von möglichen Schuldanteilen in der Nachkriegswelt dienen ? Diese Fragen wurden erst später, ab den 1990er-Jahren in drängender Dichte gestellt. Sie sind Teil eines moralischen turns, einer Bewegung hin zu Restitutionen von Ressourcen und zur Anerkennung von vergessen gemachten oder ins Unrecht gestürzten Kulturen auf internationaler Ebene, was sich auch in einer Intensivierung historischer Forschungen zeigt.16 Beispiele : In den USA wurde den japanisch-stämmigen US-Bürgern kollektive Entschädigung dafür in Aussicht gestellt, dass die USA sie im Zweiten Weltkrieg zu Tausenden von der Westküste weg deportiert und im 14 Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht. Die Kommission veröffentlichte 25 Studien und Beiträge zur Forschung, die unter dem Reihentitel „Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ im Chronos Verlag Zürich erschienen sind. Vgl. dazu auch die Beiträge von Jacques Picard, Hans Michael Riemer, Rolf Bloch und Barbara Haering in : Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, Jüdische Lebenswelt Schweiz, S. 391–451. 15 Vgl. Giordano, Die zweite Schuld. 16 Vgl. Mattioli, Verlorene Welten ; Zeuske, Handbuch Geschichte Sklaverei ; N’Diaye, Der verschleierte Völkermord ; Fässler, Reise in Schwarz-Weiss.
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Landesinnern zwangsinterniert hatte. Komplexe Restitutions- und Entschädigungsverfahren galten den Native Americans, den „Indianern“, die vor der ihnen lange verweigerten Erteilung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft (1924) einen erheblichen Leidensweg hinter sich hatten. Juristisch kompliziert sind die Fälle der zumeist afrikanischen Sklaven, für die in individuellen Fällen Entschädigungen ausgesprochen wurden. Ähnliche Anliegen wurden von den Aborigines und Maori gegenüber Australien und Neuseeland laut, oder von südkoreanischen Frauen gegenüber Japan als ehemaliger Besatzungsmacht. Dies sind Beispiele zu Fragen der Entschädigung für individuelle Opfer oder deren Nachkommen. Sie stehen indes in einem Kontext, der das kollektive Gedenken in öffentlichen Diskursen und Räumen anrührt. An vielen Orten der Welt kehrten und kehren die Toten wieder, um den Lebenden als Mahngrund für moralische Gerechtigkeit und für politische und symbolische Anerkennung zu dienen. Ein Sonderfall ist das Schweizer Beispiel nicht. Die Nachkriegsjahrzehnte waren in Europa allgemein von einer national verengten Wahrnehmung der NS-Zeit geprägt.17 Eine frühe nachkriegszeitliche Darstellung über den Holocaust, Der Weg nach Majdanek von Benjamin Sagalowitz, der in der Schweiz während der NS-Epoche in Europa den Genozid dokumentiert hatte und zur weltweiten Verbreitung des Wissens da rüber beitrug, blieb unveröffentlicht und ruht bis heute im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich.18 Die offizielle Schweiz tat sich nach 1945 schwer, das Ende des Krieges als Befreiung von einer verbrecherischen Diktatur zu verstehen. Das Argument der Neutralität bediente oft das Ausblenden von Themen, sodass es als eine Funktion des Vergessens erscheint.19 Noch im Mai 2020 verpasste es die Schweizer Bundespräsidentin, wenigstens in einer Erklärung zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa ein Zeichen des Gedenkens und der Dankbarkeit zu setzen, was etwa mit der Erklärung des Ministerpräsidenten des neutralen Schwedens merkwürdig kon trastiert. Die Schweiz ist auch nicht auf der Liste der 76 Staaten zu finden, die 2020 17 Vgl. Jost, „Interpretationsmuster zum Nationalsozialismus“. 18 Sagalowitz, Weg nach Majdanek [1947, unveröffentlicht, Druckfahnen im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich]. Sagalowitz war seit 1936 Pressechef des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes und in der Nachkriegszeit Berichterstatter zu den Nürnberger Prozessen und zum Eichmann Prozess in Jerusalem. Vgl. Keller, Abwehr und Aufklärung. 19 Die Verwendung des Begriffs „Neutralität“ kommt einer nach 1945 geübten Strategie der Kontinuitätsbeschaffung gleich. Sie schirmte vor unangenehmen Fragen zur Geschichte und Gegenwart ab. „Neutralität“ war ein Argument, die Legitimität der damals dominierenden Eliten zu stützen und ihnen das gewünschte Vergessen ihrer eigenen Rolle in der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Jahre 1933 bis 1952 zu beschaffen. Sie begünstigte eine Metaphorik, die bei der Produktion von Erinnerung in den staatlich organisierten Vergangenheitsbeschreibungen die Rasterung durch geglaubte Neutralitätserfordernisse gewährleistete. Vgl. Picard, „Die Schweiz auf der ‚Zuschauerbank‘ der Geschichte ?“.
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unter estnischem Vorsitz im Rahmen der UNO an einer Gedenkfeier zum Kriegsende von 1945 partizipierten.20 Der St. Galler Ständerat Paul Rechsteiner drückte als Mitglied des Schweizer Parlaments seine langjährige Erfahrung zur Geschichts- und Erinnerungspolitik, vor allem bezüglich der Verbrechen des Nationalsozialismus in Europa, wie folgt aus : „In der Schweiz gibt es einen seltsamen Unwillen, sich mit dem Offensichtlichen in der jüngeren Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das ist eigenartig für ein Land, das seine Identität so stark auf die Geschichte gründet“.21 Das Vergessen – oder der Unwille sich auseinanderzusetzen und an den Zivilisationsbruch zu erinnern – war und ist indes in vielen Regionen dieser Welt eine als bewährt angesehene Strategie der „Bewältigung“ des Vergangenen im Gegensatz zu dem heute geltenden, hoch gehandelten Primat der Erinnerung. 1946 hatte Winston Churchill in seiner Zürcher Rede über die Zukunft Europas noch zu einem „segensreichen Akt des Vergessens“ aufgerufen und solcherart eine Strategie der Befriedung und der Amnestien empfohlen.22 Gegenteilig dazu der Satz von Mei Ru’ao aus dem gleichen Jahr, als dieser Richter am Internationalen Tribunal in Tokyo, das über Kriegsverbrechen urteilte, sagte : „Das Leiden der Vergangenheit zu vergessen führt zu Unheil in der Zukunft“.23 Doch erst nachdem sich ein Bewusstsein für das Unsagbare eines „Zivilisationsbruchs“ wie dem Holocaust und weiterer Genozide entwickelt
20 Vgl. Republic of Estonia. High-level meeting on the 75th anniversary of the end of World War II in Europe : https://vm.ee/en/high-level-meeting-75th-anniversary-end-world-war-ii-europe, letzter Zugriff : 14.10.2020 ; Estland führte 2020 den Vorsitz des UN-Sicherheitsrates, in welchen sich die Schweiz nunmehr empfehlen möchte. Die Erklärung des schwedischen Ministerpräsidenten siehe : https://www.go vernment.se/government-policy/remember--react/, letzter Zugriff : 14.10.2020. Vgl. im Weiteren auch das „Joint statement“ der Außenminister von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, der Tschechischen Republik und der USA : https://www.state.gov/joint-statement-on-the75th-anniversary-of-the-end-of-the-second-world-war/, letzter Zugriff : 14.10.2020. 21 Amtliches Bulletin, Ständerat, Sommersession 2020, Sitzung vom 3. Juni betreffend Interpellation 20.3099 „75 Jahre Kriegsende. Gedenken und Zeichen der Dankbarkeit“ vom 12. März 2020 : https:// www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen ?SubjectId=48978, letzter Zugriff : 14.10.2020. Bemerkenswert ist, dass der Bundesrat der Interpellation mit Hinweisen auf Tätigkeiten im Rahmen der UNO begegnet, an deren (oben erwähnter) Gedenkfeier er eben gerade nicht teilnahm. Immerhin hätte er darauf verweisen können, dass die Bundespräsidentin im Januar 2020 als symbolische Geste Holocaustüberlebende zu einem Empfang eingeladen hatte. Im Weiteren vgl. auch Keller, „Der achte, der neunte, der zehnte Mai“. WOZ, 07.05.2020 : https://www. woz.ch/2019/genozid-weltkrieg-und-schweizer-schuld/der-achte-der-neunte-der-zehnte-mai, letzter Zugriff : 14.10.2020. 22 Vgl. Garton Ash, „Mesomnesie“, S. 40. 23 Ru’ao, „The Nanking Massacre“, S. 250 : „To forget the suffering of the past is to be vulnerable to the future“, (übersetzt von Jacques Picard). Zur Einordnung vgl. auch Lingen, Transcultural Justice at the Tokyo Tribunal.
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hatte, hat sich bis heute zwar mühsam, doch deutlich ein Wandel in der Gedächtniskultur vollzogen. Im Rückblick gingen Vergessen und Erinnern als politische Praktiken Hand in Hand. Kenntlich ist das etwa an den Frankfurter Auschwitz-Prozessen und dem Eichmann-Prozess in Jerusalem geworden. Unsere westlichen modernen Gesellschaften scheinen heute das Erinnern an den Holocaust zu einem neuartig anmutenden Imperativ gemacht zu haben, der gegen das Verschweigen der Täter und das von Traumata verursachte Verstummen der Überlebenden verordnet wird. Dass dies in Bezug auf den Umgang mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht generell behauptet werden kann, zeigt der Beitrag von Hans-Lukas Kieser in diesem Buch : In der bis heute anhaltenden Auseinandersetzung um die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern und dessen Gedenken stehen sich dieser Erinnerungsimperativ und die Weigerung, sich ihm zu unterziehen, gegenüber. Historisch ist der Mord an den Armeniern in einer Genozidgeschichte des 20. Jahrhunderts zu verorten, deren Auftakt bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg liegt.24 Genozide sind aber auch ein Bestandteil der Geschichte des Kolonialismus und namentlich des Sklavenhandels, der sich in historischer Perspektive an europäischen wie arabischen Macht- und Einflussbereichen belegen lässt. Das „Vergessen“ von Tätern oder Opfern ist nicht bloß die negativ konnotierte Kehrseite der Erinnerung und „Erinnerung“ allein ist auch keine segensreich auszuweisende Schaffung von Anerkennung und Gerechtigkeit. Die Opfer von Verfolgung werden eben nicht bloß „vergessen“ oder in einer bestimmten Weise „erinnert“, wie Constantin Goschler, Paul Connerton, Paul Ricoeur und weitere vermerken, sondern ihr Ein- oder Ausschluss aus der politischen Anerkennung und aus dem kulturellen Gedächtnis ist als eine Folge gezielter politischer Handlungen zu verstehen.25 Es ist mithin der Staat, der durch seine Macht der Benennung, der Klassifikation und der Gestaltungskompetenz einen Kanon dessen, was es zu erinnern und was es zu vergessen gilt, durchsetzt – oft genug auch auf dem Weg der „Einschüchterung oder Verführung, der Ängstigung oder Schmeichelei“.26 Eine Unterdrückung von Erinnerungen wird ebenso verordnet wie „Erinnerung“ im öffentlichen Raum produziert wird, zuweilen auch in Gestalt amtlicher Berichte, wie der Beitrag von Marc Perrenoud in diesem Sammelband zeigt.27 Diese aktive Praxis der Öffentlichkeit – das erzwungene Beschweigen vergangener Geschehnisse und ebenso die forcierte Schau der Erinne24 Vgl. Diner, Das Jahrhundert verstehen. Dan Diner setzt mit den Balkan-Kriegen als paradigmatisches Ereignis für das 20. Jahrhundert ein. 25 Goschler, Wiedergutmachung, S. 134 ; Connerton, „Seven Types of Forgetting“. 26 Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 684. 27 Vgl. Ludwig, Flüchtlingspolitik ; Bonjour, Neutralität ; Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht.
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rung – hatten und haben als Preis jedoch oft die Erniedrigung der Betroffenen oder deren Furcht vor Beschämung zur Folge. Zuweilen wird deshalb auch heftige Kritik laut, so wenn aus Anlass der Eröffnung des U.S. Holocaust Memorial Museums in Washington D.C. auch von „Altären des Kitsches“ oder dem „Disneyland des Schreckens“ die Rede war, oder wenn in Israel die Tendenz, die Shoah-Erinnerung zu einem mythisch-messianischen Denkgebilde zwecks Legitimierung parteilicher Ansprüche zu machen, angeprangert wird.28 Solche Ambivalenzen der Erinnerungsbeschaffung werden allgemein deutlich in Ritualen und in den zu Monumenten erstarrten Pathosformeln, mit denen sich eine Gegenwart dem historischen Ereignis entfremdet. Denn gerade Denkmäler oder Rituale bergen als Form der externen Speicherung auch die Gefahr in sich, dass das Erinnern gänzlich versteinert, ihnen überlassen und somit externalisiert wird. James E. Young stellt dazu fest : For once we assign monumental form to memory, we have to some degree divested ourselves of the obligation to remember. In shouldering the memory-work, monuments may relieve viewers of their memory burden. […] To the extent that we encourage monuments to do our memory-work for us, we become that much more forgetful.29
So kann auch forcierter Überschuss an Erinnerung paradoxerweise eine Form des Vergessens hervorbringen oder zumindest wie bei einem Trugschluss die selektiven Beschwichtigungen erzeugen, mit denen politisch Nichtvermeidbares palliativ in die Richtung des halbwegs Vergessenen gelenkt wird. Diese vergangenheitspolitische Abdämmung wurde, um das Schweizer Beispiel zu nennen, in der Frage der „Wiedergutmachung“ zugunsten der Schweizer Opfer der NS-Verfolgung geübt. In der Zeitspanne einer langen Nachkriegszeit lässt sich, wie die Beiträge von Regula Ludi und Christina Späti vermitteln, der Wandel von der früheren Auffassung von sogenannten „Wiedergutmachungen“ (mit dem zentralen Narrativ des Krieges) zu den Konzepten von beispielsweise Transitional Justice (mit dem Narrativ des begangenen Unrechts, das es zu anerkennen gilt) ablesen. Dies kann in den Zusammenhang einer gewissen, zuvor schon erwähnten Globalisierung von Restitutionen und Reparationen situiert werden.30 28 Vgl. die Kontroversen in den amerikanischen Zeitschriften Midstream und insbesondere Tikkun vom Mai/Juni 1989 mit dem Feature „A Distance from the Holocaust“, S. 45–70. In Israel ist die Debatte über eine mythische und angstbasierte Holocausterinnerung laufend im Gang, neuerdings etwa in radikaler Zuspitzung durch Omri Boehm. 29 Young, The Texture of Memory, S. 5. 30 Ludi, Reparations ; Barkan, The guilt of nations ; Brunner/Goschler/Frei, Die Globalisierung der Wiedergutmachung.
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Gewiss, die in der Schweiz geführte Debatte der 1990er-Jahre fand in einer Zeit statt, die als Ende des sogenannten Kalten Krieges und eines geteilten Europas bezeichnet wird. Die einstigen Lösungen (Washingtoner Abkommen von 1946, verworfener Vorschlag des Völkerrechtlers Paul Guggenheim 1954, Meldebeschluss von 1962) waren in den 1990er-Jahren zum Problem geworden.31 Die Schweiz hatte 1989 eben noch an die Aktivdienstzeit erinnern wollen, verfehlte aber den kulturellen Wandel, der sich im Ausland beim Gedenken an die monströsen Folgen von Krieg und Genozid vollzog. Erst nach der Jahrtausendwende trat sie endlich als einer der letzten Staaten der UNO bei, deren Ächtung von Rassismus und Genozid sie früher ratifiziert hatte. Auch das Verhältnis der Schweiz zu Europa und entsprechende strittige Europabilder waren und sind mithin ebenfalls als Deutungsangebot der Gründe für die verweigerte Erinnerung an die NS-Zeit und ihre Folgen nach 1945 ins Spiel gebracht worden.32 Indes wurde der „Fall Schweiz“ wegen der nachrichtenlosen Vermögen vor Ausschüssen des US-Kongresses vorgeführt und deren Geschichte in Gestalt von „Beweisen“ und Dokumenten präpariert, um Druck zu erzeugen.33 Politiker, Diplomatinnen, Verbände, Wachmänner, Historikerinnen, Anwälte, Verteidigerinnen des Bankengeheimnisses und Leichenfledderer bevölkerten die Bildmedien. Schweizerinnen und Schweizer erblickten : Ein internationales Committee of Eminent Persons, das Volcker-Committee, mit einem aufwändig produzierten Schlussbericht, ohne dass aber die zugrunde liegenden Revisorenberichte über die einzelnen Bankinstitute je veröffentlicht worden wären ;34 die schon erwähnte Berufung der UEK (Bergier-Kommission) ; ein unter der Leitung von Rolf Bloch tätiger schweizerischer Fonds für bedürftige Holocaust-Opfer und ihre Nachkommen, der vorab zugunsten von in Osteuropa und Russland lebenden Menschen segensreich 31 Aufschlussreich sind die Beiträge in : Tanner/Weigel, Gedächtnis, Geld und Gesetz. Im Weiteren sei angemerkt : Der Genfer Völkerrechtler Paul Guggenheim hatte in den frühen 1950er-Jahren eine Lösung zur Klärung und Befriedung von nachrichtenlos gewordenen, in der Schweiz liegenden Vermögen von NS-Opfern vorgeschlagen, bei der Schweizer Behörden, Vertreter von Schweizer Banken und Vertreter von Opferrestitutionsorganisationen in einer gemeinsamen Treuhand zusammengewirkt hätten ; vgl. Guggenheim, Die erblosen Vermögen, S. 107–120. 32 Das scheint die zentrale These von Thomas Maissen zu sein, vgl. Maissen, Verweigerte Erinnerung. 33 Vor amerikanischen Ausschüssen oder Gerichten bekommt man nicht Recht, sondern holt sich Recht, und nicht der Ort des Beklagten, sondern der Ort des Klägers kann den Stand für Verhandlungen und Gericht abgeben. Vgl. u.a.: The Disposition of Assets Deposited in Swiss Banks by Missing Nazi Victims, Hearing before the Committee on Banking and Financial Services House of Representatives, 104th Congress, 2nd session, December 11, 1996, Washington (US Government) 1997, Serial 104–76. 34 International Committee of Eminent Persons (ICEP), Report on Dormant Accounts. Die zahlreichen nicht publizierten Berichte der Revisoren zu den einzelnen Banken sind bei der Eidgenössischen Bankenkommission deponiert worden.
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wirkte ;35 zwei internationale Schiedsgerichte für die Abwicklung der Ansprüche von Holocaustopfern oder deren Nachkommen ; die Zahlung eines Geldbetrages seitens der großen Schweizer Banken, womit nahezu umfassend alle individuellen Ansprüche zugunsten jüdischer und weiterer Organisationen kollektiviert wurden, was 2020, dargelegt in einem Schlussbericht eines amerikanischen Distriktgerichts, zum Abschluss gekommen ist ;36 ein plebiszitär entsorgtes Versprechen einer Solidaritätsstiftung aus den Verkäufen von Nationalbank-Gold ; die leeren Gesten des Willens, in der Schweiz eine Holocaust Memorial Konferenz abhalten zu wollen, die in dieser Form dann in Stockholm durchgeführt und alsdann dauerhaft etabliert wurde ;37 die Irrfahrt eines künstlerisch gefertigten Holocaustmahnmals quer durch das Land ;38 und nicht zuletzt den Fall Wilkomirski, eine Shoah-Fiktion, deren Entlarvung selbst zur inszenierungsreichen Travestie geriet39 – all dies zeugt von den Ausgestaltungen und Einbildungen, von einem medial bezogenen Empfinden, man befinde sich in einer schweren „nationalen Krise“ und gleichsam in der „Stunde null“ schweizerischer Weltschöpfung. Die Debatte um die Schweiz aus Anlass der Klärungen über „Holocaustgelder“, die, so stellte sich heraus, materiell bei weitem nicht in dem medial kolportierten Umfang eruiert wurden, war mit hohen Emotionen geführt worden, zeitweise in Begriffen der Schmach und der Läuterung, der Rettung und des Verrates. Die Intensivierung des Holocaust- und Zweite-Weltkriegs-Gedenkens in den 1980er- und 1990er-Jahren hat sich bis heute im kollektiven Erbe Europas, Israels und der USA kondensiert. So durchziehen Tausende von Gedenkstätten, Monumenten, Ruinen und Museen die Landschaften. James E. Young spricht von der Verdichtung der Erinnerung an den Holocaust „zu einer Art Holocaust-Museumsboom“.40 Während die Überreste der oft fern gelegenen Konzentrationslager in den frühen Nachkriegsjahren noch als ausreichend galten, um repräsentieren zu können, was geschehen war, wurden sie nun mehrheitlich umgestaltet oder ergänzt : „An die Stelle der Denkmale aus der Zeit treten Formen gebauter Erinnerung […]. Das Denkmal an die 35 Bloch, „Anerkennung für erlittenes Schicksal“. 36 United States District Court, Swiss Banks Settlement. 37 Vgl. Koller, „Une conférence internationale“. Der Vorschlag (1998) zu einem internationalen Kongress in der Schweiz im Gedenken an die Konferenz von Evian zur Flüchtlingsfrage (1938) und die Folgen dieser Konferenz fanden keine Resonanz ; eine solche Konferenz wurde dann von Schweden mehrfach mit Erfolg durchgeführt und führte zur Bildung der späteren International Holocaust Remembrance Alliance IHRA. Das schwedische International Forum on Holocaust Remembrance and Combating Antisemitism in Malmö wurde im Jahr 2000 etabliert. 38 Skulptur „Shoah“ von Schang Hutter. Vgl. dazu auch den Beitrag von Fabienne Meyer in diesem Sammelband. 39 Zum Fall Wilkomirski/Ganzfried vgl. Mächler, „Der Fall Wilkomirski“. 40 Young, Zeitgeschichte, S. 19.
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Abb. 2: Auschwitz 2019. Fotografie von Olaf Schlote aus der Ausstellung an der Universität Haifa 2020 und dem Begleitband Memories – Erinnerungen – Sichronot. © Olaf Schlote
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Zeit löscht und transformiert das Denkmal aus der Zeit soweit, bis dieses sich ohne Bruch und Reibung in das Denkmal an die Zeit einfügt.“41 Jan Assmann will ein neues „Paradigma der Kulturwissenschaften“ beobachtet haben, das sich um den Begriff der Erinnerung aufbaue, Pierre Nora gar ein „Zeitalter des Gedenkens“ erkannt haben, und Andreas Huyssen sprach von einem „anamnetischen oder ‚musealen‘ Bewusstsein […], das immer grössere Bereiche der Alltagskultur und -erfahrung erobert“.42 In einer Zeit, in der die Zeitzeugen des Holocaust aus Altersgründen vermehrt auf ihre Leben zurückblickten oder endlich das ihnen früher verweigerte öffentliche Gehör finden, betraf diese Konjunktur des Gedächtnisthemas nicht nur das monumentale Gedächtnis : Überlebende, die die Bilder der Erinnerung, die sie noch hervorzuholen vermögen, in Worte oder Bilder oder Musik fassen und so ihre Geschichten erzählen, sind aus der Anonymität hervorgetreten.43 Stets konfrontiert mit dem „Ende der Erzählbarkeit von Erfahrungen“44, hat sich diese letzte Generation von Überlebenden nicht nur bemüht, eine Stätte oder ein Objekt zu hinterlassen, sie hat auch versucht, mündliches oder schriftliches Zeugnis abzulegen, um die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Heute ist es bereits eine dritte Generation – opferwie täterseitig – von Nachfahren, die Fragen stellt und Zeugnisse ihrer Großeltern aktiv bewahrt oder hinterfragt, wie zwei Beiträge von Anna Fersztand und Barbara Bonhage in diesem Buch dokumentieren. Gerade im Zusammenhang mit dem Holocaust hat sich die auf Wertneutralität und Objektivität bedachte Geschichtsschreibung mit einer regelrechten perspektivischen und subjektiven Gedächtnisbiografik beschäftigen müssen. Ähnliches gilt für das Entstehen literarischer Texte, deren Poetizität den Holocaust als Schreibweisen des durchlebten Horrors, der Abwesenheit der Ermordeten, der inneren Leere oder der Suche nach einer neuen Heimat vermittelt. Das Bild des Holocaust wurde, wie es Yosef Hayim Yerushalmi ausdrückt, „nicht am Amboss des Historikers, sondern im Schmelztiegel des Romanciers geformt.“45 Oder um es mit Andreas Huyssen zu sagen : „Populäre Darstellungen und historische Vergleiche sind unauslöschlicher Bestandteil eines Holocaust-Bewusstseins, das vielfach gebrochen und sedimentiert ist.“46
41 Knigge, Reden und Schweigen, S. 207. 42 Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 11 ; Nora, Erinnerungsorte, S. 543 ; Huyssen, Denkmal, S. 11. 43 Für die Schweiz sind folgende Zeugnisse zu nennen : Gross/Lezzi/Richter, „Eine Welt, die ihre Wirklichkeit verloren hatte“ ; Lefkowitz, „Mit meiner Vergangenheit lebe ich“ ; Ludewig-Kedmi/Spiegel/Tyrangiel, Das Trauma des Holocaust. 44 Pethes, Mnemographie, S. 3. 45 Yerushalmi, Erinnere dich ! S. 100. 46 Huyssen, Denkmal, S. 13.
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Unsere Kultur formt also Gedächtnis aus einer Masse an Möglichkeiten, die uns die Geschichte bietet. Oft genug wird bewusst, sprich : kulturpolitisch entschieden, welche Narrative und welche Perspektiven dargestellt werden. Dies zeigt auch, dass „Denkmäler“ als Orte des Gedächtnisses nicht nur materieller Natur sind. Denn der von Pierre Nora geprägte Begriff der Erinnerungsorte (Lieux de mémoire) subsummiert Gedenkstätten, Gebäudekomplexe oder Museen, aber auch Embleme, Gedenkfeiern, Rituale oder traditionsreiche Texte.47 Jede Gesellschaft und jede Epoche zeitigt damit einen „eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten“ als kulturelles Gedächtnis im Sinne eines kollektiv geteilten Wissens über die Vergangenheit.48 Die unterschiedlichen Gedenkformen geben denn auch darüber Auskunft, wie der Holocaust in der jeweiligen Gegenwart einer Gesellschaft rezipiert und tradiert wurde. Heute finden wir Erinnerungen an und Empfindungen rund um den Holocaust in Musikkompositionen, wir finden sie in Spiel- und Dokumentarfilmen oder in Debatten über Restitutions- oder Rehabilitierungsforderungen. Das jeweils Sagbare und Unsagbare zeigt sich in Literatur, in Ortsbildern und Lehrmitteln. Nicht zu vergessen sind liturgische oder liturgisch anmutende Gedenkmodi sowie religiöse oder säkulare Kalendarien, die den Holocaust im Jahreszyklus erinnern und die zumeist in ritueller Performanz in Erscheinung treten. Durch im Zyklus eingefügte Kalendertage wird, so die Absicht, das Gedenken dauerhaft gefestigt, und gleichzeitig bleiben Emotionen und Hoffnungen kanalisiert und befriedet durch ein Ritual, das seinen eingehegten Platz im Zyklus erhält. Diese quasi-liturgische Behandlung, die an Namens- und Feiertage in den Religionen anklingt, wird heute in säkularer Absicht geübt : Der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust jeweils am 27. Januar wurde im Jahr 2005 von den Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust und den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau eingeführt. Als israelischer Gedenktag, der unter dem Namen Yom HaShoah („Tag der Katastrophe“) figuriert, wurde im Jahre 1951 der 27. Nissan des jüdischen Kalenders festgesetzt und 1959 gesetzlich durch die Knesset novelliert. Unter dem Namen Porajmos („Verschlingen“) wird jeweils am 2. August der Ermordung der 500.000 Roma und Sinti gedacht, das Datum verweist auf die Massaker im sogenannten „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau. Nicht wenige weitere Gedenktage gibt es auf der Ebene einzelner Staaten zur Erinnerung an unterschiedlichste lokale Ereignisse im Zusammenhang mit dem Holocaust. Überdies sind weitere Memoranda, wie der Tag zur Erinnerung an den Genozid an den Armeniern (24. April) oder der Tag der Menschenrechte (16. Dezember), in die Agenda 47 Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 7. 48 Assmann, „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, S. 15.
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der öffentlichen Moral eingetragen worden, oft mit Verweisen auf den Zusammenhang mit dem Holocaust, der mit den juristisch geschaffenen wie heute allgemein gebräuchlichen Wörtern „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auch straf- und völkerrechtlich charakterisiert worden ist.49 Alle diese Begriffsbildungen werden heute unter dem Wort „Holocaust“ summiert und sanktioniert, etymologisch ein altgriechisches Wort, das wegen seiner ursprünglichen Bedeutung im religiösen Opferkult als problematisch gilt, wenn es anstelle des Verbrechens als eigentlichen Sachverhalt das Geheiligte bzw. implizit Sakrales evoziert.50 In Kontrast zu dieser merkwürdigen Ikonizität, die es begriffs- und bildkritisch zu reflektieren gilt, nimmt sich der säkularisierte Jahreskalender mit den zahlreichen spezifischen und lokalen Erinnerungstagen aus wie eine wachsende Bibliothek des differenten Gedenkens. Die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Debatten und geformten Narrative verdichten sich aber auch immer wieder in Stein und Stahl. So sind auch einige Erinnerungsstätten der Schweizer Denkmaltopografie in den Diskursen beheimatet, die zumeist rund um die Arbeit und die Erkenntnisse der UEK geschaffen worden sind. Es sind unscheinbare und unbekannte, regional verankerte Denkmäler, die die Flüchtlingspolitik während des Krieges kritisieren oder die Fluchthelferinnen und Fluchthelfer ehren, die sich dem geltenden „Recht“ widersetzt hatten. Dass sich Debatten in Denkmälern niederschlagen wollen, zeigt auch ein jüngeres Beispiel : In den letzten Jahren erwachte in der Schweizer Öffentlichkeit das Interesse am Schicksal der Schweizer Opfer des Nationalsozialismus, unter ihnen auch Schweizerinnen, die ihr angestammtes Bürgerrecht verloren hatten, weil sie einen Ausländer geheiratet hatten. Der Lebensalltag und die rechtliche Situation dieser Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung ist verschiedentlich in Forschungsarbeiten beachtet worden.51 Dieses neue Interesse führt zu neuen Diskursen, sei es darüber, dass die Schweizer Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) es 2017 verpasste, überhaupt an die einstigen Schweizer NS-Opfer zu erinnern, oder sei es in historischer Perspektive über den dürftigen Einsatz der damaligen Schweizer Behörden zugunsten der vom Nationalsozialismus bedrohten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Auch ist der Schweizerische Nationalfonds (SNF) auf Gesuche, die Geschichte der Schweizer Opfer gründlicher zu erforschen, aus einem offenkundig mangelhaften erinnerungspolitischen Unwillen bisher nicht eingetreten.52 Die The49 Die Begriffe stammen von Raphael Lemkin und Hersch Lauterpacht ; vgl. Sands, East West Street, der die beiden Biografien, die ihren Ausgang in Lemberg nehmen, und die Begriffsbildung beleuchtet. 50 Wyrwa, „Holocaust“, S. 300 ff.; Mondzain, Bild, Ikone, Ökonomie, S. 244. 51 Vgl. Ludi, Reparations ; Spörri/Staubli/Tuchschmid, KZ-Häftlinge ; Redolfi, Töchter ; Späti, „Arrests, Internments and Deportations“. 52 Vgl. die Beiträge von Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid in diesem Sammelband.
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matik der Schweizer NS-Opfer impliziert jedenfalls heikle Fragen nach dem damaligen Diplomatie- und Rechtsschutz seitens schweizerischer Behörden53 und ebenfalls die Fragen nach moralischer, politischer und rechtlicher Anerkennung gegenüber betroffenen Familien. Ein Denkmal für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus durch die Schweizerische Eidgenossenschaft zu schaffen, wurde 2018 als Forderung seitens der Auslandschweizer-Organisation (ASO) angestoßen. Eine Arbeitsgruppe hat sich dieser Forderung angenommen und ein Konzept erarbeitet, welches sie als fundierte Stoßrichtung und als inhaltliche Grundlage für die politische Initiative zur Errichtung eines Denkmals versteht. Das Denkmal soll explizit nicht allein den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern, die vom nationalsozialistischen Regime verfolgt, entrechtet und ermordet wurden, gewidmet sein, sondern allen Opfern des Nationalsozialismus gedenken, was den universalen Ansatz deutlich zum Ausdruck bringt. Dies schließt jene Menschen ein, denen die Schweizer Behörden während des Zweiten Weltkriegs die Zuflucht und Rettung verweigerten, aber auch jene Schweizerinnen und Schweizer, die sich dem Nationalsozialismus entgegenstellten oder den Verfolgten Schutz und Hilfe boten. Auf diese Weise werden die Opfer des Nationalsozialismus in der Welt mit dem Schicksal von Schweizerinnen und Schweizern verknüpft, um einer nationalistischen Engführung zu entgehen und die Menschlichkeit als universales Gut anzumahnen. Im Vergleich zur europäischen Erinnerungslandschaft ist es denn auch auffällig, dass es in der Schweiz bisher kein solches offizielles, staatlich initiiertes oder unterstütztes Denkmal für die (Schweizer) Opfer des Nationalsozialismus oder ein Holocaust-Denkmal gibt, wohingegen die meisten Mitgliedstaaten der IHRA, darunter auch neutrale Staaten wie Schweden, solche längst errichtet haben. Ob dies daran liegt, dass die politische Neutralität, wie oben schon erwähnt, den Eindruck erweckt hat, dass eine solche Gedenkstätte in der Schweiz keine Notwendigkeit darstellt, sei hier dahingestellt. Sicherlich aber fördern der Föderalismus und das Prinzip der Subsidiarität eine bescheidene und „von unten“ gewachsene Gedenkkultur, die ihre Stärke in der lokalen und regionalen Verankerung zeigt. Im Gegensatz zu den von monarchisch anmutender Monumentalität geprägten Nachbarländern begegnet die Schweiz monumentalen oder zentralen Denkmälern mit Skepsis. Diese lokale Dimension hat auch eine andere Initiativgruppe dazu bewegt, für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus eine schweizerische Aktion „Stolpersteine“ voranzutreiben, die in Relation – und in Ergänzung – zu einem eidgenössischen Denkmal stehen soll. Ob damit eine Gleichsetzung der freien Schweiz mit den von NS-Deutschland 53 Haldemann, Geschichte vor Gericht ; Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht, S. 416, dort auch mit Verweis auf den Spezialband der UEK zum öffentlichen Recht.
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besetzten Territorien impliziert würde oder nicht, ob Gedenktafeln oder Stolpersteine vor Häusern oder eher Yizkorsteine auf Friedhöfen besser geeignet wären, ob der Bürgerort oder der letzte Aufenthaltsort der deportierten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer den Gedenkort bestimmen soll – all diese umstrittenen Fragen sind Teil der öffentlichen Debatte geworden. Inzwischen gibt es auch in der Schweiz Stolpersteine, und Yizkorsteine auf jüdischen Friedhöfen existieren schon lange.54 Die zuvor genannte Arbeitsgruppe für ein eidgenössisches Denkmal schreibt in ihrem Konzept hingegen zurecht, dass es auch Themen gibt, die in den Verantwortungsbereich der offiziellen Schweiz fallen – einer Schweiz, die sich nicht davor scheut, selbstkritisch in die Vergangenheit zu blicken und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. So gibt es Ereignisse und Geschichten, Schicksale und Verfehlungen, die auf staatlicher Ebene nicht nur erinnerungswürdig, sondern erinnerungspflichtig sind. Hier steht seit je die restriktive Flüchtlingspolitik im Fokus der Debatten […]. Dazu zählen auch der behördliche Antisemitismus sowie die lange Zeit fehlende Rehabilitierung und Anerkennung derjenigen, die sich – wie etwa Paul Grüninger, Elsbeth Kasser und viele andere – für Flüchtlinge und Vertriebene eingesetzt und dafür unter Umständen beträchtliche Nachteile in Kauf genommen haben. Hier liegt es an der Schweiz, mit einem in die Zukunft weisenden Denkmal ihre historische Verantwortung zu übernehmen.55
Die Forderungen nach einem eidgenössischen Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus sowie die Retterinnen und Retter und die Initiative für eine Aktion „Stolpersteine“ kommen spät. Aber sie kommen vermutlich zum triftigen Zeitpunkt – zu einer Zeit, in der Forschungsergebnisse wie neuere Arbeiten und öffentliche Veranstaltungen den Forderungen das nötige Gehör verschaffen und überhaupt erst eine Chance geben – dies bevor die letzten Überlebenden der NS-Verfolgung von uns gegangen sein werden. Beide Initiativen werden hier in diesem Buch dokumentiert. Überdies sammelt der Verein Jüdischer Nationalfonds Schweiz (KKL, Keren Kayemeth leIsrael) Mittel (2020) für die Schaffung eines Mahnmals explizit für die Schwei54 Im schweizerischen Kreuzlingen und in Tägerwilen, an der Grenze zu Konstanz gelegen, gibt es bereits seit 2013 bzw. 2015 drei solcher Stolpersteine. Die Initiative ging vom deutschen Konstanz aus. Am 27. November 2020 wurden erstmals in der Stadt Zürich Stolpersteine aus einer lokalen Initiative heraus gesetzt. Vgl. den Beitrag von René Staubli und Benno Tuchschmid in diesem Buch. Zur Tradition des Yizkorgedenkens siehe hier weiter unten. Yizkorsteine finden sich auf dem Friedhof der Jüdischen Gemeinde Bern seit 1989. Vgl. dazu den Beitrag von Fabienne Meyer in diesem Buch und dort auch eine Abbildung. 55 Vgl. Konzept der Steuerungsgruppe für ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in diesem Sammelband.
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zer Opfer im Wald der Märtyrer (Jaar HaKdoschim) in der Nähe von Jerusalem56 ; der 1951 angelegte Wald gilt als Vorläufer von Yad Vashem. Dies weist darauf hin, dass es eine gewisse Dissidenz zwischen den verschiedenen Projekten sowie ein gewisses Maß an Misstrauen in die Bereitschaft der Behörden gibt, den einstigen Schweizer Opfern die bislang verweigerte Anerkennung auszusprechen. Selbst Antisemitismus im Falle überlauter Forderungen wird befürchtet, wohingegen die jüdischen Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer endlich Nägel mit Köpfen machen wollen, um nicht ein weiteres Mal vergessen zu werden, während wiederum andere monieren, jedes Gedenken habe allgemein und stets den Menschenrechten zu dienen. Kritische Stimmen gerade seitens von Angehörigen von einstigen Opfern bzw. von Überlebenden – der ersten, zweiten wie dritten Generation – sind jedoch empirisch noch zu wenig erfasst, als dass sich zu deren Stimmung und Einschätzungen gültige Aussagen machen ließen. Ob ein eidgenössisches Denkmal, überhaupt Denkmäler, Erinnerungsstätten und Gedenktafeln, in eine Versteinerung von Emotionen und gewohnheitsmäßig ritualisierte Trauerformen münden können oder nicht, muss als weitere kritische Frage im Raum stehen bleiben. Schon Utz Jeggle hat dies vor Jahren mit Blick auf die zahlreichen entleerten „Judendörfer“ im ländlichen Elsass und in Süddeutschland angemerkt.57 Heute erinnern dort noch steinerne Zeugen, wie einzelne Synagogen und Friedhöfe, die der Zerstörung entgingen und inzwischen teils verfallen sind, teils achtlos umgenutzt wurden. Andere dieser Zeugen sind wiederum restauriert oder zu Kulturzentren erhoben worden, um an die einst lebendige Kultur der Dorf- und Kleinstadtjuden im einstigen Machtbereich der Nationalsozialisten zu erinnern. Grenzüberschreitend gedacht bemüht man sich auch in der Schweiz zum Beispiel um das unversehrte, aber verlassen wirkende materielle Kulturerbe von Endingen und Lengnau im aargauischen Surbtal. Dies gerade auch mit dem Argument, dass in der von Krieg, Verfolgung und Vernichtung verschonten Schweiz eine eigene Weise der Erinnerung an den Holocaust dargestellt werden kann, namentlich mit Konzerten, Vorträgen, Lesungen, Gesprächsforen oder Ausstellungen an diesem symbolhaften Ort.58 Im Bewusstsein der Vielfalt und Komplexität all dieser Erinnerungsdiskurse und -formen wird sich die Reflexion darüber dem Blick auf entsprechende Modi, Kons56 Vgl. KKL. Aktuelle Projekte. „Wald der Märtyrer – erinnern im Schatten alter Olivenbäume“ : https:// kklschweiz.ch/projekte/aktuelle-projekte/, letzter Zugriff : 14.10.2020. 57 Jeggle, „Was bleibt ?“. Siehe auch die Internetseite von Alemannia Judaica, Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum : http://www. alemannia-judaica.de/index.htm, letzter Zugriff : 29.08.2020. 58 Mahrer, „Alemannisches Judentum“ ; Oppenheim, „Vom ‚Jüdischen Kulturweg‘ zum Projekt ‚Doppel tür‘“.
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tellationen und Debatten ähnlicher Art im Ausland nicht verschließen dürfen. Überhaupt lässt sich aus dem Grenzen überschreitenden Wissen einiges für die eigene Disposition lernen. Das gilt auch für Biografien, die eigenen Kriterien der Erzählung gehorchen. Dass Protagonisten wie Paul Grüninger und Carl Lutz, die als Retter von Leben heute für Zivilcourage und Menschlichkeit stehen, zu international hochgeachteten Ikonen geworden sind, nachdem ihnen zuvor in der Schweiz die Anerkennung keineswegs sicher war, belegt diese Grenzüberschreitung. Und am Beispiel des Schweden Raoul Wallenberg und dessen Rezeption zeigt sich, dass „verspätete Erinnerung“ von Flucht- und Flüchtlingshelferinnen und -helfern ein grenzüberschreitendes Phänomen ist, das sich in der Geschichtsschreibung in Israel, Ungarn, Dänemark, Schweden und der Schweiz aufsuchen lässt. Das zeigen die Beiträge von Nadav Kaplan, Sara Kviat Bloch, Daniel Gerson und Wulff Bickenbach. Das Narrativ des Diplomaten als Retter ist offenkundig in neutralen Staaten, die sich einst in den nationalsozialistischen Machtbereich verstrickt sahen, zu einem hohen Stellenwert avanciert. Die Versuchung der Prahlerei seitens Offizieller ist allerdings vorhanden, ebenso der Verdrängung von weniger bekannten Personen, denen, wie beispielsweise im Fall von Ernest Prodolliet (1905–1984) oder weiterer Konsularbeamter, gleichfalls hoher Respekt für ihren Einsatz zukommt.59 Erinnerungspolitisch bedarf es hoher Kunst, die Ehrung der Retterinnen und Retter in Übereinstimmung mit der Ehrung der Opfer und Überlebenden zu halten, ohne letztere in eine objektbehaftete Funktion zu designieren, sie zu instrumentalisieren oder gar zu verdrängen. Dies gilt erst recht angesichts der Namenlosigkeit der vielen Ermordeten. Die Benennung von Straßennamen oder das Vorhandensein von kleinen Denkmälern und intimen Formen des Gedenkens in Israel und der Schweiz zeigen, dass überall auf der Welt „Kleinformen“ des Erinnerns von oft unterschätzter Bedeutung sind. Dies geht implizit oder explizit aus verschiedenen Beiträgen in diesem Band hervor (Judy Tydor Baumel-Schwartz, Kaspar Surber, Maoz Azaryahu, Fabienne Meyer), aus denen die Wertschätzung für die lokalen, familiären und bescheidenen Formen des Gedenkens sprechen. Wenn etwa Familien ein Grab kaufen, ohne darin die an fernen Orten zu Asche gewordenen Ermordeten bestatten zu können, sondern darin einige wenige Erinnerungsstücke oder vielleicht auch schlicht die Namen der Toten zu bergen, schaffen sie einen Ort des Gedenkens, der von Stille und Schlicht-
59 Dazu zählen, wie der Beitrag von Daniel Gerson in diesem Buch festhält, in Budapest Friedrich Born, Ernst Vonrufs, Peter Zürcher und Harald Feller. An der österreichisch-schweizerischen Grenze und in Amsterdam trug der Konsularbeamte Ernest Prodolliet, der 1982 von Yad Vashem geehrt wurde, zur Rettung zahlreicher jüdischer Verfolgter bei, obwohl er von seinen Vorgesetzten in Bern belehrt wurde, man sei nicht dazu da, dass „es den Juden gut geht“.
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heit zeugt. Doch wird die feststellbare Vielzahl solch intimer Orte nicht die Verantwortung des Staates, eine offizielle Gedenkstätte zu errichten, substituieren dürfen. Dies wäre infam, weil es das Leiden privatisieren und zu einem Vorrang des stärksten Leids führen würde. Die Produktion von national anerkannten Narrativen und Gedenkmonumenten sowie entsprechende zeitgenössische Diskussionen in kulturellen Foren sind deswegen bedeutend. Auch in Kleinstaaten, wie der einst kriegsverschonten Schweiz oder dem besetzten Dänemark, ist es wichtig, die verschiedensten, oftmals wenig beachteten Gedenkformen zwischen privater und staatlicher Dimension zu unterscheiden, zumal es in der Schweiz keine eigentliche Tradition eidgenössischer Denkmale und Gedenkrituale gibt. Bezeichnend auf einer anderen Ebene ist, dass so unterschiedliche Vermittlungsträger wie Literatur, Musik, Spiel- und Dokumentarfilme, aber auch pädagogische Wege, die Erinnerung zu schaffen, sich allesamt grenzüberschreitend bewegen und rezipiert werden. Nicht vertreten in diesem Buch ist übrigens eine Analyse von Comics-Erzählungen, die sich den Holocaust oder die Verfolgung von NS-Opfern künstlerisch-literarisch zum Thema gemacht haben ; auch sie reichern das Erinnern und Gedenken mit einer eigenwilligen Facette an und werden dabei transnational rezipiert, auch in pädagogischer Hinsicht.60 Das gilt auch für Video-Games, wie der Beitrag von Peter Gautschi über die Verwendung digitaler Instrumentarien im Schulunterricht zeigt. Bei aller Vielfalt der Erinnerungswege ist hier aber letztlich die Feststellung wichtig, dass die einstigen Opfer und heutigen Überlebenden – Juden, Roma und Sinti, politisch Verfolgte – in allen Ländern, die in diesem Buch angesprochen werden, und vielen weiteren Weltregionen lebten und leben. Nicht zuletzt bezeugen dies auch die zumeist im Ausland lebenden Schweizer NS-Opfer, denen bisher von der Eidgenossenschaft eine entsprechende Anerkennung versagt geblieben ist. Durch die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wird aus nachvollziehbaren Gründen wiederum die gesamtschweizerische, sprich : eidgenössische Dimension des Gedenkens der NS-Opfer angesprochen. Die Fragen rund um die angemessene Form der Holocaust-Erinnerung in der Schweiz und die allgemeinen Debatten darüber, in welcher Form und durch welche Instanz öffentliche Denkmäler eine moralisch-politische Anerkennung der Opfer des Nationalsozialismus darstellen können, stehen im Fokus dieses Sammelbandes. Die Denkmäler und Gedenkstätten, aber auch die Erhaltung der Stätten des einstigen Lebens der zu Opfern Gewordenen sind gewiss wichtig, jedoch immer schon gebunden an unverrückbare Erinnerungsorte. Kulturelles Gedächtnis konstituiert sich aber, wie wiederholt zu betonen ist, weit mehr auch aus Texten und Bildern, aus Filmen oder 60 Vgl. Huyssen, Von Mauschwitz in die Catskill ; Näpel, Auschwitz im Comic.
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Musik, aus Biografien, Literatur und Kunst, aus Lehrmitteln und Schulstunden, aus Ritualen, Liturgien und Kalendarien. Ebenso sind die privaten Erinnerungsmodi von Bedeutung, etwa wenn in Familien die Enkel die von ihren Großeltern durchlebten Erfahrungen aufzeichnen, sei es in direkter mündlicher Transmission, sei es nach Auffinden von Briefen, Fotoalben oder Objekten. Die Absicht dieses Buches ist deshalb insgesamt, unterschiedlichste Stränge der Holocaust-Erinnerung zu sammeln und über die verschiedenen methodischen Zugänge und inhaltsgenerierenden Begriffe, die dabei genutzt, verwendet oder hervorgebracht werden, zu reflektieren. In diesen Strängen verdienten die theologischen bzw. religionsphilosophischen Denkfiguren besondere Beachtung, was hier indessen nicht zu leisten ist und einer gesonderten Publikation bedürfte.61 Zu solchen Reflexionen zählen mithin Fragen einer kritischen Ästhetik. Sei es in der Musik oder Literatur, sei es für bildliche und plastische Repräsentationen, mit denen Leere, Unsagbares und Abwesenheit „sichtbar“ gemacht werden sollen, wird die Debatte auch Fragen der ästhetischen Angemessenheit zu thematisieren haben. Den in diesem Buch angeführten Beispielen aus Architektur und Kunst ist gemein, dass sie der Holocaust-Opfer nicht exemplarisch gedenken und einzelne Schicksale stellvertretend für andere herausgreifen, sondern die Präsenz ihrer Abwesenheit als Leerstelle, die bis heute existiert, im Betrachter und Hörer bewusst machen. Ob sie die Entleerung der Motivwelt zur einzig adäquaten Reaktion oder die Leere als eine metaphorische Erzählweise für die Abwesenheit gestalten, um der ermordeten Juden und weiterer Opfer zu gedenken, so ist die ästhetische Konzeption stets auf eine symbolische Form der Stille und Einkehr angelegt. Diese Ästhetisierung ist keine negierende, sondern eine semantisch bekennende Absicht, indem sie dem Gedenken an die Opfer in leeren Bibliotheken, auf leeren Bänken oder in einer vom Gegenstand befreiten Bildwelt Raum gibt, wie die Beiträge von Jacques Picard, Ulrike Gehring und Anna Minta zeigen. Nicht alle Werke folgen dieser Diktion umfassend und nicht immer wird auf figürliche Darstellung verzichtet, doch sind diese Räume trotz ihrer unterschiedlichen Medialität gleichsam Orte, die individuell als Zeichen der Trauer über Abwesenheit und Leerstellen erfahren werden. Denn der Besucher und auch jeder Kritiker muss im Sinne Georg Steiners einräumen, dass es beim Betrachten ein gleichgültiges oder unparteiisches Denken und Handeln nicht gibt, aber ein Kritiker sich in luzider Weise die eigene Neigung, Befangenheit oder Parteinahme, auch sich selbst gegenüber, klar machen muss und
61 Jonas, Gottesbegriff nach Auschwitz ; Raphael, Female Face of God in Auschwitz ; Katz, Wrestling with God.
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Abb. 3 : Majdanek 1997. Fotografie von Olaf Schlote aus der Ausstellung an der Universität Haifa 2020 und dem Begleitband Memories – Erinnerungen – Sichronot. © Olaf Schlote
sie auch mitteilen sollte.62 Daraus kann eine ethische, sofern selbstreflexive Auffassung der Kritik sprechen, die man als reflektierte Ästhetik bezeichnen kann. Nur so bieten diese Räume aus Leere und Stille einen Ort der Würde an, aus deren Gewahrwerden auch die Erzählungen der Holocaust-Überlebenden über weitere Medien und Zugangsformen gehört werden können. Insbesondere kann damit die Bereitschaft verknüpft werden, wie etwas später zum Schluss gesagt wird, auf anderer Ebene des Holocaust-Gedenkens die Restitution der Namen der Ermordeten zu ermöglichen. Anders gesagt, die Präsenz der Abwesenheit in den Werken der Kunst bedeutet nicht, eine voreilige Entsorgung der Namen der Ermordeten in die Anonymität eines unverbindlichen Gedenkens oder Rituals zu erlauben oder zu befördern. Im Gegenteil, die Stille, die in der Leere eines Denkmals präsent wird, und die Namen, die die unwiderrufliche Absenz ihrer Träger bezeugen, setzen sich als reflektierte Aussagen gegenseitig voraus. Denn es ist, wie Klaus-Michael Bogdal in diesem Buch seinen Beitrag mit einem Satz von Walter Benjamin einleitet, schwerer, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten, die später oft genug laut von sich re62 Steiner, „Critical/Reader“, S. 428 : „As there is no such thing as indifferent action, so there is no impartial („objective“) criticism. Only immobility is unbiased. But in good criticism, bias is made visible, is made lucid to itself.
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den machten.63 Diesen Satz über die Würdigung der Namenlosen hat Dani Karavan, der Schöpfer des Berliner Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, auf eine Glasscheibe, die den Abgang seines Denkmals Passages für Walter Benjamin in Portbou verschließt, eingravieren lassen. Kommen wir zum Schluss : Eine immer wieder gestellte Frage stößt sich am traurigen Befund, dass die Holocaustüberlebenden zunehmend von uns gehen werden. Was aber bleibt, wenn die Überlebenden dereinst von uns hingeschieden sein werden ? Und was wird von den Ermordeten, die vor Jahrzehnten zu Asche wurden, heute noch gegenwärtig bleiben ? Was wir wissen können, sind allenfalls die Namen, die als Zeichen in eine Form des Gedenkens bei denen, die nach uns kommen, im öffentlichen Bewusstsein eingekerbt bleiben. Ob diese Namen, wie in der hebräischen Bibel verheißen, Bestand haben werden, ist niemals sicher. Doch können wir uns der Auslöschung dieser Namen – sei es, dass die Opfer verleugnet werden, sei es, dass der ihnen gebührende Platz verweigert wird – wenigstens widersetzen und sie als Zeichen in unser Gedächtnis einschreiben. Im Zentrum des Holocaust-Gedenkens steht also eine Frage zur Zukunft : Was wird bleiben ? Eine offensichtliche Antwort ist, dass es eine Fülle von Gedenkstätten und feierlichen, oft gar fromm anmutenden Reden gibt und geben wird, die uns mahnen, das Erinnern als einen Imperativ zu verstehen. Doch bei den heutigen Sorgen um die Zukunft des Gedenkens, um Zukunft überhaupt, geht es nicht eigentlich um die Verpflichtung, moralische Lehren hochzuhalten und der Formel „Nie wieder !“ Treue zu schwören. Wie es derzeit aussieht, ist das Bild des Holocaust auch vorrangig eine Moralerzählung, die der westlichen Zivilisation zugrunde liegt : Der Holocaust ist darin das personifizierte Böse geworden, und so wurde das Gedenken an diesen Genozid denn auch als Verpflichtung zur Bekämpfung des Bösen dargestellt, das rituelle, ästhetische und weitere Mittel in dieser Diktion verwendet. Aber Holocaust-Gedenken ist nicht bloß abstrakte Moralerzählung, die vom Triumph der Guten über das Böse handelt und paradoxerweise ausschließlich als Verpflichtung zum „Nie wieder !“ präsentiert wird. Solcherart würde sie riskieren, in einen Ritualismus mit hohlen Phrasen abzugleiten, die kaum mehr gehört werden wollen. Leo Baeck, der als führender Rabbiner des deutschen Judentums Deportation und Konzentrationslager überlebte, sah die Vorbedingung aller Menschlichkeit in der Anerkennung der letztlichen Unerklärlichkeit der menschlichen Existenz. Die Leugnung dieser Unerklärlichkeit führte lediglich in die Unmenschlichkeit und von 63 Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S. 691–704, zitiert aus Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte (1941).
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neuem in das Unrecht, wie es in der Vergangenheit erlitten wurde. Dem Wissen um die Vergangenheit aber liege im weltgeschichtlichen Prozess die Aufforderung zugrunde, Frieden mit dieser Vergangenheit zu schließen, um den Frieden in der Zukunft zu sichern.64 Es geht also um den Menschen und seine Erfahrungen, um eine conditio humana schlechthin, die sich im Intimen zeigt, wenn den Individuen, die das Leid durchgemacht haben, Gerechtigkeit und Frieden zukommen soll. Deshalb sind die Geschichten, die Überlebende als Augenzeugen zu erzählen bereit sind und die wir von ihnen zu hören bekommen, von entscheidender Tragweite, wie der Beitrag von Sabina Bossert in diesem Sammelband aufzeigt. Aus diesem Verhältnis von ihrem erzählten Sehen und unserem Zuhören erwächst die bereits gestellte Frage, was bleibt, wenn die Überlebenden von uns gegangen sein werden ? Die offensichtlichste Antwort ist, dass uns – nämlich all jenen, die das Gedenken als eine Verpflichtung verstehen wollen – ihre Geschichten, die heute in Papierform, Musiknoten, Videos oder Filmdokumenten festgehalten werden, als einzige und einzigartige Zeugnisse überlassen werden. So fragmentarisch sie auch sind und so anfällig für Ungenauigkeiten sie auch berichtet sein mögen, so erzählen diese Geschichten von persönlichen Erfahrungen der Entmenschlichung und von individuellen Begegnungen mit dem menschlichen Horror. Sie werden dies hoffentlich auch weiterhin tun, und sie zu hören wird in uns Nachdenken im Gedenken abverlangen. Wie diese Geschichten deutlich machen, sprach das Böse viele Sprachen. Wir sollten uns bewusst sein, dass all diese Lebensgeschichten im Wesentlichen Variationen des Themas des persönlichen Überlebens und in gewissem Umfang des persönlichen Sieges über das Böse und seine Folgen sind – auch mithilfe von teils anonymen Fremden, die Schutz und Hilfe boten und so sich selber und den Fremden ihre Menschlichkeit wahrten. Hinter diesen Geschichten verbergen sich Millionen von unerzählten Lebensgeschichten : die Geschichten derjenigen, die ihre Geschichten nicht erzählen konnten. Das Paradoxe am Holocaust-Gedenken ist, dass es auf Millionen von unerzählten und nie zu erzählenden Geschichten beruht : Der Holocaust ist in diesem Sinne eine Leerstelle, eine Absenz unwiederbringlicher, zu Asche gewordener persönlicher Erinnerungen, die wir nicht kennen. In Bezug auf die Millionen, die umgekommen sind, ist also die Frage, was von ihnen übriggeblieben ist, besonders relevant, da es beim Holocaust um mehr ging als um Folterungen und Tötungen von Einzelpersonen. Die Entmenschlichung der ermordeten Juden, Sinti und Roma sowie Angehöriger weiterer europäischer Kulturen hatte auch zur Folge, dass die Täter ihnen das Begräbnis verweigerten, sie anschließend aus dem Gedächtnis ausgelöscht werden sollten und 64 Baeck, Wege im Judentum, S. 187–194.
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ihnen dann später, nach 1945, oft genug die Erinnerung an ihre einstige lebendige Gegenwart verweigert wurde. Da ganze Familien und Gemeinschaften systematisch ausgelöscht wurden, blieben nicht nur ihre Geschichten unerzählt, sondern die in Europa Ermordeten erschienen zur Vergessenheit verdammt : „Die Erinnerung an ihn vergeht von der Erde ; er hat keinen Namen im Land“ (Hiob 18,17). Dementsprechend sollte sich das Gedenken an den Holocaust auf einer sehr grundlegenden Ebene um das an Sisyphos mahnende Bemühen drehen, die Namen derer, die umkamen, ohne Spuren zu hinterlassen, wiederzufinden und an sie zu erinnern. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der Mitte Berlins erwähnt keine Namen, die Ungeheuerlichkeit der Zahl der toten Juden macht jeden Versuch des namentlichen Gedenkens nahezu unmöglich. Und doch ist dies die Herausforderung des Holocaust-Gedenkens : die Namen wiederzufinden und sich an sie zu erinnern. Das Projekt „Stolpersteine“ ist eine Antwort auf diese Herausforderung, ebenso die Namenstafeln in Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern in Deutschland. Oder, um nur einige wenige zu nennen, die Mur des noms des französischen Mémorial de la Shoah in Paris, das städtische Namensdenkmal in Amsterdam nach den Plänen von Daniel Libeskind oder jenes beim Jüdischen Museum in Prag, wo die Namen der deportierten und ermordeten tschechischen und slowakischen Juden handschriftlich in eine Mauer der Pinkas-Synagoge eingraviert wurden. Auch der Vorschlag, in der Schweiz ein allgemeines eidgenössisches Denkmal, das anonym an die Opfer erinnern würde, mit einem offiziellen Gedenknamenbuch sowie der Setzung von Gedenk- oder Stolpersteinen zu verbinden, geht in diese Richtung. Eine solche Verpflichtung kann zurückgreifen auf die jüdische Tradition der Yizkorbücher, in die während früheren Zeiten der Name von zu Tode gekommenen Pogromopfern geschrieben wurden, und heute in Gestalt von Gedenksteinen auf dem jüdischen Friedhof in Bern als Variante der Shoah-Erinnerung fortgeschrieben werden. Es geht um das Verweben der gebrochenen Fäden zwischen denen, die nicht mehr da sind, und denen, die überlebten, und denen, die davon erzählen, und denen, die heute zuhören. In einem größeren Rahmen ist dieses Gedenken die eigentliche Aufgabe von Yad Vashem in Jerusalem, Israel : die Namen der toten Juden Europas und, wenn möglich, auch einige wenige biografische Angaben wiederzufinden, festzuhalten und vernehmlich werden zu lassen. Der Name Yad Vashem – „Denkmal und Name“ – stammt aus dem Versprechen Jesajas (56 :5) an die Eunuchen, ihnen ein „Denkmal und einen Namen“ zu geben und so ihr posthumes Gedenken zu gewährleisten. Es ist eine eigentliche Einkerbung in das Haus ihres Lebens, hier und heute, und solcherart ein Zeichen für die Treue, sich an die Namen derer zu erinnern, die im Holocaust umgekommen sind, ohne „Söhne und Töchter“ zu hinterlassen. Auf dieser Ebene des Holocaust-Gedenkens geht es bei der Restitution ihrer Namen
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darum, ihre voreilige Entsorgung in die Anonymität rückgängig zu machen. Durch die Gestaltung von Denkmälern, die Abwesenheit und Leere symbolisch darstellen, und die hörbar gemachten Namen, die die unwiderrufliche Absenz ihrer ermordeten Träger bezeugen, wird die Menschenwürde, die den Kern des Gedenkens ausmachen, in der Zukunft geborgen.
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WEGE ZU EINER REFLEXIVEN ÄSTHETIK : ERZÄHLWEISEN DER LEERE UND ABSENZ WAYS TO A REFLEXIVE AESTHETIC : NARRATIVES OF EMPTINESS AND ABSENCE Musik, Literatur, Architektur, Kunst und Liturgien ist gemein, dass sie den Holocaust durch die Vergegenwärtigung der Abwesenheit der Opfer zu Bewusstsein bringen. Im Betrachter oder Hörer oder Leser solcher Schöpfungen wird die Leere emotional oder kognitiv nachvollzogen. Die ästhetische Konzeption ist auf eine symbolische Form der Stille im Gedenken angelegt. Diese Ästhetisierung ist keine negierende, sondern eine semantisch bekennende Absicht, indem sie dem Gedenken an die Opfer in leeren Bibliotheken, auf leeren Bänken oder in einer vom Gegenstand befreiten Bildwelt Ausdruck gibt. In luzider Wahrnehmung wird dabei jedem Betrachter oder Hörer solcher Werke die eigene Neigung, Befangenheit oder Parteinahme, auch sich selbst gegenüber, hervortreten. Daraus kann eine ethische, sofern selbstreflexive Auffassung der Kritik sprechen, die man als reflektierte Ästhetik bezeichnen mag. Insbesondere kann damit die Bereitschaft verknüpft werden, auf anderer Ebene des Holocaust-Gedenkens die Restitution der Namen der Ermordeten zu ermöglichen. Anders gesagt, die Stille, die in der Leere eines Denkmals präsent wird, und die gesprochenen oder verschriftlichten Namen, die die unwiderrufliche Absenz ihrer einstigen Träger bezeugen, setzen sich als Aussagen wechselseitig voraus. Music, literature, architecture, art and liturgies all have in common that they bring the Holocaust to consciousness through the visualisation of the absence of the victims. In the viewer or listener or reader of such creations, the emptiness is emotionally or cognitively understood. The aesthetic concept is based on a symbolic form of silence in remembrance. This aestheticization is not a negating, but a semantically confessing intention, in that it gives expression to the memory of the victims in empty libraries, on empty benches or in a pictorial world freed from the object. In a lucid perception, each viewer or listener of such works will be confronted with his or her own inclination, bias or partisanship, even towards himself or herself. From this can speak an ethical, if self-reflective, view of criticism, which one might call reflected aesthetics. In particular, this can be linked to a willingness to make possible the restitution of the names of those murdered on another level of Holocaust remembrance. In other words, the silence that becomes present in the emptiness of a monument and the spoken or written names that testify to the irrevocable absence of their former bearers, presuppose each other as statements.
Jacques Picard
Liturgie, Poetizität, Visualität Eine Reflexion zu Bildern und Erzählweisen im Shoah-Gedenken Any sign language, especially when it touches on Holocaust remembrance, is problematic in itself, because the sign, the Aleph Beth used in writing, images and words, always represents human convention and, semiotically necessary, is subject to a change of meaning in times and spaces. The article explores the changing and interdependent ways of memory in liturgical, poetic, and visual forms of expression and pleads for a reflective aesthetic that can emerge from a critical examination of forms of remembrance. Der Auffassung, der Holocaust sei „unbegreiflich“ und die Erinnerung daran, ob in Wort oder Bild oder Architektur, „unaussprechlich“ und deshalb nicht „darstellbar“, steht die Auffassung gegenüber, dass es geradezu notwendig und aus Vernunft geboten sei, den Holocaust zu erinnern und dies von möglichst vielen unterschiedlichen Zugängen her, weil man das Geschehen als horror vacui niemals umfassend ausmalen könne. Die Subjekte, die sich auf dieses Dilemma des Erinnerns einlassen, indem sie eine adäquate Grammatik suchen, in theologischen Konzepten, in den poetischen Schreibweisen, in künstlerischen Aussagen, in Entwürfen und Formen der Architektur oder durch rationale und historische Analysen, werden damit selbst Gegenstand zeitgeschichtlicher Prozesse und Reflexionen. Zur Reflexion zwingt dies aus Respekt vor den Ermordeten, die Opfer aus Unschuld geworden waren, sowie den Überlebenden gegenüber, die kein zweites Mal erniedrigt werden dürfen. Nur ein Bewusstsein, das sich hier nicht als selbstverständlich setzt, wird per definitionem eine reflektierende Kultur sein können, weil sie immer wieder Fragen stellt und nichts als gegeben hinnimmt.1 Mit dem Gedenken an Holocaust und Shoah hat eine entsprechende kritische Reflexion zu den Inszenierungen und Erzählweisen dieses Gedenkens seit den 1970er-Jahren eingesetzt. Zuweilen sind einzelne Protagonisten nicht vor Polemik zurückgeschreckt, aber dieser Prozess vollzieht sich immer wieder in Schritten, die von einer kritischen zu einer reflexiven Ergründung des Gedenkens und seiner Formen führt.2 Mir geht es in diesem Beitrag um einige spezifisch jüdische Modi des 1 Vgl. Funkenstein, Jüdische Geschichte, S. 9. 2 Vgl. die Kontroversen in den Zeitschriften Midstream und insbesondere Tikkun vom Mai/Juni 1989
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Gedenkens, vorab um liturgische Erzählweisen, die wiederum in poetischen und visuellen bzw. künstlerischen Vermittlungen implizit oder explizit eine Fortschreibung zu erfahren scheinen. In den Narrativen dieser Werke zeigen sich wechselseitig verlaufende Konversionen zwischen säkular und sakral verortbaren Merkmalen, die einer kritischen Ästhetik auffällig erscheinen können und durch die Allusionen auf Bibelstellen mithin auch liturgisch-rituelle Subtexte bespielen.
Getilgte Zeichen, gebrochene Mauern, fliehende Buchstaben Auf einem Ölbild von Samuel Bak von 1986, Memorial, sehen wir die Tafeln, die Mose am Sinai übergeben wurden, in zerstörter, gebrochener Form, zwei Steinstelen ähnlich, deren Teile verschoben wurden, zusammengehalten von Klemmeisen, in einer ruinierten Landschaft, die als Wüste aus Steinen angedeutet ist. Was Samuel Bak, dessen Weg als Kind in das Ghetto von Wilna, als Überlebender in Displaced Camps und dann, unterbrochen von Aufenthalten in Paris und Rom, nach Israel führte, uns vorschlägt, ist ein Monument, das die gebrochenen Fragmente der Tafeln zu einer neuen Aussage bringt : Die Entheiligung der Gesetze hat Massengräber hervorgebracht, die Schriftzeichen getilgt und die Tafeln zu Grabsteinen gemacht. Während einer langen Geschichte des Leidens und des Missbrauchs halten die Tafeln die Kraft aufrecht, um denen, die ihrem Weg weiter folgen wollen, als Weisung zu dienen. Ihre Kraft kann nie ganz ausgelöscht werden, aus den Fragmenten entstehen neue Schöpfungen.3
Was wir auf den Tafeln, Symbolen der biblischen Gebotskultur, zu sehen bekommen, sind das Schriftfragment ייaus „Ich bin der Herr“ (Exodus 20, 2-3), die Zahl „6“ (für die Ermordeten sechs Millionen Juden) und der Davidstern (vgl. Abb. 1). In anderen Bildern malt Bak die Zahlen „9“ (für das getilgte „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen“) und „10“ (für das fehlende „Du sollst nicht nach deines Nachbarn Haus begehren“) auf die Schrifttafeln. Dem Betrachter ist anheimgestellt, wie er diese gebrochenen Tafeln, getilgten Zeichen und symbolisch erinnerten Zitate und Fragmente deuten will. mit dem Feature „A Distance from the Holocaust“, S. 45–70, aus Anlass der Eröffnung des U.S. Holocaust Memorial Museums. Darin ist auch von „Altären des Kitsches“ oder dem „Disneyland des Schreckens“ die Rede. 3 Bak, Landscapes, ohne Seitenangabe.
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Abb. 1 : Visuell symbolisierte Verschränkung von Katastrophe und Erlösung, von Tod und Auferstehung, von Zerstörung in Europa und Ankunft in Israel. Memorial (Landscape of Jewish History) von Samuel Bak, 1986, Öl auf Leinwand, 100×81 cm. Image Courtesy of Pucker Gallery.
Die von Lipa Yahalom und Dan Tzur 1992 eingeweihte Denkmalanlage Tal der Gemeinden, die innerhalb von Yad Vashem den zerstörten jüdischen Gemeinden Europas gewidmet ist, besteht, wie in den vielen Bildern Baks, realiter aus gewaltigen Monolithen, Wänden und Tafeln, ein tief eingegrabenes Steinlabyrinth, das an riesige offene Gräber erinnert und gleichzeitig die Namen der zerstörten Gemeinden im Fundament Israels birgt. Nur auf den ersten Blick handelt es sich um ein säkular gedachtes Monument. Im Motiv des Tales, das auf eine Stelle im Buch Hesekiel anspielt („Siehe, ich will eure Gräber auftun und ich will euch, mein Volk aus diesen ins Land Israel führen“, Hesekiel 37,12), durchdringen sich zionistische und biblische Deutungen bzw. profane und sakrale Denkmuster.4 Was ein Betrachter vor sich hat, ist die visuell symbolisierte Verschränkung von Katastrophe und Erlösung, von Tod und Auferstehung, von Zerstörung und Ankunft in Israel. Das nationale, auf biblische Zeiten zurückgeführte Selbstverständnis Israels entfaltet durch diese Verschränkung von Antike und Moderne sowie von Holocaust und Staatsgründung hegemoniale Autorität.5 4 Padan, „Re-Placing Memory“, S. 247–263 ; Dengler, Tal der Gemeinden, S. 51–52. 5 Friedländer, „Gedenken“, S. 125 ff.
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In der realgeografischen diasporischen Perspektive tut dies aber auch das von Oskar Weiss gestaltete Mahnmal auf dem Jüdischen Friedhof Bern in der Schweiz, das aus dem gleichen Jerusalemer Stein wie das Tal der Tränen gefertigt wurde. Es mischt verstörende und hoffnungsvolle Symbolik, die an gebrochene Zeit und erinnerte Zuversicht mahnt, indem es den Magen David zeigt, den Sechsstern aus zwei Dreiecken, auf einer im Halbrund angelegten Mauer, durch die ein Bruch von oben her bis tief in die Mitte des Erinnerungsmales führt. Hinter dieser Mauer und dem gebrochenen Stern ist ein Strauch gewachsen, der durch den Riss nach vorne dringt und das Leben zu verkörpern scheint.6 In allen drei Beispielen spielt der geschichtete oder gebrochene Stein eine erhebliche Rolle, die sich auf biblische Erzählungen (1 Mos 31-35) stützen kann. Geschichtete Steine, gebrochene Tafeln, getilgte Schriftzeichen, begrabene Worte, fliehende Chiffren, Risse in den Bildern, Fragmente und Lücken als Mahnmale – diese Metaphern und Symbole verlangen geradezu nach Ergründung im kulturellen Raum der jüdischen Erinnerung. Seit der Antike ist deren Grundton stets gleichermaßen antiapokalyptisch wie auf Zukunft gerichtet, wenn auch messianische Aspirationen nur mühsam im Zaum gehalten wurden.7 Es ist offensichtlich, dass in diesen Beispielen Schrecken, Erlösung und Auferstehung als Einheit, wenngleich in unterschiedlichen kulturellen oder rituellen Ausdrucksformen angesprochen werden. Jedenfalls kommen in jüdischen, christlichen oder modernen Diesseitserzählungen solche Denkfiguren zur Sprache. Diese zu Stein gewordene ästhetische Rede ist gerade auch in liturgischen Traditionen verankert, indem sie ihnen ähnelt oder entspricht oder, was auch eine Referenz ist, widerspricht und sie neuartig ordnet. Wir gehen zuerst auf diese Liturgietradition ein und werden danach Beispiele aus Kunst und Poesie anführen, die das Dilemma der Sicht- und Hörbarmachung des Unsagbaren oder der Abwesenheiten zum Thema haben.
Im liturgischen Modus der Erinnerung Was heißt, zunächst, Erinnerung, Gedächtnis, Zukunft im Lichte der jüdischen Überlieferungen ? Die rabbinische Tradition, lange maßgebend für die Deutung der Geschichte, kontrollierte Zukunftserwartungen sehr bedacht, um im Exil die Einheit der jüdischen Lebensweisen und die religionsgesetzliche Autorität zu sichern. Gnos6 Picard, „Riss in der Geschichte“, S. 17 ff. 7 Roskies, Against the Apocalypse, bes. S. 15–52.
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tische und messianische Potenziale lebten im Rahmen dieser religiösen Leitkultur zwar unterschwellig weiter, aber das rabbinische Denken blieb gegenüber allem Aufruhr, der in solchen Ambitionen wohnt, skeptisch, suchte aber der Verlorenheit im Exil und einem entsprechenden Vergessen ebenso deutlich entgegenzutreten. Diese doppelte Haltung fand sinnfälligen Ausdruck im Imperativ der Erinnerung, der festen Ereignissen im Kalendarium folgte. Die rabbinische Exegese lotete darin den Zusammenhang zwischen „erinnern“ und die Gebote „halten“ tiefgründig aus. Um in der Verbannung, im Galut, überleben zu können, musste die Institution der Halacha, als ein Netz oder Weg von Gebet, Studium und Lebensführung, die vergangene Zeit so strukturieren, dass jedem Juden die Kontinuität der durchlebten Erfahrungen einsichtig blieb. Insbesondere erscheinen gerade Katastrophen als ereignishafte dramatische Momente des mythischen Geschehens. Angelegt ist dieses Geschehen als zentraler Modus der Erinnerung im Kalender, der uns im Jahreszyklus eine Liturgie der Zerstörung wie der Hoffnung auf Erlösung vorführt. Die Tage zählen und die Geschichten erzählen : In den drei Wochen zwischen dem 17. Tammus und dem neunten Aw wird der Zerstörung der beiden Tempel, samt des darin unterlegten Themas der Exilierung, in den Synagogen von Jahr zu Jahr gedacht. Der neunte Aw war in der biblischen Diktion der Tag, an dem sich Israel in der Wüste nach Ägypten zurückgesehnt hatte ; und am 17. Tammus hatte der Überlieferung zufolge Moses am Sinai die Gesetzestafeln zerbrochen. An diesem Tag gelang Nebukadnezar vor dem belagerten Jerusalem das Aufbrechen der Befestigungsmauern (586 vor Christus) und danach die Zerstörung des ersten Tempels (Königsbücher 2, 25 ; Jeremia 52), und auf eben dieses Datum wurde später auch die Zerstörung des zweiten Tempels (70 nach Christus) gesetzt.8 Die Einrichtung des Kalenders, als ein zeitlich strukturierter Kreislauf, und das darin eingeführte liturgische Drama der gebrochenen Tafeln und Mauern, gehorchte den Erfordernissen des Exils, das als Folge all dieser Ereignisse erschien. Gleichzeitig wurde der schwere Bruch, wie er nun liturgisch-kalendarisch symbolisiert erschien, in den kanonisierten Schriften verankert und erhielt durch diese Deutung eine Art metahistorischer Qualität.
Sakrale Geschichte, profane Geschichte Das Ritual, im Ablauf des Kalenders kodiert, evozierte im einzelnen Menschen emotional das Gefühl seiner Sündhaftigkeit, das als Teil einer gemeinsamen Erinnerung 8 Nach Josephus erfolgte die Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer am neunten Tamus, doch ist dieser Gedenktag durch die Rabbinen auf den 17. Tamus gesetzt worden.
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an Dinge erlebt wurde, die historisch weit zurücklagen, jedoch liturgisch reaktualisiert wurden. Der Mensch kann im rabbinischen Selbstverständnis das Erinnern nicht aufgeben, weil auch Gott sich erinnert.9 Franz Baermann Steiner, der aus Prag stammende, in England lebende Ethnologe, notierte 1944 in seinen Aufzeichnungen zu eben dieser Frage : „Kann das Menschenwerk : die Sünden unschädlich zu machen, gelingen ? Wir wissen bloß, dass an die Notwendigkeit des Misslingens zu glauben ein Aberglauben ist. Worin [aber] besteht nun die Möglichkeit des [künftigen] Gelingens ?“10 In der rabbinischen Ordnung der Erinnerung, die eine Liturgie der gebrochenen Tafeln ist, wird das Gedenken also mit der Zukunft verbunden. Auch der Messias wird am neunten Aw geboren werden. Die Voraussetzung für dessen Erscheinen zu schaffen, hatte im Exil durch die Einhaltung der Gebote und die Gebete zu geschehen, nicht aber durch die Beschäftigung mit den Profanitäten der zeitgenössischen Geschichte, was nur die falschen messianischen und gar apokalyptischen Erwartungen steigern würde.11 Der Jom haZikaron, der Tag der Erinnerung, und das hörbare Zeichen, wenn an diesem Hohen Feiertag das Schofar geblasen wird, welches den Menschen an die Opferung Isaacs erinnert, trägt eine in Zeit und Raum multiple Semantik vor. Wenn während der Agonie des Dritten Reiches, nach dem Bekanntwerden des Holocaust, in unzähligen Reden und Artikeln auf den neunten Aw oder die Bedeutung der hohen Feiertage hingewiesen wurde, entsprachen diese Mahnungen traditionsgemäß der Liturgie der gebrochenen Tafeln, die in den Worten des zitierten Anthropologen durch ein Paradox theologischer Art geprägt erscheinen : „Die Risse der Schöpfung gehen durch sein [des Menschen] Herz, sein Herz ist die größte Wunde der Welt. [Doch] nicht sein sind die Risse, es sind die Risse der Schöpfung. […] Gepriesen sei der Schöpfer.“12 Doch welcher Schöpfer ? Und was heißt Wunde ? Das Bild von Samuel Bak, das Monument Tal der Gemeinden oder das Berner Mahnmal schließen motivisch an diese Semantik und Evokation an, unbesehen davon, ob hier Gottgläubige, Atheisten,
9 Es wäre notwendig, an dieser Stelle das Problem des Bösen in der Geschichte zu erörtern, wie es sich die Rabbinen erklärten. Es ist aber nicht möglich, auf so weitgehende Konzepte einzugehen, deren Geschichtsbild mehr impliziert, als hier zu befragen beabsichtigt ist. 10 Steiner, Feststellungen und Versuche, S. 14. 11 In den Tischa be-Aw ließen sich von vornherein alle latenten Katastrophen der Zukunft einbauen und als weitere Stationen der jüdischen Exilsgeschichte deuten. Die Vertreibung aus England 1290 oder jene aus Spanien 1492 stellten nur Geburtswehen zur messianischen Zeit dar und wurden ebenso mit dem neunten Aw identifiziert wie der Beginn des Ersten Weltkrieges, der tatsächlich auf dieses Datum fiel. 12 Steiner, Feststellungen und Versuche, S. 13.
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Agnostiker oder Transzendenzsuchende in der Gemeinschaft der Gedenkenden adressiert werden. Auch auf den Kalendern des 20. und 21. Jahrhunderts sind zivilgesellschaftliche bzw. zivilreligiöse Gedenktage präsent, die an die Abwesenheit der Ermordeten erinnern. Die Schöpfer dieser säkularen Kalendarien sind heute politische Demokratien. Kalendarien verweisen also stets auf eine Zeichen- und Zeitenfolge, die man implizit als profane Liturgien der Moderne verstehen kann. Sie werden nicht im religiösen Sinn konstituiert, vielmehr mythologisch, aber nicht weniger als eine aus religiösen Traditionen abgeleitete, „säkular“ gefasste Erzählweise, die nationalen oder transnationalen Anliegen dient. Das die vergangene Zeit strukturierende zeitgenössische Muster ähnelt frappierend, ob gewollt oder nicht, älteren Vorbildern. In Israel in besonderer Weise, wenn das Narrativ an die biblisch verbürgte Abfolge von einem Fasten- und anschließenden Freudentag (Sacharja 8,19) anzuspielen scheint : Der Jom ha-Shoa, der jüdische Gedenktag zum Holocaust, findet immer eine Woche vor dem Jom ha-Zikaron statt, der nunmehr für die im Krieg Gefallenen steht und dem Jom ha-Azma’ut zur Feier der staatlichen Unabhängigkeit einen Tag vorangeht. Dieser zeitliche Rhythmus, zu dem sich auch noch in kalendarischer Nähe der historische Beginn des Warschauer Ghettoaufstands gesellt, bedient eine Zeit der institutionalisierten und medialisierten Trauer. Durch im Zyklus fest eingefügte Kalendertage wird also einerseits die Erinnerung jährlich verortet und dadurch dauerhaft gefestigt, andererseits erlaubt dies die Kanalisierung von Emotionen und Hoffnungen, die im Verlaufe eines gesetzten Tages durch ein Ritual einen Beginn, eine Mitte und ein Ende haben. In diesem zyklischen Ritual lässt sich, wer so will, eine liturgische Behandlung des jährlichen Gedenkens deuten.
Bündnisse und Kodierungen Die Schriftzeichen sind gleichsam ein Code, der in den Legenden, in den Midraschim und später in der Welt der Mystik, einen Sinn im Geheimnis birgt, gleich einem verschlossenen Felsen, über den die zeitgenössische Gegenwart und ihre Probleme wie dünner Sand rieseln. Gott schaute in die Torah und schuf darnach die Welt, erklärt ein bekannter Midrasch, und die Mystiker spekulieren über die Rätsel der Schöpfung, indem sie in der Torah nicht die Buchstaben lesen, sondern das leere Weiß im Hintergrund meditieren.13 Die Geheimnisse der Schrift und die Lücken hinter den Zeichen sind in der Diaspora semantisch konstitutiv für die Erinnerung : Die schriftliche Torah, als mediales Zeichensystem der Offenbarung, legitimierte seine Deuter je schon 13 Zu den Kabbalisten vgl. Idel, „Infinities of Thora in Kabbalah“.
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zu einem einzigartigen Prinzip selektiver Lesart von Geschichte, die alle Ursachen – auch jene des Leidens – ganz in das unerforschliche Ermessen Gottes legte. Um die Sache, um das Leiden und die Geschichte zu begreifen, ist in der Moderne aber nicht auf Transzendenz ausgerichtete Theologie, sondern eine kritische Sozial- und Kulturforschung in den Rang der Deutungsmacht aufgestiegen, wie etwa Max Horkheimer ausführte.14 Und bei Gershom Scholem kommt der Staat Israel einem Abschied von Europa gleich : „[W]ir haben auf Heilung gehofft, doch stattdessen – Grauen. Durch die völlige Vernichtung unseres Volks ist auch die Mehrheit der frischen Kräfte, auf die wir unsere Hoffnung zur Weiterführung des Werkes setzten, vernichtet.“15 Beide sehen in der Erinnerung an den Mord an den europäischen Juden den Imperativ zu ihrer Position, indem die Chiffre „Auschwitz“ ein historisches Bewusstsein von Einzigartigkeit und Abwesenheit abverlangt. Darin aber war die Frage, ob die menschliche Sprache und ihre Formen die Vorstellung von Auschwitz wiedergeben können, ein zentrales Momentum : „Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr Abgrund versiegelt“ – solcherart wird der Sprache und den ästhetischen Kodierungen eine besondere, geradezu mythische Kraft zugeeignet.16 So finden sich der kühle Agnostiker und der glühendste jüdische Atheist wie ebenso eine feministisch-jüdische Theologie oder Lesarten orthodoxer Provenienz herausgefordert, eine Grammatik des Verstehens von Auschwitz zu formulieren, in der die sprachliche wie bildhafte, ja die ästhetische Vermittlung überhaupt zu bedenken sind.17 Jüdische Theologie und reflexive Ästhetik sowie neuerdings psychologische Therapien gehen inzwischen eine Art Bündnis ein, um diese Vermittlung zu leisten. Ein gemeinsamer Nenner dieses Bündnisses sind das Licht und der Laut, die in Konzepten verschiedener Provenienz eine Rolle spielen, wie wir gleich erkennen werden.
14 Besonders deutlich als Anspruch bei Horkheimer, Nachgelassene Schriften, der die notwendige Selbsterhaltung der Juden wie ebenso den besten Zugang zur Erklärung der antidemokratischen Gefühle der Masse im 20. Jahrhundert in einer sich aufklärenden Wissenschaft sieht. 15 Scholem, Judaica 6, S. 51–52. 16 Scholem, „Bekenntnis über unsere Sprache“. Vgl. im Weiteren Mosès, Un retour au Judaïsme, S. 63. Scholem verwies gegenüber dem der hebräischen Sprache ruhig vertrauenden Franz Rosenzweig auf deren revolutionären, vulkanischen Elan, der in der neuen hebräischen Kultur unausbleiblich sein werde. 17 Unter anderen, auf deutschem Boden erwähnenswert : Jonas, Gottesbegriff ; Raphael, Female Face : zeigt als feministischer Beitrag die enorme Ausweitung des theologischen Bedenkens ; Baigell, Jewish-American Artists, S. 112–117 : sieht eine Funktion der Kunst darin, das Wissen um das Zerstörte als Erbschaft einer nächsten Generation ästhetisch angemessen zu vermitteln.
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Abb. 2 : Der Faden der Erinnerung gründet ästhetisch-sensorisch im Zusammenwirken von Licht und Laut, von Sehen und Hören. Moshe Safdie (1938), Childrens Memorial, 1995, Yad Vashem, Jerusalem. © Moshe Safdie Architects, Jerusalem.
Sprechen und Hören, Metapher und Metonymie In seinem 1987 in Yad Vashem eingeweihten Denkmal für die 1,5 Millionen ermordeten Kinder hat Moshe Safdie sein Konzept erprobt, das einen bemerkenswerten Kontrast zum Bild von Samuel Bak abgibt. Eine unterirdische Gedenkstätte mit dem anschließenden Aufstieg ins Tageslicht könnte auf den ersten Blick eine Art Wiedergeburt symbolisieren. Die leere Höhle, in der eine leise, etwas monotone Stimme die Namen der ermordeten Kinder, ihr Alter und ihren Geburtsort verliest, ist vollständig in Dunkelheit getaucht. Gedenkkerzen, Ner neshama (Seelenlichter), werden in Spiegeln reflektiert ; der wie unendlich scheinende Raum erzeugt den Eindruck, dass der Betrachter in einem dunklen, leeren All schwebt, inmitten von Millionen Funken.18 Ein Gefühl des Heroismus oder Martyriums ist hier nicht zu verspüren. Eher denkt man, dass hier vielleicht eine Allusion auf das kabbalistische Bild der zerbrochenen Schöpfung und der ins Exil zerstreuten Seelenfunken gemeint sein könnte. Doch das Sehen ist weniger zentral als das Hören, sofern man in diesem Raum voller Funken ausharrt und zur Ruhe findet : eine Stimme spricht die Namen der ermordeten Kinder. Der Erinnerung trauen, ihren Aussagen glauben, kommt vom Hören. Doch das Hören wiederum gründet im Sehen : Der Augenzeuge berichtet durch seine Rede, 18 Vgl. Ockman, Yad Vashem.
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die gehört werden soll. Erst durch diesen Faden wird Erinnerung erschaffen. Nur selten oder gar nicht verfügen die Überlebenden über Fotografien ihrer Liebsten, die umgekommen sind, und so nimmt das Hören der Namen und das Erzählen anstelle von fotografischen Bildern eine besondere Rolle ein.19 Die Erinnerung sprechen – und auf Seiten der Nachgeborenen die Erinnerung hören – ist eine Form der Poetizität, die der heuristischen Absicht folgt, die Namen der Abwesenden im Gedenken zurückzugewinnen. Sie stellt der Sprachlosigkeit, ihren Leerstellen und ihrer Nichtsagbarkeit eine lyrische Präsenz entgegen. Dieses paradox entfaltete Verfahren knüpft an den Midrasch an, der in Nachbarschaft zur Lyrik wie auch zur Musik liegt. Als künstlerisches Verfahren fungiert im Midrasch die Metonymie, das heißt, das Setzen von Lauten : Namen und auch Noten, die anstelle des Abwesenden treten. Das metonymische Verfahren ist ein gangbarer Weg, um einer Inkonsistenz oder Lücke oder Abwesenheit beizukommen. Hingegen verbleibt die Metapher, die ein Gleichnis zur Stellvertretung einer Idee ist, in bildhafter Sinngebung, die allzu schnell auch moralisch gedacht wird. Im Wesen der Metonymie hingegen liegt es, das Begehren auf etwas Anderes, auf Nichtfassbares auszurichten, um die Leerstellen als offen gebliebene Wunde zu anerkennen. Die Metapher hingegen arbeitet durch die Verschiebung von einem Etwas in ein anderes Bild, einen anderen Ort, der bereits bekannt ist.20 Zwischen Metapher und Metonymie gelegen, ist der Midrasch weder endgültig noch fixierend. Auf die beispielgebende Frage, was sich zum Holocaust aus den primären Quellen, in diesem Fall der hebräischen Bibel und den zeitgeschichtlichen Archiven in Osteuropa, überhaupt sagen lässt, bleiben dem Leser nur unzulängliche Zeichen, mit denen sich keine formulierbare Semantik zu einer Sinngebung generieren lässt. Der Holocaust hinterlässt eine Leere, die nicht mit Sinnerklärungen zugeschüttet werden kann. Nur als unaufhebbare Wunde, ohne sie ab- oder verschließen zu können, ist Poetizität möglich. In sinnstiftenden Gleichnissen oder tröstenden Metaphern reden zu wollen, diente lediglich der unangemessenen Festlegungen. Man mag eine Erzählung, ob in Kunst, Poesie oder Musik, als eine Darstellung und durchaus legitime Verarbeitung eines Traumas und von psychischen Komplexen lesen – als Erzählungen sind sie genau dies nicht, indem die Wunde offenbleiben wird. Der kreative Akt, wie ihn der Midrasch als metonymisches Verfahren verkörpert, bezieht sich auch nicht auf die Frage, ob sich geglaubte transzendente Wahrheit in kanonisierte Lehren inkarnieren lässt. Der Midrasch schafft vielmehr eine Liturgie metonymischer 19 Vgl. Amar, „Gebrochene Fäden“, S.69 f. 20 Vgl. Osborne, Midrashic Impulse, bes. S.65–73 ; Hartmann, Midrash and Literature. Dazu auch Jakobson, „Der Doppelcharakter der Sprache“, S. 163 ff.
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Art, die jenseits der Frage nach sakraler versus profaner Absicht ohne Festlegungen auskommt und auf dieser Offenheit beharrt.
Poesie, Täuschung, neue Heimat Jede Schrift, und erst recht das Bild, das ihr antwortet und sich entgegenstellt, ist aphoristisch, fragmentarisch. Es ist nicht möglich über Brüche der geschichtlichen Wirklichkeit zu schreiben, indem man so täte, als existiere keine Täuschung des Wortes oder des Bildes. Täuschungen haben bekanntlich die Nazis in böswilliger Instrumentierung zu nutzen gewusst. Der Ort der Täuschung und die Skepsis ihr gegenüber sind vermutlich zuerst in der Poesie kenntlich geworden. Jedenfalls hat die Dichtung den Ernst einer wahren Benennung nach Auschwitz sehr früh bezeugt. Die Radikalität der poetischen Verpflichtung dem Abwesenden gegenüber, dem „Nicht-Ort“, hat uns, sofern wir Lyrik lesen, vielleicht einen Schlüssel gegeben, der zur Artikulierung gegenüber der Sprache und Schrift als einem Andern zwingt. Was die hermeneutische Theologie in spekulativer und kritischer Reflexion leistet, aber in den Grenzen ihrer eigenen Gewissheiten formuliert, wird in der Arbeit der Dichter entbunden und ist zunächst einmal nur Wort oder Satz. Danach, im Sprechen und Hören, wird mit zunehmender Irritation, schließlich im Zugriff des Kommentierens der poetische Prozess zu einem Akt der Erinnerung. Die Inkommensurabilität der Dichtung und die Sache der notwendigen Deutung stehen sich nunmehr gegenüber. Die Gedichte von Nelly Sachs, Paul Celan, Edmond Jabès, David Rokheah, Leizer Ajchenrand und Abraham Sutzkever sind deutungsbedürftig, um als Erinnerung gelten zu können. Doch die Deutungsnot dieser Lyrik, die poetologischer Entzifferung bedarf, birgt das Risiko, die radikale Unlesbarkeit mit Anhäufungen von neuen Wörtern kommensurabel machen zu wollen. Umso mehr setzt Lyrik auf das Hören, nicht auf das Setzen der Schrift. In Kontrast dazu wählt die Prosa geradezu den Weg der expliziten Deutung von Erfahrung in Schrift und Diskurs. Besonders autobiografische Werke zur Shoah tragen einen Diskurs und Pakt mit einer neuen Heimat vor, um sich des eigenen Überlebens in einer Konstellation der Absenz der Ermordeten zu vergewissern.21 Auch die Nachkommen der Holocaust-Überlebenden haben als Schriftsteller der zweiten und dritten Generation die Shoah thematisiert, und zwar weil sie den Horror nicht selbst erlebt haben, aber gleichwohl Opfer einer Traumatisierung ge21 Zum Beispiel in Schweden, das wie die Schweiz als neutrales, von Krieg und Besatzung verschontes Land und Ziel der Flucht und Integration eine Autobiografik zur Shoah generiert hat. Vgl. dazu Susanek, Neue Heimat.
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worden sind, indem der Holocaust ihrer Eltern auch ihr Leben unausweichlich durch eine präsente Abwesenheit bestimmt. Dies verlangt ihnen ein Verfahren des Schreibens ab, durch das Nicht-Erlebtes vergegenwärtigt wird und durch eine Ästhetik der Abwesenheit zu einem eigenen Modus des Erinnerns findet.22 „Ich bin geboren am Tag der Zerstörung des Tempels“, heißt es bei dem aus Polen nach Israel emigrierten David Rokeah, der in seinen Gedichten die Mauern Jerusalems „mit Worten umzingelt“. Und Edmond Jabes setzt : „Alle Buchstaben bilden die Abwesenheit“ – so ist Gott „das Kind seines Namens“ – und mahnt die Erfahrung von Leiden und Geschichte an : „Vergiss nicht, dass Du der Kern eines Bruches bist“.23 In diesen Chiffren erscheint beides von den Dichtern beansprucht : Geschichtlichkeit und Distanz, auch wenn hierfür das Schweigen, das Nicht-Benennen, die „Abbildlosigkeit“ des Wortes, als seine letzte Wahrheit angegeben wird. Es ist eine schwierige Form, Gedächtnis zu üben, und oft angemerkt worden : Der poetische Prozess der Erinnerung ist lesbar, genauer : hörbar allein im Zitat, das selbst in einem fremden Kontext oder an anderer Stelle erscheint – im Riss, in der Lücke, in blattweißem „Nichts“, aber nichtsdestoweniger auf Form, auf Buchstabe, auf Grammatik und Architektur angewiesen. „Gelobt seist du, Niemand“, lautet eine Zeile aus jenem berühmten und oft paraphrasierten Psalm von Celan. Er zitiert hier eine der eingängigsten Formeln aus der jüdischen Liturgie. Das Zitat weist metonymisch die Spur in die Erinnerung, ohne den liturgischen Konventionen oder eingängigen Redeformen anheimzufallen, um sich Kunst, den schöpferischen Funken, nicht zu verbauen.24 Oder wie es Emmanuel Lévinas sagt : „Das Tun, das Wort, der Gedanke des Juden haben das unzweifelhafte Privileg, Welten zu zerstören oder wiederherzustellen“ – „l’acte, la parole, la pensée du juif, ont le redoutable privilège de détruire ou de restaurer des mondes.“25
Versuchungen und Reflexionen Nun drängt sich eine letzte Versuchung auf – die Erklärung, diese „große“ Skepsis gegenüber der bildbehafteten Ausfüllung des Leidens und der Zerstörung wäre 22 Schlachter, Schreibweisen. Zu dieser Generation in Frankreich gehören u.a. Patrick Modiano, Henri Raczymow, Gérard Wajcman, Régine Robin und Robert Bober. Zu nennen wären auch viele Namen in weiteren Kulturräumen. 23 Rokeah, Jerusalem, Gedichte, S. 60 ; Jabès, Buch der Fragen, S. 41 u. S. 126. 24 Selten haben sich Dichter über Geschichte und Dichtung anders als im Gedicht äußern wollen, wie es dies zum Beispiel Paul Celan in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises („Meine Damen und Herren, Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, [. . .]“) im Oktober 1960 getan hat. 25 Lévinas, Difficile liberté, S. 74.
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getragen durch ein „jüdisches“ Bildverbot, das in der Tradition der Juden die Bildfeindschaft zur sublimen Bildlosigkeit gesteigert und deswegen nur mit erheblicher Scheu kulturelle Formen – Kunst, Architektur – für die Erinnerung an Holocaust und Shoah geschaffen hätte. Dieser Schluss würde eine Ästhetik der Abwesenheit und der gebrochenen Tafeln als Weigerung, sich der kunstschaffenden Deutung von Auschwitz anzunehmen, interpretieren und diese Weigerung in die Tradition des Jüdischen einschreiben. Doch eben diese Tradition wendet sich gegen Totalisierungen, gegen die Abhängigkeit von einem Konstrukt und, im Fall der Holocaust-Darstellung, gegen den „visuellen Exzess“ und den „pornografischen Effekt“ in den bildlichen wie sprachlichen Darstellungen des Grauens. Den Holocaust und die Shoah in einer Weise hör- oder sichtbar zu machen, gebietet, die Würde der Menschen, die überlebten oder als Ermordete in der Erinnerung weiterleben, nicht zu verletzen. Nicht aber stellt sich die bild- wie sprachkritische Tradition gegen Kunst und Ästhetik selbst : Schönheit als Topos ist dem jüdischen Denken ein Anlass, die Ästhetik und Natur in ihrem Zusammenhang zu bedenken und die Wahrnehmung der Körperlichkeit als Aufbruch des suchenden Geistes hin zur Reflexion über Kunst und Musik zu verstehen. Weder die biblische Antike noch das rabbinische Denken in Mittelalter und Neuzeit kennen ein Bilderverbot. Ihre Stimmen wenden sich gegen die Anbetung von Kultbildern, die auch zur Zeit des Nationalsozialismus ihre „Auferstehung“ feierten. Die Kunst, falsche und wahre Bilder zu unterscheiden, haben jüdische wie christliche Stimmen vom Horeb über Byzanz bis in die Reformationen der frühen Neuzeit und in die Moderne gleichermaßen beschäftigt. Von den Bildfresken in antiken Synagogen über die Bildillustrationen in mittelalterlichen hebräischen Handschriften bis hin zum Kreis der jüdischen Künstler von Montparnasse reichen diese Zeugnisse der jüdischen Erfahrungen und Hervorbringung von Kunst, die von Kult und Vergötzung stets unterschieden wurden.26 Allzu eilig findet man sich in das Lager der Götzendiener verbannt. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass das, was dramatisch „Holocaust“ genannt wird, einzig den Namen „Verbrechen“ tragen und nicht das im Wort „Holocaust“ enthaltene Geheiligte eines rituellen Opfers evozieren sollte.27 Offenbar aber bleibt das menschliche Denken der Herrschaft der Ikonizität untertan – in der Wahl eines Wortes, das nun international Karriere gemacht hat. Wenn moderne Kunstkritiker dagegen postulieren, dass Kult- und Götzenkritik ihren höchsten Ausdruck in einer bildenden Kunst fänden, die nur leere weiße Leinwände zeigen würde, so ist ein solches Postulat zwar nachvollziehbar, weil es 26 Vgl. Keel, „Das biblische Kultbildverbot“. Vgl. auch Picard, „Aphrodite zu Besuch“. 27 Dazu : Mondzain, Bild, Ikone, Ökonomie, S.244.
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historisch in der Tradition einer Ästhetik des Erhabenen verankert ist, die sich im 18. Jahrhundert bei Edmund Burke, Moses Mendelssohn und Immanuel Kant auffinden lässt.28 Eine Verknüpfung von Kunst und Kultverbot, wie sie aus der Rezeption des Judentums behauptet wird, ist aber kaum ratsam ; sie ginge an den historisch-empirischen Quellenfunden der jüdischen wie christlichen Kulturgeschichte vorbei. Monochrome, nichtfigürliche Kunst kann nicht aus einem imaginären Bildverbot des Judentums abgeleitet werden, sondern aus der Evolution ästhetischer Tradition, die sich am besten autonom als künstlerischen Akt der Schöpfung verstehen lässt. Mark Rothko, der – nach Bekanntwerden des Holocaust – auf jede figürliche Darstellung und später auch auf jegliche Farben in seinen Bildern verzichtete, wagte es, gerade aus seinem jüdischen Denken heraus und über alle bequemen Konventionen hinaus, das vorgestellte „Nichts als etwas mithin Existierendes zu denken“ – als Ausdruck der Freiheit des Künstlers, der imstande ist, ein Sein zu setzen, das er nicht selber ist, sondern das sich in der Kommunikation des Betrachters von Kunst ereignet.29 In George Steiners Diktion ließe sich in Hinsicht auf den Betrachter oder auch den Kunstkritiker sinngemäß anfügen : Da es beim Betrachter gleichgültiges Handeln nicht gibt, gibt es auch keine unparteiische, emotionslose Betrachtung von Kunst, aber in luzider Betrachtung wird ein Kritiker die eigene Neigung, Befangenheit oder Parteinahme auch sich selbst gegenüber klar machen und mitteilen wollen.30 Fast ist man geneigt zu sagen, dass durch die mitgeteilten Emotionen des Betrachters die Bilder nicht nur gesehen, sondern gleichsam auch emotional „gehört“ werden. Das Gefühl von Trauer, das aus diesen Zeichen der nichtfigürlichen Kunst vernommen wird, und die Leere, die diese Trauer dem Betrachter der Kunstwerke hinterlässt, ist jener Abstand, der uns Gegenwärtige von der Immanenz eines Sinnes, was die Shoah hinterlässt, endgültig trennt. Dem Betrachter wird die Emotion, wie sie der Künstler von ihm erwartet, zur Aussage über sich selbst und damit zu einer Erzählung, aus der eine ethische, weil selbstreflexive Auffassung der Kritik spricht. Aus bloß kritischer Ästhetik wird so reflektierte Ästhetik. 28 Vgl. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne, bes. S. 91–102 ; Wendel, Zeugnis, S. 264–278. In der Geschichte der westlichen Malerei provozieren solche „Nicht-Bilder“, die nur mit den Mitteln der Malerei anschaulich zu machen sind, die Frage nach dem ontologischen Status der Kunst, nach der inhaltlichen Auseinandersetzung von Absenz und Anwesenheit, von der „représentation d’une absence de représentation“ (Denys Riouts) mittels der Monochromie seit Kazimir Malewich. 29 Vgl. Gehring, Marc Rothko, S.393–405. Im Weiteren auch Gehring, „Das weisse Rauschen“, bes. S. 54 ; dort zitiert : Riout, La peinture monochrome. Gehring verweist auf S. 402 auf Gershom Scholem‘s Formulierung von der Schöpfung aus Nichts. Vgl. Scholem, „Schöpfung aus Nichts“, S. 55. 30 Steiner, Critical/Reader, S. 428 : „As there is no such thing as indifferent action, so there is no impartial („objective“) criticism. Only immobility is unbiased. But in good criticism, bias is made visible, is made lucid to itself.
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Dennoch schwingt sich die moderne Bildkritik – durchaus sehr kreativ, weil widerständig gedacht – zuweilen dialektisch zu einem spekulativen Höhenflug in ein Judentum auf, das in dieser Hinsicht imaginär bleiben muss. Jedoch dürfte diese Kritik selber gerade um die Wirkmächtigkeit des Imaginierten wissen, welches sie „hörbar“ zu machen sucht. Denn jede Zeichensprache – gerade auch wenn sie das Holocaust-Gedenken berührt – ist in sich problematisch, indem das Zeichen, das Aleph Beth der Worte, der Bilder und der Schrift immer menschliche Konvention und Kommunikation darstellt und, semiotisch notwendig, einem Bedeutungswandel unterliegt, den es mithin zu bedenken gilt. Diese semiotische Einsicht gilt für jede ästhetische Form des Holocaust- und Shoah-Gedenkens, umso mehr, weil die situativen Zuschreibungen und Deutungsansprüche nicht unerheblich sind.
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Leere als symbolische Form Zur Erfahrbarkeit des Unsichtbaren und nicht mehr Existenten Reflection on artistic, architectural, and literary representations in Holocaust remembrance includes questions of critical aesthetics in order to understand the appropriateness of forms of expression. What the examples given in this paper have in common is that they do not commemorate Holocaust victims in an exemplary way, but rather make us aware of the presence of their absence as a void that still exists today. This can be read in the emptying of the motif world or in narrative modes that shape absence in the poetic process. This aestheticization of “emptiness” is not a negating, but a semantically confessing intention by giving space to the memory of the victims in empty libraries, on abandoned benches or in a pictorial world freed from the object. Als Israel M. Lau, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und ehemaliger Oberrabbiner von Israel, am Vorabend des 27. Nisan, der 2020 auf den 20. April fiel, in Yad Vashem das symbolische Feuer zum 75. Gedenktag an die Shoah entzündete, fand dies unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.1 Die Zeremonie an Yom HaShoah, dem jüdischen Holocaust-Gedenktag, wurde auch in diesem Jahr vom israelischen Staatspräsidenten eröffnet, doch aufgrund der Corona-Pandemie ohne darüber hinausgehende Gäste. Auf der großen, ansonsten leeren Freifläche vor der Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust (Yad Vashem)2 standen sechs Fackeln, stellvertretend für sechs Millionen ermordeter Juden im Nationalsozialismus. Um Zeitzeugen das Wort zu geben, wurden Kurzfilme mit persönlichen Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden eingespielt. Diese voraufgezeichnete Eröffnungsfeier wurde sodann am Abend des Yom HaShoah 2020 im israelischen Radio, Fernsehen und auf den Internetseiten Yad Vashems gesendet.3 Die Reden waren in fünf Sprachen übersetzt und konnten mit entsprechenden Untertiteln weltweit gehört werden. Und obwohl die Zeremonie erstmals ohne Pub1 Eine Dokumentation des Festaktes ist auf der offiziellen Website von Yad Vashem archiviert : https:// www.yadvashem.org/yv/de/remembrance-day/overview.asp, letzter Zugriff : 24.09.2020. 2 Die im europäischen Kontext geläufige Bezeichnung „Yad Vashem“ ist die englische Transkription von hebräisch יד ושם, was wörtlich so viel bedeutet wie „Gedenken“ und „Namen“. 3 Die Übertragung mit deutschen Untertiteln findet sich unter https://www.yadvashem.org/yv/de/remembrance-day/broadcast.asp, letzter Zugriff : 24.09.2020.
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Ulrike Gehring
Abb. 1 : Gedenken in Zeiten digitaler Informationsübermittlung. Snapshot der Gedenkfeier am Yom HaShoah in Yad Vashem, Jerusalem, 27. Nisan / 20. April 2020.
likum stattfand, erreichte sie eine größere Zahl an Menschen als je zuvor. Angesichts dieser großen Resonanz stellt sich die Frage, inwiefern das Gedenken an die Shoah solch symbolträchtiger Orte wie Yad Vashem bedarf, um Erinnerung angemessenen Raum zu geben : Welche Bedeutung kommt architektonischen Narrativen in Zeiten digitaler Informationsübermittlung zu ? Fehlten die Teilnehmer in Yad Vashem, oder unterstrich ihre Absenz auch die semantische Leere, wie sie nach der Auslöschung des jüdischen Lebens seither die Welt so nachhaltig veränderte ? Auf der Suche nach einer Antwort erweist sich der Blick auf verschiedene Formen inszenierter Leere – als symbolische Aussage der Architektur, Literatur und Kunst – als hilfreich.
Architektur als symbolische Form Als der jüdische Architekt Josef Frank (1885–1967) kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs seine programmatische Schrift Architektur als Symbol (1931) verfasste, wollte er der funktionalen Moderne des Bauhauses in seiner historischen Referenzlosigkeit eine nationale und geschichtsbewusste Architektur gegenüberstellen.4 Er forderte ganz im Stile der von ihm begründeten Wiener Schule eine Architektursprache, 4 Vgl. hierzu die Ausführungen von Holste, „Jüdische Architektur und Identität“ (https://www.jstor.org/ stable/j.ctvbkk3vk.17, letzter Zugriff : 01.10.2020) ; Neubig, Das Wohnen als Ziel des architektonischen Entwerfens, S. 17–28 (https://d-nb.info/993795285/34, letzter Zugriff : 01.10.2020).
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die als „Trägerin und Gestalterin kollektiver zeitpräsenter Symbole“ agiere : „Das architektonische Symbol“, so formulierte er, sei, sobald „einmal verständlich geworden (…) ein formgewordenes Schlagwort“.5 Ohne sich dabei auf jüdische Architekten zu beziehen, mochte er doch Erich Mendelsohns (1887–1953) Einsteinturm (1919–1921) vor Augen gehabt haben, der den Bruch mit der Moderne herbeiführt, ohne die architektonischen Traditionen zu kappen. Selbiges konnte er für das Bauhaus nicht anführen. Derweil dessen Leiter, Walter Gropius (1883–1969), seine ersten kubischen Entwürfe in der Weißenhof-Siedlung realisierte (1927), wandte sich Frank gegen eine modulare und auf Standardisierung setzende Moderne. Sie signalisierte ihm eine „Verabschiedung von der Geschichte“, die am Beginn einer ‚Kultur des Vergessens’ (Nietzsche) stünde.6 Wenngleich die Bauhaus-Architektur nie geschichtslos war, so fällt doch auf, dass sich jüdische Architekten nachfolgender Generationen bei der Planung ihrer postmodernen Synagogen, Gemeindezentren oder Gedenkstätten weniger auf die Errungenschaften des Bauhauses als vielmehr auf Josef Franks „symbolische Form“ beriefen.7 Den Beweis liefert Christine Holstes Überblick über Daniel Libeskinds (*1946) Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück (1998/2011), das Jüdische Museum in Berlin (1989–1999) oder Mario Bottas (*1943) Cymbalista Synagoge in Tel Aviv (1996– 1998).8 Alle diese Bauten bedienen sich einer komplexen Symbolsprache, die dem Erinnern eine Form und einen Ort geben. Im Zusammenspiel beider entwickeln Zvi Hecker (*1931), Dani Karavan (*1930), Alfred Jacoby (*1950) oder die Bürogemeinschaft Wandel/Lorch (ehemals Wandel/Hoefer/Lorch)9 nach der Jahrtausendwende schließlich ein noch radikaleres Narrativ, wenn sie die symbolische Form als umbaute Leere interpretieren. Die räumliche Leere wird zu einer ästhetischen Konstante ; sie ist keine negierende Leer(stell)e, sondern eine kritische bzw. reflektierte Leere mit subtilen historischen und theologischen Bezügen, die im optischen Nachvollzug zu einem Ort des Erinnerns wird.
5 Frank, Architektur als Symbol, S. 11 : „Das architektonische Symbol, einmal verständlich geworden, ist ein formgewordenes Schlagwort. Wir können deshalb den Stil einer Zeit eine Sammlung ihrer Symbole nennen.“. 6 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. 7 Frank, Architektur als Symbol. 8 Holste, „Jüdische Architektur und Identität“ (https://www.jstor.org/stable/j.ctvbkk3vk.17, letzter Zugriff : 01.10.2020). 9 Nerdinger (Hg.), Material Time.
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Leere als architektonische Stille Eine leere Fläche wirkt im städtebaulichen Umfeld wie eine Pause in einer Partitur. Als semantische Leerstelle nimmt der Zuhörer diese geforderte Stille nur wahr, wenn sie von einem klangvollen Rahmen umgeben ist. Selbiges gilt für die Architekturwahrnehmung : Auch ein unbebauter Platz wirkt umso leerer, je opulenter ihn die umgebende Architektur kontrastiert. Mit einem solch inszenierten Widerspruch arbeitet vor allem Daniel Libeskinds Entwurf des Jüdischen Museums Berlin (2001). Die labyrinthische Wegeführung durch schmale und niedrige Gänge endet in hallenartigen Leerräumen, die sich über drei Stockwerke nach oben erheben.10 Auf die bauliche Enge der Zubringer folgen weitläufige voids, die in der Dimension größer, in der Temperatur kühler und der Inszenierung stiller sind. In ihnen versiegt der Informationsfluss des zuvor reichhaltigen museumsdidaktischen Angebotes. Dieses bewusste Moment der architektonischen Stille wirkt so lange, bis einer der Besucher in den voids auf die aus Eisen gefertigten Gesichtsscheiben tritt, die Menashe Kadishman (*1932) im Rahmen seiner Installation Schalechet (Gefallenes Laub) dort ausgelegt hat. Läuft man über diese hinweg, durchschneidet ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stille, das weniger mit einem Klang als mit lauten Schreien zu vergleichen ist. Architektonisch übernehmen die voids damit zweierlei Funktion : Auf metaphorischer Ebene gemahnen sie der Absenz der in der Shoah ermordeten Juden ; auf sinnlicher Ebene erschaffen die Leerräume eine semantische Pause, die den damit einhergehenden heutigen Verlust erfahrbar machen soll. Das Konzept der architektonische Leere ist nicht singulär. 1991 präsentiert der US-amerikanische Bildhauer Richard Serra (*1939) eine minimalistische Plastik in der ansonsten leeren Synagoge Stommeln (The Drowned and the Saved, 1991–1992) ; Ralph Appelbaum (*1942) und Moshe Safdie (*1938) entwerfen steil ansteigende Architekturrampen, die in Houston (Holocaust Museum, 1993–1996) und Jerusalem (Yad Vashem, 1997–2004) ins Leere laufen und einen grenzenlosen Blick in den Himmel eröffnen. Andere Beispiele wie der berühmte Aschrottbrunnen in Kassel, der 1987 im Gedenken an den von den Nationalsozialisten zerstörten Brunnen errichtet wurde, versenkten sich spiegelbildlich in den Boden. Der Verlust der einst repräsentativen Wasserarchitektur wird nicht kaschiert, sondern durch eine Leerstelle sichtbar gemacht.11
10 Dorner, Daniel Libeskind ; Schneider, Daniel Libeskind. 11 Endlich, „Eine Einladung, nach innen zu sehen“, S. 67.
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Leere als inverser Raum Leere Räume, die nicht zu betreten sind oder nur imaginiert werden können, finden sich bei Micha Ullmans Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 (Berlin, Bebelplatz, 1995) oder Rachel Whitereads 2000 errichtetem Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah (Wien, Judenplatz). Anna Minta geht in ihrem Beitrag gesondert auf diese leeren Räume mit ihren leeren Regalwänden ein, die entweder keine Bücher enthalten oder nur solche, deren Seiten in Beton gegossen und daher unlesbar sind. Fehlen in Ullmans Installation die Bücher jüdischer Autoren in Gänze, verweist Whiteread auf die uns verborgenen Inhalte. Bücher und Bibliothek folgen einem inversen Prinzip, das von der Wirkung auf die Ursache schließen lässt. Eine ähnliche Aussage tätigen die drei israelischen Künstler/Architekten Micha Ullman, Zvi Hecker und Eyal Weizman am Ort der Erinnerung in Berlin-Kreuzberg. Dutzende von leeren Betonbänken erinnern hier an die frühere Synagoge Lindenstraße, die infolge der Novemberpogrome 1938 und eines Fliegerangriffs 1944 so stark beschädigt wurde, dass man sie 1956 abriss. Damit verlor Berlin seinen größten Sakralraum, den das Architekturbüro Cremer & Wolffenstein 1890/1891 für 1800 Sitzplätze geplant hatte. Angelehnt an die Sitzordnung des Gottesdienstes, verweisen die leeren Bankreihen heute unter freiem Himmel nicht nur auf die absenten Besucher, sondern auch auf den Verlust der architektonischen Hülle. Wer auf dem unbequemen Beton Platz nimmt, erfährt seine eigene Exponiertheit inmitten eines unwirtlichen Raumes, der keinerlei Schutz mehr bietet. Ähnlich wie bei Ullmans und Whitreads Bibliotheken, verweigert auch die absente Synagoge dem Gläubigen den Zutritt. Nur das Wissen und die Erinnerung an ihre einstige Existenz bewahrt sie im Gedächtnis.
Leere als eine Erzählung von Verlust Die Erfahrung einer aus Tod und Vernichtung resultierenden Leere ist an keinen Ort und an kein spezielles künstlerisches Medium gebunden. Dies belegen eindrücklich die Texte der jüdisch-französischen Shoah-Literatur der zweiten Generation, die Birgit Schlachter am Beispiel von Patrick Modiano (*1945), Henri Raczymow (*1948), Gérard Wajcman (*1949), Régine Robin (*1939) und Robert Bober (*1931) untersucht hat.12 Als Kinder der Holocaust-Opfer haben sie die Shoah nicht selbst erlebt, 12 Eine Zusammenfassung der umfangreichen Forschungsergebnisse findet sich in : Schlachter, „Überlegungen zu einer Poetik der Abwesenheit“.
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sind aber in zweiter Generation Opfer von deren indirekten Traumatisierung. Der Holocaust bestimmte ihr Leben durch seine präsente Abwesenheit und das Schreiben über ihn. Er wird zum ‚Loch in der Gegenwart‘, als imaginärem Ursprungsort ihres literarischen Handelns.13 Die literarischen Zeugnisse dieser Nachkriegsgeneration unterscheiden sich dabei deutlich von denen ihrer Väter und Mütter. Ging es der ersten Generation vor allem um das Ringen nach einer angemessenen Ausdrucks- und Darstellungsform für das Erlebte, thematisiert die zweite Generation die Auseinandersetzung mit dem Nicht-Erleben und die Suche nach Repräsentationsformen für eben diese Abwesenheit direkter Erinnerung.14 Die empfundene Leere spielt auch hier eine entscheidende Rolle, ist jedoch von anderer Qualität. Sie entspringt nicht der Wortlosigkeit gegenüber dem Unsagbaren, sondern inszeniert den Bruch in der Weitergabe der Erinnerung daran. Nicht die Frage, ob oder wie die Vernichtung dargestellt werden kann, sondern die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen für jene, welche die Shoah nicht oder nicht bewusst erlebt haben, steht im Zentrum.15 Die Reflexionen über die Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns sind damit ein inhaltliches und strukturdefinierendes Element ihres literarischen Handelns. Die Autoren der jüdisch-französischen Shoah-Literatur entwickeln ein Verfahren des Schreibens, welches das Nicht-Erlebte vergegenwärtigt und in der Ästhetik der Absenz einen Modus des Erinnerns findet.
Leere als Motiv bildender Kunst nach 1945 Der Wunsch, Unsichtbares oder nicht mehr Existentes sichtbar zu machen, ist der Kunst von Anbeginn an eigen. Künstler imaginieren phantastische Welten, portraitieren die Antlitze längst verstorbener Personen oder verleihen visionären Ideen eine optisch wahrnehmbare Gestalt. Von diesem fortwährenden Anspruch auf Visibilität emanzipieren sich in den 1950er- Jahren systematisch jene Farbfeldmaler, die das Abwesende zum Gegenstand ihrer meist einfarbigen, vermeintlich leeren Leinwände erklären.16 Zu dieser Gruppe gehören neben Ad Reinhardt (1913–1967) und Barnett Newman (1905–1970) auch Ellsworth Kelly (1923–2015) und Mark Rothko (1903–1970)17. Ge13 Schlachter, „Überlegungen zu einer Poetik der Abwesenheit“. 14 Bachmann, Der abwesende Zeuge, S. 78–79. 15 Zu einer ausführlicheren Darstellung und theoretischen Begründung und Fundierung dieser Schreibverfahren siehe : Schlachter, Schreibweisen der Abwesenheit. 16 Wilkin, Color as field. 17 Breslin, Mark Rothko.
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rade für Rothko lässt sich der Bruch mit der Tradition dabei erstaunlich präzise datieren, verzichtete er doch von dem Augenblick an auf figürliche Referenzen, als ihm das Ausmaß der Shoah über Medienberichte bewusst wurde. In den Folgejahren konzentrierte er sich ausschließlich auf die Gestaltung gegenstandsloser Farbräume, die leer wirken, in der Leere aber ihre eigentliche Bedeutung generieren.18 Wie er diesen rezeptionsästhetischen Prozess initiiert, verdeutlichen insbesondere seine späten Black on Gray-Paintings, aus den Jahren 1969–1970.19 Während die Entwürfe noch kleinformatige Papierarbeiten sind, überträgt Rothko sie später auf großformatige Leinwände, deren Ausmaß das Gesichtsfeld des Betrachters bei Weitem übersteigt. Alle 25 Arbeiten dieser Serie kennzeichnet eine horizontale Zweiteilung in ein schwarzes Rechteck oben und ein grau(braun)es Rechteck unten. Beide Farbblöcke werden von einer mehr oder weniger scharfen Trennlinie begrenzt, die nur an wenigen Stellen von den darunterliegenden Farben aufgeweicht wird. Hat der Betrachter die simple Struktur der Bildkonstruktion erfasst, versucht sein Auge unweigerlich der Linie eine semantische Bedeutung zu verleihen. Oliver Wick berichtet deshalb von einem Blick „über eine planetare Kante ins Nichts“.20 Rothko hätte dieser Interpretation widersprochen, betonte er doch stets, dass er das dunkle Farbfeld nur über das helle gestellt habe, um eine konventionelle Landschaftsinterpretation zu vermeiden“.21 Folgt man der Lesart des Künstlers, repräsentiert der schwarze Bereich keine Dunkelheit, sondern die Abwesenheit aller anderen Farben ; Ähnliches gilt für die graubraune Fläche darunter, die lediglich als Farbe an der Schwelle von Licht und Finsternis wahrgenommen werden möchte. Mit der Betonung der Farbwerte erklärt Rothko nicht, was die Komposition aussagt, sondern, was sie nicht aussagt : Sie ist keine lichtentleerte Horizontlandschaft, kein religiös aufgeladenes Farbenspiel und auch kein sich über die Farbe ausdrückendes Psychogramm, das Einblick in den Seelenzustand des Künstlers gewährt. Letzteres mutmaßen insbesondere Autoren wie David Anfam, Anne Seymour und Diane Waldman, wenn sie eine Parallele zwischen Rothkos Gemälden und seiner physischen Verfassung in den Jahren vor seinem Freitod ziehen.22 Alle diese Ansätze greifen jedoch eindeutig zu kurz. Es scheint vielmehr, als loten Rothkos Farbfelder einen abstrakten ‚Nullpunkt‘ aus, der keine weitere Vereinfachung mehr zulässt. Im Unterschied zu Ad Reinhardt, der diesen mit dem Ende der Malerei 18 Vgl. Gehring, Mark Rothko, S.393–405 ; Im Weiteren auch Gehring, „Das weisse Rauschen“, bes. S. 54 ; dort zitiert : Riout, La peinture monochrome. 19 Novak/O’Doherty, „Rothko’s Dark Paintings“. 20 Wick, “Do they negate each other” S. 24. 21 O’Doherty, Mark Rothko ; Glimcher, The Art of Mark Rothko, S. 140. 22 Anfam, Mark Rothko ; Seymour, Beuys, Klein, Rothko ; Waldman, Mark Rothko.
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Abb. 2 : Mark Rothko (1903–1970), Untitled, 1969–70, Acrylic on canvas, 203.3 x 175.5 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York Gift, The Mark Rothko Foundation, Inc., 1986 © 1998 Kate Rothko Prizel & Christopher Rothko / Artists Rights Society (ARS), New York
gleichsetzt,23 sucht Rothko nach einem Neuanfang, einem Zustand der Malerei vor der Malerei. Vergleichen lässt sich dieser status quo ante am ehesten mit einem Vakuum : Auch in einem Vakuum existieren weder Form noch gestaltete Materie ; an23 Rosenthal, Black Paintings ; Howe, “The End of Art” (www.jstor.org/stable/1557125, letzter Zugriff : 01.10.2020).
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gefüllt von Leere, in der alle Erscheinungsweisen möglich scheinen ; eine Leere, die in ihrer Wesenhaftigkeit nur begreifbar wird, wenn man sie über ihre Grenzen denkt. Die in Schwarz und Grau gehaltenen Farbfelder illustrieren nicht die Trennung von Licht und Finsternis, wie sie im Schöpfungsmythos des Buches Bereschit (1. Buch Mose) beschrieben werden. Sie grenzen auch keine Licht- und Schattenzonen voneinander ab, sondern erschaffen durch eine Selbstverschränkung erst den Raum, in dem mittels Licht und Farbe ‚Absenz‘ zum Ausdruck gebracht wird . Das noch Ungeformte ist nicht Motiv, sondern Voraussetzung, weshalb Rothko seine Leere von theologischen Konzepten ablöst und als Künstler voraussetzungslos denkt. Genau darin besteht die eigentliche Modernität der Kunst : Er wagt – vor dem Hintergrund seines jüdischen Denkens – das Nichts als etwas mithin Existierendes zu denken.24 Die Bilder berichten von einer historischen Wahrheit, die für Rothko nicht anders darstellbar war. Die Metapher, die er dem Holocaust entgegensetzt, ist das Licht. Das Licht wird zum zentralen Gestaltungselement und Motiv. In seinem diffusen Schein verblassen alle gegenständlichen Referenzen. Die Form geht in der Materie auf und materialisiert die Idee einer unendlich gedachten Sphäre, in der die Kunst wie die Welt in einem unerschaffenen Zustand existieren. Rothkos Farbfelder stellen damit mehr Fragen, als sie Antworten liefern und entfalten eine Qualität, die nicht nur, aber auch als zutiefst jüdisch angesehen werden kann.
Leere als Ort des Gedenkens Den oben genannten Beispielen aus Architektur, Literatur und Kunst ist gemein, dass sie der Holocaust-Opfer nicht individuell gedenken und einzelne Schicksale stellvertretend für andere herausgreifen, sondern die aus ihrer Absenz resultierenden Leerstellen sichtbar machen. Während Rothko seine Motivwelt von allem Figurativen ‚entleert‘, bedienen sich Daniel Libeskind und Richard Serra einer metaphorischen Leere, der die Stille wie eine ‚symbolische Form‘ innewohnt. Diese Stille gemahnt der Vergangenheit und fordert nachfolgende Generationen auf, die Erinnerung wachzuhalten. Es ist keine negierende Stille, sondern eine semantisch bekennende, die den Opfern in leeren Bibliotheken (Ullman, Whiteread), auf leeren Bänken (Hecker, Ullman, Weizman) und in einer vom Gegenstand befreiten Bildwelt (Rothko, Newman) Raum gibt. Diese Räume sind trotz ihrer unterschiedlichen Medialität alles Orte, die 24 Vgl. hierzu Gershom Scholems Formulierung von der Schöpfung aus Nichts, die „Ausdruck der absoluten Freiheit des Schöpfers ist, der imstand ist, ein Sein zu setzen, das er nicht selber ist“. Scholem, „Schöpfung aus Nichts“, S. 55.
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individuell erfahren werden können. Gerade weil sie leer sind, offenbaren sie eine Würde, aus deren Gewahrwerden die Erzählungen der Holocaust-Überlebenden zu hören sind. Wie wichtig diese Erfahrung in Zeiten ist, in denen immer weniger Überlebende ihre Geschichten erzählen können, hat die digitale Übertragung der Gedenkfeier von Yad Vashem gezeigt. An der Zeremonie nahmen mehr Menschen aus mehr Nationen Teil als je zuvor. Auch wenn die Verbindung zwischen ihnen nur virtuell bestand und das Internet selbst ein ortloser Ort blieb, führte das Medium doch zusammen, was davor getrennt war. Die Übertragung hat gezeigt, dass virtuelle Netzwerke anlässlich solcher Ereignisse wirkmächtig bedient werden können, wenn sie einen konkreten Ort der Initiierung haben. Yad Vashem war ein mit Bedacht gewählter Ort. Das bedeutet jedoch nicht, dass es in Zukunft nicht mehrerer dieser Orte auch außerhalb von Israel und Deutschland bedürfte. In Ergänzung zu den bestehenden Opfer-Täter-Perspektiven braucht es weitere kritische Stimmen, die aufkommende Deutungshoheiten beständig reflektieren und befragen. Wollen Gedenkfeiern nicht alleine erinnern, sondern dazu aufrufen, sich dem weltweit zunehmenden Hass auf Andere entgegenzustellen, benötigen wir lokale Initiativen, die der Ignoranz und verweigerten Erinnerung eine vernehmbare Stimme aus Menschlichkeit entgegensetzen. Es wäre aus deutscher Sicht wünschenswert, wenn diese vermehrt auch aus Österreich, der Schweiz, Schweden, Spanien, Italien oder Frankreich kommen. Yad Vashem hat uns vor Augen geführt, dass Erinnerung auf keinen Ort zu beschränken ist, sehr wohl aber Raum benötigt. Eine Gedenkfeier ohne Anwesende ist möglich, ein Gedenken mit Abwesenden nicht. Erst recht nicht ohne nachfolgende Generationen, die sich erinnern wollen. So vermittelt der leere Platz an diesem Abend des 20. Aprils 2020 eine ähnliche Botschaft wie Rothkos Gemälde : Der Ort der Leere ist nicht das Motiv, sondern die Voraussetzung, um der Toten zu gemahnen, ihnen Namen zu verleihen und ihre Würde als Menschen zu erinnern. Dies war und wird Aufgabe einer auch vorbeugenden Erinnerungskultur sein, die sich in der kommenden Generation zunehmend digital tradieren wird.
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Between Authenticity and Aestheticization Musical Responses to the Holocaust Dieser Artikel untersucht die Rolle der Musik bei der Aufarbeitung und beim Gedenken an den Holocaust. Er gibt einen Überblick über die wichtigsten wissenschaftlichen und künstlerischen Antworten (jüdischer und anderer Art) von der frühen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart im Bereich der traditionellen, populären und künstlerischen Musiktraditionen. Der Schwerpunkt liegt auf einer Handvoll Schlüsselwerke als Fallstudien. This article covers various musical responses related to the Holocaust, focusing especially on music as a commemorative act in the period from the end of World War Two to the present. This includes music created by and commemorating Jews along with other victims of the Nazi Holocaust, such as Roma and leftist political prisoners.1 Because the Holocaust is in many ways the defining event in the national imagination and collective memory of Israel, it really requires separate treatment and will be discussed only briefly in relation to the popular music of Yehuda Poliker.2
Switzerland and Musical Holocaust Commemoration Musical commemorations of the Holocaust in Switzerland – whether honoring Swiss victims of the Holocaust or victims of the Holocaust more broadly, includ1 Admittedly, much less scholarship has been written about the Romani musical response to the Holo caust (Porajmos) and musical responses of other victim groups. A notable exception is the work of Czech-born ethnomusicologist Petra Gelbart, the granddaughter of Romani Holocaust survivors. She co-founded the Initiative for Romani music at New York University and is currently the music curator for RomArchive. See, for example, her lecture-performance, Expressions of Roma and Sinti Holocaust Remembrance. Musicologist Barbara Milewski has researched the contribution of former political prisoner Alexander Kulisiewicz, as I discuss below. 2 Jonathan C. Friedman, “Performing grief ”. Holocaust commemorations in the United States and other countries often invoke a Zionist narrative, as I discuss briefly in relation to John Zorn’s Kristallnacht, for example. The Hebrew term Shoah and the Yiddish term khurbm are often used as alternatives to Holocaust. I am using Holocaust here to avoid preferencing it as an exclusively Jewish or even East European Jewish event.
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ing acknowledgment of the plight of refugees during the Nazi period who settled in Switzerland for a time – come quite late in the international context. Perhaps due to Switzerland’s neutral status during World War Two, commemoration ceremonies have not taken hold as prominently as in other European countries, for example in honor of International Holocaust Remembrance Day on January 27 of each year since 2005.3 In addition, in contrast to other countries, music does not seem to have played an important role in such commemorations. Only in accounts of the past two years (2019–2020) was I able to locate a musical performance embedded within Swiss Holocaust commemoration ceremonies. In both cases, cellist Mark Varshavsky (b. 1933) of Basel, performed pieces “inspired by Jewish music” at the ceremonies in Bern.4 In 2015, the Swiss opera director, Stephan Grögler, developed the musical theater piece Als ob, based on the 2013 novel Gerron by Charles Lewinsky. Together with the Bern-based ensemble I Salonisti and soprano Gaëlle Méchaly, the work features music written and performed in the Terezín concentration camp.5 Switzerland’s history is more musically intertwined with the Holocaust than meets the eye, however. In 1942, Joseph Schmidt, one of the greatest tenor voices of the twentieth century, died in Zürich after having been interned as an illegal refugee at Girenbad (Hinwil, Canton Zürich).6 Despite being an internationally celebrated musician and possessing a valid visa for the United States, Schmidt was denied adequate medical treatment for his heart condition, leading to his untimely death. Schmidt, born in 1904 in Davideny, Bukovina (then Austria-Hungary, near Storozhynets) and raised mostly in Czernowitz, mastered both the Eastern and Western Ashkenazi liturgy, and held cantorial positions in Czernowitz and later in Berlin at the orthodox Adass Jisroel synagogue. He participated in a remarkable documentation project of the music of the Jewish Reform Congregation in Berlin (Jüdische Reformgemeinde 3 January 27th commemorates the liberation of Auschwitz-Birkenau. Israeli Holocaust Remembrance Day (Yom HaShoah), first celebrated in 1951, takes place on the 27th of Nisan, which corresponds approximately to the date of the anniversary of the Warsaw Ghetto Uprising on April 19. Roma Holocaust Memorial Day is commemorated on August 2 of each year, marking the day in 1944 when approximately 3000 Roma and Sinti were gassed in Auschwitz, and has been officially recognized in Europe only since 2015. 4 International Holocaust Remembrance Day. Although Varshavsky was a prominent soloist in the Former Soviet Union, admired by luminaries such as Dmitri Shostakovich, Nathan Milstein, Gregor Piatigorsky, Yehudi Menuhin, and Aram Khachaturian, he is only identified in this context as a Holocaust survivor by the media. 5 Grögler, Als ob. See my discussion below of music in Terezín and the related critiques. 6 Alfred Fassbind (Oberdürnten, Canton Zürich) assembled an archival collection and has also presented it to the public in exhibitions and lecture evenings since the 1990s. A placement of this collection in a public archive is currently being considered.
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zu Berlin), for which he was featured soloist on several 78 rpm discs recorded in 1929.7 Schmidt went on to a major career in opera and operetta on radio, in film, and on recordings, and was known perhaps best for his rendition of “Ein Lied geht um die Welt”.8 He is buried in the cemetery of the Israelitische Cultusgemeinde Zürich in Oberen Friesenberg.9 In 1952, Israeli composer Artur Gelbrun (Warsaw 1913 – Tel Aviv 1985) composed the Lament for the Victims of the Warsaw Ghetto (in Hebrew), set to Yitzhak Katzenelson’s Song of the Murdered Jewish People (Dos lid funem oysgehargetn yidishn folk), using a neoclassical approach influenced by Bach’s Passion settings.10 The cantata for baritone, mixed choir, and symphony orchestra was dedicated to his mother, who had been a victim in the Warsaw Ghetto. Gelbrun had been a refugee to Switzerland, where he studied conducting with Hermann Scherchen and was a prize-winner at the International Competition in Geneva for violin and chamber music. He played the violin and viola with Radio Lausanne from 1941–1944 and with the Zürich Tonhalle Orchestra (1944–1948).11 Composer and conductor Max Ettinger (Lemberg 1874 – Basel 1951) fled Nazi Germany in 1933 and settled in Ascona, Switzerland. A grandson of the Chief Rabbi of Lemberg, Isaac Aaron Ettinger (1827 – 1891), Ettinger composed his Jiddisch Requiem (1948) to texts by poets Layser Aychenrand (1912 – 1985) and Chaim Nachman Bialik. Aychenrand lived near Zürich after having escaped Auschwitz in 1942. The work was commissioned by the Jewish cultural association Omanut in commemoration of the 25th anniversary of the Jewish men’s choir Hasomir. It was premiered at the Tonhalle in Zürich with Hasomir and an orchestra under the direction of Alexander Schaichet.12 Composer, pianist, and conductor János Tamás (Budapest 1936 – Aarau 1995), was a child Holocaust survivor from Budapest who settled in Switzerland after 1956. Although his family converted to Catholicism when he was a child, Tamás’s works often concerned Old Testament themes, such as in three oratorios, Das infernalis 7 Reissued as The Musical Tradition of the Jewish Reform Congregation. 8 From the 1933 film of the same name. Music : Ernst Neubach ; Text : Hans May (Johannes Mayer). 9 Oppenheim, Joseph Schmidt. 10 Werb, “Music”. 11 Gelbrun, Artur : http://www.imi.org.il/Artur-Gelbrun-Israel-Music-Institute, last accessed : 04.12.2020. 12 Omanut offered many Jewish exiles and refugees during and after the war an opportunity to give artistic expression to their fate during the Holocaust. Ettinger and his wife, the singer Josephine Krisack, are buried at the cemetery of the Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) and their estate papers are archived in the library of the ICZ. On Ettinger, see Rentsch, Jüdische Musik ; Rentsch, Max Ettinger. On Omanut see Holländer, Frage nach jüdischer Kunst ; Picard, Vom Zagreber zum Zürcher Omanut ; Labhardt, Musikschaffen.
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Joel E. Rubin Fig. 1 : The composer and conductor János Tamás played an important role in the musical and cultural life in the Canton of Aargau for almost four decades. A great doubter who wrestles with God and fate after Auschwitz speaks from the three oratorios of the composer and conductor. Picture : Förderverein János Tamás.
che Abendmahl (1972), Noahs Tochter (1986) and Die Stimmen der Erde (1993). His nephew, musicologist Peter Laki, finds parallels to Holocaust survivors and survivor’s guilt in Noahs Tochter, in which the story is told from the perspective of the daughter, who refuses to allow herself to be saved in the ark. Tamás’s penultimate composition, Postskriptum (1995) for voice and wind quintet, is based on a quotation from Anne Frank’s diary.13 There were also important connections to Switzerland in the realm of folk and popular music. The singer Belina (Lea-Nina Rodzynek ; Sterdyn, Poland 1925 – Hamburg 2006), a survivor of the concentration camp Fuhlsbüttel, lived in Switzerland in the mid-1950s, where she worked as a cosmetician before launching a major career in Germany as a film, television, and recording star, performing Yiddish and international songs in numerous languages.14 Also the Polish-born non-Jew Alexander Kulisiewicz (1918–1982), known as the “bard of the camps” and the “singing conscience of Europe”, performed in Switzerland on numerous occasions, for example 13 Rubin, “János Tamás”. 14 Belina, Nachruf : https://www.boettcher-film.de/index.php/belina/belina-nachruf-deutsch, last accessed : 04.12.2020.
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on Radio Bern in 1970. He had been imprisoned in the Sachsenhausen concentration camp near Berlin from 1939–1944. In the broadcast he stated, “It is my duty to sing these painful songs. I do not sing in order to earn money, or to make a career, or out of revenge. I play only for the memory of millions, millions of murdered comrades whose voices were strangled there”.15 In addition, the memoirs of sociologist and sex therapist Dr. Ruth Westheimer discuss the importance of songs to her as an adolescent refugee in Switzerland.16
Musical Acts of Commemoration : During the Holocaust and the Immediate Postwar Period among Displaced Persons (ca. 1945–49) In order to contextualize musical Holocaust commemoration in the post-Holocaust period, this section gives a short overview of musical creations during the Holocaust and its surrounding years. Although it concentrates primarily on music created, performed, and collected during the Holocaust, the earliest musical acts of commemoration predated the Holocaust directly. For example, socialist poet and songwriter Mordechai Gebirtig’s (1877–1942) iconic song, “Undzer shtetl brent” (Our town is on fire), was composed in Kraków in the wake of the Przytyk Pogrom of 1936. Besides creating his own songs, Kulisiewicz collected and memorized numerous songs in Polish and other languages from fellow prisoners in Sachsenhausen – mostly not Jewish – some of which likely dated to before the onset of the war. During the Holocaust, musical creations, performance, and commemorative acts took place in multifarious styles and ways. Besides music created and performed in ghettos, concentration camps, and by partisan groups, the music created by composers in exile needs to be considered. Overlapping with that last category is so called degenerate music (Entartete Musik) banned by the Nazi authorities – whether the composer was in exile or not or even a victim of persecution. Historian James Loeffler has raised the issue as to whether the term “Holocaust Music” is even a valid category. He views it as largely a “media contrivance” and argues that it runs the danger of creating a “hierarchy of suffering”, with “actual incarcerated composers” at the top. Loeffler argues that “recovering lost music requires close attention to the actual lives and artistic visions of its composers. Strip-mining the Jewish musical past, even when done with the best of intentions, doesn’t serve 15 Milewski, “Remembering the Concentration Camps”, p. 145, 153. 16 Westheimer, Musically Speaking.
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the goals of remembrance or history”.17 The category of suppressed music or music in exile is particularly complex, especially in the German-speaking realm. Musicologists Chris Walton and Antonio Baldassarre warn that the fact that “one can make a lot of money from the music of composers persecuted by the National Socialists” is dubious, in particular when “attempts at reparations [Wiedergutmachung]” represent a kind of trade off, in which a bad conscience and pecuniary interests feed off of each other.18 Paralleling the important and integral role that music has played historically in Jewish communal life,19 it is not surprising that music continued to play a significant role in life within the concentration camps, ghettos, and among partisan groups. That this role was not restricted to Jews is shown by the equally important role music played among incarcerated Roma, as Anne Merle Weissbach has shown.20 Music created and performed in concentration camps has been covered in ethnologist and musicologist Guido Fackler’s massive “Des Lagers Stimme” : Musik im KZ (“The Voice of the Camps” : Music in the Concentration Camps). As Fackler has shown, use of music was broad, complex, and integral to camp life. It cannot be simply reduced to Yiddish popular and folk songs or art music created in Terezín. Music ranged from amateur to professional and encompassed everything from folk songs, popular songs, popular dance music, marches, as well as classical music and songs from films, operettas, and operas – including newly composed music in many of these genres, especially topical songs in various folk and popular styles as well as newly created art music and musical theater compositions, often containing encoded critique.21 The situation of music in the ghettos of Nazi-occupied Europe was similar to that of the concentration camps, as has been documented by ethnomusicologist Gila Flam in Singing for Survival, the first scholarly work to use living survivor testimony. Flam also shows a broad range of musical activity, ranging from traditional, popular, and newly created songs in folk and popular style and multiple languages, to more organized performances and new creations including of choral, orchestral, and theatrical music. Flam’s main focus was that of singing and playing music as a form of spiritual 17 Loeffler, “Why the New ‘Holocaust Music’ Is an Insult to Music” : https://www.tabletmag.com/sections/ arts-letters/articles/holocaust-music-victims, last accessed : 04.12.2020. 18 Walton/Baldassarre, “Vorwort”, p. 7–8. 19 For a general history of Jewish musical traditions, see Amnon Shiloah’s Jewish Musical Traditions. 20 Weissbach, “Social Meaning of Roma Music. The song ‘Aušvicate’” (A Song of Auschwitz), for example, was set to the melody of an old folk-tune. Partly new lyrics were composed in Auschwitz that tell about the suffering of the Romani prisoners there. On Romani music more generally, see Carol Silverman’s Romani Routes. 21 Fackler, “Music in Concentration Camps”.
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resistance, which has been critiqued by Shirli Gilbert and others as too narrow an interpretation, because it “ultimately fails to engage with the complexity of the societies […]” Gilbert argues for a more “multi-dimensional understanding” that encounters the past “in all its messiness”, in which depictions of internal dynamics of communities, corruption, and moral decline vie with those of heroism and resistance.22 Songs of the partisan groups during World War Two have achieved a special status precisely because of their message of heroism and resistance.23 As ethnomusicologist Bret Werb has shown, music in the DP (displaced persons) camps in the aftermath of the Holocaust was a transitory culture that was only sparsely documented at the time. As Werb describes, the music of the DP camps included not only the “nostalgia music” (various music remembered from before the war) and music created by and for DPs – both of which paralleled music-making in the ghettos and concentration camps – but also “imported music” brought by Allied troops as well as by visiting Jewish artists from abroad.24 In all cases, whether songs were being created in ghettos, concentration camps, by partisan fighters, or by postwar DPs, most were contrafacta (parodies) of prewar folk and popular songs, and of Soviet mass songs.25 Perhaps the murkiest category of music created during the Holocaust period are works of art music and musical theater by composers who continued to create in incarceration, most notably those in Terezín, such as Viktor Ullmann (Český Těšín 1898 – Auschwitz 1944). Here the trope of spiritual resistance is particularly evident, with works like Ullmann’s opera with a libretto by Peter Kien, Der Kaiser von Atlantis (The Emperor of Atlantis, 1943–44, first performed 1975), containing encoded critiques of Hitler and the Nazi regime. Musicologist Amy Lynn Wlodarski points out the nearness of championing the positive message of such works to Eric Santner’s “narrative fetishism”, the “construction and deployment of a narrative consciously or unconsciously designed to expunge the traces of the trauma or loss that called the narrative into being in the first place”.26
22 Gilbert, “Performing Memory”, p. 45–46. See also Joseph Toltz, “Listening to ethnographic Holocaust musical testimony”. See my discussion of Brave Old World’s performance of the repertoire collected by Flam below. 23 See the soundtrack of the documentary film, Partisans of Vilna, directed by Joshua Waletzky (1986). 24 Werb, “Vu ahin zol ikh geyn ?” p. 75–77. 25 Werb, Yiddish Songs. 26 Santner, History beyond the Pleasure Principle, cited in Wlodarski, “Musical Memories of Terezín”, p. 70.
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Music as a Memorial Space : Postwar acts of Musical Holocaust Commemoration Postwar acts of musical Holocaust commemoration are extensive, multifarious, and transnational, ranging from the documentation and preservation of music of all kinds from the Holocaust era (or even more broadly of the Nazi era), to the performance of works from that era as well as the creation of new musical commemorative works in all genres. Certainly the documentation and preservation of musical materials had already started during the Holocaust, beginning perhaps with historian Simon Dubnow’s exhortation from the Riga Ghetto to “record it all”.27 The most influential of the collectors was songwriter, folklorist, and former partisan Shmerke Kaczerginski (Vilna 1908 – Argentina 1954) with his collection, Lider fun di getos un lagern.28 The use of audio recordings also became increasingly important. Large collections were assembled by amateur documentarian Ben Stonehill (1906–1965) and folklorist-performer Ruth Rubin (1906–2000), among others.29 In the performance arena, American opera singer, Emma Lazarus Schaver, began performing art song arrangements of Yiddish songs under the moniker “songs of the concentration camps” as early as 1947.30 Musicologist Anneliese Landau, herself a refugee of Nazi Germany, put on a series of “Forbidden Music” concerts in the United States during the 1940s.31 In Europe, the collectors and performers of folk and popular songs were often themselves survivors, and their motivations were clear and direct : it was a form of memorializing and honoring the dead (including the composers of the songs, many of whom did not survive), of witnessing and documentation, as well as a celebration of heroism and resistance.32 Reception of the Holocaust has evolved over a number of decades as a reflection of current events, with significant differences according to generation, nationality, religion, and political viewpoint. Certainly there have been stark differences between 27 Cited in Gilbert, “Performing Memory”, p. 43. 28 On Kaczerginski, see Bret Werb’s dissertation, Yiddish Songs of the Shoah. 29 A further discussion of these collecting efforts is beyond the scope of this article. Stonehill alone collected 1000 songs from DPs in New York City. The Rubin collection, much of which was collected from survivors, contains 2000 items. On Stonehill, see Janina Wurbs, “A Treasure Trove in a Hotel Lobby” ; on Rubin, see Ruth Rubin, Yiddish Folksongs. 30 Werb, Yiddish Songs, p. 78. 31 Hirsch, Anneliese Landau’s Life in Music. 32 Werb, Yiddish Songs ; Marion S. Jacobson, With Song to the Struggle.
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Holocaust reception in the United States, in former West and East Germany, in the Soviet Union, and in Israel, for example – and these have impacted the creation of works of musical Holocaust commemoration.33 While most works of Holocaust commemorative art music emerged out of the new Holocaust consciousness in the wake of the 1959 Hollywood film The Diary of Anne Frank, the Eichmann Trial in Israel (1961), the Frankfurt Auschwitz Trials of 1963–65 (and Peter Weiss’s theater piece from 1965, The Investigation/Die Ermittlung, based on the trial), certainly, musical commemorations from outside the concentration camps, ghettos, partisan, and DP groups began as soon as word seeped out about the Nazi atrocities. For example, German Jewish composer in exile Kurt Weill (1900–50) wrote the music to the pageant, We Will Never Die (A Memorial : Dedicated to the Two Million Jewish Dead of Europe), performed at Madison Square Garden in New York City on March 9, 1943 to an audience of 20’000.34 Soviet-Jewish composer Mikhail Gnesin’s Piano Trio, op. 63 (“In Memory of Our Perished Children”), written in Tashkent in 1943, is according to Loeffler, “probably the earliest and certainly the most significant Soviet wartime composition about the Holocaust”.35 Where such works fit into the rubric “Holocaust Music” is problematized by Loeffler, who speaks of an interpretative fallacy in which any music composed (or even performed) by European Jewish victims of the Holocaust between 1933 and 1945 is presumed to convey a generic Jewish Holocaust experience. This approach not only ideologically harnesses art to an essentialist meaning, it also fails to tell us how the Holocaust impacted the aural imagination of the vast number of Jews [or of other victim groups] outside Nazi camps and ghettos, especially those who found wartime refuge in the Soviet Union
– but also in the United States.36
33 See, for example, Hirsch’s work on American Holocaust reception (Righting and Remembering the Nazi Past) ; Joy H. Calico’s work on reception in West and East Germany as well as a third space between the two Germanies (“Jewishness and Antifascism” ; “Jüdische Chronik” ; and “Schoenberg’s Symbolic Remigration”) ; James Loeffler’s work on the Soviet Union (“In Memory of Our Murdered (Jewish) Children”) ; and Oren Meyers and Eyal Zandberg’s work on Israel (“The sound-track of memory”). 34 The NBC radio broadcast from the Hollywood Bowl in 1944 is available as We Will Never Die : Ben Hecht & Kurt Weill. 35 Loeffler, “In Memory of Our Murdered (Jewish) Children,” p. 588. 36 Loeffler, “In Memory of Our Murdered (Jewish) Children,” p. 586–87.
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Case studies Because of the breadth of musical commemorations of the Holocaust that have been created during the past seventy-five years, it is only possible here to look at a few key creations. Of course, the danger is to give preference to “great” composers at the neglect of others, as musicologist Jeroen van Gessel has noted.37 There is no consensus as to what makes a work of music fall under the Holocaust rubric. Musicologist Daniel Elphick has suggested a commemorative work may be identified as satisfying one or more of four criteria : (1) the text explicitly deals with the Holocaust ; (2) the work is abstract, but is dedicated specifically to victims ; (3) the work makes use of musical materials associated with the Holocaust, e.g. arrangements of Holocaust-era songs ; and finally (4) the work is strongly associated with the Holocaust through its use in mass media, such as in TV and film soundtracks.38
Arnold Schoenberg’s A Survivor from Warsaw (1947) As is well known, philosopher and composer Theodor W. Adorno’s dictum, “To write poetry after Auschwitz is barbaric”, has often been cited in critiques of artistic commemorations of the Holocaust. Lesser known is Adorno’s own ambivalence both to such works and to his own pronouncement, as Elphick has pointed out. Adorno later wrote, Just as I said that after Auschwitz one could not write poems […] it could equally well be said, on the other hand, that one must write poems, in keeping with Hegel’s statement in his Aesthetics that as long as there is an awareness of suffering among human beings there must also be art as the objective form of that awareness.
Further, he states, “Perennial suffering has as much right to expression as a tortured man has to scream ; hence it may have been wrong to say that after Auschwitz you could no longer write poems. But it is not wrong to raise the less cultural question whether after Auschwitz you can go on living […]”.39
37 Van Gessel, “Holocaust Compositions from Recent Decades”, p. 12. See also Feisst, “Represence of Jewishness” ; McLoughlin, “Musical Holocaust Memorials”. 38 Elphick, Lines that have Escaped Destruction, p. 10. 39 All citations from Elphick, Lines that have Escaped Destruction, p. 8.
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Certainly Arnold Schoenberg’s (Vienna 1874 – Los Angeles 1951) cantata, A Survivor from Warsaw, for narrator, men’s chorus, and orchestra, has been one of the most influential, most widely received, and perhaps most controversial musical works of Holocaust commemoration. Lauded by Adorno himself in 1955 as “probably the only work of art of that epoch that, along with Picasso’s Guernica, was capable of looking unflinchingly at its most extreme horror and yet was aesthetically compelling”,40 the same work was vilified by musicologist Richard Taruskin, who writes, the most famous musical memorial to the Holocaust, falls easy prey to these pitfalls [i.e. works that are heavy, bloated, bombastic, or of mendacious sentimentality]. Were the name of its composer not surrounded by a historiographical aureole, were its musical idiom not safeguarded by its inscrutability, its B-movie cliches – the Erich von Stroheim Nazi barking ‘Achtung,’ the kitsch-triumphalism of the climactic, suddenly tonal [sic] singing of the Jewish credo – would be painfully obvious, and no one would ever think to program such banality alongside Beethoven’s Ninth as has become fashionable. That kind of post-Auschwitz poetry is indeed a confession of art’s impotence.41
Whatever the interpretive standpoint, composer Henry Cowell has noted that twelvetone analyses alone “could not explain Survivor’s musical and dramatic effectiveness”.42 Still, the work has been tremendously popular for a twelve-tone composition. At the same time, it hearkens back to Schoenberg’s early twentieth-century expressionist works with its use of melodrama, Sprechstimme, and dramatic flourishes,43 Survivor raises a number of issues regarding Holocaust-oriented works. Musicologist Sabine Feisst speaks of the difference between works of “realism” and “anti-realism” depicting the Holocaust, the former suggesting that the Holocaust is “knowable, representational and ‘translatable into a familiar mimetic universe’”, whereas the latter are “symbolic and abstract manifestations claiming that the Holocaust was unique and sublime and therefore not knowable or ‘capturable in traditional representational schemata’”. She also suggests a third path, “traumatic realism”, which mediates between those two extremes.44 Perhaps Survivor may be understood as a traumatic re40 41 42 43
Quoted in Calico, “Jüdische Chronik,” p. 108. Taruskin, “Recordings View : A Sturdy Musical Bridge”. Quoted in Calico, “Schoenberg’s Symbolic Remigration”, p. 25. Schoenberg preferred the term “Art of the representation of inner processes” to Expressionism, which he viewed as too narrow (lecture delivered at a performance of Die glückliche Hand, op. 18, in 1924, see Hahl-Koch, Arnold Schoenberg/Wassily Kandinsky, p. 106). 44 Feisst, “Represence of Jewishness”, p. 205.
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alist work, as it is neither realist nor anti-realist : it is narrated in the first person, but clearly Schoenberg was not concerned with the accuracy of historical details, mixing gas chambers into the Warsaw Ghetto where there were none, for example. As Schoenberg wrote in a letter to conductor and music critic Kurt List, “even though such things have not been done in the manner in which I describe in the Survivor. This does not matter. The main thing is, that I saw it in my imagination”.45 Here we are in the realm of personal remembrance, a thread that runs through a number of works I discuss below, and Schoenberg’s imagination becomes a kind of witness testimony.46 The case of Survivor also brings up issues of differing national receptions, as musicologist Joy H. Calico has shown. Survivor, the “ultimate aggravation, irritating every exposed nerve of postwar European society”, is received in the Federal Republic of Germany (FRG) as an act of “symbolic remigration”, whereas the German Democratic Republic (GDR) views it within the discourse of antifascism.47
Mieczysław Weinberg’s The Passenger (1968) Soviet composer Mieczysław Weinberg (Warsaw 1919 – Moscow 1996) has written perhaps more commemorative works than any other composer – indeed, he saw it as his moral duty to do so.48 Only fully recognized as a significant composer with the staging of his opera, The Passenger, in 2011, Weinberg wrote another eight pieces that dealt directly with the Holocaust, along with six dedicated to his murdered parents and sister as well as another eleven dedicated to World War Two more broadly.49 Based on a 1961 work of fiction with the same title by Polish Auschwitz survivor Zofia Posmysz, The Passenger makes no claim to “represent the narrative of the Holocaust”.50 Mixing Shostakovich-like passages and leitmotifs with twelve-tone techniques,51 elements from Slavic folk music, and contemporary popular dance music, the work was praised by Shostakovich as a “masterful work […] shattering in its dra45 Quoted in Calico, “Schoenberg’s Symbolic Remigration”, p. 22. 46 See Wlodarski, “An Idea Can Never Perish,” p. 586, 589. 47 Calico, “Schoenberg’s Symbolic Remigration”, and “Jewishness and Antifascism”, p. 187. For an analysis of contemporary reception of a musical Holocaust pageant performed at multiple sites, see Simo Muir, “Three performances, different responses”. 48 Klokova, “Meine moralische Pflicht,” p. 179. 49 Elphick, Lines that have Escaped Destruction. 50 Elphick, Lines that have Escaped Destruction, p. 10. 51 Close friends, Weinberg has often been accused of copying Shostakovich, but recent scholarship shows that the influences went in both directions. See, for example, Elphick, “Weinberg, Shostakovich and the influence of “Anxiety””.
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matic impact”, and by Elphick as the “most remarkable work of music-drama written in response to the Holocaust”.52 Yet Weinberg was accused by literary editor Gerald Jacobs in an opinion piece in the Jewish Chronicle as “mining the Shoah for artistic or entertainment material”,53 showing once again that the production and reception of Holocaust commemorative works is an aesthetic minefield. Perhaps music critic Alex Ross sums up The Passenger best, when he writes, The expected sombre passages in the opera are superbly done : bass chants of lamentation, plaintive songs for female prisoners of various nationalities, hammering ostinatos evocative of the industry of death. But it’s the addition of kitsch that makes the work supremely chilling : the anemic jazz that plays on board the ship ; the lopsidedly bouncing music, in 5/8 time, over which Lisa explains to her husband that she was merely following orders ; and, most of all, the commandant’s rancid waltz, which alternately sputters out over loudspeakers and thunders from the full orchestra.54
Although The Passenger deals directly with the Holocaust, and half of the action is staged in Auschwitz, shown from the perspective of both prisoners and guards, it does not portray an exclusively Jewish experience ; in fact, the international cast of mostly Christian prisoners stem from France, Poland, Russia, Greece, Czechoslowakia, and there is no specifically ‘Jewish-flavored’ music in the score. As Loeffler has pointed out, because of the complex political situation in the USSR, commemorative works by Soviet composers need to be viewed as coded, more ambiguous forms of Holocaust remembrance.55
Steve Reich’s Different Trains (1988) The decade from 1978–1988 marked a major turning point in the reception of the Holocaust, and thus in both the production and reception of Holocaust commemorative music. In 1978 the TV miniseries Holocaust was broadcast to international audiences. In the same year, the American Nazi party marched on Skokie, Illinois, a neighborhood with a significant population of Holocaust survivors, and Jimmy Carter established the President’s Commission on the Holocaust. During that time, 52 Elphick, Lines that have Escaped Destruction, p. 13, 18. 53 Jacobs, “Artists shouldn’t be passengers”. 54 Ross, “Testament”. 55 Loeffler, “In Memory of Our Murdered (Jewish) Children,” p. 588.
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the Holocaust as a historical event became universalized (and Americanized) and the redemptive coloring of Holocaust memory that had already begun in the 1950s crystallized, as traced by Wlodarski.56 This process intensified in the late 1980s, especially around the commemorations of the 50th anniversary of Reichskristallnacht on November 9, 1988, to which numerous works were dedicated. It was also the first time that Kristallnacht was officially commemorated in the houses of parliament of both the FRG and the GDR.57 Many of the pieces written in the 1980s and beyond, including Steve Reich’s Different Trains, commissioned by the Kronos String Quartet, are works of personal Holocaust narratives, often by composers who were neither survivors nor refugees, nor did they necessarily even lose family in the Holocaust. A number were not Jews or members of any other victim group. Making use of speech melody and digital sampling for the first time, Reich wedded these two techniques to expand on his musical process works of earlier decades.58 The work is scored for string quartet and electronics and makes use of 46 digitally-sampled excerpts taken from interviews with five people, three of which are of Holocaust survivor witness testimony. Although purportedly a work that is “documentary rather than dramatic”, Wlodarski has shown that, through various manipulations of syntax and context, as well as mishearings of words and phrases, Reich has “changed the original meaning and tone” and actually created his “own Holocaust testimony”, a “personal response to his own Jewish heritage” – thus making Reich a secondary witness to the testimony.59 Reich’s tripartite form of “America – Before the War”, “Europe – During the War”, and “After the War” is reminiscent of other narrative forms that have developed since the end of World War Two, embedding the traumatic portion within the safer or more ‘normal’ spheres of before and after.60 Although more complex, John Zorn’s seven-movement Kristallnacht, which I discuss below, follows a similar narrative progression. With both of these works, we see the emergence of a 56 Wlodarski, “Musical Memories of Terezín”. 57 Frühauf, “A Historiography of Postwar Writings on Jewish Music”. 58 Speech melody, a technique that follows closely human speech patterns, was popularized by Leoš Janáček beginning in the late nineteenth century and later perfected by Reich. 59 Wlodarski, “The Testimonial Aesthetics of Different Trains”, p. 103, 104, 99. On secondary and tertiary witnesses, see Muir, “Three performances, different responses”. According to this, secondary witnesses become active agents of remembrance (and can themselves suffer trauma), whereas tertiary witnesses witness the secondary witnessing and thus have more distance to the subject. 60 Werb traced a similar narrative-building process in the early publications of songbooks from the ghettos, camps, and partisan groups – for example with sections moving from despair to confidence and, finally, battle and triumph ; or from victimization and ghetto life to the rejection of passivity and, finally, resistance, heroism, and martyrdom (Yiddish Songs).
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Fig. 2 : Cover of a CD of the composition “Different Trains” by the Kronos Quartet, with Reich‘s “Electric Counterpoint”. Picture: Fabienne Meyer.
post-modernist perspective, where the interpretation of meaning shifts to the individual audience member. Wlodarski notes, […] Reich involves his listeners in Different Trains by conceiving of their imaginations as the stage for his documentary theater of the mind. This puts the representational onus on the audience, who are given short yet suggestive sound clips and expected to stitch together the fragmented memories extracted from the survivors’ fraught testimonies.61
In stark contrast to his reception of Schoenberg’s A Survivor from Warsaw, Taruskin writes of Different Trains that with it, Reich “earned his place among the great composers of the century. […] He has composed the only adequate musical response – one of the few adequate artistic responses in any medium – to the Holocaust”.62
John Zorn’s Kristallnacht (1992) Composer-improviser John Zorn remarked of his motivation to write the chamber octet Kristallnacht : “Every Jew has to come to grips with the holocaust in some kind of way and that was my statement, that’s how I did it.”63 In many ways the culmination 61 Wlodarski, “The Testimonial Aesthetics of Different Trains”, p. 116. 62 Taruskin, “Recordings View : A Sturdy Musical Bridge”. 63 S. Beresford, Jazz File : Downtown Avant-Garde – The Music of John Zorn, Part 3 : ‘The Torture Garden,’ BBC Radio 3 (July 15, 2000), cited in Hosken, “Kristallnacht and After”, p. 8.
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of Zorn’s compositional oeuvre to date, Kristallnacht is also his most eclectic, making use of all of the techniques with which he had been previously associated, including the twelve-tone method, hardcore rock and noise aesthetics, electronic sampling and layering (including snippets from archival Nazi-era speeches), as well as his game pieces with guided free improvisation and his file-card pieces with concise sound blocks of pre-composed and improvised music.64 Zorn termed this approach “maximalism”, “packing as much information as I possibly can into a piece”.65 By including clarinetist David Krakauer and trumpeter Frank London, Zorn expanded his tonal palette to include klezmer music and other eastern European Jewish sonic references for the first time within the framework of his emerging Radical Jewish Culture aesthetic. In addition, Zorn makes use of gematria to arrive at note values, as ethnomusicologist Tamar Barzel has shown.66 That Zorn’s constructed narrative is ambitious and broader than the Holocaust per se, is evident from the text published at his record company website : “Seven movements tell the story of the Jewish experience, survival through the Holocaust, the building of a Jewish state, diaspora Jewry and its attraction and resistance to assimilation, the rise of Jewish nationalism and the ultimate problems of fanatical religious fundamentalism”.67 Barzel points out Zorn’s propensity to overwhelm his audiences with an “experience of extreme psychological intensity”. She finds it is necessary to look not only at the music, but also to “assess the relationship among sound, image, text, and other elements that make up the ‘webs of significance’ in which his recordings lie suspended”.68 Not one to shy away from controversy,69 the liner notes to Kristallnacht included the images of two human bodies : one of a Nazi ideal of a female nude and the other one of an emaciated male corpse in Bergen-Belsen ; the cover itself consists of a yellow Judenstern on a black background of broken glass. The work was premiered at the Zorn-curated Festival for Radical Jewish Culture within the framework of Franz Abraham’s Art Projekt ’92 festival in Munich. As Abraham’s own website describes,
64 Here, he manipulates Schoenberg’s row from the opera Moses and Aron. See Tamar Barzel, New York Noise. 65 Quoted in Barzel, New York Noise, p. 90. 66 Barzel, New York Noise. 67 Tzadik, “John Zorn : Kristallnacht”. 68 Barzel, New York Noise, p. 87, 94. “Webs of significance” refers to anthropologist Clifford Geertz’s The Interpretation of Cultures (1973). 69 See the controversies around the recordings Spillane, Torture Garden and Leng Tch’e, e.g. Ellie Hisama, Comment on AVANT’s Interview with John Zorn.
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During the premiere, at midnight […] all the performing artists wore a yellow fabric star marked “Jew” that they had made themselves. The doors were locked ; no one was to leave the auditorium. As the performance began, the loud noise of a railroad train was heard, a reference to the Auschwitz deportations.70
As Barzel points out, Zorn makes use of a number of “combative” sonic elements, including extreme high volume, menacing timbres and machine-like rhythms, extremes of register, and syntactic overload, pummeling the audience with an onslaught of guttural, distorted, electronically created low-frequency noise, shot through with the sound of sirens and accompanied by William Winant’s machine-like playing on the drum set.71
Like the ending to Different Trains, Kristallnacht is interpretively complex, leaving it to the audience to decide the meaning of the last movement, “The New Settlement”, which could alternatively be read as representing the State of Israel or as Lower Manhattan in New York City, with its oblique references to Ornette Coleman’s iconic “Lonely Woman”.72 Musicologist Michael Scott Cuthbert finds numerous parallels between Reich and Zorn – who may have been influenced by Reich’s minimalist process music – and between Different Trains and Kristallnacht.73 Zorn’s turn to Jewish themes has not gone without critique. In an article in the New York Times, critic Adam Shatz accuses him of evoking “Jewish victimhood” with titles like Kristallnacht, and finding that he uses an “atavistic form of identity politics”. According to Shatz, his “particularist ethos” and talk of “the world’s outsiders” and “host cultures” make use of language “better suited to 1920’s Weimar than 1990’s Manhattan”.74
70 Jewish Culture & Art Projekt 92. This is reminiscent of composer and multimedia artist Francis Schwartz’s Auschwitz (1968), during which “Schwartz and other artists burnt rancid meat and human hair they had collected from barbershops because […] ‘(the idea was to create the atmosphere of a gas chamber)’”. Blowers spread the smoke and stench throughout the performance space, causing audience members to have breathing problems. After three minutes, some in the audience tried to leave, but discovered the doors were locked (McLoughlin, Musical Holocaust Memorials, p. 307). 71 Barzel, New York Noise, p. 97. 72 The song is from Coleman’s 1959 LP The Shape of Jazz to Come. Barzel, New York Noise, p. 120–121. 73 Cuthbert, “Free Improvisation and the Construction of Jewish Identity”. Cuthbert also sees parallels to John Coolidge Adams’s controversial 1991 opera, The Death of Klinghoffer, which, while not directly Holocaust-related, does deal centrally with Jewish and Palestinian trauma. 74 Adam Shatz, “Crossing Music’s Borders In Search Of Identity”. “Particularist ethos” refers to Peter Novick’s The Holocaust in America.
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Holocaust-era Songs and the Two Germanies Post-1945 By the early 1960s, performances of Yiddish folk and popular songs, including Holocaust-era songs, gained a national presence in West Germany through performances by Belina and by folk and cabaret singer Peter Rohland.75 With his 1963 program Der Rebbe singt, Rohland “became the first German singer to break through the heavy postwar silence […]”76 Rohland, a non-Jew, was criticized by Schalom Ben-Chorin – a key figure in Jewish-Christian and Jewish-German dialogue after World War Two – for singing the Holocaust-era song “Shtil di nakht iz oysgeshternt” (Silent, the night is full of stars) by poet and partisan Hirsh Glik (1922–1944), on the presumption that Glik “would not have wanted a German to sing this song.” He was seen to have overstepped an “‘unsichtbare Grenze […], die ihm als Deutschen gesetzt sei’” (an invisible boundary for him as a German).77 Even earlier in East Germany, Amsterdam-born survivor Lin Jaldati (Rebekka Brilleslijper, Amsterdam 1912 – E. Berlin 1988) and her husband Eberhard Rebling (1911 – 2008) had begun performing Yiddish material including Holocaust-era songs within the framework of the GDR discourse of antifascism, including a memorable performance on November 9, 1952 at Haus Vaterland in East Berlin, the fourteenth anniversary of Reichskristallnacht.78 Alexander Kulisiewicz performed throughout both Germanies, appearing in the striped uniform of a concentration camp prisoner with his “unique approach to confrontation with the Nazi past, one that operated between performance and historical witnessing”.79 The high points of his career included appearances at the 1967 Burg Waldeck Festival and the 1968 International Essen Song Days. Perhaps more than any other single event, the staging at the Freie Volksbühne Berlin by Peter Zadek of Joshua Sobol’s drama Ghetto in 1984 combined Holocaust with music in the German public’s imagination. In it, Argentinian-Israeli clarinetist Giora Feidman (b. Buenos Aires 1936) played an onstage role and wordlessly commented with his stylized version of instrumental klezmer music on the action of the play, which was set in the Vilna Ghetto. As theater critic of the Frankfurter Allgemeine Zeitung, Georg Hensel, wrote at the time :
75 Belina’s one Holocaust-themed recording seems to have been Chants du ghetto, recorded in France. 76 Holler, “The Burg Waldeck Festivals”, p. 102. See also Rita Ottens, “Der Klezmer als ideologischer Arbeiter”. 77 Ben-Chorin in Yedioth Ahronot, February 26, 1965, cited in Holler, “The Burg Waldeck Festivals”, p. 103. 78 Shneer, “Yiddish Music and East German Antifascism”. 79 Milewski, “Remembering the Concentration Camps”, p. 142.
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It is a shattering, shredding, a suffocating end. […] At least, that’s how it appears for a brief moment. But then of course, Zadek has the clarinet virtuoso Giora Feidman once again appear. Just as he did at the beginning of the Ghetto production, fetching a Holocaust survivor out of his memories of the deep past, so does he lead the performance back into the past with his music. His clarinet creates distance, and the distance makes the applause possible.80
Through these appearances and subsequent touring, Feidman took on a role as healer of the German nation with his universalist message of reconciliation, forgiving, and tolerance – later appearing at key official ceremonies, such as the German Parliament’s commemoration of the fiftieth anniversary of the end of World War Two on May 8, 1995, or the ground-breaking for the Memorial to the Murdered Jews of Europe in Berlin in 2003.81
Brave Old World’s Dus gezang fin Geto Lodzh/Song of the Lodz Ghetto (2005) In 1990, the American klezmer and Yiddish revival band, Brave Old World, was invited by ethnomusicologist Gila Flam to create a program of songs from the Lodz Ghetto based on her collection.82 From the early 1990s into the 2010s, the group developed the program into a creative song cycle that interweaves pre-war repertoire with band members’ original compositions and improvisations. As music director Alan Bern explains : The early versions of the show were more ethnographic and explanatory […] I remember feeling that there was a mismatch between the experiences and emotions that led to the songs’ creation in Lodz vs. the quite a bit more distanced and sheltered emotions and experiences that the ethnographic approach allowed. […] So I thought, […] an historically 80 Hensel, “Judenmord, Tangoschritt”. 81 For his role, Feidman was awarded the Bundesverdienstkreuz from the German Parliament in 2001. On Feidman, see Rubin, “Music Without Borders”. 82 This took place in conjunction with the exhibition “Unser einziger Weg ist Arbeit : Das Ghetto in Lodz 1940–1944” at the Jewish Museum in Frankfurt. I was a co-founder of the group and involved in the development of the original program and its first two performances in Frankfurt 1990 and Berlin 1992. As ethnomusicologist Marion Jacobson has shown, this type of Holocaust-era song repertoire was used by Yiddish folk choruses in the United States for Holocaust commemorative purposes beginning at least as early as 1963, when the annual commemorations of the Warsaw Ghetto Uprising were formally instituted. Public commemorations had begun as early as 1946, however, and presumably also included such repertoire (Jacobson, With Song to the Struggle).
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“authentic” performance of this material is impossible for all kinds of reasons, and on the other hand to aestheticize the material felt presumptuous and even immoral, so what can we do ? My idea was, we can show who we are […] and we can show that we are reaching towards the Lodz material, but that we never become one-to-one with it. […] The show became a kind of dialogue between Brave Old World and the Lodz material, in which Brave Old World “hits the wall” quite a few times just at the point that we might seem to be “merging” with the Lodz material, to make a kind of meta-statement about what the performance can and can’t be as an act of memory and recreation.83
Sociologist Larry Ray has commented that, by interlacing the ghetto songs with new compositions, the performance weaves together past and present, not simply reproducing musical resistance in the face of mass murder but giving it a presence and immediacy. […] The strength of [Brave Old World’s] performance is that it offers no false reconciliation with the past. […] The lyrics no longer have the meaning given by original performers and audiences, but this performance both recovers the past and transmutes it into a means of remembrance. This illustrates the ways in which this music can engage with the past while acknowledging its rootedness in the present.84
On the Terrain of Popular Music : Wolf Krakowski’s and Yehuda Poliker’s Global Beats Writing from the field of critical discourse studies, John E. Richardson has noted, mass mediated depictions of the Holocaust are complicated by the perceived need for commercial culture to “mitigate against rigorous examination” and to please audiences. Within such a scenario, stories of survival, heroes, and rescuers are paramount, along with happy endings.85 This explains, perhaps, why Holocaust commemorative music was a relative latecomer to popular music. Canadian blues and rock musician Wolf Krakowski (b. Saalfelden Farmach, Austria 1947) has created his own genre, combining Yiddish with influences of “guitar-driven popular musics of the post-Second World War English-speaking world : 1960s counter-culture rock and folk-rock, hard-edged country, and reggae, with a 83 Alan Bern, e-mail, July 30, 2020. 84 Ray, Music, Remembrance and the Holocaust. 85 Richardson, “Broadcast to mark Holocaust Memorial Day,” p. 507.
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nearly ubiquitous female chorus rooted in gospel and rhythm and blues”, as composer Alex Lubet has written.86 After years of touring with carnivals and being mentored by musicians like bluesman Big Joe Williams and Richie Havens,87 Krakowski – a child of Holocaust survivors born in a DP camp – began singing in his native Lodzher dialect repertoire associated with both pre-war and Holocaust-era eastern Europe, recording his first album, Transmigrations, in 1996. As Lubet notes, Krakowski’s recordings are “neither archival nor an attempt to revive with fidelity a historical style”.88 Lubet considers Krakowski’s renditions to be tantamount to new compositions, and compares Transmigrations favorably with the Beatles’ 1967 LP Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band because of its “stylistic breadth and conceptual depth”.89 Krakowski himself regards music as a form of remembrance. He says, I sing through them and those that were silenced sing through me […]. It is as if all the people who I left behind somehow ‘transmigrated’ over here, and their stilled voices, cloaked in the raiment of R&B blues, country-rock and reggae, act as a bridge from the Old World to the New, through me.90
As in the case of the art music I discussed above, personal Holocaust narratives also emerged in popular music, for example in the songs of Israeli musician Yehuda Poliker (b. Kiryat Haim 1950) on his album Ashes and Dust (Efer ve’avak), written in 1986 for a radio program for Yom HaShoah and recorded in 1988.91 Here, the emphasis shifts from survivor narrative to the perspective of the second generation. Poliker and his lyricist Yaakov Gilad (b. Herzliya 1951), both children of Holocaust survivors, became through their work the face of the Israeli second generation. Mixing elements of rock, folk and synth-pop with the sounds of Greek folk and popular music in honor of Poliker’s Thessaloniki-born parents, eight of the album’s twelve original songs deal either directly or obliquely with the Holocaust, largely told from the perspective of the second generation. Because of the more direct association with the Holocaust,
86 Lubet, “Transmigrations : Wolf Krakowski’s Yiddish Worldbeat”, p. 300. 87 Wolf Krakowski, e-mail, July 30, 2020. 88 Lubet, “Transmigrations : Wolf Krakowski’s Yiddish Worldbeat”, p. 299. 89 Lubet, “Transmigrations : Wolf Krakowski’s Yiddish Worldbeat”, p. 310. 90 Interview by music journalist Seth Rogovoy, quoted in Mordechai Kamel, “Review. Wolf Krakowski’s Goyrl : Destiny”. 91 Yom HaShoah was strategically placed a week after the seventh day of Passover and a week before Yom Hazikaron, Israeli Memorial Day, thus building its own narrative arc.
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certain songs (“Ashes and Dust”, “Small Station Treblinka”, and “Because”) are relegated to be played only on Yom Hashoah and other solemn occasions.92
Concluding Remarks As this article has shown, the modes of commemorating the Holocaust are multifarious. To return to the issue of Switzerland, many questions need to be asked and much research needs to be done. What role did refugees and Holocaust survivors play in Swiss musical life ? What does it mean to commemorate the Holocaust musically in a country that was purportedly neutral ? Does the Holocaust stand as a unique event historically, or should it be embedded into the greater discourse of genocide as an ongoing human phenomenon ?
Bibliography Barzel, Tamar. New York Noise : Radical Jewish Music and the Downtown Scene. Bloomington : Indiana University Press, 2015. Belina. Chants du ghetto. France : President 7 XPR 509 LP. 1800, 1959. 7” EP disc. Belina. Nachruf (Deutsch). https://www.boettcher-film.de/index.php/belina/belina-nachruf-deutsch, last accessed : 01.07.2020. Brave Old World. Dus gezang fin Geto Lodzh/Song of the Lodz Ghetto. Ludwigsburg : Winter & Winter 910 104-2, 2005. Compact Disc. Calico, Joy H. “‘Jüdische Chronik’ : The Third Space of Commemoration between East and West Germany”. The Musical Quarterly, vol. 88, no. 1 (Spring, 2005), p. 95–122. Calico, Joy H. “Jewishness and Antifascism : Schoenberg’s A Survivor from Warsaw in East Germany, 1958”. Dislocated Memories : Jews, Music, and Postwar German Culture. Eds. Tina Frühauf and Lily E. Hirsch. Oxford : Oxford University Press, 2014, p. 187–202. Calico, Joy H. “Schoenberg’s Symbolic Remigration : A Survivor from Warsaw in Postwar West Germany”. The Journal of Musicology , vol. 26, no. 1 (Winter 2009), p. 17–43. Cuthbert, Michael Scott. “Free Improvisation and the Construction of Jewish Identity Through Music”. Studies in Jewish Musical Tradition : Insights from the Harvard Collection of Judaica Sound Recordings. Harvard Judaica Collection Student Research Papers No. 7. Ed. Kay Kaufman Shelemay. Cambridge : Harvard College Library, p. 1–31. Elphick, Daniel. “Weinberg, Shostakovich and the influence of ‘Anxiety’”. The Musical Times, vol. 155, no. 1929 (Winter 2014), p. 49–62. Elphick, Daniel. Lines that have Escaped Destruction : Weinberg and The Passenger. Paper pre-
92 Meyers/Zandberg, “The sound-track of memory”.
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Klaus-Michael Bogdal
Erinnerungen von Sinti und Roma an Diskriminierung, Verfolgung und Völkermord im 20. Jahrhundert For the survivors of the genocide of the Sinti and Roma, the struggle for the narratability of their experiences is central to their memories. The article traces the developmental phases of the autobiographical reports, points out particularly important texts and works out the special nature of the memories of Sinti and Roma. Dani Karavan, der Schöpfer des Berliner Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, hat auf eine Glasscheibe, die den Abgang seines Denkmals Passages für Walter Benjamin in Portbou verschließt, eingravieren lassen : „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. Walter Benjamin, G. S. I, 1241“.1 Er zitiert hier aus Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte.2 Benjamin, der um 1939 an diesen Thesen arbeitete, setzte sich kritisch mit dem Geschichtsbild des Historismus und dessen Geschichte der Sieger auseinander, um ihm die historisch-materialistische Sicht auf die Rolle der namenlosen Massen entgegenzuhalten. Heute, nach den systematischen Völkermorden des NS-Regimes, können wir der Formel vom „Gedächtnis der Namenlosen“ noch eine weitere Deutung abgewinnen. Im Schatten des Undenkbaren und Unsagbaren eines Zivilisationsbruchs hat sich gegen das Verschweigen der Täter und das von Traumata verursachte Verstummen der Überlebenden mühsam ein Wandel in der Gedächtniskultur vollzogen. Der Resonanzraum für die Stimmen der jüdischen Opfer ist seit den 1980er-Jahren größer geworden, seitdem in den Geschichtswissenschaften und in der Literatur ihre Erinnerungen und Erfahrungen nicht mehr als von Interessen geleitete subjektive Wahrnehmung abgewertet werden. Hilfreich war in der Übergangsphase der dem Rechtssystem entlehnte Begriff der Zeugenschaft, der eine höhere Verbindlichkeit beansprucht als das Zeugnisablegen.3 Überlebende, die, stets konfrontiert
1 Nicolas Pethes weist zu Beginn seiner wichtigen Studie Mnemographie. Praktiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin (1999) auf diesen europäischen Erinnerungsort hin. 2 Vgl. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, S. 691–704. 3 Umfassend untersucht von Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (2003).
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mit dem „Ende der Erzählbarkeit von Erfahrungen“4, die Bilder der Erinnerung, die sie noch hervorzuholen vermögen, in Worte fassen und ihre Geschichte erzählen, treten aus der Anonymität hervor. Aus Namenlosen werden Individuen mit einer unverwechselbaren Lebensgeschichte. Sinti und Roma, nach 1945 der gleichen Verachtung ausgesetzt wie davor, beginnen deutlich später als die jüdischen Zeitzeugen zu sprechen.5 In unterschiedlichen Formen, von der Tonbandaufzeichnung bis zur Autobiografie, erzählen sie in wachsender Anzahl über sich und ihre Belange und tragen die Bausteine ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen, die uns aus den Akten der mit der Vernichtung befassten Behörden bisher nur als ein vom Rassismus entstelltes Zerrbild entgegengetreten sind. Diese Wortergreifungen sind mehr als lebensgeschichtliche Zeugnisse. In ihnen artikuliert sich auch ein erster Widerspruch gegen die bisher nahezu ausschließlich von den anderen, der Mehrheitsgesellschaft, bestimmten Sicht auf die Sinti und Roma. Denn „wirkliche Erinnerung“ gibt, wie Walter Benjamin in den Denkbildern notiert, „ein Bild zugleich von dem [sic] der sich erinnert“.6 Öffentlich sichtbar und vernehmbar zu sprechen, ist der Weg, die Deutungshoheit über die eigene Vergangenheit und die Wahrnehmung der eigenen Gemeinschaft zu erlangen. Doch das hört sich für die Mehrzahl der Romvölker in Europa, die Sinti, Manouche, Calé, Kalderasch, Lovara usw., einfacher an als es ist. Sie verstehen sich traditionell seit Jahrhunderten als orale Kultur mit einer eigenen Sprache, die in der Regel nicht nach außen kommuniziert wird. Reinhold Lagrene, ein Sinto, der sich besonders um die Bewahrung der Erzähltraditionen verdient gemacht hat, weist auf die vielschichtigen Probleme und Risiken hin, die damit verbunden sind : Schreiben heißt für Sinti auch, sich in Grenzräume vorzuwagen. Es impliziert Brüche mit dem eigenen Verständnis. Beispielsweise gerät man schnell in Konflikte, wenn etwas beschrieben werden sollte oder gar müsste, was man als Sinti nicht dürfte. Ich selbst würde nie etwas erzählen oder aufschreiben, mit dem ich anderen Schande bereiten würde. Nur wenn es nicht anders ginge, müsste es trotzdem gesagt werden, wenn man zum Beispiel der Wahrheit, auch im Sinne einer höheren Bedeutung, verpflichtet ist, oder auch, wenn religiöse Motive und traditionelle Codes in Frage gestellt würden. Als frei denkender Mensch obliegt es mir, wie weit ich mir selbst erlaube, mich in Dinge hineinzubegeben
4 Pethes, Mnemographie, S. 3. 5 Für den vorliegenden Text habe ich Passagen aus dem Kapitel „Mit eigener Stimme. Erinnerungsliteratur der Sinti und Roma“ aus meinem Buch Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung (2011) verwendet. 6 Benjamin, „Denkbilder. Ausgraben und Erinnern“, S. 400.
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und damit auch in die Gefahr, bestimmte Grenzen zu überschreiten. Schreiben geschieht somit bewusst traditionell und bewusst gegen die Tradition.7
Ihm ist allerdings wie anderen auch bewusst, dass durch die Beschränkung auf die Mündlichkeit die Erinnerung auf wenige Generationen begrenzt wird. Vergangenes verschwindet Schritt für Schritt aus dem Gedächtnis oder wird zur Legende. Der Völkermord an den Sinti und Roma ist das erste historische Ereignis, das innerhalb der eigenen Kultur nicht mehr dem allmählichen Vergessen anheimgegeben wird. Es wird aufgeschrieben, archiviert oder veröffentlicht und an Gedächtnisorten aus eigener Sicht präsentiert. Von daher stammt die Ernsthaftigkeit, mit der dies geschieht, die nicht allein von der Traumatisierung herrührt. Reinhard Florian (1923–2014), der seine Geschichte u.a. vom Survivors of the Shoah Visual History Archive aufzeichnen ließ, reflektiert seine Erzählsituation so : Dummheiten machen, ein bisschen harmlos daherreden, das kann man natürlich immer und mit fast jedem. Aber ich bin dazu nicht mehr in der Lage. Ich bin zu sehr gequält worden, als dass ich heute noch lachen kann über irgendetwas.8
Auch unter Sinti und Roma setzt sich die Überzeugung durch, dass ihr Schicksal in der NS-Zeit um der Wahrheit willen systematisch und breit dokumentiert werden muss. Die Schriftlichkeit tritt somit als neues Moment in die Kultur der Romvölker ein, nicht von außen aufgezwungen, sondern als Mittel der Selbstvergewisserung und Zukunftsbewältigung. Vor allem diejenigen, die im Zentrum Europas von der Vernichtungspolitik betroffen waren, räumen dem Buch und anderen schriftlichen und bildlichen Zeugnissen einen bedeutenden Platz in der Erinnerungspolitik der eigenen Gemeinschaft ein. Nicht zuletzt zeugt davon das 1997 eröffnete Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, das 2019 durch das europäische RomArchive, das kulturelle Hervorbringungen digital präsentiert, bereichert wurde. Zudem sind in den letzten fünfundzwanzig Jahren in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden eine wachsende Anzahl beachtlicher Lebenserinnerungen von Sinti und Roma veröffentlicht worden, die nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Gedächtnispolitik, sondern ebenso zur Identitätsfindung und Anerkennung geleistet haben. In seiner von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Deutschlands unter dem Titel Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen ! herausgegebenen Lebensge7 Lagrene, „‚Grenzerfahrungen‘ der Sinti in Deutschland, Frankreich und Italien“, S. 113. 8 Florian, Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen !, S. 38.
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schichte fragt der Sinto Reinhard Florian : „Mit wem kann ich mich heute über meine Erfahrungen unterhalten, über meine Erlebnisse, über das Unsagbare, das ich mitgemacht habe ? Das hat mit dem Menschsein nichts mehr zu tun.“9 Wie er erzählen die Überlebenden des Völkermords zögernd und gegen große innere Widerstände. Das Reden liefert sie erneut und immer wieder ihren Erlebnissen aus. Kaum jemand ist in der Lage, sie aufzufangen, wenn die Erinnerungen hereinbrechen. „Aber Auschwitz habe ich ein zweites Mal erlebt“10, hält die österreichische Rom-Zigeunerin Ceija Stojka (1933–2013) in Wir leben im Verborgenen (1988) fest. Historiker und Journalisten bieten als Gesprächspartner bei aller Problematik der Aufzeichnungsweisen und späteren Verschriftlichungen einen gewissen Schutz. Sie vermögen einen professionellen Abstand zu wahren und wissen, was sie erwartet. Gespräche mit ihnen können ohne Folgen und Risiken unterbrochen, abgebrochen und wieder aufgenommen sowie die Ergebnisse überarbeitet oder getilgt werden. Hingegen wissen die Zeitzeugen mit der Fassungslosigkeit und dem Entsetzen ihrer Angehörigen, denen gegenüber sie oft Jahrzehnte geschwiegen oder sich mit Andeutungen begnügt haben, kaum umzugehen.11 Man spürt auch, dass sie der Nachwelt eine andere, bessere Lebensgeschichte überliefern möchten, ohne die Erlebnisse, die ihnen lange den Mund verschlossen haben. Am Ende eines solchen Lebensberichts stellt sich ihnen angesichts der gewünschten und erhofften Veröffentlichung die Frage, wer die Deutungshoheit über das Erinnerte besitzt.12 Eine im Lande der Täter brisante Frage für die deutschen Juden wie für die deutschen Sinti, die anlässlich der nicht stattgefundenen Debatte über Martin Walsers Tatort Armer Nanosh die Erfahrung machen mussten, dass ihren Empfindungen keinerlei Wert beigemessen wurde. In den Lebenserinnerungen begegnen uns sehr unterschiedliche Motive, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Die Mehrzahl der Zeitzeugen sieht die Aufgabe darin, angesichts des Vergessens und Leugnens zu erzählen, ‚wie es wirklich gewesen 9 Ebd. 10 Stojka, Wir leben im Verborgenen, S. 98. 11 In den Geschichtswissenschaften werden die Schwierigkeiten bei der Deutung solcher „Ego-Dokumente“ seit längerem methodisch reflektiert (u.a. Vierhaus, Wege zu einer neuen Kulturgeschichte (1995) ; Ritchie, Doing Oral History (2003) und insbesondere Schulze, Ego-Dokumente (1996). Siehe auch die beiden grundlegenden Studien zu Lebenserzählungen von Holocaust-Überlebenden von Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte (1995) und Ulrike Jureit, Erinnerungsmuster (1999). 12 Denjenigen, die ihre Lebensgeschichte selbst schriftlich niedergelegt haben, ist dieser Umstand besonders wichtig. So heißt es im Impressum der Lebensreise (o.J.) von Pia Lagrin (1918–1997) : „Der Coautor möchte darauf hinweisen, dass die erzählten Geschichten alle aus dem Tagebuch der Pia Medusa Lagrin stammen und er am Text außer in der Rechtschreibung nichts verändert hat.“
Erinnerungen von Sinti und Roma an Diskriminierung, Verfolgung und Völkermord im 20. Jahrhundert
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ist‘ oder ‚was niemand glauben will‘. Gegen Lügen und Verdrehungen wird die Wahrheit des Selbsterlebten gesetzt. Über die Dokumente des Schreckens und die Todesstatistiken hinaus werden die persönlichen Erfahrungen mitgeteilt und als Teil der Geschichte in Erinnerung gebracht. Obwohl meist mehrere Gründe zum Entschluss führen, das lange Schweigen zu brechen, überwiegt die Vorstellung, zur Zeugenschaft moralisch und politisch verpflichtet zu sein, um Gerechtigkeit herzustellen und vor einer Wiederholung des Geschehens zu warnen. Ebenso maßgebend ist der Wunsch, sich aus eigener Kraft vom stummen, überwältigten Opfer zu einem selbstbestimmten Subjekt zu erheben, das die Opferrolle aus eigener Kraft überwunden hat. Da es sich um einen schmerzhaften, die Individuen in ihrer Verschiedenheit betreffenden, Prozess handelt, müssen die Zuhörer oder Leser lernen, dass der Antrieb zu reden ebenso individuell ist. Man kann erzählen, was man am liebsten vergessen möchte und nicht vergessen kann. Oder man stellt sich bewusst seinen traumatisierenden Erlebnissen, um sie zu verarbeiten. Das gelingt in den seltensten Fällen ohne Hilfe. Nicht zuletzt kann die Erfahrung fortgesetzter Diskriminierung nach 1945 dazu motivieren, sich an das Ungeheuerliche der Verbrechen wieder zu erinnern. Der von Verachtung getragene tätliche Angriff, über den die im Burgenland als Hausiererin umherreisende österreichische Roma Ceija Stojka berichtet, ist nur einer von zahllosen vergleichbaren Vorfällen : „Du dreckige Zigeunerin, du lebst noch ? Dich hat der Hitler vergessen ! Und nimmt die Eier und zerdrückt alle auf der Erde. Alle waren kaputt.“13 Die meisten Lebenserinnerungen erzählen von der Wucht der staatlichen Maßnahmen, durch die die Menschen der Vernichtung ausgeliefert wurden. Häufig wird die NS-Zeit in eine Reihe mit den ununterbrochenen Verfolgungen seit der Einwanderung im 15. Jahrhundert gestellt. Im Vordergrund steht das Bemühen, als Opfer inhumaner Willkürakte in die Geschichte einzugehen und auf diese Weise Achtung und gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Daneben durchzieht eine große Anzahl der Erinnerungen ein Gefühl tiefer Scham über Handlungen und Verhaltensweisen, zu denen die Inhaftierten und Deportierten von ihren Peinigern gezwungen wurden. Es handelt sich dabei um Verletzungen der in ihrem Alltag normsetzenden Gebote, Unreinheitsstatus und Ehrencodices. Wie in der jüdischen Holocaustliteratur lassen sich mehrere Phasen innerhalb des Erinnerungsdiskurses unterscheiden. Die frühesten Dokumente stammen von Menschen wie Marta Adler (Mein Schicksal waren die Zigeuner, 1957) oder Lucie Adelsberger (Auschwitz. Ein Tatsachenbericht, 1956), die mit Sinti und Roma zusammen die Verfolgungen erlitten haben, aber nicht im ethnischen Sinn ihrer Gruppe angehören. Erst nach ungefähr vier Jahrzehnten erscheinen, wie nach der Auflösung eines see13 Stojka, Wir leben im Verborgenen, S. 104.
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lischen Staus, zahlreiche Erinnerungen. Nicht wenige werden von den Interessensverbänden der Sinti und Roma systematisch gesammelt, andere im Zusammenhang mit Ausstellungen, der Errichtung von Gedenkstätten oder im Anschluss an Besuche von Zeitzeugen in Schulen dokumentiert. Die seit den späten 1990er-Jahren veröffentlichten Lebensgeschichten entstehen aus dem Gefühl heraus, zu den Letzten zu gehören, die noch Zeugnis über die Vergangenheit ablegen können. Das gilt nicht allein für deutsche Sinti, sondern z. B. auch für slowakische Roma.14 Die Beobachtung, dass die Überlebenden ihre Erinnerungen „unbewusst“ bearbeiten, „so dass eigene Erfahrungen, nach dem Krieg gewonnene Kenntnisse und Erzählungen anderer Überlebender zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden“15, trifft auf die meisten autobiografischen Texte zu. Immer wieder werden gruppentypische und individuelle Erzählelemente zusammengebracht, um die Gruppenidentität nicht zu verlieren.16 Ebenso bestätigen die Forschungen den Eindruck, dass die demütigenden Entschädigungsverfahren als Retraumatisierung17 und die Zwangssterilisierungen als Verlust jeglicher sinnerfüllter Lebensperspektive erfahren wurden18. Für die Nachkommen stellt das geduldige Zuhören einen Akt der Wiedergutmachung gegenüber den Eltern dar, wie zwei Vertreter des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma in der Einleitung zu einer repräsentativen Sammlung von Lebenserinnerungen betonen : Eine Generation wurde fast ausgelöscht – somit auch beinahe die Zeugen, die der durchdachten und organisierten Maschinerie der Vernichtungslager entkommen konnten. Sie können heute durch ihre individuellen Zeitzeugenberichte dazu beitragen, dass der Völkermord an den Sinti und Roma für die Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland und in ganz Europa in einem angemessenen und historisch würdigen Kontext erinnert wird und das Unrecht gegenüber den Toten und den Lebenden im kollektiven Gedächtnis aufbewahrt wird.19
Zu den frühesten Veröffentlichungen zählen die Lebenserinnerungen Mein Schicksal waren die Zigeuner (1957) von Marta Adler, die 1960 auch als Belastungszeugin im sogenannten Sammelverfahren zum ‚Zigeunerkomplex‘ und als Nebenklägerin im Verfahren gegen Eva Justin, eine führende Mitarbeiterin der Rassehygienischen 14 Vgl. Hübschmannová, Po židoch cigáni. 15 Krokowski, Die Last der Vergangenheit, S. 114. 16 Ebd. 17 Vgl. Krokowski, Die Last der Vergangenheit, S. 146–150. 18 Vgl. ebd., S. 150–152. 19 Lagrene/Lagrene, „Erinnerung tut weh…“, S. 15.
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Forschungsstelle, auftrat.20 Adler gestaltet ihren Entschluss, die Vernichtung zu dokumentieren und ihren Erinnerungen durch schriftliche Aufzeichnungen ein größeres Gewicht zu verleihen, literarisch zu einem Schlüsselerlebnis aus. Mit erstaunlicher Klarsicht schätzt sie die Dimensionen der Verfolgung schon in der frühen 1950er-Jahren als Völkermord ein : Erst als ein alter Zigeuner in seiner tiefsten Not zu mir sagte : ›Ja, Frau, schreiben sie alles auf, damit es die Menschen wissen, wer wir sind und wie wir umkamen ! Sie sehen es hier, wie wir zusammengetrieben und in den Tod gefahren werden.‹ Und das war auf dem Güterbahnhof, wo der alte Zigeuner mich bat, ihr Schicksal niederzuschreiben. Er umarmte mich und weinte an meiner Schulter. Ringsherum war Verzweiflung und trostloser Jammer ; denn die Leute wußten, wo ihre Reise enden würde. In den Gaskammern. […] Da entstand bei mir der Entschluß, dies dritte Manuskript zu schreiben.21
Ungewöhnlich und nicht selbstverständlich im politischen Klima des Jahres 1957 ist ihr Schlussappell an die Leser, denn sie fordert als Lehre aus der Verfolgungsgeschichte und dem NS für Sinti und Roma Minderheitsrechte ein : Das sollte aber in einer Demokratie anders sein, wo man gerade den kleinen Gruppen zu ihren Rechten verhelfen sollte. Aber bei den Zigeunern tut das keiner, und man vergißt sie bei uns mit allem, was sie Schweres durchgemacht haben.22
Mit Entstehung der Bürgerrechtsbewegung, deren Aktivisten durch einen Hungerstreik im ehemaligen Konzentrationslager Dachau (1980) öffentlich auf die Lage der Sinti in Deutschland aufmerksam machen, ringt sich eine wachsende Zahl von Holocaustüberlebenden dazu durch, das Jahrzehnte währende Schweigen aufzugeben. Auf die Gemeinsamkeiten der Erinnerungen zielt der von Daniel Strauß (geb. 1965) für den Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg herausgegebene Sammelband … weggekommen (2000).23 Aus den fragmentarischen individuellen Rückblicken trägt er durch die Konzentration auf Leitthemen wie Internierung, 20 Siehe dazu Opfermann, Gutachten zum Umgang der deutschen Justiz mit an Sinti und Roma begangenen NS-Verbrechen nach 1945. Die Veröffentlichung erfolgt nach der Vorlage des Abschlussberichts der Unabhängigen Kommission Antiziganismus der Bundesregierung. 21 Adler und Stemmle, Mein Schicksal waren die Zigeuner, S. 361. Die anderen Manuskripte hatte sie aus Angst vor den NS-Schergen vernichtet. 22 Ebd., S. 455. 23 Eine der frühesten (und wichtigen) Sammlungen stammt von Michail Krausnick, „Da wollten wir frei sein !“ (1983).
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Deportation und fehlende Wiedergutmachung die Bausteine eines kollektiven Gedächtnisses deutscher Sinti zusammen und schafft die Grundlagen einer Erzählung, die über unterschiedliche persönliche Erfahrungen hinaus Identität stiftet und – in Analogie zur Leidensgeschichte der Juden – gegenwärtige Diskriminierungen abwehren und zukünftige verhindern soll. Der Erinnerungsdiskurs wird dreifach adressiert. Er richtet sich an die Überlebenden, die durch ihn Gemeinsamkeit und emotionale Entlastung erfahren. Den Nachkommen legt er die Verpflichtung auf, den Opfern Respekt zu erweisen, das Gedenken zu tradieren und aus der Geschichte Lehren zu ziehen. Schließlich wendet er sich entschieden und unmissverständlich an die Mehrheitsgesellschaft, verbunden mit der Forderung nach dem Eingeständnis historischer Schuld und Verantwortung, nach Wiedergutmachung und nach dem Ende der Jahrhunderte dauernden Verachtung. Niemals vergessen werden die entwürdigenden Untersuchungen durch den Leiter der Rassenhygienischen Forschungsstelle Dr. Ritter und seine Mitarbeiterin Eva Justin, die wegen ihrer rötlichen Haare von den Sinti Loli Tschai (rothaariges Mädchen) genannt wurde und sich durch ihre elementaren Kenntnisse des Romanes das Vertrauen ihrer Probanden zu erschleichen suchte.24 Otto Rosenberg (1927–2001), der Vater der Sängerin Marianne Rosenberg (geb. 1955), wird von Justin nach den Zwangsuntersuchungen zu Rassenmerkmalen und -eigenschaften zu weiteren Erhebungen – vermutlich Intelligenztests – herangezogen und, um verfügbar zu sein, für kurze Zeit im Institut beschäftigt und bei ihr zu Hause beherbergt, bevor auch er nach Auschwitz deportiert wird.25 Was Eichmann für die Juden bedeutet, sind für die Sinti Ritter und Justin : kalte Planer und Vorbereiter der Massenvernichtung. Sie symbolisieren die Skrupellosigkeit und bürokratische Pedanterie und zugleich die Heimtücke des Systems, weil sie durch ihr Verhalten und Auftreten dem Ungeheuerlichen einen Anschein von Normalität verliehen. Über die Begegnung mit ihnen wird in Sintifamilien noch heute erzählt. Aus der Zeit, in der engagierte Schriftsteller den Unterprivilegierten und Ausgegrenzten, Fürsorgezöglingen, Strafgefangenen, Obdachlosen und Gastarbeitern eine Stimme geben wollten, stammen zwei Texte, die in Zusammenarbeit mit straffällig gewordenen und verurteilten Sinti entstanden sind : Stefan W.s Ich bin ein Zigeuner (1991) und Die Befreiung des Latscho Tschawo (1984), die Geschichte eines durch die Haft in Konzentrations- und Vernichtungslagern Gebrochenen. Ganz anders ist die abenteuerliche Odyssee durch die Kriegsschauplätze im Osten, über die der Musiker Alfred Lessing (geb. 1921) in Mein Leben im Versteck (1993) berichtet. Mit gefälschten 24 Vgl. Malinowski, Das Schweigen wird gebrochen, S. 28. 25 Vgl. Rosenberg, Das Brennglas, S. 24–26.
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Papieren überlebt er einige Zeit im Krieg an der Front in Lemberg. Durch die Hilfe einer Angestellten der Reichskulturkammer erhält er später eine Arbeitserlaubnis, die ihn u.a. nach Buchenwald führt : Nicht als Häftling, sondern als Musiker, der vor den Wachmannschaften spielt. Nach dem Krieg findet er im Unterschied zu „Tschawo“ seinen Platz, zunächst als Nebendarsteller beim Film und dann als Karussellbetreiber. Diese Beispiele zeigen, dass es für die Holocausterinnerungen kein gemeinsames Erzählschema gibt. Ein solches Muster würde die Autobiografien zu monotonen Wiederholungen historisch bekannter Tatsachen degradieren. Das aber sind sie in keinem Fall. Ihre besondere Qualität liegt in der schmerzhaften Auseinandersetzung mit den eigenen Verletzungen und den je individuellen Reaktionen auf das Erlebte begründet. Eine der frühesten und immer noch beeindruckendsten Autobiografien, Zwischen Liebe und Haß. Ein Zigeunerleben (1985) von Philomena Franz (geb. 1922), entsteht während eines Klinikaufenthalts, als sich die Depressionen der Autorin, unter denen sie zunehmend leidet, zu lösen beginnen. Nachdem die Scham über das Erlebte überwunden ist, wird das Schreiben von ihr „nach langem Ringen mit der Vergangenheit“ als befreiend empfunden.26 Franz nutzt ihren Rückblick auch, um Verständnis für die Besonderheiten ihres Volkes zu wecken : „Wir denken anders. Wir fühlen anders.“27 In diesem Zusammenhang nennt sie einerseits die strenge Abgrenzung nach Außen, andererseits Familiensinn, Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft und Naturverbundenheit und die angeborene Affinität zur Welt der Klänge : „Unsere Seele fanden wir in der Musik wieder.“28 Ihre Erinnerungen lassen einen gewissen Stolz auf den Bildungsgrad ihrer Familie, die ein Wandertheater betrieb, und die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur erkennen : „Mein Großvater starb 1937. Er wurde in Tübingen auf dem gleichen Friedhof wie Hölderlin und andere Dichter und Philosophen beigesetzt.“29 Auch der Erfolg – sie verdienen in den ersten Jahren nach der Machtergreifung zunächst noch genug, um sich ein Haus zu kaufen – stärkt ihr Selbstbewusstsein. Eine Folge dieser Grundeinstellung besteht darin, dass sie im Unterschied zu anderen, schonungslos-realistischen Darstellungen der Hölle von Ravensbrück, Oranienburg und Auschwitz einen positiven Aspekt abzugewinnen sucht : Und die Aufseher sagten oft : ‚Nehmt euch doch ein Beispiel an den Zigeunern. Nehmt euch doch ein Beispiel an diesen !‘ Sie wußten, daß wir uns gegenseitig nie verraten
26 Franz, Zwischen Liebe und Haß, S. 8. 27 Ebd., S. 15. 28 Ebd., S. 30. 29 Ebd., S. 35.
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würden. Das war das Schöne. Wir haben in diesen schweren Zeiten gelernt, wer wessen Freund war. Wir haben unser Blut gehört.30
Das, worüber Philomena schweigen oder nur in Andeutungen sprechen möchte, erzählt die Hildesheimer Sintezza Lily Franz (1924–2011), die nach dem Krieg in Holland heiratete und dort lebte, in ihrer Autobiografie „Polizeilich zwangsentführt“. Das Leben der Sintezza Lily van Angeren-Franz (1997). Sie findet sich nicht mit dem Bild der dem Terror vollständig ausgelieferten Opfer ab. Menschen, die sich in Auschwitz zur Wehr gesetzt haben, sind für sie „ein Beispiel für uns alle.“31 Vor allem aber spricht sie ausführlich über Erlebnisse, über die andere weibliche und männliche Häftlinge aus traditioneller Scham nicht zu reden wagten. Ebenso ungeschönt erzählt sie über die Haftfolgen, an denen sie und ihre engsten Freundinnen leiden. Das geschieht sehr bewusst, um über die Tabus, Gebote und Verbote und die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Sintigemeinschaft als eine Ursache der mühevollen Überwindung der Traumata Auskunft zu geben. Denn erst mit der Sprache kehrt allmählich das frühere Selbstbewusstsein zurück. Sie beschreibt diesen Vorgang als Wiedergewinnung einer inneren Kraft und Befreiung : Irgendwann gelangt man an einen Punkt, an dem man den Dämonen, die sich als Herrenvolk zu bezeichnen trauten, zeigen möchte, dass ihre Macht nicht ausgereicht hat, um uns ganz auszumerzen. Das ist ihnen mit den Juden nicht gelungen und mit uns auch nicht.32
Aus dem Schattenleben eines gedemütigten Opfers tritt sie in die Gegenwart ihrer holländischen Familie, Kinder und Enkel ein und entscheidet sich dafür, als Zeugin in einem Prozess gegen den gefürchteten Blockführer des Lagers Auschwitz-Birkenau, Ernst König, auszusagen, zunächst nur vor einer gerichtlichen Kommission in den Niederlanden und dann, trotz Angst und Misstrauen, vor einem deutschen Gericht. Zwei Lebenserinnerungen gilt es besonders herauszuheben. Otto Rosenberg (1927– 2001) erfährt das Lager Auschwitz als ein System, das nicht allein die Gefangenen ihrer Menschenwürde beraubt, sondern auch das gesamte Personal auf der anderen Seite, vom Kommandanten über die Ärzte bis zu den Bütteln, dazu einlädt, zivilisierende Verhaltensweisen abzulegen und Allmachtsphantasien auszuleben :
30 Ebd., S. 63. 31 Schmid, „Polizeilich zwangsentführt“, S. 83. 32 Ebd., S. 127.
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In so einer Lage verlieren die Leute das Gefühl für den Menschen. Da wird nur noch getreten, geprügelt und weggenommen, um sich zu bereichern, um zu überleben. […] Das hat man ja auch bei den Kapos und bei der SS gesehen. […] Da kann man von Menschen nicht mehr reden.33
Eine kaum zu verarbeitende Fülle von Erlebnissen, von den sadistischen Prügelorgien der Wachen bis zum Kannibalismus34 von Gefangenen, bricht über den Sechzehnjährigen herein. Wegen dieser Erlebnisse und seiner Einsichten in das KZ-System wagt er es in seiner Autobiografie Das Brennglas (1998), die wenige Jahre vor seinem Tod entsteht, nicht, das Überleben als Ergebnis seiner zweifelsohne vorhandenen Zähigkeit und inneren Stärke zuzuschreiben : „Ich weiß nicht, wie es möglich war, daß ich Auschwitz überstanden habe. Das leuchtet mir bis heute nicht ein. Ich hatte auch Glück. Über mich wurde wahrscheinlich eine schützende Hand gehalten.“35 Die Deportation wird bei Rosenberg wie in den anderen Erinnerungen von Sinti als ein Bruch in der persönlichen Entwicklung empfunden. Das eigene Überleben erscheint vor dem Hintergrund des Massenmords an der Gemeinschaft, der man sich am engsten zugehörig fühlt, jedoch als ein ebensolcher Bruch. Er lässt sich noch viel weniger heilen als der Riss im individuellen Lebenslauf, zumal wenn man, wie die Sinti, für eine lange Zeit in der Unsicherheit leben musste, ob sich die Familiengemeinschaften jemals wiederherstellen lassen. Rosenberg gesteht in seinen Erinnerungen ein, dass er diesem Problem ausweicht, indem er sich von seiner ersten Frau, einem Opfer der Zwangssterilisierung, trennt und eine deutsche Nicht-Sintezza heiratet. Aus dieser Ehe gehen sieben Kinder hervor. Anders als Lily van Angeren-Franz deutet er die psychischen Spätfolgen der KZ-Haft nur vage an. Sie sind ein wichtiges Thema der Autobiografie seiner Tochter, der Sängerin Marianne Rosenberg, die 2006 unter dem Titel Kokolores erschien. Schonungslos stellt sich der Münchener Sinto Hugo Höllenreiner in dem Erinnerungsbuch „Denk nicht, wir bleiben hier !“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner (2005)36 in seinen Gesprächen mit der Journalistin und Schriftstellerin Anja Tuckermann seinen traumatischen Erinnerungen. Er ringt sich immer wieder dazu durch, auch wenn er tage- und nächtelang darunter leidet, sich vom Vergangenen überwältigt fühlt und dann „vor allen Fremden Angst [hat]. Vor Menschen
33 Rosenberg, Das Brennglas, S. 75. 34 Vgl. ebd., S. 98f. 35 Ebd., S. 67. 36 Zur Situation der Münchener Sinti siehe Eiber, „Ich wußte, es wird schlimm.“ (1993).
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in Uniformen, vor Leuten auf der Straße.“37 Herausgekommen ist dabei eines der eindringlichsten Zeugnisse der Holocaustliteratur. Höllenreiner, der seine Lebensgeschichte seit vielen Jahren Schülern erzählt, treibt neben dem Bewusstsein, dass sich Sinti politisch gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung zu wehren haben, auch die pädagogische Idee an, dass die Konkretheit eines individuellen Schicksals wirkungsvoller zu vermitteln sei als ein Allgemeinwissen über das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen. Höllenreiner gelingt es, nicht nur die Realität des Schreckens, sondern die nur unzureichend in Worte zu fassenden Gefühle der Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, Demütigung, des Hungers und der Schmerzen, aber auch der Hoffnung zu vermitteln. Besonders intensiv versucht er sich an die bedrohlichste Situation in Auschwitz zu erinnern, an die brutale, ohne Narkose vorgenommene Sterilisation durch den KZ-Arzt Dr. Mengele. Obwohl Höllenreiner sich auch nach diesen Erfahrungen noch im Todeslager Bergen-Belsen ein glückliches Leben nach der Haft auszumalen weiß, fördert der erst fünfundvierzig Jahre später einsetzende Erinnerungsprozess unabweisbar zu Tage, dass das ihm Widerfahrene jegliche Möglichkeit zur Bewältigung übersteigt. Der traumatischen Bindung an das Vergangene setzt der Bagaretschi-Rom Karl Stojka (1931–2003), ein anerkannter Repräsentant seiner Gemeinschaft in Österreich, in seiner Autobiografie Auf der ganzen Welt zu Hause (1994) die Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft der Romvölker entgegen. Für ihn ist die Vergangenheit unmittelbar mit der Frage nach der Identität und den Veränderungen innerhalb der Romgruppen und der sie umgebenden Gesellschaft verbunden : „Ich habe versucht, in meinem Buch diese Zeiten des Umbruches zu beschreiben, all das, was ich im Laufe der letzten sechzig Jahre erlebt habe, als Zigeuner, als Mensch, der stolz darauf ist, ein Rom zu sein.“38 Kulturelle Eigenständigkeit, soziale Integration und politische Teilhabe in der Gegenwart sieht er zu Recht als einen Weg zur vollständigen Anerkennung und Gleichstellung.
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Erinnerungen von Sinti und Roma an Diskriminierung, Verfolgung und Völkermord im 20. Jahrhundert
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SHOAH- UND HOLOCAUSTERINNERUNG ZWISCHEN SICHT- UND UNSICHTBARKEIT SHOAH AND HOLOCAUST REMEMBRANCE BETWEEN VISIBILITY AND INVISIBILITY Nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen Ländern und Regionen sind kleine Denkmäler auffindbar, die intim-familiäre, gemeinschaftlich-private oder öffentlich-lokale Formen des Gedenkens an den Holocaust bezeugen. Wenn etwa Familien ein Grab kaufen, um darin nicht die zu anonymer Asche gewordenen Ermordeten zu bestatten, sondern einige wenige Erinnerungsstücke oder vielleicht auch schlicht die Namen der Toten darin zu bergen, schaffen sie einen Ort des Gedenkens, der von Stille und Schlichtheit zeugt. In der Schweiz gibt es an die 60 Denkmäler in Form von Monumenten, Gedenksteinen, Tafeln oder Straßennamen, die sich im öffentlichen Raum lokalisieren lassen. Die Vielzahl solch eher intimer Orte kontrastiert mit der Verantwortung des Staates, eine offizielle Gedenkstätte zu errichten, damit das Leiden nicht privatisiert wird. Es gilt dann, nicht in die Enge von Vorrangstreitigkeiten über das größere Unrecht zu geraten. Die Produktion von national oder städtisch anerkannten Gedenkmonumenten und die Debatten darüber bringen weltweit eigenständige Vorstellungen des Gedenkens hervor, angefangen von Benennungen öffentlicher Räume und Gebäude über den Eintrag der Namen der bisher Namenlosen in Gedenkbücher und Gedenkmauern bis hin zu einer monumentalen Gedenkarchitektur. In allen diesen Formen oszilliert die öffentliche Moral zwischen der Sicht- und Unsichtbarkeit in der Wahrnehmung solcher Orte und Räume. Not only in Switzerland, but in many countries and regions, small monuments can be found that bear witness to intimate family, communal-private or public-local forms of Holocaust remembrance. When families buy a grave, for example, not to bury the ashes of the murdered, but to keep a few mementoes or perhaps simply the names of the dead in it, they create a place of remembrance that bears witness to silence and simplicity. In Switzerland there are about 60 memorials in the form of monuments, memorial stones, plaques or street names that can be located in public space. The large number of such rather intimate places contrasts with the responsibility of the state to establish an official memorial so that suffering is not privatised. It is then important not to get caught up in priority disputes about the greater injustice. The production of nationally or municipally recognised commemorative monuments and the debates about them are producing independent ideas of remembrance all over the world, ranging from the naming of public
spaces and buildings, to the entry of the names of the previously nameless in commemorative books and memorial walls, to a monumental memorial architecture. In all these forms, public morality oscillates between visibility and invisibility in the perception of such places and spaces.
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Individual and Communal Holocaust Commemoration in Israel Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht das individuelle und kommunale Gedenken an den Holocaust in Israel und die Begegnung mit den Kulturen, die sich darin widerspiegeln. Zu den diskutierten Gedenkformen gehören solche von überlebenden Mitgliedern vergangener (europäischer) zerstörter Gemeinschaften und solche von Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern, die in heutigen israelischen Gemeinschaften leben. Diskutiert werden aber auch verschiedene Formen des individuellen Gedenkens, einschließlich solcher mit religiösen, rituellen und familiären Aspekten. “What is the ultimate affront to any man ? The denial of his deepest legitimate need. Such is his need to be remembered after he has left this world … to be unremembered is to die a second death.”1 These words, spoken by American Rabbi Theodore Friedman in the early 1950s, succinctly summarize why people remember others, and actively seek to commemorate them. Beginning where history ends, commemoration fulfills sociological, educational, psychological and theological needs, almost always serving the interests of the commemorators and not necessarily those of the commemorated. Beginning at the juncture of cultures influencing the commemorator’s Weltanschauung, commemoration can reflect the majority culture along with the various sub-cultures practiced by those of foreign origin or belonging to minority groups.2 This is doubly true with regard to Holocaust commemoration. Since the end of the Second World War, the Holocaust has been commemorated throughout the world, in various ways and by different populations. In certain countries it was commemorated nationally ; in others, like Switzerland,3 individually and communally. The purpose of Holocaust commemoration differs from place to place. James Young’s pathbreaking study of the texture of memory lists five reasons for establishing Holocaust memorials : a desire to educate, the Jewish dictum to remember, the need 1 Rabbi Theodore Friedman, Congregation Beth El, South Orange, NJ, USA quoted in : Gordon, Jews in Suburbia, p. 145–6. 2 See : Connerton, How Societies Remember ; Schwartz, “Social Context” ; Halbwachs, Memoire Collective ; Nora, Lieux de Memoire ; Azaryahu, “War Memorials” ; Rein, “Holocaust Memorials”. 3 For a study of Swiss Holocaust memorials see : Meyer, Monumentales Gedächtnis ? ; a short version to be published in this volume.
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of European governments to explain themselves to the public, exoneration of guilt and the desire to attract tourism.4 Holocaust commemoration in the State of Israel added a sense of Jewish mission born of the belief that Israel has become the spiritual and practical heir to all Holocaust victims. For over a generation, national patterns of Holocaust commemoration in Israel were cannonized, at least by State leaders and official Israeli institutions. At the same time, Holocaust commemoration on the individual and communal levels were “forgotten” or “ignored”. During its first decade of existence, the State of Israel was characterized by three types of Holocaust commemoration : national commemoration that was an outgrowth of a dominant political culture,5 local “sabra” commemoration that was the popular side of national commemoration,6 and communal or individual commemoration carried out by survivors and their families, a “landsmanschaft” (composed of members of a former European community), or bodies functioning in the present as a community such as moshavim, kibbutzim, agricultural settlements and occasionally, organized communities in cities.7 This essay focuses on individual and communal Holocaust commemoration in Israel, and the meeting of cultures which they reflect.
Yizkor (Memorial) Books Communal Yizkor books were among the first commemorative responses to the Holocaust. Some were already published in 1946, both in Israel and abroad, almost always at the initiative of the “landsmanschaften” that had traditionally cared for their members’ burial. Now they felt obliged to figuratively bury their dead and erect a memorial. In the words of the author of one memorial book : “May the Yizkor books be an eternal tombstone and substitute grave” for those whose bones were crushed in Auschwitz and Belzec and whose bodies were turned to ashes in Majdanek and Treblinka.8 From the 1950’s onward, more than 90% of the Yizkor books were published in Israel, often financed by landmanschaft members living abroad. Most described the Shtetl’s pre-war history, its travails during the occupation and finally, its destruction by the Nazis. Most of the first Yizkor books were written in Yiddish as landsman4 Young, Texture of Memory, p. 2. 5 See for example : Brog, Who Should Be Remembered ? 6 See for example : Almog, The Sabra. 7 Regarding agricultural settlements and Holocaust commemoration see : Balf, Voice. For a comparison with Israeli military commemoration at that time see : Katz, Tombstone. 8 Bilavsky, Yizkor Book.
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schaft members made a conscious effort to preserve a small portion of their former communities’ cultural life. Hebrew and English were later introduced to involve the post-war generation. Only a few Yizkor books appeared before 1953 but their numbers rose, peaking in 1967 and remaining stable until 1974. Their numbers then declined drastically, accompanied by a sharp rise in the number of survivor memoirs worldwide.9 Some books were influenced by the 1967 and 1973 wars, others by the survivors’ economic status and aging processes. Following the “secular” European Yizkor book tradition, post-war Yizkor books devoted a significant amount of space to pre-war Jewish communal life, albeit often through rose-tinted lenses of unrealistic retrospective solidarity, thus portraying only a partial picture of Shtetl reality. Another problem arose when describing the Judenräte (“Jewish councils”) and the “Jewish police” whose wartime activities often came under harsh fire. Some books included opposing viewpoints.10 Others presented a historical survey of the issue as the books were written as an eternal monument to the community and a historical source for years to come. The issue at stake was that of eternal commemoration – what should be remembered and what should be forgotten, what should be emphasized and what should be erased. It was usually decided to preserve a nostalgic description of an idyll rather than portray the cruel historical reality. Yizkor books usually devoted scant paragraphs to the underground movements, but a great deal of space to spiritual heroism, to “sanctification of life”. The wedding held at the Zelichow ghetto’s cemetery which according to tradition would halt the typhus epidemic ; the Passover seder conducted at the Hasag labor camp ; the Jew who dared to read humorous stories in Yiddish which denigrated Germans before an S.S. man – all these were points of light illuminating the Holocaust’s darkness for thousands of Jewish survivors who commemorated their experiences in Yizkor books. In their study of Polish-Jewish Yizkor books Annette Wieviorka and Yitzhak Nivorski state that these books are characterized by a sacred dimension, making them into a “memorial prayer for those lacking a grave”.11 This same dimension makes it difficult to place the post-war Yizkor books into any of the memorial genres preceding them. Their ritual use in communal memorial services carries back to the medieval tradition of memorabilic liturgy. The lack of martyrological theology reminds us of the secular Yizkor books written in early twentieth century Europe. Holocaust 9 The Yizkor book survey is based on a study conducted by Penina Meizlish during the 1980’s : Meizlish, Religious Life. The survey covered 322 Yizkor books published since the end of the Second World War, 97% of which appeared in Israel. On the topic of survivor memoirs see : Tydor Baumel-Schwartz, Women. 10 See : Yasni, Di Geschickte. 11 Wieviorka/Nivorski, Les Livres, p. 9.
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memorial literature – even that published in Israel – definitely belonged to the European-Jewish historical tradition which considered the pogroms – and later the Holocaust – to be part of an ongoing process.
Communal Monuments Monuments and memorial stones are a second form of Holocaust commemoration, a system of symbols through which one can examine a society’s culture and ideology. While monuments are found almost everywhere, and can commemorate a person, an event or an ideology, most memorial tombstones are erected in cemeteries and commemorate only the dead.12 Here I will deal with three forms of plastic commemoration : monuments/memorial stones erected by former communities in memory of Holocaust victims, such monuments/memorial stones erected by present-day communities, and commemorative inscriptions on private tombstones. Just as the landmanschaften created written Holocaust memorials, they commemorated their dead by erecting memorial stones over their non-existent graves. And just as memorial literature attempted to expand the scope of commemoration, memorial tombstones were meant to have impact upon commemorators, memorial service participants and onlookers, uniting them in a ritual carried out in sacred space while passing on the Shtetl’s tradition to future generations.13 The first communal tombstone in memory of Holocaust victims was erected in TelAviv in 1947 by members of the former Polish-Jewish community of Zdonska-Wolla.14 This began a tradition of erecting communal memorial stones in Israel, the next three of which were unveiled in Tel Aviv cemeteries in 1950 for the martyrs of Mir, Treblinka, and Warsaw.15 As yet there were no fees or forms for such burials, the 12 Proust, “Les Monuments aux Morts” ; Rubenstein, “The Shape of Memory” ; Papov, “Reminders of Glory” ; Inglis, “A Sacred Place”. 13 Colin McIntyre claims that many war monuments were created out of a sense of guilt carried by the survivors : McIntyre, Monuments of War, p. 19. In comparison see : Azaryahu/Shani. With their Death they commanded. 14 Letter A. Frankel, Chairman of the Zdonska Wolla landsmanschaft to the directors of the Tel Aviv Burial Society, 17 May 1973, Archives of the Tel Aviv Burial Society, (henceforth cited : TABS), Zdonska Wolla file. 15 Authors’ conversations with A. Singer, director of the TABS technical department, Tel Aviv. The Warsaw martyrs’ memorial was erected by an individual whose family had been killed in the Warsaw ghetto. In 1949, during a visit to Poland, he was taken to the Poniatowska forest where the last of the Warsaw ghetto resistance fighters had been killed. There he filled two sacks with ashes and bones which he found in the forest and these were secretly sent to Israel in a diplomatic lift. On April 19, 1950, the
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Fig. 1 : Tombstone of the author’s mother with the names of the family members who were murdered in the Holocaust. Photo : Judy Tydor Baumel-Schwartz
stones were much larger than those erected later, and they mentioned armed resistance, something rarely appearing in later stones. Only after the 1960’s, parallel to the growth of Yizkor books, most memorial stones were erected in Israel. At the entrance to the three main Tel-Aviv cemeteries, long boulevards were lined with communal memorial stones, some fashioned as large tombstones, others as a torch or gate. A few – such as the Kalish memorial stone fashioned as a crematorium – bordered upon necrophilic kitch. Almost all were unveiled by the late 1980’s.16 Those landsmanschafts unable to obtain “martyr’s ashes” or cover
seventh anniversary of the Warsaw ghetto uprising, these remains were buried in the old Tel-Aviv cemetery in a grave dug near that of the Zdonska Wolla martyrs. As the sacks had been removed from Poland illegally, it was decided to erect a common gravestone with that of the Zdonska Wolla martyrs and to shroud the story in secrecy. Only in 1970, when the last person who had been involved in the enterprise left Poland, was the story made public. Letter Y. Pizitz to the Zdonska Wolla landsmanschaften, 9 November 1959 ; Letter Y. Pizitz to Rabbi O, Yosef, 28 June 1970, TABS, Zdonska Wolla file. 16 Friedlander, Reflections of Nazism. As of early 2019, there were 365 community memorials at the Holon cemetery, 27 at the Nahalat Yitzhak cemetery and 32 at the Kiriyat Shaul cemetery. There were only two Holocaust memorials at the old Tel-Aviv cemetery on Trumpledor street – those of the Warsaw and Zdonska Wolla martyrs. A few such memorials were also erected in Haifa and in Beersheba.
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plot and stone costs were offered the possibility of memorializing their community on a cemetery’s “memorial wall”.17Costs were covered by dues and local donations or by assistance from landsmanschaft members abroad, cementing their supra-geographical bond. Memorial stone motifs are a key to deciphering the commemorators’ inner world. My survey of over four hundred communal memorial stones has pinpointed eight recurring motifs : a synagogue, a community scroll, scenes from the Holocaust, objects from the Shtetl, a “Martyrs’ scroll” listing all community members killed during the Holocaust, community memorial date, biblical phrases, and physical heroism, portrayed in only eight of 426 memorials surveyed. Similar to the Yizkor books, communal memorial stones heavily reflect the influence of a European Jewish culture. Almost none embody an ideological Zionist ethos.18 Several landsmanschaften erected identical monuments in the cemeteries of their European hometown, to those which they had built in Israel.
Contemporary Community Monuments Contemporary communities – small towns, moshavim, kibbutzim – have also commemorated the Holocaust. Like communities of the past, they also use memorial stones and create sacred space. But while Landsmanschaften memorialize community members who lived and died together, contemporary communities commemorate family members, who usually had no historical/geographical connection with each other prior to, or even during the war.19 Reaching its zenith in the mid-1970s, this commemorative form flourished only as the survivors aged and were better able to cover the costs of such projects. A Holocaust memorial stone was only set at Kevutzat Kinneret during the 1980’s when the cemetery keeper received a sum of money from a relative abroad and decided to donate it for this purpose. A similar memorial was erected in Kefar Vitkin around the same time when the moshav member responsible for the cemetery upkeep decided that budget difficulties were no excuse for putting off such a project. On that very day he rode up to the nearby Carmel Moun17 Letter, Hrubieszow communal organization to the TABS, 26 October 1966, TABS archive, Hrubieszov file ; Letter, Organization of Jews from Jawozno to the TABS, 5 December 1974 stating that they received ashes from Auschwitz and Buchenwald. TABS archivs, Zamosz file. 18 Segev, “What Monuments do at Night”. 26% of the monuments erected in memory of fallen soldiers in Israel incorporate biblical phrases. 19 Findings are based on a survey of three hundred settlements, more than half of which contain memorial stones and monuments commemorating the Holocaust.
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tains, found a large suitable stone, brought it back to the Kfar Vitkin cemetery and had a local stonemason make up a marble memorial plaque out of leftover tombstone material.20 Local events were often instrumental in communal Holocaust commemoration. A Holocaust memorial wall was created in Kibbutz Ma’agan only after the 1954 airplane disaster in which a piper cub killed close to 20 participants at a commemorative ceremony held at the kibbutz. In 1950, a Holocaust memorial was erected at K’far Ha’Roeh, following a car accident in which several of the moshav’s members were burned to death. A small memorial stone at the cemetery’s entrance states that the accident victim’s remains were interred together with a small piece of soap made out of the bodies of Holocaust victims. As most memorials were cenotaphs (empty graves) they could be located anywhere within the community and not necessarily in a cemetery. Many portray pictures from the Holocaust, lists of victims and candles – a traditional Jewish (as well as general western) symbol of mourning. They also portray motifs connecting Holocaust and Israel’s rebirth, such as illegal immigration ships and references to Israel’s wars. Many memorials – particularly those in left wing kibbutzim – bear phrases reflecting a secular-Zionist ethos. In this they differ from the historical community memorials which separate the European experience from the Israeli one.
Individual Commemoration On the individual level, one finds inscriptions in memory of Holocaust victims, added to individual tombstones. These memorial inscriptions were often added long after the original tombstone was set and are found even on tombstones of persons buried before the outbreak of the Second World War. This commemorative form was adopted primarily by survivors, or those who immigrated to Israel during the 1930’s and lost parents during the Holocaust. This explains the large number of memorial inscriptions from the 1970’s and 1980’s, decades when Holocaust consciousness peaked just as the natural death rate among survivors and immigrants of the 1930’s rose. The phrasing of commemorative inscriptions often points to the image of the Holocaust perceived by the commemorators. Most employ a traditional Jewish form. Some commemorate the victims by name, others by their relationship to the deceased. There are those who mention the place where the victims lived – or died ; 20 Author’s conversation with S. Hadad, Kevutzat Kinneret, with A. Gilad, Kefar Vitkin and with A. Sanson, Kibbutz Sheluchot.
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others adopt the catch-all phrase “murdered during the Holocaust”, or “denied a Jewish burial”. Similar to the case of geographical communities, memorial inscriptions do not commemorate the victims’ life but only their death. Another individual form of commemoration taking place in a communal setting are Holocaust memorial panels in synagogues. The contents and form of the memorial inscriptions are similar to those added to individual tombstones. There are even entire prayer rooms and synagogues dedicated to the memory of Holocaust victims such as those in Beersheba, Tivon, and Kibbutz Sheluchot.21 Additional forms of individual Holocaust commemoration are planting memorial groves, naming children in memory of Holocaust victims, observing a private “Purim” celebration to mark the day of deliverance (such as liberation from a camp), dedicating buildings in memory of Holocaust victims and establishing scholarships and grants in their memory. One pattern that disappeared was Holocaust commemoration inserted into the Passover Haggadah’s of various kibbutz movements. This commemorative form began to disappear as the custom of Yom HaShoah – the national Holocaust memorial day – ceremonies became more widespread nationally and then through Jewish communities worldwide. Here we see how a commemorative form which began spontaneously on the communal level, became an established form on the movement level and disappeared after being replaced by a commemorative form on the national level that later on has turned out as a globally recognized place.22
Commemoration in transition The dynamics of communal and individual Israeli Holocaust commemoration can only be truly understood through the meeting of cultures which they reflect. The essence of these cultures, the fight for primacy or even exclusivity among them, whether in the field of commemoration or elsewhere, is one of the cultural litmus test which Israeli society underwent in its metamorphosis from immigrant ingathering to independent community. Certain commemorative patterns, such as statues and Yizkor books, developed in European pre-state Israel long before the Holocaust, showing how Israeli commemorative culture usually left its mark on the form of Holocaust 21 Author’s conversation with secretary of the Beersheba Religious Council, 29 December 1993 ; Dedication plan of the “Bet Avraham” Synagogue in Memory of the Struma Victims, Hanukah 1965, Beersheba 1965 ; Author’s conversation with A. Shalom, synagogue caretaker at Kefar Vitkin, 31 December 1993. 22 Author’s conversation with A. Ben-Gurion, Holiday archives director at Kibbutz Beit HaShita, 10 March 1994.
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commemoration while rarely influencing its content. The Zionist ethos of physical heroism connecting Holocaust and rebirth is almost totally absent in individual and communal Holocaust commemoration. Consolation is not found in resistance fighters but the commemoration itself or by turning the Holocaust victim into a “holy martyr”, making him a worth candidate for Divine justice and ensuring him a place of honor in our hearts and in the World to Come. There is also a dichotomy between the impact of local versus European culture upon Israeli Holocaust commemoration. As a part of the mourning process, which contributes to the dynamics of recuperation, the commemorative phenomenon always incorporates a search for consolation. In Israeli commemorative patterns, consolation is almost always an expression of the Zionist ethos – physical heroism, the nationalist ideal and a vision of a homeland. A similar ethos is expressed by Holocaust commemoration on the national, institutional and movement levels – one which connects Holocaust and rebirth, turning the partisans and resistance fighters into a living bridge between the Jews who were “there” and those who were “here”. This ethos is almost totally absent in individual and communal Holocaust commemoration. There one seeks consolation in one of two spheres. Either the commemoration itself becomes the instrument of consolation, or the victim becomes a “holy martyr”, and the commemorator then becomes part of a long standing tradition of religious martyrs’ commemoration. The ritualization of communal and individual Holocaust commemoration is additional proof of the impact of European immigrant culture upon the State of Israel. Most landsmanschaften unveiled their memorials on a date of personal and communal significance, their community’s memorial days, and not on the National Day of Holocaust Remembrance. Memorial services include nostalgic descriptions of the Shtetl, memorial prayers and the hope that the next generation will remember their European forefathers’ tradition. There are even landsmanschaften, such as the Organization of Jews from Hrubieszow, which distribute scholarships in memory of Holocaust victims during the annual memorial services. These monetary inducements are meant to encourage the younger generation’s interest in European Jewish culture prior to the Holocaust. Society is to be understood as a dynamic body – its needs also change with time. This leads to a shift in commemorative patterns, or a variation in the impact of their many components. Over the past few decades, the national Israeli attitude towards individual and communal patterns of Holocaust commemoration has undergone a metamorphosis. Yad Vashem’s valley of destroyed communities contains figurative tombstones for hundreds of communities annihilated during the Holocaust. The idea of forming an analogue to landsmanschaft memorial stones – a place for reflection
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and a substitute grave, with or without martyr’s ashes – originally arose in the hope that community members and their children would donate large sums to the Institutions ever-empty coffers. Yet the fact that this project was adopted by the vanguard of national Holocaust commemoration – a body which for years promoted the ethos of physical heroism in its memorials and research projects – is proof of a conceptual transition transpiring within Israeli society : a willingness to grant legitimacy to a European immigrant culture, to recognize its vitality and to incorporate parts of it within national commemorative patterns. An additional example of this conceptual transition are the study tours which Israeli youth take to Poland, an enterprise which is more a cultural search for roots rather than a tool for strengthening a collective national ethos. Thus, we see how communal and individual Holocaust commemoration in Israel has become public domain for future generations, instead of disappearing forever with the death of the last survivor.
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Präsenz der Leere Ästhetische Formen des Holocaust-Gedenkens im öffentlichen Raum Since the 1950s, Israel and Europe have been struggling to find appropriate forms of Holocaust remembrance. How can Jewish life and its annihilation be portrayed from the perspective of the perpetrator or victim ? Starting with Yad Vashem, Jerusalem, museum and memorial concepts in Berlin, Vienna, and Amsterdam will be presented to show how emptiness and monumentality emerged as aesthetic motifs in order to make the incomprehensible nature of the Nazi crimes and the destruction of Jewish culture and communities architecturally and spatially comprehensible. Die oft zitierte Aussage von Theodor W. Adorno, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, die er in seinem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft 1951 veröffentlicht hatte, ist unterschiedlich interpretiert und nicht zuletzt von Adorno selbst modifiziert und teilweise zurückgenommen worden. Der Sprachlosigkeit und dem Entsetzen über das Massensterben im Zweiten Weltkrieg und das Massenmorden im Holocaust waren damit aber zunächst einmal Ausdruck verliehen worden. Auf die Sprachlosigkeit folgte Schweigen.1 Adornos ästhetisches Verdikt zur Sprach- und Fassungslosigkeit wurde auch in die Kunst und Architektur übertragen, wobei das Unvorstellbare als das Nichtdarstellbare diskutiert wurde. Im Zentrum gestalterischer Debatten standen dabei weniger Fragen nach einem Kunst- und Architekturschaffen „nach“ Auschwitz, sondern Überlegungen zu künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, den Holocaust adäquat darzustellen. Kann, so wurde der Architekt Daniel Libeskind zu seinem Entwurf des Jüdischen Museums in Berlin (Wettbewerb 1989) in einem Interview 1998 gefragt, „die Ausrottung der Juden in Berlin wirklich gezeigt werden ? Kann das Sterben durch Architektur überhaupt dargestellt werden ?“2 Bei solchen Diskussionen um Entwürfe für Jüdische Museen und Holocaust Gedenkstätten wurde immer wieder gefragt und problematisiert, zuweilen auch polemisiert,3 wie mittels Architektur dem Unfassbaren und 1 Die Philosophin Agnes Heller definierte vier Formen des Schweigens über den Holocaust : das Schweigen der Sinnlosigkeit ; das Schweigen des Schreckens ; das Schweigen der Scham ; und das Schweigen der Schuld. Heller, „Schreiben nach Auschwitz ?“. 2 Loderer/Libeskind, „Daniel Libeskind“. 3 Vgl. die Kontroversen in den Zeitschriften Midstream und Tikkun vom Mai-Juni 1989 mit dem Feature „A Distance from the Holocaust“, S. 45–70, aus Anlass der Gründung des U.S. Holocaust Memorial
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Unheimlichen ein Ort gegeben werden könne. Wie können die Leere und das Schweigen eingehaust und gleichsam beheimatet werden ? Wie gibt man der Leere, die durch die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden und durch die Zerstörung jüdischer Kultur in Europa entstand, eine Form, ohne sie inhaltlich füllen zu wollen ?4 Bereits in den 1950er-Jahren setzten vermehrt Debatten um den Bau von Jüdischen und Holocaust Museen und Gedenkstätten ein. Dabei verfolgten Staaten, Verbände, Institutionen und andere Initiator*innen, unterschiedliche Themenschwerpunkte wie Täter / Opfer, jüdisches Leben in der Vergangenheit, Vernichtung im Holocaust, Orte und Instrumente des Terrors. Sie bemühten sich um unterschiedliche Adressatengruppen, verbanden Entwürfe mit verschiedenen Erinnerungskulturen und Bildwelten und zielten letztendlich auf eine ideologische Einbettung des Holocaust in jeweils nationalpolitische, kulturelle und religiöse Narrative.5 Aufbauend auf der Denkmalsetzung in Yad Vashem, Jerusalem, werden im Folgenden einige Museumsund Denkmalkonzepte in Berlin, Wien und Amsterdam exemplarisch vorgestellt, um aufzuzeigen, wie sich Leere und Monumentalität als ästhetische Motive herausbildeten, um das Unfassbare der nationalsozialistischen Verbrechen und der Vernichtung jüdischer Kultur und Gemeinden architektonisch-räumlich fassbar zu machen.
Jerusalem – Anfänge des Gedenkens Auf Planungen von Holocaust-Gedenkstätten im Ausland und auch auf private Initiativen im Inland folgend, sah sich der Staat Israel in der Verantwortung, seine Form des Erinnerns zu entwickeln, um damit entsprechende Deutungshoheit zu wahren. Für den 1948 gegründeten Staat stellte die Auseinandersetzung und Integration des Holocaust in die nationale Narration eine ambivalente Herausforderung dar. Zum einen bestätigte der Holocaust auf mörderische Weise die zionistische Forderung nach einem souveränen jüdischen Staat. Zum anderen jedoch passten Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden nicht in das Konzept eines starken, sich selbstverteidigenden Volkes, wie sich Israel im Unabhängigkeitskampf gegen die Arabische Liga präsentiert hatte. Überlebende des Holocaust waren häufig dem Vorwurf des fehlenden Widerstandes ausgesetzt.6 Auch wenn bereits seit 1942, als erste Berichte über den jüdischen
Museums in Washington D.C. Darin ist auch polemisch von einem „Disneyland des Schreckens“ und „Schreinen des Holocaust“ die Rede. Vgl. auch einzelne Beiträge in Rosenberg, Testimony. 4 Gehring, „Semantik der Absenz“ ; Young, At Memory‘s Edge ; Neuman, Shoa Presence. 5 Young, „Jüdische Museen“, insbesondere. S. 42. 6 Goldman, „Memorial Strategies“ ; Segev, The Seventh Million ; Porat, „Attitudes“.
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Massenmord im Yishuv, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina, bekannt wurden, Entwürfe zu einem Holocaust-Denkmal sowie individuelle Formen des Gedenkens vorlagen, so wurde nach der Staatsgründung zunächst ein nationales Mahnmal in Israel abgelehnt.7 Da das nationale Narrativ nicht mit dem Holocaust endet, sondern seine staatspolitische Erlösung in der Gründung Israels finden sollte, stehe, so die häufige Meinung, der Staat selber als Denkmal für die Geschichte des Judentums. 1953 schließlich verabschiedete die Knesset das Yad Vashem. Martyrs’ and Heroes’ Remembrance Law als offizielle Richtlinie des Holocaust-Gedenkens. In ihr entfällt der Begriff Opfer. Die Toten werden zu heroischen Märtyrer*innen ernannt, die mit dem Festhalten an jüdischen Traditionen zu Widerstandskämpfer*innen gegen den Nationalsozialismus und zu Kämpfer*innen für Israel geworden sind. Die nationale Gedenkstätte Yad Vashem entstand in den folgenden Jahren in Jerusalem auf dem Berg der Erinnerung (Har ha’Zikaron) in nächster Nachbarschaft zum militärischen und zionistischen Ehrenfriedhof.8 Die seit 1942 entwickelten Entwürfe und die seit den 1950er-Jahren errichteten Bauten und Denkmäler von Yad Vashem zeigen die Bemühungen, sowohl die zionistischen Interpretationen einer national-heroischen Historiographie der Staatsgründung als auch die religiös-messianischen Vorstellungen einer transzendenten Erlösung in den Gestaltungskonzepten zu respektieren. Damit wurden auch zahlreiche Formen individuellen Gedenkens im Kleinen durch die Einführung eines nationalen Gedenkens überlagert.9 Eine weitere Herausforderung bestand darin, eine adäquate architektonische Gedenkform für den in seinen Ausmaßen kaum greifbaren Massenmord zu finden, die auch mit dem damals geltenden Deutungskanon des biblischen Abbildverbotes vereinbar war.10 Während die nationalpolitische Ausdeutung ein Spezifikum der zionistisch-israelischen Gedenkkultur ist, kristallisierten sich mit den ersten Bauten der Gedenkstätte Yad Vashem gestalterische Motive heraus, die Einfluss auf nachfolgende Diskurse und Entwürfe nahmen. Es waren erste Experimente, die Leere, das Nichts, die Abwesenheit architekturräumlich und materialästhetisch zu fassen. Leere wirkt nur durch die scharfe Abgrenzung und nahezu hermetische Abschließung vom umgebenden Raum. Je gewaltsamer diese Abgrenzung erfolgt, je monumentaler sie gestaltet ist, umso überwältigender können die Leere und das Nichts ihre Wirkungsmacht und 7 Zu den frühen Denkmalentwürfen von 1942 und 1946 vgl. Shani, „Yad Vashem“. 8 Minta, Israel bauen, S. 166–189 ; Minta, „Horror vacui“. 9 Siehe dazu den Beitrag von Judy Baumel in diesem Buch, die aufzeigt, wie lokale und individuelle Formen, etwa kleine Erinnerungsstätten, durch die Einführung eines nationalen Gedenkens überlagert wurden. 10 Zur jüdischen Deutung des „Bildverbotes“ vgl. Kogman-Appel, „Kulturaustausch und jüdische Kunst“ ; Picard, „Aphrodite zu Besuch bei Raban Gamaliel“ ; Bland, „Anti-Semitism and Aniconism“.
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symbolische Kraft entfalten. Motive und Materialien mit archaischer Anmutung verstärken das Gefühl der Überwältigung ebenso wie großmaßstäbliche Inszenierungen der Leere. Monumentalität war bereits in den 1930/40er-Jahren unter modernen Architekten vermehrt als Mittel diskutiert worden, um herausragende Bauaufgaben in ihrer soziokulturellen Repräsentationsfunktion aus der alltäglichen Masse rational-funktionalistischer Baukultur hervorzuheben. Architekten und Mitglieder der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) wie Sigfried Giedion in Zürich, Josep Lluís Sert in Barcelona und Fernand Léger in Paris forderten 1943 in ihrem gemeinsamen Manifest zu einer neuen Monumentalität, über das Monumentale symbolische Qualitäten in der Architektur zum Ausdruck zu bringen, kulturhistorisches Erbe in Form von Größe zu vergegenwärtigen und der Gemeinschaft damit handlungsleitendes Vorbild zu sein.11 Vor 1943 hatte bereits der Schweizer Architekt und Kunsthistoriker Peter Meyer Monumentalität in der modernen Baukunst zur gesellschaftlichen Bedeutungssteigerung gefordert.12 Der amerikanische Architekt Louis I. Kahn brachte 1944 Monumentalität mit Spiritualität in Verbindung und forderte Werte wie Perfektion und Dauerhaftigkeit : „Monumentality in architecture may be defined as a quality, a spiritual quality inherent in a structure which conveys the feeling of its eternity, that it cannot be added to or changed.“13 Schlagworte wie Monumentalität, Spiritualität, gemeinschaftliche Sinnstiftung und gesellschaftliche Relevanz prägten die Diskussionen um zeichenhafte Architekturen und Erinnerungsorte. Dies gilt auch für Yad Vashem. Zentrales Element ist die 1961 eingeweihte Gedenkhalle Ohel Yizkor (Zelt der Erinnerung), die dem später errichteten Museumsbzw. Ausstellungsteil (durch den Architekten Moshe Safdie) auf dem Weg dahin vorgeschaltet ist. Der Architekt von Ohel Yizkor, Arieh El-Hanani, schuf einen rechteckigen Bau aus gewaltigen Basalt-Findlingen. Ein mächtiges Betonflachdach lastet auf diesem Zyklopenmauerwerk, dessen horizontale Schalungsspuren den Eindruck einer schweren Last verstärken. Zwei riesige, dunkle Stahlportale führen ins Innere, wo sich das von außen blockhafte Betondach zeltförmig nach oben wölbt und in einem kleinen Quadrat zum Himmel öffnet. Darunter brennt auf dem abgesenkten Fußboden in einer Bronzeschale die Ewige Flamme des Gedenkens, deren Rauch durch die Deckenöffnung entweicht. In den dunklen Boden sind die Namen der 22 größten Konzentrationslager und Vernichtungsstätten eingelassen. Die bedrückende, düstere Leere des Innenraums, die die 11 Sert, “Nine Points”. 12 Vgl. Meyer, „Monumentale Architektur ?“. 13 Kahn, „Monumentality“, S. 48.
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Abb. 1 : Yad Vashem, Jerusalem, Gedenkhalle Ohel Yizkor, 1961. Architekt Arieh El-Hanani und Benjamin Idelson. Foto 1969, © Yad Vashem
Abb. 2 : Yad Vashem, Jerusalem, Gedenkhalle Ohel Yizkor, Innenansicht, 1961. Architekt Arieh ElHanani und Benjamin Idelson. Foto : Fabienne Meyer 2019
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Abwesenheit von Millionen ermordeter Juden symbolisiert, steht im starken Kontrast zur Massivität der Gebäudehülle. Materialien wie unbearbeitete Basalt-Findlinge, Stahl und roher Sichtbeton vermitteln das Gefühl von Schwere, Härte und archaischer Dauerhaftigkeit.14 Bildprogrammatisch erinnert die monumentale Architektur der Findlinge an Megalithgräber mit gewaltiger Grabplatte. Auch in der hebräischen Bibel werden aufgeschichtete Steinhaufen (matzeva) beschrieben, die als Erinnerungsmale auf Gräbern ruhen und Zeugnis von Bündnissen zwischen Menschen oder Denkmal für Begegnungen zwischen Menschen und Gott sind. Bildmotivisch ist es eine Synthese von Deutungen als Zeugnis, Erinnerungs- und Grabstätte, die in El-Hananis Entwurf Ausdruck finden. Wirkungsästhetisch schuf er einen nahezu leeren Raum, der über Dimension, Gestaltung, Material und nur wenige konkrete Referenzen wie die KZ-Namen im Boden die Besucherinnen und Besucher emotional ergreift und die unfassbare Leere infolge der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik sichtbar macht. Dieser monumentale Innenraum kontrastiert mit der unmittelbaren Umgebung, die, als offen gestaltete, weite Gartenanlage konzipiert, den Besucher solcherart an die Fülle des Lebens erinnert – und mit dem Blick darüber hinaus in die Hügellandschaft Israels die Staatsgründung als zwingende Notwendigkeit für das jüdische Leben anmahnt. Die gepflanzten Bäume, zu Ehren von Rettern und Retterinnen jüdischer Opfer weltweit – „Gerechte unter den Völkern“ –, widerstreben symbolhaft eben jener Leere, die so jegliche Hoffnung zu vernichten droht.
Berlin – Leere und entleerte Leere In Berlin, wo der nationalsozialistische Vernichtungskrieg gegen die Jüdinnen und Juden Europas beschlossen und organisiert wurde, sollte – auch als Bekenntnis zur deutschen Vergangenheit und Verantwortung am Holocaust – als Bestandteil des Berlin Museums der jüdischen Geschichte und Kultur gedacht werden. Den Wettbewerb für einen Erweiterungsbau gewann der Architekt Daniel Libeskind 1989 mit seinem Konzept „Between the Lines“.15 Libeskind errichtete einen Zick-Zack-Bau in Beton mit Titanzinkverkleidung, der sich in seiner Struktur aus imaginären Verbindungslinien jüdischer Geschichte und Orte in Berlin ergab. Asymmetrische, schräg verlaufende Fensterschlitze greifen die Idee des Liniennetzes auf und verunklaren da-
14 Lischinsky, „Yad Vashem als Kunstwerk“, bes. S. 18. 15 Zur konfliktreichen Entwurfs- und Entstehungsgeschichte vgl. Dorner, Daniel Libeskind ; Ionescu, Libeskind‘s Berlin Jewish Museum.
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Abb. 3 : Memory Void mit der Installation „Schalechet“ (Gefallenes Laub) von Menashe Kadishman im Jüdischen Museum Berlin, 2001 © Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Dieter und Si Rosenkranz. Foto : Jens Ziehe
bei die Geschossgliederung des Museums. Voids, nur zum Teil betretbare Leerräume, durchschneiden das Gebäude vom Unter- bis zum Dachgeschoss. Schräge Wände, unregelmäßige Lichtschlitze sowie die Raumunterbrechungen durch die monumentalen, kaum beleuchteten Betonschächte der sechs Voids lassen Ausstellungen zur jüdischen Geschichte immer mit der Omnipräsenz von Zerstörung, Gewalt, Abwesenheit und Leere lesen. Die Raumstrukturen führen zu Desorientierung und Haltlosigkeit und ständiger Konfrontation mit dem Nichts des Abwesenden. Mit den Voids scheint Daniel Libeskind „die physische Leere, die durch die Vertreibung, Zerstörung und Vernichtung jüdischen Lebens in der Schoah entstanden ist und die nicht nachträglich wieder gefüllt werden kann“ zu thematisieren.16 Mit architektonischen Mitteln versucht er, diesen Verlust sicht- und fühlbar zu machen. Der für seine Forschungen zum Holocaust-Gedenken bekannte Judaist und Sprachwissenschaftlicher James E. Young beschreibt den mehrfach gebrochenen Baukörper als Sinnbild des gewalttätigen Völkermords : „Die gerade Linie der ‚voids‘ (Leerräume) durch das Gebäude tut jedem Raum, den sie durchzieht, Gewalt an und 16 Jüdisches Museum Berlin, Der Libeskind-Bau. Architektur erzählt deutsch-jüdische Geschichte : https://www.jmberlin.de/libeskind-bau, letzter Zugriff : 06.06.2019.
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verwandelt ansonsten einheitlich dimensionierte Räume und Säle in missgebildete Anomalien.“17 Die brutalen Einschnitte in das Raumkontinuum sind räumliche Lücken, die physisch erlebbar und zugleich symbolisch für die Leere stehen, die mit der Ermordung der Jüdinnen und Juden und ihrer Kultur in Berlin und an anderen Orten entstanden ist. Mit dem Museum unterirdisch über die Holocaust-Achse verbunden gelangt man in den ‘Voided Void’ (entleerte Leere), einen als Solitär etwa 25 Meter hoch aufragenden, engen, nicht klimatisierten Betonschacht, durch den nur wenig Tageslicht von weit oben fällt. Die isolierte räumliche Sackgasse des „Voided Void“ als Ausdruck der Auswegsund Hoffnungslosigkeit potenziert die Symbolkraft und Wirkungsmacht der bedrückenden Leere als Konsequenz der Vernichtung jüdischen Lebens. Während in Yad Vashems Gedenkhalle über die Namensinschriften der Konzentrations- und Vernichtungslager ein konkreter, sprachlicher Verweis zum Holocaust in die Gedenkstätte integriert ist, kommt Libeskind in seinem Raumkonzept ohne verbale Referenzsysteme aus. Er entwarf einen Bau, der in Form, Ausstattung und Materialität eine emotive Wirkung auf die Besucher*innen ausübt. Architektur und Atmosphäre sind die Schlagworte, mit denen die emotionale, aber auch soziokulturell konditionierte, Wirkung von Räumen in der Architektursoziologie diskutiert wird. Der Architekt Peter Zumthor bezeichnete in einem Vortrag 2001 Atmosphäre als emotionale Wahrnehmung und Berührung, die ein Baukörper durch materielle Präsenz, Klang, Temperatur und Lichtstimmung des Raumes, durch die Diversität der physischen und emotionalen Raumeindrücke, die Spannung zwischen Offenheit und Intimität / zwischen innen und außen erzeuge und die mit der Bewegung im Raum erfahrbar werde.18 Gleichermaßen hatte der Architekt Mark Wigley bereits 1998 in seinem Aufsatz Die Architektur der Atmosphäre das Potenzial eines Entwurfs beschrieben, Atmosphäre durch die physische Form eines Bauwerks zu erzeugen : „Sie ist gewissermaßen eine sinnlich wahrnehmbare Emission von Schall, Licht, Wärme, Geruch und Feuchtigkeit : ein wirbelndes Klima nicht greifbarer Effekte, die von einem stationären Objekt erzeugt werden. Ein Gebäude konstruieren heißt solch eine Atmosphäre zu konstruieren.“19 Diesem Konzept, emotionale Präsenz und atmosphärische Wirkung durch Baukunst zu erzeugen, folgt auch Libeskind in seinem Entwurf für das Jüdische Museum. Dramatisch und wirkungsmächtig integriert er Leerstellen in den Bau. Sie stehen nicht als abstraktes Nichts im Raum, sondern werden durch die Besucher*innen affektiv in Analogie zur Vernichtung jüdischen 17 Young, „Jüdische Museen“, S. 46. 18 Zumthor, Atmosphären. 19 Wigley, „Die Architektur der Atmosphären“, S. 18.
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Abb. 4 : Jüdisches Museum Berlin, Altbau und Libeskind-Bau, 2001 © Jüdisches Museum Berlin, Foto : Günter Schneider
Lebens gesetzt. Der Philosoph Gernot Böhme hat diese Wechselwirkung zwischen Raumwirkung und Wahrnehmung in seiner Publikation Atmosphären. Essays zu einer neuen Ästhetik 1995 umschrieben : „In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten : auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin. (…) Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.“20 Atmosphäre löst sich hier aus der alleinigen Urheberschaft des Objektes und wird zu einer gemeinsam erlebten Wirklichkeit zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommenem. „Die Leeren“, so antwortete Daniel Libeskind auf die Frage, ob die Ausrottung der Juden Berlins in der Architektur dargestellt werden könne, „sind nur Teil eines ineinander greifenden Ganzen.“21 Sind die Leeren ohne das gesamte Gebäude unverständlich, so bedarf es eines tieferen Wissens um die jüdische Kultur der Vergangenheit und der Verbrechen des Nationalsozialismus. Im Gegensatz zu Yad Vashem ist das Jüdische Museum kein isolierter und abstrakter Erinnerungsort – auch wenn beide 20 Böhme, Atmosphären, S. 96. 21 Loderer/Libeskind, „Daniel Libeskind“, S. 30.
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Stätten mit vergleichbaren ästhetischen und räumlichen Motiven und Pathosformeln der Monumentalität und Leere arbeiten.
Wien – Leere und ihre Negativform Haben Libeskind in Berlin und El Hanani in Yad Vashem die Leere räumlich gefasst und ästhetisch monumental überhöht, so arbeitete die britische Künstlerin Rahel Whiteread mit einer Negativform des Abwesenden – eine hermetisch geschlossene Umhausung der Leere. Auf dem Wiener Judenplatz entstand auf Initiative (Wettbewerb 1995/96) von Simon Wiesenthal im Jahr 2000 das von ihr konzipierte „Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah“ zum Gedenken an die mehr als 65.000 österreichischen Jüdinnen und Juden, die in der Zeit von 1938 bis 1945 von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Die bei den Bauarbeiten entdeckten Reste der mittelalterlichen Synagoge wurden als archäologische Ausgrabungen dokumentiert und mit dem Mahnmal zu einem Erinnerungskomplex zusammengeführt. Ein mächtiger, heller Beton-Kubus auf dem Platz stellt eine nach außen gekehrte und unzugängliche Bibliothek dar. Die Wände der „Namenlosen Bibliothek“ sind aus uniformen Buchreihen in Beton geformt, die mit dem Buchrücken nach innen zeigen. Bücher, die für eine Vielzahl der Lebensgeschichten der jüdischen Opfer stehen, deren Inhalt aber verborgen bleibt. Die angedeuteten Flügeltüren sind nicht zu öffnen – der leere Innenraum ist nicht zu betreten.22 Whitereads Mahnmal ist kein bautypologischer Verweis auf eine zuvor an diesem Ort befindliche Bibliothek. Vielmehr verlangt es eines gedanklichen Transfers : Das Judentum wird als Volk des Buches umschrieben, das mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem die Ortsgebundenheit der Religion verliert, so dass Schriften, Feste und Bräuche im Zentrum jüdischer Erinnerung stehen.23 Die Bücher werden zum Symbol jüdischer Kultur. In ihrer in Beton gegossenen Unzugänglichkeit stehen sie für die Auslöschung jüdischen Lebens im Nationalsozialismus. Die Vertrautheit mit Bibliotheken und Büchern verkehrt sich in der gestalteten Verschlossenheit und Negativ-Form des Denkmals in Fremdheit und Irritation. Die geisterhafte Gestalt einer Bibliothek visualisiert Leere als Verlust und Abwesenheit. Während Whiteread für ihren Entwurf konzeptionell den Weg der symbolischen Abstraktion gewählt hat, haben andere Künstler wie Horst Hoheisel in Kassel und Micha Ullman in Berlin für ihre jeweiligen Denkmalprojekte ebenfalls eine Nega22 Zum Wettbewerb und Bau des Denkmals vgl. Gehrmann, Judenplatz Wien 1996 ; Widrich, The Willed. 23 Yerushalmi, Zachor.
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Abb. 5 : Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah, Wien, 1995–2000. Architektin Rahel Whiteread. Foto : Peter Diem 2017
tiv-Form jedoch in bildlich assoziativer Nähe zum Gedenkgegenstand gewählt.24 Hoheisel bildete 1987 den von einem jüdischen Unternehmer errichteten und von den Nationalsozialisten zerstörten Aschrottbrunnen in der Kasseler Innenstadt an seinem ursprünglichen Ort nach – er versenkte ihn jedoch als negative Form aus Beton gegossen in den Boden. Statt mit einer Rekonstruktion die Zerstörung unsichtbar zu machen, werden Verlust und Erinnerung dauerhaft als Negativ-Form in den Boden eingeschrieben. Auch Ullman versenkte 1995 sein Denkmal für die nationalsozialistische Bücherverbrennung am Berliner Bebelplatz in den Boden : Ein weißer Raum mit leeren weißen Betonregalen, der vollständig verschlossen und nur von oben durch eine Glasscheibe einsehbar ist. Die Konsequenzen der am Bebelplatz 1933 propagandistisch inszenierten Bücherverbrennung im Nationalsozialismus manifestieren sich in der sterilen Leere des Raums und lassen über die Verbrennung der Bücher die Vernichtung des jüdischen Volkes assoziieren. Leere, in bildlichen wie symbolischen Verweisen auf das Abwesende, in abstrakten wie gegenständlichen Formen ist ein starkes architektonisches wie emotionales Motiv, das sich in Denkmalsetzungen und jüdischen Museumsbauten durchsetzen konnte. 24 Zu Denkmälern und ihrer Umsetzung des Motivs der Leere vgl. Endlich, „Eine Einladung nach innen zu sehen.“.
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Berlin und Amsterdam – Monumentale Leere Gleichermaßen wie Leere als gefasster Raum, bietet Leere auch als Negativ-Form in einer Vielzahl von Denkmälern das zentrale Motiv, um an die Vernichtung jüdischer Kultur und die Ermordung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus zu erinnern. Monumentalität ist dabei nicht immer zwangsläufig in Form von großer physischer Dimension zu lesen, sondern als Kategorie der emotionalen Erschütterung oder auch Überwältigung zu interpretieren. Im Kontext der aktuellen Debatte zum Thema „neue Monumentalität“ liegt das Potenzial von Monumentalität darin, einem Bauwerk und Denkmal besondere, außeralltägliche Wirkungsmacht zu verleihen, in der das Vergangene mittransportiert und für die Gegenwart greifbar gemacht wird und zugleich über die Zukunft reflektieren lässt. Die Gestaltungsprozesse von zahlreichen Holocaust Denkmälern und Jüdischen Museen in Europa und auch den USA verliefen konfliktreich um historische Ausdeutungen und symbolische Formen. Insbesondere bei nationalen Denkmälern und Institutionen scheinen die Länder eines größeren zeitlichen Abstandes zum Holocaust und Zweiten Weltkrieg benötigt zu haben, um eine Denkmalsetzung zu realisieren. Das US Holocaust Memorial Museum in Washington/DC öffnete 1993, das Jüdische Museum in Berlin 2001, das Holocaust-Denkmal in Wien wurde 2000 eingeweiht, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin 2005. Das von dem amerikanischen Architekten Peter Eisenman entworfene Mahnmal aus fast 3000 quaderförmigen Beton-Stelen auf einer Fläche von rund 19.000 m² erreichte dabei eine neue – physische – Dimension. Auf unebenem, sich zur Mitte hin absenkendem Boden stehen die Stelen mit einer Höhe von bis zu 4,7 Metern, sodass die Besucher*innen zunehmend den Blickkontakt mit der Umgebung verlieren und in das Mahnmal mit seinen zu einem engen Labyrinth gereihten Stelen eintauchen. In abstrakter Form wird auch hier wieder an Verlust und Leere erinnert und mit Orientierungslosigkeit und Bedrückung als Emotion gearbeitet. Peter Eisenman sprach von der Unmöglichkeit, für das Holocaust-Gedenken konkrete Bilder zu entwickeln und zwangsläufig mit Abstraktion und Sensualismus zu arbeiten : „Ausmaß und Maßstab des Holocaust machen jeden Versuch, ihn mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren, unweigerlich zu einem aussichtslosen Unterfangen. […] Unser Denkmal versucht, eine neue Idee der Erinnerung zu entwickeln, die sich deutlich von Nostalgie unterscheidet.“25 Die kontemplative und emo25 Peter Eisenman, 1998, zit. nach der Internetseite der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas : https://www.stiftung-denkmal.de/denkmaeler/denkmal-fuer-die-ermordeten-juden-europas/stelen feld.html, letzter Zugriff : 07.11.2019.
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Abb. 6 : Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin, 1997–2005. Architekt Peter Eisenmann. Foto : Roland Halbe 2005
Abb. 7 : Holocaust Memorial of Names, Amsterdam, Wettbewerb 2013. Architekt Daniel Libeskind. Foto : Studio Libeskind
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tionale Empfänglichkeit, die sich Eisenman durch seinen Denkmalentwurf bei den Besucher*innen wünschte, scheint vor allem auch über die gewaltige Dimension des Mahnmals vermittelt zu werden. Der israelische Soziologe Natan Sznaider stellte in einem Interview am 8. Mai 2019 zum internationalen Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs Gedenkfeiern grundsätzlich infrage : „Wenn Gedenken derart ritualisiert wird, hat es mit dem historischen Ereignis nichts mehr zu tun.“26 Übertragen auf die Formgebung von Holocaust-Denkmälern ist zu fragen, ob Monumentalität zu einer erstarrten Pathosformel geworden ist, die zunehmend auf Ablehnung stößt. Aktuell streitet Amsterdam um die Errichtung des von Daniel Libeskind 2013 entworfenen Holocaust Memorial of Names.27 Mächtige Backsteinmauern, die 380 Meter lang und zwei Meter hoch sind, tragen eine hochglanzpolierte Edelstahlkonstruktion von zum Teil doppelter Höhe, die von oben betrachtet das hebräische Wort לזכר (in Erinnerung an) bildet. Die Mauern des Mahnmals bestehen aus 102.000 Backsteinen mit eingravierten Namen – je ein Backstein für jedes niederländische Holocaust-Opfer. So gerechtfertigt die Idee erscheint, jedem Opfer einen Ort und einen Namen (hebräisch : Yad Vashem) geben zu wollen, so bleibt doch kritisch zu fragen, ob durch die kolossale Steigerung von Monumentalität und Leere auch tatsächlich die Intensität des Erinnerns potenziert werden kann.
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Maoz Azaryahu
Street Naming and Shoah-Remembrance The Case of Tel Aviv-Yafo In diesem Kapitel wird ein spezifischer Aspekt der Geogeschichte des Shoah-Gedenkens in Israel untersucht : die Benennung von Straßen in Tel Aviv als Form des Shoah-Gedenkens, welche von mehreren Stadtverwaltungen gefördert und gepflegt wurde. Auf der Grundlage von Archivmaterial und Zeitungsberichten beleuchtet die Analyse das Thema der Straßenbenennung als historischen Prozess, der zwei aufeinanderfolgende Phasen umfasst. In der ersten Phase (1947–1955) wurde der Grundstein für die Erinnerung an die Shoah in Form von Straßennamen gelegt. In der zweiten Phase (ab den 1990er-Jahren) ging es um eine schrittweise Erweiterung, die sich auf ganz bestimmte Erinnerungsgegenstände beschränkte, die von den jeweiligen städtischen Behörden als würdig und notwendig erachtet wurden. The geography of Shoah remembrance in Israel consists of an array of public commemorations that are embedded in the landscape. These include national shrines that also perform as educational institutions, central among them is Yad Vashem in Jerusalem, as well as numerous memorials in Jewish towns, kibbutzim, forests and cemeteries that as an aspect of the landscape render remembrance of the Shoah visual and tangible. This chapter explores a specific aspect of the geohistory of Shoah remembrance in Israel : commemorative street-naming in Tel Aviv as a measure of Shoah remembrance promoted and executed by successive municipal administrations. Street names serve the purpose of spatial orientation. However, when invested with a commemorative function, they introduce remembrance of people and events in the language of the city and in this capacity into everyday experiences.1 Belonging to the geopolitics of public memory, commemorative street names are embedded into structures of power and authority. A main issue is the eligibility of a person to be honored by a public commemoration. Regardless of the measure of public consent and support it should be born in mind that naming streets is an official matter and hence commemorative street names belong to an officially sanctioned vision of history and
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version of public memory. In this capacity, street names belong to the symbolic infrastructure of the city. Founded in 1909, commemorative street naming was an aspect of building Tel Aviv from the outset. The procedural aspect of naming streets was institutionalized in the form of a statutory municipal street names committee (hence : MSNC). The recommendations of the committee had to be approved by the elected municipal council. In a city considered a crowning achievement of modern Zionism, the consensus was that street names were to commemorate Jewish and Zionist history. The process of street naming was two-tiered. First a name had to be officially approved, then the name was geographically located in the city and inscribed on street signs. The process could be a prolonged one. In some cases, the designated “address” of approved commemorations was successively relocated. In others, approved commemorations did never materialize on the street signs, often without any reason given to such an omission. The analysis aim is to understand the commemorative naming of streets as Shoah remembrance in Tel Aviv as a historical process comprising two successive phases. The first phase began in 1947 and was concluded in 1955. This was the phase when the groundwork of Shoah remembrance through street naming was laid in Tel Aviv. The second phase was about ‘fine-tuning’ by adding commemorations deemed appropriate by the municipal authorities. Concurrently, commemorations considered problematic were shelved or rejected altogether. Obviously, this phase is open-ended : the possibility to add street names is feasible as long as commemorative street naming is practiced by the municipality of Tel Aviv.
Phase One The possibility to name streets in Tel Aviv as a measure of Shoah-commemoration was first raised on the municipal agenda in a policy paper written in July 1947 by the then head of the MSNC, Aharon Zeev Ben Yishai. In his policy paper he outlined what names should be given to streets in new neighborhoods built after 1945 or such that were about to be incorporated into Tel Aviv. Notably, the first item on the list was the need to [E]rect a memorial to the main events that occurred to the Jewish people during the last war : The Kdoshim (martyrs), the fighters in the ghettos and to some distinguished persons among those killed (such as) authors, scholars and activists of Hebrew revival.2 2 “Proposal for names for new streets in Tel Aviv”. July 1947. Historical Archive of Tel Aviv-Yafo (hence : HATAY B-2626-4).
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To augment the symbolic capacity of naming streets as a measure of Shoah-remembrance, Ben Yishai proposed that the commemorative street names were to be located in Sarona, the former German settlement adjacent to Tel Aviv, whose residents were sent to Australia as enemy aliens. Notably, Ben Yishai proposed to name Sarona’s two main street Am Israel Hai St [the Jewish people is alive] and Sheshet Hamilionim St (six million). The possibility to commemorate the Shoah in the street names of a former German settlement, where before World War II swastika flags had been hoisted, was pregnant with symbolic retribution. Ben Yishai could not know at this stage that after independence Sarona would become the government district of Tel Aviv. On Sunday, 17 May 1948, two days after the independent State of Israel was proclaimed in a solemn event in Tel Aviv, the municipal council of Tel Aviv approved a list of new commemorative street names proposed by the MSNC. Among these were five street names in remembrance of the Shoah already proposed by Ben Yishai in 1947.3 Importantly, no location was set at this stage for the new names. No explanation was given as to why the idea to name streets in Sarona in remembrance of the Shoah was discarded. Also discarded were the names Am Israel Hai and Sheshet Hamilionim. The list approved by the municipal council included Mordei Hagetaot Sq [Heroes of the Ghetto Uprisings] and Mordechai Anielewicz St, in memory of the commander of the Warsaw Ghetto Uprising (1919–1943). These two commemorative names were a tribute to the fifth anniversary of the Warsaw Ghetto Uprising marked in April 1948, an event that figured prominently in the heroic narrative of Jewish resistance during the Shoah. These streets were located in a newly built area in the east of Tel Aviv, where streets commemorated the contribution of the Yishuv to the fight against Nazi Germany and Israel’s War of Independence. The designation Mordei Hagetaot was a collective commemoration of heroes not mentioned by their individual names. This was in accordance with the official policy to avoid calling streets by “names of individuals who were heroes of the period of the Shoah”4 – and precisely this seems to be the opposite policies compared to the later second phase as well as to many places in countries outside of Israel. The same policy was enacted regarding fallen soldiers of Israel’s wars. From the perspective of the municipality, individual commemorations of heroes and martyrs were untenable because of the large number of names involved. The preference was therefore for collective commemoration : being both general and inclusive, a collective commemoration could thwart petitions by the public to name streets after individuals. In light of this policy, the commemoration of Mordechai Anielewicz by name in 1948 was an 3 “New Names”. Yediot Iryat Tel Aviv 18 (1948), p. 2. 4 Y. Heled to Brit Haavoda Beisrael, 3 October 1961, HATAY 7(7)-96.
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exception in Tel Aviv. Being the only Jewish hero of the armed resistance in the Shoah commemorated by name in Tel Aviv, expressed the special status accorded to the commander of the Warsaw Ghetto uprising in the Jewish pantheon of heroes. Already in 1943, shortly after his death in the Ghetto in April 1943, a newly founded kibbutz, Yad Mordechai [memorial to Mordechai], was named after him. The other three commemorations instituted in May 1948 in Tel Aviv were : Yaldei Israel Sq. [The Children of Israel], in memory of the children exterminated by the Nazis ; Ha-Tish’im Ve-Shalosh St [the 93], in memory of 93 ultra-orthodox seminary female students who allegedly had committed suicide to avoid dishonoring by German soldiers, and Hachmei Lublin St [the sages of Lublin], in memory of the famous Lublin Yeshiva.5 In addition to these direct Shoah commemorations, a few street names honored the memory of “writers and sages, some of whom were killed by the Nazis” : the historian Shimon Dubnov, the poet Yitzhak Katzenelson and the writer Hillel Zeitlin. Three more names were added in 1951 : the historians Yitzhak Shifer and Meir Balaban, and Rabbi Yitzhak Nissenboim, a leader of religious Zionism.6 A complementary approach to memorialize the Shoah was to name streets after Jewish communities destroyed by the Nazis. The idea was to name streets after “important European cities that had served for generations as Jewish centers”. In 1952 a list of 21 proposed names of such communities was on the agenda of the MSNC.7 In July 1954 the municipal council resolved to adopt the recommendation of the MSNC and to name the streets in a newly built neighborhood in the north of the city, thereby producing a thematic coherence in the local geography.8 The street names were all in the form of “Kehilat” [community of] and then the name of the city as known to Hebrew speakers. The only name on the original list from 1952 that was not included in the official index of commemorations approved in 1954 was Kehilat Danzig, probably as Danzig was a (former) German city, and as such not eligible for public commemoration in a Jewish city. The Organization of Warsaw Jews in Israel petitioned the municipality to relocate the name Keihalt Warsha to the center of the city. The mayor rejected the argument that the street chosen for the name was situated “in a marginal area” of the city.9 He pointed out that the street was among the longest in the area and concluded by stating that “we do not see any possibility to change the name of another street in the city center, and to separate this street from the area of other Jewish communities.”
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“New Names”. Yediot Iryat Tel Aviv 18 (1948), p. 2. Israel Rokach to the Organization of Nazi Prisoners, 16 August 1951, HATAY A-2628-4. MSNC, session on 24 April 1952, HATAY 7(3)-7. Municipal Council, session on 4 July 1954. Mayor Haim Levanon to the Organization of Jews from Warsaw, 23 June 1955, HATAY B 2030-4.
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Fig. 1 : Monument to Shoa and Tkuma by Igael Tumarkin, Rabin Sq, Tel Aviv. Photo : Lishay Shechter
Interlude In mid 1950s it appeared that the municipality of Tel Aviv-Yafo fulfilled its commitment to Shoah-remembrance in the cityscape by the commemorative naming of 31 streets in the city. Whereas the municipality focused on street naming, the Organization of Anti-Nazi Combatants in Israel exerted pressure on the municipality to erect a monument to the Ghetto Fighters to commemorate those “who sacrificed their life in the fight against the Nazis”.10 The mayor supported the idea in principle, but did nothing to promote the project. The idea to erect a memorial to the Shoah in Tel Aviv was approved by the municipality in the mid-1960s. It was to be erected in a prime location : the newly built large square facing the new City Hall building. Significantly, the theme of the monument was not Shoah, but Shoah VeTkuma [Shoah and National Revival]. The abstract edifice in the form of an upside-down pyramid made of steel was completed in 1975. However, the new monument was at the center of public controversy when its design was announced.11 The modernist form of the monument was rejected by ordinary citizens, local politicians and pundits. Despite original intentions, the imposing monument failed to become a sacred site of Shoah remembrance in Tel Aviv. Not associated with memorial events and largely ignored as 10 Dov Berman to Mayor Haim Levanon, 6 April 1956, HATAY C 2630-4. 11 On the monument and its failure to communicate commemorative meaning see : Azaryahu, “Public Controversy”.
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a constituent of the texture of public memory in the city, the monument to Shoah Vetkuma situated at the civic center of the city turned out to be a commemorative failure.
Phase Two With the failure of the monumental commemoration of the Shoah in Tel Aviv to become a nodal point of public memory, the function of Shoah remembrance in the geography of Tel Aviv was almost exclusively limited to street names. In contrast to the first phase of commemorative street naming as a measure of Shoah remembrance, the second phase consisted of incremental additions, where augmenting Shoah-remembrance was limited to individual commemorations deemed worthy and necessary by the municipal authorities. Of special significance is the direct involvement of Shlomo Lahat, who served as mayor between 1974 and 1993, in suggesting names of candidates for commemoration of the Shoah in the city. This was especially evident in that in 1993, his last year in office, he promoted street naming as Shoah-remembrance in Tel Aviv. Among the commemorations approved by the municipal council in May 1948 were names for two squares : Mordei Hagetaot Sq and Yaldei Israel Sq. The name Mordei Hagetaot was later given to a street. The name Yaldei Israel, on the other hand, was shelved until much later. The issue of commemorating the children killed in the Shoah was raised again on the agenda of municipal commemoration in 1997.12 The renewed interest in such a commemoration was possibly related to the first museum to the children killed in the Shoah, Yad LaYeled [memorial to the children], which opened in 1995 as part of Beit Lokhmei Hagetaot [the Ghettos Fighters’ Museum]. In 1997 the MSNC rejected the commemoration ; in 1999, however, the MSNC reversed its decision and approved naming a playground after the children killed in the Shoah.13 The reason for both rejection and later reversal were not documented. Currently a kindergarten in the north of Tel Aviv is called Gan Yaldei Israel [Kindergarten (of the) Children of Israel]. Notably this name does not explicitly refer to the Shoah and may be interpreted as a general reference to Israel’s children. The commemoration of Jewish resistance in the ghettos in Tel Aviv was augmented in the first decade of the 2000s. A short, one-way street in the north of the city was named after Yitshak Wittenberg (1907–1943), commander of a resistance group in the Vilna Ghetto who was executed by the Germans. In 2006 the MSNC approved 12 MSNC, session on 26 February 1997. HATAY, temporary file 28287-19627785. 13 MSNC, session on 17 October 1997. HATAY, temporary file 28287-19627785.
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of naming a street Mered Ghetto Warsha [Ghetto Warsaw uprising St].14 The street, though, was small and in the less prestigious south of Tel Aviv. In 2009 the Organization of Partisans and Ghetto Fighters proposed to name a central avenue in the city after Anielewicz, since the street now named after him was “narrow and crooked” and located in the periphery of the city.15 This request was rejected with the argument that the street was long and located in an area where “the Shoah is remembered by a few streets”.16 Phase Two of honorific street naming as a measure of Shoah-remembrance in Tel Aviv has been a process of incremental accretion of names of individuals to Tel Aviv’s official register of street names. In the course of this process names of individuals considered worthy of public commemoration were proposed to the MSNC and either accepted or rejected. In 1961 the daily Maariv reported that the municipality of Tel Aviv decided to name a street after Szmuel Artur Zygielboim, a leader of the socialist and anti-Zionist Bund in Poland and a member of the Polish government in exile who had committed suicide in London in 1943 to protest the indifference of the world to the fate of the Jews in Europe.17 The municipality denied that such a decision had been made. The explanation given was the preference for collective commemoration by category rather than individual commemoration by name, Anielewicz being – then – the only exception.18 In actual terms, the principle of collective commemoration was about the collective commemoration of “Kdoshei [martyrs, meaning all Jews killed in the Shoah] and Giborei [heroes] of the Shoah”.19 As already mentioned in 1948, in the first wave of naming streets as remembrance of the Shoah, a street was named after Mordei Hagetaot [fighters of the Ghettos]. The collective commemoration of all Jews who perished in the Shoah came about in 1994, when a long street due to become an important thoroughfare in the far north of Tel Aviv was named of Qdoshei HaShoah [martyrs of the Shoah] St. In a probably not intended ironical twist, the decision was taken by the MSNC on 20 April, Hitler’s birthday.20 The dedication ceremony was planned for the Shoah remembrance day on 18 April 1993.21 In a meeting of the MSNC in May 1993 Mayor Lahat suggested to 14 MSNC, session on 9 March 2006. HATAY, temporary file 8283-19627756. 15 Baruch Shuv to Ron Huldai, 29 March 2009. HATAY, temporary file 28288-19627790. 16 Lydia Davidov to Galit Niv, 22 July 2009, Ibid. 17 Maariv, 13 August 1961, cited in Lebens Fragen (Yiddish), 1 September 1961, p. 6. 18 Yosef Heled to Brit Haavoda Beisrael, 3 October 1961, HATAY 7(7)-96. 19 Ibid. 20 HATAY, temporary file 8283-19627756. 21 Meeting with the mayor regarding names and commemoration, 2 November 1992, HATAY temporary file 8283-19627758.
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name a street after Zygielboim (1895–1943),22 probably unaware of the policy cited when a former bid in 1961 had been rejected. At the same meeting the committee resolved to name a street after Moredchai Gevirtig, “the poet of the Shoah” (1877–1942) in Jaffa.23 The commemoration of Gevirtig was approved by the municipal council in January 1993.24 However, Gevirtig’s name was ultimately given to a small street in Kfar Shalem, a neighborhood in the south-eastern outskirts of Tel Aviv. Naming a street after Zygielboim was not raised again on the agenda after Lahat left office in January 1994. As a collective commemoration of Hasidei Haumot [the righteous among the nations, an honorary designation bestowed by Yad Vashem on non-Jewish individuals for rescuing Jews during the Shoah], a street in Jaffa was named in 1993 Hasidei Haumot St.25 However, the commemoration of outstanding individuals labelled Righteous among the Nations had already been on the municipal agenda since 1957, when the MSNC resolved to name a street after the Swedish diplomat Raul Wallenberg.26 The initiative to commemorate Wallenberg in Tel Aviv was the result of a commemorative event held at the Knesset a few days earlier (this event also prompted the municipality of Haifa to name a garden after Wallenberg).27 According to a document from 1959 the Hathiya St in the south of Tel Aviv was to be renamed after Wallenberg.28 In 1980 the MSNC reiterated the decision to commemorate Wallenberg in Tel Aviv by naming a garden after him.29 It was agreed that in case no appropriate garden could be found, the committee would deliberate again. In 1987 the MSNC adopted a resolution to name a street after him.30 The street selected was a main artery in the north of the city. The commemoration involved a renaming : the former name, Eser Tahanot ]ten mills[ referred to local geography. Attended among others by President Haim Herzog, the Swedish ambassador and Mayor Lahat, the dedication ceremony of 22 Meeting with the mayor regarding names and commemoration, 10 May 1993, HATAY temporary file 2283-19627758. 23 Meeting with the mayor regarding names and commemoration, 2 November 1992, HATAY temporary file 8283-19627758. 24 A List of approved commemorations for which streets were allocated, HATAY temporary file 828319627758. 25 The original idea was a square : Meeting with the mayor regarding names and commemoration, 2 November 1992, HATAY temporary file 8283-19627758. 26 MSNC, session on 22 February 1957. HATAY. 27 Davar, 25 February 1957, p. 4. 28 “Signage and numbering in the city”, announcement no. 50 (2), 1959, HATAY temporary file 828319627756. 29 MSNC, session on 27 November 1980, HATAY 9(3)-27. 30 MSNC, session on 26 August 1987, HATAY 25-5736.
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Fig. 2 : Qdoshei HaShoah St, Tel Aviv. Photo : Maoz Azaryahu
Raul Wallenberg St was held on 19 March 1990. In June 2002 a 2.2m-high bronze and granite statue of Wallenberg was placed at the intersection of the Raoul Wallenberg St and Ha’Barzel St. The statue was a replica of the bronze statue built in 1987 by Imre Varga in Budapest in honor of Wallenberg. In Tel Aviv, however, there are no streets named after Maximilian Jaeger, Carl Lutz, Friedrich Born or Harald Feller, all Swiss diplomats, who, like Wallenberg, had been involved in the rescue of 60,000 Hungarian Jews from deportation to the death camps. Even the former police commander of St. Gallen, Paul Grüninger, who rescued more than thousand Jews in 1938 is not represented. These Swiss were honored by Yad Vashem. Meanwhile, the memory of Lutz was honored by the naming of a monument in the Swiss forest near Tiberias, and in the Israeli cities Jerusalem, Kirjat Ono and, most recently, Rishon-le-Zion, streets are named after Paul Grüninger. Compared to Israel, in Switzerland streets or other places were not named after these personalities until late, in the 1990s, which probably indicates a lack of support in Switzerland before this phase.31 31 See Independent Commission of Experts Switzerland-Second World War, Final Report, p. 164–176 ; Maissen, Verweigerte Erinnerung.
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Fig. 3 : Raoul Wallenberg St, Tel Aviv. Photo : Maoz Azaryahu
Roni Milo, mayor since 1994, proposed naming a street after Oskar Schindler. Ostensibly the trigger for this particular commemoration was the film Schindler’s List that made Schindler and his deeds world-famous.32 The fact that Oskar Schindler was not a clear-cut case of moral clarity did not play a role since his cinematic persona and fame overshadowed some dubious aspects of his biography. A different case was the commemoration of Adam Czerniakov and Israel Kastner. Adam Czerniakov (1880– 1942) was the head of the Judenrat (Jewish Council) of the Warsaw Ghetto. He committed suicide in 1942. Israel Kastner (1906–1957) was a highly controversial figure in Israel. Involved in the rescue of Jews in Hungary during the Shoah and blamed for his connection to high-ranking SS operatives, he was murdered in Tel Aviv in 1957. Toward the end of his tenure as mayor, Shlomo Lahat expressed his wish to name a street in Tel Aviv after Czerniakov, and suggested that the MSNC would discuss the commemoration of Israel Kastner.33 Both these commemorations were approved in
32 A list of candidates, no date, HATAY temporary file 8287-19627785. 33 Meeting with the mayor regarding names and commemoration, 10 May 1993, HATAY temporary file 2283-19627758.
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July 1993.34 However, the actual naming was shelved, probably due also to appeals to the mayor to reconsider the commemorations. In the case of Czerniakov it was “because of the ethical and educational significance” entailed in his public commemoration of Czerniakov.35 Regarding Kastner, a laconic note attached to his name in a list of approved names that had yet not been assigned to particular streets explained : “There is a problem !”.36 The problem was not elaborated upon, but it was clear : the opposition to the commemoration made it a thorny issue. Also Kastner’s commemoration in Tel Aviv has been shelved indefinitely.
Concluding Remarks In a letter he signed in 1951 Mayor Israel Rokach was proud to assert that “Tel Aviv was the first city in the Land of Israel that already in June 1948 commemorated the martyrs of the Shoah in Europe through a number of streets, both in general names and through names of individuals who had been executed by the Nazis.”37 The commemorative naming of streets is an aspect of the geopolitics of public memory. The continuous history of writing Shoah-remembrance on the street signs of Tel Aviv evinces the commitment of mayors, officials and members of the public to officially remember the Shoah in public space as well as the priorities of former municipal administrations. Compared with the more than 2,000 commemorative street names in Tel Aviv, the number of street names that remember aspects of the Shoah seems to be small. Moreover, none of these street names are in the historical center, a result of the path not taken in 1948 to rename streets and squares in the city-center to make place for remembrance of the Shoah. Judging from todays’ perspective, the spatial commemoration of Raul Wallenberg is the most prominent in the cityscape : a major arterial thoroughfare in the north of the city adorned with a figural monument to Wallenberg. It should be noted, however, that commemorative street naming has been a piecemeal, punctuated process. Decision-making about new commemorations and their location did not include any attempt to measure the urban prestige of a current commemoration in comparison to the urban status of former commemorations. In other
34 List of approved yet not assigned names, HATAY temporary file 2283-19627756. 35 Pessach Hauspeter to Ron Huldai, 19 January 2005. HATAY temporary file 2283-19627758. 36 List of names approved but not yet assigned to streets, 5 June 1996, HATAY temporary file 228319627756. 37 Israel Rokach to the Organization of Former Nazi Prisoners, 16 August 1951, HATAY A-2628-4.
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words, street naming was a-historical in the sense that the history of commemoration was not a factor for the MSNC that should be addressed. From a contemporary perspective this may explain what can be interpreted as a later reevaluation of the hierarchy of prestige and status of commemorations in the urban fabric. In a modern city the geography of public memory is a historically constructed system of spatial commemorations, prominent among them are monuments and commemorative street names, employed by the municipal authorities to introduce remembrance into the experience of the city. Notably, the geography of Shoah remembrance in Tel Aviv should also have been augmented by the monument to Shoah and Tkuma dedicated in 1975 at Tel Aviv’s civic center. This monument was intended to provide a pivot of Shoah remembrance : its visual prominence and its prime location were a clear message about the importance of the Shoah in what James E. Young dubbed “the texture of memory” in Tel Aviv. The monument was supposed to perform as the sacred center of Shoah remembrance in the city, while street names in different neighborhoods were local and specific variations on the grand theme that the monument celebrated. However, the failure of the edifice to perform as a Shoah memorial means that the onus is on commemorative street names to remember the Shoah in the language of everyday experiences.
Bibliography Azaryahu, Maoz. “The Power of Commemorative Street Names”. Environment and Planning : Society and Space 14 (1996), p. 311–330. Azaryahu, Maoz. “Public Controversy and Commemorative Failure : Tel Aviv’s Monument to Holocaust and National Rebirth”. Israel Studies 16/1, 2011, p. 129–148. Independent Commission of Experts Switzerland-Second World War. Switzerland, National Socialism and the Second World War. Final Report. Zürich : Pendo, 2002. Maissen, Thomas. Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte 1989–2004. Zürich : NZZ Libro, 2005. Rose-Redwood, Reuben, Derek Alderman and Maoz Azaryahu (eds.). The Political Life of Urban Streetscapes : Naming, Politics and Place. London and New York : Routledge, 2018.
Fabienne Meyer
Monumentales Gedächtnis Shoah-Denkmäler in der Schweiz Memorials at around 60 locations in Switzerland remind us of individual aspects of the Shoah. They connect their locations with historic events and save local stories from being forgotten. Memorial plaques criticize the Swiss refugee policy of the time, street names honor courageous escape helpers, and sculptures commemorate the six million murdered Jews. Often unknown and unseen, they bear witness to conflicts and initiatives that took place on the level of the civilian population, while Switzerland is one of the few European countries that does not have a state Holocaust memorial. Das Kriegsende 1945 stellte für die Schweiz weder einen Bruch noch einen Neuanfang dar. Die Nachkriegszeit begann ohne tiefgreifenden politischen oder gesellschaftlichen Wandel. Während die politisch neuen Gesellschaften Europas den Zweiten Weltkrieg als Zäsur ihrer eigenen Geschichte erlebten, konnte die Schweiz auf Kontinuität und Normalität setzen. Dies war die Ausgangslage für das Schaffen einer Meistererzählung, die geprägt war von den Bildern der humanitären Insel Schweiz und der Wehrhaftigkeit der Aktivdienstgeneration, welche in Kombination mit der Neutralitätspolitik als Grundlage für die Kriegsverschonung des Landes betrachtet wurde.1 Die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik wurden aus der öffentlichen Diskussion und Erinnerung weitgehend verbannt – nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den europäischen und nordamerikanischen Ländern. Das humanitäre Bild der Schweiz bröckelte erst nach und nach – unter anderem getrieben von den beiden Berichten von Carl Ludwig (1957) und Edgar Bonjour (1970), die im Auftrag des Bundesrates verfasst worden sind, aber auch unterstützt durch Alfred A. Häslers Buch „Das Boot ist voll“ (1967) sowie begleitet von den langjährigen Bemühungen um die Rehabilitierung Paul Grüningers (politisch 1993/1994, juristisch 1995).2 Die alte Erzählung, wonach die Schweiz den Flüchtlingen aller 1 Vgl. Kreis, „Schweiz“. 2 Vgl. Ludwig, Flüchtlingspolitik ; Bonjour, Neutralität ; Häsler, Das Boot ist voll ; Zur Rehabilitierung Paul Grüningers, vgl. den Beitrag von Wulff Bickenbach in diesem Sammelband. Paul Grüninger (1891– 1972) rettete 1938 als kantonaler Polizeikommandant in St. Gallen viele hundert jüdische und andere
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Nationen Asyl geboten hat, wurde allmählich abgelöst von einem weitaus differenzierteren Narrativ, in welchem das Flüchtlingsproblem zunehmend zur Schuldfrage geriet. Der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem und die drei Auschwitz-Prozesse zwischen 1963 und 1968 in Frankfurt am Main haben weiter dazu beigetragen, dass nicht weiter nur die Täter, sondern auch die Opfer – und damit auch die Flüchtlingspolitik in der Schweiz – in den Fokus kamen. Spätestens mit der Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ 1979 im deutschsprachigen Raum trat die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg auch ins Bewusstsein einer breiteren schweizerischen Öffentlichkeit. Während in den 1980er-Jahren in den Nachbarländern die Mitverantwortung am Holocaust schon heftig diskutiert wurde, wollte die Schweiz 1989 mit der zum 50. Jahrestag der Mobilmachung organisierten „Diamant“-Feier der einstigen Aktivdienstgeneration die Referenz erweisen, was in einem Teil der Öffentlichkeit jedoch nur mehr als „Kriegsausbruchsfeier“ und Ausdruck des heroischen Widerstandes gelesen wurde.3 Erst, als man sich sechs Jahre später auch das Kriegsende in Erinnerung rief, entschuldigte sich Kaspar Villiger am 7. Mai 1995 im Namen des Gesamtbundesrates für die Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges – bzw. dafür, dass die Schweiz Auslöser für die Einführung des sogenannten „Judenstempels“ war.4 Was zunächst als Schlussakt der Nachkriegszeit erschien, wurde zum eigentlichen Auftakt und Höhepunkt der kritischen Auseinandersetzung der Schweiz mit ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg. Durch die verschiedenen an die Schweiz herangetragenen Forderungen um Aufarbeitung der mutmaßlichen nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern in Schweizer Finanzinstituten, sah sich die Schweiz neu in der Rolle „als Schuldner der Vergangenheit auf der Agenda der Zeitgeschichte“5. Zur Klärung der Vorwürfe wurde Ende 1996 die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK) – auch bekannt als Bergier-Kommission – eingesetzt, deren Schlussbericht 2002 veröffentlicht wurde. Die Kommission untersuchte Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung, indem er sie nach der Grenzsperre im St. Galler Rheintal in die Schweiz einreisen ließ (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/031806/2006-02-24/, letzter Zugriff : 04.12.2020). 3 Vgl. Altermatt, „Verspätete Thematisierung des Holocaust in der Schweiz“. 4 Vgl. Kaspar Villigers Rede zum Kriegsende vor 50 Jahren anlässlich der Sondersession vom 07.05.1995 : https://www.admin.ch/cp/d/[email protected], letzter Zugriff : 02.02.2020. Villiger sagt darin : „Es steht für mich ausser Zweifel, dass wir mit unserer Politik gegenüber den verfolgten Juden Schuld auf uns geladen haben. […] Mit der Einführung des sogenannten Judenstempels kam Deutschland einem Anliegen der Schweiz entgegen. […] Der Bundesrat bedauert das zutiefst, und er entschuldigt sich dafür, im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar ist.“ 5 Tanner/Weigel, „Gedächtnis, Geld und Gesetz“, S. 13.
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nicht nur die nachrichtenlosen Vermögenswerte in der Schweiz, sondern auch Bereiche wie Wirtschaftsverflechtungen, die Rüstungsproduktion, Arisierungen, das Währungssystem und die Flüchtlingspolitik während der Zeit von 1933 bis 1945.6 In dieser Zeit zu verorten ist auch die parlamentarische Initiative von Nationalrat Paul Rechsteiner zur Rehabilitierung der Flüchtlingsretter*innen und der Kämpfer*innen gegen Nationalsozialismus und Faschismus, die der Nationalrat Ende 2000 angenommen hat und die im Juni 2003 zur Verabschiedung des Bundesgesetzes über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer*innen zur Zeit des Nationalsozialismus führte. Seither wurden insgesamt 137 Personen rehabilitiert, „welche verurteilt worden sind, weil sie verfolgten Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus zur Flucht verhalfen oder Flüchtlinge beherbergten, ohne sie den Behörden zu melden“.7 Bis Mitte der 1990er-Jahre dominierte in der Schweiz also die Frage, wie es das Land geschafft hatte, den Krieg weitestgehend unversehrt zu überstehen. Als Antwort genügte eine von der Schweiz beanspruchte Sonderposition durch Widerstand, Neutralität und Kleinstaatlichkeit. Das Paradigma des nationalen Überlebenskampfes und der demokratischen Bewährung wurde nach 1996 jedoch „überdeckt durch eine neue, zentrale Bedeutung erheischende Frage nach der Rolle der Schweiz im Kampf für die internationale Solidarität und die Respektierung der Menschenrechte“.8 Im Zeitalter der Globalisierung wurde der Holocaust zu einem universellen Bezugspunkt, dem sich auch die Schweiz nicht hatte entziehen können. Die Weltkriegserinnerung in der Schweiz wurde historisiert und hat sich im europäischen Vergleich weitgehend normalisiert. Seit 2004 ist die Schweiz Mitglied der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die sie 2017/18 präsidierte. Damit hat sie sich verpflichtet, „die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten und jüngeren Generationen die Gräuel des Holocaust zur Kenntnis zu bringen, damit junge Menschen ein Bewusstsein entwickeln können, zu was Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung führen können.“9 6 Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht. Die Kommission veröffentlichte 25 Studien und Beiträge zur Forschung, die unter dem Reihentitel „Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ im Chronos Verlag Zürich erschienen sind (https://www.uek.ch/, letzter Zugriff : 04.12.2020). 7 Bundesgesetz über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus, 20.06.2003 : https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2003/4570.pdf, letzter Zugriff : 02.02.2020 ; Vgl. auch die Parlamentarische Initiative von Paul Rechsteiner „Rehabilitierung der Flüchtlingsretter und der Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus“, 22.12.1999 : https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft ?AffairId=19990464, letzter Zugriff : 02.02.2020. 8 Kreis, Zurück in die Zeit, S. 516. 9 Medienmitteilung des EDA zur Übergabe des Vorsitzes der IHRA an Italien, 6.3.2018 : https://www.admin. ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-70013.html, letzter Zugriff : 02.02.2020.
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Shoah-Denkmäler in der Schweiz Der skizzierte Paradigmenwechsel in der Schweiz und die Hochkonjunktur des Holocaust-Gedenkens seit den 1980er-Jahren zeigen sich auch in den Denkmälern, die in den letzten 75 Jahren in der Schweiz errichtet worden sind und an einzelne Aspekte der Shoah erinnern.10 An rund 60 Standorten kritisieren Gedenktafeln die Schweizer Flüchtlingspolitik nach der Grenzschließung im August 1942, erinnern Straßennamen an couragierte Fluchthelfer*innen oder sind Skulpturen den sechs Millionen ermordeten Juden gewidmet. Die Gestaltung der Shoah-Denkmäler in der Schweiz führt von klassischen Gedenktafeln und -steinen über Kunstdenkmäler bis hin zu Straßennamen oder Bezeichnungen von öffentlichen Plätzen. Sie befinden sich auf jüdischen Friedhöfen oder bei Synagogen, an Grenzübergängen, in Gemeinden, in denen Fluchthelfer*innen gelebt oder gewirkt haben oder an Orten, an denen Flüchtlinge Unterschlupf gefunden haben. Im Gegensatz zur Tradition der legitimierenden und identitätsstiftenden Denkmäler sind Shoah-Denkmäler „Anti-Denkmäler“, die keine heroische Glorifizierung und kein Symbol des Triumphes, sondern einen „mahnende[n] Hinweis auf das Leid, mit einer Anklage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ darstellen.11 Es sind Mahnmäler, welche die Wunden einer Erinnerung offen halten wollen, um mit dem eindringlichen Appell „Nie wieder…!“ und durch verantwortungsvolles Handeln Vergleichbares in Gegenwart und Zukunft zu verhindern.12 Sie wirken zuweilen aber auch als Ehrenmäler, weil sie die jüdischen Opfer als Märtyrer ehren oder einzelne Personen anerkennen, die in jener Zeit Mut bewiesen und sich gegen die geltenden 10 Ein Verzeichnis im Anhang dieses Sammelbandes führt die Shoah-Denkmäler in der Schweiz auf. Erfasst wurden Objekte, die in der Schweiz mit der Intention erschaffen wurden, explizit oder implizit auf einzelne Aspekte der Shoah Bezug zu nehmen, diese an konkreten Orten in die Öffentlichkeit zu tragen und sie auf Dauer vor dem Vergessen zu bewahren. Mit dem Begriff Shoah (hebr. = שואהKatastrophe) wird die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der Juden 1933–1945 bezeichnet, während der geläufigere Begriff Holocaust (gr. holókauston = Brandopfer) ausdrücklich die Jahre der Vernichtung 1941–1945 umfasst und dabei auch andere Opfergruppen mit einbezieht. Denkmäler für andere Opfergruppen des Holocaust – zum Beispiel für Sinti und Roma oder Jenische – bestehen in der Schweiz jedoch keine. Neben den erfassten Shoah-Denkmälern bestehen in der Schweiz hingegen auch etliche Denkmäler, die – beispielsweise bei ehemaligen Internierungslagern oder auf Friedhöfen – an die Militärflüchtlinge erinnern. Während diese oder auch politische Flüchtlinge in der Schweiz in der Regel Zuflucht fanden, wurden gemäß der Weisung zur Grenzschließung vom 13. August 1942 aus rassistischen Gründen Verfolgte abgewiesen : „Nicht zurückzuweisen sind […] politische Flüchtlinge, d.h. Ausländer, die sich bei der ersten Befragung von sich aus als solche ausgeben und es glaubhaft machen können. Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.“ 11 Huyssen, „Denkmal und Erinnerung im Zeitalter der Postmoderne“, S. 15. 12 Vgl. dazu Thünemann, Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur ; Marcuse, Holocaust Memorials.
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Vorschriften und Gewohnheiten gewehrt haben. Und nicht zuletzt dienen die Denkmäler auch als „Ersatz für eine Stätte der Trauer und der Erinnerung“13 – als letzte Ruhestätten –, weshalb etliche davon auch auf jüdischen Friedhöfen anzutreffen sind. Während sich in den Nachbarländern der Schweiz umfangreiche Gedenkstätten und Informationszentren mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik beschäftigen, beherbergt die Schweiz vorwiegend unbekannte und diskrete Erinnerungszeichen – Artefakte regionaler oder lokaler Prägung –, welche die stillen Geschichten an unauffälligen Standorten erzählen. Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten bisher nicht das Bedürfnis geäußert, ein Denkmal als Zeichen für die eigene Verantwortung und Erinnerungspflicht zu setzen. Treibende Faktoren für die Entstehung der bestehenden Denkmallandschaft waren demnach keine staatlichen Initiativen, sondern Anstöße „von unten“, von interessierten Privatpersonen und Interessengemeinschaften, von jüdischen und politischen Gemeinden, von Historikerinnen oder Künstlern. Einzelne engagierte Menschen fühlten sich dazu veranlasst, monumentale Zeichen für ortsbezogene Ereignisse zu setzen, die aus einem Fundus an möglichen Geschichten dazu auserwählt wurden, über Generationen zu bestehen. Die Denkmalstifter sahen sich dabei auch mit der Frage konfrontiert, wie mit Formsprache oder einfachen Worten den realen Ereignissen der Shoah in gerechter Weise gedacht werden kann. Resultiert ist dabei stets eine von vielen Möglichkeiten, wie die Geschichte auch hätte dargestellt werden können : So wird in Neu-Oerlikon an Louis Häfliger und nicht an Anne Frank erinnert ; die Inschrift des Mahnmals auf dem jüdischen Friedhof in Bern ist den sechs Millionen Märtyrern und nicht den sechs Millionen Opfern gewidmet ; und auf der Gedenktafel für Paul Grüninger wird dessen Verurteilung und Rehabilitierung explizit erwähnt statt verschwiegen. Es sind scheinbar Nuancen, welche die Aussagen der Denkmäler schlussendlich definieren und prägen. In der Gesamtschau thematisieren die Shoah-Denkmäler in der Schweiz drei Hauptaspekte, die im Folgenden genauer betrachtet werden : Die jüdischen Opfer und Märtyrer ; den Widerstand von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern ; und die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges. In jüngster Zeit werden auch Denkmalprojekte diskutiert und angedacht, die (auch) an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus erinnern sollen – eine Geschichte, die lange Zeit kaum thematisiert worden ist. Ob sich auch diese neue thematische Ausrichtung als neue Denkmalform etablieren wird, und ob damit neue Akteure, neue Formen und neue Verantwortlichkeiten einhergehen, wird sich erst zeigen müssen. 13 Huyssen, „Denkmal und Erinnerung im Zeitalter der Postmoderne“, S. 16.
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Jüdische Opfer und Märtyrer Die ersten Shoah-Denkmäler in der Schweiz wurden bereits seit Ende der 1940erJahre auf jüdischen Friedhöfen oder bei Synagogen errichtet. Es handelt sich dabei sowohl um größere Gedenksteine oder Gedenktafeln mit einfachen Gravierungen als auch um komplexe Kunstwerke. Die meisten dieser Denkmäler verweisen auf die Jahre 1933–1945 und führen neben einem deutschen oder französischen Erinnerungstext auch eine hebräische Inschrift auf – und sei es nur das hebräische Wort זכור für „Gedenke !“ –, was die jüdische Prägung der Denkmäler unterstreicht. Den Denkmälern auf jüdischen Friedhöfen oder bei Synagogen ist gemeinsam, dass sie fast ausschließlich der jüdischen Opfer gedenken. Sie erweisen ihnen eine letzte Ehre, dienen als Stellvertreter für die fehlenden Grabstätten der ermordeten Juden und erinnern nicht so sehr an konkrete Personen oder Ereignisse, sondern an das große und kaum greifbare Opferkollektiv. So gedenken sie der „Millionen jüdischer Menschen“14 oder sie sind all jenen gewidmet, „die während der Schoah statt einer Zuflucht den Tod und keine Grabstätte gefunden haben“15. Die kollektive Form des Gedenkens manifestiert sich auch in den drei bronzenen Fresken „Mémoire“ der Künstlerin Isabelle Perez, welche 2010 im Außenbereich der Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde in Genf (GIL) angebracht worden sind und welche die Shoah in dreifacher Weise durch den jeweiligen Ausdruck der Opfer darstellen16 : Die drei Fresken zeigen in figurativer und expressionistischer Manier jeweils eine Menschenansammlung, in denen die einzelnen Konturen und Formen miteinander zu verschmelzen drohen. Wie ein reißender Fluss bildet sich im ersten Relief eine Menschenschlange, die – so die Vorahnung – darauf wartet, ins Verderben geschickt zu werden. Von Angst und Entsetzen verzerrt sind die Gesichter im zweiten Relief fast nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Sie gehören undefinierten Körpern und kubistischen Formen und bilden einen Haufen voller Elend und Aufstand – wütend und verzweifelt und noch aktiv sich wehrend. Das dritte Relief erzählt unmissverständlich vom Tod, die Körper sind erlahmt, die Gesichter ruhig und die Augen verschlossen. Die Künstlerin selbst sagt über die Dreiteilung : „Que ce soit un triptyque a son importance car en cassant la narration, du fait de trois scènes distinctes, je souhaitais faire voir plusieurs attitudes du peuple juif face à ce drame. Il y a eu la peur, la révolte et la mort.“17 Das abstrakte Kollektiv jüdischer Opfer, das auch in den an14 Inschrift der Gedenktafel auf dem jüdischen Friedhof in St. Gallen SG, 1953. 15 Inschrift der Skulptur auf dem jüdischen Friedhof in Endingen-Lengnau AG, 2014. 16 Die drei Reliefs sind im Beitrag von Marc Perrenoud in diesem Sammelband abgebildet. 17 Perez, La Mémoire et l’Avenir, S. 18. Übersetzung durch die Autorin : „Dass es ein Triptychon ist, hat
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Abb. 1 : Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof Or Chadasch in Zürich. Foto : Fabienne Meyer 2015
deren jüdischen Denkmälern so stark präsent ist, wird in diesem Kunstwerk konkret und zutiefst menschlich dargestellt, bringt doch die Verkörperung von Angst, Revolte und Tod gerade eine Verbundenheit im gemeinsamen Schicksal zum Ausdruck, welche die einzelnen Figuren zu einem fest ineinander verstrickten Kollektiv macht : Les corps constituent presque toujours un pluriel indistinct, ils s’entrelacent au point de perdre leurs confins. C’est une foule, une masse de corps, un regroupement de formes humaines, qui s’approchent l’une de l’autre, s’embrassent, se compénètrent. […] qui sont-ils ? sont-ils anonymes ? s’agit-il d’une collectivité ? ou bien de l’amalgame momentané d’une pluralité d’individus ?18 seine Bedeutung, denn indem ich die Erzählung in drei verschiedene Szenen aufbreche, zeige ich verschiedene Haltungen des jüdischen Volkes im Angesicht dieses Dramas. Da war die Angst, die Aufruhr und der Tod.“ 18 Ebd, S. 10. Übersetzung durch die Autorin : „Die Körper sind fast immer eine undeutliche Vielzahl, sie verflechten sich bis zu dem Punkt, an dem sie ihre Grenzen verlieren. Es ist eine Menschenmenge, eine Masse von Körpern, eine Gruppierung von menschlichen Formen, die sich einander nähern, sich umarmen, sich gegenseitig durchdringen. […] wer sind sie ? Sind sie anonym ? Sind sie ein Kollektiv ? Oder sind sie eine vorübergehende Verschmelzung einer Vielzahl von Individuen ?“
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Etliche Inschriften der Denkmäler auf jüdischen Friedhöfen und bei Synagogen verweisen explizit auch auf das Martyrium der ermordeten Juden und gedenken ihrer als Märtyrer. Sie sprechen damit von ungebrochenen, aufrechten Verteidigern des jüdischen Glaubens, welche durch ihren Tod Zeugnis für die Verbrechen des Nationalsozialismus abgelegt haben. Ungeachtet dessen, ob sie tatsächlich in dieser Intention gestorben sind oder nicht : Als Märtyrer werden die Opfer der Shoah als observante Juden erinnert, die sich durch ihren Tod der Heiligung Gottes hingegeben haben. Sie bekommen eine aktive Rolle zugewiesen, in der ihr Opfertod als „Heiligung des Namen“ Gottes – „Kiddusch ha-Schem“ – steht. Eine bemerkenswerte Deutung dieses Martyriums stellt das Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof in Bern dar : Der Künstler Oskar Weiss ließ sich von der „Klagemauer“ in Jerusalem inspirieren und modellierte eine halbrunde Mauer aus einzelnen Kalkstein-Brocken, die es dem Besucher ermöglichen soll, die Gedanken im Halbrund zu konzentrieren und zu ordnen. In der Mitte der Mauer, aus den einzelnen Kalksteinquadern herausgehauen, erscheint als Relief der Davidstern. Dieser wird zerschnitten von einem Bruch in der Mauer, der symbolisch für die Katastrophe der Shoah steht. Dabei handelt es sich nicht so sehr um einen Riss in der Wand, als vielmehr um eine Lücke, um fehlendes Gestein, das aus der Mauer herausgeschlagen wurde. Es ist eine Leerstelle, die symbolisch den Verlust der auf der Inschrift vermerkten „sechs Millionen Märtyrer“ darstellt.19 Die Lücke macht das Denkmal in Bern zu einem Mahnmal. Sie erinnert daran, die durch den Verlust der Opfer hinterlassene Leere stets zu vergegenwärtigen. Auf der Rückseite des Mahnmals rankt sich eine Efeupflanze die Mauer empor, wird durch die Lücke in der Wand sichtbar, drängt durch sie in den Vordergrund und symbolisiert Hoffnung und die Zuversicht, dass aus der Lücke heraus wieder Neues entsteht. Auf einigen jüdischen Friedhöfen finden sich, im Gegensatz zu den Kollektivdenkmälern, private klassische Grabsteine, die an Menschen erinnern, deren Überreste nicht vor Ort begraben, sondern vermisst sind. Im Gegensatz dazu wurde auf dem jüdischen Friedhof in Davos 1946 die Asche beigesetzt, die 1945 aus dem Lager Buchenwald nach Davos gebracht wurde und von unbekannten, im Lager ermordeten Juden stammt. Das Grab ziert heute ein traditioneller Grabstein mit hebräischer und deutscher Inschrift und erinnert daran, dass hier die „Asche und Überreste von Verbrannten aus Buchenwald“20 begraben liegen.
19 Vgl. Gehring/Picard, „Auch Auschwitz liegt in der Schweiz.“ 20 Inschrift des Grabsteins für Opfer aus Buchenwald, Jüdischer Friedhof Davos GR, 1946.
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Abb. 2 : Mahnmal von Oskar Weiss auf dem jüdischen Friedhof in Bern. Foto : Fabienne Meyer 2019
Außerhalb von jüdischen Friedhöfen und Synagogen wurde bis vor kurzem nur an zwei konkrete Opfer erinnert : An Federica Spitzer21, die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte, nach dem Krieg Zuflucht in Lugano fand, dort an Schulen über ihre Erlebnisse und Erinnerungen berichtete und nach der 2016 eine Straße in Lugano benannt wurde, und an Anne Frank. Der Anne-Frank-Platz in Birsfelden erinnert an seine Namensgeberin als „Symbolfigur aller unschuldig Verfolgten“.22 Mit dem Platz erhielt sie 2009 – und mit ihr symbolisch auch alle anderen unschuldig Verfolgten – einen Platz in der Schweizer Öffentlichkeit. Der Platz in Birsfelden führte auch zu Diskussionen um einen potenziellen Anne Frank-Platz in Basel. 2009 wurde dem Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt die schriftliche Anfrage überreicht, ob die Stadt Basel bereit wäre, „eine entsprechende Benennung zu befördern“. Nach einer abschlägigen Antwort durch den Regierungsrat wurde dieser 2018 erneut von 33 Großratsmitgliedern angefragt, diesmal erfolgreich : Im Februar 2020 beschloss der
21 Für weiterführende Informationen, vgl. Fondazione Federica Spitzer : http://www.fondazionespitzer. ch/, letzter Zugriff : 03.10.2020. 22 Inschrift der Tafel am Anne-Frank-Platz, Birsfelden BL, 2009.
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Abb. 3 : Anne Frank-Platz in Birsfelden. Foto : Fabienne Meyer 2015
Vorsteher des Justiz- und Sicherheitsdepartements von Basel, den südöstlichen Teil des Erlenmattparks nach Anne Frank zu benennen.23 Nicht zuletzt wird das Opferkollektiv der Shoah auch auf denjenigen Denkmälern erwähnt, die an den Schweizer Widerstand oder an die geschlossenen Grenzen erinnern. Die Rede ist dabei aber nie von „Opfern“ oder „Märtyrern“, sondern von „Flüchtlingen“ oder „Verfolgten“. An sie wird dabei nicht um ihretwillen erinnert, vielmehr liegt der Fokus auf der Zivilcourage und dem Widerstand Einzelner oder auf der abweisenden Schweizer Flüchtlingspolitik : So wird Paul Grüninger als „Retter Hunderter jüdischer Emigranten 1938“ bezeichnet und Ernest Prodolliet24 „rettete vor und während dem Zweiten Weltkrieg in Bregenz viele jüdische Flüchtlinge vor der Ermordung durch das deutsche nationalsozialistische Terrorregime“. Und an einem Grenzübergang in Diepoldsau wird an Verfolgte erinnert, „die nach der Grenzschliessung in den sicheren Tod geschickt wurden“.25 Seit November 2020 wird in Zürich auch mittels Stolpersteinen an Opfer des Nationalsozialismus erinnert, die einst in der Schweiz gelebt hatten. Das Projekt soll auch in andere Schweizer Städte getragen werden. Damit erhalten die zuvor meist 23 Schriftliche Anfrage von Stephan Luethi-Brüderlin betreffend „Anne Frank – in Basel eines Strassen namens nicht würdig ?“, 24.06.2009 : http://www.grosserrat.bs.ch/de/geschaefte-dokumente/datenbank ?such_kategorie=1&content_detail=200103950, letzter Zugriff : 02.02.2020 ; Anzug von Stephan Luethi-Brüderlin et al. betreffend „eine Anne Frank-Terrasse in Basel würde uns gut anstehen !“, 14.11.2018 : http://www.grosserrat.bs.ch/de/geschaefte-dokumente/datenbank?such_kategorie=1&con tent_detail=200109329, letzter Zugriff : 02.02.2020. 24 Ernest Prodolliet (1905–1984) war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in der Konsularagentur in Bregenz tätig. Dort stellte er zahlreiche Einreise- und Durchreisevisa für die Schweiz aus und konnte so viele jüdische Flüchtlinge vor dem Tod retten. 25 Inschriften der Gedenktafel für Paul Grüninger, Au SG, 2005 ; der Gedenktafel für Ernest Prodolliet, Amriswil TG, 2016 ; und der Gedenktafel für Flüchtlinge und Fluchthelfer, Diepoldsau SG, 2009.
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kollektiv und in halb-öffentlichen Räumen erinnerten Opfer im öffentlichen Raum ihre Namen und Geschichten zurück.
Widerstand von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern Der weitaus größte Teil der Shoah-Denkmäler in der Schweiz ist dem Gedenken an die Zivilcourage konkreter Persönlichkeiten gewidmet, welche sich während des Zweiten Weltkrieges für Flüchtlinge und Verfolgte der Shoah eingesetzt oder sich durch ideologischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewehrt hatten. Mit Ausnahme einer an der Synagoge von Lausanne angebrachten Gedenktafel für die „Gerechten“ entstammen diese Denkmäler nicht-jüdischen Initiativen.26 Es sind mehrheitlich Gedenktafeln und Gedenksteine sowie Straßen- oder Bauwerk-Bezeichnungen, die an Paul Grüninger, Gertrud Kurz-Hohl27, Carl Lutz28 oder an die Fluchthelfer*innen im Risoud, dem Grenzgebiet zwischen Frankreich und dem Kanton Waadt, erinnern. Aber auch an den Hitlerattentäter Maurice Bavaud29 oder den IKRK-Delegierten und „Befreier des KZ Mauthausen“, Louis Häfliger30, wird erinnert. Etliche Denkmäler erinnern zudem auch außerhalb der Schweiz an Schweizer Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen das nationalsozialistische Regime gewehrt hatten, Fluchthilfe in die Schweiz leisteten oder Flüchtlinge vor Ort unterstützten.31 26 Vgl. Gedenktafel an der Synagoge Lausanne VD, 2001. 27 Gertrud Kurz-Hohl (1890–1972) gründete das Hilfswerk „Kreuzritter-Flüchtlingshilfe“, das sich ab 1938 der Betreuung von Flüchtlingen aus Deutschland und den besetzten Gebieten annahm. Durch persönliche Interventionen erreichte Kurz immer wieder, dass verfolgte Menschen in der Schweiz Aufnahme fanden (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009345/2007-02-15/, letzter Zugriff : 04.12.2020). 28 Carl Lutz (1895–1975) leitete von Januar 1942 bis März 1945 als Vizekonsul die Schutzmacht-Abteilung der Schweizer Gesandtschaft in Budapest. 1944 gelang es ihm, mit einer diplomatisch-humanitären Aktion rund 62.000 Juden zu retten (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014866/2018-02-06/, letzter Zugriff : 04.12.2020). 29 Maurice Bavaud (1916–1941) versuchte 1938 mehrmals vergeblich, in die Nähe Adolf Hitlers zu gelangen, um ihn zu erschießen. Er wurde verhaftet und gestand der Gestapo seine Absicht, Hitler zu töten. Bavaud wurde zum Tode verurteilt und 1941 enthauptet (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/043603/2004-04-28/, letzter Zugriff : 04.12.2020). 30 Louis Häfliger (1904–1993) verhinderte 1945 als Freiwilliger des IKRK die Sprengung der Stollen bei den Konzentrationslagern von Gusen und damit die Ermordung Zehntausender Häftlinge, indem er die amerikanischen Truppen benachrichtigte (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/044786/2011-06-16/, letzter Zugriff : 04.12.2020). 31 Nach Carl Lutz wurde in Israel bspw. ein Aussichtspunkt in der Nähe von Tiberias benannt und in Bregenz ein Weg. In Israel wurde eine Straße in Rischon Lezion nach Paul Grüninger benannt und im Wiener Stadtteil Floridsdorf erinnert die Paul-Grüninger-Schule an den Schweizer Fluchthelfer. In
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Die Denkmäler in der Schweiz befinden sich zumeist am Wirkungs- oder Wohnort der Erinnerten und verbinden den Standort direkt mit dessen Geschichte. Sie sind jedoch zumeist unauffällig angebracht und wenig bekannt. Es scheint, als wollten sie nur leise und in überschaubarem Rahmen an die Menschen erinnern, die in einer schwierigen Zeit einen „beispiellosen Einsatz zur Rettung von Flüchtlingen“32 bewiesen haben. Beispielsweise erinnert in der kleinen Hütte „Hotel de l’Italie“, mitten im dichten Wald Risoud in der Gemeinde Le Brassus (VD), eine 2003 installierte Gedenktafel an die Fluchthelfer*innen, welche vierzehn Frauen, Kindern und Jugendlichen – „Israélites pour la plupart“33 – zur Flucht in die Schweiz verholfen haben. In der Hütte wurde während der anstrengenden Grenzüberquerung jeweils kurz Halt gemacht und Unterschlupf gesucht. Namentlich erinnert die kleine Tafel an Fred Reymond, Anne-Marie Piguet, Madeleine und Victoria Cordier und an den Polizisten Adrien Goy. Des „Heldentums“ wird im Unterschied zum „Opfertum“ meist personifiziert gedacht und in erster Linie erinnern die jeweiligen Inschriften an die konkreten Leistungen der Heldenfiguren. So hat Paul Grüninger „mehrere hundert, vielleicht einige tausend jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung“ gerettet, Maurice Bavaud „a tenté de tuer Hitler“, und Carl Lutz war der „Retter vieler Tausende verfolgter Juden in Budapest im Jahre 1944“34. Die Schweizer Flüchtlingshelfer*innen und ihre Leistungen werden als couragiert, gewissenhaft, idealistisch oder selbstlos bezeichnet. Implizit weisen einige dieser Denkmäler darauf hin, dass die Hilfeleistungen gegen die Weisungen und das geltende Recht verstießen, gerade weil sie besonderen Mut verlangten und den Einsatz des eigenen Lebens erforderten. Zuweilen wird auf diesen Widerstand gegen das politische System auch explizit und anklagend durch Hinweise auf die erst späte Rehabilitierung und die fehlende Anerkennung der mutigen Taten verwiesen. Die Denkmäler für die Schweizer*innen, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten, reflektieren also nicht bloß das Bild einer couragierten, humanitären Schweiz, sie zeigen vor allem, dass die einzelnen erinnerten Persönlichkeiten individuell gehandelt und sich gegen die Norm und das Gesetz aus persönlicher Überzeugung heraus erhoben haben und demnach nicht dem Gros Frankreich erinnern mehrere Gedenksteine und Gedenktafeln an die humanitären Helfer*innen aus der Schweiz. 32 Inschrift der Gedenktafel für Gertrud Kurz-Hohl, Lutzenberg AR, 1998. 33 Inschrift der Gedenktafel für FluchthelferInnen, Le Brassus VD, 2003. Übersetzung durch die Autorin : „mehrheitlich Juden“. 34 Inschriften der Gedenktafel für Paul Grüninger, Au SG, 2005 ; der Gedenktafel und Stele für Maurice Bavaud in Neuchâtel (1998) und Hauterive, NE (2011). Übersetzung durch die Autorin : „hat versucht, Hitler zu töten“ ; und der Gedenktafel für Carl Lutz, Walzenhausen AR, 1978.
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Abb. 4 : Stele in Le Pont, VD für die Fluchthelfer*innen im Risoud. Foto : Fabienne Meyer 2020
der Schweizer Bevölkerung entsprochen, geschweige denn, die Haltung der offiziellen Schweiz repräsentiert haben. Die Hinweise darauf, dass sie dies durch gesellschaftliche und politische Verurteilung und eine späte Anerkennung büßen mussten, lassen auch eine gewisse, wenn auch bloß implizite Kritik an der Schweizer Politik nach dem Zweiten Weltkrieg oder an der gesellschaftlichen Stimmungslage erahnen. So wird erwähnt, dass Paul Grüninger „1939 fristlos aus dem Polizeidienst entlassen und wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung verurteilt“ wurde, Fred Reymonds „héroisme payé cher est resté longtemps ignoré“, und Maurice Bavaud wurde als Hitler-Attentäter „décapité à Berlin“.35 Nur auf wenigen Denkmälern für Paul Grüninger wird schließlich auch noch auf dessen Rehabilitierung hingewiesen. Bavauds postume Rehabilitierung in Deutschland 1956 und Carl Lutz’ erbitterter Kampf um Anerkennung werden auf keiner Gedenktafel erwähnt.
35 Inschriften der Gedenktafel an der Paul-Grüninger-Brücke, Diepoldsau SG, 2012 ; der Gedenktafel für Fred & Lilette Reymond, Le Sentier VD, 2006. Übersetzung durch die Autorin : „Fred Reymonds hochbezahltes Heldentum wurde lange ignoriert“ ; und der Gedenktafel und Stele für Maurice Bavaud, Neuchâtel NE (1998) und Hauterive, NE (2011). Übersetzung durch die Autorin : „enthauptet in Berlin“. Fred Reymond (1907–1999) hat zusammen mit seiner Frau Lilette und anderen Fluchthelfern während des Zweiten Weltkrieges jüdische Flüchtlinge und Résistance-Kämpfer aus Frankreich in die Schweiz gerettet.
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Fabienne Meyer Abb. 5 : Stele von Charlotte Lauer für Maurice Bavaud neben dem Laténium in Hauterive, NE. Foto : Fabienne Meyer 2020
Gerade in Bezug auf die Würdigung der Flüchtlingshelfer sind auch Straßenbezeichnungen in ihrer Denkmalfunktion nicht zu vernachlässigen, sind sie doch Ausdruck der selbstgewählten Identität einer Gemeinde.36 Dass Kommissionen bewusst darüber beraten, welche Personen, Lebensgeschichten und Taten das Stadt- und Straßenbild der Gemeinde prägen sollen, reflektiert, dass der symbolisch für den Ort stehende Namensgeber einen prominenten Platz im Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinde einnimmt. Aus dem Fundus möglicher Namen und verdienstvoller Taten zieren nur Auserwählte die Gedenktafeln und Straßenschilder. Was auf den Tafeln geschrieben steht, ist der eine Aspekt eines Menschen und seines Wirkens, mit dem sich die Gemeinde identifiziert und der als würdig erachtet wird, um im kulturellen Gedächtnis erhalten zu bleiben. Auffallend viele Orte wurden nach Paul Grüninger benannt. Nicht nur wurde 1996 in St. Gallen ein Platz und in Zürich und St. Gallen je ein Weg nach ihm benannt, auch das 2006 sanierte Stadion des St. Galler SC Brühl trägt seinen Namen. Die vom Kanton St. Gallen und dem österreichischen Bundesland Vorarlberg gemeinsam benannte Paul Grüninger-Brücke zwischen Diepoldsau und Hohenems markiert zudem den Grenzübergang zu Österreich, welcher vielen 36 Zur Straßenbenennung in Israel, siehe den Beitrag von Maoz Azaryahu in diesem Sammelband.
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Abb. 6 : Tafel an der Paul Grüninger-Brücke zwischen Diepoldsau (CH) und Hohenems (A). Foto : Fabienne Meyer 2015
Flüchtlingen während der Shoah zum Hindernis, durch das Wirken Paul Grüningers in manchen Fällen aber überwindbar wurde. In Englisch, Hebräisch und Deutsch wird auf einer Tafel, die am Brückengelände angebracht ist, an Grüningers Einsatz, seine Entlassung, Verurteilung und spätere Rehabilitierung erinnert. Sein Name steht aber auch „stellvertretend für die mutigen Frauen und Männer auf beiden Seiten der Grenze, die Flüchtlingen geholfen haben.“37 Auch andere „mutige Frauen und Männer“ werden mit der Benennung von Straßen, Parks oder Plätzen geehrt. Nach Gertrud Kurz-Hohl ist eine Straße in Bern benannt, auf dessen Straßenschild sie als „Flüchtlingsmutter“ erinnert wird, im Louis Häfliger-Park in Zürich wird der Namensgeber kurz als „Befreier der KZ Mauthausen“ vorgestellt und der Carl Lutz-Weg in Bern erinnert : „Carl Lutz, 1895–1975, Diplomat, rettete ungarische Juden vor der Deportation 1944/45“38. Eine bereits langjährige, aber immer wieder aktuelle Diskussion wird in der Stadt Zürich um die Benennung einer Maurice Bavaud-Straße geführt. Stadtrat Simon Kälin hatte 2010 ein Postulat eingereicht, um zu prüfen, ob der geplante, aber in seiner Benennung umstrittene 37 Inschrift der Gedenktafel an der Paul-Grüninger-Brücke, Diepoldsau SG, 2012. 38 Inschriften des Straßenschildes beim Gertrud Kurz-Weg, Bern BE, 1993 ; des Parkschildes beim Louis Häfliger-Park, Zürich ZH, 2003 ; und des Straßenschildes beim Carl Lutz-Weg, Bern BE, 1994.
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Le-Corbusier-Platz (heute Europaplatz) beim Zürcher Bahnhof in „Maurice Bavaud-Platz“ umbenannt werden könnte. Die Straßenbenennungskommission wandte jedoch ein, dass sich die Forschung über die Motivation Bavauds zum Attentat nicht einig sei : „Die hochemotionale Diskussion um Bavauds Motive zur Tat zeigt, dass die Fakten für eine objektive Beurteilung nicht vorliegen oder nicht genügend erforscht sind.“39 Auf Ebene der Bundesregierung wurde die Basis für eine solche Anerkennung schon früher gelegt : Als Antwort auf die Einfache Anfrage von Paul Rechsteiner am 19. Juni 1997 sowie in der offiziellen Erklärung von Bundesrat Pascal Couchepin vom 7. November 2008 wird bestätigt, dass Bavaud für seine Absichten „unsere Erinnerung und Anerkennung“ und einen „Platz in unserem Gedächtnis“ verdient.40 Maurice Bavauds Namen ließe sich nahtlos in das Straßenbild Neu-Oerlikons einfügen : Neben Straßennamen für Antifaschisten, Nazikritiker und progressive Künstler befinden sich dort in direkter Nachbarschaft auch der Paul Grüninger-Weg und der Louis Häfliger-Park. Diese im Zuge der Neugestaltung des Quartiers Neu-Oerlikon 1996 entstandenen Straßen befinden sich auf dem ehemaligen Gelände der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon-Bührle & Co., welche in den Jahren 1940–1944 mit Abstand am meisten Kriegsmaterial nach Deutschland exportiert hat.41 Die Straßen sollten nach Männern und Frauen benannt werden, „die sich in besonderem Masse für Frieden, humanitäre Belange und soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben“.42 Das Areal des größten Schweizer Kriegsmaterial-Lieferanten an die Nationalsozialisten ist nun „umzingelt von Namen derer, die gegen die Verstrickung der Schweiz in die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gekämpft und dafür nur sehr zögerlich Anerkennung erfahren haben“, wie die WOZ schrieb.43 Die symbolische Bedeutung des Standortes dieser Straßen könnte größer nicht sein. 39 Erläuterung im Geschäftsbericht 2012 vom Polizeidepartement Zürich zum Postulat von Simon Kälin „Überbauung Stadtraum HB, Benennung eines Maurice Bavaud-Platzes anstelle des geplanten Le-Corbusier-Platzes“, 06.10.2010, S. 153 : https://www.stadt-zuerich.ch/content/dam/stzh/portal/Deutsch/ politik-der-stadt-zuerich/Publikationen%20und%20Broschueren/Geschaeftsbericht/2012/04_Polizeidepartement.pdf, letzter Zugriff : 02.02.2020. 40 Erklärung des Bundespräsidenten Pascal Couchepin am 07.11.2008 zur Motion von Paul Rechsteiner „Erklärung zum 70. Jahrestag des Attentats von Maurice Bavaud auf Adolf Hitler“, 03.10.2008, https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft ?AffairId=20083663, letzter Zugriff : 02.02.2020 ; und Antwort des Bundesrates am 01.04.1998 auf die Einfache Anfrage von Paul Rechsteiner „Maurice Bavaud. Rehabilitierung“, 19.06.1997, https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/ suche-curia-vista/geschaeft ?AffairId=19971104, letzter Zugriff : 02.02.2020. 41 Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht, S. 205–224. 42 Auszug aus dem Protokoll des Zürcher Stadtrates vom 06.03.1996, S. 2. 43 Keller, „Wie Stadtplanung Geschichte macht“ : https://www.woz.ch/1348/neu-oerlikon/wie-stadtplanung-geschichte-macht, letzter Zugriff : 02.02.2020.
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Schweizer Flüchtlingspolitik Andere kritische Denkmäler gehen auf die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges ein und damit mehrheitlich auf die Versäumnisse der Schweizer Regierung, Menschen vor der Shoah zu retten. Sie erinnern nicht so sehr an die Opfer oder Märtyrer aus jüdischer Perspektive, sondern an Flüchtlinge und deren Schicksale aus politischer Perspektive. So beispielsweise einer der unscheinbaren Gedenksteine neben dem Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof in Bern : Wie Erinnerungen schießen dort die personalisierten Gedenksteine aus dem Boden, wie Grabsteine sind sie durch den Lauf der Zeit verwittert und mit Moos überwachsen. Diese namentliche Erwähnung der individuellen Opfer schließt an die jüdische Tradition der Yizkor-Bücher an, in denen an die Namen von Juden ohne Grab erinnert wird.44 Einer dieser Yizkor-Steine erinnert an Céline und Simon Zagiel-Mokobodzki, die im August 1942 aus Belgien in die Schweiz flüchteten. Sie verbrachten eine Nacht auf dem jüdischen Friedhof in Bern, wo der Friedhofsgärtner sie am nächsten Morgen fand. Er informierte die jüdische Gemeinde, die das Ehepaar den Schweizer Behörden meldete und dabei versicherte, die Verantwortung für die jungen Belgier zu übernehmen. Trotzdem wurden sie am nächsten Tag von der Schweizer Polizei in das besetzte Frankreich überstellt und ins Sammellager Drancy und weiter nach Auschwitz deportiert. Die erst 17-jährige Céline wurde ermordet, ihr 21-jähriger Ehemann überlebte die Zwangsarbeit. Die Identität der beiden Flüchtlinge wurde erst 1996 geklärt. Am 5. Mai 1997 erhielten Céline und Simon Zagiel-Mokobodzki am Shoah-Gedenktag (Yom Hashoah) diesen Gedenkstein auf dem Friedhof, der sie als Opfer der Politik eines „vollen Bootes“ beschreibt.45 Andere Denkmäler konkretisieren die Kritik an der Politik des vollen Bootes durch die Erwähnung von geschlossenen Grenzen, abgewiesenen oder abgeschobenen Flüchtlingen oder der gesellschaftlichen Ablehnung der Verfolgten. Es wird aber nie bloß auf die abweisende Haltung der Schweiz verwiesen, es fällt immer auch ein positives Wort, sei es, weil zahlreiche Flüchtlinge in der Schweiz Zuflucht gefunden haben, sei es, weil gewisse Fluchthelfer*innen sich für sie eingesetzt haben. Man könnte von einer Dialektik zwischen Verfolgung, Ablehnung, Zuflucht und Dankbarkeit sprechen. So erinnert eine Gedenktafel im kleinen Dorf Caux oberhalb von Montreux an die zeitweilige Herberge der dort untergebrachten Flüchtlinge, die im Dezember 1944 44 Vgl. den Beitrag von Judy Tydor Baumel-Schwartz in diesem Sammelband. 45 Die Metapher des vollen Bootes wurde im August 1942 von Justizminister Eduard von Steiger verwendet, um auszudrücken, dass die Schweiz nicht alle Schutzsuchenden aufnehmen kann. Zur Geschichte des Gedenksteins vgl. auch Abelin, „Opfer der Gleichgültigkeit der gesichtslosen Bürokratie“.
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Abb. 7 : Der Gedenkstein für Céline und Simon Zagiel-Mokobodzki bezeichnet sie als Opfer des „vollen Bootes“, Jüdischer Friedhof in Bern. Foto : Fabienne Meyer 2019
mit dem „Kasztner-Zug“ aus Budapest in die Schweiz transportiert wurden. Sie erinnert gleichzeitig auch an die jüdischen Flüchtlinge, „qui ont été refoulés à la frontière suisse“.46 Auf den beiden im Jahr 2000 errichteten Gedenksteinen, die in Büren a.A. an das größte Schweizer Flüchtlingslager während des Zweiten Weltkrieges und das dazugehörige Spitallager erinnern, wird der Schweiz einerseits dafür gedankt, dass fast alle der dort internierten Flüchtlinge – meist polnische, seit 1942 aber auch jüdische Flüchtlinge – den Krieg überlebten. Es wird andererseits aber auch Kritik am „selbstgerechten Kleingeist, Unvermögen und [an der] Ablehnung“ sowie an der „Fehlplanung eines sogenannten ‚Concentrationslagers‘“ geäußert.47 Und am Rheinufer von Diepoldsau im Kanton St. Gallen befindet sich am Grenzzaun befestigt seit 2009 in der Nähe des ehemaligen Grenzpostens Schmitter eine Tafel, welche sowohl an die jüdischen Flüchtlinge erinnert, die sich an dieser Stelle in die Schweiz retten konnten als auch an die Menschen, die entgegen dem Gesetz den Flüchtigen über die Grenze halfen. Erinnert wird aber auch an die Verfolgten, die nach der Grenzschließung der
46 Inschrift der Gedenktafel für Flüchtlinge, Caux VD, 1999. Übersetzung durch die Autorin : „die an der Schweizer Grenze zurückgeschickt wurden“. 47 Inschrift des Gedenksteins für das Flüchtlingslager, Büren a.A. BE, 2000.
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Abb. 8 : Gedenktafel am Grenzübergang beim Rohr am Alten Rhein in Diepoldsau. Foto : Fabienne Meyer 2020
Schweiz „in den sicheren Tod geschickt wurden“.48 Die auf den ersten Blick gezeichnete positive Wertung von einzelnen Ereignissen individueller Barmherzigkeit wird auf den zweiten Blick durch die Darstellung einer politisch und gesellschaftlich abweisenden, unbarmherzigen Schweiz ein Stück weit wieder relativiert. Nur bei einem der Denkmäler, welche die Flüchtlingspolitik thematisieren, überwiegt die Anerkennung der Schweiz als „rettende Insel“ : Die Skulptur „Wings of Peace“ der israelischen Künstlerin Dina Merhav wurde der Schweiz 1998 als Zeichen der Dankbarkeit von ehemaligen Internierten übergeben.49 Die Neue Zürcher Zeitung schrieb damals : Mit der Übergabe der Skulptur der israelischen Künstlerin Dina Merhav wollten die ehemaligen Flüchtlinge der Schweiz ihre Anerkennung für ihre Aufnahme und Unter-
48 Inschrift der Gedenktafel für Flüchtlinge, Fluchthelfer*innen und Verfolgte, Diepoldsau SG, 2009. 49 Zwar gibt es in der Schweiz auch etliche Gedenksteine, die von internierten Deutschen, Italienern oder Franzosen in Dankbarkeit und in Erinnerung an ihre Internierung in der Schweiz erstellt worden sind. Diese thematisieren jedoch weder Verfolgung noch Vernichtung, sondern referieren einzig auf ihre Internierung in der Schweiz.
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stützung bekunden, erklärte Ken Newman, der selbst mehrere Jahre in einem Schweizer Interniertenlager verbracht hatte. Die ehemaligen Internierten wollten mit der Geste auch ihrer Missbilligung gegen die in den vergangenen Monaten oft verbreiteten falschen Informationen zur Haltung der Schweiz während der Zeit des Zweiten Weltkrieges Ausdruck verleihen, erklärte Newman im Namen von 80 ehemaligen Internierten weiter. Der grösste Teil der ehemaligen Internierten habe wissen lassen, dass sie nie ausgebeutet, misshandelt worden seien oder unter antijüdischer Diskriminierung zu leiden gehabt hätten. […] Die kleine Schweiz habe aber während der Kriegsjahre 61‘000 zivile Flüchtlinge, darunter 30‘000 Juden, aufgenommen. Dies sei weit mehr, als jedes andere Land der Welt getan habe. Mit der Skulptur von Merhav solle nun deshalb dem humanitären Charakter der Schweiz und des Schweizervolkes Anerkennung gezollt werden.50
Die umgehende Relativierung dieses Narratives erfolgte bei der Einweihung des Denkmals durch die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss, die in ihrer Ansprache auf die Widersprüchlichkeit des Verhaltens der Schweiz hinwies : So erinnere die Skulptur die Schweiz einerseits an die aufgenommenen Flüchtlinge, „anderseits aber auch an alle abgewiesenen Hilfesuchenden und damit an die menschliche Schwäche. Die Schweiz habe während der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwar Schutz geboten, diese Möglichkeit aber nicht voll ausgeschöpft.“51 Die Zeit der ausschließlich positiven Wertung der Schweizer Flüchtlingspolitik war 1998 definitiv vorbei. Die größte Bekanntheit unter den Shoah-Denkmälern hat vermutlich Schang Hutters Skulptur „Shoah“ erfahren : Die Plastik ist ein Würfel aus rostendem Stahl, dessen Seitenlänge von 1,56 Metern genau der Breite von Bahngleisen entspricht und damit Bezug nimmt auf die Deportationszüge des Zweiten Weltkrieges. Oben im Quader ist eine Kerbe eingelassen, in der eine dürre, menschliche Figur liegt – verletzlich, gebrechlich und ängstlich. „Mein Klotz ist ein unmenschliches Gegengewicht zur Einengung des Menschen“, so Hutter über seine Skulptur.52 Am 28. Februar 1998, in einer Nacht- und Nebelaktion, stellte er den Würfel anlässlich einer Ausstellung direkt vor den Haupteingang des Bundeshauses. Er „wollte die Figur dort haben, wo im Zweiten Weltkrieg die politischen Entscheidungen getroffen wurden“ und wo entschieden wurde, dass Menschen an den Grenzen abgewiesen wurden.53 Nur drei Tage später haben Mitglieder der damaligen Freiheits-Partei und späteren Auto-Partei die 50 Kapp, „Flügel des Friedens“. 51 Ebd. 52 Liniger, „Ein Asylant kann nicht wählen wohin er will“. 53 Fluri, „Die Angst ist in meinen Figuren immer da“ : https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/ kanton-solothurn/schang-hutter-die-angst-ist-in-meinen-figuren-immer-da-128447485, letzter Zugriff : 02.02.2020.
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Abb. 9 : Skulptur „Wings of Peace“ von Dina Merhav im Parc de l’Ariana in Genf. Foto : Fabienne Meyer 2020
Skulptur am frühen Morgen auf einen Kranwagen verladen, mit einem Refusé-Kleber versehen und vor dem Atelier des Künstlers in Derendingen abgeladen.54 Asyl erhielt die Skulptur schließlich in Zürich auf dem Paradeplatz mit dem offiziellen Segen des Zürcher Stadtpräsidenten Josef Estermann, der auf eine kritische Diskussion über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges hoffte. Zwei Monate später befand sich die Skulptur auf Tournee durch die Schweiz und war unter anderem auch in Basel und Aarau zu sehen. Es sind die Aussagen von Schang Hutter und sein politischer Standpunkt, die aus dem Denkmal eine Anklage an die Schweizer Flüchtlings- und Vermögenspolitik während des Zweiten Weltkrieges machen. Der Künstler erachtete den Standort in Zürich als ebenso passenden Ort : „Hier haben die Bankiers einst entschieden, dass sie Gold kaufen, es waschen und horten. […] Hinter jedem Gramm Gold, das damals gehandelt wurde, steckt ein menschliches Schicksal.“55 Während die einen auf eine kritische Diskussion hofften, empfanden die anderen den rostigen „Schrotthaufen“ als Skandal auf Zürichs edelstem Platz. Passanten diente der Quader als Katalysator, 54 Vgl. Liniger, „‚Shoa‘ zurück an den Absender“. 55 Liniger, „Ein Asylant kann nicht wählen wohin er will“.
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Abb. 10 : Skulptur „Shoah“ von Schang Hutter am heutigen Standort in Solothurn. Foto : Fabienne Meyer 2020
um über „Politik im allgemeinen und Zürich im speziellen“ zu diskutieren, „über Arbeitslosigkeit, ‚die Idioten in Bern‘ […] und das Angebot von Pralinés im ‚Sprüngli‘“.56 Die Shoah-Skulptur löste Diskussionen über „die Überheblichkeit und Arroganz der Politik und der politisch instrumentalisierten Kunst“ aus und deren Anmaßung, stellvertretend für die Juden ein Mahnmal zu schaffen.57 „Die Leiche des KZ-Toten ist ein allzu simpler Fingerzeig in sentimental-populistische Richtung“, fanden die einen, wieder andere bedeckten den Kubus mit Blumen.58 Und immer wieder wurde der Meinung Ausdruck gegeben, dass der richtige Platz der Skulptur weder in Bern noch in Zürich, sondern in Bonn vor dem Bundestag oder in Berlin und Wien sei, denn „[i]n der Schweiz gab es keine Verbrechen gegen die Menschheit und keine Kriegsverbrechen“.59 Schang Hutters Skulptur „Shoah“ ist das mit Abstand meist diskutierte Shoah-Denkmal der Schweiz. Sie spricht aber nicht nur aus sich selbst, sie ist auch gebunden an ihren Künstler und an ihren jeweiligen Standort. 2004 wurde
56 Banz, „Ein Kunstwerk mit Katalysatorfunktion“. 57 Müller, „Die Kunst, richtig zu parkieren“. 58 Ehrensperger, „Kommentar“. 59 Diggelmann, „Kommentar“ ; Bürkler, „Kommentar“. Passend dazu war 1996 die Aussage des damaligen Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz : „Auschwitz liegt nicht in der Schweiz“.
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Schang Hutter vom Zürcher Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber die Anerkennungsmedaille des Zürcher Stadtrates für besondere Verdienste überreicht, unter anderem auch, weil er „die Debatte um die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg wortwörtlich auf die Strasse getragen“ hat.60 Heute steht die Skulptur stumm neben der Kantonsschule in Solothurn auf zwei Schienensträngen.
Paradigmenwechsel im kollektiven Gedächtnis Durch seine „auf Dauer angelegte Wirklichkeit aus Stein“61 stellt sich ein Denkmal der wandelbaren Natur von Geschichtsbildern in den Weg und wird Zeuge seiner Entstehungszeit, seines Entstehungsortes und der Intention seines Erschaffers. Denkmäler erzählen nicht nur von den Ereignissen der Vergangenheit, sie reflektieren vor allem auch den Zeitgeist und die Diskurse jener Epoche, in der sie errichtet wurden. Die Vergangenheit und das jeweils Sagbare erstarren in der konkreten Materialität von in Stein gemeißelten Erinnerungen. Der weiter oben skizzierte Paradigmenwechsel der 1990er-Jahre weg von einer national zentrierten und selbstzufriedenen Gedenkkultur hin zu einer selbstkritischeren Haltung spiegelt sich auch im materiellen Gedenken. Die Schweizer Shoah-Denkmäler, welche die Flüchtlingspolitik während des Krieges kritisieren oder die Fluchthelfer*innen ehren, sind fast ausnahmslos erst seit Mitte der 1990er-Jahre entstanden. Sie sind in den Diskursen beheimatet, die mit der Einsetzung der UEK und der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit der Schweizer Flüchtlingspolitik während des Krieges überhaupt erst geschaffen worden sind. Erst jetzt war es denkbar, im öffentlichen Raum an geschlossene Grenzen und an die „Politik des vollen Bootes“ zu erinnern und auch die Fluchthelfer*innen wurden in der Schweiz erst nach der langwierigen, aber schlussendlich erfolgreichen Rehabilitierung von Paul Grüninger gewürdigt.62 Zuvor, in der direkten Nachkriegszeit, erinnerten Denkmäler fast nur im halb-öffentlichen Raum jüdischer Friedhöfe und Synagogen an die Verfolgung und Vernichtung von Millionen von Frauen, Männern und Kindern. Innerhalb der Tradition der Shoah-Denkmäler zeigt sich also eine Entwicklung hin zu sozialpolitisch relevanten Denkmälern im öffentlichen Raum, die auch in kritischer 60 Schriftliche Überreichung der Anerkennungsmedaille des Zürcher Stadtrates für besondere Verdienste vom Zürcher Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber an Schang Hutter am 23.09.2004, vgl dazu : Hutter, Shoah II, S. 136. 61 Huyssen, „Denkmal und Erinnerung im Zeitalter der Postmoderne“, S. 16. 62 Ganz im Gegensatz zu Dänemark bspw., wo die „Resistance fighters“ schon in den 1950er-Jahren auf Denkmälern verewigt worden sind. Vgl. dazu den Beitrag von Sara Kviat Bloch in diesem Sammelband.
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Absicht die offizielle Flüchtlingspolitik der Schweiz anmahnen. Die neuen Denkmaltypen tradieren dabei ein Geschichtsbild und eine Vergangenheitspolitik, welche die allzu späte Anerkennung und den lange fehlenden Respekt vor den couragierten Flüchtlingshelfer*innen ins Zentrum stellt und das Bild einer Schweiz umreißt, welche die verfolgten Flüchtlinge an den Grenzen abgewiesen hat. Mit einer Ausnahme (Skulptur „Wings of Peace“ von Dina Merhav) ungesagt bleibt darin, dass die Schweiz zugleich auch zahlreiche zivile Flüchtlinge aufgenommen hat. Daneben bestehen auch frühere Erzählungen über die Schweiz und den Zweiten Weltkrieg in den Inschriften der Schweizer Denkmallandschaft weiter fort : Die zahlreichen Soldatendenkmäler widerspiegeln das Bedürfnis der Nachkriegszeit, an die Grenz- und Aktivdienste zu erinnern. Im Gegensatz zu den später meist privat initiierten Shoah-Denkmälern kamen diese Sinnbilder der Schweizer Wehrhaftigkeit nicht selten in den Genuss von kantonaler oder bundesstaatlicher Unterstützung. Auch die Denkmäler für General Henri Guisan, die vor allem in den 1960er-Jahren nach seinem Tod oder anlässlich der „Diamant“-Feier von 1989 eingeweiht wurden, legten das Augenmerk der Schweizer „Erfolgsgeschichte“ während des Zweiten Weltkrieges noch auf die Wehrhaftigkeit und nicht auf den Opportunismus der wirtschaftlichen oder politischen Verstrickungen mit dem „Dritten Reich“. Auf der Zeitachse betrachtet haben sich die Formen und Aussagen der Denkmäler also gewandelt, weil eine monumentale Kultur auch die politische Kultur eines Landes widerspiegelt. Diese hat sich im Rahmen der transnationalen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust seit den 1990er-Jahren deutlich verändert. Die national-patriotische Erinnerung wurde aber nicht bloß durch ein kosmopolitisch-humanitäres Andenken an die Zeit des Zweiten Weltkrieges aboder gar aufgelöst. Vielmehr blieben beide Narrative nicht nur auf Denkmälern, sondern auch in jeweils unterschiedlichen sozialen Milieus nebeneinander bestehen.63 In dieser Konstellation eines fraktionierten doppelten Narrativs kommen strittige Deutungen zur Flüchtlingspolitik zum Ausdruck. Étienne François sieht diese Fraktionierung und Pluralisierung der Gedächtniskulturen und die Formierung von antagonistischen Geschichtsbildern denn auch als Konsequenz der Neuinterpretation der Vergangenheit – ein transnationales Phänomen, in welchem die Schweiz kein Sonderfall darstellt.64
63 Vgl. Burgermeister/Peter, Intergenerationelle Erinnerung in der Schweiz. 64 Vgl. François, „Meistererzählungen und Dammbrüche“. Zu transnationalen Vergleichen und den Entwicklungen von Shoah-Denkmälern vgl. Young, Texture of memory ; Knigge, „Reden und Schweigen“ ; Marcuse, „Holocaust Memorials“.
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Heute sind wir – so macht es den Anschein – wiederum Zeugen eines neu entstehenden Diskurses rund um die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus, in dessen Wirkungsbereich Forschungsarbeiten entstehen, Medienberichte verfasst werden und Forderungen nach Denkmälern gestellt werden.65 Denkmäler, die an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus erinnern, werden zum einen – explizit oder implizit – immer auch thematisieren müssen, dass sich der Schweizer Staat damals nicht in allen Fällen ausreichend für den Schutz seiner Staatsbürger eingesetzt hatte. Diese staatliche Verantwortung schlägt sich dabei auch in der breit abgestützten Forderung nieder, dass (auch) ein staatliches Denkmal dieses Kapitel der historischen Auseinandersetzung verkörpern soll – auch in einem föderalen und politisch neutralen Land wie der Schweiz. Zum anderen werden diese Denkmäler die nationalsozialistischen Verbrechen auch in deren Gesamtheit thematisieren müssen, indem sie die Schweizer Opfer in einem transnationalen Kontext betrachten. Ob diese neuen Initiativen und Debatten auch einen neuen Paradigmenwechsel in der Denkmallandschaft einläuten und eine neue Kategorie von Denkmälern in der Schweiz hervorbringen werden, wird sich erst zeigen müssen. Gänzlich fremd wären diese Denkmäler der bestehenden Denkmaltopografie jedoch nicht : Schon der Stolperstein für Ernst Bärtschi in Kreuzlingen oder die Erinnerungszeichen für Maurice Bavaud erinnern an Schweizer Opfer (und Widerstandskämpfer) des Nationalsozialismus, sie waren damals aber noch nicht eingebettet in den heutigen Diskurs und das heutige Forschungsinteresse zu den Schweizer Opfern des Nationalsozialismus.66
65 2020 hat sich der Verein „Stolpersteine Schweiz“ der Aufgabe verschrieben, mittels Setzung von „Stolpersteinen“ die Erinnerung an die Schicksale von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, die zu Opfern des Nationalsozialismus wurden, wach zu halten. Zudem hat eine Arbeitsgruppe ein Konzept für ein „Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus“ verfasst, welches sie als fundierte Stoßrichtung und als inhaltliche Grundlage für die politische Initiative zur Errichtung eines Denkmals versteht. Demnach soll ein zentraler Gedenkort sowie ein umfassendes Informations- und Bildungsangebot an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus, an die Flucht- und Flüchtlingshelfer*innen, aber auch an die abgewiesenen Hilfesuchenden erinnern und sich mit der Geschichte der Schweiz in Bezug zum Nationalsozialismus auseinandersetzen. Vgl. dazu den Beitrag von Benno Tuchschmid und René Staubli sowie das Konzept der Steuerungsgruppe für ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in diesem Sammelband. 66 Gerade im Falle von Maurice Bavaud wurde Kritik an der Untätigkeit der Schweizer Behörden jedoch schon früh debattiert. Vgl. bspw. Meienberg, Es ist kalt in Brandenburg ; Urner, Der Schweizer Hitler-Attentäter.
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Die Chancen und Grenzen von Denkmälern Für Saul Friedländer ist der Holocaust „at the limits of representation“, er rührt an die Grenzen der Repräsentation.67 Die Schwierigkeit der materiellen Darstellung des Holocaust – überhaupt von Darstellungen, die in Stein gemeißelt sind – besteht darin, dass je nach Intention und Rezeption eine andere Konzeption des Holocaust – eine andere Erinnerung – entsteht. Was festgehalten wird, ist immer nur eine Erzählweise, ein möglicher Zugang zum Ereignis selbst, auserwählt aus einem Fundus an möglichen Geschichten und Ereignissen, um über Generationen zu bestehen. So findet man in den verschiedensten Gedenkstätten und Denkmälern, in allen Nationalmuseen und Archiven schließlich einen jeweils anderen Holocaust repräsentiert und James E. Young schreibt : „at times, I found no Holocaust at all.“68 Nicht nur die Auswahl der Erzählung ist selektiv und perspektivisch, auch der Zugriff darauf wird subjektiv getätigt : Der Betrachter entziffert und interpretiert das Objekt und vervollständigt es erst durch seine Deutung. Aleida Assmann bezeichnet ein Denkmal denn auch als das „steinerne Äquivalent zu einem Knoten im Taschentuch : es dient als eine Gedächtnisstütze, es hält dazu an, eine Person oder ein Ereignis nicht zu vergessen.“69 Erst die Deutung des Betrachters ist sozusagen die Vervollständigung, während das Monument selbst nur Speicher und Impulsgeber innerhalb eines Deutungsrahmens und damit Statthalter des lebendigen Gedächtnisses ist. Ein Denkmal allein kann Holocaust oder Shoah also nicht darstellen, geschweige denn erklären. Weder das unermessliche Leid noch die Schweizer Flüchtlingspolitik lassen sich in einer Skulptur oder auf einer Tafel angemessen darstellen. Zu klein ist der gegebene Raum, zu gering auch deren Beachtung. Aber Denkmäler machen sichtbar. Sie halten fest und informieren darüber, was vor Ort geschah. Sie verbinden Geschichten mit Orten und Orte mit Geschichte und machen dabei einen Ereignisort zu einem sichtbaren Erinnerungsort. Vornehmlich in den östlichen und westlichen Grenzgebieten sowie in den Wirkungs- und Wohnorten der Flüchtlingshelfer*innen reflektieren die Shoah-Denkmäler in der Schweiz die meist ortsgebundenen – aber in ihrem Charakter universal gültigen – Erinnerungen, die sie durch ihre öffentliche Präsenz kollektivieren und teilen.70 Alle zeugen sie von einer Auseinandersetzung, 67 Friedländer, Probing the Limits of Representation, S. 3. 68 Young, Writing and Rewriting the Holocaust, S. 172. 69 Assmann, „Speichern oder Erinnern ?“, S. 25. 70 In der Zentralschweiz erzählen keine Denkmäler von den Flüchtlingshelfer*innen oder der Schweizer Flüchtlingspolitik. Im Tessin finden sich – trotz der dutzenden von Internierungslagern für militärische und zivile Flüchtlinge – überraschenderweise mit Ausnahme eines Straßennamens keine Spuren von Shoah-Denkmälern. Und auch an den Nordgrenzen des Aargaus, Zürichs und Schaffhausens er-
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die auf der Ebene der Zivilbevölkerung, der politischen Gemeinde oder der Religionsgemeinde stattgefunden hat. Es sind Wegmarken, an denen man zufällig vorbeikommt, sie speichern Erinnerungen, bewahren Geschichten und sind Gedächtnisstützen in monumentaler Form. Was die einzelnen Shoah-Denkmäler in der Schweiz also leisten können, ist, die vielfältigen, flüchtigen regionalen Geschichten auszugraben und zu reflektieren. Sie können das individuelle Schicksal von Simon und Céline Zagiel-Mokobodzki vor dem Vergessen bewahren, die Zivilcourage einzelner Fluchthelfer*innen würdigen oder die Erinnerung an die geschlossenen wie auch durchlässigen Grenzen und die daraus resultierenden Konsequenzen schärfen. So erinnert die Gedenktafel an der Paul Grüninger-Brücke in Diepoldsau den Spaziergänger an die Bedeutung des Rheins als Grenze zwischen Tod und Leben, die der Fluss für Schutzsuchende einmal war. Sie ermahnt den Innehaltenden, dass nicht jeder während des Krieges Schutz und Zuflucht in der Schweiz gefunden hat und dass es Menschen gab, die sich rechtswidrig, aber ihrem Gewissen folgend für sie eingesetzt haben. Ein Denkmal kann eine Korrektur von unsichtbarer Geschichte im Raum sein. Jedes einzelne dieser Shoah-Denkmäler trägt schließlich auch das Potenzial in sich, eine Reflexion oder gar Debatten anzustoßen, die zu Einsicht, historischem Verständnis und der Formierung von Idealen führen können. Es sind Ressourcen möglicher Sinnstiftung, vorausgesetzt, die Denkmäler werden beachtet, betrachtet und kontextualisiert. Treffend schreibt der österreichische Schriftsteller Robert Musil in seinem „Nachlass zu Lebzeiten“ : „Das Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, dass man sie nicht bemerkt“.71 Menschen laufen an Tafeln und Steinen vorbei, ohne sie zu beachten, „man empfindet sie gleich einem Baum als Teil der Straßenkulisse und würde augenblicklich verwirrt stehen bleiben, wenn sie eines Morgens fehlen sollten : aber man sieht sie nie an“.72 Doch selbst wenn der Passant das Denkmal beachtet, so muss er es auch noch in seinen jeweiligen Kontext einordnen können : Nicht jeder wird Louis Häfliger als „Befreier des KZ Mauthausen“ in die Geschichte der Shoah einreihen, und nur wenige werden in Caux das Ausmaß der beherbergten Flüchtlinge kennen und damit auch die Geschichte Rudolf Kasztners verbinden. Die Tafel am Gedenkstein in Büren a.A. zu lesen bedeutet nicht gleichzeitig, auch die Bedeutung und den Umfang des ehemaligen Internierungslagers zu erkennen, und die kleine Gedenktafel für Simon und Céline Zagiel-Mokobodzki verrät noch nichts über ihre innern keine Shoah-Denkmäler an die Grenzschließung. An die Wehrmänner des Aktivdienstes wird hingegen in allen Schweizer Regionen erinnert. 71 Musil, „Denkmale“, S. 87. 72 Ebd. S. 88.
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Flucht, über ihre Abschiebung und über ihr tragisches Schicksal. Nicht wenige der Shoah-Denkmäler sind – wie die meisten Denkmäler – codiert und erschließen sich uns erst, wenn wir sie in ihre Geschichte einbetten. Post-Shoah-Generationen können, so Andreas Huyssen, den Zugang zum Schrecken der Shoah denn auch nur durch eine „mimetische Annäherung“ erreichen, die dann in Gang gesetzt werden kann, wenn der Betrachter eines Shoah-Denkmals dieses mit verwandten Diskursen verbindet, „die im Innern des Betrachters und in der öffentlichen Sphäre ablaufen“.73 Die in jüngster Zeit ergriffenen Initiativen, mit Denkmälern auch an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus erinnern zu wollen, werden – um erkenntnisstiftend zu sein – in öffentliche Diskurse und neue zeitgenössische Debatten rund um heutige Formen von Ausgrenzung und Zivilcourage oder um staatliche Verantwortlichkeiten eingebettet werden müssen. So, wie die Gedenktafeln zu Ehren der Flucht- und Flüchtlingshelfer*innen oder wie die Skulpturen in Anklage an die Schweizer Flüchtlingspolitik Erben der Diskurse der 1990er- und frühen 2000er-Jahre waren, so werden Stolpersteine oder ein eidgenössischer Gedenkort vielleicht in Zukunft Abbilder einer aufrichtigen Erinnerung an die eigenen Opfer, wie auch Sinnbilder für die universelle Einsicht sein, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht an Landesgrenzen Halt machen, sondern transnational nach Verantwortungsübernahme, humanitärer Beherztheit und einem kontinuierlichen „Nie wieder !“ schreien und damit auch die Schweiz angehen.
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NARRATIVE DER HILFE, RETTUNG UND OHNMACHT NARRATIVES OF HELP, RESCUE AND POWERLESSNESS Viele Protagonisten, die als Retter von Leben für Zivilcourage und Menschlichkeit stehen, sind heute zu hochgeachteten Ikonen geworden, andere wiederum erscheinen eher marginalisiert oder gar verdrängt worden zu sein. Besonders das Narrativ des Diplomaten oder des Polizeichefs als Retter ist offenkundig in neutralen Staaten, die sich einst in den nationalsozialistischen Machtbereich verstrickt sahen, zu einem hohen Stellenwert avanciert. Abhängig von der jeweils in den verschiedenen Staaten und Gesellschaften unterschiedlichen Rezeption zeigt sich, dass „verspätete“ Erinnerung von Retterinnen und Rettern ein grenzüberschreitendes Phänomen ist. Erinnerungspolitisch bedarf es hoher Kunst, die Ehrung dieser Schutzgebenden in Übereinstimmung mit der Ehrung der Opfer und Überlebenden zu halten, ohne letztere in eine objektbehaftete Funktion zu designieren oder sie gar aus dem nationalen Geschichtsnarrativ zu verbannen. Dies gilt erst recht angesichts der Namenlosigkeit von vielen Ermordeten, die einst nur mithilfe von nationalen bzw. lokalen Polizeikräften, die mit den deutschen Besatzern kollaborierten, deportiert wurden. Die Hinnahme des Unrechts und das Schweigen darüber ist Gegenstand der historischen Aufarbeitung, wird aber immer noch ungern oder, im Gegenteil, mit knirschender Kritik gesagt. Doch erst durch das Gedenken an die Opfer kommt der Konnex von Hilfe, Rettung und Ohnmacht angemessen zum Ausdruck. Many protagonists who stand for civil courage and humanity as saviours of life have become highly respected icons today, while others seem to have been marginalised or even suppressed. Especially the narrative of the diplomat or the police chief as saviour has obviously become highly valued in neutral states that once felt entangled in the National Socialist sphere of power. Depending on the different reception in the various states and societies, it becomes apparent that “delayed” remembrance of rescuers is a cross-border phenomenon. In terms of remembrance policy, there is a need for a high level of art in keeping the honouring of those who gave protection in line with the honouring of victims and survivors, without designating the latter as objects or even banning them from the national historical narrative. This is all the more true in view of the namelessness of many murdered people who were once deported only with the help of national or local police forces who collaborated with the German occupying forces. The acceptance of injustice and the silence about it is the subject of historical reappraisal. But it is still said
reluctantly or, on the contrary, with crunching criticism. Though, it is only through the commemoration of the victims that the connection between help, rescue and powerlessness is adequately expressed.
Sara Kviat Bloch
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Während der deutschen Besatzung entgingen fast alle dänischen Juden der Deportation, indem sie auf dem Seeweg ins benachbarte Schweden flohen. Die Rettung der dänischen Juden ist als Sinnbild für nationalen Zusammenhalt und Widerstand Teil der dänischen Geschichte geworden. Das Narrativ der Rettung wird jedoch ständig angepasst. Der Diskurs des kulturellen Gedächtnisses umfasst inzwischen auch den Holocaust, da sich der Schwerpunkt von den Rettern auf die Überlebenden verlagert hat. Denkmäler, visuelle Medienproduktionen und Gedenkveranstaltungen zeugen von diesem Prozess. The Endlösung in Denmark was planned for the night of October 1, 1943. It was a Friday evening, the last day of Rosh Hashana, the Jewish New Year, when Jewish families were expected to gather at home. At 9 pm all the phone lines in Copenhagen were cut. A series of trucks roamed the streets, manned by German police prepared with address lists of the city’s Jews, stolen from the Jewish community office several weeks earlier. But when the Germans came knocking on the front doors of the Jewish homes in Copenhagen that evening, they were not home. News of the planned Aktion had leaked just in time. The ship Wartheland, waiting in the harbor ready to transport arrested Jews to Germany, did not fill up with the estimated 7000 Jews. By evening the next day, 282 Jews had been rounded-up. In the following weeks, another two hundred were seized and altogether 472 Jews were deported from Denmark to Theresienstadt. Of the Jews arrested, 53 died in the camp. The surviving inmates were rescued in April and May 1945, through Swedish-Danish cooperation, and brought to Sweden. During their imprisonment the Danish Jews had received packages of food and other essentials from Denmark and their survival was in large part due to official Danish demands that they not be deported to camps in the East. All the rest of the Jews in Denmark, close to 7800 men, women and children, had managed to hide and during the following days and weeks flee occupied Denmark to safety in Sweden across the sea where they remained till the end of the war.1 The warning was the result of complex political tactics, involving among others Georg Ferdinand Duckwitz, maritime expert at the German legation in Copenhagen. At first, Jews scrambled to find hiding places with Christian neighbors, colleagues or 1 Cf. Sode-Madsen, “Føreren har befalet” ; Kirchhoff, Nyt lys over oktober 43.
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acquaintance and within days Jews were arriving on fishing boats in Swedish harbors. The resistance movement played an important part in the organization of the large-scale operation, but much was improvised and involved spontaneous help from clergy, hospital staff, students and many ordinary people with no prior experience with active resistance or clandestine operations. The rescue of the Danish Jews, as these events became known, was remarkable on many counts. In the Holocaust, it was the exception that proved the rule, and it seemed to hold the answer to the questions that troubled historians and everyone else struggling to comprehend the genocide : How could it have happened ? Or put the other way around : Why did it not happen in Denmark ? This essay does not offer an attempt to answer these questions. Instead, the following offers an overview of how the story of these events, in Denmark most often referred to simply as “October 43”, lived on in official history and cultural memory. The story of the rescue of the Jews has been told frequently and remains an active memory in Denmark. Until very recently, however, the Holocaust as such was not part of that cultural memory. The place of October 43 in public discourse has shifted several times since the end of the war. In regard to public monuments and memorials, Bjarke Følner has identified three distinct stages which can be adapted to account for the wider memorial culture.2 The first stage in the immediate post-war years is characterized by a dominant narrative of national alliance and resistance against foreign occupation. The survival of the Jews is rarely singled out for attention. This narrative gives way to the second stage in which Denmark emerges as a “light in the darkness,” as the one exceptional country in Nazi occupied Europe where nearly all Jews were saved. Jews play an important, albeit passive, role in this miraculous tale. This second version is prominent between the 1960s and the 1980s and gains widespread, international acceptance. Finally, since the end of the Cold War, the myth has been revisited, challenged and adjusted in a third stage. Jewish survivors have claimed their voices as agents, and escape has replaced rescue as the common reference term.3 The political and historical background surrounding the events of October 43 is key to understanding them and thereby understanding how they came to be remembered. A combination of factors made the escape possible : the close proximity of neutral Sweden, the relatively small number of Jews in the country, most of whom lived in Copenhagen, and no significant prehistory of anti-Semitism were all necessary, but not sufficient, conditions for a successful rescue. In Norway, with similar conditions, history took a very different cause. It is important to recall, however, that in occupied 2 Følner “Mindesmærker og erindringskultur”. 3 Bak, “From Rescue to Escape in 1943.”
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Europe, Denmark was not typical. When Denmark was attacked by German troops on April 9, 1940 the country offered no real military resistance and entered a collaboration with the occupying forces which left the government more or less intact. The peaceful occupation, the so called “model-protectorate”, safeguarded Denmark’s democratic institutions and internal affairs. And in this fraught political environment, Danish authorities refused to impose any restrictions on the rights of Jewish citizens. In fact, the situation of the Jews was repeatedly brought up in negotiations with the occupying power : Danish politicians argued that any compromise regarding the status of Jews would undermine the government’s legitimacy in the population and lead to resistance and hence to collapse of the cooperation. As the German military were increasingly challenged on several battle fronts in the summer of 1943, strikes and acts of sabotage against the occupying power carried out by the resistance movement intensified. When the German representatives demanded the introduction of martial law to halt the sabotage, the Danish government refused and ended the cooperation in protest. On August 29, the Wehrmacht disarmed the Danish forces and the government resigned. The protection of the Jews was no longer a bargaining point, and, as it happened, Werner Best, the German plenipotentiary in Denmark, did not hesitate long before initiating the persecution of the Jews. Up until the raids in October 1943, Jews had not suffered legal discrimination, forced resettlements or isolation, and had not been made to wear a yellow star.4 Danish Jews were, in every respect, still Danish, and were actively included in the project of uniting the nation in the face of foreign occupation. The end of cooperation meant uncertainty and restrictions, but also marked the end of an at times humiliating and unheroic balancing act. When word spread about the upcoming raid on the Jews, it became a rallying cry for the growing resistance movement. For some, the rescue of the Jews conveyed an act of resistance and a sign of the commitment to uphold the inalienable rights of all citizens. This ethos is strongly expressed in the pastoral letter which the Bishop of Copenhagen Hans Fuglsang-Damsgaard wrote on the eve of the Aktion. The letter is a protest against any persecution of Jews and insists that it is the obligation of all Danes as Christians to “fight for that our Jewish brothers and sisters retain the same freedom that we value more than life itself.”5 The letter was sent to the German legation and to all church ministries and was read aloud from church pulpits all over the country on Sunday, October 3, 1943. 4 The legend of King Christian wearing the yellow star has a long history. The film version of Leon Uris’ bestselling novel Exodus (United Artists 1960) did much to proliferate the legend. Cf. Vilhjálmur Örn Vilhjálmsson, “Christian X og jøderne“. 5 Glenthøj, Kirkelige dokumenter fra besættelsestiden.
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Bo Lidegaard, in his recent monograph on the escape of the Jews, finds that the undisputed position of Jews as fellow citizens is the critical factor in explaining their rescue. Lidegaard concludes : “The Danish Jews were protected by their compatriots’ consistent engagement.”6 Lidegaard’s position is phrased squarely in the one-word title of his work Countrymen, but this somewhat simplistic view is curiously anachronistic. In the immediate postwar period and well into the 1960s, however, this aspect constituted the central framework of the official story. The rescue of the Jews was submerged within a larger narrative of active resistance and national cohesion that had little to do with the Holocaust or even anti-Semitism. The narrative of the national cohesion also conveniently left out the circumstances surrounding the internment of Danish communists in 1941. The members of the resistance movement, sometimes expanded to include the fishermen, became heroic agents in a tale of patriotism and freedom that nearly erased the role of the Jews. Protecting national interests, including retrospectively securing Denmark’s position among the Allied states, was the imperative in official memorial culture. Not a single of the monuments which were erected in the 1940s and 1950s mention Jewish refugees.7 Any direct reference to the dramatic events of October 43 is omitted, and instead the illegal escape routes to Sweden, which also came to serve members of the resistance, are memorialized more generally. Focus is on the resistance fighters as well as on the role of Sweden, as in the inscription on the memorial in Tuborg harbor, erected in 1948 with the following words : “In memory of those who gave their lives to save countrymen and keep Denmark open in the years 1940–1945 this stone is erected on this coast whence thousands of Danes were brought to safety in Sweden.” In the extensive memoir literature, however, written in the aftermath of the war, the rescue of the Jews is a popular theme, but the story is seldom told from the perspective of the Jews. Aage Bertelsen’s widely received October 43 which first appeared in 1952 is written from the perspective of the resistance movement and portrays its leaders as decent and resourceful men and women while the Jewish refugees who were the protagonists of the rescue are nearly absent.8 The Jewish community did not challenge the official narrative. Marked by a strong sense of gratitude, coupled with an equally strong feeling of survivor’s guilt in light of the devastating loss and incomparable suffering of fellow Jews in other parts of Europe, Danish Jews did not express
6 Lidegaard, Countrymen, p. 353. 7 Følner “Mindesmærker og erindringskultur”, p. 213f ; Anders Bjørnvad in his catalogue of World War II monuments in Denmark does not list the escape of the Jews as a separate entry or category, see Bjørnvad, Krigens Monumenter. 8 Bertelsen, Oktober 43.
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a need to draw public attention to their exceptional situation. To mourn those who perished in Theresienstadt, a monument was raised on the Jewish cemetery in Copenhagen in September 1946, but the story of the escape to Sweden remained largely a private recollection. It is telling that 70 written accounts by Jews who each wrote of their personal escape experience, collected by the historian Ole Barfoed in the mid1950s, went unpublished at the time. This collection of testimonies was finally edited and published on the occasion of the fiftieth anniversary in 1993.9 In the 1960s as awareness of the Holocaust increased, the survival of the Jews of Denmark took on a new significance, in Denmark, but perhaps more urgently, in the United States and in Israel.10 When Yad Vashem began bestowing Righteous Among the Nations-awards in 1963, Denmark was recognized on the Avenue of the Righteous with no less than three trees : One for King Christian X, one for the Danish resistance movement, and one for the people of Denmark, the only such award given to an entire nation. The resistance movement specifically requested that individuals not be honored by name. This unusual choice may have incidentally contributed to the growing prominence of what was perceived as the Danish exception : a country whose entire people had risked their lives to help Jews.11 That same year the foundation “Thanks to the Danes” (later renamed “Thanks to Scandinavia”) was established in New York.12 The foundation still exists and provides scholarship for students in gratitude to the heroic acts of rescuers. In 1966 a fishing boat that had been used during the escape was shipped to Israel and placed as a monument at the newly founded Denmark School in Haifa.13 This was the first of several such boat memorials now in place in several museums in Denmark, Israel and the United States. During this period no monument by Danish initiative was raised in memory of the rescue of the Jews, save a small memorial plaque placed in 1979 at the former residence of Georg F. Duckwitz. The building now houses the local Lygnby-Taarbæk town archives on whose initiative the plaque was dedicated to Duckwitz’ efforts in the rescue of the Jews.14 In scholarship, too, the impetus came from abroad : The first sustained historical research on the escape was conducted by an Israeli historian, Leni Yahil. Her monograph The Rescue of Danish Jewry. Test of a Democracy based on her doctoral dissertation was published in English and in Danish in 1969 and remained the standard 9 Blüdnikow and Rothstein, Dage i oktober 43. 10 See Novick, The Holocaust in American Life. 11 See https://www.yadvashem.org/righteous/statistics.html, last accessed 27.03.2020 12 See http://www.thankstoscandinavia.org/about-us/history/, last accessed 27.03.2020 13 For the image of the Danish rescue in Israel, see also Orna Keren-Carmel, Like lambs to the rescue. 14 Følner “Mindesmærker og erindringskultur”, p. 230–231.
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reference work for decades.15 Yahil’s focus as a historian was on perpetrators and rescuers, rarely addressing the role played by the Jewish refugees themselves. Yahil identified numerous contributing factors in the successful rescue of the Jews, and besides demographic and political factors, she singled out the particular character of the Danish people and their love of freedom and democracy as a decisive motivation. The somewhat idealistic view propagated by Yahil played into the „light in the darkness“-narrative, perhaps fulfilling the need for an edifying tale restoring the belief in human decency.16 As James E. Young has noted with respect to literature : “It is almost as if violent events – perceived as aberrations or ruptures in the cultural continuum – demand their retelling, their narration, back into traditions and structures they would otherwise defy.”17 As a story combining elements of resistance and rescue, the Danish example could be told in a way that lent itself to a restorative, if not outright redemptive, perspective. The international attention did not do much to affect collective memory in Denmark. The escape of the Jews was not considered part of the larger history of the Holocaust, but was viewed in a narrow, national context. A certain modesty can be observed with respect to the heroic narrative exemplified in the refusal of the resistance movement to honor individuals mentioned above. Typical of this sentiment is the discussion that ensued when the widow of the American sculptural artist Bernhard Reder presented his monument Wounded Woman as a gift to the Danish people in gratitude for the rescue of the Jews. The gift was met with some resistance on the grounds that there was neither a need for memorialization or statues, nor was it in accord with historical accuracy that the entire people had been willing to help. The sculpture was in the end accepted and placed in the garden of the Freedom Museum.18 The reluctance stemmed from the wish to avoid uncalled for attribution of heroism when many Danes, including those who had been active in the resistance, felt that their actions during the war were nothing but ordinary reactions to an extraordinary situation. But by hesitating to engage in the idealized narrative, the Danish public discourse also avoided a sometimes uncomfortable confrontation with controversial and potentially less honorable aspects of the story. One of the catalysts for a change in the perception of history was the arrival of Polish Jews in Denmark. During a wave of anti-Semitism that swept through Polish 15 Yahil, The Rescue of Danish Jewry. The Hebrew edition came out in 1967. 16 While Yahil adapted her initial analysis in later works, the metaphor of light and darkness stayed, see Yahil, The Holocaust, p. 574. For a philosophical consideration of this motif, see Brudholm, “A Light in the Darkness ?” 17 Young, Writing and Rewriting the Holocaust, p. 15 18 Følner “Mindesmærker og erindringskultur”, p. 225–227.
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society in the late 1960s, close to 3000 Jews were granted asylum as political refugees in Denmark. The Polish Jews brought with them very different, and often painful, recollections of the Holocaust and, while mostly secular, they were outspoken about their trauma and their need to mourn lost relatives and communities within a Jewish framework. The established Jewish community in Copenhagen did not initially support the wish for a Holocaust monument, but after years of discussions eventually relented. In 1989 a monument to the six million Jewish victims of the Holocaust was revealed in the synagogue courtyard on the anniversary of the Warsaw Ghetto uprising. The presence of Jews with roots in Poland made it increasingly difficult to insist on an insular version of history in which the rescue of the Danish Jews was not only a unique event but was also viewed detached from the Holocaust. Simultaneously, new directions in scholarship were brought about by the contributions of a new generation of historians, born after the war, who took to the archives without reservations and who were international in outlook through their academic training. Potentially controversial themes such as the perception of actual risk among rescuers and the sensitive question of large payments made to fishermen by Jews received renewed interest. And a complete new set of questions was now being addressed for the first time, chiefly among them the fate of Jewish refugees seeking entry to Denmark prior to the outbreak of war.19 All of these tendencies – internationalization of local history, the willingness to confront uncomfortable effects of the policy of cooperation, examination of the intentions of rescuers – converge in the perhaps most groundbreaking aspect of the post cold-war stage of memorial culture : the acute attention to survivors and their personal memories. The realization that the last generation of survivors would soon disappear coupled with the recognition of the relevance of oral history in historical research laid the grounds for important efforts to collect survivors’ testimonies and integrate these findings into the official narrative. The diverging of interest from rescuers to survivors accentuated the discursive move from rescue to escape, allowing for the agency of Jews to enter the narrative. The Danish Jewish Museum has developed into an important center for this line of research. The museum opened in 2004 and is itself a monument to the rescue. Built by architect Daniel Liebeskind, the museum was designed by the architect around the Hebrew word Mitzvah as “guiding light”, or as a conceptual gesture that displays “its deep ethical meaning as a commandment, resolve and a fundamental good deed.”20 19 See Blüdnikow, Som om de slet ikke eksisterede ; Rünitz, Danmark og de jødiske flygtninge 1933–1940. 20 Liebeskind, „Mitzvah – The Danish Jewish Museum, Copenhagen”. https://jewmus.dk/en/architecture/, last accessed : 27.03.2020.
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Fig. 1 : “Foden” (the foot) by Peter Brandes (born 1944) was erected in 1994 in Tuborg Havn. It is one of the first monuments raised on Danish initiative commemorating the escape of the Jews. Brandes’s father escaped from Tuborg harbour in 1943 and the sculpture serves as a symbol of the refugee. Photo : Paul Jacobsen
The floor boards of the museum walkways are wooden planks, slightly askew to imitate the feeling of an unsteady boat deck. The tangible and somewhat eerie effect leaves an impression with visitors, even when unaware of the floorplan forming the letters of the Hebrew word. Under the supervision of historian Sofie Lene Bak research based on survivors’ testimonies has made significant inroads into a more nuanced understanding of the Holocaust in Denmark. Among other fields, this research has uncovered the plight of abandoned children. About 20 percent of Jewish children aged five or younger were left in Denmark by their parents during the escape. Most families were reunited after the war, but the pain of separation and abandonment lingered. For decades dismissed as “Nothing to speak of ” as Sofie Lene Bak has aptly titled a book devoted to oral histories, these stories now surface and disturb the romantic picture of the escape.21 The return of the refugees after the war is another area of research which had previously been neglected and with the help of oral history has received new recognition. The story of the return of the Jewish refugees, to the extent that it had been told at all,22 was recalled as a model of successful reintegration. New research on the one hand confirms the unusually generous circumstances which met the returning Jews, 21 Bak, Ikke noget at tale om. 22 See Andrew Buckser’s remarks in After the rescue, p. 47.
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including welcoming assistance and significant public funds, and on the other hand complicates the story by pointing to the economic hardships, family traumas and conflicts that befell the post-war Jewish community.23 The shift in emphasis is evident in both scholarship and memorial culture. Danish Jewish survivors have increasingly taken on a public identity as Holocaust survivors and to some extent as victims. In 2008 Theresienstadtforeningen, the association of Danish survivors of Theresienstadt, raised a monument on the Langelinie quay, the point of their deportation onboard the ship Wartheland. Unlike the earlier monument placed on the Jewish cemetery, this memorial is a visible public reminder of a different, more troubled, story of October 43. The hold on the imagination in cultural memory is profound, the myth of October 43 is an indispensable part of national history. Matador, an enormously popular television series recounting life in a small town through two generations, first aired in the late 1970s and early 1980s and devoted one whole episode to the rescue.24 The dramatic story is told from the viewpoint of the rescuers. A couple of members of the local resistance are aided by the spontaneous assistance of one of the series’ protagonists, an otherwise reserved and selfish bank director’s wife who rises to the occasion. The rescuers work together across class lines for the good cause. The Jewish character is hidden and escorted to a secret meeting point where an opportunity to sail to Sweden presumably awaits him. The episode ends with a report of his safe arrival. Matador’s version is emblematic of its time : The rescue was a dangerous, but successful endeavor which brought out the best in people and if anything strengthened group identity. The experience of the refugees is but a subplot, the exile in Sweden and the return after the war are left out. Matador has aired on television seven times since its premiere, most recently in 2017, and when it was released as a DVD set more than three million copies were sold. It is safe to say that this particular retelling of the escape of the Jews is one of the most ubiquitous in Danish popular culture and one that was firmly set within the discursive framework of rescue and national history. Interest in the events surrounding the escape in the general population is not waning, with every anniversary the event seems to grow in magnitude. The program surrounding the 75th anniversary in 2019 was expansive, including a live transmission on national television of the memorial service in the great synagogue in Copenhagen in the presence of the Crown Prince, the Prime minister, and the President of Israel, inauguration of new monuments in different parts of the country, exhibitions, concerts, dramatic reenactments and publications of scholarly as well as more popular 23 Bak, Da krigen var forbi. 24 Balling, Matador.
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books and educational materials. On the heels of the anniversary a remarkable documentary by Benjamin Fischermann Krigen der splittede min familie (The war that tore my family apart) premiered on Danish national television.25 The documentary feature is the account of the director’s own family and their experience during the Holocaust and the continuing repercussions of the wartime trials in the lives of the surviving family members. Fischermann’s great grandfather and one uncle drowned in a fatal attempt at crossing the sea. One aunt managed to get safely to Sweden. The rest of the family, the director’s great grandmother and four children, were deported to Theresienstadt. One of these children was his grandfather, the youngest of the six siblings. After the war, the surviving family was reunited, but soon disintegrated amid guilt, depressions and conflicts. The documentary recounts the trauma that haunted the family and led the director’s grandfather to break off all contact with his siblings. The four remaining siblings are all interviewed in the film and given an opportunity to talk about their painful past and its consequences. The director manages to prompt a meeting between the oldest sister and her estranged youngest brother. She passed away shortly after the reunion, but even after her funeral, the siblings do not find closure and the viewer is left with the impression that the director’s grandfather will not resume relations with his brothers. The documentary captures several aspects of October 43 that were long silenced : not all Jews were rescued, not all survived and even those who survived continue to live with the traumas. In the history of the Holocaust, this is not unusual, but in Denmark, for a very long time, the story being told was a different one. The documentary marks a significant departure from the idealized narrative that had prevailed in popular culture. The historians who have revisited the myth by adding nuance and giving voice to survivors’ memories have showed that the myth of the Danish exception in many ways hold up, albeit in a richer and perhaps darker vein. The discussion about how to tell the story of the Holocaust in Denmark, among scholars and in society as a whole, is still open to new interpretations and continues to change.
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Sode-Madsen, Hans (ed.). “Føreren har befalet” Jødeaktionen oktober 1943. Copenhagen : Samleren, 1993. Vilhjálmsson, Vilhjálmur Örn. “Christian X og jøderne. Hovedrolleindehavere i dansk krigs propaganda. Rambam 19 (2010), p. 68–85. Yahil, Leni. The Rescue of Danish Jewry, Test of a Democracy. Philadelphia : Jewish Publication Society of America, 1969. Yahil, Leni. The Holocaust : The Fate of European Jewry, 1932–1945. Oxford : Oxford University Press, 1990. Young, James E. Writing and Rewriting the Holocaust : Narrative and the Consequences of Interpretation. Bloomington : Indiana University Press, 1988.
Helena Kanyar Becker
Unsichtbare Helferinnen ? In Erinnerung an fast alltägliche Frauen In addition to some prominent Swiss refugee helpers, it was mainly women who had worked in Switzerland during the Second World War to help the persecuted and disenfranchised – including many children. The memory of them has so far been insufficiently honored. Until the 1980s, their stories and deeds were almost completely suppressed. This contribution gives them back their memory. Neben einigen prominenten Schweizer Flüchtlings-Helfern und -Helferinnen waren es vor allem Frauen, die sich in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges für Verfolgte und Entrechtete – darunter viele Kinder – eingesetzt hatten. Sie sammelten Geld, suchten nach Ferienplätzen, Pflegefamilien und Rettungstransporten. Ihre Hilfsaktionen beschränkten sich dabei nicht nur auf das Gebiet der Schweiz, auch in Südfrankreich oder Spanien wirkten die Schweizerinnen gemäß ihrem humanitären Selbstverständnis. Als Fluchthelferinnen folgten sie ihrem Gewissen – und machten sich strafbar. Die Erinnerung an dieses humanitäre Engagement setzt jedoch bereits mit der Geschichte des Ersten Weltkrieges ein und ist in eine langjährige Tradition eingebunden. Einige der heute bestehenden Schweizer Hilfswerke gründen auf dem Engagement dieser Frauen und haben ihre Wurzeln in den damals errichteten Vereinen und Hilfsorganisationen. Die Erinnerung an sie ist bislang nur unzureichend gewürdigt worden. Bis in die 1980er-Jahre hinein wurden ihre Geschichten und Taten fast gänzlich verschwiegen. Was wir an Ehrungen aber auffinden, sind Straßennamen und Ehrendoktorate, Medaillen und Ritterwürden. Als „Gerechte unter den Völkern“ fanden einige der vergessenen Helferinnen in Yad Vashem Würdigung und Öffentlichkeit.
Kinderzüge Die Anfänge der Schweizer Kinderhilfe sind identisch mit der Entstehung der Flüchtlingshilfe im Ersten Weltkrieg : Die Deutschen transportierten die vertriebene Bevölkerung aus den Kampfgebieten in Nordfrankreich mit Zügen an die Schweizer Grenze, zuerst nach Schaffhausen, ab 1917 auch nach Basel. Da die Männer an der
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Front oder in Gefangenschaft waren, fanden vor allem Frauen, Kinder und ältere Leute Unterstützung und Rettung. In der Schweiz wurden sie verpflegt, verarztet, bekleidet und nach Genf gebracht, von wo sie nach Frankreich geleitet wurden. Die Schweiz verstand sich als ein Transitland. Da ein Mangel an Flüchtlingsbetreuerinnen und -betreuern herrschte, reiste die Krankenschwester Mathilde Paravicini fast jeden Nachmittag mit der Bahn von Basel nach Schaffhausen, am Vormittag unterrichtete sie junge Frauen in Nähkursen. Sie hatte ihre Schneiderinnenlehre in Paris absolviert und beherrschte das Französische. Als gute Organisatorin gehörte sie zu den Stützen der Flüchtlingshilfe in Schaffhausen, in Basel war sie Teamleiterin der freiwilligen Helferinnen und Helfer. Ab Sommer 1917 begann Mathilde Paravicini mit den sogenannten Kinderzügen die erschöpften und kranken Schweizer Auslandskinder für einige Ferienwochen in die Schweiz zu bringen. Sie erholten sich in Privatfamilien oder Ferienlagern und Bergsanatorien. Paravicini initiierte auch die Gründung des Vereins Schweizerhilfe, Ferienaktion für Auslandschweizerkinder (1918).1 Für ihren Einsatz für die Flüchtlinge, Verwundeten und Gefangenen wurde Mathilde Paravicini schon nach dem Ersten Weltkrieg von der französischen Regierung die Ritterwürde der Ehrenlegion überreicht. Zudem wurde sie als ein Symbol der Barmherzigkeit im Zentrum des Franzosendenkmals an der Fäsenstaubpromenade in Schaffhausen dargestellt (1922).2 Nach Kriegsende begann sie mit der Stiftung Pro Juventute zusammenzuarbeiten und begleitete Züge mit Tausenden Kindern aus ganz Europa zur Erholung in die Schweiz. Die Erholungsbedürftigen waren zumeist deutsche und österreichische Emigrantenkinder aus Paris, die dorthin nach der nationalsozialistischen Macht übernahme von 1933 mit ihren Familien auswanderten. Nettie Sutro, die Leiterin des Schweizerischen Hilfswerks für Emigrantenkinder (SHEK), erinnerte sich, dass Mathilde Paravicini aus Paris 1934–1939 ca. 5000 Emigrantenkinder zur dreimonatigen Erholung in die Schweiz bringen konnte.3 Während der Weltwirtschaftskrise holten die Sozialdemokratinnen im Jahr 1931 Kinder aus arbeitslosen Familien in Österreich für Erholungsferien in die Schweiz. Sie gründeten 1932 die Dachorganisation Proletarische Hilfe, die ein Jahr später zur Arbeiterhilfe der Schweiz mutierte und die Grundlage für das Arbeiterhilfswerk (SAH, 1936) bildete. Die Sekretärin dieser Hilfswerke, die Pädagogin Regina Kägi-Fuchs1 Kanyar Becker, Pionierin der Kinderzüge, S. 13 ; Kanyar Becker, Vergessene Frauen, S. 25–26. 2 Das Denkmal vom Pariser Bildhauer Paul Landovsky wurde am 22.2.1922 vom französischen Minister Emile Ogier und General Paul Pau feierlich eingeweiht. Die Stadt Schaffhausen wurde mit der Medaille de vermeil de la reconnaisance für die Betreuung von 286.000 Flüchtlingen ausgezeichnet. Vgl dazu : Kanyar Becker, Vergessene Frauen, S. 19–23 ; Kanyar Becker, Pionierin der Kinderzüge, S. 127. 3 Sutro, Jugend auf der Flucht 1933–1948, S. 41f.
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mann, half bei der Suche der ersten Ferienplätze für Emigrantenkinder aus Paris, bevor das SHEK sein eigenes System der sogenannten Pateneltern aufbauen konnte.
Hilfe in Spanien Regina Kägi-Fuchsmann spielte ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung der Aktivitäten der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder (SAS), die im Februar 1937 aus 14 Organisationen entstand und im spanischen Bürgerkrieg als Ayuda Suiza bekannt wurde. Da die offizielle Politik der neutralen Schweiz mit den faschistischen Aufständischen sympathisierte, konnte sich das Hilfswerk nur auf die „unschuldigen Opfer“, auf Kinder und Jugendliche konzentrieren. Der Berner Mathematiker Rodolfo Olgiati, Sekretär der pazifistischen Organisation Internationaler Zivildienst (Service Civil International, SCI), erarbeitete eine neue Hilfsstrategie. Anstatt die Kinder zur Erholung zu bringen, sollte ihnen vor Ort geholfen werden. Im April 1937 fuhren die ersten Lastwagen mit Hilfsgütern aus der Schweiz nach Spanien. Die Camions trugen symbolische Namen wie Dufour, Dunant, Pestalozzi, Zwingli, Wilson und Nansen. Ihre Konstruktion entwarf der Zivildienstler Karl Ketterer : An die Front wurden Lebensmittel, Medikamente, Kleider, Schuhe und Verbandsmaterial transportiert, während der Rückfahrt saßen auf Klappbänken Frauen, Kinder, Kranke und alte Leute. Nicht nur Ketterer, auch die anderen Fahrer waren Zivildienstler. In Spanien engagierten sich vier Schweizerinnen : die Krankenschwester Elsbeth Kasser und die Lehrerinnen Elisabeth (Bethli) Eidenbenz, Ruth von Wild und Irma Schneider. Sie leiteten die Milch- und Suppenküchen (die sogenannten Kantinen) in Madrid und Barcelona, sowie Kinder- und Mutterheime (genannt Kolonien).
Flucht nach Südfrankreich Nach dem Sieg von General Franco fuhren Rodolfo Olgiati, Karl Ketterer und Ruth von Wild katalanische und spanische Kinder mit den Lastwagen nach Südfrankreich.4 Im Winter 1939 flüchteten aus Spanien während der sogenannten Retirada ca. 500.000 Männer, Frauen und Kinder. Einige kehrten zurück, nur wenigen gelang es in die USA oder die UdSSR auszuwandern. Die meisten blieben in Südfrank4 Weil, „Regina Kägi-Fuchsmann“ ; Schmid-Ackeret, „Elsbeth Kasser“ ; Puéchavy, „Ruth von Wild“ ; Kanyar Becker, „Elisabeth Eidenbenz“ ; Bohny, Unvergessene Geschichten, S. 11–13 ; Schmidlin, Eine andere Schweiz, S. 55–121.
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reich, wo etwa 100 Sammellager eingerichtet wurden. Dort litten sie unter Hunger, Krankheiten und Ungeziefer. Die schweizerischen Helfer und Helferinnen brachten Erfahrungen aus Spanien mit. Sie richteten eine Zentrale in Toulouse ein, von wo aus sie Hilfsgüter verteilten. Täglich starteten ihre Lastwagen, die für ca. 8000 Kinder Milch und Zusatzmahlzeiten lieferten. Von Toulouse aus wurde die Kinderhilfe von dem SAS-Delegierten Maurice Dubois und seiner Frau Ellenor Imbelli, einer amerikanischen Quäkerin, geleitet. Dubois koordinierte die Tätigkeiten der etwa 40 freiwilligen Mitarbeitenden, die ähnlich wie in Spanien zehn Kinderheime (Kolonien), zwei Kleinkinderheime (Pouponnières) und ein Mütterheim (Maternité) sowie Kantinen einrichteten. Im Januar 1940 wurde die SAS vom Dachverein Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK) abgelöst, der aus 22 Organisationen entstand. Olgiati blieb Zentralsekretär, für die Finanzierung des SAK sorgte Kägi-Fuchsmann.5
Kinderzüge rollen weiter Nach der Gründung der SAK organisierte das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) keine Kinderzüge mehr, diese Aufgabe übernahm von nun an die Dachorganisation. Seit Kriegsbeginn durften sich die jüdischen Kinder nicht mehr in der Schweiz erholen und Mathilde Paravicini begann, französische Kinder ins Land zu bringen. Diese wurden in der „freien“ und in den besetzten Zonen ausgewählt – vor allem Kinder aus arbeitslosen oder verfolgten Familien, deren Eltern in Gefängnissen oder Konzentrationslagern eingekerkert waren. Für die dreimonatigen Ferien reisten bis zu 1000 Kinder mit einem Zug in die Schweiz. Paravicini beschrieb in einem Bericht die anstrengende Organisation, die Zusammenarbeit mit den Ärzten, Krankenschwestern und vor allem mit den freiwilligen Betreuerinnen (sogenannten Convoyeuses). Sehr eindrucksvoll sind die Passagen über die verängstigten und verletzten Kinder aus der besetzten Zone. Paravicini arbeitete auch für das Schweizerische Rote Kreuz, das auf die Empfehlung des Bundesrats Ende 1941 mit der SAK zur SRK, Kinderhilfe (SRK, Kh) fusionierte. Nach der Besetzung Vichy-Frankreichs am 11. November 1942 verboten die Nationalsozialisten die Kinderzüge. Die nächsten begannen erst wieder im Dezember 1944 zu rollen. Während dieser Zwangspause konzentrierte sich Mathilde Paravicini auf die Flüchtlings- und Kinderhilfe in der 5 Kanyar Becker, Vergessene Frauen, S. 12, 31f.; Weil, „Regina Kägi-Fuchsmann“ ; Puéchavy, „Ruth von Wild“ ; Kanyar Becker, „Elisabeth Eidenbenz“ ; Bohny, Unvergessene Geschichten, S. 13–15 ; Schmidlin, Eine andere Schweiz, S. 123f.
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Schweiz. Sie wurde als erste Frau von der Universität Basel 1942 mit einem Doctor honoris causa geehrt, die französische Regierung zeichnete sie 1946 als Offizier der Ehrenlegion aus und in Basel wurde 1964 nach ihr eine Straße benannt – auch dies war eine Pioniertat.6
Hilfe in der Schweiz Schon die Schweizerische Eidgenossenschaft kannte die Tradition, religiöse Flüchtlinge aufzunehmen, wie beispielsweise die Hugenotten im 16. Jahrhundert. Ab Ende des 18. Jahrhunderts fanden auch politische Flüchtlinge in der Eidgenossenschaft Zuflucht, wie die polnischen, deutschen und russischen Revolutionäre. Eine Zäsur bedeutete sowohl der Überfremdungsdiskurs seit den 1910er-Jahren als auch die ausländerfeindlichen Maßnahmen und Gesetze, die nach Gründung der Fremdenpolizei 1917 mit den Namen Heinrich Rothmund – des „höchsten Fremdenpolizisten“, wie er sich nannte – und seines Angestellten Max Ruth verbunden waren.7 Der Bundesrat und das Justiz- und Polizeidepartement (heute EJPD) reagierten mit restriktiver, antisemitischer Politik auf die Flüchtlingswellen nach der nationalsozialistischen Macht übernahme von 1933, dem Anschluss von Österreich 1938 und dem Kriegsbeginn 1939. Nach den Deportationen der Juden aus Frankreich wurden am 13. August 1942 die Schweizer Grenzen hermetisch abgeriegelt. Den jüdischen Flüchtlingen wurde der Status der politisch Verfolgten definitiv aberkannt, sie wurden von Rothmund, der sich als Vorkämpfer gegen die „Verjudung“ der Schweiz verstand, zu „Flüchtlingen nur aus Rassengründen“ erklärt.8 Die Schweizer Bevölkerung unterstützte jedoch die Sammlungen für Flüchtlinge und leistete spontane Hilfe in den Grenzkantonen. Auch die jüdischen Kinder, die vom SHEK 1934–1939 zur Erholung in die Schweiz gebracht wurden, fanden verständnisvolle Pateneltern. Sie luden die Kinder erneut in die Schweiz ein und schickten ihnen Geld und Pakete. Sogar Rothmund verhielt sich zu den bürgerlichen Helferinnen vom SHEK freundlich – ganz im Gegensatz zu den Sozialistinnen. Den größten Erfolg erzielte die Basler Lehrerin Georgine Gerhard, als sie nach der Reichs 6 Paravicini, „Kinder kommen in die Schweiz“, S. 336, 361–367 ; Kanyar Becker, Pionierin der Kinderzüge, S. 19–30 ; Kanyar Becker, Vergessene Frauen, S. 27–29 ; Schmidlin, Eine andere Schweiz, S.131f. 7 Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Flüchtlinge, S. 30–60, 98–109 ; Picard, Die Schweiz und die Juden, S. 62–93, 279–311, 344–385 ; Kury, Über Fremde reden, S. 89–115, 132–183, 211–216 ; Kreis, Vermessene Zeiten, S. 170–183. 8 Kreisschreiben der Polizeiabteilung des EJPD vom 13.8.1942, in : Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Flüchtlinge, S. 100–129 ; Koller, Fluchtort Schweiz, S. 115–122.
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pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 vom judenfeindlichen Polizeileiter eine Bewilligung für den vorübergehenden Aufenthalt von 300 Kindern aus einem jüdischen Waisenhaus in Frankfurt am Main und aus dem deutschen Grenzgebiet erreichte. Alle diese Kinder überlebten in der Schweiz den Krieg.9 Rothmund empfahl die diplomatische Leiterin des SHEK, Nettie Sutro, in diverse Kommissionen. Als das SHEK während der Kriegsjahre etwa 5000 legale und illegale Flüchtlingskinder in der Schweiz betreute, wurde diese Aufgabe auch von anderen Hilfswerken mitgetragen. Unter der Leitung von Sutro wurden in einer vom Bund gesteuerten Aktion alle Flüchtlingskinder, die ihr sechstes Lebensjahr erreichten und in den Gefangenenlagern und Heimen in der Schweiz platziert waren, von ihren Eltern getrennt und in Schweizer Pflegefamilien aufgenommen. Die sogenannte „Lagerbefreiung“ begann Anfang Dezember 1942 und wurde häufig kritisiert – besonders von jüdischen Organisationen, die befürchteten, dass die Kinder ihrem Glauben entfremdet werden könnten. Trotz der Kritik wurden die Flüchtlingsfamilien erst 1945 vor ihrer Ausreise aus der Schweiz wiedervereinigt.10 Für die Ausreise der elternlosen Flüchtlingskinder sorgte das SHEK. Einige Kinder wurden von den Schweizer Familien adoptiert oder konnten als junge Erwachsene Asyl beantragen. Der einfachste Weg zu einem Schweizer Pass stellte die Heirat dar. Obwohl das SHEK am 31. Dezember 1947 aufgelöst wurde, organisierte es noch während des darauffolgenden Jahres die Ausreise der letzten 601 Kinder. Sutro, Gerhard und Mitarbeiterinnen der anderen Hilfswerke gründeten 1951 in der Nähe von Jerusalem das multikulturelle Kinderdorf Kirjath Jearim (Yearim) für die benachteiligten Kinder verschiedener Nationen und Religionen. Georgine Gerhard wurde 1961 von der Universität Basel mit einem Dr. h. c. geehrt und die Stadt Zürich hat 2005 nach Nettie Sutro eine Straße benannt.11
Hilfe in Südfrankreich Auch Südfrankreich war ein bedeutender Begegnungsort von Schweizer Flüchtlingshelfern. Nach der Flucht aus Spanien im Winter 1939 gründete Ruth von Wild für die kleinen Flüchtlinge die erste Kinderkolonie in Pringy, unweit von Annecy. Als dort im 9 Waeber, „Georgine Gerhard“ ; Kanyar Becker, Pionierin der Kinderzüge, S. 33–35 ; Lienert, Wir wollen helfen, S. 119–135 ; Schmidlin, Eine andere Schweiz, S. 48–50. 10 Lienert, Wir wollen helfen, S. 137–176. Die Autorin beschäftigte sich eingehend mit der Problematik der Flüchtlingskinder in den Pflegefamilien und Kinderheimen sowie mit ihrer Ausbildung, ebd., S. 177–305. 11 Kovács, „Nettie Sutro“ ; Lienert, Wir wollen helfen, S. 307–345.
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Mai 1941 der 20-jährige Basler Lehrer August Bohny eintraf, sammelte er die ersten Erfahrungen in der Sommerkolonie in Talloires am See von Annecy, welche die amerikanischen Quäker der SAK zur Verfügung stellten. Bohny hätte seine Aufgabe kaum ohne die Krankenschwester Annemarie Paur bewältigen können, die mit ihm im September 1941 nach Chambon-sur-Lignon in den Cevennen zog, wo sie eine Kolonie gründeten. In die leerstehenden Häuser in diesem Erholungsgebiet lud die SAK die dortigen pazifistischen Pastoren ein, welche etlichen jüdischen Flüchtlingen helfen konnten. In den vier Kolonien, die August Bohny gründete, fanden etwa 100 jüdische Kinder Zuflucht und konnten so gerettet werden.12 In Chambon-sur-Lignon überlebte unter anderem Albert Camus, der seine Erlebnisse im Roman Ekel niederschrieb. Im Frühling 1939 baten die Zivildienstler Elisabeth Eidenbenz, die sich im Spanischen Bürgerkrieg engagiert hatte und nun wieder in Zürich arbeitete, um Hilfe. Zusammen mit Karl Ketterer richtete „Bethli“ im März in einem leerstehenden Haus in der südfranzösischen Gemeinde Brouilla ein Entbindungsheim für die republikanischen Frauen aus den Sammellagern ein. Als sie im September 1939 das Haus verlassen mussten, fand Eidenbenz ein verlassenes modernistisches Schlösschen in Elne, das preiswert gekauft und renoviert werden konnte. Anfang Dezember konnte die neue Maternité einziehen, es wurden dort 603 katalanische, spanische und später auch jüdische Kinder geboren. „Bethli“ richtete zudem ein Säuglingsheim in Banyuls ein und begleitete den Bau zweier Schweizer Baracken im Internierungslager Argelès in der Nähe von Elne, wo 5000 Frauen und 2000 Kinder lebten. In einer der Baracken bekamen sie Milch, Kaffee, Suppe und Dörrobst, in der anderen gab es eine Bettenstation für schwangere Frauen. Die Baracken wurden zuerst von der Zürcher Krankenschwester Edith Wild, später von der Französin Renée Fahrny betreut, welche noch eine dritte Baracke für die Verpflegung der 200 bis 300 Sinti- und Romakinder initiierte. Die Bauten wurden von den amerikanischen Quäkern finanziert, die im Lager mithalfen, bis es im August 1941 aufgehoben wurde. Die Maternité musste an Ostern 1944 nach Montagnac evakuiert werden. Die erschöpfte Elisabeth Eidenbenz kehrte im Oktober 1944 nach Zürich zurück. Sie übersiedelte 1945 nach Wien, wo sie für die Schweizer Spende arbeitete und später ein Schweizer Haus für Kinder in Hadersdorf bei Wien bis zu ihrer Pensionierung 1975 leitete. Sie wurde mehrmals in Spanien und Frankreich sowie als Gerechte unter den Völkern von Yad Vashem ausgezeichnet. Über die Maternité wurden Dokumentarfilme gedreht und wissenschaftliche Arbeiten und Belletristik verfasst.13 12 Bohny, Unvergessene Geschichten, S. 31f.; Puéchavy, „Ruth von Wild“ ; Ojuel, „Ruth von Wild“ ; Ojuel, „Fugir de Catalunya“. 13 Kanyar Becker, „Elisabeth Eidenbenz“, S. 109f.; Schmidlin, Eine andere Schweiz, S. 142f ; Castanier i Palau, La Maternité Suisse d’Elne ; Castanier i Palau, Femmes en exil ; Rieu, Enlà de la pàtria.
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Kinderheime und Sammellager In den zehn Kinderheimen (Kolonien) und Kleinkinderheimen (Pouponnières) der SAK und später des SRK, Kh betreuten die jungen Schweizerinnen und Schweizer neben den Flüchtlingskindern auch erholungsbedürftige französische Kinder. Die jüdischen Flüchtlingskinder wurden meist aus den Sammellagern befreit und mussten in den Kolonien vor den Razzien der Gendarmerie und der Spezialeinheiten der Mobilgarde, die ab August 1942 die Deportationen in die Vernichtungslager durchführten, beschützt werden. Sie wurden bei den benachbarten Bauern oder in den Wäldern versteckt. Die meisten konnten gerettet werden, wie in den vier Kolonien in Chambon-sur-Lignon, die von August Bohny geleitet wurden, oder in den Heimen Pringy und Cruseilles, die von Ruth von Wild und Elsa Ruth geführt wurden. Gefährlich war es nach der Fusion der SAK mit dem Schweizerischen Roten Kreuz, das als eine militärische Organisation strenge Neutralität praktizierte und seinen Mitarbeitenden verbot, Juden zu retten. Die jungen Leute ließen sich davon nicht beeindrucken, Rodolfo Olgiati resignierte jedoch auf seinem Posten. Tragische Konflikte spielten sich in der Kolonie La Hille ab, wo im August 1942 Jugendliche, die über 16 Jahre alt waren, sowie jüdisches Hilfspersonal verhaftet wurden. Die Direktorin Rösli Näf konnte sie später im Lager La Vernet abholen, weil der Delegierte des SRK, Kh, Maurice Dubois, vom Sekretär des Generals Philippe Pétain eine Bewilligung für deren Befreiung erhalten hatte. Näf verhalf später einigen Jugendlichen zur Flucht. Sie und die Mitarbeiterinnen der Kolonie Saint-Cergues-les-Voirons, Germaine Hommel und Renée Fahrny, die an der Schweizer Grenze den Flüchtenden behilflich waren, wurden vom Arzt Hugo Remund, dem SRK-Leiter, entlassen. Er denunzierte sie auch bei seinem Amtskollegen in Berlin. Germaine Hommel, Renée Fahrny, Rosa Näf, Gret Tobler, Maurice Dubois und Sebastian Steiger, die in La Hille jüdische Kinder retteten, wurden von Yad Vashem als „Gerechte“ geehrt. Genauso wie Anne-Marie Im Hof-Piguet, die zehn Jugendlichen und Erwachsenen von La Hille half, die Schweizer Grenze zu überschreiten.14 Letztere wird auf einer Gedenktafel in der abgelegenen Hütte Hôtel d’Italie im waadtländischen Grenzgebiet Risoud zusammen mit Fred Reymond, Madeleine und Victoria Cordier und Adrien Goy als Fluchthelfer erinnert und geehrt.15
14 Kanyar Becker, Vergessene Frauen, S. 13–16 ; Bohny, Unvergessene Geschichten, S. 33–44 ; Schmidlin, Eine andere Schweiz, S. 143f ; Wicki-Schwarzschild, „Elsa Ruth“ ; Schmidlin, „Rösli Näf “ ; Puéchavy, „Deux femmes“ ; Im Hof-Piguet, Fluchtweg durch die Hintertür ; Steiger, Schloss La Hille ; Boesch, „Stufe um Stufe“ ; Studer, „Anne-Marie Im Hof-Piguet“ ; Wisard, Les Justes suisses, S. 18–32, 81, 83–84, 86–87, 89, 91. 15 Vgl. dazu auch den Beitrag in diesem Band zu den Shoah-Denkmälern in der Schweiz.
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Die erste Schweizer Baracke im Sammellager Gurs gründete die Krankenschwester Elsbeth Kasser im Dezember 1940. Zu den 18.000 Internierten gehörten neben den spanischen und katalanischen Flüchtlingen auch die ca. 6500 Jüdinnen und Juden aus Baden, Saarland und der Pfalz, die im Oktober 1940 deportiert wurden. Elsbeth Kasser verteilte nicht nur Nahrungsmittel, sie brachte auch Optimismus in die hoffnungslose Lage, organisierte Kulturveranstaltungen und unterstützte Künstler. Ihre Bildersammlung aus Gurs wird in ganz Europa ausgestellt.16 Die weiteren Schweizer Baracken wurden 1941 unter anderem in den Lagern Rivesaltes erbaut. Die Krankenschwester Friedel Bohny Reiter rettete dort jüdische Kinder und Erwachsene. die sie in Heime oder in die Maternité überwies. Es half ihr Emma Ott, die auch in Gurs arbeitete und mehrere Kolonien verwaltete. Friedel Bohny-Reiter und ihr künftiger Mann August Bohny wurden zu den Gerechten unter den Völkern erklärt.17 Paradoxerweise mussten die Helferinnen und Helfer gegen die SRK-Offiziere in Bern ankämpfen, die unter anderem ablehnten, jüdische Kinder während der Deportationen 1942 in die Schweiz aufzunehmen.18 Nach dem Kriegsende versuchten die hohen Militärs ihr Versagen im Rahmen der Beteiligung an der Schweizer Spende zu verdrängen. Das Thema der Kinderhilfe blieb bis Ende der 1980-Jahre offiziell verschwiegen und damit auch die Erinnerung an die zahlreichen Helferinnen und Helfer. Erst mit der Rehabilitierung Paul Grüningers und damit dem Diskurs über Schweizer Flucht- und Flüchtlingshelfer und über die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges konnten auch die vergessenen Helden des Alltags allmählich eine – wenn auch bescheidene – Öffentlichkeit und Ehre erfahren.19
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Bohny-Reiter, Friedel. Camp de Rivesaltes. Tagebuch einer Schweizer Schwester in einem französischen Internierungslager 1941–1942. Hg. Erhard Roy Wiehn. Konstanz : Hartung- Gorre, 2010. Businger, Susanne. „Oft erfasst mich eine solche Wut, dass man diesen Menschen jedes Recht auf Freiheit nimmt. Friedel Bohny-Reiter (1912–2001).“ Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948. Hg. Helena Kanyar Becker. Basel : Schwabe Verlag, 2017, S. 207–228. Castanier i Palau, Tristan. Femmes en exil, méres des camps. Elisabeth Eidenbenz et la Maternité Suisse d’Elne (1939–1944). Canet : Trabucaire, 2008. Castanier i Palau, Tristan. La Maternité Suisse d’Elne (1939–1944). Masterarbeit, Université Aix-Marseille, 2005. Im Hof-Piguet, Anne-Marie. Fluchtweg durch die Hintertür. Eine Rotkreuz-Helferin im besetzten Frankreich 1942–1944. Frauenfeld : Im Waldgut Verlag, 1987. Kanyar Becker, Helena (Hg,). Pionierin der Kinderzüge. Erinnerungen an Mathilde Paravicini (1875–1954) (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel, Bd. 45). Basel : Schwabe Verlag, 2017. Kanyar Becker, Helena (Hg.). Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 182). Basel : Schwabe Verlag, 2010. Kanyar Becker, Helena. „Gründerin der Maternité Suisse. Elisabeth Eidenbenz (1913–2011).“ Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948. Hg. Helena Kanyar Becker. Basel : Schwabe Verlag, 2017, S. 105–129. Kanyar Becker, Helena. „Frau im Hintergrund. Emma Ott (1907–2011).“ Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948. Hg. Helena Kanyar Becker. Basel : Schwabe Verlag, 2017, S. 229–248. Koller, Guido. Fluchtort Schweiz. Schweizerische Flüchtlingspolitik (1933–1945) und ihre Nachgeschichte. Stuttgart : Kohlhammer Verlag, 2018. Kovács, Ildikó. „Bürgerfrau, Historikerin und Flüchtlingshelferin. Nettie Sutro (1889–1967).“ Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948. Hg. Helena Kanyar Becker. Basel : Schwabe Verlag, 2017, S. 62–75. Kreis, Georg. Vermessene Zeiten. Meine Erinnerungen. Basel : Zytglogge Verlag, 2018. Kury, Patrick. Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzungen in der Schweiz 1900–1945 (Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte ETH Zürich, Bd. 4). Zürich : Chronos Verlag, 2003. Lienert, Salome. Wir wollen helfen, da wo Not ist. Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder 1933–1947. Zürich : Chronos Verlag, 2013. Ojuel, Maria. „Fugir de Catalunya.“ L’Avenç 455 (2019), S. 49–52. Ojuel, Maria. „Ruth von Wild i l’ajuda suïssa als infants de la guerra.“ L’Avenç 366 (2011), S. 40–44. Paravicini, Mathilde. „Kinder kommen in die Schweiz.“ Das Buch vom Roten Kreuz von den Anfängen bis heute. Hg. Eugen Theodor Rimli. Zürich : Fraumünster Verlag, 1944, S. 336– 367.
Unsichtbare Helferinnen ?
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Helena Kanyar Becker
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Nadav Kaplan
Raoul Wallenberg’s Commemoration in Sweden, Hungary, and Israel A comparative analysis Raoul Wallenberg, ein junger schwedischer Geschäftsmann, rettete während des Zweiten Weltkriegs Tausende von Juden in Ungarn. Angesichts von Wallenbergs Tapferkeit würde man erwarten, dass er in Schweden, Ungarn und Israel, den Ländern, mit denen sein Name am meisten assoziiert wird, als Nationalheld anerkannt wird. Dieser Artikel geht auf die folgenden Fragen ein : Was waren die besonderen Merkmale von Wallenbergs Gedenken in Schweden, Ungarn und Israel ? Wer hat das Gedenken an ihn initiiert ? Wie ähnelte und unterschied sich sein Gedenken in diesen drei Ländern ? In July 1944, a young Swedish businessman named Raoul Wallenberg volunteered to attempt to rescue the remnant of Hungary’s large Jewish community from the Nazis. He entered Hungary, occupied by Nazi forces in March 1944, in the guise of a Swedish diplomat.1 Wallenberg immediately formed a special organization of approximately 400 people. They rented safe-houses and handed out food, medical supplies, and other necessities for the last 250.000 to 275.000 Jews still living in Budapest after the deportation of 437.000 Jews from other Hungarian provinces to Auschwitz. Wallenberg rescued thousands by distributing semi-official documents, known as Schutzpasses, improvised by the Swedish Embassy. These documents identified their carriers as Swedish citizens, making them immune to fascist assaults. Diplomats from other neutral countries, like Carl Lutz from Switzerland, engaged in rescue efforts from 1 In January 1944, leaders of the US Jewish community convinced President Roosevelt to take proactive measures to rescue Jews remaining under Nazi control. They formed the War Refugees Board (WRB). Immediately following the German invasion of Hungary on March 19, 1944, WRB executives and the US State Department began searching for a volunteer to manage a rescue operation in Hungary. Among the five neutral European states, only Sweden responded affirmatively. The search committee for a Swedish candidate was headed by the US Ambassador and WRB representative in Stockholm, who was also an executive officer at OSS, which in 1947 became the CIA. The committee settled on Wallenberg (identified through coincidence), mainly because of his elite ancestry, his readiness to undertake the mission, and despite or, possibly, because of his paternal family’s heavy involvement in military trade with Nazi Germany. Wallenberg was never trained as a diplomat, but the Swedish government endorsed the selection and assigned him to a diplomatic position with credentials entitling him to unrestricted movement.
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their offices, but Wallenberg took his mission to the streets. He dealt with the Hungarian Gendarmerie and Nazi SS face to face, jeopardizing his life on a daily basis. Wallenberg’s mission ended abruptly in January 1945, when he went to meet with commanders of the Red Army laying siege to Budapest. He was arrested and disappeared into Russia. Following Swedish inquiries in 1957, the Russian government announced that Wallenberg died of a heart attack in July 1947, at age 35. The mystery of his fate amplified his deeds and heroic persona in the Western imagination, making him one of the most celebrated figures of World War II. Given Wallenberg’s valor, one would expect him to be acknowledged as a national hero in Sweden and Hungary, the two countries with which his name is most closely associated. His memory is also important in Israel, a country established as a Jewish state and home to several hundred thousand Holocaust survivors, including many whom Wallenberg rescued and to their descendants. However, in all three contexts, his public memory was obscured through lack of commemoration for decades, before its eventual recovery. The objective of this article is to describe the commemoration of Wallenberg in these three countries from 1945 to 2014.2 What were the distinctive features of Wallenberg’s commemoration in Sweden, Hungary, and Israel ? Who were the individual and institutional proponents of his commemoration ? And how did these three countries commemorate Wallenberg similarly or differently ? These questions concern the recovery of Wallenberg’s memory, its timing, and the key agents of Wallenberg’s legacy in each state. In the first period (1945–1949) there were few commemorations, and only in Hungary. Until the end of the 1970s, Wallenberg was rarely remembered in any of the three countries. In the 1980s, there was a sharp increase in his commemoration in Israel, but very few were seen in Sweden and Hungary. And from the 1990s to the 2010s, Israeli commemoration declined dramatically, whereas in Sweden and Hungary his remembrance increased, peaking in the last years, mainly through temporary events.
Wallenberg’s commemoration in Sweden – 1945–2014 It is striking to discover that Raoul Wallenberg was ignored for decades by Swedish historians and held almost no place in local public memory. The Swedes only began to commemorate him in the 1990s. My primary, though not exclusive method to investigate the reasons behind this phenomenon, was a series of interviews with 2 This article is based on two previous works : Kaplan, A Hero Forgotten and Recovered ; Kaplan/ Schwartz, “Raoul Wallenberg in Israeli Memory”.
Raoul Wallenberg’s Commemoration in Sweden, Hungary, and Israel
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24 individuals conducted in Sweden. The interviewees included politicians such as parliamentarians and ministers, as well as writers, journalists, cultural researchers, philosophers, historians, intellectuals, members of Wallenberg’s maternal family, and various public figures. These interviews allowed deep insights into past and present Swedish culture and political order and explained the reasons Wallenberg’s story went unrecognized for almost 50 years. They also highlighted the mechanism that spurred Wallenberg’s belated commemoration and the formation of his contemporary public image. Six elements represent the main causes for almost half a century of obscurity around Wallenberg and account for the change over the last three decades. These elements are divided into two groups. The first group includes three exogenous components of political, cultural, and behavioral aspects that indirectly and independently affected the initial neglect of Wallenberg’s story. The elements are : (1) Fear of Soviet Russia, which prevented public discussion of Wallenberg’s disappearance. Between the end of World War II and the collapse of USSR, Swedish fear of their Soviet neighbors led governments to take an extremely passive stance regarding the Wallenberg case, which included downplaying preservation of his memory. The Swedes systematically avoided any kind of confrontation with the Russians. (2) Swedish historiography ignoring WWII, the Holocaust, and Wallenberg. For the first 45 to 47 years following the war, Swedish historiography did not address World War II or Sweden’s role in the conflict and its moral implications. It only began to do so in the 1990s, with which the Swedish academy itself contributed immensely to Wallenberg’s extensive obscurity. (3) “Jante Law” and reticence regarding the celebration of individual heroism in Swedish culture. The Swedish cultural commonplace called “Jante Law”, which serves the egalitarian ideal that no one is better than anyone else, discourages the celebration of individual success and unique achievements as inappropriate. The second set of causal elements includes explanations relating specifically to Wallenberg, his deeds, and his family. Thus, it is possible to identify specific agents and factors that were instrumental, directly or indirectly, in the decades of enforced collective amnesia. These factors are : (1) Wallenberg’s paternal family. The Wallenberg family exercised tremendous power and extraordinary influence due to its dominant economic position and saw fit to keep a low-profile concerning Raoul Wallenberg’s deeds and his memory. Raoul Wallenberg’s memory was and still is considered a red flag by the Wallenberg business empire, mainly due to their close business ties with the Nazis during the war, as well as with the Soviets afterwards. (2) Wallenberg’s maternal family. It appears that Wallenberg’s second family – his mother, stepfather, and half-siblings – found themselves in a difficult position. On the one hand, they repeatedly tried to enlist the world’s assistance in order to ascertain Raoul Wallenberg’s
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fate ; on the other hand, they kept a low profile regarding several commemorative initiatives to avoid admitting his death. (3) The approach of the Swedish ministry of foreign affairs (UD). Millions of Jews were killed by the Germans in front of the eyes of representatives of neutral countries like Sweden. While most of these countries and representatives did little to nothing about it, Wallenberg’s deeds in Hungary represent the diametrically opposite attitude regarding these atrocities and created a moral dilemma when the war ended. It seems that they knew that by honoring Wallenberg, the UD would immediately admit that all other diplomats failed in their duties during the war. The UD was proactive in Wallenberg’s amnesia. Societal changes during the late 1980s and 1990s affected these factors and led to the recovery of Wallenberg’s memory in public, enabling his commemoration and name him a member of the pantheon of Swedish heroes : The fear of the Soviet Union dissipated after its fall in 1990. In the same period, Swedish historiography shifted gradually towards increased openness and self-criticism regarding World War II and the Holocaust, putting an end to the ignorance regarding Swedish conduct during the war and occasioned engagement with Wallenberg’s memory. Moreover, the Swedish mentality and long-term tradition of avoiding the cultivation of heroes has gradually changed, partly because Swedes have absorbed American and Western influences, including the flourishing “memory industry”. The influence of the Jante Law thus weakened and became less consequential. In the 1980s, the deaths of the elder Wallenbergs weakened the family’s concern regarding both the reputation of members who were directly involved in generating great profits from transactions with the Nazis and the obscuration of Raoul Wallenberg’s memory as their anti-Nazi scion. In 1979, after the suicide of Wallenberg’s mother and stepfather, his brother and sister slowly began to cooperate with commemoration efforts. In the mid-1990s, Wallenberg’s maternal family gradually acknowledged that honoring and commemorating him would not undermine efforts to discover his fate. After the death of Östen Undén, the former minister who led the efforts to obscure Wallenberg’s memory, along with the natural passing of the Swedish diplomatic corps that served during World War II, a state commission of inquiry declared that the UD failed, practically and morally, in its handling of Wallenberg’s case. All of these factors underwent progressive changes after the early 1990s, culminating in the many nation-wide events (almost 100) celebrating the centennial of Wallenberg’s birth in 2012 and the proclamation of Wallenberg Day in 2013. The Swedish case of Wallenberg’s commemoration thus provides an example of the phenomenon of belated commemoration of heroes, who were forgotten for an extended period and later recovered.
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Wallenberg’s commemoration in Hungary – 1945–2014 The Hungarian commemoration of Wallenberg in the years 1945–2014 includes four stages : (1) spontaneous memorials that began immediately in 1945 ; (2) enforced obscurity of Wallenberg between 1948/49 and 1987, when the Holocaust and the Jewish question in general was excluded from the public agenda ; (3) the first wave of Wallenberg’s recovery (1987–2010) initiated by local forces from below3 ; and (4) the second wave of Wallenberg’s commemoration (2011–2014) initiated by the Hungarian government. The comprehensive mapping of Wallenberg’s commemorations and 27 interviews conducted in Hungary made it possible to understand post-war vicissitudes in Hungary, where a number of spontaneous initiatives to commemorate Wallenberg were suppressed due to communist ideology and Soviet political considerations. It seems that no new commemorations were dedicated to Wallenberg in Hungary until 1987, except for one unusual event renaming a street after him in Budapest in 1947. The aggressive obscuring of him in Hungary by the communist regime was a clear fact. As it turns out, the two waves of Wallenberg’s commemorations, 1987–2010 and 2011 onward, differ substantially from each other. The commemoration that began in the late 1980s resulted from local initiatives from below, whereas recent commemorations are led by the government of Hungary from above, beginning with the 2010 elections and its reshuffling of all senior positions and peaking in 2012, when almost 60 commemorating events, initiated by the government marked the centennial of Wallenberg’s birth. The main question relating to Wallenberg’s recovery in 1985–1989 is how it became possible prior to the fall of the communist regime. It seems obvious that the “Goulash Communism” of the mid-1980s and communist repression weakened substantially. Three factors supported the recovery of his memory in Hungary at that time : (1) the considerable expansion of the underground circulation of proscribed books and publications (SAMIZDAT in Russian) led to the mass distribution of a
3 In this article, I will adopt Winter and Sivan’s approach (2000), which distinguishes the two major forces contending in the public arena. They define from above as emanating from the establishment and elite groups, such as governmental, political, academic, cultural, and business bodies. Typically, these bodies proactively manipulate the arena of collective memory, including key phenomena of forgetfulness and ignorance. In contrast is the activity of groups and individuals who operate from below, who are agents responsible for public creativity. These unofficial or less institutionally empowered agents are motivated by a deep need to speak loud and clear, expressing their views, which frequently contradict the approach of hegemonic elements from above.
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book about Wallenberg4 ; (2) the dominant Minister of Culture and Arts, György Aczél (Jewish by his origin and education), who had historically held a monopoly on the imposition of ideological censorship began to ignore the issue ; and (3) the Raoul Wallenberg Association was formed in 1988 and became an energetically pro-active agent in commemorating Wallenberg, mainly in 1990–2010. The Wallenberg Association became his primary commemorative agent, shifting its original “strategic target” from anti-communism to focus the entirety of its energy on promoting the commemoration of Wallenberg and his values. In the last few years until the completion of my study in 2014, commemoration was characterized by state funding. According to all interviewees, this initiative was disingenuous as government officials used laundered language, utilizing Wallenberg’s shadow to disguise and obscure its own nationalistic motivations and political agenda, which involved significant distortion of history. The current government, led by Victor Orban, initiates efforts to alter public memory regarding the history of the 20th century. Randolph Braham, the leading researcher of the Hungarian Holocaust, stresses out that the anti-Semitic assault on memory is fraught with danger : without memory there is no history and without history there is no national-ethnic continuity. […] History is a formidable weapon. It is particularly corruptive and dangerous in the hands of chauvinistic nationalists bent on shaping history.5
Wallenberg’s commemoration in Hungary, as in Sweden, pertains to the phenomenon of heroes commemorated belatedly after being forgotten for an extended period.
Wallenberg’s commemoration in Israel – 1945–2014 The comprehensive study in Israel reveals a unique phenomenon : an extended period of relative obscurity of Wallenberg’s case (1945–1979) followed by a rapid surge in his reputation in the 1980s. The climax was followed by a period of significant decline of Wallenberg’s memory up until today although it never dropped to the level of obscurity of the initial phase – a trend commonly encountered regarding the collective memory of historical figures. In the 1980s alone, fourteen permanent memorial sites were established in Israel, which surpasses all other decades combined. Wallenberg’s 4 See Biermann, Righteous Gentile. 5 See Braham, “The Assault on the Historical Memory of the Holocaust”.
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fame in that period of time was part of a shift in the dynamics of Israeli memory. The political context for these developments included raising awareness of the Holocaust in Israel and throughout the West as well as demonstrable efforts by the CIA to exploit Wallenberg’s disappearance combined with the increase of Western interest in the Holocaust as leverage against the USSR.6 These findings raise the following questions : Why did Wallenberg’s memory fade among Israelis who knew of his work or whose lives he saved ? Why was his mission recovered during one decade of the twentieth century rather than another ? What were the primary means of this recovery and who were its agents ? The trend of Wallenberg’s recovery in Israel must not be oversimplified. Although his recognition peaked during the 1980s, his place in Israeli memory was evident since the declaration of statehood. He was known by many of the tens of thousands of survivors who immigrated to Israel from Hungary after the war. Finding themselves in a strange land, they were disoriented and had neither the time nor the energy to delve into memories of the war years. By the early 1960s, however, their interest in the past was aroused by the capture and trial of Adolf Eichmann, and by Israel’s recognition of Wallenberg as one of the first Righteous Among the Nations (1963). As the survivors and witnesses began to settle down and their families grew, their memories awakened, were disseminated, and entered the consciousness of native Israelis. The movement to celebrate Wallenberg’s memory surged later as a direct result of the CIA’s campaign to publicize Wallenberg’s deeds and the question of his fate in a campaign to weaken the standing of the USSR. Soviet repression of its huge Jewish population led to an escalation of the CIA campaign. America’s aggressive policy towards the USSR, its focus on Russian Jews striving to leave the country, and the dramatic increase in activities commemorating Wallenberg were interconnected. On the other hand, the Soviet Union’s fall in the 1990s tended to diminish the motivation in Israel to elevate Wallenberg. Pressure to recognize him, including the CIA’s campaign, ceased. My interviews in Israel with those who initiated Wallenberg commemorations7 plus data collected from multiple archives, reflect both the focus on Wallenberg 6 In 1978–79, Wallenberg’s stature came into sharper focus when Annette Lantos, the wife of a US Congressman and Budapest’s Holocaust survivor, persuaded President Carter’s senior advisor, Stuart Eizenstat, to place Wallenberg on the US State Department list of top priority political prisoners in the USSR and raise his case in negotiations. President Reagan supported and expanded these efforts. This had manifested itself mainly in creating news about Wallenberg by way of decoys in mass media, in order to affront the Soviets, strengthening disdain of communism. 7 The 42 interviews were conducted with all available people who were responsible for raising and leading the commemoration processes. These included : members of various municipalities ; two Wallenberg Associations in Israel ; academics who researched and were involved with the Wallenberg case ;
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during the 1980s and the impact of many media reports in support of honoring him. Furthermore, these “memory agents” believed that their expression of gratitude to the liberator of Hungarian Jews would reinforce Western efforts on behalf of Soviet Jewry. It is vital to emphasize that in Israel, however, Wallenberg’s centennial activities were very limited and ended with an egregious embarrassment. Reuven Rivlin, then Speaker of the Knesset (Israeli parliament) and President of Israel since 2014, along with others, initiated a special event to observe the Wallenberg Centennial. Knesset members ignored the memorial ceremony. Out of 120 Knesset members, including fifty-four members present in the building at the time, only five attended. This is a striking example of how Wallenberg’s importance and memory has declined in Israel over the years.
Wallenberg’s commemoration in a comparative perspective It is obvious that Sweden, Hungary, and Israel differ regarding many of the parameters involved in Wallenberg’s commemoration. However, despite the obvious differences between the three countries, and regardless of their past linkage during the war, there were also similarities in the processes of Wallenberg’s commemoration. The narratives of Wallenberg’s memory in Sweden and Hungary are quite similar, but substantially different from Israel. It seems that in the first 35 years (1945–1979), the three countries almost completely obscured the memory of Wallenberg, albeit for different reasons. This obscurity continued in Sweden in the 1980s, whereas the process of commemorating Wallenberg was slowly initiated in Hungary in 1987–1989. In Israel, however, the entire 1980s featured a surge in Wallenberg’s commemoration. From the beginning of the 1990s in both Sweden and Hungary, the pace of commemoration accelerated, peaking in 2012 with the centennial of Wallenberg’s birth. On the other hand, in Israel, the trend in commemoration declined gradually with almost no events dedicated to Wallenberg in its centennial year. In other words, the pattern in Sweden and Hungary accords with the phenomenon of belated commemoration and a recovery of Wallenberg’s memory after approximately 45 years. The Israeli experience features an earlier and relatively short peak, after 35 years, and then a continuous decline. The Soviet collapse in the 1990s represents a pivotal political element that created a new climate enabling Wallenberg’s commemoration in Sweden and Hungary. But local ex-Hungarian communities ; ministers and Knesset members ; two former Ambassadors of Sweden in Israel ; individuals who perform lectures and plays dedicated to Wallenberg.
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beyond this similarity, the mechanism that permitted Wallenberg’s recovery varied significantly between these two countries. In Sweden, five additional elements, none of which were related to the fall of USSR, began to be instrumental independently in intensifying the impulse to commemorate Wallenberg in the 1990s. However, in Hungary, the political-ideological changes were crucial to Wallenberg’s recovery, so it is fair to state that without the relaxation of the communist regime and its eventual collapse, the entire commemorative movement would not have been conceivable. On the contrary, the Israeli pattern, as explained above, was completely different. Celebration of Wallenberg’s memory surged as a direct result of the CIA’s campaign, combined with the demand that Soviets allow Jews to emigrate. The Soviet Union’s fall in the 1990s tended to diminish the need and motivation in Israel to elevate Wallenberg. It’s vital to emphasize that the recovery of Wallenberg’s memory in Sweden and Hungary in the 1990s was also significantly affected by a global western trend of recent decades, entitled the “age of commemoration”. Pierre Nora, who coined this term, argues that the acceleration of history has created a tendency to reassess when people began to turn to memory in order to remain close to the past during an era of instability.8 The period from the late 1970s, even substantially into the 1990s, was characterized by intensive commemoration of the Holocaust. To understand the peak of Wallenberg’s commemoration in Israel in the 1980s, prior to the gradual and global trend of the 1990s during this “age of commemoration”, it can be summarized that the creation of historical texts and commemorative objects occurs in Israel as a political context. But also, the reception of these texts and objects depends on their relevance to social problems, preoccupations, and obsessions. In Sweden, local initiatives from below started the commemoration of Raoul Wallenberg independently with no coordination between them. Typically, these local initiators were individuals, businessmen, and local politicians with the help of Wallenberg’s maternal family. Only from 2011 did the government become proactive and initiate a series of events commemorating his centennial. In Hungary, almost all commemorations, in all their variety until 2010, were initiated by the Wallenberg Association, from below, with no involvement of the government. Like Sweden, but with different motivations, the Hungarian government initiated the majority of the 2012 centennial events and became the dominant “memory agent” from that moment forward. Unlike the Swedish government, which wished to commemorate Wallenberg in a sincere way, probably due to a long period of guilty sentiments for his obscurity, the Hungarian government’s motivations were political and ideological. The majority
8 See Nora, “Pour une Histoire au Second Degré” ; Nora, Les Lieux de Mémoire.
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of Wallenberg’s commemorations in Israel originated from below, that is, spurred by local initiators and authorities, primarily municipalities and inspired individuals. Societal changes during the late 1980s and 1990s affected these factors, leading to the recovery of Wallenberg’s memory through public commemoration. The memory of Wallenberg perseveres because, in different ways, it gives a mid-twentieth-century perspective on the realities of twenty-first century Sweden, Hungary, and Israel, historicizing the various preoccupying concerns of the present.
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Kaspar Surber
Flankenläufe in die Zukunft Das Gedenken an Paul Grüninger in seiner Heimat- und Grenzregion The memory of the former police commander Paul Grüninger, who today stands for the courageous rescue of persecuted persons and paid a high price for it, is today recognizable in museums, memorials, and honors abroad. But what is the situation in his immediate homeland, in eastern Switzerland, where he once worked and where his grave lies ? And what does this say about its future significance ? This article examines the places in which Grüninger’s biography is reflected and sheds light on the background to the late emergence of local names, such as a town square, a street, a border bridge and a football stadium. „Je näher der Bus an diesem Samstag dem Stadion kommt, desto mehr ist spürbar, dass etwas Besonderes ansteht. Es ist wieder Stadtmatch ! (…) Bei 5500 Zuschauern ist Schluss, die schmucke Arena ist ausverkauft. Vieles ist ungewohnt an diesem Nachmittag im Paul-Grüninger-Stadion, wo vor zwei Jahren noch in der 2. Liga interregional gespielt wurde.“1 Als das „St. Galler Tagblatt“ über das Spiel zwischen dem SC Brühl und dem FC St. Gallen vom 10. September 2011 berichtet, kommt es aus dem Staunen nicht mehr heraus : über das öffentliche Interesse am Stadtderby, dem ersten seit vierzig Jahren, über die fulminante Aufstiegsserie des SC Brühl in den letzten Saisons, die das Zusammentreffen der Clubs überhaupt erst möglich gemacht hat, und über den Namen des Stadions, der nicht wie so viele andere für die Marke eines Unternehmens wirbt, sondern den Mut eines Flüchtlingshelfers ehrt : Paul Grüninger. Paul Grüninger, 1891 in St. Gallen geboren und aufgewachsen, arbeitete zuerst als Primarlehrer, dann als Leutnant bei der Polizei. 1925 wurde er zum Polizeikommandanten jenes Kantons berufen, den eine rund vierzig Kilometer lange Grenze vom Vorarlberg trennt. Als mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Diskriminierung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden einsetzte, versuchten sich viele von ihnen über die Grenze in die Schweiz zu retten.2 Auf jede Eskalationsstufe der NS-Verfolgung reagierten die Schweizer Bundesbehörden ihrerseits mit einer Verschärfung der Grenzkontrollen : erst mit einer Visumspflicht für alle Einreisenden 1 Loher, „Auf bald im Westen !“. 2 Grundlegend zu Grüningers Geschichte : Keller, Grüningers Fall.
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aus Österreich, dann am 19. August 1938 mit einer Grenzsperre für die jüdischen Flüchtlinge, schließlich im Oktober mit der Kennzeichnung ihrer Pässe mit dem Judenstempel.3 Paul Grüninger rettete in dieser Zeit mehreren hundert Flüchtlingen das Leben, indem er als Polizeikommandant die Weisungen des Bundes missachtete und dafür auch Gesetze übertrat : Unter anderem datierte er später erfolgte Einreisen vor den Erlass der Grenzsperre. Im Frühling 1939 wurde Grüninger seines Amtes enthoben, später fristlos entlassen und schließlich vom Bezirksgericht St. Gallen verurteilt. Der Flüchtlingsretter, der nur noch Stellen als Handelsreisender oder Aushilfslehrer fand, starb 1972 verarmt in St. Gallen. Mehrere Anläufe zu seiner Rehabilitierung scheiterten an der abweisenden Haltung der St. Galler Regierung, bis das 1993 von Stefan Keller recherchierte Buch „Grüningers Fall“ die politische wie auch die juristische Rehabilitierung in Gang setzte : Grüninger wurde posthum freigesprochen.4 In den folgenden Jahren arbeitete die unabhängige Expertenkommission UEK zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg die auch antisemitisch geprägte Flüchtlingspolitik auf.5 Der Name von Paul Grüninger, der noch zu seinen Lebzeiten von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wurde, steht heute nicht nur in der Schweiz stellvertretend für die vielen Fluchthelferinnen und Fluchthelfer, die Menschen in größter Not Hilfe leisteten. Weltweit erinnern an Paul Grüninger heute Ortsschilder in Jerusalem, Zürich oder Wien, in der Holocaust-Gedenkstätte in Washington wurde eine Erinnerungstafel angebracht. Das Handeln von Paul Grüninger für die Menschenrechte hat offensichtlich eine universelle Gültigkeit erlangt. Die vorerst letzte Straßenbenennung fand 2017 in Rischon-le-Zion in Israel statt. Enthüllt wurde die Tafel von Bundesrat Johann Schneider-Ammann, dies im Beisein zahlreicher Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.6 Die späte Ehrung durch ein Mitglied der Schweizer Regierung ist noch einmal ein Hinweis, dass die Erinnerung an die NS-Verbrechen und die Fluchthelferinnen und Fluchthelfer von den Opfern und den Hinterbliebenen über lange Jahrzehnte erkämpft werden musste. Geht man der Entstehung der Erinnerungsorte nach und spricht mit den Beteiligten, die sich an den einzelnen Orten für eine Ehrung von Paul Grüninger eingesetzt haben, lassen sich weitere Erkenntnisse gewinnen. So kam es bei den öffent3 Gast, „Aspekte schweizerischer Fremd- und Flüchtlingspolitik“. 4 Zur Rehabilitationsgeschichte vgl. Bickenbach, Gerechtigkeit für Paul Grüninger. Vgl. dazu auch den Beitrag von Wulff Bickenbach in diesem Sammelband. 5 Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg, Flüchtlinge. 6 In Israel leben zahlreiche Schweizer und Schweizerinnen. Zu den israelischen Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern vgl. Bossert, „Alija von Schweizer Juden und Jüdinnen nach Israel“.
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Abb. 1 Tafel am Grüningerplatz in St. Gallen. Foto : Fabienne Meyer 2015
lichen Nennungen immer wieder zu Widerständen, Erinnerungspolitik bleibt ein umkämpftes Feld. Am Überraschendsten schließlich : Aus der Erinnerung an die Katastrophe der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis lassen sich nicht nur Schlüsse für die Solidarität mit Geflüchteten in der Gegenwart ziehen. Die Erinnerung schafft darüber hinaus, wie das Beispiel des eingangs erwähnten Stadions zeigt, im Wortsinn Spielräume für eine offene Gesellschaft, die sich am Wohl der Schwächsten orientiert. Eine Liste, die Ruth Roduner zusammengetragen hat, die Tochter von Paul Grü ninger und spätere Präsidentin der nach ihm benannten Stiftung, nennt als erste Ehrung für den Flüchtlingshelfer einen im Mai 1971 in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gepflanzten Baum in der Allee der Gerechten.7 Mehr als zwanzig Jahre vergingen, bis 1994 ein Waldstück in Tiberias in Israel in Erinnerung an Grüninger in „St. Galler Hain“ umbenannt wurde. In Wien erfolgte die Benennung der neugebauten Paul Grüninger-Schule ; initiiert hatte sie Sophie (Susi) Haber, der 7 Straßen, Plätze, Gedenktafeln etc. zur Erinnerung an Paul Grüninger. Liste zusammengestellt von Ruth Roduner ; im Archiv Stefan Keller. Zu den „Gerechten unter den Völkern“, siehe den Beitrag von Daniel Gerson in diesem Sammelband.
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Paul Grüninger 1938 wie vielen anderen Verfolgten aus Wien, den illegalen Grenzübertritt in die Schweiz ermöglicht und damit das Leben gerettet hatte. Wie aber steht es um die Erinnerung in der Heimat- und Grenzregion, in der Paul Grüninger selber gelebt und gewirkt hatte ? Ein Jahr nach der juristischen Rehabilitierung 1996 wurde in St. Gallen, seiner Heimatstadt, in der Altstadt der Grüninger-Platz eingeweiht. Am Eingang in den St. Galler „Machtbezirk“ gelegen, unweit von Regierungs-, Parlamentssitz und Kantonsgericht sowie katholischem Kloster und protestantischer Stadtkirche, kommt dem kleinen Platz mit Brunnen durchaus eine hohe symbolische Bedeutung zu. Für größeren Diskussionsstoff sorgte 2006 die Umbenennung des Fußballstadions Krontal des SC Brühl im Osten der Stadt St. Gallen. Paul Grüninger hatte in der Saison 1914/15 zu jenem Team gehört, das den bisher einzigen Schweizer Meistertitel des Clubs gewann : Grüninger, der von Zeitgenossen als leidenschaftlicher und kämpferischer, sprich als energischer Fußballer beschrieben wird, stürmte in jener Spielsaison am linken Flügel. Von 1924 bis 1927 leitete Paul Grüninger den Verein ein erstes Mal als Präsident, ab 1937 ein zweites Mal. Um den Verein nicht in das Gerichtsverfahren hineinzuziehen, legte er sein Amt 1940 nieder. Unterstützung von den Mitgliedern des Clubs erhielt Grüninger keine, sein Wirken für Brühl geriet in Vergessenheit. Erst als in den 1970er-Jahren die ersten internationalen Würdigungen erfolgten, erschien auch im Brühler Vereinsorgan ein kleiner Beitrag.8 Grüningers Engagement für Brühl wurde 2004 vom Journalisten Richard Zöllig in einem Buchbeitrag aufgearbeitet. Selbst Vereinsmitglied, hatte er auch die Idee, das Stadion nach Grüninger zu benennen : In jenen Jahren stand gerade die umfassende Sanierung der Sportanlage an, die sich im Besitz der öffentlichen Hand befindet. Zöllig präsentierte den Vorschlag dem Vereinsvorstand, der sogleich von der Idee überzeugt war. „Die meisten erkannten die Möglichkeit, dass mit der Umbenennung ein Aufbruch im Verein stattfinden kann“, erinnert sich Zöllig im Gespräch.9 „Nicht viele Sportvereine können eine so verdienstvolle Persönlichkeit vorweisen und sich daran orientieren.“ Der Club teilte den Beschluss dem Stadtrat mit, in der festen Überzeugung, dessen Zustimmung sei reine Formsache. Doch weit gefehlt : Die bürgerlich dominierte Stadtregierung lehnte den Vorstoß mit vier zu einer Stimme ab. Noch einmal wehrte sich das offizielle St. Gallen, das Grüninger einst aus dem Amt gejagt und solange nichts von seiner Rehabilitierung hatte wissen wollen. Die Brühlerinnen und Brühler ließen nicht locker und gingen mit einem sportlichen Flankenlauf in die Offensive. Vor einer Aussprache mit dem Stadtrat machten 8 Zöllig, „Der Polizeihauptmann, die Spitzel und der FC Brühl“. 9 Interview mit Richard Zöllig am 3. Juni 2020.
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Abb. 2 : Paul-Grüninger-Stadion des FC Brühl in St. Gallen, Foto : Fabienne Meyer 2015
sie ihren Wunsch nach Umbenennung in den Medien öffentlich. „SC Brühl will ein Paul-Grüninger-Stadion“, titelte das „St. Galler Tagblatt“ auf der Frontseite.10 „Da konnte der Stadtrat nicht mehr anders, als uns zähneknirschend nachzugeben“, sagt Zöllig. „Paul Grüninger Stadion – Sportanlage Krontal“ lautet seither die offizielle Bezeichnung. Nach einem letzten Geplänkel mit den Behörden konnte Grüningers Name auch gut sichtbar über dem Stadioneingang angebracht werden. Am 20. Mai 2006 wurde die offizielle Eröffnung gefeiert. Auf dem Plakat zu sehen : Paul Grüninger im Meistertrikot. In den folgenden Jahren erfüllte sich der Wunsch nach einem sportlichen Aufbruch tatsächlich, wurde die Erinnerung an Grüningers Meisterzeit bei Brühl sozusagen zur Zukunftsperspektive. „Wir wurden zu einer guten Adresse für den Amateurfußball“, sagt Zöllig. Hatte der SC Brühl im Gegensatz zum früheren Rivalen FC St. Gallen in den letzten Jahrzehnten bloß noch in den unteren Ligen gekickt, setzte er nun zu einer Erfolgsserie an. 2011 fand er sich in der zweithöchsten Liga des Landes wieder. Weil der FC St. Gallen gleichzeitig aus der höchsten Spielklasse abgestiegen war, kam es plötzlich zu einem Stadtderby wie zu Grüningers Zeiten. Dem einstigen Präsidenten hätte das bestimmt gefallen, schrieb er doch noch ein halbes Jahr vor seinem Tod 10 Fagetti, „Grüningers Stadion“.
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in einem handschriftlichen Brief : „Ich bin noch immer ein begeisterter Brühler und nehme stets mit regem Interesse an den Geschehnissen des FC Brühl teil.“11 „Die Erinnerung an Grüninger war stets eine Gratwanderung zwischen der Schärfung des politischen Bewusstseins und geschicktem Marketing für den Club“, reflektiert Zöllig rückblickend. Insgesamt zieht er eine positive Bilanz, hat die Erinnerungsarbeit im Verein doch auch nach innen gewirkt : Der Fußballclub, in dem mehr als 400 Kinder und Jugendliche mitspielen, viele von ihnen mit migrantischem Hintergrund, gab sich eine Sozialcharta. Diese schreibt den gegenseitigen Respekt und die Anerkennung fest und fordert im Konfliktfall einen offenen Umfang. „Der Umgang im Club untereinander hat sich seither verändert. Dumme und abwertende Sprüche sind nahezu verschwunden“, sagt Zöllig. Auch dies lässt sich als Flankenlauf in die sportliche Zukunft beschreiben. Mit dem Platz in der Altstadt und dem Stadion im Osten war der Name Grüninger im öffentlichen Bewusstsein der Stadt St. Gallen verankert, mit der Umbenennung einer Brücke über den Alten Rhein im Jahr 2012 kehrte die Geschichte an einen weiteren Schauplatz zurück : das Grenzgebiet zwischen der Schweiz und dem österreichischen Vorarlberg. Die kurze Brücke zwischen Diepoldsau auf der Schweizer und Hohenems auf der österreichischen Seite hatte bislang keinen Namen getragen. Die Benennung in Paul Grüninger-Brücke erfolgte auf Anregung von Vertretern der Grünen Partei beidseits der Grenze, war also von Beginn an eine verbindende Initiative. Doch auch hier hakte es zuerst an der öffentlichen Unterstützung : „In der Stadt Hohenems gab es keinen Widerstand, die Gemeinde Diepoldsau zeigte sich aber hinhaltend“, erinnert sich Hanno Loewy, der als Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems dem Projekt unterstützend zur Seite stand.12 Schließlich wurde vom Kanton St. Gallen die Bewilligung erteilt und die Brücke feierlich umbenannt : Dazu erklang der „Hauptmann Grüninger Marsch“, den der Flüchtling Jakob d’Orange 1938 aus Dankbarkeit für seine Rettung komponiert hat. Der Marsch ertönt immer wieder bei der Eröffnung von Gedenkorten für Grüninger, die Erinnerung an seine Taten lebt so auch musikalisch fort (ein Video des Bläserquintetts der Militärmusik Vorarlberg bei der Brückenfeier findet sich auf YouTube). Kurz nach der Benennung der Paul Grüninger-Brücke wurde das Erinnerungsschild von Unbekannten mit einem Winkelschleifer abgesägt und in den Rhein geworfen : Ein rechtsextremer Hintergrund wurde vermutet.13 Soweit bekannt, ist bislang erst einmal ein Grüninger-Denkmal beschädigt worden. 11 Der Brief befindet sich in den historischen Unterlagen des SC Brühl. 12 Interview mit Hanno Loewy am 5. Juni 2020. 13 Sturn, „Erinnerungstafel an Paul Grüninger in den Rhein geworfen“.
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Das Fluchtgeschehen von 1938 hat auch in der Dauerausstellung des Jüdischen Museums in Hohenems einen festen Platz gefunden und stößt beim Publikum auf ein breites Interesse. „Wenn man den Holocaust nicht von seinem Ende her denkt, von der Massenvernichtung der Jüdinnen und Juden, sondern von seinem Anfang mit der zunehmenden Diskriminierung spezifischer Gruppen, lassen sich viele Bezüge zur Gegenwart schaffen“, sagt Hanno Loewy. Die Schlagzeilen der Zeitungen aus der Schweiz von 1938, die im Museum ausgestellt sind, lassen schnell vergessen, in welchem Jahr man sich befindet : Vom drohenden Verlust von Arbeitsplätzen angesichts der Ankunft von Flüchtlingen ist da die Rede, von einer drohenden „Überfremdung“ des Landes – und überhaupt, handelt es sich bei den Juden, die nicht politisch, sondern aufgrund ihres Glaubens verfolgt sind, überhaupt um „echte“ Flüchtlinge ? Eine Frage, die bis heute in Debatten um Flucht und Migration häufig zu hören ist und auch den behördlichen Befragungen von Asylsuchenden immanent ist. Der erinnerungspolitische Brückenschlag bei Diepoldsau hat dazu geführt, dass die Situation an der Grenze vor und während des Zweiten Weltkriegs mit ihren vielfältigen Akteuren als Ganzes in den Blick gerückt ist : Das anfänglich sozialistisch geprägte Schmugglernetzwerk, das verfolgten Genossinnen und Genossen über die Grenze half, mutige Konsularbeamte und Landjäger, die den Flüchtlingen den Weg über die Grenze öffneten, schließlich die jungen Erwachsenen aus der Gegend, die für etwas Geld und wohl auch eine Prise Abenteuergefühl die Pfade über die Grenze wiesen. An Outdoor-Führungen zeigt das Jüdische Museum die Schauplätze. Jetzt will es noch einen Schritt weiter gehen : Ein fester Erinnerungspfad soll im Naherholungsgebiet entlang der Grenze installiert werden, bei dem Besucherinnen und Besucher auf ihren Smartphones die Schicksale einzelner Flüchtlinge nachhören können. Erzählt werden sollen die konkreten Biografien einzelner Menschen, die hier in der Region der Nazi-Verfolgung zu entfliehen versuchten oder Widerstand gegen das Regime leisteten. Als eindrückliches Beispiel nennt Loewy die Geschichte von Hilda Meisel, auch unter dem Namen Hilda Monte bekannt : Aufgewachsen in Berlin schloss sie sich bereits mit fünfzehn Jahren dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) an. Aus dem Londoner Exil publizierte sie Schriften zur ökonomischen Neuordnung Europas, aber auch Gedichte. Meisel half Verfolgten bei der Flucht aus den von den Nazis kontrollierten Gebieten und reiste selbst wiederholt zur Spionage nach Deutschland. In den letzten Kriegstagen wurde sie am 18. April 1945 von einem Grenzbeamten an der liechtensteinisch-österreichischen Grenze erschossen.14
14 Gedenkstätte Deutscher Widerstand : https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/hilde-hilda-monte-meisel/?no_cache=1, letzter Zugriff : 07.06.2020.
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Zu den konkreten Erinnerungsorten kamen über die Jahre auch immaterielle Formen der Erinnerung hinzu, die Grüningers Geschichte für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Nachdem Richard Dindo bereits 1997 den Dokumentarfilm „Grüningers Fall“ drehte, in dem zahlreiche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihre Geschichte erzählen, kam 2014 der Spielfilm „Grüningers Akte“ von Regisseur Alain Gsporner in die Kinos : Mit teilweise fiktiven Elementen fokussiert er auf die Untersuchung gegen Grüninger, der vom bekannten Darsteller Stefan Kurt gespielt wird. Das Theater St. Gallen führte 2013 das Jugendtheaterstück „Ein Grenzgänger“ von Elisabeth Gabriel und Nina Staziol auf – eine eindringliche Textmontage mit Originaltönen aus der Zeit. Die nach Paul Grüninger benannte Stiftung vergibt zudem alle drei Jahre einen Preis für Mut und Menschlichkeit : Zuletzt ging er 2019 an die Fluchthelferinnen und Fluchthelfer der Iuventa-Crew, die für ihre lebensrettende Hilfe für Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer vom italienischen Staat kriminalisiert werden. Ihrem vornehmsten Stiftungszweck folgend ist die Stiftung dafür besorgt, dass im sanktgallischen Au, wo Paul Grüninger und seine Frau Alice Grüninger-Federer viele Jahre ihres Lebens verbrachten, ihre letzte Ruhestätte auf Dauer bestehen bleibt (in der Schweiz werden sonst Gräber nach wenigen Jahrzehnten aufgehoben). Es ist der Ort, der den Namen von Paul Grüninger im engsten Sinne birgt. Im Herbst 2008 wurde ihr gemeinsames Grab neu gestaltet, eine Aufgabe, die Achtung von Intimität und Würde zum Ausdruck bringt. Zum Schluss : Alle Erinnerungsorte zu Paul Grüninger beschränken sich auf eine knappe, konzise Sprache : „In den Jahren 1938 und 1939 rettete Paul Grüninger mehrere hundert jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung“, heißt es beispielsweise beim St. Galler Fußballstadion. „Die Folge war die unehrenhafte Entlassung und Verurteilung Grüningers, er wurde erst 1995 post mortem rehabiliert“, heißt es im Wiener Schulhaus. Die knappe Sprache mag den engen Platzverhältnissen auf Erinnerungstafeln geschuldet sein. In ihr findet aber auch der Respekt vor den Taten Grüningers und die Unfassbarkeit der nationalsozialistischen Verfolgung ihren Ausdruck. Literaturverzeichnis Bickenbach, Wulff. Gerechtigkeit für Paul Grüninger, Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers, 1938–1998. Wien/Köln/Weimar : Böhlau Verlag, 2009. Bossert, Sabina. „Alija von Schweizer Juden und Jüdinnen nach Israel“. Schweizer Judentum im Wandel, Religion und Gemeinschaft zwischen Integration, Selbstbehauptung und Abgrenzung. Hg. Jacques Picard und Daniel Gerson. Zürich : Chronos Verlag, 2014, S. 307–336.
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Fagetti, Andreas. „Grüningers Stadion“. St. Galler Tagblatt, 08.03.2006. Gast, Uriel. „Aspekte schweizerischer Fremd- und Flüchtlingspolitik vor und während des Zweiten Weltkrieges“. Schweden, die Schweiz und der Zweite Weltkrieg. Hg. Irène Lindgren, Renate Walder. Frankfurt am Main : Peter Lang, 2001, S. 203–220. Keller, Stefan. Grüningers Fall. Zürich : Rotpunktverlag, 1993. Loher, Patricia. „Auf bald im Westen !“ St. Galler Tagblatt, 12.09.2011. Sturn, Markus. „Erinnerungstafel an Paul Grüninger in den Rhein geworfen“. Vorarlberg online, 25.02.2013. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.). Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich : Chronos Verlag, 2001. Zöllig, Richard. „Der Polizeihauptmann, die Spitzel und der FC Brühl“. Am Ball – im Bild. Hg. Felix Reidhaar und Andreas Schiendorfer. Zürich : NZZ Libro, 2004.
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Zeichen und Namen Yad Vashem, die Schweiz und die „Gerechten unter den Völkern“ More than 50 Swiss nationals were honored as “Righteous among the Nations” by the Israeli Yad Vashem Memorial in Jerusalem between 1964 and 2016. The honors awarded during this period also reflect the transformation of Holocaust remembrance in Switzerland’s collective consciousness : the genocide of the Jews went from being a marginal topic in the context of the Second World War to an integral part of the national culture of remembrance, in which the humanitarian work of “righteous” people plays a central role. Yad Vashem, gegründet 1953 in Jerusalem, kann für sich in Anspruch nehmen, neben dem seit 1947 bestehenden staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und dem 1993 in Washington eröffneten United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) wohl der bedeutendste Erinnerungsort an den Holocaust zu sein. Mit der Bezeichnung als „The World Holocaust Remembrance Center“ verweist Yad Vashem auf sein eigenes globales Selbstverständnis.1 Der Name Yad Vashem, auf Deutsch „Zeichen und Name“, nimmt Bezug auf das Buch Jesaia 56,5 : „Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Zeichen [Denkmal], ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter : Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals getilgt wird.“ Mit einer Namensgebung, die dem Tanach, der hebräischen Bibel entnommen ist, integriert die offizielle Holocaustgedenkstätte des Staates Israel das seit der Antike tradierte Erinnern an die jüdischen Opfer.2 Was von den zu Asche gewordenen Ermordeten bleibt, sind einzig die Namen, für die Yad Vashem als Zeichen steht. Die Gedenkstätte wurde seit ihrer Gründung ständig erweitert und umfasst heute einen weitläufigen Gebäudekomplex und Landschaftspark, in denen Architektur und Gartenbaukunst in den Dienst der israelischen Holocaustgedenkkultur gestellt werden. Ihre herausragende Bedeutung erlangt die aus Steuergeldern und Spenden3 1 Yad Vashem. The World Holocaust Remembrance Center : https://www.yadvashem.org, letzter Zugriff : 03.05.2020. 2 Ebd. Vgl. auch den Beitrag von Judy Tydor Baumel-Schwartz in diesem Buch, der im Kontrast zu nationalen Gedenkstätten die privaten und öffentlichen Erinnerungsmodi und Gedenkformen zum Holocaust hervorhebt. 3 Es existiert ein weltweites Netz von Organisationen, die Yad Vashem finanziell unterstützen. In der
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finanzierte Institution aber nicht nur dadurch, dass sie als eine architektonisch eindrückliche Gedenkstätte errichtet wurde, über deren Formsprache gerne debattiert wird, sondern dass sie darüber hinaus eine Vielzahl von Funktionen erfüllt.4 So ist Yad Vashem zum einen Museum und Bildungsstätte und zum anderen auch eine der wichtigsten Archive und Forschungsinstitutionen zum Völkermord an den Juden. Mit diesen vielfältigen Aufgaben ist ihr Wirken mit dem United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington vergleichbar, das ebenfalls eine ähnliche Bandbreite an Funktionen wahrnimmt. Sowohl Yad Vashem als auch das USHMM verbindet die bemerkenswerte Eigenschaft, dass beide, im Unterschied zum Museum auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau oder zu den Gedenkstätten in ehemaligen Lagern in Deutschland, an Orten errichtet wurden, die geografisch fern von Europa liegen und historisch auch nicht direkt mit dem Genozid verbunden sind. Doch beide Standorte verfügen über eine hohe symbolische Bedeutung : Jerusalem ist ein bedeutendes religiöses und geistiges Zentrum des Judentums und wurde 1948 zur Hauptstadt Israels erklärt. Zudem wählten die meisten Überlebenden des Völkermords den jüdischen Staat als neuen Wohnort. Washington, die Hauptstadt der USA, nimmt für sich in Anspruch, das Zentrum einer Weltmacht zu sein, die ihr Image als Hüterin der „Freien Welt“ und ihrer damit verbundenen liberalen Werte pflegt. Zudem leben mit mehr als fünf Millionen jüdischen Bürgern rund vierzig Prozent der Juden weltweit in Nordamerika. Damit symbolisieren beide Einrichtungen auf ihre Weise eine Form von Universalisierung der Erinnerungskultur an den Genozid. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts finden sich auf allen Kontinenten eine Vielzahl meist pädagogisch ausgerichteter Institutionen, die von einer globalisierten Holocaustgedenkkultur zeugen.5 Die weltweit wachsende Bedeutung von Holocaustgedenkstätten ist auch ein Indiz für den Übergang von einem kommunikativen Gedächtnis, das bis jetzt von den Zeitzeugen vermittelt wurde, zu einem kulturellen Gedächtnis an den Völkermord, das nicht mehr an die Präsenz der Überlebenden gebunden ist.6 Der millionenfache Völkermord an den Juden sowie der Genozid an den Sinti und Roma sind für liberale Demokratien weltweit zum Paradigma für den markantesten Zivilisationsbruch der Moderne geworden. Die auf einer rassistischen und totalitären Schweiz ist dies „Der Verein Schweizer Freunde von Yad Vashem“ ; siehe : https://www.yadvashem.org/ de/friends/contacts.html, letzter Zugriff 22.5.2020. 4 Zu den architektonischen Konzepten, die die Gebäulichkeiten und den Landschaftspark von Yad Vashem und USHMM prägten, siehe : Neuman, Shoah Presence. 5 Ebd. 6 Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S.24f.
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Ideologie beruhenden Verfolgungsmassnahmen des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten betrafen Bürger und Bürgerinnen europäischer aber auch aussereuropäischer Nationen. Die im Jahr 2000 geschaffene International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die 34 demokratische Staaten auf vier Kontinenten umfasst, und in der Yad Vashem eine wesentliche Rolle als wichtiges Kompetenzzentrum spielt, bezeugt ebenfalls eine universelle Inanspruchnahme der Erinnerung an den Völkermord mit dem Ziel, allgemeingültige Grundlagen zur Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus zu erarbeiten. Die Schweiz ist seit 2004 Mitglied der IHRA und übernahm 2017 den jährlichen Vorsitz.7 Gegenwärtig wird in der Schweiz verstärkt die Frage der Notwendigkeit einer zentralen, nationalen Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus und des Holocaust diskutiert. Die Debatte um ein offizielles Mahnmal erhielt zusätzlichen Aufwind, nachdem nachgewiesen werden konnte, dass rund 400 Schweizerinnen und Schweizer in deutschen Konzentrationslagern zu Tode kamen.8 Eine weitere Initiative stellt das Anliegen in den Raum, zusätzlich für diese Schweizer und Schweizerinnen in deren Heimatgemeinden Stolpersteine zur Erinnerung an deren Schicksal zu setzen.9 Politisch sind diese Begehren insofern umstritten, da eine solche Initiative auch die heikle Frage nach der Mitverantwortung der damaligen Schweizer Behörden am Tod dieser Menschen verstärkt thematisieren dürfte.10 Bis auf Weiteres wird deshalb die Schweizer Gedenkstättenkultur wohl auf lokale Initiativen wie die „Gedenkstätte für Flüchtlinge im zweiten Weltkrieg“ in Riehen bei Basel oder auch auf Gedenksteine auf jüdischen Friedhöfen beschränkt bleiben.11 7 International Holocaust Remembrance Alliance : https://www.holocaustremembrance.com/, letzter Zugriff : 04.05.2020 ; „Switzerland to chair Holocaust alliance“. swissinfo.ch, 05.11.2015 : https://www. swissinfo.ch/eng/genocide_switzerland-to-chair-holocaust-alliance/41761432, letzter Zugriff : 04.05. 2020. 8 Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Opfer. 9 „Heimatgemeinden“ sind eine föderale schweizerische Sonderheit im Recht, wie es im ersten Bundesgesetz des Bundesstaates von 1848 legiferiert wurde ; die Heimatgemeinde verankert demnach das Bürgerrecht in einer dauerhaft vererbbaren Herkunftsgemeinde, auch wenn diese Heimatgemeinde nicht identisch mit dem Ort der Niederlassung im Inland ist. 10 Die Frage nach dem Rechts- und Diplomatieschutz zugunsten der Schweizer NS-Opfer ist Gegenstand des Schlussberichtes der UEK sowie einer UEK-Spezialstudie zum öffentlichen Recht gewesen. 11 Siehe dazu u.a. die Interpellation von Angelo Barrile, „Haltung des Bundesrates zu einem offiziellen Gedenken an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus“ (18.4270), 13.12.2018 : https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft ?AffairId=20184270, letzter Zugriff : 06.05.2020 ; Späti, Christina. „Denkbarrieren des Sonderfalls. Die vergessenen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“. Geschichte der Gegenwart, 04.06.2017 : https://geschichtedergegenwart.ch/denkbarrieren-des-sonderfalls-die-vergessenen-schweizer-opfer-der-nationalsozialistischen-verfolgung, letzter Zugriff : 06.05.2020 ; Meyer, Monumentales Gedächtnis ; Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges : http://www.gedenkstaetteriehen.ch/, letzter Zugriff : 06.05.2020.
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In Israel hingegen stellt Yad Vashem einen zuweilen sakral anmutenden, Erinnerungsort dar, der zur staatsbindenden Identitätsstiftung beiträgt und zu den meist besuchten Örtlichkeiten in der an Sehenswürdigkeiten reichen Stadt gehört.12 Als nationale Gedenkstätte gehört der Gebäudekomplex, der seit seiner Gründung mehrfach erweitert wurde, zum Pflichtprogramm europäischer Staatsgäste. Dabei wird die „Hall of Remembrance“, wo eine ewige Flamme brennt, die von den Namen der bedeutendsten Konzentrations- und Vernichtungslager umgeben ist, zum Ort, wo der prominente Besucher in Begleitung seiner israelischen Gastgeber innehält und in einer Schweigeminute der Opfer gedenkt.13 Als erster Schweizer Bundesrat besuchte 1973 Pierre Graber Yad Vashem. 1985 folgte Pierre Aubert, 1991 Flavio Cotti, 2001 Joseph Deiss und 2003 Micheline Calmy-Rey. Bundesrat Ueli Maurers Staatsvisite folgte 2010. Anlässlich des internationalen Holocaust Gedenktages vom 27. Januar 2013 bezog er sich in der offiziellen Botschaft des Bundespräsidenten mit folgenden Worten auf diesen Besuch : „Am 10.Oktober 2010 besuchte ich die Yad Vashem-Gedenkstätte in Jerusalem. In der „Halle der Erinnerung“ entzündete ich erneut die Gedenkflamme für die Opfer des Holocaust und legte einen Blumenkranz zu Ehren der Opfer nieder. Anschließend schrieb ich die Worte „Nie wieder !“ ins Ehrenbuch des Museums.“14 Die emotionale Erschütterung Maurers wird in der Berichterstattung der Schweizer Medien zum Besuch des Bundesrats noch deutlicher hervorgehoben : Während gut einer Stunde schritt Maurer schweigend die Säle des Museums ab. Er erhielt dabei Erklärungen in deutscher Sprache. Offensichtlich betroffen betrachtete Maurer die Platten, auf denen Aufnahmen des Genozids an den Juden zwischen 1939 und 1945 zu sehen sind. In der «Halle der Erinnerung» zündete er die Gedenkflamme für die Opfer des Holocaust wieder an und legte einen Blumenkranz nieder. «Mir fehlen die Worte», sagte Maurer, als er aus der Halle trat.15
Als vorläufig letzter Schweizer Staatsgast besichtigte Außenminister Didier Burkhalter im Mai 2013 die Gedenkstätte, wo er ebenfalls in der Hall of Remembrance einen Kranz niederlegte.16 Dass in jüngerer Vergangenheit sogar ausländische rechtspo12 So wird Yad Vashem auf der populären Bewertungswebsite Tripadvisor als eine der „Top 10 Sehenswürdigkeiten“ von Israel aufgeführt. 13 Neuman, Shoah Presence, S.77f. 14 Vgl. Medienmitteilung des Bundesrates : Den Opfern zum Gedenken : https://www.admin.ch/gov/de/ start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-47568.html, letzter Zugriff : 05.05.2020. 15 Raabe, Norbert. „Mir fehlen die Worte“. Tages Anzeiger, 11.10.2010 : https://www.tagesanzeiger.ch/ schweiz/standard/mir-fehlen-die-worte/story/28975247, letzter Zugriff : 05.05.2020. 16 Für die Übersicht zu den Bundesratsbesuchen in Yad Vashem danke ich François Wisard, EDA ; siehe
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pulistische und auch rechtsextreme Politikerinnen und Politiker Yad Vashem einen Besuch abstatten, wohl um sich und ihren Parteien mit diesem Ritual Respektabilität zu verschaffen, bezeugt die moralische Autorität, die die Gedenkstätte in Anspruch nehmen kann. Die mithin unweigerlich aufgeworfene Frage nach dem Potenzial einer möglichen politischen Instrumentalisierung Yad Vashems, sei es von Seiten israelischer oder ausländischer Politiker, wird von der Gedenkstättenforschung als einer der heiklen Aspekte dieser Institution kritisch reflektiert, um die Lauterkeit des eigenen Anliegens, würdevolles Gedenken zu gewährleisten, aufrecht zu erhalten.17 Doch nicht nur Schweizer Bundesräte besuchen Yad Vashem und lassen sich vor Ort durch Experten den Holocaust erklären. Seit 2010 nehmen auch Lehrpersonen aus der Schweiz diese Möglichkeit zu einer spezifischen Weiterbildung in Anspruch.18 Sie machen sich an Schulungen in Jerusalem mit dem Völkermord und seinen spezifischen Implikationen für die Schweizer Geschichte vertraut. Mehrere pädagogische Hochschulen nutzen damit ein israelisches Angebot, das ihnen die Bedeutung des Holocaust erklärt und zugleich auch passende Lehrmittel anbietet, die sie im Geschichtsunterricht verwenden können. Als Pädagogen dienen sie als wichtige Multiplikatoren für eine wissenschaftlich fundierte Erinnerung an den Holocaust in der breiteren Öffentlichkeit.19 Die spezifische globale Ausstrahlung von Yad Vashem ergibt sich seit 1962 jedoch primär aus der Verleihung des Ehrentitels „Gerechte unter den Völkern“. Diese Bezeichnung nimmt ebenfalls Bezug auf das Buch Jesaia, in dem die Rolle der Nichtjuden in der durch den Messias erlösten Welt erörtert wird. Darauf stützt sich wiederum die folgende Aussage im Talmud : „Die Gerechten aus den Völkern haben einen Platz in der kommenden Welt.“ In religiöser Diktion werden die nichtjüdischen „Ge-
auch : Medienmitteilung des Bundesrates : Bundesrat Didier Burkhalter reist nach Israel und in das Besetzte Palästinensische Gebiet : https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-48680.html, letzter Zugriff : 05.05.2020 ; Bolliger, Monika. „Es fehlt in Israel an Vertrauen“. NZZ, 04.05.2020 : https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen. msg-id-48680.html, letzter Zugriff : 05.05.2020. 17 Betz, „Mosques, Minarets, Burqas and Other Essential Threats“ ; Gerson, Daniel. „Der Holocaust wird oft instrumentalisiert“. Salzburger Nachrichten, 27.01.2020 : https://www.sn.at/politik/weltpolitik/ der-holocaust-wird-oft-instrumentalisiert-82562791, letzter Zugriff : 04.05.2020. 18 Ich danke Sabina Brändli von der Pädagogischen Hochschule Zürich und Peter Gautschi von der Pädagogischen Hochschule Luzern für ihre Informationen ; siehe auch : Yad Vashem. Seminarangebote für die deutschsprachigen Länder : www.yadvashem.org/de/education/seminars.html, letzter Zugriff : 06.05.2020. 19 Thyroff/Gautschi, „Studienreisen nach Yad Vashem“.
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rechten“ wie die Juden Anteil an der messianischen Zeit beanspruchen dürfen.20 Die irdische Auszeichnung besteht aus einer Urkunde, die der geehrten Persönlichkeit oder ihren Nachkommen übergeben wird, sowie einem Baum, der auf dem Gelände der Gedenkstätte in Erinnerung an den „Gerechten“ gepflanzt wird.21 Mit der Würdigung verbindet Yad Vashem das Gedenken an den Völkermord mit der Erinnerung an die Hilfe, die Nichtjuden gefährdeten Juden geleistet hatten und ihre Solidarität bewährten, indem sie Verfolgte angesichts einer tödlichen Bedrohung durch die Staatsgewalt retteten. Die auf den Holocaust bezogene israelisch-jüdische Erinnerungskultur tritt auf diese Weise in einen Dialog mit der Welt und ihren öffentlichen Erinnerungsbezeugungen. Die Verleihung der Urkunde „Gerechter unter den Völkern“ unterstreicht, dass den durch die deutschen Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure bedrohten Juden auch unter widrigsten Umständen geholfen werden konnte. Die Verleihung des Ehrentitels erfüllt somit eine eminent moralisch-pädagogische Aufgabe. Sie erinnert an die Bereitschaft, selbst unter widrigsten Umständen altruistisch zu handeln. Die geehrten Frauen und Männer repräsentieren aus Sicht von Yad Vashem die symbolische Verbindung zwischen jüdischer Gemeinschaft und nichtjüdischen Gesellschaften und ermöglichen den Heimatländern der „Gerechten“ einen ermutigenden Zugang in ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust. Dass die Ehrungen auch propagandistisch missbraucht werden können, dürfte zwar seltener Fall bleiben, gehört aber zum reflexiven Umgang mit Auszeichnungen ganz allgemein.22 Bis 2020 wurden etwas mehr als 27.000 Persönlichkeiten geehrt, darunter über 50 Schweizerinnen und Schweizer.23 Am meisten „Gerechte“ stellt mit fast 7000 Ehrungen Polen. Doch belegen die Ehrungen von Bürgern Ecuadors, Indonesiens oder Tunesiens, dass „Gerechte“ weltweit gewürdigt werden, und dass der Holocaust als Erinnerungskultur eine globale Bedeutung besitzt.24 Nicht ganz zufällig begannen die Ehrungen der „Gerechten unter den Völkern“ 1962 im unmittelbaren Nachgang zum Eichmann-Prozess in Jerusalem von 1961. Mit dem Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann, einen der wichtigsten Organisatoren des Völkermords, wurde einer 20 Universität Innsbruck. Die Bibel in der Einheitsübersetzung : https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/ bibel/, letzter Zugriff : 03.05.2020. 21 Yad Vashem. Die Gerechten unter den Völkern : https://www.yadvashem.org/de/righteous.html, letzter Zugriff : 03.05.2020. 22 Croitoru, Joseph. „War die heldenhafte Familie Uma etwa typisch ?“ Frankfurter Allgemeine, 09.04.1916 : https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/judenrettung-in-polen-heldenhaftigkeit-einer-ganzen-nation- 14162281.html, letzter Zugriff : 04.05.2020. 23 Vgl. die Datenbank von Yad Vashem : https://righteous.yadvashem.org/. 24 Hirte/ Klingräff, Israel, Fragen nach / Europa, S. 464f.
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Abb. 1 : Eine der zahlreichen Wände mit den Namen der „Gerechten“ in Yad Vashem. Foto : Fabienne Meyer 2019
breiteren Öffentlichkeit erstmals das globale Ausmaß des Holocaust vor Augen geführt. Die nationalsozialistische Judenverfolgung, die 1933 einsetzte und schließlich von 1941 bis 1945 den Charakter eines systematischen Völkermords annahm, war nicht allein die Tat des Deutschen Reiches, sondern implizierte die Politik vieler Staaten, nicht nur in Europa. Während des Eichmann-Prozesses zeigte sich zudem, dass neutrale Staaten und selbst die Alliierten, beispielsweise durch eine judenfeindlich geprägte Flüchtlingspolitik, in das Geschehen des Holocaust verwickelt waren.25 Mit dieser Erkenntnis öffnete sich mithin der Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten, mit denen den bedrohten Juden Hilfe geleistet werden konnte. Dabei wurde erkennbar, dass je nach nationaler, regionaler, aber auch lokaler Situation die unterschiedlichsten Handlungsspielräume zur Verfügung standen, um jüdisches Leben zu retten. Zahlreiche Zeugen, die am Prozess aussagten, verdankten ihr Überleben in irgendeiner Form der Hilfe von Nichtjuden. Dies ermöglichte nicht nur der Justiz,
25 Zur Bedeutung des Eichmann-Prozesses für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, siehe : Seiter, Holocausterinnerung im Museum, S.72 ; Arendt, Eichmann in Jerusalem.
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sondern auch der Wissenschaft einen detaillierten und differenzierten Einblick in die Lebensbedingungen der Juden in den Gesellschaften, in denen sie gelebt hatten.26 Ein zentraler Aspekt des Eichmann-Prozesses stellte die Vernichtung des ungarischen Judentums 1944 dar. In Budapest organisierte Eichmann und sein Stab sowie ungarische Beamte innerhalb weniger Monate die Deportation von über 400.000 Juden ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nach internationalen Protesten blieben die Budapester Juden von diesen Massendeportationen weitgehend verschont. Doch wurden sie bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 von ungarischen Faschisten massiv verfolgt und benötigten weiterhin Hilfe, um ihr Überleben zu sichern. In den Gerichtsverhandlungen kamen deshalb auch die Themen „Widerstand“ und „Rettung“ zur Sprache, da zahlreiche Zeugen von ihrem Überleben in Budapest berichten konnten.27 So kann nicht erstaunen, dass als erster Schweizer der ehemalige Vizekonsul in Budapest, Carl Lutz, bereits 1964 als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wurde. Der international noch berühmtere schwedische Diplomat, Raoul Wallenberg, erhielt posthum schon Ende 1963 diese Auszeichnung.28 Lutz und seine damalige Gattin Gertrud Lutz-Fankhauser, die erst 1978 ausgezeichnet wurde, sowie ein ganzes Team von Schweizer Konsularbeamten und Privatpersonen, die ebenfalls erst Jahre später auf diese Weise gewürdigt wurden, hatten sich 1944/45 unermüdlich für die Rettung Tausender Juden in Budapest eingesetzt. Lutz und seine Helfer und Helferinnen gehören mit ihren Schutzpässen und ihren unter diplomatischen Schutz gestellten Häusern wohl unbestreitbar zu den bedeutendsten Rettern jüdischen Lebens während des Holocaust. Sie handelten ohne offiziellen Auftrag aus Bern. Die private Initiative wurde indes von den eidgenössischen Behörden geduldet.29 Aufgrund des großen Umfangs seiner Rettungsaktion und der relativ prominenten Stellung von Lutz als diplomatischem Vertreter der Schweiz gab es weltweit zahlreiche Menschen, die seinen Einsatz für die Juden Budapests belegen konnten. Seine sehr frühe Würdigung erklärt sich auch aus diesen Gründen. Lutz ist deshalb bis heute, nicht zuletzt dank des Engagements seiner Stieftochter Agnes Hirschi, der international wohl bekannteste Schweizer „Gerechte“ geblieben.30 Im nationalen Schweizer Kontext erfährt nur der St. Galler Polizeioffizier Paul Grüninger eine ähnlich hohe Beachtung. Grüninger wurde 1971 von Yad Vashem 26 Moore, Survivors. 27 Bauer, „Anmerkungen zum „Auschwitz-Bericht“ von Rudolf Vrba“. 28 USHMH. Raoul Wallenberg and the rescue of Jews in Budapest : https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/raoul-wallenberg-and-the-rescue-of-jews-in-budapest, letzter Zugriff : 11.05.2020. 29 Hirschi/Schallié, Under Swiss protection. 30 Ebd.
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geehrt. Er rettete zahlreiche Leben, indem er als leitender Polizeibeamter des Kantons Sankt Gallen 1938/39 mehreren hundert meist österreichischen Juden dank der Fälschung ihrer Einreisedaten den entscheidenden Grenzübertritt in die Schweiz ermöglichte. Er widersetzte sich damit der antisemitisch geprägten Flüchtlingspolitik des Bundesrats, die seit dem Sommer 1938 mit einer sehr restriktiven Visapolitik und schließlich ab Oktober mit der Tolerierung des „J-Stempels“ die Einreise von Menschen jüdischer Herkunft aus dem „Großdeutschen Reich“ drastisch einzudämmen suchte.31 Paul Grüninger wurde denn auch 1939 angezeigt und aus dem Polizeidienst entlassen. Seine soziale Existenz als Schweizer Beamter war durch sein illegales humanitäres Handeln zerstört. Erst in den späten 1960er-Jahren, unter anderem dank der Publikation „Das Boot ist voll“ des Journalisten Alfred Häsler 1967, wurde auch allgemein bekannt, dass die Schweizer Behörden durch ihre restriktive Flüchtlingspolitik schuldhaft in die Judenverfolgung und den Holocaust verstrickt waren. Dieser Perspektivenwandel, der die Schweiz nicht mehr ausschließlich als humanitäres „Rettungsboot“ abbildete, verschaffte Paul Grüninger und seinen Angehörigen endlich Gehör bei ihrer Forderung nach Gerechtigkeit und einer öffentlichen Anerkennung seines mutigen Handelns. Seine Auszeichnung als „Gerechter unter den Völkern“ im Jahre 1971, wenige Monate vor seinem Tod, muss Grüninger wenigstens die Genugtuung vermittelt haben, dass sein mutiges Handeln nicht gänzlich dem Vergessen anheimgefallen war. Die formelle Rehabilitation durch den Kanton St. Gallen sollte jedoch erst Jahrzehnte später, 1993, erfolgen.32 Heute ist sein Name vielen Menschen ein Begriff. Auch hier geht es um die Setzung von Zeichen : In der Schweiz tragen eine Straße, ein Stadtplatz sowie eine Brücke seinen Namen, ebenso in Nordamerika und in Wien. Jüngst wurde eine Paul-Grüninger-Strasse in Rischon-le-Zion in Anwesenheit von Bundesrat Schneider-Ammann eingeweiht.33 Die Paul-Grüninger-Stiftung trägt dazu bei, dass sein Wirken regelmäßig in Erinnerung gerufen wird.34 Diese aktuelle Prominenz verdankt Grüninger seiner Familie und einem Freundeskreis aus jüdischen Geretteten und Schweizer 31 Keller, Grüningers Fall, und der darauf beruhende gleichnamige Dokumentarfilm von Richard Dindo aus dem Jahre 1997. 32 Vgl. dazu den Beitrag von Wulff Bickenbach in diesem Sammelband sowie Bickenbach, Gerechtigkeit für Paul Grüninger, S.202–280. 33 „Schneider-Ammann weiht Strasse in Israel ein“. Tages Anzeiger, 30.10.2017 : https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/schneiderammann-weiht-strasse-in-israel-ein/story/16196512, letzter Zugriff : 06.05.2020 ; „Paul Grüninger in Israel geehrt“. swissinfo.ch, 31.10.2017 : https://www.swissinfo.ch/ ger/holocaust_paul-grueninger-in-israel-geehrt/43640112, letzter Zugriff : 06.05.2020. 34 Paul Grüninger Stiftung : http://www.paul-grueninger.ch/, letzter Zugriff : 06.05.2020.
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Intellektuellen, die sich für die Rehabilitierung des geächteten Polizeioffiziers auch noch nach seinem Tod einsetzten. Seine Ehrung durch Yad Vashem vor 50 Jahren bildete dazu eine wesentliche Voraussetzung. Grüninger und Lutz zählen wohl zu den bekanntesten „Gerechten“ der Schweiz. Sie setzten sich im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit für die Verfolgten ein, indem sie entweder wie Lutz ihre Befugnisse sehr breit interpretierten und im Falle Grüningers restriktive Vorschriften zugunsten der Flüchtlinge ignorierten oder diese im Sinne der Verfolgten manipulierten. Die beiden mutigen Staatsdiener handelten aber auch nicht alleine. Sie wurden von einem familiären und beruflichen Umfeld unterstützt. Im Kontext der Rettungsaktion in Ungarn wurden neben dem Ehepaar Lutz-Fankhauser weitere Persönlichkeiten als „Gerechte“ geehrt : Friedrich Born (1987), Ernst Vonrufs (2001), Peter Zürcher (1998) und Harald Feller (1999). An der österreichisch-schweizerischen Grenze ermöglichte 1938 der Bregenzer Konsularbeamte Ernest Prodolliet, der 1982 geehrt wurde, zahlreichen jüdischen Flüchtlingen entgegen den geltenden Bestimmungen die Einreise in die Schweiz.35 Meist männliche Funktionsträger stellten aber nur einen Teil der „Gerechten“ dar. So rettete in Budapest die Nonne Hildegard Gutzwiller 1944/45 zahlreiche jüdische Frauen und Kinder, indem sie ihnen in ihrem Kloster Unterschlupf gewährte und dafür 1995 posthum geehrt wurde. Die Rolle von Frauen als Retterinnen verfolgter Jüdinnen und Juden ist nicht hoch genug einzuschätzen. Rein numerisch ist bei den Schweizer „Gerechten“ das Verhältnis zwischen Männern und Frauen fast ausgeglichen.36 Auch wenn Frauen damals nur wenige Karrieren offen standen, waren es gerade solch meist durch Frauen besetzte Berufe wie Krankenschwester oder Lehrerin, die sie während des Krieges bei ihren Rotkreuzeinsätzen im besetzten Frankreich mit verfolgten Juden in Kontakt brachten. Aber auch als Privatpersonen setzten sich viele Schweizerinnen im In- und Ausland für die Rettung jüdischer Menschen ein.37 So wurden bezeichnenderweise kurz nach Carl Lutz zwei Frauen ausgezeichnet, die einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben sind : 1966 35 Wisard, Les justes suisses ; Zeller, Ernst Prodolliet ; siehe auch : „Ein Gebot von Anstand und Redlichkeit : Ernst Prodolliet, 1905–1984“. Audiatur Online, 30.08.2016 : http://www.audiatur-online. ch/2016/08/30/ein-gebot-von-anstand-und-redlichkeit-ernst-prodolliet-1905-1984/, letzter Zugriff : 10.05.2020. Das Ortsmuseum der Stadt Amriswil ehrte seinen Bürger Ernest Prodolliet 2020 mit einer Ausstellung. 36 Schätzung beruhend auf Wisard, Les justes suisses. Die Zahl der „Schweizer“ Gerechten ist nur annähernd feststellbar, da je nach Zählung andere Kriterien für die Bestimmung der Schweizer Staatsangehörigkeit verwendet wurden. 37 Im Hof-Piguet, Fluchtweg durch die Hintertür ; Businger, Stille Hilfe und tatkräftige Mitarbeit ; Kanyar Becker, Vergessene Frauen, Weber, Gegen den Strom der Finsternis.
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erhielt Frieda Impekoven die Urkunde als „Gerechte unter den Völkern“ und 1967 Germaine Muehlenthaler. Frieda Impekoven, verheiratet in Frankfurt am Main, half verfolgten Jüdinnen durch materielle Unterstützung und durch die Gewährung von Obdach. Germaine Muehlenthaler nutzte ihre Arbeit als Leiterin eines Kinderheims in Marseille, um verfolgte Juden zu verstecken und war ihnen bei der Flucht in die Schweiz behilflich. 1967 wurde auch der Theologe Hans Schaffert geehrt, der 1942 im Internierungslager Gurs Juden vor der Deportation in die Vernichtungslager rettete. 1976 erhielten der Schweizer Pfarrer Roland de Pury und seine Gattin Jacqueline die Auszeichnung für ihre Rettungsaktion in Lyon, die es Verfolgten ermöglichte in die Schweiz zu fliehen.38 Diese Form individueller Hilfe von Schweizerinnen und Schweizern im Ausland, die über eine kürzere oder längere Zeit verfolgten Jüdinnen und Juden teilweise lebensrettende Hilfe leisteten, stellt die große Mehrheit der „Gerechten“, deren Engagement jedoch lange Zeit wenig Beachtung fand. Die Ehrung der meisten dieser Frauen und Männer erfolgte seit den 1980er-Jahren, als auch die Schweizer Flüchtlingspolitik verstärkt in den Fokus der Medien und der Geschichtsschreibung geriet. Das humanitäre Wirken von Schweizerinnen und Schweizern diesseits und besonders auch jenseits der Grenze stieß nun auf breiteres Interesse. Viele der Zeitzeugen von damals lebten noch und hatten jetzt das Bedürfnis, ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs publizistisch einzubringen. Auch die geretteten Männer und Frauen, die während des Krieges Kinder oder Jugendliche waren, setzten sich im fortgeschrittenen Erwachsenenalter vermehrt für die Würdigung ihrer Retter ein. Zwischen 1985 und dem Jahr 2000 ehrte Yad Vashem Maurice Dubois, Renée Farny, Germaine Hommel, Anne-Marie Im Hof-Piguet, Rösli Näf, Sebastian Steiger und Margaretha (Greta) Tobler. Sie alle hatten sich erfolgreich für die Rettung zahlreicher jüdischer Kinder im Heim von La Hille im Departement Ariège eingesetzt. An die dramatische Rettung der meisten Kinder und Jugendlichen von La Hille erinnert vor Ort eine Gedenktafel : Das fünfhundert Jahre alte Schloss La Hille bot in den schwärzesten Stunden des 20. Jahrhundert etwa hundert jüdischen Kindern einen schützenden Hafen. Sie kamen aus Deutschland und waren vor den Schrecken und dem Rassenhass geflohen, die in Wellen über Holland, Belgien und einen großen Teil Frankreichs hinweg zogen. Nach ihrer Ankunft im Schloss im Jahr 1941 lebten sie dort unter dem Schutz der wohlwollenden Einwohner der Gegend und mit der Unterstützung einer Gruppe junger Schweizer, der „Hilfe für Kinder“ vom Roten Kreuz der Schweiz : Maurice und Eléonore Dubois, Rösli 38 Wisard, Les justes suisses, S. 18f.
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Näf, Eugen Lyrer und Emma Ott. Diese allzu kurze Atempause endete mit den Razzien im August 1942, als die vierzig über Sechzehnjährigen von Gendarmen verhaftet und in das Lager Vernet im Ariège gebracht wurden, der ersten Etappe auf dem Weg in die Todeslager, für die sie bestimmt waren. Als Herr Dubois, der Leiter der Einrichtung, davon erfuhr, fuhr er sofort nach Vichy, wo er es schaffte, zu dem obersten Führer der Staatspolizei vorzudringen und „seine Kinder“ wie auch die erwachsenen Begleitpersonen vor der Deportation zu retten. Die „Kinder aus Hille“ konnten in das Schloss zurück kehren. (…) Im Lauf seiner Geschichte hat das Schloss nie einen Kampf erlebt, aber in dieser Episode wurde es Zeuge eines Sieges der Menschlichkeit über die Barbarei. Die Ehemaligen von La Hille danken ihm, wie auch den Einwohnern von Montégut Plantaurel und Umgebung.39
Das Beispiel „La Hille“ belegt, wie „neutrale“ Schweizerinnen und Schweizer durch eigenständiges Handeln Verfolgte vor der Ermordung bewahren konnten. Nicht alle in diese Rettungsaktionen involvierten Personen sind auf der Gedenktafel namentlich erwähnt. Und nicht alle wurden bis heute von Yad Vashem ausgezeichnet. 1990 kam es zur Ehrung des Ehepaars Auguste und Friedel Bohny-Reiter, die als Heimleiter in Chambon-sur-Lignon in der südfranzösischen Auvergne zusammen mit französischen Protestanten Juden retteten. 2001 wurde Elisabeth Eidenbenz ausgezeichnet, die in Südfrankreich, unter anderem im Internierungslager Rivesaltes, half, Juden vor der Deportation zu bewahren und sie anschließend in die Schweiz „schmuggelte“.40 Die bisher letzten Schweizer Ehrungen durch Yad Vashem erfolgten 2015 für das Ehepaar Mark und Jane Gander, das 1944 in Milano einen jüdischen Jungen vor der Deportation rettete, indem es ihn als ein Familienmitglied ausgab und 2016 für die Schwestern Ida Muller und Jeanette Carmen, die in Rom eine Jüdin verstecken und dadurch retten konnten.41 Das Verhältnis von Yad Vashem und der Schweiz widerspiegelt in gewisser Hinsicht auch das Verhältnis der Schweiz zum Holocaust seit den 1960er-Jahren. Als nach 1964 die ersten Schweizerinnen und Schweizer geehrt wurden, fand diese Anerkennung außerhalb des direkt betroffenen Personenkreises in der Öffentlichkeit wenig Widerhall. Lutz und Grüninger mussten jeweils noch Jahrzehnte warten, bis sie auch von der offiziellen Schweiz gewürdigt wurden. Die „Gerechten“, die seit den 1980er-Jahren ausgezeichnet 39 Chemins de Mémoire. „Château de la Hille in Montégut-Plantaurel“ : https://www.cheminsdememoire. gouv.fr/de/chateau-de-la-hille-montegut-plantaurel, letzter Zugriff : 13.05.2020 ; Steiger, Die Rettung der Kinder von La Hille. 40 Wisard, Les justes suisses, S. 22f. 41 Ich danke Marisa Fine von der Gedenkstätte Yad Vashem und Fabienne Meyer für die Informationen zu Mark und Jane Gander sowie zu Ida Muller und Jeanette Carmen.
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wurden, stießen zumindest vorübergehend auf ein gewisses publizistisches Interesse. Teile der Zivilgesellschaft, wie die Kirchen oder Hilfswerke, sahen in den Geehrten Vorbilder für humanitäres Handeln. Parallel dazu erfahren auch die Lebensgeschichten von Holocaustüberlebenden, die in der Schweiz wohnen, vermehrt Beachtung.42 1997 hatte Bundesrat Pascal Delamuraz noch verkündet „Auschwitz liegt nicht in der Schweiz“.43 2020 wurde im Schweizer Landesmuseum in Zürich die Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“ permanent in die Präsentation der nationalen Geschichte integriert. Diese Entwicklung ermöglichte nicht zuletzt das internationale Engagement von Yad Vashem. Die Gedenkstätte vermochte der Schweizer Öffentlichkeit den Völkermord an den Juden als ein historisches Ereignis zu vermitteln, mit dem dieses Land nicht nur durch eine restriktive Flüchtlingspolitik verbunden war, sondern das dank seinen „Gerechten“ auch humanitäre Traditionen verwirklicht hatte. Sie handelten meist im Widerspruch zu den Richtlinien ihrer Vorgesetzten. Im Bundeshaus findet sich seit Februar 2018 eine von Bundesrat Ignazio Cassis eingeweihte Gedenktafel, mit der an das humanitäre Wirken der von Yad Vashem geehrten Schweizer Konsularbeamten in Budapest erinnert wird : Cette salle est dediée à toutes les collaborateurs du Département qui, come Carl Lutz, Harald Feller, Gertrud Lutz-Fankhauser, Ernst Vonrufs et Peter Zürcher en 1944–1945 à Budapest, ont fait preuve d’une grande humanité qui doit nous inspirer.44
Inwiefern die Schweiz eine eigene nationale Gedenkstätte benötigt, um künftig an einem bestimmten Ort sich des Holocaust zu erinnern und diesen Zivilisationsbruch dauerhaft in die eigene Geschichte zu integrieren, wird wohl die nähere Zukunft weisen. Doch die aktuellen Diskussionen belegen, dass der Völkermord an Juden, Roma und Sinti und weiteren Gemeinschaften 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem Ende des Zweiten Weltkrieges wohl auch künftig eine kontroverse Rolle im kollektiven Gedächtnis der Schweiz spielen wird.45 42 Ein Beispiel für diese Integration des Holocaust in die Schweizer Geschichte ist auch die vom EDA initiierte Reihe von Autobiografien von Frauen und Männern, die nach dem Völkermord in der Schweiz lebten. Siehe : Lefkovits, „Mit meiner Vergangenheit lebe ich“. 43 Maissen, Thomas. „Worum ging es in der Weltkriegsdebatte ?“ NZZ, 06.08.2003 : https://www.nzz.ch/ article8Z1M4-1.286328, letzter Zugriff : 13.05.2020. 44 Ignazio Cassis. Twitter : https://twitter.com/ignaziocassis/status/963036814893252609 ?lang=cs, letzter Zugriff : 14.05.2020. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Dieser Raum wird allen Mitarbeitenden des Departements gewidmet, die wie Carl Lutz, Harald Feller, Gertrud Lutz-Fankhauser, Ernst Vonrufs und Peter Zürcher in den Jahren 1944-1945 in Budapest eine große Menschlichkeit an den Tag legten, welche uns inspirieren muss.“ 45 Siehe dazu : Einhaus, „Carl Lutz als Ikone benutzt ?“.
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DIE ERINNERUNG ERZÄHLEN : ZEITZEUGENSCHAFT UND WEGE ZUR VERMITTLUNG NARRATING MEMORY : CONTEMPORARY WITNESSING AND WAYS OF COMMUNICATING In einer Zeit, in der die Zeitzeugen des Holocaust aus Altersgründen vermehrt auf ihre Leben zurückblickten, traten Überlebende, welche ihre Erinnerungen in Worte oder Bilder oder Musik fassen, aus einer langen Zeit der Anonymität in die Öffentlichkeit hervor. Stets konfrontiert mit dem Ende der Erzählbarkeit von Erfahrungen, hat sich diese Generation von Überlebenden bereit erklärt, mündliches oder schriftliches Zeugnis abzulegen, um die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Eine Reflexion über die Rolle der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust und die Eruierung der Fremd- und Selbstbilder, wie sie auch in Dokumentarfilmen festgehalten werden, tut not. Nicht zuletzt ist Zeitzeugenschaft im Schulunterricht, der derzeit generell eine starke „Digitalisierung“ durchläuft, von Bedeutung. Hinzu kommen eingängliche und auch populäre Darstellungen, die unauslöschlicher Bestandteil eines vielfach sedimentierten Holocaust-Bewusstseins sind. Indes meldet sich heute eine dritte Generation – opfer- wie täterseitig – von Nachfahren zu Wort, die Fragen stellt und Zeugnisse ihrer Großeltern aktiv bewahren will. Mit Respekt vor dem Leiden will sie zugleich kritisch hinterfragen und verstehen, warum die Generation ihrer Eltern und Großeltern so lange geschwiegen hat oder zum Schweigen gebracht wurde. At a time when Holocaust witnesses were increasingly looking back on their lives for reasons of age, survivors who put their memories into words or pictures or music emerged from a long period of anonymity into the public eye. Always confronted with the end of the narrativity of experiences, this generation of survivors has agreed to give oral or written testimony to keep the memory of the Holocaust alive. A reflection on the role of contemporary witnesses to the Holocaust and the erudition of images of the other and of oneself, as they are also captured in documentary films, is necessary. Last but not least, contemporary witnessing is important in school lessons, which are currently undergoing a strong “digitalisation” process. In addition, there are catchy and also popular depictions which are an indelible part of a frequently sedimented Holocaust consciousness. However, a third generation of descendants – both victims and perpetrators – is now speaking out, asking questions and actively preserving the testimonies of their grandparents. With respect for the suffering, it wants to critically question and understand why the generation of their parents and grandparents has been silent or silenced for so long.
Anna Fersztand
Jakub, 115110, Jake, Jacques, Jakob Eine vorläufige Mitteilung über die Spurensuche der dritten Generation A Jewish man who survived the concentration camps begins to tell his granddaughter (the author) the story of his youth. Gradually, his genealogy with its many gaps can be reconstructed with the involvement of relatives abroad. Soon it turns out that it is a matter of transmission to the following generations and it becomes compulsory for the listener. In order to protect the frail grandfather, they both go into quarantine after the outbreak of the Corona crisis. From psychoanalytical thinking, an expanded understanding of traumatized survivors of the Holocaust emerges for the time being. Mein 88-jähriger Großvater ist gebrechlich, pflegebedürftig und häufig krank – sein Leben neigt sich allmählich dem Ende zu. Nach dem Tod seiner Ehefrau vor fünf Jahren ist unser Kontakt enger geworden, und er hat angefangen, mir aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Als polnischer Jude ist er in den Konzentrationslagern knapp den Gaskammern entkommen. Jakub Eliasz Fersztand wurde 1931 im polnischen Kozienice geboren. Seine Mutter Chaja Bendler war eine renommierte Hebamme und Mojzesz Fersztand, sein Vater, besaß ein Beratungsbüro im Kern des Dorfes von Kozienice, das er sich mit einem einbeinigen Nicht-Juden teilte. Mojzesz las, prüfte, schrieb und unterzeichnete Verträge und andere Dokumente für die ländliche Bevölkerung. Als gebildeter Mann verdiente er sein Geld mit Lesen und Schreiben, so erzählt mein Großvater. Seine Großeltern, Tanten und Onkel lebten in Lublin, Warschau und Paris. Vor der Besetzung Polens durch Nazideutschland fuhren mein Großvater und sein Vater häufig nach Lublin, um dort die Verwandten zu besuchen. 1940 wurde mein Großvater deportiert. In seinem Beitrag „Eine gestohlene Kindheit“ zum Sammelband „Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust Überlebenden“ berichtet er von der ersten Deportation bis zur letzten.1 Er erzählt vom Hunger, von den Krankheiten, dem Alleinsein und seiner stetigen Angst, welche ihn bis heute noch begleitet und auf die ich später zurückkommen werde. Seine letzte Station während des Krieges war Theresienstadt. Das Lager wurde 1945 von der roten Armee befreit. Am 14. August 1945 wurde mein Jakub Eliasz Fersztand mit 731 1 Fersztand, „Eine gestohlene Kindheit“.
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anderen Kindern, „the Boys“, die sich bis heute so nennen, ins englische Windermere eingeflogen, wo er eingeschult und auf ein ‘normales’ Leben vorbereitet wurde. Später studierte er „Structural Engineering“ an der School of Engineering in London. Zu dieser Zeit nannte ihn sein Umfeld Jake. Noch in England, suchte er seine zerstreute Familie. Seine Mutter und Schwester, von denen er 1944 getrennt worden war, fand er nicht sofort wieder. Doch seine Suche brachte ihn nach Paris zu einem seiner Onkel (ein Bruder seines Vaters) und dessen Sohn. Sie nannten ihn Jacques. Nach dem Studium lernte er meine Großmutter in einem Swissclub in London kennen. Sie heirateten, ließen sich in der Schweiz nieder und bekamen zwei Jungen, darunter mein Vater. Verschiedene Namen haben meinen Großvater durchs Leben begleitet : Jakub Eliasz, Jake, Jacques, Jakob Fersztand. Mein Interesse an der Geschichte meines Großvaters hat sich durch mein Studium der Sozialanthropologie noch verstärkt : Die ersten Notizen und schriftlichen Aufzeichnungen unserer Gespräche habe ich mit der Zeit erweitert durch Ton- und Videoaufzeichnungen. Dazu kamen Recherchen über seinen Familienstammbaum, der mir aufzeigte, von wie vielen Vorfahren der Verbleib im Dunkel des Holocaust verschwunden ist. Dass ich auf eine Weise „auserwählt“ worden bin, seine Geschichte und seine Geschichten zu hören, habe ich mit der Zeit als Verpflichtung wahrgenommen : Ich begann zu verstehen, dass die Weitergabe seiner Erzählungen an mich, an die dritte Generation, auch der jüdischen Tradition geschuldet ist – als Teil der Geschichte des jüdischen Volkes. Nachdem ich nach Ausbruch der Corona-Pandemie zu meinem Großvater zog, hat sich meine Auseinandersetzung mit seiner Geschichte weiter intensiviert. Erzählend, tastend und vorläufig soll dieser Text diese Auseinandersetzung wiedergeben und auch einbetten in psychoanalytische Einsichten, die mir hilfreich schienen.
Erste Erhebungen Mein Großvater hielt sein Leben lang immer wieder Vorträge an Schulen und Universitäten, gab Interviews und schrieb seinen Beitrag zu den Memoiren. Innerhalb der Familie hörte ich ihn kaum darüber reden. Fragen von meiner Schwester und mir wies er meistens damit ab, dass er nicht auf Kommando erzählen könne : „Jetzt nicht, ein andermal vielleicht“ ! Und dies jahrelang. Als meine Großmutter Erika verstarb, mein Großvater war 83 Jahre alt, veränderte sich unsere Beziehung. Er fing an, mehr aus seiner Geschichte zu erzählen. Lag es daran, dass er begonnen hatte, an sein Sterben zu denken ? Während eines Krankenhausaufenthaltes 2017 besuchte ich ihn in seinem Krankenzimmer und fand ihn sehr nachdenklich vor. Ich erinnere mich daran, das erste Mal mit ihm über den Tod und sein Sterben gesprochen zu haben. Er hatte Angst.
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Nach diesem Treffen schrieb ich meine ersten Notizen nieder, um das Gespräch festzuhalten. Dies war der Anfang all der Aufzeichnungen, die noch folgen sollten. Über Weihnachten 2017 wohnte ich eine Woche bei ihm, doch wusste er zu Beginn nicht mehr, wo er mich einordnen sollte. Zwar war ihm bewusst, dass er mich irgendwie kannte und wir uns nahestanden, aber als seine Enkelin war ich ihm fremd. Da zeigte sich mir zum ersten Mal seine Demenz. Also zeichnete ich einen kleinen Stammbaum auf, um ihm unsere Verwandtschaft vor Augen zu führen, mit seinen Söhnen, deren Frauen und Kindern, seinen Eltern, seiner Schwester, Großeltern, Tanten, Onkel und Cousins – von Lublin, Paris, in Israel und Nordamerika. Und auch dies war wieder ein Auftakt, nämlich zu meinem wachsenden Interesse an Genealogie. Bald wurden meine Notizen mit Tonaufnahmen von unseren unzähligen, langen Gesprächen erweitert. Später kontaktierte ich unsere Verwandten in Israel, die ich schon kannte. Sie haben mir den Kontakt zu den Verwandten in Paris ermöglicht. Und zeitgleich erweiterte ich meine Dokumentationsmöglichkeiten mit einer Videokamera.
Paris, erste Spurensuche Im Februar 2020 reise ich zu meinen Verwandten nach Paris. Sie überraschten mich mit ihrem großen Interesse an Genealogie. Durch ihre eigene Spurensuche hatten Sie schon vor meiner Ankunft den Familienstammbaum zurück bis in das Jahr 1750 zusammengestellt. Auf der Reise von Basel nach Paris hatte ich begonnen, meine ersten Notizen in mein Tagebuch niederzuschreiben. Ich war nervös, unsicher und voller Erwartungen. Wie werden sie mich begrüßen, mich aufnehmen ? Wie sehen sie aus ? Werden wir uns erkennen ? Ob sie mich überhaupt mögen werden ? So viele Zweifel und neugierige Fragen und nur drei Stunden von den Antworten entfernt. Ich begegne meinen Familienmitgliedern, als ob es nie eine Unsicherheit gegeben hätte, und ich werde herzlich empfangen. Alle sind sehr interessiert an meinem Projekt, die Geschichte meines Großvaters zu rekonstruieren – aber ebenso an mir, dem neuen Familienmitglied, das sogleich integriert wird. Und bald breiten Sie mir die Familiengeschichte aus. Ein neues Wissen geschenkt zu erhalten, löst in mir tiefe Momente des Glücks aus : Da gab es Henri, ein Onkel meines Großvaters, der Bruder meines ermordeten Urgroßvaters Mojzesz. Nach dem Krieg, als mein Großvater seine Familienmitglieder suchte und bevor er seine Mutter und seine Schwester wiederfand, fand er Henri und dessen Sohn Claude. Er besuchte sie kurz nach dem Krieg in Paris. Claude erzählte mir, wie sie sich damals zum ersten Mal begegnet seien – sie hatten meinen Großvater damals schon ohne Umschweife in den Verwandtenkreis aufgenommen. Henri kümmerte sich um seine Neffen, die von ihren
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Vätern durch den Krieg verlassen wurden. Er besuchte sie jährlich bis zu seinem Tode, weilte jeweils einen ganzen Monat in Israel und in der Schweiz. Henri war derjenige, der sich als ‘Oberhaupt’ verstand und sich verpflichtet fühlte, die Überlebenden zu sammeln und zusammenzubringen. Und flugs, um mir alles sichtbar zu machen, ergänzten sie auf einem Laptop den vorbereiteten Familienstammbaum. Die Notizen und die Videoaufnahmen mehrten sich, umfangreiches Material würde also zuhause auf die Auswertung warten. Und wir beschlossen auch, dass ich meinem Großvater Videobotschaften von seinen Pariser Verwandten heimbringen würde. Eingebettet in Freundlichkeit und Aufmerksamkeit, bin ich in diesen Tagen in Paris immer wieder überwältigt und den Tränen nahe. Wieder kommt mir meine Problematik gegenüber meiner jüdischen Verwandtschaft in den Sinn, zu der ich ja auch gehöre und ebenso doch nicht – vom Gesetz her bin ich keine Jüdin, und möchte es vielleicht doch sein ?2 Auf der Heimfahrt nach Basel, versuche ich zu schreiben. Doch das Wasser in meinen Augen sammelt sich immer wieder und tropft auf die Seiten meines Tagebuches. Ich weine und schaue den Abendlichtern zu, die am Fenster des Zuges vorbeiziehen. Ich habe Heimweh, nach der Familie, nach Paris.
Zusammenbruch – Aufbruch Es ist der 6. Februar 2020. Als ich in sein Zimmer komme, begrüßt mich mein Großvater gleich mit der Frage „Wie war Paris ?“. So sehr ich es will, kann ich ihm die Frage nicht so einfach beantworten. Ich habe ihm drei Videobotschaften mitgebracht. Eine seines Cousins Claude, die andere von Hélène, der Tochter eines anderen Cousins, und eine weitere von Sabine, der Frau eines Großcousins und deren Söhne, Benjamin und David. Ich lege den Laptop mit den Botschaften hin und stelle daneben meine Kamera, auf meinen Großvater gerichtet, auf, um seine Reaktion festzuhalten. Ich filme ihn zum ersten Mal. Die zweite Botschaft, von Hélène ist ziemlich ausführlich. Sie spricht die schrecklichen Holocaust-Erinnerungen an, welche aber niemals so stark seien, wie die Liebe, die uns verbinden würde. Nach diesem Video fließen bei meinem Großvater die Tränen, ein Taschentuch nach dem anderen zupft er aus der Kleenex-Schachtel. Er wendet sich nach dem zweiten Video mir zu und sagt, dass er nicht alles verstanden hätte. Ich übersetze ihm 2 Madeleine Dreyfus weist in Ein ziemlich jüdisches Leben auf die unterschiedlichen Auslegungen des „Gesetzes“ und die Spielräume, wer Jude oder Jüdin ist, hin.
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die Kernaussagen, während nun auch meine Stimme versagt. Dann sitzen wir eine Weile schweigend da. Grandpa : It’s very difficult to… Anna : To put words on it ? Grandpa : To put words on it and to control the emotions […] Yeah… I don’t know… you never think about that part of it. It’s…it just overcomes you…maybe this doesn’t happen to people who had a normal life in a sense that… the life just continued and… finished in a normal way. That people live and die. Because you know this is the universe. It’s the way humankind is but we never had the opportunity to find out what is in us actually. Anna : What is in you in what way ? Grandpa : Well emotionally. Anna : Because you couldn’t talk about it ? Grandpa : Yeah, because we couldn’t talk about it. We didn’t feel about it either, you know. You saw a picture of family in Lublin you thought it’s…well that’s what family is but apparently, it’s more than that…I don’t know… Anna : Möchtest Du ein paar Schritte gehen ? Grandpa : Nicht im Moment. Nicht im Moment, weil… ich muss erst zurück kommen zu mir selber. You know I mean it. I am just not really strong enough to take much more of it at the moment. To take much more of this sort of feeling at the moment. I don’t know why, I can’t tell you… Nach einem Kaffee, ein paar wenigen Alltagsbeobachtungen und einer langen Pause : Grandpa : You can’t live like that. You can’t live with emotions like that all the time. It’s not possible. And that’s why we try to distance ourselves from them without realizing it. You know… I notice now it needs very little to wake them all up again. I couldn’t imagine I would react the way I did now. Auch darauf folgt eine lange Pause. Unsere Blicke kreuzen sich, ab und zu entfällt ihm oder mir ein flüchtiges Lächeln, Hände haltend. Grandpa : Ich habe mir nicht vorgestellt, dass das so lange in dir bleibt. Ich meine in mir, ja ? Denn ich habe auch gemeint, das sei schon lange verarbeitet, dass es automatisch geht, irgendwie. Aber das scheint nicht der Fall zu sein. Ich weiß nicht… Grandpa : Aber man kann nicht so weiter machen. Mit so Emotionen weißt du…das ist… das ist zu stark eigentlich, zu viel Kraft braucht das. Wenn wir in unserem nor-
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malen Trott drin sind, können wir uns gar nicht vorstellen, dass so viel…Gefühle in uns noch… Anna : Lauern… Grandpa : Ja…wahnsinnig. Weil so Gefühle… die bleiben auch nicht bei jedem im gleichen Maß. Und das ist gar nicht gut, dass man mit so Gefühlen leben muss. Ich weiß nicht. Das ist wirklich nicht gesund. (Lacht) Also, als ich in Paris war, ich bin oft in Paris gewesen, habe ich nie so Gefühle ausgelassen, ich hatte diese Gefühle gar nicht. Nicht, dass ich die verleugnet habe oder nicht realisiert habe, dass so etwas in mir drinsteckt, aber die sind nie auf den Platz rausgekommen. Claude und Colette und all diese Parisiens…ich hatte nie so Gefühle durchgeblickt. Ich bin oft da gewesen. Aber das ist auch nie rausgekommen, ich weiß nicht, was es eigentlich braucht, um diese zu aktivieren in dir. Anna : Mhm… Grandpa : Das ist ja nichts Unerfreuliches, dass es jetzt passiert ist, im Gegenteil. Nun ja…die Zeit, die wird alles wieder ordnen. (Lacht)
Psychoanalytische Trauma-Theorie Was ist da geschehen ? Um das besser verstehen zu können, oder einem Verstehen näher zu kommen, wird in wenigen und vereinfachten Zügen ein Teil der psychoanalytischen Theorie eingefügt, wie sie Sigmund Freud3 zum Begriff Trauma entwickelt und wie sie Jacques Lacan4, auf Freud aufbauend, weitergeführt hat. Ein Trauma5 ist ein Ereignis, das die Psyche eines Menschen mit Reizen überflutet, welche sie nicht verstehen und denen sie nichts entgegensetzen können. Als Vorbild dieses Geschehens nennt Freud die völlige Hilflosigkeit des Säuglings, der weder fliehen, noch Schutz suchen, noch sich zur mütterlichen Brust bewegen kann. Als physiologische Frühgeburt spielen Instinkte kaum eine Rolle, und erst ganz langsam tauchen schemenhafte Wahrnehmungen auf. Erst im sogenannten Spiegelstadium, etwa im Alter 3 Sigmund Freud (1856–1939) wird aus der Studienausgabe zitiert. Seine Theorien sind fast über sein ganzes Werk immer wieder weiterentwickelt worden. In dieser Arbeit wird fast ausschließlich mit den letzten Theorien gearbeitet und dabei lediglich die Aussagen verwendet, die zu einem besseren Verständnis der hier vorliegenden Traumata im Sinne von realen Eingriffen in existentielle Lebensverhältnisse führen. 4 Jacques Lacan (1901–1981) sei als Begründer der strukturalen Psychoanalyse zumindest erwähnt. Er hat, aufbauend auf der modernen Linguistik und des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus von Ferdinand de Saussure, Freud neu und zeitgemäß interpretiert. 5 Freud, Hemmung, Symptom und Angst, u.a. S. 281f.
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von sechs bis achtzehn Monaten, bilden sich beim Kind (ahnungs-mäßig) Vorstellungen von seiner Gestalt und seiner Ganzheit aus. Das Kind, in eine sprachlich strukturierte Umwelt gesetzt, kann dann Laute erkennen und auch senden, Bezeugungen von Unmut oder Freude. Gleichzeitig mit dem beginnenden Sprechen wird das Spiegelbild bald auch als Täuschung und inkonstant erkannt. So entsteht im kleinen Kind ein Anfang von Wissen um sich selbst, ein Wissen, das auch der Umwelt zugerichtet ist. Es ist der Beginn von einem Bewusstsein oder dem Ich.6 Dies aber ist getrennt von einer anderen Seite seiner Psyche : Je nach Nomenklatur wird diese bezeichnet als Es7 oder als das Unbewusste. Und dieser Teil bleibt mehr dem Körper zugeneigt (und eben un-bewusst). So ist also ein Trauma das Erleben einer völligen Hilflosigkeit8 der Psyche, die dabei auseinanderzufallen droht. Vielleicht müsste präzisiert werden : Es wäre ein Trauma (nach heutigem Sprachgebrauch), doch es bleibt unbewusst und ist eine bloße Erschütterung der Psyche. Das Bewusstsein versucht, den überfordernden Einflüssen ein Wissen entgegenzusetzen. Das mag vielleicht zu einem Teil gelingen, aber was eigentlich traumatisch wäre, was nicht fassbar ist, verbleibt im Unbewussten. All diese Ereignisse der ersten zwei bis drei Lebensjahre verfallen in der Regel der frühkindlichen Amnesie (sie sind vergessen). Es tauchen höchstens hin und wieder ganz isolierte Erinnerungen an Kleinigkeiten auf, die scheinbar in keinem Zusammenhang mit dem eigentlichen, vergessenen Erlebnis stehen. Doch auf diese Weise lernt ein Kind allmählich zu verstehen, was auf es einwirkt – immer aber nur den Teil, den es zu verstehen vermag, und immer nur so, wie es verstehen kann, was meistens der Realität gar nicht angemessen ist. All diese Bemühungen, die Flut von Reizen psychisch zu fassen und zu binden, das heißt, mit dem Ich verstehen zu können und sie zu verarbeiten, sind Versuche, mehr von der Welt zu begreifen. Diese psychische Reifung eines Kindes setzt sich fort bis über die Pubertät hinaus. Nun aber stellt sich die Frage der Angst im Zusammenhang mit dem Trauma : Angst ist kein Gefühl, sie ist ein Affekt9 und damit eine Aktion des Bewusstseins, um einer 6 Das Ich ist das Bewusstsein, das aber auch unter dem Einfluss des Unbewussten als auch des Über-Ichs (Gewissen) steht. Es vermittelt zwischen diesen Instanzen und der Umwelt – ist also mitnichten autonom. 7 Das Es ist das Unbewusste, das ursprünglich nach Freud relativ eng mit der Körperlichkeit und dessen Ansprüchen verbunden ist, aber auch als Gefäß des Verdrängten dient und all der Einflüsse, die nie zum Bewusstsein gelangen (der sogenannte Primärvorgang). 8 Die psychische Hilflosigkeit ist ein zentraler Begriff der Traumatheorie und darüber hinaus geworden. Vgl. Freud, Hemmung, Symptom und Angst, S. 303f. und Freud, Neue Folge der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 95. 9 Vgl. Freud, Hemmung, Symptom und Angst, S. 273 f., S. 280 f., S. 289. Freud beschreibt den Affekt als Reaktion des Ichs auf eine drohende Gefahr.
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Gefahr begegnen zu können, sie zu vermeiden oder zu bekämpfen. Das Es, das Unbewusste, kann keine Angst haben.10 Allerdings kann es aus früheren Überforderungen eine Reaktion produzieren, die sich ins Ich fortsetzt und von diesem als aufkommende (unbekannte) Gefahr interpretiert wird. Die Angst ist also ein Affektzustand, der nur vom Ich verspürt werden kann. Das Ich aber produziert wie zur Verteidigung Angst, kennt allerdings die eigentliche, drohende Gefahr gar nicht. Doch das Ich sucht diese (oder eine) Gefahr – besser : die Angst sucht eine Gefahr – an der sie sich festmachen und artikulieren kann. Dabei kann das so gefundene Bedrohende ein unheimliches Gefühl sein oder es ist in der Realität etwas konkret Unheimliches zu finden – zum Beispiel eine dunkle Gestalt, ein fremder Mensch oder die Enge eines Fahrstuhls. Verfestigt sich das zum Beispiel in einer Platzangst, so ist damit ein Symptom entstanden, ganz im Dienste dessen, eine Gefahr an etwas Konkretem festmachen zu können. Es bleibt nun beizufügen, dass aus dem Symptom nicht auf die Ursache geschlossen werden kann, denn der Affekt hat sich auf etwas Konkretes verschoben.11 Eine weitere Besonderheit : Wir kennen schwer traumatisierte Menschen – oder nehmen an, dass sie es aufgrund ihrer Erlebnisse sein müssten. Doch sie scheinen vom erschütternden Ereignis völlig unberührt und erzählen ungerührt davon. Jedoch kann dies eine Kleinigkeit jener Zeit sein, die ein Symptom zustande gebracht hat : Ein gleichzeitiges benachbartes Ereignis hat den Affekt des Traumatischen auf sich gelenkt. Das eigentliche Trauma, respektive das Erlebnis der Hilflosigkeit, wird dafür der Verdrängung überlassen. Kurz formuliert heißt dies : Das Trauma ist an sich die Erinnerung an die psychische Hilflosigkeit12, wie wir weiter unten sehen werden.
Die Lüge der Mutter Während meinen Recherchen stieß ich auf archiviertes Videomaterial, welches ich in der USC Shoah Foundation13 gefunden hatte. Darin ist mein Großvater zu sehen, 10 Freud, Hemmung, Symptom und Angst, S. 280. 11 Oft jedoch scheint verwunderlich, dass es Traumata gibt, die keine Angst auslösen – aber zum Beispiel Verwunderung. Es tritt ein Trauma ein – und der psychische Apparat bleibt stumm. Dies ist vergleichbar mit einem Schock (in der Psychoanalyse auch als Schreck bezeichnet), bei dem eine Person völlig unvorbereitet von einer tiefgreifenden Erschütterung getroffen wird, in Hilflosigkeit stürzt, oft die Orientierung verliert, als Person auseinandergefallen erscheint, ihr Ort und Zeit abhandengekommen sind – oder sie erstarrt. Das Trauma aber bleibt im Unbewussten haften. 12 Freud, Hemmung, Symptom und Angst, S. 303f., S. 308. Vgl. auch Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 135f. 13 USC Shoah Foundation – The Institute, for Visual History and Education, University of Southern California, Interview vom 16. Juli 1999.
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wie er seine Geschichte erzählt. Er schildert seine Erlebnisse, an viele Details kann er sich jedoch „erstaunlicherweise“ kaum mehr erinnern. Während der Sichtung fällt mir auf, dass er fast regungslos erzählt. Fast scheint es, durch seine nicht verändernde Haltung, seine sich immer wiederholende Handbewegung und seinen stets auf den Interviewer gerichteten Blick, ein Berichten zu sein. Er verwendet viele stereotype Antworten, möglicherweise verweisen sie auf die Anstrengung, bei der Sache zu bleiben. Einerseits ist die eigentlich erstaunliche und für den Zuhörer fast schmerzliche Sachlichkeit der Erzählung ein Beispiel für Rationalisierung14 : Die Emotionen, die dem Trauma inhärent wären, aber eben die Psyche überfluten würden, bleiben im Register Es, im Unbewussten – und das Ich, der Verstand, erklärt Fakten und Wissen (was nun den traumatisierenden Erinnerungen fern ist und diese auch in Ruhe lassen). Die Rationalisierung ist ein Abwehrvorgang, der verdrängt und ist so ein schützendes Symptom. In einer Sequenz dieser Schilderungen erzählt mein Großvater, wie er sich noch an den Tag erinnern könne, als seine Mutter, seine Schwester und er sich heimlich trafen (diese Szene spielte sich im ersten Ghetto ab), um einen Topf Bohnen zu essen. Als sie zurück in die Baracken kamen, wurde seine Mutter beschuldigt, die Bohnen gestohlen zu haben. Sie bestritt dies aber. Bei dieser Erzählung kommen meinem Großvater nun zum ersten Mal Tränen, seine Mundwinkel zittern. Diese Vorstellung, dass seine Mutter habe lügen müssen, dass sie so tief habe sinken müssen, das sei schrecklich gewesen, erzählt er. Diese isolierte, detaillierte Erinnerung hat die Funktion eines Symptoms übernommen, um auch den größten Teil des Schmerzes dem Vergessen zu überlassen. Das aber nicht zu begreifende Elend war die damalige umfassende Hilflosigkeit. Nun übernimmt das Ich diese kleine Episode, bindet einen Teil, den bewussten Affekt, nämlich, dass die Mutter habe lügen müssen. Die Scham oder Sünde ist so schmerzhaft, dass es ein Symptom schafft und das ungreifbare Elend als nicht zu bewältigendes Phänomen schützt, indem es unbewusst bleiben kann. (Man sollte sich ab und an daran erinnern, dass unbewusst eben nicht gewusst ist). Wenn ein Kind, ein Jugendlicher, über so lange Zeit und immer wieder traumatisiert worden ist, wie mein Großvater, wird er zwar – auch wiederholte – Verdrängungen und Symptome entwickeln können, diese werden jedoch nie genügen. So wird die Rationalisierung brüchig bleiben, Einbrüche von Erinnerungen drohen immer wieder und es scheint naheliegend anzunehmen, dass zusätzlich auch eine soge14 Rationalisierung : Ernest Jones, Psychoanalytiker und Biograf Freuds, hat diesen Begriff 1908 entwickelt und publiziert. Der Begriff meint, dass durch mehr oder weniger bewusste Versachlichung (der Beschreibung) eines Geschehens seine emotionale Besetzung abgewehrt (oder verdrängt) werden könne. Ob er als eigentlicher Abwehrvorgang verstanden werden kann, ist umstritten geblieben.
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nannte Ich-Spaltung schützend mitgeholfen hat : Freud nimmt an, dass einer Ich-Spaltung ein Trauma zugrunde liegt. Das Bewusstsein ist aber gezwungen, mit zwei verschiedenen Realitäten zurechtzukommen. Eine Ich-Spaltung ist aber keine Trennung zwischen Unbewusstem und Ich, sondern schafft innerhalb des Ichs zwei getrennte Bereiche. In der Situation meines Großvaters würden zwei Realitäten nebeneinander bestehen : die auftauchenden Erinnerungen und Bilder des Holocaust auf der einen Seite und auf der anderen die lebbare Realität des Alltags, in der das Trauma (besser das Traumatisierende) keinen Platz hat. Es sind zwei Register, in denen die Person je nach Bedarf von einer Wahrheit zur anderen wechseln kann und muss. Allerdings, nach Freud, geschehe dies als Einriss „im Ich, der nie wieder verheilen, aber sich mit der Zeit vergrössern wird“.15 Dies könnte bedeuten, dass bei meinem Großvater diese Spaltung all die Jahre überdauert hat und damit unter anderem seine „geistigen Abwesenheiten“ (oder Rückzüge) und auch charakterlichen Sturheiten geschaffen hätten.
Zusammenbruch Was ist passiert, als ich meinem Großvater die Videobotschaften überbrachte ? Wieso ist dieser Einbruch geschehen ? Weshalb, auch er fragt danach, sind diese Emotionen erst jetzt aufgetaucht ? Und warum hat dies 75 Jahre gedauert ? Die Abwehrvorgänge, die ihn vor den puren Erinnerungen schützten, scheinen zusammengebrochen zu sein. Auch, weil diese Verdrängungsmöglichkeiten bei meinem Großvater nur brüchig oder unvollständig sind. Und wenn dieser schützende Wall gegen das Unbewusste zusammenbricht, taucht das Verdrängte auf : Die Erinnerung ist das Trauma. Aufgrund seiner Heimatlosigkeit und der Trennung von der Mutter gab es, wie wir weiter unten sehen werden, keine Möglichkeit, diese traumatisierenden Jahre nur einigermaßen zu verarbeiten. Mit Gesprächen hätte man mit dem Kind langsam und immer wieder reden und Emotionen aufdecken können und vielleicht wäre es damit ein wenig gelungen, einen Teil der Geschichte zu verarbeiten. Als mein Großvater zwölf Jahre alt war, wurde er aber von seiner Mutter und seiner Schwester getrennt. Nicht nur von seinen einzigen Bezugspersonen (alle anderen verschwanden oder wurden zu einem früheren Zeitpunkt vernichtet), sondern auch von seiner Muttersprache, gar von seiner ganzen Kultur wurde er getrennt. Er wurde von den Briten aufgenommen, in England wurde er sozialisiert, er ging zur Universität und baute sich dort seinen Freundeskreis auf. Die meisten davon waren Mitglieder der „Boys“. Die Sprachenvielfalt setzte sich 15 Freud, Die Ichspaltung im Abwehrvorgang, S. 391f.
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fort, mit seiner Frau sprach er Deutsch und Englisch, mit seinen Söhnen Englisch. Vor fünf Jahren hörte ich meinen Großvater zum ersten Mal Polnisch sprechen.
Das Haus Als ich nach Ausbruch der Corona-Pandemie bei meinem Großvater ankam, saß er im Garten. Er sah meine Koffer und schaute mich fast erschrocken an. Ich setzte mich zu ihm und fragte, wie es ihm gehe. Grandpa : Schmeißt du mich raus von meinem Haus ? Du kannst mich doch nicht von meinem Haus rausschmeißen ? Ich versuchte ihm daraufhin, die Situation zu erklären, dass ich ihn doch nie aus seinem eigenen Haus rausschmeißen würde, dass ich nur hier sei, um mit ihm die Isolation zu überstehen. Anna : Das ist doch dein Haus ! Das bleibt auch dein Haus ! Doch er schien nicht zu hören, was ich sagte. Grandpa : Das Haus ist nichts, wenn es nicht meins ist. Ich weiß, was mein Haus ist. In Kozienice, das Haus meiner Eltern, das war auch mein Haus. Und als es anderen Leuten gepasst hat, haben die uns rausgeschmissen. Und die wohnen immer noch da. Und meine Eltern nicht mehr. Er schien mir etwas verwirrt und meine Beschwichtigungen halfen nicht. Ich nahm an, dass das Haus eine Metapher sei – es war nicht sein gegenwärtiges Wohnhaus, es stand für den Rausschmiss aus dem Elternhaus, die Vertreibung schlechthin, auch aus der Muttersprache. Er hatte damals sein Haus endgültig verloren. Seine tiefe Angst, die sich so ausdrückt, beschreibt, dass er seither nirgends mehr Zuhause gewesen ist. Mit der Isolation musste mein Großvater seine Beziehungen auf telefonische Kontakte reduzieren, was er anfangs kaum begreifen konnte. Er war damit noch mehr ausgeschlossen. Während ich bei meinen früheren Besuchen jeweils nur einige Stunden mit ihm verbracht hatte, lebte ich nun mit ihm zusammen. Sein Leid bekam ich täglich mit, ebenso seine Klagen. Er hat aber nicht nur physische Schmerzen, auch hat er immer wieder Angst – Angst, nicht lebendig aus „dieser Sache“ herauszukommen, Angst, aus seinem Zuhause rausgeschmissen zu werden, Angst, allein zurückgelassen
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zu werden. Angst vor dem Sterben. Zudem führt ihn der Konflikt zwischen seinem Wunsch nach Autonomie und seiner körperlichen Unfähigkeit zu Wut und Schweigen, zu Verzweiflung und Ohnmacht. Ich bin nun Teil des Geschehens geworden. Durch das enge Zusammenleben verändert sich auch meine Arbeitsmethode. Meine Kamera steht täglich im Raum. Ich muss mir regelrecht vornehmen, an manchen Tagen nicht zu filmen. Es ist fast unmöglich geworden, mich in dieser Situation zu distanzieren und eine reflektierende Distanz aufrecht zu halten. Ich stelle mir jetzt schon vor, dass es viel Aufwand bedeuten wird, meine beobachtende und beschreibende Haltung wiederherzustellen.
Weitergabe und Transmission Als übernächste, dritte Generation eines jüdischen Holocaust-Überlebenden ist mir vieles weitergegeben worden. Einiges davon ist mir im Verlauf der beschriebenen Recherchen klar geworden, anderes noch ein Rätsel geblieben. Meine Arbeit mit der Transmission geht weiter. Die Geschichte wird als ihre Wirkung auf die nachfolgenden Generationen tradiert, so bin auch ich betroffen und möchte das Erlebte und Gehörte in Sprache und Schrift übersetzen und auch in andere Sprachen übertragen. Momentan beschäftige ich mich damit, in den nächsten Schritten das Projekt in eine filmische Darstellung zu transformieren, um die Geschichte auch mit diesem Medium weitergeben zu können.
Literaturverzeichnis Dreyfus, Madeleine. Ein ziemlich jüdisches Leben. Säkulare Identitäten im Spannungsfeld interrelligiöser Beziehungen. Wien/Köln/Weimar : Böhlau Verlag, 2016. Evans, Dylan. Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien : Turia und Kant, 2002. Fersztand, Jake. „Eine gestohlene Kindheit“. „Mit meiner Vergangenheit lebe ich“. Memoiren von Holocaust-Überlebenden. Hg. Ivan Lefkovits, Berlin : Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2016. Freud, Sigmund. Hemmung, Symptom und Angst. Studienausgabe Bd. VI, 1926. Frankfurt am Main : S. Fischer, 1971. Freud, Sigmund. Die Ichspaltung im Abwehrvorgang. Studienausgabe Bd. II, 1940. Frankfurt am Main : S. Fischer, 1971. Freud, Sigmund. Neue Folge der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke Bd. XV. Frankfurt am Main : S. Fischer, 1999. Laplanche, Jean und Jean-Bertrand Pontalis. Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1989.
Barbara Bonhage
Die Geschichte(n) erzählen Biografische Holocausterinnerungen der dritten Generation in der Schweiz Even today, 75 years after the liberation of Auschwitz, it is still elementary to make visible the victims of National Socialism in order to learn from their stories for the present and the future. Three Swiss granddaughters tell their stories. They bring together what happened in their families in Germany, Israel, Poland, England, France, and the USA before they were born. They speak of perpetrators, followers and victims whose fates and deeds still have an impact on their lives today. By breaking the silence, which often lasted for decades, they want to contribute to the “never again” and pass on universal values of human dignity to their children, the representatives of the fourth generation. Auch in der Schweiz leben heute Enkelinnen und Enkel von Holocaust-Überlebenden nebeneinander mit Enkeln und Enkelinnen von Nazis. In einer Zürcher Seegemeinde wohnen an einer Straßenecke drei Frauen so nah beieinander, dass sie sich gegenseitig in ihre Wohnzimmer blicken könnten. Darüber hinaus verbindet sie nicht viel. Oder ist es doch mehr ? Zu ihrer gemeinsamen Geschichte gehört der Holocaust : Ihre jeweiligen Großeltern waren Opfer oder Täter zur Zeit des NS. Typisch für ihr Leben ist, dass sie kaum darüber gesprochen haben. Der Holocaust scheint keine Schweizer Geschichte zu sein. Und doch beschäftigt sie diese Geschichte vor dem Hintergrund ihrer multinationalen Identitäten und als Vertreterinnen der dritten Generation mehr als dies ihr jeweiliger Alltag vermuten ließe.
Kriegsenkel in der Schweiz „Die Geschichte kann uns nur dann etwas lehren, wenn wir begreifen, warum wir in die Irre gegangen sind“, schrieb Margarete Mitscherlich, die einflussreiche deutsche Psychoanalytikerin, bereits 1997.1 Obwohl diejenigen, die durch die Hölle gegangen sind, kaum mehr selber erzählen konnten und obwohl viele Täter beharrlich geschwiegen haben, weiß ich heute genau, wie sehr und erfasse auch, warum meine Großmutter in die Irre gegangen ist. Ich kann erkennen, wie sehr sie Schuld auf sich 1 Mitscherlich, „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“, S. 482.
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geladen hat. Sie hat zwischen 1933 und 1945 erfolgreich Karriere in der nationalsozialistischen Frauenschaft, NSF, gemacht und ist 1937, als eine der wenigen Frauen, auch Mitglied der NSDAP geworden. Hilde, so hieß sie, ist freiwillig mit ihrem Mann, fünf kleinen Kindern und im vierten Monat schwanger im Mai 1941 aus dem Ruhrgebiet ins besetzte Polen übergesiedelt. Dort half sie aktiv mit bei der „Germanisierung“ des Warthegau, dem „Mustergau“ der Nazis. Sie war 34 Jahre alt, eine gebildete Frau aus ursprünglich wohlhabenden Verhältnissen. Ihre Schuld ist ihr nie bewusst geworden. Bereits Ende 1945 starb sie im Alter von 38 Jahren im Südschwarzwald, wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt, an Lungentuberkulose. Dank ihrer guten Vernetzung mit Nazi-Größen, war es ihr gelungen, Posen, die Hauptstadt des Warthegau, frühzeitig, nämlich schon am 19. Januar 1945 zu verlassen, ehe die Rote Armee dort einmarschierte. Wenige Tage später wurde Auschwitz befreit. Hilde und ihre Kinder befanden sich bereits auf der Flucht zu Verwandten im Westen, während Posen nun auch offiziell evakuiert wurde. Warum Hilde blindlings, eher noch verblendet, in die Irre gegangen ist, hat mir nie jemand erklärt. Mehr noch, nie hat mir jemand innerhalb meiner Familie überhaupt ihre Geschichte erzählt. Alle, die Hildes Geschichte kannten oder hätten kennen können, weil sie damals als Erwachsene selber dabei gewesen waren, schwiegen. Die Kinder meiner Großmutter, die 1945 zwischen 4 und 13 Jahre alt gewesen waren, darunter mein Vater, erzählten uns Enkeln nur Bruchstücke, die kein zusammenhängendes Bild ergaben. Ob sie mehr wussten als sie sagten oder nicht, kann ich heute nicht mehr beurteilen. Bei mir erzeugten die wenigen Informationen dennoch ein diffuses Gefühl der Scham für meine Großeltern, das auch meine Eltern und mich selbst einschloss. Ich, die ich in der Schweiz geboren bin und nie über längere Zeit woanders lebte, schämte mich, Deutsche zu sein. Wann immer der Holocaust oder Nationalsozialismus zum Thema wurden, fühlte ich mich befangen. Da angesichts meines akzentfreien Dialekts kaum jemand wusste, dass ich deutscher Herkunft bin, hielt ich den Mund. Bis vor Kurzem wusste ich gar nicht, was meine Großmutter denn genau getan hatte und fand schon gar keine Erklärung dafür, warum sie in die Irre gegangen war. Mein vor wenigen Jahren verstorbener Vater erwähnte mehrfach, er habe eigentlich kaum Erinnerungen an seine Mutter. Als sie starb, war er neun Jahre alt. Er, der im besetzten Polen eingeschult worden war, machte später in Deutschland, zurück im Ruhrgebiet, sein Abitur, verbrachte aber die meiste Zeit seines Lebens in der Schweiz. 1966 war er zusammen mit meiner Mutter aus beruflichen Gründen hierhergekommen, wo wir blieben. Als ich noch ein Kind war, besuchten wir oft das Grab seiner Mutter im nahen Schwarzwald. Da aber meines Vaters spätere Stiefmutter zufälligerweise ebenfalls Hilde hieß und ich die beiden als Kind durcheinanderbrachte, ver-
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stand ich nie recht, wen wir denn da betrauerten und stellte keine Fragen nach ihrem nur kurzen Leben. Ich freute mich eher auf den nachfolgenden Familienausflug im herbstlichen Südschwarzwald. Vor wenigen Jahren wurde klar, dass meine Familie über mehr als 75 Jahre hinweg Hunderte Briefe und Dokumente gesammelt hatte, auf deren Basis sich Hildes Geschichte, ihre Nazi-Karriere, gut rekonstruieren lässt. Niemand hatte dies aber bis dahin getan. Ich durfte die Dokumente mit in die Schweiz nehmen und begann damit, sie zu entschlüsseln. Das, was sich daraus im Verbund mit weiterführenden Recherchen an Erkenntnis ergab, ist vermutlich akkurater als dies jede mündliche Überlieferung vermocht hätte. Das Wichtigste ist : Hildes Briefe machen nicht nur deutlich, dass, sondern auch warum sie in die Irre gegangen ist. Sie war eine außergewöhnlich fleißige Briefeschreiberin, erzählte vom Alltag, von ihren Lektüren und formulierte ihre Gedanken über die politischen Ereignisse ihrer Zeit an die Adresse ihrer Schwester. Für eine Geschichte aus der Perspektive der dritten Generation und angesichts der Tatsache, dass alle damals Erwachsenen, die hätten erzählen können, längst verstorben sind, ist eine solche Faktengrundlage außergewöhnlich. In den meisten anderen Erzählungen der Enkel sind es eher die Symptome des Leidens der zweiten Generation, der Kriegskinder, die vage Hinweise geben auf Ereignisse und Ursachen der Taten und Traumata von damals. In meinem Fall ist die Suche nach dem Warum ergiebiger. Hildes Geschichte erzähle ich weiter unten. Wichtig ist zunächst, dass ich, wie viele Vertreter und Vertreterinnen der dritten Generation Gefühle, Schuld- und Schamgefühle geerbt habe, die nicht aus meiner Lebenszeit herrühren. Ich bin 1972 in Zürich geboren. In diesem Jahrzehnt schien hierzulande wohl nahezu allen Deutschen pauschal ein Nazi-Vorwurf angeheftet zu werden. Das diente vermutlich noch immer der Distanzierung. Ich musste mir als Kindergartenkind mit offensichtlich deutschsprachigen Eltern jedenfalls mehrfach eine Nazi-Hänselei anhören und lernte auch daher zu schweigen. Ich bin die damit verbundenen Gefühle der Scham, zu der auch dasjenige der Fremdheit im mittlerweile eigenen Land gehört, erst losgeworden, nachdem ich die Geschichte meiner Großmutter kannte. Ich habe mehr als 45 Jahre meiner Lebenszeit gebraucht, um zu verstehen, dass meine Biografie und Herkunft zwar Teil der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust sind, dass ich aber mit der Schuld meiner Vorfahren nichts zu tun habe. Heute ist mir klar, dass wir aus der eigenen Geschichte und aus der Erinnerung an die damaligen Menschen – Täter wie Opfer, Widerstandskämpfer oder Helferinnen – elementare Lehren für die Gegenwart und Zukunft in der Schweiz und überall ziehen können.
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Anders als in Deutschland gibt es aber von Schweizerinnen und Schweizern der dritten Generation kaum Berichte.2 Die neutrale Position des Landes, welche in der Schweiz mehr nach dem Krieg als währenddessen zum Leitgedanken gehörte, wurde auch in Erinnerungsfragen mobilisiert. Damit lassen sich das teilweise ausgeprägte Desinteresse am Holocaust genauso erklären, wie die langjährig praktizierte Abwendung des Blicks vom Nachbarn Deutschland. Stellvertretend wurde der Diskurs über die angebliche Wehrfähigkeit der Schweiz und ihre große humanitäre Einsatzbereitschaft geführt. Andere Deutungen, die sich von Schweizer Bezügen zum Geschehen ebenfalls distanzieren, bemühten nationalreligiöse Erklärungsansätze oder schulterzuckend die Überzeugung, die Schweiz habe einfach Glück gehabt.3 Inzwischen hat die Forschung aber klar gezeigt, dass sich die Schweizerische Position aus einem komplexen und multikausalen „Überlebensmix“4 ergab, der gesinnungsmäßig so gezielt nicht gewesen sein konnte. Er resultierte vielmehr mitunter daraus, dass der Schweizer Beitrag wirtschaftlich und politisch rein mengenmäßig völlig unbedeutend gewesen ist.5 Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schweiz einerseits institutionell gesehen „gegen elementare Gebote der Menschlichkeit verstossen“ hat und dazu beitrug, dass Nazi-Deutschland etliche seiner Ziele erreichen konnte.6 Andererseits geht es bei der biografischen Bezugnahme nicht um Mengen, sondern um den Grundsatz, universelle Grundwerte zur Sprache zu bringen und Lehren aus der eigenen Geschichte zu ziehen, um damit zum Nie-Wieder beizutragen. Es geht darum, die Opfer der damaligen Zwangsherrschaft zu erinnern und die Ursachen dafür sichtbar zu machen, warum Menschen in die Irre gegangen sind und sich schuldig gemacht haben, selbst dann, wenn diese Mitglieder der eigenen Familie waren. Es ist tatsächlich wenig naheliegend, große Zahlen an Kriegskindern, Kriegsenkeln oder Nazi-Enkeln7 in der Schweiz zu suchen, und doch gab es sie. Es gab 2 Eine Ausnahme bildet : Batthyany, Und was hat das mit mir zu tun ? Neben der wissenschaftlichen Literatur zur dritten Generation, die für diesen Artikel wie weiter unten vermerkt Anwendung fand, sind in jüngerer Zeit im deutschsprachigen Raum unüberschaubar viele Publikationen literarischer wie dokumentarischer Art mit Berichten über die zweite sowie dritte Generation entstanden, wie etwa : Bruhns, Meines Vaters Land ; Dückers, Himmelskörper ; Fritz, Wie kommt der Krieg ins Kind ; Haarer, Die deutsche Mutter ; Himmler, Die Brüder Himmler ; Höss, Das Erbe ; Lustiger, So sind wir ; Pollack, Die Frau ohne Grab ; Mendelsohn, Die Verlorenen ; Ohana, Rabentochter ; Senfft, Schweigen ; Von Bechtoldsheim, Stauffenberg ; Supletzky, Der letzte grosse Trost ; Blasberg, „Die Dritte Generation“. 3 Tanner, Geschichte der Schweiz, S. 288. 4 Tribelhorn, Die Schweiz und der Holocaust. 5 Tanner, Geschichte der Schweiz, S. 289. 6 Ebd, S. 291 ; Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht, S. 523, 526. 7 Seit der Jahrtausendwende kann in Deutschland von einer Kriegs-Enkel-Bewegung gesprochen wer-
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Schweizer KZ-Opfer8, es gab Schweizer Nazis, es gibt Schweizerinnen und Schweizer, deren Vorfahren direkt mit dem Holocaust verbunden sind. Ihre Familiengeschichten führen nach Russland oder Polen, nach Frankreich, Israel oder in die USA sowie anderswohin. Auch aus Schweizer Sicht ist transnationale Holocausterinnerung der dritten Generation nicht nur möglich, sondern auch wichtig und sinnvoll. Gerade in „Täterfamilien“ ist es in der Schweiz nicht anders als in Deutschland : Mittlerweile haben zwei Generationen oft beharrlich geschwiegen. Loyal haben die Enkel die mögliche Schuld der Eltern oder Großeltern nicht thematisiert. So haben sie die spürbaren Schamgefühle oft selbst nicht mehr zuordnen können9, sodass das schiere Wissen darüber, wo denn zu suchen und nachzufragen wäre, nicht selten mit der Zeit fehlt. Wie aufwühlend es für die zweite und dritte Generation sein kann, dieses Schweigen zu brechen und gegen familiäre Widerstände anzuschreiben, zeigen die verfügbaren literarischen und dokumentarischen Berichte von Vertreterinnen und Vertretern der dritten Generation gut.10 Den Dialog anzustoßen, ist aber nicht nur eine deutsche Aufgabe, sondern hat dort zu erfolgen, wohin die Wege der Nachfahren geführt haben und wo die Geschichte von Holocaust und Nationalsozialismus in der Gegenwart nachwirkt. Daher eben auch in der Schweiz.
Meine Großmutter – die liebevolle Verbrecherin Den Antisemitismus und Rassismus, den meine Großmutter verinnerlicht hatte, erkannte ich bereits, als ich einen ihrer ältesten Briefe von 1926 las. Sie war mit 19 Jahren auf Abiturreise und schrieb nach Hause über die deutsche Minderheit in Estland. Sie sei begeistert „vom Stammesgefüge“, das die Deutschen dort pflegten, sei beeindruckt, dass sich diese „ganz rein in ihrer Rasse“ gehalten hätten und „daher alle rein nordisch“ geblieben seien.11 Nicht nur in der Schule und ihrer Jugendgruppe, sondern auch im Elternhaus lernte Hilde in der Lebensführung „unterdrückter“, deutscher Minderheiten ein Vorbild für sich selbst zu erkennen. Ausgangspunkt dafür den. Sie thematisiert die generationenübergreifende, belastende Wirkung von Kindheiten im Krieg. Alexandra Senfft hat in diesem Kontext den Begriff der Täter-Enkel oder Nazi-Enkel herausdifferenziert. Sie geht dabei von einem doppelt belasteten Erbe aus : einmal wegen der Schuld der Großeltern und dann wegen des Verschweigens dieser Schuld durch die Eltern. Vgl. dazu auch : Süss, „Der lange Schatten unserer Vergangenheit“, S. 56. 8 Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge. 9 Senfft, Der lange Schatten der Täter, S. 62. 10 Siehe Anm. 2. 11 Hilde an ihre Schwester, Brief aus Dorpat, 29. Juli 1926.
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war die Ablehnung der Vereinbarungen des Versailler Vertrags, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zustande gekommen waren und die von breiten Kreisen in Deutschland zurückgewiesen wurden. Hilde verband ihre Kritik, wie viele, die so dachten wie sie, mit dem Auftrag, dass Deutschland die im Osten „verlorenen“ Gebiete wieder zurückerobern müsse. Auf die damals noch jungen Demokratien, wie England, Frankreich oder die USA sei kein Verlass, fand Hilde. Sie war 1907 in London in eine wohlhabende, international agierende Handelsfamilie, die ursprünglich aus Hamburg kam, hineingeboren worden. Mitten im Ersten Weltkrieg, 1916, wurde die Neunjährige aber mit den Eltern und ihrer Schwester aus England vertrieben. Geborgenheit und Frieden tauschte sie ein gegen Hunger und Heimatlosigkeit. 1921 gelangte sie aus den neutralen Niederlanden, die die Familie vorübergehend aufgenommen hatten, im Alter von 14 Jahren erstmals nach Deutschland, ihr eigentliches Heimatland. Sie erlebte später als junge Frau, wie die Folgen der Weltwirtschaftskrise Scharen von Arbeitern bettelnd vor ihr Haus in Dortmund trieben. Sie litt weitere Jahre später darunter, ihr begonnenes Medizinstudium abbrechen zu müssen, weil sie als Frau ohnehin keine Anstellung als Ärztin würde finden können, wie ihr erklärt wurde. Vielmehr sollte sie, wie so viele junge Frauen damals, heiraten, ihrem Mann zu Diensten sein und dem Land möglichst viele Kinder gebären.12 Es sollten nur „die ganz Begabten […] studieren“13, was Hilde „recht trostlos für all die Mädels“14 fand, wie sie enttäuscht an ihre Schwester schrieb. Sie fügte sich aber und heiratete 1931 einen der Studenten, den sie in Bonn kennengelernt hatte und mit dem sie den Fanatismus für den Nationalsozialismus sowie die NSDAP verband. Seither schrieb sie in ihren Briefen der nächsten 15 Jahre liebevoll von ihren Kindern, vom Vorlesen, Basteln, Trösten und Helfen bei den Hausaufgaben. Sie sah ihre Kinder aber auch als „erbgesunde Arier“ und freute sich über deren blonde Haare und blaue Augen. Erzogen wurden die drei Jungen und drei Mädchen zu Soldaten oder Müttern ganz gemäß den Vorgaben der zuständigen Chefideologin für Erziehungsfragen, Johanna Haarer. Hilde fand ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben seit den späten 1920er-Jahren ganz in der „nationalsozialistischen Bewegung“ beantwortet. Jahre vor Hitlers Machtergreifung ließ sich meine Großmutter von der Gefühlsund Angriffspropaganda, die „ihr Führer“ mit viel Intuition und psychologischem Einfühlungsvermögen betrieb15, vollständig einfangen und konstruierte daraus ein Idealbild für das Deutsch- und Frausein, an dem sie sich orientierte. 1933, Hilde lebte 12 Brockhaus, „deutsche Mutter“, S. 23. 13 Hilde an ihre Schwester, Brief aus Dortmund, 30. Dezember 1931. 14 Ebd. 15 Vollnhals et al., Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen.
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inzwischen seit zwölf Jahren im Ruhrgebiet, trat sie in die nationalsozialistische Frauenschaft, NSF, die Frauen-Elite-Organisation der NSDAP ein. Konsequenterweise entschied sie sich nach Kriegsbeginn dazu, eigenhändig im „neuen, deutschen Osten“, oder wie sie es gerne nannte „unserem Frostklaren, aber eben echten und wahren Osten“16, aktiv zu werden. Im Reichsgau Wartheland, kurz Warthegau genannt, dem westlichsten Teil des völkerrechtswidrig besetzten ehemaligen Polen, das die Deutschen 1939 sofort zum Reichsgebiet erklärten, setzte sich Hilde als „Kreisfrauenschaftsleiterin“ der NSF ein, um die „Germanisierung“ dort voranzubringen. In Posen, der Hauptstadt des Warthegau, hielt sie an die Adresse der dorthin umgesiedelten deutschen Minderheiten aus europäischen Ländern wie Estland, Lettland, der Ukraine, Russland und selbst Polen unzählige Vorträge darüber, wie eine nationalsozialistische Lebensführung aussehen sollte. In ihrer Funktion als Kreisfrauenschaftsleiterin dürfte meine Großmutter, erstmals in ihrem Leben, ein Gehalt bekommen haben.17 Hilde gehörte nun zu den 800 mächtigsten Frauen der NS-Frauenschaft, die über vier Millionen Mitglieder zählte. Ihre Vorgesetzte und Parteigenossin, Helga Thrö, war direkt der nationalen Frauenschaftsleiterin Gertrud Scholtz-Klink unterstellt.18 Nach dem Krieg wäre meine Großmutter als Kreisleiterin der NSF gemäß dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 als Kriegsverbrecherin zur Hauptschuldigen erklärt und interniert worden. Durch ihren frühen Tod ist sie nicht nur dem Gefängnis, sondern auch eventuellen Fragen ihrer Kinder oder Enkel entgangen. Hilde trug ab 1938 stolz das „Mutterverdienstkreuz“ für kinderreiche Mütter. Mit ihren bereits fünf Kindern und ihrem Mann wohnte sie bis 1941 aber noch immer zusammen mit den Eltern im Dortmunder Familienhaus. Mit der Umsiedlung nach Posen, eigentlich Poznan, gingen daher lange gehegte Träume in Erfüllung : Sie konnte – durch „Arisierung“ – erstmals ein eigenes Haus beziehen. Mit 14 Zimmern war es viel größer als ihr Elternhaus. In den Dokumenten habe ich ein Foto gefunden, das vor ihrem Einzug in Posen, vermutlich im Herbst 1940 aufgenommen wurde : Es zeigt im Hauseingang eine Frau mit Säugling im Arm, oben steht ein Fenster offen, unten ein Kinderwagen bereit. Vermutlich sind die vormaligen Bewohner darauf abgebildet. Der Säugling dürfte, falls er überlebt hat, heute eine Frau oder ein Mann von 80 Jahren sein. Mit ihrem Antisemitismus und Rassismus sowie dem tatkräftigen Einsatz für „die gemeinsame Sache“, wie Hilde es gerne nannte, trug sie in den folgenden Jahren dazu 16 Hilde an ihre Schwester, Bockswiese, 8. Juni 1943. 17 Himmler, Die Brüder Himmler, S. 71 ; Harvey, „Neugebiet“, S. 83–102. 18 Berger, „Reichsfrauenführerin“.
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bei, dass die Nazis viele ihrer Ziele erreichen konnten. Im Rahmen der Arbeitsteilung der Nazis wurden Frauen wie sie zu Teilen des Apparates, die an der rassischen Segregation aktiv beteiligt waren und so zu Mitschuldigen der Vernichtung wurden : Es gab, weit mehr als das eigenhändige Morden, sehr unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen.19 Im Abituraufsatz meines Vaters von 1955, den ich nach seinem Tod fand, lese ich, dass er sich als etwa Achtjähriger damals aufgefordert fühlte, „jede Gelegenheit aus[zunutzen], diese unterdrückten Menschen [die Polen, Anm. d. Verf.] in kindlicher Grausamkeit zu ärgern und zu quälen“.20 Erzählt hat er mir nie davon.
Erinnerungen an Großeltern, -onkel und -tanten Inzwischen habe ich die Geschichte meiner Großmutter, der liebevollen Verbrecherin, aufgearbeitet. Liebevoll nenne ich sie, weil sie nicht nur Monster war, sondern auch eine sorgende Mama. Das kommt in ihren Briefen deutlich zum Ausdruck. Das Manuskript21, in dem ich ihren Alltag und ihr Tun schildere, habe ich in meinem Umfeld zur Lektüre weitergegeben. Überraschend viele, die die Geschichte mit Interesse lasen, begannen von eigenen biografischen Bezügen zum Nationalsozialismus und Holocaust zu erzählen, selbst jene, die wie ich, kaum woanders als in der Schweiz gelebt hatten. Von zwei Geschichten, die mir in diesem Kontext zugetragen wurden, berichte ich im Folgenden etwas ausführlicher. Ich habe die Auswahl nicht getroffen, weil die Berichte etwa besonders exemplarisch wären, sondern vielmehr, weil sie besonders alltäglich sind und einen vielfältigen Raum dafür öffnen, wie Holocaust-Erinnerung auch in der Schweiz existiert. Wir drei Frauen, Annette, Leila und ich, wohnen alle an derselben Straßenkreuzung einer Zürichseegemeinde. Wir begegnen uns beim Einkaufen und treffen uns in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. Obwohl wir uns gegenseitig in unsere Wohnzimmer blicken könnten, haben wir uns noch nie über unsere mit dem Holocaust verbundenen Biografien ausgetauscht. Oft haben wir, Vertreterinnen der Jahrgänge 1961 bis 1972 –, und das ist anders als in Deutschland – auch in der Schule kaum über den Holocaust gesprochen und schon gar nicht unter Einbezug unserer Familien, den Großeltern und Großonkeln, als Verantwortliche des Verbrechens respektive dessen Opfer.
19 Senfft, Der lange Schatten der Täter, S. 17. 20 Abituraufsatz meines Vaters, Unna, November 1955. 21 Das Buch erscheint im Frühjahr 2021 : Bonhage, Gnadenlos geirrt.
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Nadine Leila22 erzählt mir, dass sie als Jüdin in der Primarschule wiederholt in die Ecke der Minderheit gedrängt worden sei. Sie sehe ja gar nicht jüdisch aus, hieß es dann, oder ihre Mitschülerinnen verstanden nicht, wie sie gleichzeitig Jüdin und Schweizerin sein konnte. Sie erinnert sich an einen Moment, als ihre Klassenlehrerin den Lärm, den die Klasse veranstaltete, unterbrach und begründete, „wir sind doch hier nicht in einer Judenschule“. Nur Leila zuckte zusammen, niemand reagierte. Jüdin in der Schweiz zu sein, das erfuhr sie als Kind, bedeutete, anders zu sein als die Mehrheit, bedeutete, nicht zur Norm zu gehören. Richtig wohl und zugehörig gefühlt habe sie sich daher vor allem in der säkularen jüdischen Jugendgruppe Hashomer Hatzair, erzählt mir Leila. Die meisten ihrer Vorfahren sind weit vor Beginn des Ersten Weltkriegs aus Polen in die Schweiz eingereist. So blickt sie auf eine generationenalte, schweizerisch-jüdische Identität zurück. Heute wohnen Verwandte auch in Israel und den USA. Leilas Großeltern sowie Großonkel und Großtanten mit allen Kindern, darunter ihr Vater, sind zu Beginn des Zweiten Weltkrieges aus der Schweiz, weil sie sich auch hier nicht sicher fühlten, nach Übersee geflohen. Eine von Leilas Großtanten väterlicherseits war nach dem Krieg aus Polen nach Israel ausgewandert. Leila besuchte sie als Jugendliche dort und begegnete einer fragilen, alten Frau mit tätowierter Nummer auf dem Arm. Angesichts der spürbaren, tiefliegenden Traumata wagte Leila es nicht, ihre Großtante auf ihre Geschichte anzusprechen. Auch verfügten die beiden über keine gemeinsame Sprache in Worten. Leila spürte aber eine starke, emotionale Verbindung sowie eine gemeinsame Trauer und Verwandtschaft in der Seele. Heute kennt Leila die Geschichte ihrer Großtante gut. Sie hatte bis 1943 im polnischen Krakau gelebt und wurde dann mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach Auschwitz deportiert. Nur sie überlebte. Weitere Familienangehörige hatten unweit davon in einem Krakauer Vorort gewohnt. Deren Haus wurde von deutschen Besatzern beschlagnahmt. Der Vorgang erinnert an die Umstände, wie meine Großmutter und ihre Familie in Posen die vormaligen Hausbewohner vertrieben. Auf der Fotographie, die ich gefunden habe, könnte der Säugling auf dem Arm vor dem „arisierten“ Haus Leilas Tante sein, die sie nie kennenlernte. Leilas Vorfahren blieben zunächst im ihnen noch überlassenen Hausteil wohnen. Dann wurden auch sie ins nur 70 Kilometer entfernte Auschwitz deportiert. Unterwegs wurde Leilas Urgroßvater zusammen mit den anderen über 60-jährigen Männern vor den Augen aller erschossen. Alle übrigen Mitglieder dieses Familienzweigs wurden in Auschwitz ermordet. Infolge ihrer Prägung sowie aufgrund ihres jahrelangen Engagements im sozialistisch-zionistischen Jugendbund, wollte Leila als junge Frau auch einen persönlichen 22 Nadine Leila Caplunik-Katz (*30.12.1961 in Zürich).
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Beitrag in Israel leisten. Nach Abschluss ihrer Ausbildung zur Grafikerin lernte sie daher Hebräisch und zog in einen Kibbuz nahe Nahariya, wo sie mehrere Jahre lang ihren Beruf ausübte. Dort lernte sie den Vater ihrer Kinder kennen. Inzwischen ist sie längst wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Sie hat drei erwachsene Kinder, arbeitet in ihrem Beruf sowie als Lehrerin auf Sekundarschulstufe. Noch immer ist aber Israel für sie ein Land geblieben, das sie mit einem Gefühl von Geborgenheit und Heimat verbindet, auch wenn sie der aktuellen Politik äußerst kritisch gegenübersteht. Jüdisch zu sein, empfindet sie, ohne religiös zu sein, als einen kulturellen Reichtum, von dem sie hofft, dass er in ihrer Familie weiter lebendig gehalten wird. Es ist ihr inzwischen eine Selbstverständlichkeit, die Erinnerung an den Holocaust zu pflegen. Meist passiert das wenig öffentlich. Es kann aber auch sein, dass sie auf entsprechende Gespräche ihrer Schülerinnen und Schüler aufmerksam wird. Manchmal greift sie in den Dialog ein und korrigiert, wenn Fakten falsch wiedergegeben werden. Nicht immer legt Leila dann ihre jüdische Identität offen. Dank dem Jüdischsein, ihrem Wissen und ihren Erfahrungen gelingt es ihr aber, die wichtigen Zusammenhänge von unwichtigen zu unterscheiden. Das Wissen über den Holocaust muss lebendig und gegenwärtig gehalten werden, „es lässt mich nicht los“, sagt sie. Wichtig findet sie, im Gespräch darüber zu bleiben. „Nur dann wird es uns vielleicht gelingen, auf gegenwärtige politische Ereignisse zu reagieren, um einen Richtungswandel bewirken zu können.“ Ihre eigene Geschichte erzählt sie eher selten, aber doch ab und zu, da es, wie sie findet, nicht nur um ein kognitives aus Büchern erfassbares Erinnern geht, sondern auch um ein emotionales und das lässt sich in der persönlichen Begegnung besonders gut vermitteln. Leila ist davon überzeugt, dass es „uns alle“, gerade angesichts der globalen politischen Entwicklungen und nationalistischen Radikalisierungen, „etwas angeht, auch diejenigen, die in ihrer Biografie nicht selber betroffen sind “. Nur dann tragen wir dazu bei, zu verhindern, dass es wieder und wieder geschieht. Annette23, auch sie wohnt im Haus gegenüber, berichtet, dass sie sich als Schweizerin immer schon für die Fragen rund um den Nationalsozialismus und den Holocaust interessiert hätte. Vielleicht hänge dies, räumt sie ein, damit zusammen, dass auch ihre Familie, die aus dem Elsass kam, in den Nationalsozialismus irgendwie verwickelt gewesen sei. Wie genau, weiß sie zwar nicht. Bekannt ist ihr aber, dass ihr Großvater in die Partei eingetreten war und dass zwei Onkel von ihr für die Deutschen kämpften. Neuerdings, sagt sie, beginne außerdem ihre betagte Mutter vermehrt zu erzählen. Diese wuchs als Deutschsprachige im Elsass auf, betonte aber immer, wie deutschfeindlich ihre Familie dort eingestellt gewesen wäre. Später ist Annettes Mutter als 23 Annette G. (*2.1.1965 in Winterthur).
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Grenzgängerin in die Schweiz gekommen, wo sie sich verliebte und heiratete. Die Mitgliedschaft ihres Vaters, Annettes Großvater, in der NSDAP erfolgte, so wurde in der Familie berichtet, gezwungenermaßen. Der Großvater wollte angeblich seine leitende Stelle in der Gießerei, wo er arbeitete, nicht verlieren. Seine Söhne, das sind Annettes Onkel, hätten, wie das für viele Elsässer galt, an der Ostfront gekämpft. Etliche hätten desertiert, die Onkel aber nicht. Der eine war Funker, der andere Koch. Beide seien später in russische Gefangenschaft gekommen, erzählt Annette. Sie wären sich ausgemergelt und abgekämpft dann in einem Lager zufällig wieder begegnet, hätten sich kaum erkannt. In der Familie steht dieses unwahrscheinliche Ereignis im Vordergrund des Erinnerns. Es kam allen wie ein Wunder vor, auch, dass beide Söhne den Krieg überhaupt überlebt hatten und 1946 unversehrt von der Front wieder zurückkehrten. Aus den Erzählungen ihrer Mutter muss Annette neuerdings schließen, dass ihre Elsässer Familie so deutschfeindlich wohl nicht gewesen ist. Sie identifizierten sich als Elsässer. Franzosen wollten sie, als deutschsprachige Familie, mindestens genauso wenig sein, wie Deutsche. Ihre Sprache, wohl auch der Neid auf die überlebenden Brüder und vielleicht die wahre Gesinnung, mutmaßt Annette, führten dazu, dass die Familie nach dem Krieg im Dorf als „Nazi-Schweine“ beschimpft wurde. Damit verbundene diffuse Scham- und Schuldgefühle verhinderten auch in ihrer Familie den offenen Dialog über das, was wirklich geschehen war, vermutet Annette heute. Erschwerend für Annette kam hinzu, dass ihr damaliger Partner, ein Schweizer aus einer Luxemburger Familie, erzählte, seine Vorfahren hätten Juden versteckt. Im Vergleich zu ihm konnte sie sich mit ihrer Geschichte nur schlecht fühlen, erzählt sie. Heute weiß Annette, dass alle deutschstämmigen Elsässer zwangsrekrutiert worden waren. Wer konnte, floh über die Vogesen, weshalb die Verbliebenen möglichst weit weg, also etwa an die Ostfront, zum Kriegseinsatz gebracht wurden. Wer später lebend zurückkehrte, wurde zu Hause von einem Mob an den Bahnhöfen empfangen, beschimpft, tätlich angegriffen und im Quartier oft ausgegrenzt. „Die Scham, sich schuldigt gemacht zu haben“, betont Annette, ist es, woran ihre Mutter bis heute leidet. Von dieser Scham habe auch Annette, sagt sie reflektierend, viel geerbt. Sie versteht zunehmend, dass die Rechtfertigungen, die ihre Familie vorbrachte, um sich von den Nazis zu distanzieren, insbesondere der angeblich erzwungene Parteieintritt des Großvaters, nicht die ganze Wahrheit sein können. Sie recherchierte bisher aber nicht nach, obwohl sie weiß, dass dies wenigstens partiell möglich wäre. Gleichzeitig ärgert sie sich über das familiäre Schweigen. Es macht sie, wie sie findet, zur Komplizin hinsichtlich der Unstimmigkeiten und der möglichen Schuld in Bezug auf ihre Herkunft. Als Frankreich 2010 die elsässischen Soldaten, die an der Ostfront gekämpft hatten, offiziell rehabilitierte, empfand Annette spürbare Entlastung. Dieses Gefühlschaos rund um Schuld, Scham und Rechtfertigung irritiert Annette bis heute.
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Familienfeiern im Elsass, die Fahrt über die Grenze nach Frankreich, erinnert sie sich, gehörten zu einem wichtigen Teil ihrer Kindheit. Vermutlich habe sich, wie sie mutmaßt, dort auch das Schamgefühl entwickelt, dessen sie sich erst als Erwachsene bewusst wurde. Sie, die Schweizerin, identifiziert sich aufgrund ihrer Vorfahren zu je einem Viertel als Französin und Deutsche, ohne die jeweiligen Nationalitäten zu besitzen. Mit ihrer Herkunftsgeschichte lebt sie, ohne sie oft zu erzählen. Auch sie erlebte, dass sie damit in der Schweiz auf wenig Interesse stößt. Themen, die eher interessieren, sind die Neutralität und das Rote Kreuz, sagt Annette. Heute empfindet sie diese einseitige Fokussierung auf das Gute als etwas scheinheilig. Auch in ihrem Leben „hallen“, wie sie sagt, „Krieg und Holocaust“ intensiv nach. Sie wünscht sich, dass ihr Sohn diese ambivalente Herkunft verstehen lernt und aus der Geschichte des Holocaust etwas mitnehmen kann, um zu verhindern, dass es je wieder geschieht.
Gegen das Vergessen Es ist in der Schweiz nicht leicht, von der eigenen, mit Nationalsozialismus und Holocaust verbundenen Biografie zu erzählen. Das fehlende Unrechtsbewusstsein innerhalb einiger Familien und das allgemein wenig ausgeprägte Interesse an Nationalsozialismus und Holocaust verstellen aber nicht nur den Blick für die Anerkennung des Leids gegenüber den Opfern. Es bürdet den Kindern und Enkeln auch eine schwere Last auf, von der sie sich nur dann befreien können, wenn die Geschichten offengelegt werden.24 Auch ich hatte schon als Jugendliche gespürt, dass mich die Geschichte des Holocaust persönlich etwas angeht. Ich näherte mich dem Thema mehr unbewusst an, indem ich Geschichte studierte und indem ich später in der Bergier-Kommission mitarbeitete.25 Trotzdem konnte ich lange Zeit und ohne die Geschichte meiner Großmutter genau zu kennen, meine Gefühle, die mit der deutschen Herkunft verbunden sind, nicht interpretieren.
24 Senfft, Der lange Schatten der Täter, S. 75 ; Himmler, „Herrenmenschenpaare“, S. 73. 25 Die von der Schweizerischen Eidgenossenschaft unter der Leitung von Jean François Bergier eingesetzte „Unabhängige Expertenkommission – Schweiz Zweiter Weltkrieg“ erforschte zwischen 1997– 2001 insbesondere die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Nazi-Deutschland, vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht, S. 5 ; Bonhage et al., Nachrichtenlose Vermögen ; Bonhage, Schweizerische Bodenkreditanstalt ; Lussy et al., Schweizerische Wertpapiergeschäfte ; als Schulbuch erschien später die Publikation : Bonhage et al., Hinschauen und Nachfragen.
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Um aus der Geschichte zu lernen, müssten wir begreifen, warum einige unserer Vorfahren in die Irre gegangen sind. Wenn wir uns aber nicht einmal eingestehen, dass sie in die Irre gegangen sind, können wir es nie begreifen. Dann versperren wir uns nicht nur der Anerkennung der Opfer und des Unrechts, sondern auch der Lehren, die sich daraus ableiten lassen. Wir müssen die Geschichten also erzählen, wenn die menschenunwürdigen Positionen in den darauffolgenden Generationen nicht weiter wirken sollen.26 Es scheint erst jetzt, da die unmittelbar Beteiligten und viele ihrer Kinder nicht mehr leben, einfacher zu werden, darüber zu sprechen und Distanz herzustellen. Leila und ich haben erst im Gespräch miteinander verstanden, wie nahe sich unsere jeweiligen Familiengeschichten täter- und opferseitig eigentlich kommen. Dabei ist uns zusammen mit Annette bewusst geworden, dass wir durch diesen Dialog, durch das Erzählen konkreter Geschichten, auch im Interesse unserer Kinder immerhin ein wenig zum Nie-Wieder beitragen können.
Literaturverzeichnis Batthyany, Sacha. Und was hat das mit mir zu tun ? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie. Köln : Kiepenheuer und Witsch, 2016. Berger, Christiane. „Die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink.“ Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus (Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte 8). Hg. Marita Kraus. Göttingen : Wallstein Verlag, 2008, S. 103–126. Blasberg, Cornelia. „Die Dritte Generation und die Literatur.“ Die dritte Generation und die Geschichte. Hg. Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Heidelberg, 2016, S. 67–88. Bonhage, Barbara et al. Hinschauen und Nachfragen. Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen. Zürich : Lehrmittelverlag Zürich 2006. Bonhage, Barbara et al. Nachrichtenlose Vermögen bei Schweizer Banken. Depots, Konten und Safes von Opfern des nationalsozialistischen Regimes und Restitutionsprobleme in der Nachkriegszeit. Zürich : Chronos Verlag, 2001. Bonhage, Barbara. Gnadenlos geirrt. Die Geschichte meiner Großmutter 1907–1945. Hamburg : Tredition, 2021. Bonhage, Barbara. Schweizerische Bodenkreditanstalt. Aussergewöhnliche Zeiten bringen aussergewöhnliche Geschäfte, Zürich : Chronos Verlag 2001. Brockhaus, Gudrun. „Die „deutsche Mutter“ in Johanna Haarers NS-Erziehungsratgebern – eine sozialpsychologische Untersuchung.“ Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerin26 Mitscherlich betont, wie wichtig es ist, sich von den Idealen, Vorurteilen, Projektionen und Wahnvorstellungen endgültig zu distanzieren, die für die „Weltanschauung“ der Nazis so typisch waren. Was Mitscherlich formulierte, gilt universell, also auch in der Schweiz : Nur, wenn wir das Mitgefühl erlernen, das unsern Nazi-Grosseltern fehlte, sind wir „zur Wiederholung“ nicht mehr weiter „verdammt“. Vgl. Mitscherlich, „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“, S. 481 u. 491.
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Die Geschichte(n) erzählen
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Zwischen Emotionen und Erläuterungen Eine Reflexion über die Rolle der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust The much-cited “end of contemporary witnessing” has led to various initiatives being launched internationally to collect and preserve interviews with contemporary witnesses. The article presents the basics of these interviews – especially in connection with their use for educational purposes – and critically discusses the situation at the Archives for Contemporary History at the ETH Zürich on the basis of concrete educational offers. „Die Geschichte der Shoah kann ohne die Berichte derjenigen, die ermordet wurden, und derjenigen, die überlebten, nur einseitig geschrieben werden.“1 Diese Annahme, kombiniert mit dem oft zitierten „Ende der Zeitzeugenschaft“2, hat dazu geführt, dass international verschiedene Initiativen zum Sammeln und Erhalten von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust initiiert wurden. Im folgenden Beitrag gehe ich auf einige Grundlagen zu Interviews mit Holocaustüberlebenden – insbesondere auf deren Verwendung für didaktische Zwecke – ein und stelle einige Sammlungen und Projekte vor, um danach die diesbezügliche Situation am Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich zu erörtern.
Grundlagen zu Interviews mit Holocaustüberlebenden im Unterricht Eine Problematik, die sich der Geschichtsforschung hinsichtlich der Shoah stellt, liegt in der Fokussierung auf die Täterschaft und die Erörterung der Funktionsweise des nationalsozialistischen Systems bzw. dessen technischer Abläufe. Die Gründe dafür sind vielfältig : Erstens hinterließen die Nationalsozialisten eine große Menge an Dokumenten, die das Erforschen des Vernichtungsprozesses erleichterten. Zweitens 1 Bothe, Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum, S. 7. Falls das Zitat auf den ersten Blick irritierend wirkt, weil Ermordete üblicherweise kein Zeugnis ablegen können, sei an dieser Stelle das Tagebuch von Anne Frank in Erinnerung zu rufen. 2 Vgl. bspw. richtungsweisend : Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft. Dazu konstatiert Taubitz u.a.: „Die Ära der Zeitzeugen wie auch das Ende der Zeitzeugen fallen unmittelbar – so sonderbar es klingt – zusammen.“ Ebd., S. 10.
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(wahrscheinlich aus dem ersten Punkt resultierend) war die Geschichtsschreibung zur Shoah lange Zeit auf die Täterperspektive fokussiert.3 Und drittens wurde die Oral History, die eine Erforschung der Opferperspektive erst ermöglichte, lange als subjektiv und unwissenschaftlich abqualifiziert.4 Daraus resultierte nicht nur eine einseitige Geschichtsforschung sowie Geschichtsvermittlung, vielmehr implizierte diese Art der Geschichtsschreibung auch die „These fast vollständiger jüdischer Passivität“.5 Um die Opferperspektive und deren aktives Erleben im schulischen Unterricht einzubeziehen, bestehen im Allgemeinen zwei Möglichkeiten : Einmal arbeiten Schulklassen mit schriftlich-literarischen Berichten zur Shoah, wie es beispielsweise mit dem Tagebuch von Anne Frank schon seit geraumer Zeit geschieht, zum anderen werden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beigezogen, sei es im Rahmen von realen Begegnungen, sei es im Medium von filmischen Zeitzeugnissen. So ist es möglich, einstige Opfer und Überlebende als aktiv handelnde Subjekte zu erfahren. Hier sind drei Aspekte eines solchen Umgangs festzuhalten : Erstens, schriftliche Selbstzeugnisse, wie diejenigen von Anne Frank, Ruth Klüger oder Primo Levi, werden vielfach im Unterricht verwendet. Der Erkenntnisgewinn von literarischen Selbstzeugnissen ist jedoch ein anderer als bei filmischen Erzählungen, was auch mit dem veränderten Medienkonsum von Jugendlichen zusammenhängt. „Zeitzeugenberichte jüngeren Datums – in der Regel Videozeitzeugnisse – vermitteln als bewegte Bilder einen weit stärkeren Eindruck von der Persönlichkeit als bloße Texte“, wie Gregor Spuhler anmerkt, und filmische Zeugnisse bieten zudem durch den oft größeren Abstand zu den damaligen Ereignissen den Vorteil, dass Jugendliche erfahren können, „wie die Menschen trotz der in jungen Jahren erlittenen Verfolgungen ihr Leben gemeistert haben.“6 Im Vergleich zur Arbeit mit filmischen Zeitzeugnissen hält eine Studie von Christiane Bertram zweitens fest, dass Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht Ho3 Damit ist nicht die notwendige Täterforschung als neuere Entwicklung gemeint, sondern die Beschreibung des Vernichtungsprozesses aus Täterperspektive. 4 Vgl. bspw. Wierling, „Oral History“, S. 82. Taubitz hält einen weiteren Kritikpunkt fest : „Wurden Zeugnisse von Überlebenden […] lange Zeit unterschätzt, so zeichnet sich seit den 1980er Jahren die Tendenz ab, sie zu überschätzen.“ Er sieht die Gefahr insbesondere in einer „Überidentifikation“. Ebd., S. 285. 5 Bothe, „Im Dialog mit den Opfern“, S. 57. Bothe zieht diese Schlussfolgerung in Zusammenhang mit Raul Hilberg „The Destruction of the European Jews“ und schreibt ihm einen großen Einfluss auf die ihm folgende Geschichtsforschung zu, die dann grundlegend von Friedländers „Nachdenken über den Holocaust“ gebrochen wurde. Friedländer forderte eine integrierte Geschichte der Shoah, die „die Perspektive der Opfer ebenso als integraler Bestandteil der Geschichte der Shoah“ umfasst. Ebd., S. 59. 6 Spuhler, Tagungsbericht „Tag der Zeitzeugen“, Universität Tübingen 18.-19.05.2017 : https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7243, letzter Zugriff : 02.03.2020.
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locaustüberlebende real erleben konnten, den Lektionen nicht nur ein positiveres Feedback gaben, sie waren gleichzeitig auch überzeugt, mehr gelernt zu haben.7 Diese Selbsteinschätzung entspricht allerdings nicht der Realität, war doch die historische Sachkompetenz in jenen Klassen, in denen ein Zeitzeugnis nur in Form eines Textes oder Videos vorgelegt wurde, dieselbe wie in jenen Klassen, in denen ein Zeitzeuge persönlich erschienen war.8 Hingegen verfügten diejenigen Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht auf eine/n Holocaustüberlebende/n getroffen waren, über weniger quellenkritische Kompetenz : Der lebendige Zeitzeuge scheint die Lernenden in der Live-Gruppe so beeindruckt zu haben, dass sie eine geringere Einsicht als die Video- und Textgruppe in die Notwendigkeit entwickelt haben, Zeitzeugenaussagen und Darstellungen zu dekonstruieren, d.h. als Narrationen unter anderen möglichen zu erkennen und kritisch zu reflektieren und kontextualisieren.9
Ähnlich wie Bertram geht, drittens, auch Miryam Eser Davolio in ihrem Artikel „Einstellungen Jugendlicher zum Holocaust verändern – ein schwieriges Unterfangen“10 auf die Grenzen von Live-Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein. Sie bezieht sich dabei auf die Vorurteilsforschung, die belegt, „dass kognitive Programme ihre Wirkung verfehlen können, wenn die neu erworbenen Informationen bisherigen Haltungen widersprechen und Dissonanzen erzeugen“.11 Entsprechend lösen Gespräche mit Holocaustüberlebenden Emotionen aus, die in Bezug auf die Einstellung der Schulklassen bei Schülerinnen und Schülern positive oder negative Effekte haben können, dass also durch diese Begegnungen in Einzelfällen antisemitische Vorurteile gestärkt statt abgebaut werden.12 Eser erwähnt dabei Dynamiken innerhalb von Schulklassen, z. B. reiner Männerklassen, die zu fehlendem Empathievermögen führen.13 Aus den zitierten Studien und Berichten muss das Fazit lauten, dass Begegnungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen „so gestaltet werden [müssen], dass sie für Jugendliche relevant werden“14, was das Erkennen von Reaktionen und Gruppendy 7 Bertram, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. 8 Spuhler, Tagungsbericht „Tag der Zeitzeugen“, Universität Tübingen 18.-19.05.2017 ; https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7243, letzter Zugriff : 02.03.2020. 9 Bertram, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht, S. 123. 10 Eser Davolio, „Einstellungen Jugendlicher zum Holocaust verändern“. 11 Ebd., S. 47. 12 Ebd., S. 60. 13 Vgl. ebd., S. 55–57. 14 Ebd., S. 60.
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namiken und ebenso die Moderation von authentischen Begegnungen und offener Gesprächskultur voraussetzt. Das Gelingen hängt in erster Linie von der Person ab, die diese Begegnungen leitet, beispielsweise der Lehrperson ; sie soll das Gespräch organisieren und moderieren, dabei um Zurückhaltung bemüht sein, eine belehrende Haltung vermeiden und direkt erlebbare Inhalte und authentische Information ermöglichen.15 Eine gründliche Vorbereitung, Kontextualisierung und Einordnung der Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind dazu grundsätzlich nötig. Bertram empfiehlt zudem die Arbeit mit geeigneten filmischen Zeitzeugnissen, da diese – im Gegensatz zu schriftlichen Zeugnissen – für Schülerinnen und Schüler eine Abwechslung zum „sonst eher textlastigen Geschichtsunterricht“16 bieten. Zum Vorteil von filmischen Zeitzeugnissen im Vergleich mit Live-Begegnungen mit Holocaustüberlebenden resümiert sie : Im Gegensatz zu einer Live-Befragung scheinen die Risiken, die mit der Personalisierung verbunden sein können, im Fall eines Videos deutlich geringer zu sein. Die Distanz durch das Medium oder auch die grössere Medienerfahrung der Jugendlichen scheint eine vorschnelle Identifikation mit dem oder der Erzählenden zu verhindern.17
Wichtig ist aber auch hier, beim Umgang mit filmischen Zeitzeugnissen im Unterricht, die historische Situierung sowie die Verwendung von inhaltlich und qualitativ geeigneten Filmaufnahmen.18
Internationale Sammlungen Die „Universalisierung des Holocaust“19 hängt stark mit dem Aufkommen der Methode der Oral History für die Befragung von Holocaustüberlebenden zusammen. Dadurch rückten Überlebende in den Mittelpunkt eines allgemeinen Interesses und trugen mit zu einem Wandel der Erinnerung an die Shoah bei. Als Vorreiter zeigten 15 Vgl. ebd., S. 61. „Dieser Mix aus Zurückhaltung, Nutzung der Gruppendynamik, Legung des Schwergewichts auf direkt erlebbare Inhalte und authentische Informationen durch Betroffene haben sich auch in anderen evaluierten Programmen zur Verminderung von fremdenfeindlichen und rassistischen Vorurteilen bewährt.“ 16 Bertram, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht, S. 144. 17 Ebd. 18 Vgl. Ebd., S. 144–145. Bertram macht im Folgenden konkrete Vorschläge für den Umgang mit „Live-Zeitzeugen“ im Unterricht, die eine gute inhaltliche und methodische Vorbereitung bedingt. 19 Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft, S. 287.
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sich Initiativen in den USA, wo diesbezüglich größere Projekte durchgeführt wurden.20 Ebenso kamen in Israel den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, insbesondere seit dem Eichmann-Prozess, eine neue Bedeutung zu.21 Hinzu kam eine massenmediale Verwertung dieser Zeitzeugnisse, beispielsweise im Rahmen der Fernsehserie Holocaust, die 1979 anlief und für deren Entstehen der Verwendung von Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen eine Vorreiterrolle zugeschrieben wird.22 Im Folgenden werden die wichtigsten Sammlungen von Oral-History-Interviews in den USA, Europa und Israel vorgestellt,23 um danach auf wesentlich kleinere Projekte zur Durchführung und Archivierung von Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Archivs für Zeitgeschichte einzugehen. Wenig überraschend ist, dass viele dieser Initiativen aus Vermittlungsabsichten resultierten, sei es im musealen, im massenmedialen oder im edukativen Bereich. Über die wahrscheinlich größte Sammlung von Oral-History-Interviews in Zusammenhang mit dem Holocaust verfügt das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington D.C. Die Sammlung, genannt wird sie „The United States Holocaust Memorial Museum’s Jeff and Toby Herr Oral History Archive“, umfasst knapp 80.000 Interviews – nicht allein mit jüdischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sondern auch mit Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, Homosexuellen, politischen Gefangenen sowie weiteren von den Nazis verfolgten Personen. Das USHMM führt dabei einerseits eigene Interviews durch, sammelt aber auch aktiv Interviews, die von Forschenden oder Institutionen gemacht wurden.24 Quellenkritisch zu beachten ist der Entstehungsrahmen der ersten Interviews, die sich an Anforderungen der Ausstellungskuratorinnen und -kuratoren orientieren. Entsprechend war das Ziel dieser frühen Interviews, „emotionsgeladene zwei- bis vier-minütige Clips“25 für die Ausstellung des USHMM zu erhalten.26 Vergleichbar mit der Sammlung des USHMM ist diejenige der USC Shoah Foundation, die am Institute for Visual History and Education der University of Southern 20 Vgl. ebd., S. 287–290. 21 Vgl. Bertram, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht, S. 18–19. 22 Ebd., S. 19–20. 23 Die Aufzählung in diesem Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Weitere Institutionen wie Museen, Archive oder Gedenkstätten verfügen über Sammlungen von Oral History Interviews. 24 Vgl. United States Holocaust Memorial Museum. „Oral History“ : https://www.ushmm.org/collections/ the-museums-collections/about/oral-history/, letzter Zugriff : 09.01.2020. Die Sammlung kann über eine Suchfunktion nach Name, Ort oder Stichwort durchsucht werden. Einige tausend Interviews (die genaue Anzahl wird nicht spezifiziert) können online eingesehen werden, während andere nur in den Archiv- und Bibliotheksräumlichkeiten des USHMM verfügbar sind. 25 Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft, S. 132. 26 Vgl. ebd.
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California beheimatet ist und auf eine Initiative des Regisseurs Steven Spielberg zurückgeht, der bei Dreharbeiten für seinen Film „Schindlers Liste“ auf Holocaustüberlebende traf, die den Wunsch äußerten, ihre Lebensgeschichten filmisch festzuhalten. Es umfasst ca. 55.000 Interviews mit Holocaustüberlebenden sowie Zeitzeuginnen und -zeugen des Nationalsozialismus, aber auch Interviews zu anderen Genoziden, darunter zum Völkermord an den Tutsi in Ruanda im Jahr 1994. Im Rahmen dieses Projekts wurden in 65 Ländern und in 43 Sprachen Interviews durchgeführt. 70 Interviews stammen aus der Schweiz.27 Die Sammlung der British Library in London, „Oral histories of Jewish experience and Holocaust testimonies“, umfasst Interviews mit Personen, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nach Großbritannien kamen, vor der nationalsozialistischen Verfolgung dorthin geflüchtet sind oder den Holocaust überlebt haben. Die Sammlung beinhaltet auch Interviews mit Personen der zweiten Generation, also der Nachkommen der Überlebenden. Der Hauptteil der Sammlung ist unter dem Namen „The Jewish survivors of the Holocaust collection“ online zugänglich28 und resultiert aus einer Zusammenfügung zweier Projekte : „The Living Memory of the Jewish Community“29 und „The Holocaust Survivors’ Center Testimony Recording Project“30 und umfasst 260 biografische Interviews. Ebenfalls online zugänglich ist das Projekt „Voices of the Holocaust“, das als dreistufiges Lehrmittel konzipiert wurde und Vorkenntnisse durch Unterricht bedingt.31 Weitere kleinere Sammlungen, beispielsweise 27 Vgl. USC Shoah Foundation. „The Institute for Visual History and Education. The Visual History Archive“ : http://sfi.usc.edu/vha/about, letzter Zugriff : 09.01.2020. Alle Interviews sind vollständig archivisch erfasst und können nach Ort, Person und Thema durchsucht werden, jedoch gibt es keine Möglichkeit, sie über die Website online anzuschauen. Von den 138 Institutionen und Universitäten weltweit, die einen Voll- oder Teilzugriff anbieten, ist keine in der Schweiz beheimatet. Vgl. dazu Bothe, Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum, S. 6. 28 British Library. „Jewish survivors of the Holocaust“ : https://sounds.bl.uk/Oral-history/Jewish-Holocaust-survivors?_ga=2.254135818.308823528.1578578962-1216425260.1571302562, letzter Zugriff : 09. 01.2020. 29 British Library. „Living Memory of the Jewish Community. Metadaten“ : http://cadensa.bl.uk/uhtbin/cgisirsi/x/0/0/5 ?searchdata1=CKEY5234962%20&library=ALL&_ga=2.199667244.30882352 8.1578578962-1216425260.1571302562, letzter Zugriff : 09.01.2020. 30 British Library. „Holocaust Survivors Centre Interviews. Metadaten“ : http://cadensa.bl.uk/uhtbin/cgisirsi/x/0/0/5?searchdata1=CKEY5512505%20&library=ALL&_ga=2.199667244.308823528.1578578 962-1216425260.1571302562, letzter Zugriff : 09.01.2020. 31 British Library. „Voices of the Holocaust“ : http://www.bl.uk/learning/histcitizen/voices/holocaust. html, letzter Zugriff : 09.01.2020. Es handelt sich um 28 Oral-History-Interviews mit jüdischen Frauen und Männern, die während des Zweiten Weltkriegs oder danach nach Großbritannien gekommen sind. Das Unterrichtsmaterial richtet sich an Schülerinnen und Schüler mit Vorkenntnissen zu den Themen Zweiter Weltkrieg und Holocaust.
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zu den Kindertransporten oder zu deutschen Geflüchteten in Großbritannien, sind ausschließlich über die Lesesäle der British Library zugänglich.32 Außerhalb des englischen Sprachraums bietet das „Visual Testimonies Resource Center“ der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem neben einem Zugang zu sämtlichen Interviews der USC Shoah Foundation auch ungefähr 36.000 Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die von Mitarbeitenden des Archivs seit 1945 geführt und gesammelt wurden, 12.000 davon stehen in digitalisierter Form zur Verfügung. Gegenwärtig sind diese Sammlungen im Yad Vashem Visual Center zugänglich, wobei künftig ein Internetzugang geplant ist.33
Bildungsangebote mit Oral-History-Interviews am Archiv für Zeitgeschichte Im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ) fanden zwischen 2005 und 2012 regelmäßige Veranstaltungen zum internationalen Holocaust-Gedenktag statt, zu deren Anlass 27 Interviews mit Holocaustüberlebenden geführt und eine Podiumsdiskussion „Die Shoah als Thema in der Schule : Aufarbeitung mit filmischen Mitteln“ organisiert wurde. Die Veranstaltungen fanden jeweils in Gegenwart von Schulklassen statt, denen die Möglichkeit geboten wurde, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Anschluss an ihre Erzählungen persönlich zu befragen. Die Mehrheit dieser Gespräche wurden von Daniel Gerson, damaligem Mitarbeiter der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte, geführt, zwei vom heutigen Archivleiter Gregor Spuhler. Diese Zeitzeugnisse sind im AfZ als Video- und Tondokumente zugänglich.34 In Bearbeitung sind zwölf Oral-History-Interviews, die im Rahmen einer gemeinsamen Lehrveranstaltung des AfZ und des Zentrums für Jüdische Studien der Uni32 British Library. „Oral Histories of Jewish Experience and Holocaust Testimonies, collection guides“ : https://www.bl.uk/collection-guides/oral-histories-of-jewish-experience-and-holocaust-testimonies, letzter Zugriff : 09.01.2020. 33 Vgl. Yad Vashem. „Yad Vashem’s Testimony Collection“ : https://www.yadvashem.org/visual-center/usc. html, letzter Zugriff : 09.01.2020. 34 Vgl. Archiv für Zeitgeschichte : Bestandesinformationen zu FV Holocaust Gedenktage : http://onlinearchives.ethz.ch/ReportViewer.aspx ?obj=a52798c8f3d347b7b6c62821f74b0162&format=PDF, letzter Zugriff : 10.03.2020. Es wäre einfach zu sagen, dass sich das Archiv für Zeitgeschichte aus den oben dargelegten Gründen gegen die Weiterführung der im Rahmen des Holocaust-Gedenktags stattfindenden Gespräche zwischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und Schulklassen entschieden hat. Tatsächlich wurde die Reihe aus Rücksicht auf das unterdessen recht hohe Alter der Holocaustüberlebenden eingestellt. Zwar besteht bei vielen weiterhin das Bedürfnis, über ihr Erlebtes zu reden und damit die Jugend über die Gefahren von Faschismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus aufzuklären ; die Grenze zum Ausnutzen und Zur-Schau-Stellen ist jedoch recht schmal.
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versität Basel im Frühlingssemester 2019 durchgeführt wurden.35 Im Forschungsseminar wurden die Studierenden mit verschiedenen theoretischen Seminarsitzungen und praktischen Übungen in die Methode der Oral History eingeführt, bevor sie selbst Interviews mit Holocaustüberlebenden in der Schweiz führen konnten. Sie werden in Kürze im AfZ zugänglich sein. Zudem sind – wie weiter unter aufgezeigt wird – sowohl die Rohfassungen als auch die Ausstellungsversionen der Gespräche mit verschiedenen in der Schweiz lebenden Holocaustüberlebenden sowie einer Person der Zweiten Generation, die für die Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“ geführt wurden, im AfZ archiviert. Im Folgenden möchte ich auf Bildungsangebote eingehen, bei denen am AfZ mit Oral-History-Interviews gearbeitet wurde und wird. Ein bedeutendes Angebot der außerschulischen Bildungsarbeit sind Workshops für Schulklassen in den Themenbereichen „Der Holocaust, der Zweite Weltkrieg und die Schweiz“.36 Sie schließen an die Gespräche mit Schweizer Holocaustüberlebenden zum internationalen Holocaust-Gedenktag an und richten sich an Schulklassen ab dem 10. Schuljahr, die die Themen Holocaust und Zweiter Weltkrieg im Geschichtsunterricht bereits behandelt haben. Die Workshops werden in zwei Varianten angeboten : Der Workshop „Opfer/Täter/Helfer“ beleuchtet anhand eines Briefes des Schweizer Grenzwächters Erwin Naef37 an seine Frau die Situation der Opfer, die Rolle der Täterinnen und Täter sowie Handlungsspielräume schweizerischer Flüchtlingshelferinnen und Soldaten. Naef war im September 1943 als Oberleutnant an der Südgrenze der Schweiz stationiert, als innerhalb weniger Tage über 1700 Flüchtlinge zurückgewiesen wurden. Er beschreibt in seinem Brief die Situation an der Grenze und die moralischen Dilemmata, die sich ihm angesichts der humanitären Krise stellten. Dieser Workshop beinhaltet üblicherweise die Arbeit mit Dossiers von jüdischen Flüchtlingen aus dem Bestand des Verbands Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF)38, konkret mit Unterlagen zu denjenigen Familien, die nachweislich in Anwesenheit oder durch den Einsatz von Erwin Naef über die Grenze gelassen wurden und in der Schweiz Auf-
35 Das Forschungsseminar „‚Sie müssen nicht alles schreiben, was ich sage.’ Oral History und Jüdische Geschichte in der Schweiz“ wurde von Sabina Bossert, Barbara Häne und Erik Petry geleitet. 36 Vgl. dazu : Bertram, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht, S. 20–22. 37 Eine lesenswerte Analyse der Briefe von Erwin Naef, ergänzt mit Quellenmaterial aus dem AfZ, hat NZZ storytelling veröffentlicht : Ingber/Zaslawski, „Opfer, Täter, Held“. NZZ : http://storytelling.nzz. ch.s3-website-eu-west-1.amazonaws.com/2014/opfer-taeter-held/, letzter Zugriff : 14.01.2020. 38 Zur Geschichte des VSJF vgl. Gerson/Hoerschelmann, Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/Flüchtlingshilfen ; Archiv für Zeitgeschichte : Metadaten zum IB VSJF-Archiv : http://internarchives.ethz.ch/ReportViewer.aspx ?obj=ac7f71b14cef4c9c9998aff7438b1974&format=PDF, letzter Zugriff : 14.01.2020.
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nahme gefunden haben. Da diese Quellen ausschließlich über Flüchtlinge Auskunft geben, die die Flucht in die Schweiz geschafft haben, wird zur Ergänzung das Schicksal von Liliana Segre aufgezeigt. Liliana Segre hat im Alter von 13 Jahren gemeinsam mit ihrem Vater die Flucht in die Schweiz versucht ; die beiden wurden aber an der Grenze zurückgewiesen und später nach Auschwitz deportiert. Nur Liliana Segre hat überlebt.39 In dem Workshop wird Wert darauf gelegt, verschiedene Kategorien wie Opfer, Täterinnen und Täter, Helferinnen und Helfer oder Zuschauerinnen und Zuschauer zu beleuchten und dabei die jeweiligen Handlungsspielräume aufzuzeigen. Dass diese Kategorien nicht immer trennscharf zu unterscheiden sind, wird mit den Schülerinnen und Schülern ausführlich diskutiert.40 Der Workshop „Holocaustüberlebende in der Schweiz“ geht auf die unterschiedlichen Schicksale von Einzelpersonen ein, die für den Workshop in die historischen und politischen Zusammenhänge eingeordnet werden. Als Grundlage dafür dienten ursprünglich die Gespräche mit Schweizer Holocaustüberlebenden, die das AfZ zwischen 2005 und 2012 geführt hat, vermehrt wird aber auch mit ausgewählten Kurzfilmen aus der Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“ gearbeitet. Die Kurzfilme werden dabei kontextualisiert, die Biografie der Porträtierten wird ausführlich erörtert – mit einem Schwerpunkt auf das Leben nach dem Überleben –, es wird aufgezeigt, wie verschiedene Personen den Holocaust überlebt haben (Flucht, Leben im Versteck, Überleben in KZ etc.), und der individuelle Umgang mit dem Erlebten wird diskutiert. Wie diese Workshops aus den direkten Zeitzeugenbegegnungen weiterentwickelt wurden, lässt sich am Beispiel von Léon Reich (1926–2014) zeigen. Aufgewachsen in einer polnischen Großfamilie überlebten außer ihm nur eine Schwester und ein Bruder den Holocaust. Er überstand Konzentrationslager und Todesmärsche und gelangte 1945 als „Buchenwaldkind“ in die Schweiz.41 2006 trat er im Archiv für Zeitgeschichte vor einer Schulklasse auf und erklärte, er habe vor 15 Jahren begonnen, öffentlich über sein Leiden zu berichten, um dazu beizutragen, dass sich die Geschichte nicht wiederhole. Sein schriftlich ausformulierter Bericht ist eine Mischung aus Reflexion und Emotion und führt beim Publikum regelmäßig zu großer Betroffenheit, wie sich anhand der Videoaufzeichnungen verschiedener Auftritte überprüfen lässt. Einmal, erklärte Reich im Archiv für Zeitgeschichte, seien nach einem Vortrag über39 Vgl. Zaslawski, „Eine der letzten Zeitzeuginnen erinnert sich“. NZZ, 11.01.2014 : https://www.nzz.ch/ schweiz/eine-der-letzten-zeitzeuginnen-erinnert-sich-1.18217773, letzter Zugriff : 14.01.2020. 40 Da aufgrund der Maßnahmen des Bundes in Zusammenhang mit der Covid-19-Situation die Durchführung der Workshops vorübergehend ausgesetzt werden musste, wurden verschiedenen Lehrpersonen Unterlagen zu diesem Thema für den Fernunterricht zu Verfügung gestellt. 41 Vgl. Lerf, „Buchenwaldkinder“.
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haupt keine Fragen gestellt worden und er frage sich, ob das Publikum nach seinem Bericht erschlagen gewesen sei.42 Während die direkte Begegnung bei den meisten einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen haben dürfte, können in den Workshops, die wir mit Léon Reichs Berichten durchführen, viel mehr Fragen gestellt werden. So wird herausgearbeitet, weshalb er die Geschichte des (vorläufigen) Überlebens seiner Familie im Versteck auf einem Estrich weit emotionaler schildert als die auf dem Todesmarsch erlittenen Grausamkeiten und was er uns damit über den Charakter des NS-Regimes sagt. Wie ist es möglich, dass der Zeitzeuge dieses Erlebnis immer wieder mit derselben Emotionalität erzählt ? Wenn einige den Bericht lesen und andere ihn hören, wird offensichtlich, dass nach dem Lesen der Inhalt besser wiedergeben werden kann als nach dem Hören, bei dem die emotionale Betroffenheit dominiert. Das Video hingegen wird, wie sich in solchen Gruppenarbeiten zeigt, kontrovers beurteilt : Manche finden den Gesichtsausdruck des Zeitzeugen wichtig, um ihn zu verstehen, andere stört das Bild des wohlgenährten betagten Mannes, das die zeitliche Distanz zur Erzählung vom völlig abgemagerten 19-jährigen KZ-Überlebenden deutlich macht und das retrospektive „Einfühlen“ erschwert. Die derart angelegten Workshops legen also großen Wert auf die historische Kontextualisierung und auf die kritische Reflexion der eigenen Vorannahmen, Werturteile und Emotionen. Dabei werden Forschungsergebnisse zum Schulunterricht in der Schweiz, insbesondere zum Wissen von Schülerinnen und Schülern, miteinbezogen. Die Ergebnisse der Studie von Christian Mathis und Natalie Urech zu den „Vorstellungen von Schweizer Primarschülerinnen und -schülern zum Holocaust“43 lassen sich teilweise auch bei Jugendlichen beobachten, so beispielsweise ein Hitlerzentrismus beim Täterdiskurs44 oder beim Wissen zur sogenannten „Endlösung“ und gleichzeitigen Unwissen zur Entwicklung bis zum Massenmord.45 Dem wird in den Workshops aktiv entgegengewirkt. Beide Varianten werden durch eine Ausstellung von thematisch passenden Objekten und Dokumenten aus dem AfZ ergänzt. Dies umfasst unter anderem einen Pass 42 Interview mit Léon Reich, durchgeführt von D. Gerson, 27.1.2006. AfZ FV Holocaust Gedenktage / 7, hier 1 :14 :40–1 :16 :10 und 1 :22.30–1 :22 :50. Vgl. auch das Videozeitzeugnis von L. Reich in : Pruschy, ÜberLebenErzählen. 43 Mathis/Urech, „… da hat man sie in Häuser eingesperrt und Gas reingetan“. 44 Zum Hitler(zentr)ismus : Ebd., S. 44–47. 45 Mathis und Urech stellen diesbezüglich fest : „Aspekte des systematischen Ausgrenzens der Juden, der Isolierung und der Deportation nennen die Schülerinnen und Schüler hingegen kaum. Dass die Situation der Juden schrittweise immer schlimmer und schlimmer wurde, scheinen sie nicht zu wissen.“ Ebd., S. 44.
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mit J-Stempel oder einen Gelben Stern („Judenstern“), ein KZ-Gewand und nationalsozialistische Propagandazeitungen. Diese Objekte werden nach drei Phasen (Verfolgung und Diskriminierung ; Vertreibung bzw. „territoriale Lösung“ ; Vernichtung) geordnet, um den Schülerinnen und Schülern die Eskalation von der Machtergreifung der NSDAP bis zum Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden aufzuzeigen. Zusätzlich zeigen Dokumente des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG verschiedene Sammlungsaufrufe für die Unterstützung jüdischer Flüchtlinge in der Schweiz ; Fotos und offizielle Weisungen beleuchten die Arbeit von Schweizer Flüchtlingshelferinnen und -helfern ; ein Flüchtlingsdossier des VSJF zeigt die Arbeit der wichtigsten Schweizer Organisation zur jüdischen Flüchtlingshilfe auf.46 Ein zweites Projekt am Archiv für Zeitgeschichte, das mit Oral-History-Interviews im weiteren Sinne gearbeitet hat, ist die von der Gamaraal-Stiftung produzierte Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“.47 Einerseits beruhte sie auf eindrücklichen schwarz-weiß-Fotografien des Thuner Fotografen Beat Mumenthaler, die durch ein Zitat und eine Kurzbiografie ergänzt wurden, andererseits auf Filmen des Regisseurs und Dokumentarfilmers Eric Bergkraut. Die Begleitung durch das Archiv beinhaltete – nebst der Rolle als Ausstellungsort – u.a. das Verfassen von historischen Hintergründen oder Kurztexten zu den porträtierten Holocaustüberlebenden sowie das Konzipieren einer Ausstellungsführung für Schulklassen. Diese Führungen umfassten das Vermitteln historischer Grundlagen ähnlich den Workshops, wie Begriffsdefinition ‚Holocaust‘, die Phasen der NS-Geschichte von der Verfolgung bis zur Vernichtung sowie die Schweizer Flüchtlingspolitik. Die Mehrheit der in der Ausstellung Porträtierten war erst nach dem Zweiten Weltkrieg und in den meisten Fällen nicht als Flüchtlinge in die Schweiz gelangt. Die Diskussion zweier filmischer Zeugnisse, üblicherweise die Geschichte eines KZ-Überlebenden sowie einer Überlebenden, die sich der Vernichtung im Versteck in einem Kloster entziehen konnte, machte diesen Unterschied deutlich.48 46 Während der Ablauf der Ausstellung von thematisch passenden Objekten und Dokumenten aus dem AfZ zu Beginn stark verschriftlicht und entsprechend frontal war, wurde er auf Anregung von Prof. Dr. Sabina Brändli bei einem Besuch von angehenden Lehrpersonen der Pädagogischen Hochschule Zürich Ende letzten Jahres angepasst. Statt die Informationen zu den einzelnen Gegenständen und Unterlagen vorzutragen, wird den Schülerinnen und Schülern stattdessen nach einer kurzen Einführung Zeit gegeben, die Ausstellung selbst zu entdecken, zu diskutieren und Fragen zu stellen. Dies hat sich als wesentlich zielführender erwiesen. 47 Die Ausstellung wurde von der Gamaraal Foundation mit wissenschaftlicher Begleitung durch das Archiv für Zeitgeschichte realisiert und erstmalig vom 2. Mai bis zum 15. Juni 2017 im AfZ gezeigt. 48 Die Unterlagen zu den Ausstellungsführungen wurden weitergeben und beispielsweise bei der Ausstellung im Berner Kornhaus verwendet.
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Abb. 1 : Ausstellung der Gamaraal-Foundation im Archiv für Zeitgeschichte. © Gamaraal-Foundation, Foto : Beat Mumenthaler
Einige Bemerkungen zur Situierung von Zeitzeugen-Projekten Beim Filmen für die Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“ standen, ähnlich wie bei den oben erwähnten ersten Interviews des USHMM, andere Kriterien als bei einer historischen Oral-History-Befragung im Zentrum. Beide orientierten sich an den Anforderungen für eine Ausstellung, was im Fall von „The Last Swiss Holocaust Survivors“ bedeutet, dass die knapp einstündigen Rohfassungen der Filme, die oft inhaltliche Nachfragen und detaillierte Regieanweisungen enthielten, so geschnitten und zusammengestellt wurden, dass sie zu jeder porträtierten Person einen Kurzfilm in einer Länge von ca. 10–15 Minuten mit einer kohärenten und linearen Erzählstruktur ergaben, der als fertiges Produkt in der Ausstellung gezeigt werden konnten. Die Ausstellung richtete sich an ein allgemeines Publikum mit einem Schwerpunkt auf Jugendliche, die durch die Ausstellung und allenfalls die begleitenden Führungen für das Thema sensibilisiert werden sollten.49 49 So schreibt die Gründerin und Präsidentin der Gamaraal Foundation Anita Winter auf der Website zur Ausstellung : „Es ist die Verantwortung unserer Generation, den Ruf des ‘Nie wieder’ weiterzutragen. Die Ausstellung richtet sich darum vor allem auch an die junge Generation und soll für den Wert und die Wichtigkeit von Toleranz sensibilisieren.“ Vgl. Website der Ausstellung „The Last Swiss Holocaust
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Bei einem Oral-History-Interview hingegen ist die Maxime, die Zeitzeugin oder den Zeitzeugen möglichst frei erzählen zu lassen. Unterbrechungen durch interview ende Personen oder gar Vorgaben von Aussagen sind verpönt. Deswegen ist für die Gespräche mit Holocaustüberlebenden anlässlich des internationalen Holocaust gedenktags festzuhalten, dass es sich um keine Oral-History-Interviews im engeren Sinne handelt. So arbeiteten beispielsweise mehrere der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit vorbereiteten Vorträgen. Die Personen, zu Beginn der Veranstaltung vorgestellt, erzählten rund 45 Minuten aus ihren Erfahrungen und beantworteten abschließend die Fragen der anwesenden Schülerinnen und Schüler. Für die Kolloquien, die sich wie auch die Ausstellung an Schulklassen richteten, wurde dennoch eine spätere wissenschaftliche Verwendung intendiert, die Gespräche wurden in voller Länge und ungeschnitten archiviert und der Forschung bzw. interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eigentliche Oral-History-Interviews sind hingegen diejenigen, die im Rahmen von Veranstaltungen an der Universität Basel geführt wurden. Sie werden von den Studierenden aus dem Forschungsseminar für universitäre Seminaroder Masterarbeiten verwendet. Vergleicht man die verschiedenen Projekte, werden unterschiedliche Herangehensweisen und unterschiedliche Produkte deutlich, ohne dass damit eine Wertung einhergeht. Dies zeigt sich schon daran, dass wir in den Workshops zu „Der Holocaust, der Zweite Weltkrieg und die Schweiz“ vermehrt mit den Kurzfilmen der Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“ arbeiten, weil diese – wie oben erwähnt – eine kurze und präzise Zusammenfassung eines Einzelschicksals erlauben, die für didaktische Zwecke zielführender ist.50 Jedoch werden diese Filme in den Workshops historisch eingeordnet : Nicht nur der Entstehungszusammenhang wird vorgestellt, sondern auch die historischen Rahmenbedingungen sowie die weitere Biografie der Porträtierten.51 Bei den filmisch-biografischen Darstellungen von Holocaustüberlebenden ist denn auch die Produktlogik unterschiedlich gelagert. Entsprechend sind für die Filme der Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“ andere Elemente wichtig als bei einem wissenschaftlichen Oral-History-Interview : Filmqualität, Beleuchtung, prägnante Aussagen. Zudem war die Geschichte den Ausstellungsmacherinnen und Filmemachern im Voraus bekannt, entsprechend wussten sie, was sie hören wollten. Survivors“ : Grußwort von Anita Winter, Gründerin und Präsidentin der Gamaraal Foundation : https://www.last-swiss-holocaust-survivors.ch/de/grusswort, letzter Zugriff : 05.03.2020. 50 Insbesondere mit den Kurzfilmen von Christa Markovits, Nina Weil und Ivan Lefkovits. 51 Vgl. hierzu auch Taubitz, der im Zusammenhang mit Oral-History-Interviews darauf hinweist, dass der „Kontext ihrer Entstehung […] häufig vernachlässigt“ wird. Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft, S. 286.
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Die porträtierten Personen wurden vorbereitet, instruiert und in gewisser Weise inszeniert. Der Zweck definiert das Produkt. Bei einer historischen Herangehensweise hingegen stehen die Person und ihre Geschichte im Mittelpunkt, während ästhetische Elemente unwichtig sind. Daraus schließend ist eine Trennung zwischen historischer Datenerhebung und didaktischer Vermittlung sinnvoll.52 Entsprechend möchte ich aus diesem Artikel zwei Schlussfolgerungen ziehen, die sich mit den Erfahrungen des Archivs für Zeitgeschichte decken : Erstens : Beim Erstellen von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind für die Herangehensweise nicht nur der thematische Hintergrund und die Fragetechnik bedeutsam, sondern auch das angezielte Endprodukt. Gerade für didaktische Zwecke wie dem Unterricht für Jugendliche können ästhetisierte und konzentrierte Kurzfilme gewinnbringender sein als Oral-History-Interviews nach wissenschaftlichen Kriterien. Zweitens : Unabhängig davon, ob bei (außer-)schulischer Bildungsarbeit über den Holocaust auf Live-Begegnungen mit Holocaustüberlebenden oder auf die Arbeit mit Filmaufnahmen gesetzt wird, und unabhängig von der Art der verwendeten filmischen Zeitzeugnisse, ist eine professionelle Kontextualisierung unabdingbar. Dazu gehören nicht nur die historischen Rahmenbedingungen – sowohl zu den historischen Ereignissen als auch zur Biografie der Zeitzeugin oder des Zeitzeugen –, sondern auch der Entstehungszusammenhang der Filmaufnahmen.
Literaturverzeichnis Bertram, Christiane. Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen ? Eine randomisierte Interventionsstudie. Schwalbach : Wochenschau Verlag, 2017. Bothe, Alina. Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Eine Quellenkritik. Berlin : De Gruyter, 2019. Bothe, Alina. „Im Dialog mit den Opfern. Shoah und historisches Lernen mit virtuellen Zeugnissen“. Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Hg. Peter Gautschi et al. Zürich : Chronos Verlag, 2013, S. 55–74. Eckmann, Monique et al. Research in Teaching and Learning about the Holocaust. A Dialogue Bevond Borders. Berlin : Metropol, 2017. Eser Davolio, Miryam. „Einstellungen Jugendlicher zum Holocaust verändern – ein schwieriges Unterfangen“. Die Schweiz und die Shoa. Von Kontroversen zu neuen Fragen. Hg. Ziegler, Béatrice et al. Zürich : Chronos Verlag, 2012, S. 47–62. Friedländer, Saul. Nachdenken über den Holocaust. München : C.H. Beck, 2007.
52 Vgl. hierzu bspw. die Kritik von Oliver Näpel an den ZDF-Produktionen der ZDF-Redaktion „Zeitgeschichte“ und Guido Knopp : Näpel, „Historisches Lernen durch ‘Dokutainment’ ?“.
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Gautschi, Peter et al. Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Zürich : Chronos Verlag, 2013. Gerson, Daniel und Claudia Hoerschelmann. Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/Flüchtlingshilfen (VSJF). In : Rosenstein, Gabrielle : Jüdische Lebenswelt Schweiz / Vie et culture juive en Suisse. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG). Zürich : Chronos Verlag, 2004, S. 56–71. Hilberg, Raul. The Destruction of the European Jews. New Haven : Yale University Press, 1961. Ingber, Lea und Valerie Zaslawski [unter Mitarbeit von Georg Kreis und Gregor Spuhler]. „Opfer, Täter, Held“. NZZ : http://storytelling.nzz.ch.s3-website-eu-west-1.amazonaws.com/ 2014/opfer-taeter-held/, letzter Zugriff : 14.01.2020. Knopp, Sonja, Sebastian Schulze und Anne Eusterschulte. Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog. Weilerswist : Velbrück Verlag, 2016. Lerf, Madeleine. „Buchenwaldkinder“ – Eine Schweizer Hilfsaktion. Humanitäres Engagement, politisches Kalkül und individuelle Erfahrung. Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte, Bd. 5. Zürich : Chronos Verlag, 2010. Mathis, Christian und Natalie Urech. „‚… da hat man sie in Häuser eingesperrt und Gas reingetan’. Vorstellungen von Schweizer Primarschülerinnen und -schülern zum Holocaust“. Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Hg. Peter Gautschi et al. Zürich : Chronos Verlag, 2013, S. 37–52. Näpel, Oliver. „Historisches Lernen durch ‚Dokutainment‘ ? Chancen und Grenzen einer neuen Ästhetik populärer Geschichtsdokumentationen analysiert am Beispiel der Sendereihen Guido Knopps“. Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2, 2003, S. 213–244. Pruschy, Eva et al. ÜberLebenErzählen. Holocaust-Überlebende in der Schweiz. Zürich : Pestalozzianum Verlag, 2007. Spiegel, Miriam Victory. „Begegnungen zwischen Holocaust-Überlebenden und Schweizer Schülerinnen und Schülern“. Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Hg. Peter Gautschi et al. Zürich : Chronos Verlag, 2013, S. 101–113. Spuhler, Gregor. Tagungsbericht „Tag der Zeitzeugen“, Universität Tübingen 18.-19.05.2017 : https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7243, letzter Zugriff : 02.03. 2020. Taubitz, Jan. Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft. Göttingen : Wallstein Verlag, 2016. Wierling, Dorothee. „Oral History“. Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Hg. Michael Maurer. Aufriss der Historischen Wissenschaften 7 (2003), S. 81–151. Zaslawski, Valerie. „Eine der letzten Zeitzeuginnen erinnert sich“. NZZ, 11.01.2014 : https:// www.nzz.ch/schweiz/eine-der-letzten-zeitzeuginnen-erinnert-sich-1.18217773, letzter Zugriff : 14.01.2020. Ziegler, Béatrice et al. Die Schweiz und die Shoa. Von Kontroversen zu neuen Fragen. Zürich : Chronos Verlag, 2012.
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Holocaustüberlebende in Schweizer Spiel- und Dokumentarfilmen The article deals with the question of how Holocaust survivors (including Jewish refugees who came to Switzerland during the war) are portrayed in Swiss feature films and documentaries. It looks at a total of eight films, six of which are among the commercially most successful movies between 1976 and 2019, one from 1945 and one from 2017. The article argues that only three films actually focus on Holocaust survivors and can thus be considered a space of collective memory to this day. Kann der Holocaust in Worte gefasst werden ? Oder anders : Kann der Holocaust mit Worten auf eine Weise beschrieben werden, die den Geschehnissen gerecht wird ? Die Frage nach einer Sprache, die einem Ereignis gerecht wird, betrifft zwar im Kern alle historischen Phänomene, aber anhand des Holocaust wird immer wieder auf die, vermeintliche, Unzulänglichkeit der Sprache hingewiesen. Doch die Debatte beginnt schon mit der Bezeichnung. Was ist angemessen ? Der aus dem Griechischen stammende Ausdruck Holocaust, der für „Brandopfer“ steht ? Die hebräische Bezeichnung Shoah, die mit „Zerstörung“ übersetzt werden kann ? Oder der jiddische Ausdruck Churban, der ebenfalls „Zerstörung“ meint und schon früh von jiddischen Literaten in den DP-Camps ab 1945 als Bezeichnung verwendet wurde ? Oder doch Genozid ? Dazu tritt der die eigentliche Tat (nämlich Mord) verschleiernde deutsche Ausdruck aus der Zeit selbst : Endlösung. Interessanterweise, in Bezug auf das Thema des vorliegenden Artikels, hat gerade eine Fernsehserie den Begriff „Holocaust“ in den USA und in Europa bekannt gemacht und dafür gesorgt, dass Holocaust heute allgemein verwendet wird. Es handelt sich um die vierteilige (jeder Teil dauerte zwischen 94 und 135 Minuten) US-amerikanische Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“, die zwar eine fiktive Geschichte erzählt, allerdings mit starken Bezügen zum realen Geschehen. Die Serie, produziert von Marvin J. Chomsky, wurde 1978 in den USA ausgestrahlt, ab Januar 1979 auch in Deutschland und Österreich. Die Fernsehserie löste eine erdrutschartige Debatte aus, wie man im Nachhinein feststellen kann, denn es begann eine neue Welle der wissenschaftlichen Beschäftigung und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Deutschen an den Jüdinnen und Juden. Neben dem Umstand, dass dies einer Fernsehserie gelingt, erstaunt auch der Fakt, dass es sich
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um eine fiktive Geschichte handelt. Bis dahin galten Fiktionen über den Holocaust zumindest im deutschsprachigen Bereich als Tabu. Fernsehserien bzw. Filme spielen also eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Wahrnehmung und auch Bearbeitung einer Gesellschaft historischer Ereignisse. Neben der Fernsehserie „Holocaust“ seien nur zwei weitere Beispiele aus unterschiedlichen Genres genannt : Claude Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm „Shoah“ (1985) und Steven Spielbergs Spielfilm „Schindler’s List“ (1993). Beide sind ohne Zweifel Teil eines Wahrnehmungs- und Bearbeitungsprozesses in Europa über den Holocaust. Wie aber sieht diese Situation in der Schweiz aus, die als neutraler Staat nicht in die aktiven Kriegshandlungen verwickelt war, auch nicht besetzt wurde, aber durch die Lage inmitten Europas ein Ziel vor allem von Flüchtlingen, dem Holocaust entkommenden, den Holocaust überlebenden Personen war ? Wie nahm und nimmt die Schweizer Gesellschaft Holocaustüberlebende wahr, vor allem auch diejenigen, die bis heute in der Schweiz leben ? Sollten sie nicht Träger einer Erinnerungs- und Gedenkkultur sein, der sich auch die Schweiz verschrieben hat, allein schon durch die Einführung des 27. Januars als „Holocaustgedenktag“ im Jahr 2005 ? Im Folgenden möchte ich nicht die Wirkung ausländischer Filme über den Holocaust und Holocaustüberlebende in der Schweiz analysieren, sondern mich auf Schweizer Produktionen konzentrieren und fragen, ob und wie Holocaustüberlebende dargestellt werden und was diese Filme für eine Rolle spielten und spielen könnten im Diskurs in der Schweiz über den Holocaust, das Gedenken und Erinnern. Am Anfang steht allerdings die Frage, wie die Wirkung eines Films und damit der mögliche Anteil am Diskurs einzuschätzen ist. Der Herausgeber der vorliegenden Publikation, Jacques Picard, hat dies in einem Gespräch mit dem Autor auf die eingängige Formel gebracht, Filme müssten nicht nur gezeigt, sie müssten auch gesehen werden : Was genau gesehen wird und was nicht – aus dieser Frage folgt, dass Filme, gerade wenn sie von einem großen Publikum gesehen werden, analysiert und reflektiert werden müssen. Hierzu wurde aus einer für die Publikation „Orte der Erinnerung“ erstellten Liste von Filmen zum Thema „Zweiter Weltkrieg“1 diejenigen Filme anhand einer Tabelle der „500 erfolgreichsten Schweizer Filme zwischen 1976 und 2019“2 herausgesucht, die zu den Publikumserfolgen zählten. Mit dieser Methode kommt man im genannten Zeitraum auf insgesamt sechs Filme, davon sind drei 1 Vgl. Haumann/Petry/Richers, Orte, S. 212–219. 2 Vgl. Bundesamt für Statistik. Die 500 erfolgreichsten Schweizer Filme. https://www.bfs.admin.ch/bfs/ de/home/statistiken/kultur-medien-informationsgesellschaft-sport/kultur/film-kino/schweizer.assetdetail.11587396.html, letzter Zugriff : 06.09.2020.
Holocaustüberlebende in Schweizer Spiel- und Dokumentarfilmen
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Spielfilme, drei Dokumentarfilme. Diese sechs Filme werden im Folgenden genauer angeschaut. Vorangestellt wird dieser Analyse aber der Blick auf einen 1945 erschienenen Spielfilm. Am Ende des Artikels wird ein Dokumentarfilm aus dem Jahre 2017 behandelt, der beispielhaft den Umgang mit Holocaustüberlebenden in der Schweiz und den Diskurs über Gedenken und Erinnern zeigt.
„Die letzte Chance“ Bereits im Frühjahr 1945 hat in der Schweiz ein Film Premiere, der sich explizit mit jüdischen Flüchtlingsschicksalen beschäftigt. Es handelt sich um den im September 1943 spielenden Film „Die letzte Chance“, der die Geschichte einer sich aus vielen Nationalitäten zusammensetzenden jüdischen Flüchtlingsgruppe erzählt, die von zwei britischen und einem amerikanischen Soldaten, die als Kriegsgefangene den Deutschen entkommen sind, von Italien über die Alpen in die Schweiz gebracht werden und dort schließlich Asyl erhalten. Nicht alle in der Gruppe überleben diesen Weg, und auch einer der britischen Soldaten stirbt beim Versuch, den patrouillierenden Deutschen zu entkommen. Die Filmstory selbst erscheint einen fast erwarteten Verlauf zu nehmen. Doch dieser erste Blick täuscht, „Die letzte Chance“ ist ein spektakulärer Film, der auf erschütternde Weise Flüchtlingsschicksale, die politische Situation in Deutschland, Italien und der Schweiz sowie Fragen nach dem Erinnern in der Schweiz thematisiert. Auch die Geschichte um den Film herum wirft einen Blick auf die Schweiz. Produzent des Films war Lazar Wechsler (1896–1981), der 1924 die Praesens-Film AG gegründet hatte und für einige herausragende und auch kommerziell erfolgreiche Schweizer Filme verantwortlich zeichnete, u.a. Füsilier Wipf (1938), Wachtmeister Studer (1939), Gilberte de Courgenay (1941), Landammann Stauffacher (1941), Matto regiert (1945), Die Gezeichneten (1948), Heidi (1952), Es geschah am hellichten Tag (1958).3 Die Geschichte, auf welche Widerstände Wechsler mit „Die letzte Chance“ stieß, ist fast so erschütternd wie der Film selbst, soll aber hier nicht detailliert wiedergegeben werden. Regisseur des Films war Leopold Lindtberg (1902–1984), der später Direktor des Schauspielhauses Zürich wurde. Während des Zweiten Weltkriegs befand sich Lindtberg aber noch im Status des Emigranten. Wechsler lebte seit 1914 in der Schweiz, besaß ein Ingenieur-Diplom der ETH Zürich und wurde 1923 eingebürgert. Lindtberg und Wechsler haben sich große Verdienste um die Schweizer
3 Zu Lazar Wechslers Leben und seinen Filmen vgl. Boveri, Morgarten.
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Kultur erworben, im Zweiten Weltkrieg und im Vorfeld des Films begegneten sie aber beide massiv antisemitischen Vorurteilen.4 Es gelingt Wechsler und Lindtberg im Film, die historische Situation des Jahres 1943 abzubilden, dabei aber die Flüchtlingsthematik und den Holocaust derart sensibel einzuweben, dass der Film bis heute seine Aktualität als Filmzeugnis nicht verloren hat. Das Wissen über den Holocaust ist 1944/45 schon in der Welt, doch nicht in dem Ausmaß, wie wir es heute haben. Der Film zeigt kein Konzentrations- oder Todeslager, sondern eine Deportationsszene, die die beiden geflohenen Soldaten in einem Güterzug versteckt beobachten. Es ist eine kurze Szene, die über ihre Intensität auch heute noch wirkt. Als die Soldaten schließlich in einem italienischen Bergdorf auf eine Gruppe jüdischer Flüchtlinge sowie einen weiteren britischen Soldaten treffen und der Pfarrer des Dorfes die drei bittet, die Gruppe mit in die Schweiz zu nehmen, erkennen sie Personen wieder, die sie bei der Deportation gesehen haben. Dies fällt in die Zeit, als die Deutschen Mussolini wieder an die Macht gebracht haben, die SS sucht nach Flüchtlingen in den Dörfern, die Kollaborateure sind wieder opportunistisch auf der Seite der Deutschen, die Bevölkerung eines Dorfes wird grausam hingeschlachtet. Nun beginnt der Weg der Flüchtlingsgruppe unter der Leitung der drei Soldaten über die Berge Richtung Schweiz. Die Flüchtlingsgruppe ist vollkommen heterogen, und der Film bedient sich eines starken Mittels, um diese Heterogenität zu zeigen : Alle Personen im Film reden in ihrer jeweiligen Landessprache. So kommt es, dass der nur serbisch redende Flüchtling eigentlich von niemandem verstanden wird. Da Wechsler für den Film größtenteils auf bekannte Schauspieler*innen verzichtet hat, verzichten musste, treten hier keine damaligen Stars in neuen Rollen auf – mit der Ausnahme der Mutter eines Flüchtlings, der im Laufe des Weges über die Berge bei der Begegnung mit einer deutschen Patrouille diese durch seine Flucht ablenkt und dabei erschossen wird. Die Mutter wird von Therese Giehse (1898–1975) gespielt. Giehse war 1933 aus Deutschland geflüchtet, da sie als Jüdin akut gefährdet war. Sie gehörte neben u.a. Erika Mann und Klaus Mann zu den Gründungsmitgliedern des Kabaretts „Die Pfeffermühle“. Über verschiedene Stationen fand sie schließlich 1937 nach Zürich und wurde Mitglied des Schauspielhauses Zürich.5 Bereits 1940 hatte sie in einem Wechsler-Film mitgespielt („Die missbrauchten Liebesbriefe“). 4 Zu den antisemitischen Äußerungen der Behörden vgl. Schoch, „Dieser galizische Jude (…)“. In der Festschrift zu Wechslers 70. Geburtstag wird nur sehr wenig auf diese Geschehnisse eingegangen, zwischen den Zeilen wird aber deutlich, dass Wechsler während des Zweiten Weltkriegs als Jude stark angefeindet wurde – alles im Rahmen und unter dem Deckmantel der „geistigen Landesverteidigung“. Vgl. Boveri, Morgarten. 5 Vgl. u.a. Hoffmann, „Therese Giehse“. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009479/2005-08-31/, letzter Zugriff : 13.9.2020.
Holocaustüberlebende in Schweizer Spiel- und Dokumentarfilmen
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Als die Gruppe die Schweiz erreicht, werden sie zwar nicht direkt zurückgewiesen, müssen aber auf einen Entscheid aus Bern warten, ob sie bleiben können. Der verantwortliche Offizier versucht telefonisch, Anweisungen aus Bern zu erhalten, und erklärt, er dürfe nur Personen über 65 Jahre, Kinder und politische Flüchtlinge aufnehmen. Dies bezog sich auf ein Kreisschreiben des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) vom 13.8.1942, dass „Flüchtlinge nur aus Rassegründen, zum Beispiel Juden“ nicht als politische Flüchtlinge akzeptiert werden, Zivilflüchtlinge zurückzuweisen sind.6 Es ist unzweifelhaft, in dieser Flüchtlingsgruppe sind keine politischen Flüchtlinge. Aus dem Telefonanruf wird deutlich, der Offizier bekommt den Chef nicht ans Telefon, er bittet daher um die Übertragung von Kompetenz an ihn. Dies wird genehmigt, worauf der Offizier gegen die Anordnung des EJPD entscheidet, die Flüchtlinge aufzunehmen. Es gelingt dem Film, die Beklemmung, die das Warten auslöst, spürbar zu übertragen, und gleichzeitig in dieser kurzen Sequenz die Schweizerische Flüchtlingspolitik einerseits zu hinterfragen, andererseits den Handlungsspielraum zu zeigen. Eine für 1945 fast schon unglaubliche Szene. Die Gruppe trifft sich dann auf einem Bergfriedhof, um den bei dem Weg über die Berge angeschossenen britischen Soldaten, der trotz Fahrt ins Krankenhaus dies nicht überlebt, zu beerdigen. Am Ende des Films stehen die zwei überlebenden Soldaten auf einem Hügel und blicken auf die kleine Flüchtlingsgruppe, die sich nach der Beerdigung vom Friedhof wegbewegt. Sie reden über das Schicksal der Flüchtlinge und in einer Überblendung wird aus der kleinen Gruppe ein riesiger Flüchtlingsstrom, der vom Bergfriedhof aus ins Tal läuft. Es gehe nicht nur um die kleine Gruppe, sagt einer der Soldaten, es gehe um Millionen Flüchtlinge, die eines Tages hoffentlich wieder nach Hause könnten. Dies ist die Schlussszene des Films. Der Film packt derart viele Themen mit einem höchst kritischen Blick zusammen, dass man nicht umhinkann, diesen Film, bei allen Elementen, die ihn als Film aus dem Jahre 1945 zeigen, als zeitlos modern zu bezeichnen. In den USA, England, Frankreich, schließlich Deutschland wurde der Film sehr gefeiert. Der herausragende Punkt im Film ist die Darstellung der Flüchtlinge. Zwar stehen die drei Soldaten scheinbar im Mittelpunkt, die Schauspieler spielen übrigens teilweise ihr eigenes Soldatenschicksal, aber die Botschaft des Films liegt bei den Flüchtlingen. Dass es sich um jüdische Flüchtlinge handelt, wird nicht direkt gesagt, mit der Ausnahme von „Vetter Hillel“, der über seine Kleidung und die jiddische Sprache als Jude aus Osteuropa erkennbar ist, und seiner Nichte Hannele. Beide repräsentieren den religiösen Zweig jüdischen Lebens in Europa. Um die gesamte Gruppe als jüdisch zu erkennen, müssen die Zuschauer*innen sehr aufmerksam den Film verfolgen. 6 Vgl. Haumann/Petry/Richers, Orte, S. 210.
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Lindtberg und Wechsler zeigen mit der Gruppe ein Kaleidoskop jüdischen Lebens in Europa : Juden und Jüdinnen aus Frankreich und den Niederlanden, offensichtlich vollkommen säkularisiert. Der Professor aus Wien, dem vor allem seine Forschungsarbeit über den Umgang mit Minderheiten7 wichtig ist, deren Manuskript er in einem Koffer mit sich schleppt und das er beim Aufstieg in die Berge verliert. Auf dem Friedhof sagt er, die Schweiz habe auch gute Bibliotheken, er empfehle allen Flüchtlingen aus der Gruppe, tatsächlich neu zu beginnen. Dies steht eigentlich im Gegensatz zu den Schlusssätzen der zwei Soldaten, die beim Anblick des überblendeten Flüchtlingsstroms hoffen, dass alle bald heimkehren können. Aber der Professor repräsentiert die jüdische Erfahrung in Europa, nämlich den nach großen Katastrophen (Ausweisung, Vertreibung, Pogrome) immer wieder notwendigen Neuanfang z.T. an einem neuen Ort. Dann ist da noch „Mutter Wittels“ mit ihrem Sohn Bernhard. Ihr Schicksal wird direkt im Film gezeigt. Ihr Mann wird deportiert, sie kann das nicht verhindern, sich aber selbst mit ihrem Sohn retten, und begibt sich danach sofort auf die Flucht. Und es gibt noch den Arbeiter aus Belgrad, der nur Serbisch spricht und versteht. Er hilft immer wieder durch sein fröhliches Wesen und seine Körperkraft, trägt noch im Dorf einmal die ausgekühlte Hannele Huckepack ins Bett und schleppt dem Professor seinen Koffer über die Berge, als dieser ihn nicht mehr tragen kann. Zu dieser subtilen Darstellung jüdischen Lebens in Europa passt auch, dass nicht alle Flüchtlinge im Film Namen haben, wie der Professor, der Arbeiter und die niederländischen Flüchtlinge. Mutter Wittels hat keinen Vornamen, Hillel und Hannele keinen Nachnamen. Im Film werden aus den fast namenslosen Flüchtlingen eindrückliche Gesichter, Schicksale, Menschen, die diese Geschichten machen. Dass mit Bernhard Wittels, der sich für die Gruppe opfert, und Vetter Hillel im übertragenen Sinne die jugendliche säkulare Zukunft und der religiöse Teil des Judentums den Weg über die Alpen nicht schaffen, macht dabei eine extrem tragische Komponente des Films aus. Aber auch die Schweiz und die Schweizer Flüchtlingspolitik werden in diesem Film sehr differenziert dargestellt. Die Gruppe spricht mehrfach über die Schweiz und die Schweizer. „Sie sind wie wir Niederländer“, sagen die niederländischen Flüchtlinge, man werde sie wohl nicht zurückweisen. Der Professor erklärt das Schweizer politische System, basierend auf mehreren Landessprachen und der damit verbundenen Akzeptanz unterschiedlicher Gruppen. An der Bergstation erleben die Flüchtlinge dann eine höchst korrekt agierende Grenzwacht und einen Offizier, der 7 Im Film wird kurz der Titel der Arbeit sichtbar : „Entwicklung des europäischen Minderheitenproblems seit 1815“.
Holocaustüberlebende in Schweizer Spiel- und Dokumentarfilmen
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das System erläutert, sich aber in einem Dilemma befindet, denn er darf die meisten Mitglieder der Gruppe nicht hineinlassen. Aber ihm ist auch durch die Erzählung des britischen Offiziers, der berichtet, er habe die Geschichten über KZ auch nicht glauben können („Now I know. I have seen things with my own eyes“), klar, dass er die Flüchtlinge dem sicheren Tod ausliefert, wenn er sie nicht aufnimmt. Er nutzt dann seinen persönlichen Handlungsspielraum, der aber den Anweisungen des EJPD entgegensteht. Damit ist der Film bis heute auf der Höhe der Zeit, denn die historiographische Forschung hat gezeigt, dass es vor allem das Ausnutzen des persönlichen Handlungsspielraums war, bis hin zum Gesetzesverstoß, der Flüchtlingen, die nicht in die genannten oder gewünschten Kategorien fallen, Einlass in die Schweiz und damit Rettung gewähren konnte. „Die letzte Chance“ wurde nicht nur von der Filmkritik sehr gelobt, sondern entwickelte sich auch zu einem kommerziellen Erfolg. Die subtile Fokussierung auf das Schicksal der Holocaustüberlebenden, die Gesichter und Geschichten bekommen und doch auch für die Heterogenität der jüdischen Flüchtlinge stehen, die versuchten, in die Schweiz zu gelangen, wurde lange Zeit im Schweizer Film nicht mehr in dieser Intensität erreicht. Dass es in der Schweiz nach 1945 eine Debatte über den Zweiten Weltkrieg und die Rolle der Schweiz gab, wird durch zwei „offizielle“ Berichte belegt, den sogenannten Ludwig-Bericht (1957), der sich mit der Flüchtlingspolitik beschäftigt, und den Bonjour-Bericht (1970), der sich der Schweizer Neutralität widmet. Während der Jurist Carl Ludwig (1889–1967) noch stark im Sinne der Verteidigung der Schweizer Politik schreibt, sind die Ausführungen des Historikers Edgar Bonjour (1898–1991) schon sehr viel kritischer. Der nächste vorzustellende Film trägt dieser Debatte über Schweizerische Politik Rechnung, bzw. trägt die Debatte auf eine neue Ebene.
„Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.“ Das oben angeführte Kriterium, die Filme müssten von einem großen Publikum gesehen worden sein, um eine Rolle in der Erinnerungsdebatte spielen zu können, führt zum Dokumentarfilm „Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.“, gedreht 1976 von Richard Dindo und Niklaus Meienberg. Der Film erreichte 12.000 Besucher*innen im Kino und löste eine erhebliche Kontroverse in der Schweiz aus, da er die Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit des Erschießens des Soldaten Ernst S. als Strafe für einen Verrat in einem minder schweren Fall stark anzweifelte. Dindo und Meienberg bezogen eindeutig Position für Ernst S., bauten den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Ernst S. gegen die Personen in hohen Positionen auf, die
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in so einem Fall ungeschoren davonkämen. Der Film ist ein wahrhaft düsteres Porträt der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, aber auch der Zeit Mitte der 1970er-Jahre, als Dindo und Meienberg versuchten, den Fall neu zu beleuchten. Allerdings ist der Film nicht geeignet als Stück über Holocaustüberlebende, der Film ist eine reine Innensicht der Schweiz, bedrückend, aber mehr ein interner Aufarbeitungs-, denn ein Erinnerungsdiskurs. Ergänzend sei hier darauf hingewiesen, dass der schweizerisch-jüdische Schriftsteller Kurt Guggenheim bereits in seinem Roman „Wir waren unserer vier“ von 1949 auf die Thematik der Erschießungen einfacher Soldaten und der ungeschoren Davongekommenen aus der Elite zu sprechen kam.8
„Das Boot ist voll“ 1981 erscheint der Spielfilm mit den meisten Zuschauern : „Das Boot ist voll“. 159.000 Zuschauer*innen lockt dieser von Markus Imhoof gedrehte Streifen in die Kinos. Der Titel und der historiographische Hintergrund der Geschichte gehen auf das 1966 erstmal erschienene Buch von Alfred A. Häsler zurück „Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–1945“9. Häsler zeigt in seinem Buch erstmals in aller Deutlichkeit den schwierigen und teilweise inhumanen Umgang der Schweiz mit den Flüchtlingen seit 1933 auf, weist auf stark antisemitische Komponenten hin und den in der Schweizer Flüchtlingspolitik lange gemachten Unterschied zwischen politischen Flüchtlingen und Deserteuren, die man aufnahm, und Flüchtlingen „nur aus Rassegründen“, die man zurückwies. Imhoof macht daraus einen eindrücklichen Film, der die Geschichte von sechs Flüchtlingen zeigt, die im Herbst 1942 nach dem heimlichen Grenzübertritt in einem Schweizer Dorf landen. Die Schweiz hat das Grenzregime und die Flüchtlingspolitik verschärft, doch die Flüchtlinge versuchen alles, um in der Schweiz bleiben zu können. Selbst ein „Rollentausch“ mit einem deutschen Deserteur wird vollzogen, doch es ist vergebens, die lokalen Behördenvertreter lassen sich nicht täuschen. Die jüdischen Flüchtlinge werden zurückgeschickt, nur ein Kind und der Deserteur dürfen bleiben. Imhoof stellt mit dieser Gruppe exemplarisch die Flüchtlingsgruppen dar, wobei das Exemplarische fast schon wieder eine Schwäche des Films ist. Die Darstellung der Schweizer Bevölkerung im Dorf und das Verhalten der lokalen Amtsträger (Landjäger Bigler) hingegen sind bedrückend gut gelungen. Es ist ein Film über das Verhalten der lokalen Amtsträger und das Verhalten der Bevölkerung in einem Dorf im 8 Guggenheim, Wir waren unserer vier, S.185–193. 9 Vgl. Häsler, Das Boot ist voll.
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Grenzgebiet. Obwohl die Flüchtlinge keine Nebenrolle spielen, sind sie doch nicht im Mittelpunkt. Es gibt allerdings eine Szene, die in einem kurzen Wortwechsel die Situation der Flüchtlinge fokussiert. Landjäger Bigler bringt die Gruppe Richtung Grenze. Als Judith Klein, einer der jüdischen Flüchtlinge, erschöpft pausiert, sagt er ihr, sie möge weitergehen, es sei nicht mehr weit, worauf sie entgegnet : „Weit wohin, nach Theresienstadt ?“ Der Film zieht seine Semantik des Erkennens und Erinnerns aber auch aus dem Titel. „Das Boot ist voll“ ist nicht nur der sprechende Titel des Buches von Häsler, sondern geht auf ein Zitat des Bundesrats Eduard von Steiger zurück. Dieser hielt am 30.8.1942 an der Landsgemeinde der „Jungen Kirche“ in Zürich Oerlikon eine Rede, in der er u.a. Folgendes sagte : Wer ein schon stark besetztes, kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen, wenn er nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor falschen Hoffnungen warnt und wenigstens die schon Aufgenommenen zu retten sucht.10
Das daraus entwickelte Bild vom schon vollen Boot wurde eines der großen Symbolbilder der Schweizerischen Flüchtlingspolitik, und zwar auf beiden Seiten : Das schon volle Boot dürfe nicht überladen werden versus das Boot sei viel größer als gesagt, daher müsse man weiter Flüchtlinge aufnehmen.
„Der Schwarze Tanner“ 1986 erscheint der in punkto Zuschauerzahlen zweiterfolgreichste Film : „Der Schwarze Tanner“, gedreht von Xavier Koller, der darin den Widerstand der Bergbauern gegen die von der Schweizer Regierung verfügte „Anbauschlacht“ darstellt. Mithilfe des Bebauens möglichst vieler Flächen sollte die Schweiz autarker in der Lebensmittelversorgung werden. Der Bergbauer Tanner, der in höchst prekären Verhältnissen lebt, wehrt sich gegen die seiner Meinung nach unsinnigen Anordnungen der Feldbestellung auf Bergwiesen. Koller gelingt ein berührendes Porträt der bergbäuerlichen Atmosphäre, es ist aber ebenfalls ein Film der Schweizer Selbstschau, die Einflüsse von außen, d.h. auch die Flüchtlingssituation, werden nicht thematisiert. 10 Vortrag von Herrn Bundesrat von Steiger gehalten an der Landsgemeinde der „Jungen Kirchen“ in Zürich-Oerlikon am 30. August 1942. https://dodis.ch/14256, letzter Zugriff : 25.09.2020.
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„Er nannte sich Surava“ Bevor es um die Filme geht, die das Thema Holocaustüberlebende direkt ins Zentrum stellen, muss noch der 1995 gedrehte Film „Er nannte sich Surava“ genannt werden, den 12.000 Zuschauer*innen in den Kinos sahen. Darin wird die Geschichte des Journalisten Hans-Werner Hirsch (1912–1995) erzählt, der unter seinem Pseudo nym Peter Surava von 1939 bis 1949 zu den profiliertesten Journalisten der Schweiz auf der dezidiert linken Seite zählte und vor allem mit seinen Sozialreportagen die Aufmerksamkeit auf schwierigste Verhältnisse in der Schweiz lenkte.11 Sein Pseudonym hatte er sich von der Bündner Gemeinde Surava „geborgt“. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Surava für kommunistische Zeitungen, geriet allerdings in einen Verleumdungsprozess und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Er publizierte danach unter verschiedenen anderen Namen. Es gelingt dem Regisseur Erich Schmid ein erschreckendes Porträt der Zeit der 1930er- und 1940er-Jahre, wobei es weniger um Erinnerung und Holocaustüberlebende geht, der Fokus aber doch immer wieder auf das Thema Umgang der Schweiz mit Jüdinnen und Juden geworfen wird, denn Surava wird in seiner Arbeit von seinen Gegnern immer zum Vorwurf gemacht, er sei ein Jude. Das stimmt zwar nicht, zeigt aber, dass der Vorwurf, Kommunist zu sein, offensichtlich nicht reichte, es musste noch ein Argument her, das Surava tatsächlich zum Fremden macht, und das fand man im vermeintlichen Jüdisch-sein Suravas.
„Grüningers Fall“ Zwei Jahre später, 1997, erscheint ein weiterer Dokumentarfilm von Richard Dindo : „Grüningers Fall“. Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger (1891–1972) hatte nach der Verschärfung der Einreisebestimmungen für „Nichtarier“ (Visumspflicht) und der Einführung des J-Stempels im Pass im Oktober 1938 Hunderte von Flüchtlingen, jüdisch und nicht jüdisch, durch das Ausstellen falscher Papiere (vor allem Vordatierung der Einreise) gerettet, da sie aufgrund des Einreisedatums in der Schweiz bleiben konnten. 1939 wurde dies entdeckt, Grüninger suspendiert, seine Pensionsberechtigung aberkannt und er 1940 noch zu einer Zahlung wegen Amtspflichtverletzung verurteilt. Paul Grüninger lebte mit seiner Familie von da an in einer höchst prekären Situation, er fand keine feste Anstellung mehr und starb verarmt 1972. Erst 1993 wurde er posthum rehabilitiert und seiner Familie Entschädigungs11 Der Film beruht auf Hirschs Autobiografie, die er unter dem Namen Peter Hirsch 1991 veröffentlichte. Vgl. Hirsch, Surava.
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zahlungen geleistet. Dies geht auf die unermüdliche politische Arbeit des damaligen St. Galler SP-Nationalrats Paul Rechsteiner und das Buch des Historikers Stefan Keller „Grüningers Fall“12 aus dem Jahre 1993 zurück.13 Stefan Keller hatte am Drehbuch für den Film mitgearbeitet, und es ist nach „Die letzte Chance“ der erste Film, der tatsächlich die Holocaustüberlebenden in den Mittelpunkt stellt. Dies gelingt dem Film aber nicht nur durch das Narrativ über Grüningers Handlungen, sondern durch die szenische Inszenierung im Film, denn ein großer Teil des Films wird in dem St. Galler Gerichtssaal erzählt, in dem Grüninger angeklagt und verurteilt wurde. Auf den Zuschauerbänken hinten sitzen einige der ehemaligen Flüchtlinge, deren Leben von Grüninger gerettet wurde. Manche treten im Lauf des Films nach vorne, werden interviewt. Auch Helfer von Paul Grüninger treten auf und werden in der inszenierten Gerichtssituation interviewt. Es sitzt aber kein Gericht vorne, sondern der Blick geht von den Zuschauer*innen aus in den Gerichtssaal. Die Zuschauer*innen sind das Gericht, das sich alles anhört. Diese bewusste Inszenierung hebt den Film aus dem Genre „Dokumentation“ heraus. Es ist kein Reenactment, keine Nachstellung, sondern die Möglichkeit, die Geschichte in Form eines Interviews zu hören und zu sehen, dabei aber auch gleichzeitig ein Zeitdokument zu sein, das sich für eine Arbeit z. B. mit Schulklassen sehr gut eignet. Leider haben den Film im Kino nur 6000 Zuschauer*innen gesehen. Durch das Ausstrahlen auf SRF und das Vorhandensein in der Mediathek ist es aber weiterhin möglich, mit dem Film zu arbeiten.
„Akte Grüninger“ Deutlich mehr Zuschauer*innen haben die 2014 erschienene Verfilmung der Grüninger-Geschichte als Spielfilm mit auch fiktiven Elementen gesehen, insgesamt 64.000. Alain Gsponer drehte mit „Akte Grüninger“ einen Film, der vor allem durch die Fokussierung auf Paul Grüninger und die herausragende schauspielerische Leistung Stefan Kurts als Paul Grüninger beeindruckte. Es ist, wie schon einige Filme vorher, eine Innensicht der Schweiz, die das Grüninger-Thema als Film gut aufnimmt, Grüninger selbst auch gerecht wird, aber die Holocaustüberlebenden nicht zentral rückt. Als möglicher Teil eines Erinnerungsdiskurses über Holocaustüberlebende steht „Akte Grüninger“ weit hinter „Grüningers Fall“ zurück. 12 Vgl. Keller, Grüningers Fall. 13 Zur Rehabilitierungsgeschichte Paul Grüningers, vgl. den Beitrag von Wulff Bickenbach in diesem Sammelband.
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„Ende der Erinnerung ?“ Der letzte in dieser Reihe vorzustellende Film schließt in der Analyse an „Die letzte Chance“ an, denn es handelt sich in vielerlei Hinsicht um einen außergewöhnlichen Film. Der Dokumentarfilm „Ende der Erinnerung ?“ behandelt die „Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust“. Diese von dem Auschwitzüberlebenden Gabor Hirsch (1929–2020) 1995 initiierte und 1997 als Verein gegründete Kontaktstelle hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Überlebende zusammenzubringen, Treffen und Austausch der Überlebenden untereinander zu organisieren, damit einen geschützten Raum für Gespräche herzustellen für Personen, die vielleicht noch nie über ihre Erfahrungen gesprochen hatten, aber auch, mit Vorträgen und Zeitzeugengesprächen in Schulklassen auf die Geschichte des Holocaust aufmerksam zu machen und so gegen Rassismus und Antisemitismus aufzutreten.14 Im Jahre 2011 löste sich die Kontaktstelle auf. Zu diesem Anlass wurden die Mitglieder zu einer Feierstunde ins Bundeshaus nach Bern eingeladen. Der Film wurde von der AVA Scheiner AG realisiert, hinter der Peter und Susanne Scheiner stehen. Peter Scheiner, 1947 in der damaligen Tschechoslowakei geboren, kam 1968 in die Schweiz und baute hier auf seine schon in der Tschechoslowakei begonnene Arbeit im Foto- und Filmbereich auf. Susanne Scheiner-Seifert15, geboren 1946 in Zürich, arbeitet seit 1972 als Drehbuchautorin und teilweise Co-Regisseurin mit Peter Scheiner zusammen. Themen der jüdischen Geschichte wurden von ihnen einige Male filmisch verarbeitet, so 2001 „Erinnerungen an die Zukunft – Juden in Komarno“ oder 2007 „Aus Galizien in den Aargau – Wege eines jüdischen Europäers im 20. Jahrhundert“. An den Anfang des Films stellt Peter Scheiner ein Statement über den KZ-Besuch mit seinem Vater, dessen Geschichte er damals nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt habe. Mit dem vorliegenden Film solle nun den Holocaustüberlebenden die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zukommen. Scheiner nennt den Film aber sehr bewusst eine Collage. Dies ist äußerst zutreffend, denn der Film setzt sich aus verschiedenen Filmstücken zusammen, die nicht durch eine Stimme aus dem Off oder eine Untertitelei zusammengehalten werden. Zentral stellt Scheiner die Auflösung des Vereins „Kontaktstelle“ und die dabei abgehaltene Feierstunde im Bundeshaus 14 Die Kontaktstelle erhielt 2010 den Dr. Bigler/Bergheimerpreis. Die Ansprache von Esther Hörnlimann aus Anlass der Preisverleihung bietet sehr viele Informationen zur Kontaktstelle. Vgl. Hörnlimann, Porträt. https://biglerpreis.ch/fileadmin/dateien/pdf/Portr%C3%A4t_Kontaktstelle.pdf, letzter Zugriff 26.09.2020. 15 Susanne Scheiner-Seiferts Mutter, Sally Seifert-Peniaker, ist eine der Protagonistinnen in Richard Dindos Film „Akte Grüninger“.
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in Bern, an der Vertreter*innen der Kontaktstelle, des EDA und Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss sprechen. Allen anwesenden Überlebenden wird eine Medaille (Pin) verliehen. Rund, goldfarben, in der Mitte das Schweizer Kreuz, dazu die Aufschrift „Zeitzeuge des Holocaust, 27.1.2011“. Am Ende gibt es einen großen Aperitif. Dieser Anlass fungiert als Rahmenerzählung, dazu werden Ausschnitte aus verschiedenen Treffen der Kontaktstelle gezeigt, Mitglieder der Kontaktstelle erzählen über sich, ein Zeitzeuge wird bei seinem Auftritt in einem Universitätsinstitut gezeigt. Die Kontaktstelle hat die Memoiren von 17 Überlebenden ab 2009 aufschreiben lassen und jeweils als kleine Broschüre veröffentlicht. Diese wurden schließlich in einem Schuber zusammengefasst, das Titelbild und die Umschlagbilder der einzelnen Hefte dazu vom deutschen Künstler Gerhard Richter aus seiner Bildfolge „Birkenau“ gestaltet.16 Die Szenen des Films wechseln ständig, es entsteht das Bild einer großen Verwirrung und des vergeblichen Versuchs, Ordnung in diese Verwirrung zu bekommen. Auch wenn dies auf den ersten Blick irritierend sein kann, entspricht diese Szenenund Erzählfolge den Erlebnissen und dem Erleben der Zeit bis in die Gegenwart hinein, den aufblitzenden Erinnerungen sowie dem höchst unterschiedlichen Umgang der Überlebenden mit ihren Geschichten. Die einzelnen Interviewausschnitte, die Vernissage der Memoirenbücher, die Treffen der Kontaktstelle und der Auftritt im Universitätsinstitut sind beeindruckende Zeugnisse des Umgangs der Holocaust überlebenden in der Schweiz mit ihrem Leben. Scheiner beobachtet sie, lässt sie erzählen. Er schließt ein wenig an Lanzmanns „Shoah“ an, ohne aber ein Reenactment zu inszenieren oder mit Fragen nachzuhaken. Aussagen zur Kontaktstelle, man treffe sich hier, weil man einander verstehe, auch wortlos, gehören zu den ganz starken Momenten im Film. Auch die Aussage einer Überlebenden, sie wisse nicht, wofür sie diese Medaille erhalten habe, sie sei keine Heldin gewesen, zeigen, wie fragil der Umgang mit den Holocaustüberlebenden eigentlich ist. Niemand hat sich sein Schicksal ausgesucht, nach einem langen Schweigen beginnt das Reden darüber Mitte der 1990er-Jahre, aber es reden nicht Wissenschaftler*innen, es reden nicht professionelle Darsteller*innen, es reden Menschen, die sich die nun von ihnen erwartete Präsenz und Performanz in der Öffentlichkeit nicht gesucht haben. Umrahmt wird dies von der, man muss es fast so sagen, skurrilen Situation, dass das Ende der Kontaktstelle mit einem Festakt begangen wird. Würde es nicht gesagt, wähnte man sich an der Gründung. Die Kontaktstelle hat die Auflösung des Vereins selbst beschlossen, aber schaut man diesem Festakt zu, wird der Titel des Films erschreckend wahr : Ist das das Ende der Erinnerung ? Beendet man mit der Kontaktstelle auch die Erinnerung ? 16 Vgl. Lefkovits, Vergangenheit.
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Peter und Susanne Scheiner haben für ihren Film 2020 die Auszeichnung „Best Film about Swiss Culture“ am Switzerland International Film Festival erhalten. Man fragt sich : „Bester Film über Schweizerische Kultur ?“ und kommt zu einem klaren „Ja“. Der Film fasst den Umgang der Schweiz mit den Holocaustüberlebenden exakt zusammen : Das Schweigen der Überlebenden wird nicht gehört, sie müssen selbst eine Sprache finden. Tun sie es und bringen sie sich ein – Gabor Hirsch bewarb sich als Mitglied der Task Force Schweiz – Zweiter Weltkrieg des Bundes (1996–1999), wird aber abgelehnt –, wird über sie gesprochen, aber nicht mit ihnen. Dass sich, wie im Film gezeigt, manche Überlebende bis heute davor scheuen zu sagen, dass sie jüdisch seien, wirft einen Blick auf das gesellschaftliche Umfeld, das Traumatisierungen nicht zulassen kann. Ein Verlust ist es für die Erinnerungskultur, dass „Ende der Erinnerung ?“ nicht zum Beispiel zum 75-jährigen Ende des Zweiten Weltkriegs 2020 im Schweizer Fernsehen gezeigt wurde. Die 1990er- und 2000er-Jahre sind, ausgelöst durch die Debatten über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, eine Zeit des Nachfragens. Mit Mühe und erzwungen entdeckt die Schweiz dann ihre Geschichte und ihre Widerständigen (Paul Grüninger) in dieser Geschichte, doch die Holocaustüberlebenden benötigen die Auflösung ihres Vereins, um Aufmerksamkeit zu erfahren. Als Fazit kann gezogen werden : Sucht man einen Film, in dem die Holocaustüberlebenden tatsächlich im Fokus stehen und der die Debatte in der Schweiz über Erinnerung und Gedenken anregen kann, bleiben aus den vorgestellten Filmen nur drei Filme übrig : „Die letzte Chance“, „Akte Grüninger“ und „Ende der Erinnerung ?“17
Literaturverzeichnis Bannasch, Bettina und Almuth Hammer (Hg.). Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah. Frankfurt/Main : Campus Verlag, 2004. Boveri, Walter, Walter Matthias Diggelmann, Lepold Lindtberg und David Wechsler. Morgarten kann nicht stattfinden. Lazar Wechsler und der Schweizer Film. Zürich : Europa Verlag, 1966. Guggenheim, Kurt. Wir waren unserer vier. Werke VI, Frauenfeld : Verlag Huber, 2003. Häsler, Alfred A. Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–1945. Zürich : Ex Libris Verlag, 1967.
17 Nicht mehr in die Untersuchung einbezogen werden konnte der 2020 veröffentliche Film „Who’s afraid of Alice Miller ?“ (Regie Daniel Howald), der das Schicksal von Martin Miller, Sohn der bekannten Psychoanalytikerin Alice Miller, erzählt. Alice Miller, aus einer jüdisch-orthodoxen Familie in Polen stammend, kam nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz.
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Haumann, Heiko, Erik Petry und Julia Richers (Hg.). Orte der Erinnerung. Menschen und Schauplätze in der Grenzregion Basel 1933–1945. Basel : Christoph Merian Verlag, 2008. Hirsch, Peter. Er nannte sich Peter Surava. Stäfa : Rothenhäusler, 1991. Hoffmann, Tobias. „Therese Giehse“. Historisches Lexikon der Schweiz. https://hls-dhs-dss.ch/ de/articles/009479/2005-08-31/, letzter Zugriff : 13.09.2020. Hörnlimann, Esther. „Porträt : Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust“. Rede anlässlich der Verleihung des 3. Dr. Bigler / Bergheimer-Preises an die Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust am 27. Januar 2010. https://biglerpreis.ch/fileadmin/dateien/pdf/ Portr%C3%A4t_Kontaktstelle.pdf, letzter Zugriff : 26.09.2020. Keller, Stefan. Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich : Rotpunktverlag, 1993. Lefkovits, Ivan. „Mit meiner Vergangenheit lebe ich.“ Memoiren von Holocaust-Überlebenden. Berlin : Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2016. Saxton, Libby. Haunted Images. Film, Ethics, Testimony and the Holocaust. London : Wallflower Press, 2008. Schoch, Jürg. „Dieser galizische Jude missbraucht die Armee.“ Im Zweiten Weltkrieg schikanieren die Behörden die beiden wichtigsten Figuren des Schweizer Kinos. Neue Zürcher Zeitung, 04.05.2020, S. 10.
Filmverzeichnis Die letzte Chance. Schweiz 1945, Regie : Peter Lindtberg. Produzent : Lazar Wechsler. Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. Schweiz 1976, Regie : Richard Dindo und Niklaus Meienberg. Das Boot ist voll. Schweiz 1981, Regie : Markus Imhoof. Der schwarze Koller. Schweiz 1986, Regie : Xavier Koller. Er nannte sich Surava. Schweiz 1995, Regie : Erich Schmid. Grüningers Fall. Schweiz 1997, Regie : Richard Dindo. Akte Grüninger. Schweiz 2014, Regie : Alain Gsponer. Ende der Erinnerung ? Schweiz 2017, Regie : Peter Scheiner.
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Umgang mit dem Thema „Holocaust“ im digitalisierten Unterricht Dealing with the topic of the Holocaust in schools is currently facing major challenges. First, the contemporary witnesses “fall silent”. Second, the number of media and materials is growing. Third, pedagogical demands are increasing. Using a variety of teaching examples, it becomes clear how diverse today’s school approach to the Holocaust is, which didactic principles are being implemented, how important teachers are in their choice of presentation and how strongly digital change is shaping teaching. Der schulische Umgang mit dem Thema „Holocaust“ steht zurzeit vor großen Herausforderungen :1 Erstens wächst die Anzahl von Medien und Materialien zum Holocaust stark. Es werden bisher unbekannte Quellen veröffentlicht, andere Themenaspekte erforscht, neue Darstellungen geschrieben.2 Zweitens „verstummen die Zeitzeug*innen“.3 Persönliche Berichte von Überlebenden im Klassenzimmer, die bisher zentral für die Vermittlung des Holocaust in der Schule waren, sind immer seltener. Drittens verändert die Digitalisierung Schule und Unterricht und erlaubt neue Gestaltungsmöglichkeiten.4 Nicht erst seit der Corona-Pandemie und der damit zusammenhängenden Umstellung von Präsenzunterricht auf Distance Learning ist klar, dass sich Lernprozesse und die Rolle der am Unterricht Beteiligten ändern. Die Aneignung kann vermehrt zeitlich losgelöst vom Stundenplan und örtlich unabhängig vom Klassenzimmer stattfinden, ist damit aber anderen Ablenkungen und Einflüssen ausgesetzt.5 Viertens steigen die didaktischen Ansprüche bei der Vermittlung der Geschichte des Holocaust – und selbstverständlich nicht nur bei diesem Thema. Die Professionalisierung der Didaktik hat zu 1 2 3 4
Ausführlicher dazu in : Gautschi/Lücke, „Historisches Lernen im digitalen Klassenzimmer.“ Vgl. z. B. Wachsmann, KL – Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Vgl. dazu z. B. Gross/Stevick, As the Witnesses Fall Silent. Hofer-Krucker Valderrama/Kauffmann, Neue Medien – neuer Unterricht ? Burow, Schule digital – wie geht das ? Neue Technologien erlauben beispielsweise auch, dass Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mittels Holographic Videos im 3D-Format in der Klasse präsent sind und die Fragen der Schüler*innen beantworten, die diese einem holographierten Zeitzeugen direkt stellen können. Vgl. dazu : USC Institute of Creative Technologies, New Dimensions in Testimony.Vgl. auch Baricelli/Gloe, „Neue Dimensionen der Zeugenschaft“. 5 Gautschi/Bunnenberg, „Digital Public History“ ; Schwabe, „Digital Public History im schulischen Lehr-Lern-Kontext“ ; Demantowsky und Lauer, „Präsenz der Lehre zwischen Prä- und Postcoronazän“.
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einer Reihe von neuen Erkenntnissen bezüglich Lehren und Lernen geführt : Gefordert wird ein kompetenzorientierter Unterricht, der die Schüler*innen unterstützt und fördert, damit sie sich neues Wissen und Können aneignen und neue Einstellungen und Haltungen aufbauen. Dies soll auf eine binnendifferenzierte Art geschehen, bei der alle Lernenden auf ihren eigenen Wegen mit eigenen Schwerpunkten lernen, damit auch tatsächlich eine je individuelle Identitätsentwicklung stattfindet.6 Diese Veränderungen erfordern neue Formen der schulischen Vermittlung des Holocaust. Sowohl die Lehrmittelentwicklung als auch die Unterrichtspraxis haben in den letzten Jahren darauf reagiert. Im Folgenden werden zuerst drei Trends vorgestellt : Im ersten Kapitel wird anhand von Unterrichtsbeispielen gezeigt, wie zusätzlich zum Arbeiten mit analogen Materialien im Präsenzunterricht der Umgang mit Lernplattformen beim Distance Learning dazukommt, im zweiten Kapitel, wie die persönliche Begegnung mit Überlebenden durch die Begegnung mit videographierten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen abgelöst wird, und im dritten Kapitel, wie der Umgang mit dem Holocaust an originalen historischen Schauplätzen mit demjenigen an virtuellen Orten ergänzt wird. Im abschließenden vierten Kapitel wird anhand der referierten Unterrichtsbeispiele der Kapitel 1–3 erläutert, welche didaktischen Prinzipien heute den Umgang mit Holocaust im Unterricht prägen, und es wird deutlich, welch große Bedeutung die Lehrpersonen bei der Auswahl und der Durchführung der Vermittlungsinszenierungen haben.7
Präsenzunterricht und Distance Learning Mittlerweile hat der Holocaust durch die großen Anstrengungen, die bei der Vermittlung seiner Geschichte auf verschiedensten Ebenen geleistet wurden, in den Schulen den Status eines kanonisierten Themas erhalten.8 Dies zeigen sowohl der Blick in die Lehrpläne als auch die Analyse der gegenwärtig eingesetzten Lehrmittel.9 6 Vgl. z. B. Gautschi, Guter Geschichtsunterricht. 7 Ich danke Jasmine Steger für ihr Mitdenken beim Thema, für die anregenden und weiterführenden Diskussionen sowie für die aufmerksame Lektüre des Textes, die zu einer hoffentlich für alle Leser*innen erkennbaren Präzisierung der Darlegungen geführt haben. 8 Vgl. Gautschi/Zülsdorf-Kersting/Ziegler, Shoa und Schule. Zu erwähnen sind etwa die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (1998, seit 2012 International Holocaust Remembrance Alliance) und das Stockholm International Forum on the Holocaust : A Conference on Education, Remembrance, and Research (2000), das Holocaust Outreach Programme der Vereinten Nationen (2005) und die Etablierung des 27. Januar – des Tags der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz – als internationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust. 9 Vgl. Fuchs/Utz/Gautschi, Zeitreise 2. Darin erfolgt die Thematisierung des Holocaust auf zwölf Seiten,
Umgang mit dem Thema „Holocaust“ im digitalisierten Unterricht
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Unterricht zum Umgang mit Holocaust findet meist im Präsenzunterricht statt und thematisiert unterschiedliche Aspekte, zum Beispiel „Müssen wir heute für vergangenes Unrecht bezahlen ? Die Geschichte von Joseph Spring.“10 Diese hier als Beispiel kurz referierte Doppelstunde richtet sich an neunte Klassen mit 15-jährigen Schülerinnen und Schülern und dauert 90 Minuten.11 Darin wird einleitend der Auftrag erteilt, in Gruppen an einem konkreten Beispiel zu diskutieren, ob „wir heute für vergangenes Unrecht bezahlen“ müssen. Aus Material-Teilen sollen die Gruppen gemeinsam die Geschichte von Joseph Spring rekonstruieren und also die vorliegenden Bilder und Textausschnitte in die richtige Reihenfolge bringen.12 Die Materialien basieren auf den Recherchen des Historikers Stefan Keller, der diese Geschichte, die sich während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz abspielte, in seinem Buch „Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte“ dargestellt hat.13 Nach der Pause diskutieren die Schüler*innen zuerst in Gruppen, wie der Bundesrat auf die Forderung von Joseph Spring, welcher Wiedergutmachung für seine Auslieferung durch die Schweiz an die Nationalsozialisten fordert, reagieren soll. Verschiedene Gruppen kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Das führt dazu, dass die Schüler*innen neugierig werden, wie der Bundesrat tatsächlich entschieden hatte. Die Lehrerperson erzählt den Fortgang der Geschichte : Der Bundesrat drückte zwar Joseph Spring sein Bedauern aus und entschuldigte sich, aber er lehnte Springs Klage im Juni 1998 ab. Bei einer abschließenden Klassendiskussion kommen auch aktuelle Debatten von Wiedergutmachung zur Sprache, unter anderem wird die Frage gestellt, ob die Schweiz aus der Geschichte gelernt habe.14 Während diese Doppelstunde im Klassenzimmer stattfindet und auf kopierten Quellen und Darstellungen aufbaut, die die Lehrerperson aus Schulgeschichtsbüchern und aus der Fachliteratur zusammengestellt hat, lernen die Schüler*innen im z. B. mit „Von der Judenverfolgung zum Holocaust“ (S. 122 f.), „Was man wissen konnte“ (S. 124 f.), „Mit Spielfilmen Geschichte lernen“ (S. 130 f.). Bei den Lehrplänen soll hier beispielhaft der Deutschschweizer Lehrplan 21 erwähnt werden, in welchem der Holocaust explizit erwähnt wird : „Die Schülerinnen und Schüler können darlegen, warum das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme bezeichnet wird. […], Holocaust, […]“ RZG.6.3a : https://lu.lehrplan.ch/index.php ?code=a|6|4|6|0|3, letzter Zugriff : 02.06.2020. 10 Vgl. Keller, Die Rückkehr. 11 Bonhage et al., Hinschauen und Nachfragen, S. 124 f. 12 Vgl. Gautschi, Geschichte lehren, S. 121. Vgl. auch „Was geht mich die Geschichte an ? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten“ von Yad Vashem : https://store.yadvashem.org/he/was-geht-michdie-geschichte-an-den-holocaust-im-21-jahrhundert-unterrichten-sally-perel-copy, letzter Zugriff : 02.06.2020. 13 Vgl. Keller, Die Rückkehr. 14 Gautschi, Guter Geschichtsunterricht, S. 183.
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folgenden Beispiel zum Thema „Stolz oder Schande ? Die Schweiz und die Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg“ zu Hause ausschließlich mit digitalen Materialien auf der Webplattform IWitness.15 Dies ist eine Lernumgebung der USC Shoah Foundation, die gemäß Aussage auf der Homepage Schüler*innen mit der Vergangenheit verknüpft, ihnen eine aktive Beteiligung in der Gegenwart ermöglicht und sie zum Aufbau einer besseren Zukunft motiviert.16 IWitness will mittels videografierten Zeitzeugeninterviews, Multimediaaktivitäten und digitalen Ressourcen aktives Lernen erleichtern. Nachdem sich die Schüler*innen zu Hause auf IWitness angemeldet und die Unterrichtssequenz ausgewählt haben, werden sie zuerst mit zwei unterschiedlichen Aussagen von Zeitzeug*innen über die Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs konfrontiert : Susi Eva Ringer sagt : „Die Schweiz, das ist das übelste Land, das muss ich sagen, was es überhaupt gegeben hat zu der Zeit“17. Demgegenüber sagt Alexander Meier, ebenfalls ein Zeitzeuge : „Ich […] kann wirklich nur Positives über die Schweizer sagen“18. Die Schüler*innen halten anschließend auf der Lernplattform Vermutungen fest, warum es so unterschiedliche Positionen zum Verhalten der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gibt und beschäftigen sich mit verschiedenen Quellen zur Frage, ob die Schweiz genügend für die jüdischen Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs gemacht habe. Dazu lesen sie Ausschnitte aus einem Vortrag von Bundesrat Eduard von Steiger sowie aus dem Brief der Mädchenklasse aus Rorschach im September 1942 an den Bundesrat und lösen Aufgaben. Die Schüler*innen betrachten noch weitere Ausschnitte aus Videointerviews mit Zeitzeug*innen und werden mit zusätzlichen, ganz unterschiedlichen Aussagen über die Schweiz in jener Zeit konfrontiert. Sie müssen diese Aussagen auf einer Skala von „positive Meinung über die Schweiz“ bis „negative Meinung über die Schweiz“ anordnen, ausgewählte Aussagen kommentieren und dies in einer Videokonferenz mit anderen Schülerinnen und Schülern ihrer Gruppe vergleichen. Aus der Diskussion darüber, ob sich die Schweiz für ihr Verhalten während des Zweiten Weltkriegs schämen muss oder ob sie stolz darauf sein kann, entstehen ganz unterschiedliche Aussagen, die mit Ausschnitten aus Videos belegt werden müssen.19
15 https://iwitness.usc.edu/sfi/Information/?id=a8200fba-6891-4ac4-9c9b-8f564ed42256, letzter Zugriff : 02.06.2020 ; Die Unterrichtseinheit ist während der Corona-Pandemie von Helen Kaufmann für Distance Learning konzipiert, entwickelt und aufgeschaltet worden. Zur Nutzung der so genannten Activity ist eine kostenlose Registrierung bei IWitness notwendig 16 IWitness, What is IWitness ? https://iwitness.usc.edu/sfi/, letzter Zugriff : 02.06.2020. 17 Kaufmann, „Stolz oder Schande ?“ 18 Ebd. 19 Rüsen, „Objektivität“.
Umgang mit dem Thema „Holocaust“ im digitalisierten Unterricht
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Ob nun im Präsenzunterricht oder beim Distance Learning : Bei beiden Vermittlungsinszenierungen eignen sich die Schüler*innen neues Wissen zur Rolle der Schweiz während der Zeit des Zweiten Weltkriegs und insbesondere zu ihrem Umgang mit dem Holocaust an, sie entwickeln ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Umgang mit historischen Quellen und geschichtlichen Darstellungen weiter, und sie differenzieren eigene Einstellungen und Haltungen aus. Im heutigen Sprachgebrauch wird dies zusammenfassend als Kompetenzerwerb bezeichnet.20 Im Kompetenzmodell „Guter Geschichtsunterricht“ werden die vier Lernschritte mit a) Wahrnehmungskompetenz für Veränderungen in der Zeit zur Entwicklung von Fragen und Vermutungen, b) Erschließungskompetenz für historische Quellen und Darstellungen zur Entwicklung von Sachanalysen, c) Interpretationskompetenz für Geschichte zur Entwicklung von Sachurteilen, d) Orientierungskompetenz für Zeiterfahrung zur Entwicklung von Werturteilen umschrieben.21 Ein vollständiger Prozess historischen Lernens zum Thema „Holocaust“ kann sowohl im Präsenzunterricht als auch im Distance Learning und natürlich ebenfalls in der Kombination beider Vermittlungsinszenierungen angeboten werden. So oder so ist wichtig, dass ein bedeutsames Thema – wie in den beiden geschilderten Beispielen – ausgewählt und sachrichtig sowie adressatenbezogen inszeniert wird. Ob und wie die Schüler*innen dann das unterrichtliche Angebot nutzen, entscheiden die Lernenden selber.22
Von der persönlichen Begegnung mit Holocaust-Überlebenden zur Begegnung mit videographierten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Persönliche Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden waren und sind nach wie vor für Schüler*innen wohl die intensivsten Lernerfahrungen zum Umgang mit dem Thema Holocaust. Viele dieser erfolgreichen Vermittlungsinszenierungen sind gut 20 Vgl. dazu z. B. Joller-Graf et al., Leitartikel zum kompetenzorientierten Unterricht. Hier v.a. S. 6 f. 21 Vgl. Gautschi/Bernhardt /Mayer, „Guter Geschichtsunterricht“, S. 338. Dieses Modell liegt den weiteren Überlegungen zugrunde. Ein vollständiger Prozess historischen Lernens kann jedoch mit verschiedenen theoretischen Modellen beschrieben werden. Bei IWitness lauten die vier Lernschritte a) Consider, b) Collect, c) Construct und d) Communicate. Vgl. IWitness. Teacher’s Guide for the 2017 IWitness Video Challenge. S. 7f. 22 Seit es Schule gibt, können Lernende ein Vermittlungsangebot auch nicht nutzen. Während viele Schüler*innen beim Präsenzunterricht schon Strategien kennen, um ihre Lernverweigerung zu verschleiern, müssen sie sich diese Strategien im Distance Learning noch aneignen. Während der Pandemie-Krise und des Verbots von Präsenzunterricht wurde vielen Lehrerinnen und Lehrern dank der digitalen Statistiktools bewusst, dass Schüler*innen die angebotenen Lerngelegenheiten gar nie aufsuchten. Vgl. dazu z. B. Schwabe, „Digital Public History im schulischen Lehr-Lern-Kontext“.
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dokumentiert und lassen sich dementsprechend nachverfolgen.23 Damit solche persönlichen Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden ein Erfolg werden, ist wichtig, die Lernenden gut darauf vorzubereiten. In dieser Vorbereitung wird der geschichtliche Kontext vermittelt, und die Lernenden werden auf die Person und auf ihre Geschichte eingestimmt. Dies ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, Fragen zu verschiedenen Aspekten vorzubereiten, über die sie mehr erfahren wollen. Ziel der Vorbereitung auf eine Begegnung mit Zeitzeug*innen ist immer auch das Ausbilden und Fördern von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für den Besuch relevant sind : aufmerksames Zuhören, der Situation angepasste Fragen stellen, ein Gespür dafür entwickeln, wie Gespräche funktionieren und was zu ihrem Gelingen beiträgt. In Bezug auf den oben skizzierten vollständigen Prozess historischen Lernens (Wahrnehmung, Erschließung, Interpretation, Orientierung) dient die Vorbereitung dazu, die Wahrnehmung zu schärfen, erste Sachanalysen zu entwickeln und Anschlussstellen für Sachurteile vorzubereiten. Bewährt hat sich beim eigentlichen Verlauf der persönlichen Begegnung mit Zeitzeug*innen in einer Schulklasse ein Vierschritt : Zuerst findet eine kurze Einführung mit Vorstellungsrunde und Klärung der Regeln statt, danach erzählt die Zeitzeugin, der Zeitzeuge die eigene Lebensgeschichte oder einen vereinbarten Ausschnitt daraus, anschließend kommt es zu einem Gespräch der Schüler*innen mit der Zeitzeugin oder dem Zeitzeugen, und zuletzt erfolgen Abschluss und Abschied. Je kleiner die Gruppen, umso größer ist in der Regel der Lerngewinn. Die Zeitzeug*innen-Begegnung erfordert jedenfalls eine Nachbereitung, soll sie denn nachhaltig sein und einen vollständigen Lernprozess ermöglichen. In dieser Phase kommt es vor allem darauf an, Sach- und Werturteile zu formulieren und zu diskutieren, Kognitionen und Emotionen auszudrücken und zu verarbeiten sowie die Fragen der Lernenden, die noch nicht beantwortet oder neu aufgetaucht sind, zu thematisieren. Dafür steht eine Reihe von erfolgversprechenden Lernsituationen zur Verfügung. So können Lernende über ihre Erfahrungen sprechen oder schreiben, sie können zeichnen oder spielen – abhängig vom Alter, von Bedürfnissen und Wünschen. Solche Interviews mit Überlebenden des Holocaust sind heute kaum mehr möglich.24 Dafür existieren in großer Zahl videografierte Zeitzeugeninterviews zum Holocaust.25 Neben wenig didaktisierten Sammlungen solcher Interviews gibt es auch 23 Siehe z. B. http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/zeitzeuginnen/unterrichtsbesuche/wie- organisiere-ich-unterrichtsbesuche, letzter Zugriff : 02.06.2020 ; https://www.zeugen-der-zeitzeugen. de/de/zeitzeugen-ger/interviews-persoenliche-begegnungen, letzter Zugriff : 02.06.2020 ; http://www. tamach.org/fileadmin/dateien/pdf/Booklet_Film.pdf, letzter Zugriff : 02.06.2020. 24 Vgl. dazu z. B. Gross/Stevick, As the Witnesses Fall Silent. 25 Einen Überblick bietet Körte-Braun, „‚Zeugen der Shoah’ in videografierten Erinnerungsberichten“.
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gänzlich durchinszenierte Vermittlungsangebote, zum Beispiel die Web-App „Fliehen vor dem Holocaust“.26 Diese umfasst sowohl Lernmaterialien als auch Aufgaben, welche die gelernten bzw. vermittelten Inhalte festigen, vertiefen und in einen Zusammenhang stellen. Bei den Lernmaterialien finden sich neben einer Einführung ins Thema und in die App27 auch videografierte Zeitzeug*innen-Berichte, Fotos, Landkartenbilder, Quellen und ein Zeitstrahl. An verschiedenen Weichenstellungen innerhalb der App befinden sich Aufgaben, welche die Schüler*innen kognitiv aktivieren und sie zu einer intensiven Begegnung mit Zeitzeug*innen sowie dem Thema Holocaust anregen. Diejenigen Materialien aus der App, mit welchen sich die Schüler*innen beschäftigen, sowie ihre formulierten Überlegungen, werden in einem je individuellen Album im PDF-Format mit dem Titel „Mein Zeitzeugnis“ gesammelt und per Mail mit der Lehrperson oder weiteren Adressat*innen geteilt. Die App führt die Lernenden Schritt für Schritt durch den vollständigen Prozess historischen Lernens, von der Wahrnehmung über die Erschließung und Interpretation zur Orientierung : Nach der Einführung werden den Schülerinnen und Schülern Begegnungsmöglichkeiten mit fünf verschiedenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen präsentiert. Sie können beispielsweise Eva Koralnik auswählen, die 1936 geboren wurde und als Achtjährige aus Budapest in die Schweiz floh. Nach der Auswahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schauen sich die Schüler*innen einen rund 25-minütigen Ausschnitt aus einem längeren Interview an. Sie können nach der Visionierung des Interviews unterschiedliche Aspekte vertiefen, etwa das Leben von Eva Koralnik in Budapest, ihre Flucht in die Schweiz, die Begegnung mit ihrem Lebensretter Harald Feller oder Eva Koralniks Leben in der Schweiz nach dem Krieg. Zu den gewählten Aspekten bekommen die Schüler*innen passende Aufgaben formuliert und vertiefen sich in die Geschichte. Durch einen Epochenwechsel beschäftigen sich die Schüler*innen schließlich auch mit dem Phänomen „Flucht“ in unserer heutigen Zeit. Über den Erfolg solcher Begegnungen mit videografierten Zeitzeug*innen existieren erst wenige empirische Untersuchungen und kaum gesicherte Kenntnisse. Dennoch deuten Studien darauf hin, dass auch die Beschäftigung mit diesen videografierten Zeitzeug*innen zu wirksamen Lernprozessen führt : In eigenen Untersuchungen Hilfreich sind auch Brauer/Wein, „Historisches Lernen mit lebensgeschichtlichen Video-Interviews“ ; Barricelli, „Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute“ ; Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung und FU Berlin, Zeugen der Shoah. 26 Web-App „Fliehen vor dem Holocaust“ : http://www.erinnern.at/app-fliehen/, letzter Zugriff : 02.06. 2020. Zu weiteren Vermittlungsangeboten vgl. Gautschi, „Videotaped eyewitness interviews with victims of National Socialism for use in schools“. 27 Die Einführung ist auch auf YouTube und Vimeo zu sehen : https://vimeo.com/251810470, letzter Zugriff : 02.06.2020.
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hat sich beispielsweise gezeigt, dass die Schüler*innen die Arbeit mit der App als guten Geschichtsunterricht beurteilen.28 Sie haben auf Fragebögen festgehalten, dass sie durch diese Sequenz besonders viel lernen. Nach dem Lernen mit der App stimmten die Schüler*innen zudem der folgenden Aussage bei Multiple Choice Fragen am meisten zu : „Nach dem, was im Holocaust passiert ist, sollten wir uns für die Rechte von Minderheiten in allen Teilen der Welt einsetzen“.29 Die bisher gemachten Erfahrungen und Studien zeigen also, dass auch Begegnungen mit videografierten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erfolgreiches historisches Lernen und eine wertvolle sekundäre Zeitzeugenschaft ermöglichen. Mit sekundärer Zeitzeugenschaft ist gemeint, dass Lernende den Zeitzeuginnen, den Zeitzeugen, offen und empathisch begegnen und danach selber ein mitfühlendes Zeitzeugnis dieser Begegnung zu entwickeln in der Lage sind. Sowohl durch persönliche Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden als auch durch Begegnungen mit videografierten Zeitzeug*innen kann Narrativität gefördert und unterstützt werden. Schüler*innen werden mit Geschichten über die Vergangenheit konfrontiert, die sie interessieren, und sie werden selber zum Erzählen angeregt. Damit wird umgesetzt, was Yehuda Bauer seit jeher für Geschichtsvermittlung forderte : „Never teach history without telling a story !“30
Historische und virtuelle Schauplätze des Holocaust So wie in vielen bisherigen Schulbiografien von Erwachsenen die personalen Begegnungen mit Überlebenden des Holocaust einen bleibenden Eindruck hinterließen, so waren auch Besuche von Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern für viele Schweizer Schüler*innen ein unvergessliches Lernerlebnis und eine prägende Lernerfahrung. Trotz des großen Aufwands, den solche Gedenkstättenbesuche für die Lehrer*innen bedeuten, werden heute noch Auschwitz, Dachau oder auch der Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof von Schulklassen besucht. Weil Natzweiler-Struthof im Elsass mit einem Reisebus während eines einzigen Tages aus der Nordwest- und Zentralschweiz besucht werden kann, nutzen immer mehr Schulklassen aus diesen Gegenden das Angebot.31 Wie bei jedem außerschuli28 Gautschi/Lücke. Historisches Lernen im digitalen Klassenzimmer. S. 475f. 29 Ebd., S. 380. 30 Hewera, Was geht mich die Geschichte an ?, S. 3 : https://www.bildungspartner.schulministerium.nrw. de/Bildungspartner/Veranstaltungen/Doku-Bipakongress-2015/Seminarmaterialien/S23_Hewera.pdf, letzter Zugriff : 02.06.2020. 31 Sury, „Was geht euch durch den Kopf ?“ ; Sadigh, „Erst erschüttert, dann wissbegierig“.
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schen Lernort ist auch bei dieser Bildungserfahrung die Vorbereitung im Sinne einer geschichtlichen Kontextualisierung wichtig, sei es mit einer Lehrer*innen-Darbietung oder beispielsweise auch mit einem Comic.32 Zudem werden die Schüler*innen mit Karten und Bildern auf das Gelände vorbereitet und erfahren unter anderem, wo die Hinrichtungsstätte war. Natzweiler-Struthof galt als eines der härtesten Lager im KZ-System der Nationalsozialisten. Auch französische Widerstandskämpfer wurden in Natzweiler hingerichtet. Noch kurz vor der Räumung des Lagers im Herbst 1944, als die Amerikaner im Anmarsch waren, wurden beispielsweise 180 Mitglieder der Résistance aus der Vogesenregion hingerichtet und verbrannt.33 Während des Besuchs ist auch bei dieser Vermittlungsinszenierung von Bedeutung, dass Menschen in den Blick kommen. Es reicht also nicht, die Gaskammern zu besuchen oder das Mahnmal zu besichtigen. Die Schrecken des Lagers werden zwar im Krematorium sichtbar, aber dennoch ist wichtig, dass Schüler*innen mit den Ursachen und Folgen des Geschehens, mit einzelnen Geschichten konfrontiert werden. Weshalb handelten die Menschen so und nicht anders ? Welchen Handlungsspielraum hatten sie überhaupt ? Vor Ort werden viele Schüler*innen emotional berührt, und diese Emotionen bilden zugleich einen guten Ausgangspunkt für historisches Lernen und eine große Herausforderung für die Vermittlung : Wie sollen Lernende und Lehrende mit diesen Emotionen am Ort des Schreckens umgehen, und wie können sie anschließend im Klassenzimmer so aufgenommen werden, dass Schüler*innen Sachanalysen, Sachund Werturteile ausbilden, formulieren und festhalten können ? Es ist bei Weitem nicht allen Schulklassen möglich, eine solche Bildungsreise zu unternehmen, zudem stehen viele Lehrpersonen, Schulleitungen und Eltern solchen außerschulischen Lernanlässen aus verschiedensten Gründen – großer Aufwand, teures Bildungsangebot, emotionale Überwältigung, Versicherungsfragen – skeptisch gegenüber. Da stellt sich also die Frage, ob denn – analog zu den videografierten Zeitzeug*innen-Interviews – auch virtuelle Besuche originaler historischer Schauplätze positive Wirkungen für die Lernenden haben können. Was kann beispielsweise ein digitaler Besuch in Auschwitz zu historischem Lernen beitragen ?34 Werden im digitalen Raum andere Gefühle ausgelöst als bei einem Besuch vor Ort ?35 Und wie steht es mit der Möglichkeit der Distanzierung oder des Miterlebens, der Identifikation ? Studien zur Wirkung von Spielfilmen auf das Geschichtsbewusstsein deuten darauf 32 Heuvel/van der Rol/Schippers, Die Suche. 33 Hervé, Natzweiler-Struthof. 34 Vgl. z. B. „Jugendliche begegnen virtuell Auschwitz-Überlebenden“. Schule digital, WDR : https://www1. wdr.de/schule/digital/unterrichtsmaterial/galerie-dreisechzig-inside-auschwitz-100.html, letzter Zugriff : 04.06.2020. Zudem De Jong, „Witness Auschwitz ? 35 Vgl. Biebighäuser, Virtuelles Erinnern.
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hin, dass auch bei audio-visuell vermittelten Geschichten die Darstellung einzelner Menschen eine zentrale Rolle spielt.36 Sabine Moller zum Beispiel zeigt auf, wie Filme von ihren Zuschauern konkret angeeignet werden. Die Betrachtung der Filme und damit der Geschichte erfolgt durch das „subjektive Sehen durch einen Körper“37, was bedeutet, dass die Betrachter*innen durch die Augen einer Filmfigur „mit-blicken“. Hieraus resultieren gemäß Moller spezifische „Sehepunkte“.38 Diese „Sehepunkte“ erklären, wieso beispielsweise der Spielfilm „Der Junge im gestreiften Pyjama“39 das viel größere Lernpotenzial zu haben scheint als eine bloße Kamerafahrt durch das rekonstruierte Vernichtungslager Auschwitz. Es liegt deshalb auf der Hand zu überlegen, ob denn auch mit Videogames, die vergleichbar mit Spielfilmen originale Schauplätze der Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs virtuell inszenieren, ein lernförderlicher Umgang mit dem Thema Holocaust möglich ist. Dies geschieht methodisch bewusst anhand des Videogames „When We Disappear“, welches Gamer*innen beispielsweise im ersten Kapitel nach Amsterdam im Jahr 1943 versetzt.40 Dort nehmen sie die Perspektive eines verfolgten Mädchens ein, das versucht, der drohenden Deportation zu entkommen. Die Flucht führt quer durch Europa – über Belgien, Frankreich, die Schweiz, Spanien und Portugal. Dabei muss das Mädchen und müssen die Gamer*innen unzählige gefährliche Situationen bewältigen. Die dargestellte Geschichte basiert auf erzählten und erforschten Gegebenheiten von Tausenden von Kindern und Jugendlichen, die während des Zweiten Weltkriegs quer durch Europa flohen, um sich vor der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten zu retten. Einige von ihnen wurden durch Fluchthilfe-Organisationen versteckt oder auf Fluchtrouten in Sicherheit gebracht, andere durch Widerstandskämpfer*innen unterstützt, aber viele verschwanden, wurden verraten, entdeckt, gefangen genommen, deportiert, ermordet. Um erfolgreich zu fliehen, benötigen die Gamer*innen Unterstützung und Informationen. Diese bekommen sie unter anderem dadurch, dass ebenfalls im Game die Schwester des Mädchens herauszufinden versucht, was genau auf der Flucht geschieht. Mit ihren Erinnerungen, die ins Game eingeblendet werden, hilft sie den Gamerinnen und Gamern, den Verfolgern zu entkommen. In der schulischen Vermittlung kann „When We Disappear“ mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in unterschiedlichen Settings eingesetzt werden. Je nachdem, ob 36 Vgl. z. B. Sommer, Geschichtsbilder und Spielfilme, S. 5. 37 Sobchack, „The Scene of the Screen“, S. 422. 38 Moller, Zeitgeschichte sehen, S. 197. 39 Film : Herman, Der Junge im gestreiften Pyjama ; Ebenfalls erhältlich als Buch, welches auch in der schulischen Geschichtsvermittlung eingesetzt wird : Boyne, Der Junge im gestreiften Pyjama. 40 https://www.inlusio.com/whenwedisappear, zuletzt aufgerufen am 4.6.2020.
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Abb. 1 : Amsterdam im Jahr 1943, Schauplatz im Videogame „When We Disappear“. Das Mädchen links im Bild versucht der drohenden Deportation zu entkommen. Es muss den richtigen Moment erwischen, um unerkannt die Straße zu überqueren. © Inlusio Interactive.
die Lehrer*innen ihren Fokus auf Geschichtsvermittlung, Kompetenzentwicklung, Medienbildung oder Politik legen, ergeben sich andere schulische Umgangsweisen mit dem Game. Wenn es den Lehrenden und Lernenden ein Anliegen ist, Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen, dann rückt die grundlegende Frage „Fliehen oder Verstecken ?“ in den Vordergrund. Auch das Mädchen im Videogame ist in Amsterdam dieser Dilemma-Situation ausgesetzt und muss entscheiden, ob sie sich jetzt in Amsterdam versteckt oder ob sie die Flucht quer durch Europa riskieren soll. Das Beispiel des Videogames „When We Disappear“ macht deutlich, was sich Lehrer*innen bei jeder Vermittlungsinszenierung fragen müssen : Lohnt sich die Beschäftigung mit dieser Vermittlungsinszenierung ? Und falls ja, welchen Fokus soll das Lernangebot haben, damit sich Schüler*innen einen möglichst großen Lerngewinn aneignen können ? Zur Beantwortung beider Fragen benötigen die Lehrer*innen einen orientierenden Kompass.
Historische Bildung als orientierender Kompass im schulischen Umgang mit dem Thema Holocaust Die Geschichtsdidaktik hat sich in den letzten Jahren intensiv mit Kompetenzen beschäftigt : Theorien und Modelle wurden vorgelegt, Forschungsprojekte durchgeführt
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und Unterrichtsbeispiele entwickelt.41 Kompetenzen sind, laut der oft zitierten Definition von Franz E. Weinert, die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.42
Wer nun aber als Lehrer*in Überlebende des Holocaust in die Schulklasse einlädt oder mit den Schülerinnen und Schülern in das ehemalige Konzentrationslager Natzweiler-Struthof fährt, will die Lernenden nicht in erster Linie befähigen, ein Problem zu lösen, sondern hier stehen oft andere Anliegen im Zentrum, zum Beispiel „die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“, wie das Wilhelm von Humboldt schon 1793 formulierte, als er „Bildung“ beschrieb.43 Im Geschichtsunterricht im Allgemeinen und bei der Thematisierung des Holocaust im Besonderen geht es nicht um bloße Anpassung des Einzelnen an eine ihm vorgegebene Welt und auch nicht ausschließlich um das Lösen von bestimmten Problemen in dieser Welt. Vielmehr geht es um eine vielfältige Auseinandersetzung mit der Welt, „bei der der Einzelne seine je eigene Form des Menschseins in dieser Welt entwickeln kann – sich also selbst bildet.“44 Nun aber hat sich die Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren kaum mehr mit historischer Bildung beschäftigt. Die einschlägigen Werke sind an einer Hand abzuzählen45, und nicht einmal im Wörterbuch Geschichtsdidaktik kommt „Historische Bildung“ vor. Bildung bezeichnet sowohl eine Entwicklung (Bildungsprozess) als auch einen Zustand (gebildet sein).46 Historisch gebildet sind Menschen mit ausdifferenzierten personalen und sozialen Identitäten, die offen und neugierig dem Universum des Historischen begegnen, die über gut entwickelte Kompetenzen im Umgang mit Vergangenheit, Geschichte und Erinnerung verfügen und die darauf aufbauend die eigenen Handlungsspielräume in Gegenwart und Zukunft sehen und 41 Vgl. dazu Barricelli/Gautschi/Körber, „Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle“ ; Gautschi, Guter Geschichtsunterricht ; Gautschi/Fuchs/Utz, „Geschichte kompetenzorientiert unterrichten“. 42 Weinert, „Vergleichende Leistungsmessung in Schulen“. 43 Humboldt, „Theorie der Bildung des Menschen“, hier zitiert nach Tenorth, Allgemeine Bildung. 44 Sander, „Bildung – zur Einführung in das Schwerpunktthema.“, S. 11 ; Vgl. dazu auch Sander, Bildung – ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft. 45 Dressler, Vom Sinn des Lernens an der Geschichte ; Mütter, Historische Zunft und historische Bildung ; Buschkühle/Duncker/Oswalt (Hg.), Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität. 46 Sander, Bildung – ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft.
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nutzen sowie die Chancen historischer Bildung erkennen und sich weiterhin bilden wollen.47 Vermittlungsinszenierungen, die eine so verstandene historische Bildung unterstützen, zeichnen sich unter anderem durch folgende geschichtsdidaktische Prinzipien aus : 1. Narrativität : Geschichte vermitteln wir nur mit Geschichten. Sie erlauben „die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“48 und zeigen uns, wie wir alle „in Geschichten verstrickt“49 sind. Die Vermittlungsinszenierungen müssen also zum einen Geschichten präsentieren und zum anderen Schüler*innen dazu anleiten, selber Geschichten zu erzählen (wie z. B. in der App „Fliehen vor dem Holocaust“ mit der Aufgabe, ein eigenes Zeitzeugnis zu entwickeln). 2. Geschichte und Erinnerung : Die Vermittlungsinszenierung erzählt ein empirisch triftiges Narrativ, das zeitlich und örtlich präzise verortet ist ; die Geschichte entspricht dem aktuellen Stand der Geschichtsforschung. Gleichzeitig erzählen Betroffene ihre Sicht der Dinge aus ihrer persönlichen Perspektive (etwa beim Thema „Die Schweiz und die Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg“). 3. Personalisierung und Personifizierung : Handlungsspielräume von Menschen werden sichtbar ; Menschen sind als Handelnde und Leidende dargestellt. Es kommen mächtige und machtlose sowie reiche und arme Menschen vor (etwa in der Geschichte von Joseph Spring). 4. Identität und Alterität : Die Vermittlungsinszenierung hat einen Bezug zur Lebenswelt der Nutzer*innen und zeigt gleichzeitig das Andere, das Fremde, das Unbekannte (z. B. mit der Frage „Müssen wir für vergangenes Unrecht bezahlen ?“). 5. Immersion und Reflexion : Die Vermittlungsinszenierung ermöglicht sowohl ein Eintauchen ins Universum des Historischen – zum Beispiel mit zielgruppenangemessener Veranschaulichung des Vergangenen – als auch ein reflektiertes Zurücktreten und Betrachten des Dargestellten (wie es das Videogame „When We Disappear“ anbietet).50 6. Emotion und Kognition : Es werden Gefühle angesprochen und Empathie ermöglicht und gleichzeitig Informationen dargeboten, die es erlauben, das eigene kognitive Netzwerk zu ergänzen (zum Beispiel beim Besuch des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof).
47 Gautschi, „What Influences Public History the Most“. 48 Humboldt, „Theorie der Bildung des Menschen“. 49 Schapp, In Geschichten verstrickt. 50 Vgl. dazu Knoch, Grenzen der Immersion.
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7. Exemplarität und Schlüsselprobleme : Die Vermittlungsinszenierung thematisiert eine ausgewählte, konkrete Begebenheit aus dem Universum des Historischen, die gleichzeitig ein Schlüsselproblem spiegelt, das uns in der heutigen Welt ebenfalls beschäftigt. Es werden „große Fragen“ aufgeworfen (wie im Videogame „When We Disappear“ : Fliehen oder Verstecken ?). 8. Multiperspektivität und Kontroversität : Die Vermittlungsinszenierung präsentiert oder nutzt unterschiedliche Quellen aus der Vergangenheit und widersprüchliche Geschichtsdarstellungen. Die Frage nach dem „Richtigen“ und „Wahren“ wird gestellt, aber nicht mittels Überwältigung beantwortet (z. B. auf IWitness zur Frage „Stolz oder Schande ?“). 9. Kontinuitäten und Veränderungen : Es wird sichtbar, was im Verlaufe der Zeit gleichgeblieben ist und was sich verändert hat. Ursachen und Folgen dieser Prozesse werden aufgezeigt (wie zum Beispiel zum Umgang der Schweiz mit Flüchtenden). 10. Faktizität und Fiktionalität : Es gibt reale und fiktive Szenen und Hinweise darauf, was eher real und was eher fiktiv ist. Die Frage der Plausibilitäten wird gestellt, und die Nutzer*innen werden in die Lage versetzt, die Frage selber zu beantworten, ob etwas mit Quellen verbürgt oder erfunden ist, ob etwas verharmlost, verschwiegen, geleugnet wird (z. B. beim schulischen Umgang mit dem Videogame „When We Disappear“). 11. Inklusion und Exklusion werden sichtbar (anhand der Schicksale der Menschen, die in der App „Fliehen vor dem Holocaust“ dargestellt werden). 12. Lebenswelt- und Gegenwartsorientierung spielen eine Rolle, und es werden moralische Dimensionen berührt (etwa beim Beantworten der Frage, ob wir für vergangenes Unrecht bezahlen müssen). Wie diese Zusammenstellung (mit den Beispielen in Klammern) zeigt, erfüllen alle in diesem Beitrag vorgestellten Vermittlungsinszenierungen – ob sie jetzt im Präsenz unterricht angeboten seien oder Distance Learning umsetzen – eine Reihe der oben genannten Prinzipien, aber natürlich nie alle. Dies macht es für die Lehrer*innen schwierig zu entscheiden, was genau sie unterrichten sollen und ob sie das Thema „Holocaust“ im Präsenzunterricht oder mit Distance Learning vermitteln, ob sie – solange es noch möglich ist – persönliche Begegnungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen anbieten oder Interviews mit videographierten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einsetzen, ob sie im schulischen Umgang mit Holocaust einen originalen historischen Schauplatz aufsuchen oder ihn virtuell besuchen. Diese an sich schon erheblichen Herausforderungen für Lehrer*innen bei der Vermittlung des Themas „Holocaust“ werden noch vergrößert, weil die geschichtsdidaktischen Prinzipien zur historischen
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Bildung eine Reihe von Spannungsfeldern eröffnen, zum Beispiel Identität und Alterität, Immersion und Reflexion, Emotion und Kognition. Um in dieser komplexen Situation guten Geschichtsunterricht zu realisieren, gibt es keine einfachen, allgemeingültigen Rezepte, sondern je nach Schüler*innen und Umfeld ausschließlich situativ angepasste Lösungen, die die Lehrer*innen immer wieder neu finden und umsetzen müssen. Die Bedeutung der Lehrer*innen für einen gelingenden Umgang mit dem Thema „Holocaust“ kann deshalb gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
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Peter Gautschi
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HISTORISCHE GERECHTIGKEIT : INTERFERENZEN EINES TRANSNATIONALEN THEMAS HISTORICAL JUSTICE : INTERFERENCES OF A TRANSNATIONAL TOPIC Der Überschuss an Erinnerung kann paradoxerweise eine Form des Vergessens hervorbringen. Oft genug wurden in der Nachkriegszeit selektive Beschwichtigungen erzeugt, wie das Schweizer Beispiel in der Frage der „Wiedergutmachung“ zugunsten der Schweizer Opfer der NS-Verfolgung zeigt. In der Zeitspanne einer langen Nachkriegszeit lässt sich der Wandel ablesen zwischen der früheren Auffassung von sogenannten „Wiedergutmachungen“, die mit dem zentralen Narrativ des Krieges argumentiert, und den Konzepten von Transitional Justice, die mit dem Narrativ des begangenen Unrechts, das es zu anerkennen gilt, operieren. Dies kann im Zusammenhang einer Globalisierung von Restitutionen und Reparationen situiert werden. Darin wird das einstige Zürcher Plädoyer von Winston Churchill, dass das Vergessen segensreich für den Frieden sei, abgelöst vom Paradigma der Erinnerung als öffentlicher Wahrheit. Die jüngsten Forderungen nach einer Ehrung der Schweizer Opfer des Nationalsozialismus erscheinen so als ein letzter Akt des Widerstands gegen das organisierte Vergessen und Verdrängen. Der transnationale Kontext solcher lokalen Debatten über die öffentliche Wahrheit wird etwa in den strittigen Fragen um das Gedenken an den Armeniermord sichtbar, der bereits auch das Schweizer Bundesgericht beschäftigte. Die Rolle des Rechts bei der Behandlung von Fakten und Leugnungen zeigt sich anschaulich am Beispiel eines Spielfilms über die Desavouierung des historischen Genozids, wenn dies heute vor Gerichtsschranken verhandelt und als Skandalon filmisch festgehalten wird, um der Erinnerung zu dienen. Paradoxically, the excess of memory can produce a form of forgetting. Often enough, selective appeasements were created in the post-war period, as the Swiss example in the question of “reparations” in favour of the Swiss victims of Nazi persecution shows. In a long post-war period, the change can be seen between the earlier concept of socalled “reparations”, which argues with the central narrative of war, and the concepts of transitional justice, which operate with the narrative of the injustice committed, which must be acknowledged. This can be situated in the context of a globalisation of restitution and reparations. In it, Winston Churchill’s former Zürich plea that forgetting is beneficial for peace is replaced by the paradigm of memory as public truth. The recent calls for the Swiss victims of National Socialism to be honoured thus seem to be a final
act of resistance against organised forgetting and repression. The transnational context of such local debates on public truth becomes visible, for example, in the controversial questions surrounding the commemoration of the Armenian murder, which has already occupied the Swiss Federal Supreme Court. Furthermore, the role of the law in dealing with facts and denials is vividly demonstrated by the example of a feature film about the desavourement of the historical genocide, when this is now being heard in front of court barriers and filmed as a scandal to serve as a reminder.
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Schweizer Opfer des Nationalsozialismus Auf der Suche nach den Vergessenen und Verdrängten Until recently, little was known even among historians that between 1933 and 1945 Swiss citizens were also imprisoned, tortured, and killed in Nazi concentration camps. The book “Die Schweizer KZ-Häftlinge” (The Swiss Concentration Camp Prisoners) has now for the first time dealt with the history of these forgotten Nazi victims. In this article, the authors present the most important results of their research and describe the origins and reception of the book. Im Spätsommer des Jahres 2014 besuchte ich Weimar und von dort das nahe gelegene KZ Buchenwald. Wer das schmiedeeiserne Eingangstor durchschreitet, stößt nach wenigen Schritten auf eine Gedenktafel, die an die Nationalitäten der Opfer erinnert, die hier inhaftiert, gequält und getötet wurden. Zwischen „Schweden“ und „Senegalesen“ las ich da : „Schweizer“. Ich war erstaunt. Die Tatsache, dass auch Schweizer Bürgerinnen und Bürger in den NS-Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren, war für mich neu. Zurück in der Schweiz suchte ich nach Literatur und sprach mit Freunden und Kollegen, darunter auch Historiker. Keiner von ihnen hatte jemals von Schweizer KZ-Häftlingen gehört. Schweizer im KZ ? Wie sollte das möglich sein ? Wie wenig die Schweizer NS-Opfer bis vor Kurzem im öffentlichen Bewusstsein vorhanden waren, mögen drei Beispiele zeigen : 2017/18, im Jahr ihrer Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), verpasste es die Schweiz, den Schweizer Opfern der NS-Verfolgung irgendeine Form von Aufmerksamkeit und Anerkennung zu schenken, wie Jacques Picard kritisierte.1 Im Sommer 2019 begleitete eine Journalistin der SRF-Radiosendung Kontext eine Baselbieter Schulklasse während eines zweitägigen Besuchs im KZ Dachau. In der Sendung wurde kein einziges Mal erwähnt, dass dort auch zahlreiche Schweizer inhaftiert gewesen waren.2 Selbst im Sonderheft La Suisse face au génocide. Nouvelles recherches et
1 Picard, „Schweizer NS-Opfer“. Vgl. dazu auch : Morvay, „Als ob man sich schämen müsste – die Schweiz im IHRA.“ European News Agency, 31.07.2018 : https://www.european-news-agency.de/politik/als_ob_man_sich_schaemen_muesste_die_schweiz_im_ihra-71539/, letzter Zugriff : 23.02.2020. 2 Jungen, „Alles scheint so harmlos“. SRF Kontext, 30.08.2019 : https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/schweizer-schulklasse-im-kz-alles-scheint-so-harmlos, letzter Zugriff : 02.02.2020.
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perspectives, das die Vorträge einer Tagung von 2018 versammelt, werden die Schweizer KZ-Häftlinge nur in ein paar Sätzen erwähnt.3 Es gibt mehrere Gründe für das „Verschwinden“ dieser Opfer. Die Freiburger Historikerin Christina Späti etwa macht einen „latenten Antisemitismus“ sowie die nach dem Krieg zum staatspolitischen Dogma erhobene „Sonderfall-Doktrin“ dafür verantwortlich.4 Regula Ludi und Anton-Andreas Speck weisen darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Schweizer NS-Opfer auch ein Eingeständnis bedeutet hätte, dass die Schweiz tiefer mit dem Nationalsozialismus verstrickt war, als man wahrhaben wollte.5 Ein wichtiger Faktor war sicher auch, dass die Schweiz im Kalten Krieg die Zeit des NS-Terrors und den Zweiten Weltkrieg rasch verdrängte.6 Und nach dem Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg („Bergier-Bericht“) von 2002 breitete sich in der Öffentlichkeit eine gewisse Unlust aus, sich weiter mit dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen.7 Bemerkenswert ist, dass in Schweizer Historikerkreisen immer wieder berichtet wird, dass der Schweizerische Nationalfonds vor einigen Jahren ein Gesuch zur Aufarbeitung der Geschichte der Schweizer Opfer nationalsozialistischer Verfolgung abgelehnt habe. Aus Gründen der Vertraulichkeit wollte sich der Nationalfonds auf Anfrage weder zum Eingang noch zur Ablehnung eines solchen Gesuchs äußern.8 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Herausgeber des Sonderhefts La Suisse face au génocide. Nouvelles recherches et perspectives einen druckfertigen Artikel von Jacques Picard und Daniel Thürer, der die Frage nach den Schweizer NS-Opfern in den Mittelpunkt stellte, durch das allgemein gehaltene Wortprotokoll von Picards Beitrag am Pariser Kolloquium ersetzten – mit der Begründung, dass Thürer an dieser Tagung nicht teilgenommen habe.9 3 Mémorial de la Shoah (Hg.). La Suisse face au génocide. Nouvelles recherches et perspectives (Revue d’histoire de la Shoah 210). Paris, 2019. 4 Späti, „Denkbarrieren des Sonderfalls. Die vergessenen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.“ Geschichte der Gegenwart, 04.06.2017 : https://geschichtedergegenwart.ch/denkbarrieren-des-sonderfalls-die-vergessenen-schweizer-opfer-der-nationalsozialistischen-verfolgung, letzter Zugriff : 19.01.2019. 5 Ludi/Speck, „Swiss Victims“, S. 914. 6 Siehe dazu : Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, S. 109f. 7 Die Bergier-Kommission wollte ursprünglich die Geschichte der Schweizer Opfer der NS-Verfolgung aufarbeiten. Nach dem Erscheinen der ersten beiden Berichte konzentrierte sie sich dann aber, vor allem aus Ressourcengründen, auf die in ihrem Mandat vorgesehenen Finanz- und Wirtschaftsthemen. Die Kommission thematisierte jedoch im Schlussbericht und in einem juristischen Spezialband die Frage des Rechts- und Opferschutzes. 8 Mail von Christophe Giovannini, Chef de la communication Fonds national suisse, an den Verfasser, 08.11.2019. 9 Tatsächlich waren Daniel Thürer, der als Mitglied der Bergier-Kommission damals sein Auge auf diese
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Kurz nach meinem Besuch im KZ Buchenwald sprach ich erstmals mit meinen Journalistenkollegen René Staubli und Benno Tuchschmid über die Schweizer KZ- Häftlinge. Wir fanden die Tatsache, dass diese Menschen einfach „vergessen“ worden waren, erstaunlich – und empörend. Nach längeren Vorrecherchen fassten wir den Entschluss, deren Geschichte aufzuarbeiten. In den Standardwerken zu den Opfern des NS-Terrors war die Schweiz zu diesem Zeitpunkt ein „weisser Fleck“, wie es Späti formulierte.10 Wissenschaftlich aufgearbeitet war einzig die Entschädigung nach dem Krieg, zudem lagen etwa ein halbes Dutzend Biografien von Opfern vor, darunter Leopold Obermayer, Selma Rothschild und ihre Kinder Julia und Armand, das Ehepaar Lucie-Blanche und André Weill, Carmen Mory oder der im KZ zum Mörder gewordene Eugen Wipf.11 Was komplett fehlte, war eine historische Einordnung, ein Überblick sowie eine Liste mit den Namen der Opfer. Wir fanden mit NZZ Libro glücklicherweise sehr schnell einen Verlag, der sich für unser Ansinnen begeisterte. Ein anderer angefragter Schweizer Verlag wies das Projekt zurück, unter anderem mit der Begründung, es sei angesichts der Millionen Opfer des NS-Regimes merkwürdig, sich jetzt mit ein paar Schweizer Opfern zu beschäftigen. Um wie viele Schweizer KZ-Häftlinge es sich handelte, konnten wir damals nicht ansatzweise abschätzen. Wir begannen unsere Recherche im Schweizerischen Bundesarchiv mit dem Durchforsten der über 1600 Personendossiers der „Kommission für Vorauszahlungen an schweizerische Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ (KNV). Bei dieser Kommission konnten sich Betroffene und ihre Angehörigen Ende der 1950er-Jahre melden und Schadenersatz geltend machen. Bei den Opfern handelte es sich größtenteils um Auslandschweizer, die unter der NS-Herrschaft ihre Geschäfte, ihre Arbeit, Vermögenswerte oder gar ihr Leben verloren hatten. Wir suchten jene Frauen und Männer heraus, die in einem KZ inhaftiert gewesen waren. Parallel dazu recherchierten wir in den zahlreichen Online-Datenbanken mit Deportationslisten oder in den Totenbüchern der Konzentrationslager nach Schweizer Opfern. Zu nennen sind hier zum Beispiel das Mémorial de la Shoah, die Stiftung Mémoire de la Déportation oder das Archiv von Yad Vashem. Einzelne Gedenkstätten wie jene von Auschwitz, Dachau oder Neuengamme stellten für uns Listen von Häftlingen mit einem Schweizer Bezug zusammen. Später folgten Recherchen in der zentralen Namenskartei des International Tracing Service (ITS) im deutschen Bad Arolsen sowie Frage gerichtet hatte, wie auch einige Historiker, die aktuell zu eben diesem Thema forschen, auch gar nicht eingeladen worden. 10 Späti, „Denkbarrieren des Sonderfalls“ (wie Anm. 4). 11 Literaturangaben siehe Spörri et al., S. 310f.
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Abklärungen bei den Zivilstandsämtern von rund 90 Schweizer Gemeinden. Für die politische Einordnung des Themas recherchierten wir vor allem in den Akten des Bundesarchivs und des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts in Berlin. Früh nahmen wir auch Kontakt mit dem pensionierten Walliser Briefträger Laurent Favre auf, der bereits 1972 damit begonnen hatte, Informationen über das Schicksal der Schweizer Deportierten, insbesondere aus Frankreich, zu sammeln, und heute ein umfangreiches Archiv besitzt. Favres Informationen flossen in unsere Liste der Schweizer KZ-Häftlinge ein. Überlebende konnten wir keine mehr ausfindig machen, das vermutlich letzte Opfer, Hélène Spierer, starb im Februar 2019 in Genf. Von ihrem Schicksal erfuhren wir jedoch erst nach ihrem Tod.
Die Opfer Anhand Tausender Dokumente konnten wir nachweisen, dass zwischen 1933 und 1945 mindestens 408 Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder in Konzentrationslagern inhaftiert wurden, die bei der Verhaftung oder zu einem früheren Zeitpunkt die Schweizer Staatsbürgerschaft besaßen. 210 überlebten die Torturen nicht. Hinzu kommen mindestens 334 weitere KZ-Häftlinge, die einen engen Bezug zur Schweiz hatten. Sie wurden hier geboren, wuchsen zum Teil hier auf, besaßen aber nie die Schweizer Staatsbürgerschaft. Von ihnen starben 258 im KZ oder unmittelbar nach der Befreiung an den Folgen ihrer Haft.12 Die größte Gruppe von Schweizer KZ-Häftlingen machten Auslandschweizerinnen und -schweizer aus, die sich in irgendeiner Form gegen das Regime beziehungsweise die Besatzungsmacht und deren Verfolgungspolitik aufgelehnt hatten. Sie wurden unter Begriffen wie „Beziehung zum Widerstand“, „regimefeindliches Verhalten“ 12 Die gesamte Forschungsdokumentation wurde dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ) übergeben. Eine Liste mit 391 Schweizer Opfern ist in unserem Buch abgedruckt, die Liste der Opfer mit einem engen Schweizer Bezug sowie eine dritte Liste mit weiteren Fällen von NS-Verfolgten sind im AfZ mit sämtlichen Quellenangaben zugänglich. Wir schließen nicht aus, dass es noch weitere Schweizer KZ-Häftlinge geben könnte, die bislang in keinem Archiv und keiner Datenbank verzeichnet sind, zum Beispiel Betroffene mit Wohnsitz in Deutschland, die nach dem Krieg nicht an die KNV gelangten, sondern von der Bundesrepublik entschädigt worden sind. Die Bezirksregierung Düsseldorf verfügt über eine bundesweite Zentralkartei zu Anträgen auf Entschädigung für NS-Opfer mit etwa zwei Millionen Karteikarten. Weil die digitale Erschließung aber nur eine Suche nach Geburtsdaten zulässt, konnten wir diese Quelle nicht nutzen. Seit der Publikation unseres Buches sind einige wenige Nachkommen von Opfern an uns gelangt und haben uns auf das Schicksal ihrer Vorfahren aufmerksam gemacht. Die neu aufgetauchten Fälle werden in der französischen Ausgabe unseres Buches, die 2021 erscheinen soll, aufgeführt sein. Ebenso in den im AfZ zugänglichen, aktualisierten Listen.
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oder „Beihilfe zur Flucht“ verhaftet und deportiert. Rund ein Viertel der Schweizer KZ-Häftlinge waren Menschen jüdischen Glaubens. Unter den 334 KZ-Häftlingen, die einen engen Bezug zur Schweiz hatten, aber nicht den Schweizer Pass besaßen, waren 149 Jüdinnen und Juden. Mit Abstand am meisten Opfer lebten zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung in Frankreich. Die anderen hatten ihren Wohnsitz hauptsächlich in Deutschland, den Benelux-Ländern, Polen, Österreich und Italien. Die meisten Schweizerinnen und Schweizer, die in ein KZ kamen, wurden in den Jahren 1942/43 und vor allem 1944 verhaftet. Diese zeitliche Verteilung stimmt überein mit dem extremen Anstieg der Gesamtzahl der KZ-Insassen zwischen Januar 1943 und Januar 1945.13 Um in ein KZ deportiert zu werden, brauchte es nicht viel. Es genügte zum Beispiel, verbotenerweise Radio Beromünster gehört zu haben. Oder zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. So wie der 17-jährige René Pilloud, der in Frankreich zu einem Sportanlass wollte, bei einer Razzia festgenommen wurde, über ein Jahr im KZ Mauthausen inhaftiert war und schwere gesundheitliche Schäden davontrug. Noch während unseren Recherchen publizierte der Beobachter Ende 2017 einen Artikel über das unerforschte Schicksal der Schweizer KZ-Häftlinge.14 Im Lead hieß es : „In den Konzentrationslagern der Nazis litten auch rund tausend Schweizer.“ Im Lauftext wurden die Zahlen aufgeschlüsselt : Gemäß Akten des Bundesarchivs hätten 723 Schweizerinnen und Schweizer das KZ überlebt, mindestens 206 seien dort getötet worden. Die Zahl „1000“ setzte sich umgehend in den Köpfen fest : Als der Auslandschweizerrat im August 2018 erstmals eine Gedenkstätte für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus forderte, sprach er von rund 1000 Schweizern in den KZ, wovon mindestens 200 gestorben seien. Die Medien übernahmen diese Zahl genauso wie die beiden Nationalräte Angelo Barrile (SP) und Fabio Regazzi (CVP), die Ende 2018 zwei Interpellationen zu den Schweizer Holocaust-Opfern einreichten.15 13 Vgl. Wachsmann, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 727. 14 Demuth, „Die vergessenen Schweizer Opfer.“ Beobachter, 08.12.2017, einsehbar unter swissinfo.ch : https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/holocaust_die-vergessenen-schweizer-opfer/43855924, letzter Zugriff : 28.02.2020. 15 Vgl. z. B. Krummenacher, „Schweizer Nazi-Opfer“ ; Costa, „Erinnerung kommt nicht von alleine.“ Swissinfo, 10.08.2018 : https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/aufarbeitung-zweiter-weltkrieg_-erinnerung-kommt-nicht-von-alleine-/44314166, letzter Zugriff : 02.02.2020 ; Interpellation von Fabio Regazzi „Forschung über Schweizer Holocaustopfer fördern. Gegen das Vergessen von Geschichte“ (18.4257), 13.12.2018 : https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId= 20184257, letzter Zugriff : 28.02.2020 ; Interpellation von Angelo Barrile, „Haltung des Bundesrates zu einem offiziellen Gedenken an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus“ (18.4270), 13.12.2018 : https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft ?AffairId=20184270, letzter Zugriff : 28.02.2020.
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Bis heute taucht die Angabe von „1000 Schweizer KZ-Häftlingen“ immer wieder auf. Gemäß unseren Recherchen stimmt sie allerdings nicht. Der Beobachter-Artikel stützt sich auf eine offizielle Liste von „Schweizerischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung“ vom 6. Mai 1959.16 Die Schweiz erstellte nach dem Krieg mehrere solcher Listen, wobei sich die Kategorien immer wieder änderten, was eine endgültige Bestandsaufnahme fast unmöglich macht. In der Liste von 1959 ist die Rede von insgesamt 1041 Fällen nationalsozialistischer Verfolgung, 676 davon werden als „Haftfälle“ bezeichnet, außerdem ist die Rede von 198 „Verfolgungsmaßnahmen mit tödlichem Ausgang“. Die vom Beobachter genannten Zahlen lassen sich aus dem Dokument jedoch nicht ableiten. Zu den Haftfällen wurden nämlich auch U-Haft, Gefängnis, Zuchthaus etc. gezählt, und nirgends wird gesagt, dass die 198 Todesfälle KZ-Häftlinge waren. Gemäß einer Beilage zur Liste hat man „zwischen formell-rechtlich legalen Erschießungen und willkürlichen Tötungen (Tod im KZ usw.) nicht unterschieden“. Die einzigen eindeutigen Angaben auf der Liste sind 63 Fälle von Haft im Konzentrationslager sowie 221 verfolgte Schweizer Juden.17 Wir haben uns in unserem Buch auf die Schweizer KZ-Häftlinge beschränkt. Nicht vergessen werden darf, dass Hunderte weitere Schweizerinnen und Schweizer Opfer des NS-Regimes geworden sind. Dazu zählen Menschen, die nicht im KZ, sondern in einem Gefängnis, Zuchthaus oder Lager inhaftiert waren, die zur Zwangsarbeit gezwungen oder hingerichtet wurden oder die ihre Existenz und ihren Besitz verloren haben. Im Weiteren konnten auch Schweizerinnen, die nach damaligen Recht durch die Heirat mit einem Ausländer ihr Schweizer Bürgerrecht verloren hatten, Opfer von Verfolgung werden.18 Christina Späti arbeitet an einer umfassenden Geschichte der Schweizer NS-Opfer. Um über Zahlen zu sprechen, so Späti, sei es aber noch zu früh.19
Das Verhalten der Schweiz Wir verbinden heute den Begriff „Konzentrationslager“ oft mit Auschwitz, das zum Inbegriff des Holocaust geworden ist. Die Geschichte der „KL“, wie das NS-Regime 16 Das Dokument befindet sich im Bundesarchiv, Bern, Dossier E2001-08#1978/107#14*. 17 Zur Problematik der zu hohen Opferzahlen vgl. Klarsfeld, „La Suisse face au génocide“, S. 54 : „Il m’a fallu surmonter bien des réticences pour ramener le nombre des déportés Juifs de France de plus de 100 000 à 76 000.“ 18 Vgl. Studer/Arlettaz/Argast, Das Schweizer Bürgerrecht, S. 102f. und 266–291 ; Redolfi, Die verlorenen Töchter, S. 300–302. 19 Mail von Christina Späti an den Verfasser vom 24.01.2020.
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die 27 Hauptlager mit über 1100 angeschlossenen Außenlagern ursprünglich nannte, ist aber viel länger, komplizierter und begann unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung. Der vermutlich erste Schweizer, der in einem KZ inhaftiert wurde, war der angebliche Kommunist Friedrich Rothacher, der am 4. März 1933 im sächsischen Schkeuditz festgenommen und später ins KZ Lichtenburg überstellt wurde. Wie Rothacher waren die ersten Schweizer KZ-Häftlinge junge Männer, die in Deutschland lebten und eine Verbindung zu einer kommunistischen oder sozialdemokratischen Gruppierung besaßen. Praktisch alle kamen, auch aufgrund von Interventionen der Schweizer Gesandtschaft in Berlin, nach wenigen Monaten wieder frei. Die Gründe, weshalb Schweizer später ins KZ kamen, widerspiegeln die verschiedenen Phasen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Als die Nazis zum Beispiel Mitte der 1930er-Jahre begannen, Zehntausende von „Asozialen“, also Arbeitslose, Kriminelle, Bettler, Landstreicher oder Alkoholiker in Konzentrationslager zu inhaftieren, gerieten auch Schweizer Bürgerinnen und Bürger ins Visier der NS-Schergen. Genauso waren unter den Opfern der „Novemberpogrome“ von 1938 auch Schweizer Juden. In Bern hielt man die Konzentrationslager die längste Zeit für zwar teilweise überharte, aber durchaus reguläre Haftanstalten. Zu dieser Einschätzung kamen die Behörden nicht zuletzt aufgrund von offiziellen, von den Nazis inszenierten Besuchen von Schweizer Diplomaten und Beamten im KZ, darunter Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund, der dem Bundesrat Anfang 1943 einen sehr wohlwollenden Bericht über das KZ Sachsenhausen ablieferte. Die Augenzeugenberichte sozialistischer KZ-Überlebender, welche die Brutalitäten der Lager minutiös beschrieben, wie etwa Wolfgang Langhoffs Die Moorsoldaten, betrachtete man im Schweizer Außenministerium dagegen als unglaubwürdige Propaganda. Die Lager galten zudem als innerdeutsche Angelegenheit, in die sich die Schweiz nicht einzumischen hatte. An diese Maxime hielt sich die Schweiz bis ans Kriegsende. Schon kurz nach der Machtergreifung Hitlers 1933 sahen sich die Behörden und Politiker in Bern vor die Frage gestellt, wie sie auf die zunehmende Diskriminierung und Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger im Ausland sowie auf völkerrechtswidrige Maßnahmen wie die sogenannte Schutzhaft von politischen Schweizer Häftlingen reagieren sollten. Zu einem Präzedenzfall wurde Leopold Obermayer. Der homosexuelle jüdische Weinhändler wurde 1934 in Würzburg verhaftet und kam als „Schutzhäftling“ nach Dachau. Obwohl die Juristen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements zum Schluss kamen, dass die „Schutzhaft“ als Maßregelung aus politischen Gründen gegenüber Ausländern gegen internationales Recht verstieß, beschloss man in Bern, nicht grundsätzlich beim deutschen Außenministerium dagegen zu protestie-
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ren, sondern nur von Fall zu Fall zu intervenieren. Für KZ-Häftlinge wie Leopold Obermayer, den Außenminister Giuseppe Motta als „moralisch wie politisch schwer kompromittiert“ bezeichnete, war das verheerend. Bern ließ sie fallen. Bei Kriminellen, Kommunisten, „Asozialen“ oder Behinderten war man froh, wenn sich Deutschland um sie kümmerte und sie nicht ihren Heimatgemeinden in der Schweiz zur Last fielen. Obermayer starb 1943 im KZ Mauthausen. Ähnlich verhielt sich die Schweiz auch gegenüber den jüdischen Auslandschweizern. Ohne Widerspruch akzeptierte der Bundesrat die zunehmende Diskriminierung und Verfolgung seiner Landsleute in Deutschland und den besetzten Gebieten. Lange sträubte sich Bern, die vom NS-Regime ausdrücklich nahegelegte Repatriierung der Schweizer Juden insbesondere aus Frankreich und den Benelux-Ländern in die Wege zu leiten. Noch am 7. Januar 1943 wies Pierre Bonna, der Chef der Abteilung für Auswärtiges, das Konsulat in Paris an, die Zahl der Rückkehrer „so weit wie möglich zu beschränken“. Insgesamt wurden über 500 Schweizer Juden aus dem Ausland repatriiert. Doch vermutlich hätten bei einem beherzteren Vorgehen Berns bei den Repatriierungen noch mehr Menschen vor der Deportation und dem Tod im KZ gerettet werden können. Der Bundesrat hat sich lange nicht für die Schweizer KZ-Häftlinge interessiert. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie vor 1944 im Kollegium je thematisiert wurden. Waren sie zu bedeutungslos ? Oder scheute es der Bundesrat, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, weil er dann möglicherweise bei den deutschen Behörden hätte intervenieren und diese verärgern müssen ? Die zentrale Figur für die Beziehungen zu Deutschland und damit auch für die Schweizer NS-Opfer war Hans Frölicher, seit 1938 Gesandter in Berlin. Auch er interessierte sich kaum für die Schweizer KZ-Häftlinge. Dies belegen sowohl seine Memoiren Meine Aufgabe in Berlin wie auch seine Tagebücher. Menschenrechte waren für ihn eine „nebensächliche Angelegenheit“, die das Einvernehmen zwischen den Staaten nicht gefährden durften.20 Frölicher war überzeugt, dass die Schweiz nur überleben konnte, wenn sie sich mit dem nationalsozialistischen Regime gut stellte. Deshalb lehnte er Interventionen ab, von denen er annahm, sie könnten die NS-Machthaber verärgern. So hat Frölicher unseres Wissens kein einziges Mal grundsätzlich gegen die Verfolgung der (Schweizer) Juden oder die Inhaftierung von Schweizer „Schutzhäftlingen“ im KZ protestiert. Wenn ihm das deutsche Auswärtige Amt routinemäßig mitteilte, eine Schweizer Jüdin sei „zum Arbeitseinsatz in den Osten“ geführt worden und es könnten keine weiteren Angaben gemacht werden, akzeptierte er dies ohne Widerspruch oder Nachfrage und ging zur Tagesordnung über. 20 Widmer, Minister Hans Frölicher, S. 155.
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Die Strategie der Schweiz, bei der Verfolgung von Landsleuten im Ausland nur von Fall zu Fall zu intervenieren, hatte zur Folge, dass die Beamten in Bern und die Diplomaten vor Ort zu Richtern wurden, wer des diplomatischen Schutzes würdig war und wer nicht. Die dokumentierten Fälle zeigen, dass sich der Bundesrat, die Abteilung für Auswärtiges, die eigentliche Schaltzentrale der Außenpolitik, und die hohen Diplomaten weitgehend einig waren : Kriminelle, „Asoziale“, Behinderte, Kommunisten, Widerstandskämpfer, Homosexuelle, „Zigeuner“, Schweizerinnen, die einen Ausländer geheiratet hatten, Doppelbürger sowie Juden galten als Bürger zweiter Klasse.21 Mit aller Deutlichkeit zeigte sich die Kategorisierung in „schutzwürdige“ und „nicht schutzwürdige“ Schweizer bei den Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch in den Jahren 1943/44. Obwohl Deutschland mehrmals seine Bereitschaft für einen „Generalaustausch“ signalisierte, blieb Bern aus staatspolitischen Gründen äußerst zurückhaltend. Die Schweizer Verhandlungsdelegation versuchte fast ausschließlich Häftlinge freizubekommen, die für den Schweizer Nachrichtendienst oder ein Konsulat gearbeitet hatten. Ausgetauscht wurden zudem vier Geistliche sowie Personen, die einen prominenten Fürsprecher hatten, etwa einen Bundesrat. Inhaftierte Schweizer Kommunisten oder Résistancekämpfer dagegen schloss die Schweizer Delegation ausdrücklich von einem möglichen Austausch aus, weil deren Tätigkeit „den schweizerischen Interessen abträglich“ gewesen sei. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass die Schweiz jemals die Freilassung aller ihr namentlich bekannten 20 deportierten Schweizer Juden gefordert hätte. Unsere Recherchen zeigen, dass sich die einzelnen Konsuln oder Gesandten vor Ort sehr unterschiedlich für verhaftete und von der Deportation bedrohte Landsleute eingesetzt haben. Für ein Gesamtbild ist es jedoch noch zu früh. Die Arbeiten von Christina Späti, Felix Wirth, Marc Perrenoud, Ruth Fivaz-Silbermann und anderen werden weiteren Aufschluss bringen. Welche Gefahr den Schweizer KZ-Häftlingen tatsächlich drohte, realisierte man in Bern erst im Sommer 1944, nach der Deportation Hunderttausender ungarischer Juden und dem Auftauchen der „Auschwitz Protokolle“. Hans Frölicher in Berlin fürchtete nun, dass die Nazis angesichts der sich abzeichnenden Niederlage alle Häftlinge als unliebsame Zeugen töten würden. Er signalisierte dem Auswärtigen Amt in Berlin, dass die Schweiz an einer Rückführung der Schweizer KZ-Häftlinge interessiert sei. Gegen den Willen des Bundesrates knüpfte er zudem Kontakte zur SS. Ihm schwebte eine ähnliche Rettungsaktion vor, wie sie die nordischen Länder mit dem Zusammenzug ihrer Häftlinge in Neuengamme und der Rückführaktion der „Weißen Busse“ erreicht hatten. Die Bemühungen blieben im Chaos der letzten Kriegsmo21 Spörri et al., S. 111ff.
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nate aber ergebnislos. Immerhin gelang es Frölicher dank seiner Kontakte zur SS, die Schweizer Häftlinge in Dachau und Mauthausen wenige Tage vor der Befreiung durch alliierte Truppen freizubekommen. Hat die Schweiz für ihre KZ-Häftlinge genug getan ? Ein Vergleich zeigt, dass sich Schweden und vor allem Dänemark viel mutiger, hartnäckiger und erfolgreicher für ihre KZ-Häftlinge eingesetzt haben. Eine IHRA-Studie wiederum kommt zum Schluss, dass sich die Schweiz im Vergleich zu den ebenfalls neutralen Staaten Portugal, Spanien und der Türkei mehr um ihre bedrohten jüdischen Landsleute im Ausland bemüht hat.22 Es ist einfach, aus heutiger Perspektive das Verhalten der damaligen Entscheidungsträger zu kritisieren. Nach vierjähriger Recherche und sorgfältigem Abwägen, welcher Handlungsspielraum bestand, besteht für uns jedoch kein Zweifel : Die Schweiz hätte Dutzende Leben retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck für ihre Landsleute eingesetzt hätte.
Rezeption Das Buch Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs ist Ende Oktober 2019 erschienen und wurde sehr breit rezipiert. Fast alle wichtigen Schweizer Printmedien veröffentlichten Besprechungen, das Echo der Zeit von Radio SRF1 widmete ihm ebenso einen Beitrag wie die Tagesschau des Westschweizer Fernsehens, die Sendung Kontext von Radio SRF2, Spiegel-Online oder das Basler Kulturradio RadioX.23 Ganz offensichtlich bestand seitens der Medien wie auch der Leserinnen und Leser ein großes Interesse am Thema. Das zeigte sich auch daran, dass zum Beispiel die Beiträge in der NZZ am Sonntag und im SonntagsBlick am Erscheinungstag (27. Oktober 2019) online zu den am häufigsten und am längsten gelesenen Artikeln zählten. Im Vordergrund der Berichterstattung stand das Verhalten der Schweiz. „Dutzende Schweizer, die in den Konzentrationslagern der Nazis starben, hätten gerettet werden können“, schrieb etwa die NZZ am Sonntag. Und die Schweiz am Wochenende titelte : „Im Stich gelassen. Die Schweiz kümmerte sich (…) nur halbherzig um ihre Bürger in deutschen Konzentrationslagern.“24 22 Vgl. Spörri et al., S. 120f.; siehe auch den Beitrag von Christina Späti in diesem Buch. 23 Eine Zusammenstellung der Beiträge findet sich unter : https://www.nzz-libro.ch/schweizer-kz-haeft linge-opfer-des-dritten-reichs-namensliste#reviews, letzter Zugriff : 02.02.2020. 24 Teuwsen, Peer. „All diese vergessenen Opfer.“ NZZ am Sonntag, 26.10.2019, S. 65 : https://nzzas.nzz. ch/kultur/schweizer-kz-opfer-waren-lange-zeit-vergessen-jetzt-gibt-es-erstmals-eine-gesicherte-opferliste-ld.1517781, letzter Zugriff : 02.02.2020 ; Bopp, „Im Stich gelassen.“.
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Unter den zahlreichen Online-Kommentatoren bildeten sich – gleich wie nach der Veröffentlichung der Bergier-Berichte – sehr schnell zwei Lager : Viele Userinnen und User begrüßten es, dass die Geschichte der Schweizer KZ-Häftlinge erstmals aufgearbeitet wurde, und verurteilten das Verhalten der damaligen Behörden. „Ein Armutszeugnis für die Schweiz. Bundesrat, Diplomaten und Amtsträger haben kläglich versagt und sich damit mitschuldig gemacht“, schrieb jemand auf blick.ch. In den Kommentarspalten der Schweizer Revue meinte eine Auslandschweizerin in Griechenland : „Tieftraurig nehme ich zur Kenntnis, dass mein Heimatland sich wie so oft feige um eine eindeutige Stellungnahme gedrückt hat (…). Auch wir Auslandschweizer sind Schweizer Bürger und sollten als solche von unserem Heimatland anerkannt und geschützt werden.“ Andere Kommentatoren echauffierten sich dagegen über die nachträgliche Kritik. Es sei leicht, von heute aus das damalige Verhalten der Behörden zu bemängeln, schrieb ein Auslandschweizer aus den USA. Wenn Deutschland in die Schweiz einmarschiert wäre, „hätten alle Schweizer im KZ landen können“. Auf blick.ch lobte ein Leser die damaligen Entscheidungsträger ausdrücklich : „Sie haben es geschafft, dass die kleine Schweiz (…) verschont geblieben ist.“ Ein anderer fügte bei : Jetzt suche man „den Schwarzen Peter bei der Führung, den Behörden etc. wegen 200–500 Toten, die im Ausland aufgegriffen wurden. Die Schweiz kann maximal ihre Bürger innerhalb ihrer Grenzen schützen“.25 Dankbar für unser Buch waren die Angehörigen und Nachkommen der Opfer. Für sie ist es wichtig, dass das Schicksal ihrer Vorfahren endlich öffentlich zur Kenntnis genommen wird – auch als Mahnmal gegen das Vergessen. Inhaltliche Kritik war selten. An einem Werkstattgespräch Ende November 2019 im Archiv für Zeitgeschichte in Zürich entstand eine interessante Diskussion um unsere Opferliste, die auch eine Art Memorial darstellt. Diskussionsleiter Gregor Spuhler warf die Frage auf, ob man, so wie wir es getan haben, jüdische Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden, in der gleichen Opferliste aufführen dürfe wie ehemalige Schweizer SS-Angehörige, die später im KZ landeten, oder Carmen Mory, die als Blockälteste im KZ Ravensbrück vermutlich Frauen misshandelt, zur Selektion bestimmt und mit Injektionen getötet hat.
25 Kommentare unter blick.ch : https://www.blick.ch/news/politik/sobli-autor-benno-tuchschmid-ueber-die-vergessenen-opfer-des-dritten-reichs-nazis-toeteten-ueber-200-schweizer-in-konzentrationslagern-id15584878.html, letzter Zugriff : 01.02.2020 ; Kommentare in der Schweizer Revue : https:// www.revue.ch/ausgaben/2020/01/detail/news/detail/News/mit-schweizer-pass-in-hitlers-todeslagern-1, letzter Zugriff : 01.02.2020.
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Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Sie stellt sich auch all jenen, die sich für ein Denkmal an die Schweizer NS-Opfer einsetzen. Sind alle Opfer gleich erinnerungswürdig ? Wir haben in unserem Buch alle Menschen aufgeführt, die in einem KZ inhaftiert waren. Die biografischen Angaben zu jeder Person zeigen die jeweiligen Verhaftungsgründe auf. Nach moralischen Kriterien zwischen „guten“, „weniger guten“ oder „schlechten“ Opfern zu unterscheiden, ist unserer Meinung nach nicht möglich. Unabhängig von ihrer individuellen Geschichte wurden alle Opfer der verbrecherischen nationalsozialistischen Verfolgungspolitik und Willkürjustiz. Mehrmals wurden wir gefragt, was man aus unserem Buch lernen könne. Wir antworteten jeweils, dass wir es begrüßen würden, wenn das Buch im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten gelesen würde. Uns scheint, dass das Versagen der Schweiz nicht zuletzt darin bestand, dass sich die Behörden nicht vorbehaltlos vor alle Bürgerinnen und Bürger gestellt haben. Sie ließen einen Teil von ihnen nicht nur aus Unvermögen oder wegen des fehlenden Handlungsspielraums im Stich, sondern weil man bewusst entschied, dass gewisse Schweizerinnen und Schweizer des diplomatischen Schutzes nicht würdig waren. Wichtig ist uns zudem, dass Schülerinnen und Schüler durch unser Buch im Unterricht einen unkomplizierten, persönlichen Zugang zu diesem vergessenen Kapitel der Schweizer Geschichte finden können. Ganz zentral für uns war schließlich der Wunsch vieler Angehöriger, dass die offizielle Schweiz – 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – endlich öffentlich anerkennen würde, dass es diese Schweizer Opfer des NS-Terrors gab – und dass ihnen, auch seitens der Schweiz, Unrecht geschah. Wir wandten uns Ende 2019 deshalb an die designierte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga mit dem Wunsch, sie möge für die Schweizer KZ-Häftlinge ein Zeichen setzen. Dieser Wunsch hat sich inzwischen erfüllt. Anlässlich eines Treffens mit Holocaust-Überlebenden zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz anerkannte mit Simonetta Sommaruga zum ersten Mal eine Vertreterin der Schweizer Regierung, dass „auch gebürtige Schweizer der unmenschlichen Verfolgungspolitik der Nazis zum Opfer fielen“ und dass Schweizer Überlebende nach dem Krieg „kaltherzig behandelt wurden“.26 In einem Interview fügte Sommaruga an : „Ich bin froh, dass das nun in einem Buch aufgearbeitet wurde.“27 26 Rede von Simonetta Sommaruga anlässlich eines Treffens mit Holocaust-Überlebenden, 19.01.2020 : https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/uvek/medien/reden.msg-id-77833.html, letzter Zugriff : 02.02.2020. 27 Wüst, Aline. „Wir müssen hinschauen und wachsam sein.“. Blick, 28.01.2020, S. 8 : https://www. blick.ch/news/ausland/bundespraesidentin-sommaruga-besucht-holocaust-gedenktag-in-auschwitz-wir-muessen-hinschauen-und-wachsam-sein-id15722285.html, letzter Zugriff : 28.02.2020.
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Literaturverzeichnis Bopp, Christoph. „Im Stich gelassen.“ Schweiz am Wochenende, 16.11.2019, S.8. Costa, Romana. „Erinnerung kommt nicht von alleine.“ Swissinfo, 10.08.2018 : https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/aufarbeitung-zweiter-weltkrieg_-erinnerung-kommt-nicht-von-alleine-/44314166, letzter Zugriff : 02.02.2020. Demuth, Yves. „Die vergessenen Schweizer Opfer.“ Beobachter, 08.12.2017, einsehbar unter swissinfo.ch : https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/holocaust_die-vergessenen- schweizer-opfer/43855924, letzter Zugriff : 28.02.2020. Jungen, Anna. „Alles scheint so harmlos“. SRF Kontext, 30.08.2019 : https://www.srf.ch/kultur/ gesellschaft-religion/schweizer-schulklasse-im-kz-alles-scheint-so-harmlos, letzter Zugriff : 02.02.2020. Klarsfeld, Serge. „La Suisse face au génocide. Nouvelles recherches et perspectives.“ La Suisse face au génocide. Nouvelles recherches et perspectives (Revue d’histoire de la Shoah 210). Hg. Mémorial de la Shoah. Paris, 2019, S. 51–54. Krummenacher, Jörg. „Ein Zeichen für die vergessenen Schweizer Nazi-Opfer.“ Neue Zürcher Zeitung, 11.08.2018. Ludi, Regula und Anton-Andreas Speck. „Swiss Victims of National Socialism : An Example of How Switzerland Came to Terms with the Past.“ Remembering for the Future : The Holocaust in an Age of Genocide (Bd. 2). Hg. John K. Roth und Elisabeth Maxwell. Basingstoke : Palgrave Macmillan, 2001, S. 907–922. Mémorial de la Shoah (Hg.). La Suisse face au génocide. Nouvelles recherches et perspectives (Revue d’histoire de la Shoah 210). Paris, 2019. Morvay, Tamás György. „Als ob man sich schämen müsste – die Schweiz im IHRA.“ European News Agency, 31.07.2018 : https://www.european-news-agency.de/politik/als_ob_ man_sich_schaemen_muesste_die_schweiz_im_ihra-71539/, letzter Zugriff : 23.02.2020. Picard, Jacques. „Schweizer NS-Opfer anerkennen.“ Tachles, 16.11.2018. Redolfi, Silke M. Die verlorenen Töchter. Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat eines Ausländers. Rechtliche Situation und Lebensalltag ausgebürgerter Schweizerinnen bis 1952. Zürich : Chronos Verlag, 2019. Späti, Christina. „Denkbarrieren des Sonderfalls. Die vergessenen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.“ Geschichte der Gegenwart, 04.06.2017 : https://geschichtedergegenwart.ch/denkbarrieren-des-sonderfalls-die-vergessenen-schweizer-opfer-der-nationalsozialistischen-verfolgung, letzter Zugriff : 19.01.2019 Spörri, Balz, René Staubli und Benno Tuchschmid. Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. Basel : NZZ Libro, 2019. Studer, Brigitte, Gérald Arlettaz und Regula Argast. Das Schweizer Bürgerrecht. Erwerb, Verlust, Entzug von 1848 bis zur Gegenwart. Zürich : NZZ Libro, 2008. Teuwsen, Peer. „All diese vergessenen Opfer.“ NZZ am Sonntag, 26.10.2019, S. 65 : https:// nzzas.nzz.ch/kultur/schweizer-kz-opfer-waren-lange-zeit-vergessen-jetzt-gibt-es-erstmals-eine-gesicherte-opferliste-ld.1517781, letzter Zugriff : 02.02.2020. Wachsmann, Nikolaus. KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München : Siedler Verlag, 2016.
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Wenger, Susanne. „Es braucht mehr als eine blosse Gedenktafel.“ Schweizer Revue, Januar 2020. Widmer, Paul. Minister Hans Frölicher. Der umstrittenste Schweizer Diplomat. Zürich : NZZ Libro, 2012. Wüst, Aline. „Wir müssen hinschauen und wachsam sein.“. Blick, 28.01.2020, S. 8 : https:// www.blick.ch/news/ausland/bundespraesidentin-sommaruga-besucht-holocaust-gedenktag-in-auschwitz-wir-muessen-hinschauen-und-wachsam-sein-id15722285.html, letzter Zugriff : 28.02.2020.
Regula Ludi
Die Schweizer NS-Opfer und das organisierte Vergessen Why did the Swiss victims of National Socialism not find a place in Switzerland’s historical consciousness ? The reason is not, as the media like to claim, the lack of interest in research. Rather, the disappearance of Nazi victims from the collective memory was a thoroughly desirable side effect of the political process of coming to terms with the past. In order to neutralize the question of political responsibility for the fate of Swiss victims of persecution, compensation proceedings deprived survivors of their opportunity to present the persecution they suffered as an injustice. In this way they permanently prevented victims of National Socialism from inscribing their memories in the public consciousness. Die Aufregung war groß, als die Schweizer NS-Opfer im Sommer 2018 unvermittelt und scheinbar aus dem Nichts in den Medien auftauchten. Umgehend als „vergessene Opfer“ bezeichnet, sorgte ihre Entdeckung erst für ungläubiges Staunen, dann für lautstarke Empörung.1 Von historiographischen Versäumnissen war die Rede und von blinden Flecken der Forschung.2 Beschämend sei es, dass diese Geschichte erst jetzt ans Licht komme – offensichtlich hänge die schweizerische Geschichtsforschung einem alten Sonderfalldenken nach und habe internationale Trends verschlafen, war zu hören.3 Für einen kurzen Moment fühlte man sich dumpf in die 1980er-Jahre zurückversetzt, in die Zeit der hitzigen geschichtspolitischen Gefechte anlässlich der Attacken auf den „Reduit-Mythos“ und andere Geschichtsfiktionen des Kalten Krieges.
1 Vgl. Demuth, „Schweizer NS-Opfer“. Radio SRF griff das Thema am 10. August 2018 in der Sendung HeuteMorgen auf : https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/gedenken-an-schweizer-nsopfer-hoechste-zeit-fuer-ein-mahnmal-aber-fuer-wen, letzter Zugriff : 18.02.2020. Die Tagesschau des Schweizer Fernsehen berichtete am 12. August 2018 : https://www.srf.ch/news/schweiz/hat-dieschweiz-genug-getan-vergessene-schicksale-schweizer-nazi-opfer, letzter Zugriff : 18.02.2020. 2 Die Geschichte sei selbst „unter Historikern (…) kaum bekannt“, steht beispielsweise im Klappentext von Spörri/Staubli/Tuchschmid, Schweizer KZ-Häftlinge. Dieser Topos wird auch in den Rezensionen wiederholt : https://www.nzz-libro.ch/schweizer-kz-haeftlinge-opfer-des-dritten-reichs-namensliste#reviews, letzter Zugriff : 10.01.2020. 3 So Späti, „Denkbarrieren“.
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Die Aufregung verflog aber rasch. So rasch, dass die Zeit fehlte, um sich öffentlich Rechenschaft über die historische Bedeutung und die politischen Implikationen der „vergessenen Schweizer NS-Opfer“ abzulegen, zu rasch auch, um Verbindungen zu anderen unrühmlichen und lange ignorierten Kapiteln der Schweizer Geschichte herzustellen.4 Die Empörung und die emotionale Betroffenheit der ersten Stunde erschöpften sich stattdessen bald in einem sentimental anmutenden Humanitarismus. Tragische Einzelschicksale, freischwebend und losgelöst von ihrem historischen Kontext, boten bestenfalls eine Projektionsfläche für die Identifikation mit den Opfern, forderten die Öffentlichkeit aber kaum zur kritischen Selbstreflexion auf. Was blieb, war ein perplexes Erstaunen und einige Fragen. Handelte es sich bei den „vergessenen Opfern“ wirklich um eine Neuentdeckung, wie manche Berichte glauben machten ? Hat die Forschung das Thema tatsächlich übersehen, internatio nale Trends verschlafen ? – Ich bezweifle es. Die Sache ist komplexer. Wenn auch nie detailliert und systematisch untersucht, wurden die Schweizer NS-Opfer keineswegs ignoriert. Spätestens seit den 1980er-Jahren haben journalistische Recherchen und Dokumentarfilme Fallgeschichten ausgegraben, die für breites Aufsehen sorgten. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten haben dargelegt, dass sich auch unter den Opfern der Rassenverfolgung zahlreiche Schweizer Staatsangehörige befanden. Längst bekannt war auch die Gleichgültigkeit, mit der die Schweizer Diplomatie auf die Gefährdung von Landsleuten im NS-Herrschaftsbereich reagierte. So kann von „vergessenen Opfern“ schlicht nicht die Rede sein. Weder fehlende Information noch mangelndes Forschungsinteresse erklären ausreichend, weshalb die Schweizer NS-Opfer dem kollektiven Gedächtnis immer wieder entglitten sind, weshalb sie in einer opaken Dämmerungszone des historischen Bewusstseins umhergeistern, um alle paar Jahrzehnte zur allgemeinen Verblüffung neu entdeckt zu werden. Es ist diese Frage, die Rätsel aufwirft. Eine Erklärung dafür, so meine schon früher geäußerte These, ist weniger in der Gedenkkultur oder in der behaupteten Voreingenommenheit der Forschung zu suchen als in den Besonderheiten der politischen Vergangenheitsbewältigung der Schweiz : Das Vergessen der NS-Opfer ist ein Effekt, wenn nicht gar die Funktion der Wiedergutmachung à la Suisse (die freilich nie als solche deklariert wurde, weil die Schweiz laut offizieller Doktrin nichts gutzumachen hatte).5 Vielmehr ist es die Geschichte von Geschichten, die mittels Entschä4 Verbindungen ließen sich beispielsweise zu der 2019 abgeschlossenen Untersuchung der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen ziehen. Vgl. https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/startseite, letzter Zugriff : 13.01.2020. 5 Ludi, Reparations,S. 145–184. Bundesrat Ludwig von Moos dementierte 1962 jegliche Pflicht der Schweiz zur Wiedergutmachung, vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht, S. 447.
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digungsverfahren gezielt obsolet gemacht wurden, die Geschichte eines organisierten Vergessens also, das bis auf den heutigen Tag nachwirkt und die NS-Opfer, sind sie abermals an der Oberfläche des historischen Bewusstseins aufgetaucht, umgehend wieder verschwinden lässt. Ich werde das im Folgenden näher erläutern. Vorausschickend werde ich in einem kurzen Überblick aufzeigen, was man seit den 1980er-Jahren über die Schweizer NS-Opfer effektiv wusste bzw. hätte wissen können und einige methodische Überlegungen zu den Mechanismen des organisierten Vergessens formulieren.
Wissen und doch nicht wissen – die Schweizer NS-Opfer in der Forschung Angesichts der Millionen Verfolgten im ehemals besetzten Europa fielen die Schweizer NS-Opfer quantitativ kaum ins Gewicht. Maximal waren es zwei-, vielleicht dreitausend Personen. Genau lässt sich die Zahl der Betroffenen nicht rekonstruieren.6 Doch Zahlen allein sagen nichts aus über die Tragweite der Problematik. Jede individuelle Verfolgungsgeschichte barg ihre eigene Tragik. Und jede warf staatspolitisch heikle Fragen auf. Fragen nämlich, die direkt auf das Selbstverständnis der Schweiz als demokratischer Rechtsstaat zielten und das Selbstbild eines freien Landes zu relativieren drohten, das die Zeit der Weltkriege und der totalitären Bedrohung angeblich unbeschadet überstanden habe. Jede Verfolgungsgeschichte dokumentiert offizielle Reaktionen auf die Bedrohung des Nationalsozialismus. Jedes individuelle Dossier legt Zeugnis ab, ob die Schweizer Behörden diese Bedrohung erkannten, wie sie sie einschätzten und wie sie ihr begegneten. In jeder Verfolgungsgeschichte zeigt sich, welchen Wert die Behörden der Einzelperson und ihren Rechten beimaßen und wie sie den diplomatischen Schutz mit anderen Aufgaben der Außenpolitik in Relation setzten. Mehr noch als die Flüchtlingspolitik ist die Geschichte der NS-Opfer deshalb symptomatisch für die Art und Weise, wie die Schweiz in NS-Verbrechen involviert war, gingen doch die in der Staatsbürgerschaft enthaltenen rechtlichen Schutzpflichten weit über die primär moralisch begründeten Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen hinaus.7 6 Genaue Zahlen lassen sich nicht rekonstruieren. Sie sind zudem abhängig davon, wie „NS-Opfer“ und „schweizerische Nationalität“ definiert werden. Beides war umstritten, während und nach der Zeit der Verfolgung. Die Bundesbehörden haben einzig im Hinblick auf die Verhandlungen mit Deutschland Erhebungen vorgenommen, die sich an der deutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung orientierten. Ludi, Reparations, S. 167–170. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christina Späti in diesem Sammelband. 7 Haldemann, „Schutz des Privateigentums“ ; zu den völkerrechtlichen Pflichten gegenüber den Flüchtlingen vgl. Kälin, Flüchtlingspolitik.
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Die Brisanz dieser Problematik hat man früh erfasst. Sie manifestierte sich in den heftigen Reaktionen, die aufsehenerregende Einzelfälle provozierten. Exemplarisch dafür war die Aufarbeitung der Geschichte von Maurice Bavaud, des 1941 in Berlin- Plötzensee hingerichteten Hitler-Attentäters aus Neuenburg. Um seine Person und seine Tat entbrannte bereits in den späten 1970er-Jahren eine scharfe Polemik. Ausgelöst wurde sie durch den deutschen Dramatiker Rolf Hochhuth, der Bavaud zum neuen Wilhelm Tell, zum verhinderten Tyrannenmörder und schweizerischen Helden, stilisierte und damit heftigen Widerspruch provozierte.8 Zur Korrektur dieser – aus Sicht des Autors völlig unangebrachten – Heroisierung antwortete der Zeithistori ker Klaus Urner mit einer längeren Artikelserie in der Neuen Zürcher Z eitung.9 Urner goss zusätzlich Öl ins Feuer. Seine Darstellung gab dem streitbaren Journalisten Niklaus Meienberg den Anstoß für weitere Recherchen, die 1980 als Buchreportage erschienen und die Grundlage bildeten für den Dokumentarfilm Es ist kalt in Brandenburg : ein Hitler-Attentat. Der Film lief 1981 in Schweizer Kinos und wurde 1982 vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt.10 Die Kontroversen um Bavaud erzielten damit Breitenwirkung. Sie konfrontierten die Öffentlichkeit nicht nur mit der Tat und dem tragischen Ende Bavauds, sondern hinterließen auch einen verstörenden Eindruck angesichts der Indifferenz der Schweizer Regierung. Die ausführliche Quellenedition in Meienbergs Buch belegt eindrücklich, wie die Rücksichtnahme auf die guten Beziehungen zum Dritten Reich den Schweizer Gesandten in Berlin und das Eidgenössische Politische Departement (EPD, das spätere Departement für auswärtige Angelegenheiten) davon abhielt, zugunsten von Bavaud bei den deutschen Behörden zu intervenieren. Weitere Forschungsarbeiten bestätigten dieses Bild. So porträtierten der Dokumentarfilm Die unterbrochene Spur von Mathias Knaur und die begleitende Buchpublikation zum antifaschistischen Exil mehrere Schweizer, die in den 1930er-Jahren wegen Literaturschmuggels und Fluchthilfe in Deutschland verhaftet worden waren.11 Wie die Enthüllungen zu Bavaud erschienen diese Reportagen in einem aufgeheizten Klima geschichtspolitischer Deutungskämpfe. Das verhalf ihnen zu einem großen Medienecho und sorgte für eine relativ breite Rezeption der Ergebnisse. 8 Hochhuth, Tell 38. 9 Urner, „Bavaud“, 1978. 10 Meienberg, Hitler-Attentat. Zum Film : https://www.swissfilms.ch/de/film_search/filmdetails/-/id_ film/-191999768, letzter Zugriff : 10.01.2020. Vgl. auch den biografischen Eintrag von Weibel, „Bavaud“ und die Dokumentensammlung in der Dodis-Datenbank : https://dodis.ch/P3807, letzter Zugriff : 10.01.2020. 11 Zum Film : https://www.filmkollektiv.ch/pagina.php ?0,20,11,0,25#syn, letzter Zugriff : 18.02.2020, vgl. auch die Begleitpublikation von Knauer/Frischknecht, Antifaschistische Emigration.
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Wissenschaftliche Arbeiten der folgenden Jahre vertieften und ergänzten die journalistischen Recherchen. So dokumentieren die Dissertationen von Hermann Wichers und Franco Battel weitere Fallgeschichten von Schweizern, die in NS-Deutschland aus politischen Gründen verfolgt wurden.12 Auch diese Forschung zeigte die Schweizer Diplomatie in keinem guten Licht. Die Auslandvertretungen in Deutschland quittierten die Verhaftung von Landsleuten meistens kommentarlos. Das geschah gewöhnlich nicht aus Versehen oder wegen fehlender Information, sondern aufgrund politischer Befangenheit. Vielfach hinterlässt die Reaktion von Schweizer Diplomaten den Eindruck devoter Anbiederung an die neuen Machthaber in Deutschland und nicht selten deckten sich die Vorurteile der Schweizer Behörden mit jenen der Nazis. Solche weltanschaulichen Affinitäten sind in ihrer Systematik nirgends so deutlich erkennbar wie in der Geschichte des 1943 im Konzentrationslager Mauthausen verstorbenen jüdischen Juristen und Weinhändlers Leopold Obermayer.13 Obermayer wurde 1934 in Würzburg wegen homosexueller Kontakte verhaftet und später zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Obwohl frühzeitig über dessen Verhaftung und über Willkür und Rechtswidrigkeit im Strafverfahren informiert, verzichteten die Schweizer Behörden auf Hilfeleistung für den Angeklagten. Selbst als sich die Hinweise auf Folter und Misshandlungen verdichteten und bekannt wurde, dass Obermayer noch während der Untersuchungshaft ins Konzentrationslager Dachau überstellt wurde, sahen sie von einer Intervention ab. Intern rechtfertigten sie ihre Untätigkeit damit, dass Obermayer eine „moralisch minderwertige Person“ sei. Weil sie die Anwesenheit des homosexuellen Juden in der Schweiz als „höchst unerwünscht“ erachteten, lehnten sie auch ein deutsches Repa triierungsangebot ab.14 Obermayer war keine Ausnahme. Es blieb nicht bei der Rechtsverweigerung im Einzelfall. Vielmehr zeichnete sich in solchen Fallgeschichten ein Grundmuster im offiziellen Umgang mit bedrohten Menschen ab. Mehr oder weniger unverhohlen geäußerte Vorurteile gegen einzelne Kategorien Verfolgter korrelierten mit der fehlenden Bereitschaft der Diplomaten, den Angehörigen dieser Gruppen den nötigen Rechtsschutz zukommen zu lassen. Das zeigte Jacques Picard in seiner Dissertation zu dem 12 Wichers, Sozialisten im Schweizer Exil, insb. S. 163–169, zu den wegen Literaturschmuggels zu Zuchthausstrafen verurteilten Schweizern Hans Hirt, Gottfried Wasem, Friedrich Werner und Robert Kehrli. Battel, Flüchtlinge, S. 91–99 zu Friedrich (Fritz) Werner und Hans Hirt, S. 106–109 zu Gottfried Wasem. 13 In den Grundzügen ebenfalls seit den 1980er-Jahren bekannt und erstmals systematisch aufgearbeitet im deutschen Forschungsprojekt „Bayern in der NS-Zeit“, Fröhlich, Geschichten über Widerstand, S. 76–114. 14 Ausführlich zu den schweizerischen Reaktionen : Broda, Obermayer.
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Umgang der Schweizer Behörden mit jüdischen Landsleuten im NS-Herrschaftsbereich : Schon in seinen frühen Reaktionen auf die Judenverfolgung in NS-Deutschland schlug der Bundesrat einen Kurs ein, der auf die faktische Anerkennung der nationalsozialistischen Rechtsdoktrin und auf die Preisgabe der Rechtsgleichheit für schweizerische Staatsangehörige im Ausland hinauslief. Diese Politik unterminierte die prekäre Situation jüdischer Schweizer*innen und schmälerte auf längere Frist die Erfolgsaussichten der diplomatischen Interventionen zu ihren Gunsten.15 Als die Haltung der Schweiz zum Holocaust um die Mitte der 1990er-Jahren eine neuartige Aktualität erhielt, war in Grundzügen bekannt, dass auch Schweizer Staatsbürger*innen nationalsozialistischen Verfolgungsmassnahmen zum Opfer gefallen waren. Zudem stellte die Krise um die nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern vorherrschende Geschichtsbilder radikal in Frage. Die 1996 vom Bund eingesetzte Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK), die sogenannte Bergier-Kommission, bot eine einmalige Chance, schweizerische Verwicklungen in NS-Verbrechen in einem größeren Kontext zu untersuchen. Mit ihrem neuen heuristischen Ansatz sprengte die Forschung der Bergier-Kommission den herkömmlichen, auf die nationale Kriegsverschonung ausgerichteten Interpretationsrahmen und rückte die wirtschaftlichen, finanziellen und personellen Verflechtungen zwischen der Schweiz und dem Dritten Reich in den Fokus. Sie verzichtete indessen auf eine Untersuchung der Schweizer NS-Opfer. Zwar geisterte das Thema eine Zeitlang durch die Forschungsprogramme. Offensichtlich verkannte die Mehrheit der Kommissionsmitglieder aber dessen grundsätzliche Bedeutung.16 Von Ausnahmen abgesehen, schweigen sich die Publikationen der Bergier-Kommission zu den NS-Opfern denn auch weitgehend aus. Einzig der rechtshistorische Beitrag von Frank Haldemann behandelt Fragen, die für das Thema relevant sind, angesichts der Vorgaben im Forschungsdesign beschränkt er sich aber auf den völkerrechtlichen Vermögensschutz.17 Forschungspolitisch war dieses Versäumnis bedauerlich, erinnerungspolitisch ein Fehlschlag. Die Selbstbeschränkung der Bergier-Kommission auf wirtschafts- und finanzpolitische Fragen hatte den kaum intendierten, aber paradoxen Effekt, den Vorrang der Exportwirtschaft und der Finanzinteressen in der schweizerischen Außenpolitik weitgehend unhinterfragt zu widerspiegeln, wenn nicht gar zu bekräftigten.
15 Picard, Die Schweiz, S. 157–217. 16 Der Kommission lag 1998 ein Projektantrag vor, den sie zurückstellte und später ad acta legte (Unterlagen im Besitz der Autorin). 17 Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht, S. 461 ; Haldemann, „Schutz des Privateigentums“.
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Im Kontrast dazu hätte die systematische Aufarbeitung der Geschichte der NS-Opfer durchaus als ein Korrektiv wirken können. Ihre Integration ins Gesamtbild hätte ein neues Licht auf die Tragweite der außenpolitischen Prioritätensetzung geworfen. Sie hätte, das ließ sich beim damaligen Wissensstand durchaus erahnen, den Verlust an Humanität sichtbar gemacht, den die Abstriche bei der Verteidigung der Menschlichkeit zugunsten wirtschaftlicher Interessen verursachten. Allerdings schwand das Interesse der schweizerischen Öffentlichkeit für alle Fragen im Zusammenhang mit dem Holocaust schon vor Abschluss der Kommissionsarbeiten.18 Außerhalb eines kleinen, für die Thematik sensibilisierten Kreises wurden neue Forschungsarbeiten um die Jahrtausendwende kaum mehr registriert, obwohl Einzelfallstudien ein höchst bedenkliches Bild der offiziellen Reaktion auf die tödliche Bedrohung jüdischer Verfolgter zeichneten.19 Insbesondere die Untersuchung von Anton-Andreas Speck, eine sorgfältige Fallrekonstruktion der aus Frankreich nach Auschwitz deportierten Familie Rothschild, deckte das systematische Ineinandergreifen von deutschen Ausflüchten und unterlassener schweizerischer Rettung auf. Sie zeigt, wie Wahrnehmungsblockaden, Fehleinschätzungen und schlicht Unwille dazu führten, dass die Schweizer Auslandsvertretungen in Frankreich und Deutschland die rechtzeitige Intervention zur Befreiung der Familie verpassten.20 Weitere Forschungsarbeiten der letzten zwei Jahrzehnte – so meine eigenen Untersuchungen zur Entschädigung der Schweizer NS-Opfer und die Arbeit von Urs Altermatt und Christina Späti zur Wiedergutmachungsdiplomatie – wurden kaum unter dem Aspekt der Verfolgungsgeschichte rezipiert.21 Mit Forschungslücken allein lässt sich also nicht erklären, weshalb die schweizerischen Verfolgten zu „vergessenen Opfern“ mutierten. Ihre Existenz war in der Wissenschaft längst bekannt, wenn allem Anschein nach auch das Verständnis für die Bedeutung und systemische Relevanz des Themas oft fehlte, wie der Umgang der Bergier-Kommission mit dem Thema illustriert. Wie kam es, dass die NS-Opfer trotzdem immer wieder in Vergessenheit geraten sind ? Und wie müssen wir dieses Vergessen interpretieren ?
18 Zur Rezeption vgl. Ludi, „Historisierung“. 19 Perrenoud, „André Weill“. 20 Speck, Rothschild. Der Journalist Pietro Boschetti veröffentlichte die Ergebnisse von Specks Untersuchung bereits 1998 in einem Zeitungsartikel : Boschetti, „La Suisse“. 21 Ludi/Speck, „Swiss Victims“ ; Ludi, „Parzellierung“ ; Ludi, „Vectors“ ; Ludi, Reparations (insb. Kapitel 5) ; Altermatt/Späti, „Neutralität“.
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Vergessen mit Methode Die These vom organisierten Vergessen der Schweizer NS-Opfer setzt einen in der Erinnerungsforschung wenig thematisierten Zugriff auf Vergessen als aktive Praxis voraus. Die folgenden Überlegungen sind inspiriert von einer Metapher, die Hannah Arendt in ihrer Analyse des Totalitarismus mehrfach benutzte. In den letzten Kapiteln von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft führt sie aus, dass die Essenz des Totalitarismus darin bestehe, im Namen eines ideologisch motivierten Zwecks Menschen überflüssig zu machen. Menschen überflüssig machen, heißt laut Arendt, ihnen alle Rechte abzusprechen und sowohl ihre soziale Existenz und Zugehörigkeit zu einer Gruppe als auch ihre Individualität und Einmaligkeit zu leugnen. Dies geschah durch die Anonymisierung des Sterbens in den Vernichtungslagern, die die Zerstörung des Gedenkens beinhaltete und so die Existenz der überflüssigen Menschen endgültig ausgelöscht und ungeschehen gemacht habe – so, als wären sie nie geboren worden. In einer aufschlussreichen Passage über Polizeigefängnisse und Konzentrationslager schreibt Arendt, diese Einrichtungen seien „organisiert als Höhlen des Vergessens, in die jeder jederzeit hineinstolpern kann, um in ihnen zu verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben (…). Erst wenn ein Mensch aus der Welt der Lebenden so ausgelöscht ist, als ob er nie gelebt hätte, ist er wirklich ermordet.“22 Zwar hat Arendt die These von der absoluten Vernichtung der Erinnerung später revidiert.23 Das ändert aber nichts am heuristischen Wert ihrer ursprünglichen Aussage. Die im englischen Original benutzte Wendung „holes of oblivion“ gibt einen neuen Blick frei auf das Vergessen. Durch ihre Assoziation mit „black holes“, den astronomischen Schwarzen Löchern, evoziert die Wendung die Vorstellung eines Sogs, der all die überflüssig gemachten Menschen mitsamt ihren Erinnerungen und ihrem Gedenken verschlingt und spurlos verschwinden lässt. Damit transformiert die Metapher unser konventionelles Verständnis vom Vergessen als passivem Vorgang, als einem Verlustprozess, bei dem Erinnerungen im Zuge der natürlichen Abnutzung wegfallen. Sie macht Vergessen stattdessen als aktives Geschehen, als Praxis, ja als sozial strukturierten Vorgang denkbar, bei dem etwas gezielt obsolet gemacht wird, bei dem Gedächtnisinhalte aus der Erinnerung getilgt werden. Die heuristische Rehabilitation des Vergessens eröffnet eine ganz neue Perspektive auf die in den Memory Studies bisher kaum thematisierte Dialektik der Erinnerung. So hat der Sozialanthropologe Paul Connerton kürzlich die stillschweigend anerkannte Gleichung, wonach Vergessen bloß die negativ konnotierte Kehrseite der 22 Arendt, Elemente, S. 900f. 23 Vgl. Ever, „Holes“.
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Erinnerung sei, als Trugschluss entlarvt und an den produktiven Beitrag des Vergessens erinnert, an jene Funktion also, die neue Wirklichkeiten schafft.24 Dazu zählt Connerton die verordnete Unterdrückung von Erinnerungen ebenso wie das Beschweigen vergangener Geschehnisse, das durch die Erniedrigung der Betroffenen oder deren Furcht vor Beschämung erzwungen wird. Auch forcierter Erinnerungsüberschuss kann Vergessen hervorbringen. Connerton illustriert das am Beispiel der Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs, deren Leid angesichts des exzessiven Totenkults aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Das Ergebnis, wie er lakonisch feststellt, war „[that] they were dismembered – not remembered – men“.25 Connertons Argumentation veranschaulicht, wie Vergessen politische Prioritäten und soziale Hierarchien kreiert und sich folglich vom Erinnern nicht trennen lässt. Vielmehr gehen Vergessen und Erinnern als aktive Praktiken Hand in Hand. Sie bilden eine Komplizenschaft, was laut Paul Ricoeur Effekt des „selektive[n] Charakter[s] der Erzählung“ ist. Die unvermeidliche Perspektivität der Erzählung wird aber dann zur Falle für die Erzählenden, wenn höhere Mächte die Ausrichtung dieser Fabelkomposition übernehmen und auf dem Weg der Einschüchterung oder Verführung, der Ängstigung oder Schmeichelei eine kanonische Erzählung durchsetzen. Eine hinterhältige Form des Vergessens ist hierbei am Werk, die sich daraus ergibt, dass die gesellschaftlichen Akteure ihres originären Vermögens beraubt werden, sich selbst zu erzählen.26
Unter den höheren Mächten versteht Ricoeur hier nicht transzendentale Kräfte, sondern politische Autoritäten, Instanzen also, die mit dem versehen sind, was Pierre Bourdieu als die „legitime symbolische Gewalt“ des Staates bezeichnet, nämlich die Macht der Benennung und der Klassifikation.27 Weniger radikal, auf subtilere Weise als in Arendts Formulierung bringt das hinterhältige Vergessen schwarze Löcher hervor. Es macht Erinnerungen obsolet, ohne sie gleich mitsamt ihren Träger*innen zu verschlingen. Es begnügt sich damit, diesen die Fähigkeit abzusprechen, authentische und glaubwürdige Aussagen über sich selbst und die eigenen Erfahrungen zu machen. Was nicht mehr sagbar ist, weil es durch höherrangiges Wissen überschrieben worden ist, wird überflüssig. Seine Spu24 Connerton, „Forgetting“. 25 Ibid. S. 69. 26 Ricoeur, Gedächtnis, S. 684. 27 Bourdieu definiert symbolische Gewalt als jene „Formen von Zwang, die auf nicht bewussten Übereinstimmungen zwischen den objektiven Strukturen und den mentalen Strukturen beruhen.“ Bourdieu, Staat, S. 168.
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ren im Gedächtnis schwinden, zurück bleiben bestenfalls Bruchstücke und Überreste. Wer sich selber nicht mehr erzählen kann, wird auch kaum in der Lage sein, diese Überreste auf kohärente Weise zusammenzufügen und in einen für andere verständlichen Bedeutungszusammenhang zu stellen. Die Geschichten jener, deren Sprecherposition unterminiert ist, sind in den opaken Dämmerzustand präsenter Absenz verbannt.
Entschädigung als organisiertes Vergessen Was heißt es nun konkret, gesellschaftliche Akteure ihres originären Vermögens zu berauben, sich selbst zu erzählen ? Und was bedeutet es im Fall der NS-Opfer ? Um dieser Frage nachzugehen, sind einige Ausführungen zur Kommunizierbarkeit von Extremerfahrungen notwendig. Wie in Holocaust-Erinnerungen vielfach bezeugt, stießen Überlebende in der Nachkriegszeit mit ihren Berichten zunächst fast durchwegs auf Abwehr und Misstrauen. Was sie erzählten, war unvereinbar mit dem Erfahrungshintergrund ihrer Mitmenschen und überstieg deren Vorstellungskraft massiv. Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen paarten sich rasch auch mit dem Verdacht, sie seien vielleicht doch nicht ganz unschuldig an ihrem Schicksal und hätten die erlittenen Misshandlungen durch eigenes Zutun provoziert.28 Umgeben von Argwohn und Unglaube, war die Position der Überlebenden höchst prekär. Um sich überhaupt als glaubwürdige Zeug*innen etablieren zu können, mussten sie erst Anerkennung als authentische Opfer finden. Und das wiederum machte es notwendig, dass man ihren Erzählungen Glauben schenkte. Kurz : die Verfolgten bewegten sich in einem Teufelskreis. Seit dem Aufstieg der Holocaust-Überlebenden zu den Kronzeugen der postmodernen Erinnerungskultur stand die Forschung folglich vor einem Rätsel : Unter welchen Bedingungen gelang es den Verfolgungsopfern, ihre Erlebnisse ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben, und als Voraussetzung dafür, mit ihren Berichten auf Widerhall und Verständnis zu stoßen ? Gemeinhin gilt der Eichmann-Prozess von 1961 als Wendepunkt in der Wahrnehmung des Holocaust und als Moment des Umbruchs, der die Überlebenden sowohl als archetypische Opfer von Extremgewalt als auch als authentische Zeug*innen ihrer eigenen Verfolgung hervorbrachte.29 Wie jüngere Untersuchungen zeigen, war dieser Wandel voraussetzungsvoll. Er hatte eine komplexe Vorgeschichte, die aus der Konvergenz verschiedener, größtenteils unver28 Pointiert Levi, Die Untergegangen ; Veil, „Réflexions“. Vgl auch Wieviorka, Déportation. 29 Vgl. Wieviorka, L’ère ; auch Yablonka, „Zeugenaussagen“.
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wandter Entwicklungen resultierte.30 Dazu gehörten neue kulturelle Praktiken der Erinnerungsgemeinschaften ehemaliger Konzentrationslagerhäftlinge, die Dokumentationstätigkeit jüdischer Überlebender und politische Kampagnen, die dazu beitrugen, der Konzentrationslagererfahrung einen besonderen epistemologischen Wert für das Verständnis von Extremgewalt und totaler Herrschaft zuzuschreiben.31 Dabei ist die symbolische Bedeutung früher Entschädigungspraktiken nicht zu übersehen. Amtlich ausgestellte Verfolgtenausweise, ein Ergebnis solcher Verfahren, begünstigten den Wandel in der Wahrnehmung der Überlebenden, indem sie deren Opferidentität beglaubigten.32 Solche Dokumente hatten für die Betroffenen in verschiedener Hinsicht vitale Bedeutung. Sie gaben ihnen Zugang zu lebenswichtigen sozialen und medizinischen Leistungen. Und sie räumten den Verdacht aus, dass Opfer an ihrem Schicksal mitschuldig seien. Im gleichen Atemzug konstituierten sie Überlebende als authentische Autor*innen ihrer Verfolgungsgeschichte, setzte doch die Anerkennung der Opferidentität eine minutiöse Prüfung individueller Aussagen voraus. Im Idealfall, das zeigen die Erfahrungen in verschiedenen europäischen Ländern, schufen Entschädigungsverfahren kraft staatlicher Benennung einen neuen Status, der die Betroffenen ermächtigte, die erlittene Verfolgung als Unrecht und als unverdientes Leid darzustellen.33 Anders in der Schweiz. Das schweizerische Entschädigungsverfahren generierte keine besonderen Sprecherpositionen. Stattdessen, so viel sei hier vorweggenommen, beraubte es die NS-Opfer des originären Vermögens, ihre Geschichten als Unrechtserfahrung zu artikulieren.34 Dies ergab sich einerseits aus der Entstehungsgeschichte der Wiedergutmachung in der Schweiz. Andererseits sorgten gewisse Modalitäten im Entschädigungsverfahren, das auf eine Aufhebung der Vergangenheit hinzielte, dafür, dass die Verfolgten zum Verstummen gebracht wurden. 1957 zauberte der Bundesrat scheinbar aus dem Nichts ein Gesetz über finanzielle Leistungen für ehemals Verfolgte aus dem Hut. Dies nachdem die Schweizer Regierung die Existenz und die Ansprüche der NS-Opfer jahrelang übergangen, ignoriert oder bestritten hatte. Dieser Schritt kam unerwartet und war überraschend. Politisch stand er im Zusammenhang mit den internationalen Entwicklungen der Wiedergutmachungsdiplomatie – wie andere westeuropäische Staaten versuchte die Schweiz 30 Dean, Aversion ; Dean, Witness. 31 Vgl. Grossmann, Jews ; Jockusch, Collect ; Kuby, Survivors, insb. 17–45 ; auch die Beiträge in Cesarani/ Sundquist, Holocaust ; Withuis/Mooij, War Trauma. 32 Besonders drastisch in den Berliner Aberkennungsverfahren, vgl. zur Nieden, Unwürdige Opfer. 33 Dazu ausführlicher Ludi, „Reparations, Victims“. 34 Sofern nicht anders vermerkt, stütze ich mich im Folgenden auf die Ausführungen in Ludi, Reparations.
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seit Mitte der 1950er-Jahre, die Adenauerregierung zu einer Globalentschädigung zu bewegen. Damit sollte die BRD den Ausschluss ausländischer Verfolgter von der deutschen Wiedergutmachung kompensieren.35 Überdies deutet manches darauf hin, dass der Bundesrat mit einer raschen Befriedigung finanzieller Ansprüche der NS-Opfer eine Eskalation der vergangenheitspolitischen Krise verhindern wollte, die 1954 wegen des Skandals um den „J“-Stempel ausgebrochen war.36 Verwaltungsintern geäußerte Befürchtungen, die Frustration der NS-Opfer könnte in offene Kritik umschlagen und unangenehme Fragen aufwerfen, waren keineswegs aus der Luft gegriffen. Wiederholt drohten Verfolgte, mit ihren Klagen an die Öffentlichkeit zu treten und, wie es ein Betroffener formulierte, „eine Pressekampagne aufzuziehen, um dem Volk zu zeigen, wie schwach seine Behörden seinerzeit gegenüber Deutschland gewesen seien und wie wenig sie ihre Mitbürger vor den Nazi-Angriffen in Schutz genommen hatten“.37 Das Gesetz, vom Parlament ohne großen Widerspruch genehmigt, sah zur Beschwichtigung der Betroffenen eine Vorauszahlung auf die zu erwartenden deutschen Leistungen vor. Diese Lösung erlaubte eine speditive Erledigung finanzieller Ansprüche, ohne ein Präjudiz zu schaffen oder gar in irgendeiner Form eine schweizerische Mitverantwortung am Leid der Opfer anzuerkennen. Um rechtspolitisch heikle Fragen zu umgehen, etwa jene nach der Staatsverantwortung oder nach der Ungleichbehandlung verschiedener Gruppen von Staatsangehörigen, pries die Regierung die Vorlage gezielt als eine humanitäre Geste an, als ein von Mitleid motivierter Akt der Barmherzigkeit, der die ehemals Verfolgten als Notleidende adressierte. Für die Verteilung der Leistungen war ein spezielles Expertengremium, die Kommission für Vorauszahlungen an schweizerische Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (KNV), zuständig. Ihr gehörten interne und externe Experten an, präsidiert von einem Karrierediplomaten. Ein mit Verwaltungsangestellten besetztes Sekretariat nahm die Einzelfallprüfung vor. Dessen Sachverhaltsdarstellungen und Empfehlungen bildeten die Entscheidungsgrundlagen für die KNV. Die Nachforschungen des Sekretariats stützten sich auf die Akten des diplomatischen Schutzes, auf politische Überwachungsberichte der Bundesanwaltschaft, auf die Auskunft der Konsulate und der kantonalen Behörden und ganz am Ende auf die Angaben der Betroffenen selbst. Damit dominierte bereits in der strukturellen An35 Vgl. Hockerts/Moisel/Winstel, Wiedergutmachung ; Altermatt/Späti, „Neutralität“. 36 1954 machte eine alliierte Aktenedition die schweizerische Beteiligung an der Einführung des „J“-Stempels durch das NS-Regime publik. Ausführlich : Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Schlussbericht, insb. Kap. 3.1. 37 BAR E2001-08#1978/107#374*, interne Notiz zum Telefongespräch mit Hermann Cohn-Lemle, 24.11.1959.
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lage des Verfahrens die amtliche Perspektive : Die Akten des diplomatischen Schutzes reflektierten die Entscheidungslogik der 1930er- und 1940er-Jahre ; die Berichte der politischen Überwachung rechtfertigten die Schutzverweigerung während der NSZeit. Sie hatten eine immunisierende Funktion für die involvierten Diplomaten, da der Anlass für die Anordnung einer Überwachung oft trivial war.38 Zudem begründete die KNV ihre Entscheide häufig mit Auszügen aus den Berichten der politischen Polizei und pflegte auch sonst einen gutgläubigen, ja blauäugigen Umgang mit amtlichen Akten jeglicher Provenienz. Als „Vorauszahlung“ deklariert, wurde die Entschädigung der Schweizer NS-Opfer so als eine rein verwaltungsinterne Angelegenheit abgewickelt. Das Verfahren war schriftlich und bot den Betroffen selbst keine Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge vorzutragen. Als Teil des außenpolitischen Apparats entschied die KNV in eigener Sache. Verfolgte, die mit einer Verfügung nicht einverstanden waren, konnten den Entscheid an eine interne, letztinstanzlich urteilende Rekurskommission weiterziehen. Ihr Vorsitzender war der Spitzendiplomat Walter Stucki, vormals Botschafter in Paris und Vichy und ab 1945 Chefunterhändler der finanziellen Kriegsfolgenregelung. In dieser Funktion war er am Zustandekommen von Abkommen beteiligt, die die Ansprüche der NS-Opfer den Finanzinteressen unterordneten.39 Dieses Arrangement lieferte die Anspruchsberechtigten schutzlos dem Gutdünken, den Launen und der Willkür der Bürokratie aus. Das war allerdings keine Ausnahmeerscheinung in der damaligen schweizerischen Verwaltungspraxis. Vielmehr zeigten sich im Entschädigungsverfahren frappante Analogien zur Sozialhilfe. Parallelen waren bereits in den rechtlichen Grundlagen angelegt, denn das Gesetz verlangte die Berücksichtigung der ökonomischen und moralischen Lage der Anspruchsberechtigten bei der Bemessung der Leistungen. Die KNV legte diese vage Bestimmung sehr weit aus. Sie verstand sie als Aufforderung zu einschneidenden Übergriffen auf die Privatsphäre der ehemals Verfolgten und sah sich, ähnlich wie Sozialbehörden, zur Prüfung des Lebenswandels, der Weltanschauung und des Geschäftsgebarens der Betroffenen ermächtigt. Im Umgang der KNV mit den ehemals Verfolgten, in der Wortwahl ihrer Berichte und in der internen Korrespondenz dominierte derselbe Tonfall bevormundender Herablassung, wie er aus der Fürsorgepraxis der Nachkriegsjahrzehnte bekannt ist.40 38 In einem Fall genügten die Klagen über das fehlende Engagement der Schweizer Diplomaten, um eine Überwachung anzuordnen, Vgl. BAR E2001-08#1978/107#1190*, Antrag des EPD an die Bundesanwaltschaft vom 20.2.1945. 39 Zu Stucki vgl. Stamm, Stucki. Zu seiner Rolle in der Kriegsfolgenregelung auch Ludi, Reparations, 150–155. 40 Siehe exemplarisch die Ergebnisse der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versor-
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Augenscheinlich betrachtete die KNV die NS-Opfer in erster Linie als Notleidende. Sie entlehnte die Deutungsmuster zur Beurteilung der Gesuche der Sozialhilfe, etwa indem sie Verfolgte in würdige und unwürdige Anspruchsberechtigte einteilte oder ihre Entscheide mit fürsorgerischen Überlegungen begründete. Durch die Assimilation von Verfolgten und Notleidenden verwischten sich die Unterschiede zwischen Verfolgungsunrecht und einer durch Missgeschick oder Unglück verursachten Notlage, was unschwer als Strategie zur Neutralisierung politischer Verantwortung gelesen werden kann : Nationalsozialistische Verfolgung rückte so in die Nähe von Ereignissen, die man einer höheren Gewalt zuschreibt und denen mit menschlichem Handeln nur schwer beizukommen ist. Die Assimilation von Verfolgten an Fürsorgeabhängige beförderte zugleich eine Entmündigung der Verfolgten. Generell galten Sozialhilfeempfänger nicht als vollwertige Mitbürger, da die Bedürftigkeit im damaligen Verständnis ihre Urteilskraft in öffentlichen Angelegenheiten beeinträchtigte. Vielerorts wurden ihnen deshalb die politischen Partizipationsrechte entzogen, was einer symbolischen Entmannung gleichkam. Der Stimmrechtsentzug stellte Sozialhilfebezüger auf dieselbe Stufe wie die politisch rechtlosen Frauen : Ihr Wort hatte öffentlich kein Gewicht. Die semantische Angleichung der NS-Opfer an Fürsorgeabhängige übertrug dieses Stigma auf die ehemals Verfolgten und erodierte so die Aussagekraft ihrer Zeugnisse. Angelegt im Gesetz und der gesetzlich vorstrukturierten Verwaltungspraxis unterminierten die Umdeutung von Wiedergutmachung in eine humanitäre Leistung und die Aufhebung des Unterschieds zwischen Entschädigung und Fürsorge die Sprecherposition der Überlebenden. Die Verschuldensprüfung war ein weiterer Schritt, der das Vermögen von Verfolgten zerstörte, als authentische Zeug*innen des erlittenen Unrechts aufzutreten. Dabei handelte es sich um ein schweizerisches Spezifikum, eine moralische Buchhaltung, bei der die KNV in jedem einzelnen Fall das „Selbstverschulden“, die „faute concomitante“ der Betroffenen eruierte. Lag ein solches vor, so bewirkte das in der Regel eine empfindliche Reduktion von bis zu 50% der üblichen Entschädigungszahlung. Auch bei der Verschuldensprüfung bestand eine offensichtliche Parallele zur Sozialhilfe, für welche die Unterscheidung von verschuldeter und unverschuldeter Armut eine lange Tradition hatte. Diente diese Unterscheidung in der Fürsorge der Disziplinierung Bedürftiger und der Entlastung des Fiskus, so erhielt sie im Entschädigungsverfahren eine andere Konnotation. Faktisch lief die Verschuldensprüfung auf ein moralisches Nullsummenspiel hinaus. Zudem suggerierte das festgestellte „Selbstverschulden“ der
gungen, Organisierte Willkür.
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Opfer, dass die Schweizer Behörden ein gewisses Verständnis für die Verfolger aufbrachten. Was qualifizierte nun als eine „selbstverschuldete“ Verfolgung ? Generell galten Verfolgungsmaßnahmen dann als „selbstverschuldet“, wenn die Betroffenen Bestimmungen oder Anordnungen irgendwelcher Art übertreten hatten, ungeachtet dessen, ob die Sanktion verhältnismässig oder die Gesetze, auf die sie sich stützte, rechtmässig waren. Wer also beispielsweise die Résistance oder den antifaschistischen Widerstand unterstützte, wer entflohene Kriegsgefangene, abgeschossene alliierte Piloten oder Verfolgte versteckte oder sich zu abschätzigen politischen Äußerungen hinreißen ließ, hatte aus der Sicht der KNV die erlittenen Misshandlungen, Folter und Konzentrationslagerhaft zumindest partiell selbst zu verantworten. Dasselbe galt für Mitarbeiter des schweizerischen Nachrichtendienstes.41 „Selbstverschuldet“ war auch die Konzentrationslagerhaft von Menschen, die die Nazis als „asozial“ klassifizierten.42 Selbst Opfer der Judenverfolgung entgingen der Verschuldensprüfung nicht. Fluchthilfe und Solidarität mit Verfolgten qualifizierten ebenso als „Selbstverschulden“ wie gesetzwidrige Handlungen zur Rettung des eigenen Lebens, beispielsweise der Besitz von gefälschten Ausweispapieren oder das Überschreiten der französischen Demarkationslinie, jener Grenze, die den besetzten vom unbesetzten Teil Frankreichs abriegelte.43 In solchen Fällen kam die Prüfung des „Selbstverschuldens“ faktisch einer Leugnung von NS-Verbrechen – und damit der schweizerischen Verwicklung in das Unrecht – gleich. Besonders deutlich zeigt sich das in der folgenden Fallgeschichte von Marcel Adler, einem Juden und ehemaligen Mitarbeiter des Schweizer Konsulats in Paris. Dieses hatte Adler 1941 entlassen, vermutlich in buchstabengetreuer Befolgung der antisemitischen Gesetzgebung Frankreichs. Am 16. Juli 1942, dem Datum der ersten großen Razzia gegen die jüdische Bevölkerung in Paris, wurde Marcel Adler verhaftet und ins Sammellager Drancy, der Verladestation für die Deportationszüge nach Auschwitz, transportiert. Aus allen Umständen war zu schließen, dass Adler aus antisemitischen Gründen verhaftet wurde. Trotzdem lehnte die KNV eine Entschädigung ab und lastete Adler ein „gewisses Selbstverschulden“ an. Sie stützte sich auf Aussagen deutscher Stellen, die Adler des Nachrichtenschmuggels bezichtigt hatten, was er selbst heftig bestritt. Auch soll er laut einem deutschen Spitzel in einem Privatgespräch die Deutschen als „la plus sale race qui existe sur la terre“ bezeichnet 41 BAR E2001-08#1978/107#1026*. 42 BAR E2001-08#1978/107#413*. 43 BAR E2001-08#1978/107#1044* ; BAR E2001-08#1978/107#1530*.
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haben. In den Akten fehlte es nicht an Hinweisen, dass die Anschuldigung des Nachrichtenschmuggels von den Deutschen bloß vorgeschoben war, und über den wahren Verhaftungsgrund, die Judenverfolgung, hinwegtäuschen sollte.44 Diese Geschichte verdeutlicht die entlastende Funktion der Verschuldensprüfung. Die Feststellung eines „Selbstverschuldens“ sollte offensichtlich verschleiern, dass sich die Diplomaten im Sommer und Herbst 1942 auf die deutsche Zusicherung verlassen hatten, wonach Schweizer Juden nicht deportierbar seien und deshalb die Befreiung Adlers lange versäumten. Es sollte wohl auch die Frage unterdrücken, ob die Versäumnisse der Auslandvertretung sträflicher Ahnungslosigkeit zuzuschreiben war oder ob diese willens war, sich von den Nazis hinters Licht führen zu lassen, um später einen Grund für die eigene Untätigkeit vorweisen zu können. Die Akten geben keinen Aufschluss dazu. Sie zeigen aber, dass die Mechanismen des orchestrierten Vergessens in diesem Fall früh griffen : In die Schweiz zurückgekehrt, wollte Marcel Adler einen Bericht über seine Verfolgung in einer Westschweizer Zeitung publizieren. Um Zensurmaßnahmen zu entgehen, konsultierte die Redaktion vorher die Behörden in Bern, mit der Folge, dass das EPD die Publikation des Berichts rechtzeitig verhindern konnte. Die aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbare Logik solcher Entscheidungen lief für die Betroffenen auf eine Verharmlosung, wenn nicht auf die Leugnung des erlittenen Unrechts hinaus. Im damaligen Kontext betrachtet, zeigen sie, wie sehr die KNV in ihrer eigenen Rationalität befangen war und sich dem Ziel verschrieben hatte, jegliche Zweifel und Kritik am behördlichen Handeln abzuwehren und belastende Indizien zum Verschwinden zu bringen. Im Fall von Marcel Adler war das vermutlich seine Entlassung als Konsulatsmitarbeiter, die in den Berichten der KNV auf finanzielle Gründe zurückgeführt wurde. Eine undatierte, wohl aus den frühen 1940er-Jahren stammende, handschriftliche Notiz, ließ die Schweizer Diplomatie jedoch in keinem günstigen Licht erscheinen, denn da steht : „Nous nous sommes séparé de lui parce qu’il était juif.“45 Das wechselseitige Abwägen von Schuld resultierte so oft in einem Nullsummenspiel : Im Extremfall lautete die Gleichung „selbstverschuldet, so dass nicht von n.s. Verfolgungsmassnahme gesprochen werden kann“.46 Ergo blieb für die dritte Par44 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Ludi, Reparations, 170f. Übersetzung des französischen Ausdrucks durch die Heraugebenden : „die schmutzigste Rasse der Welt“. 45 BAR E2001-08#1978/107#78*, handschriftliche Notiz, ohne Datum. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Wir haben uns von ihm getrennt, weil er jüdisch war“. 46 BAR E2001-08#1978/107#1881*, Notiz vom 3.6.1961, Hervorhebung im Original. Der Verfolgte starb 1943 im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, nachdem sich die Schweizer Gesandtschaft in Berlin wiederholt geweigert hatte, zu seinen Gunsten zu intervenieren. Sie begründete diese Weigerung mit
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tei, die Schweizer Behörden, kein Platz zwischen der Schuld der Verfolger und dem „Selbstverschulden“ der Opfer. Die Verschuldensprüfung trug dazu bei, politische Verantwortung zu eliminieren und die Frage zu unterdrücken, ob die Schweizer Behörden genügend unternommen hatten, um am Leben bedrohte Mitbürger*innen zu retten und vor größerem Leid zu bewahren. Dass dieses Bestreben in rechtlich höchst bedenklichen Verrenkungen resultierte, muss nicht eigens betont werden. Ausschlaggebend für das Vergessen der Schweizer NS-Opfer war hingegen die gezielte Vernichtung unerwünschter Erinnerungen mittels Beschämung der Überlebenden. Die Verschuldensprüfung nährte die Zweifel an der Opferidentität und an der Zeugenschaft der Überlebenden. Sie verhinderte, dass die Verfolgten die erlittenen Misshandlungen als Unrecht darstellen und dafür Gehör und Glauben finden konnten. Denn wie soll selbstverschuldetes Leid ein Unrecht sein ? – So blieb die Mehrheit der Schweizer NS-Opfer in der Grauzone von Argwohn und Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit gefangen. Ein letzter Akt des arrangierten Vergessens bestand schließlich im gezielten Umschreiben von Geschichte(n). Anhand der Akten lässt sich das nicht immer zweifelsfrei nachzeichnen, weil ausführlichere Berichte der Verfolgten selbst oft nicht vorhanden sind. In einigen Fällen waren die Verzerrungen allerdings derart grob, dass die Betroffenen die offizielle Darstellung empört als Geschichtsklitterung zurückwiesen. „Die Herren glauben wohl,“ kommentierte beispielsweise Jules Dreifuss sarkastisch, „ich hätte mit meiner Familie im deutschbesetzten Elsass bleiben sollen, bis wir nach Auschwitz oder Treblinka deportiert worden wären“. Grund der Empörung war die Behauptung, er habe sein Hab und Gut ungeschützt der Plünderung durch die Nazis preisgegeben, weil er das Elsass unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch verließ – freiwillig, wie die KNV schrieb. Für Dreifuss zeugte das von haarsträubender historischer Ignoranz und er fügte seiner Beschwerde gegen den Entscheid an : Fünfzehn Jahre nach Zusammenbruch des Dritten Reichs scheinen die Herren noch nicht zu wissen, dass jede Person jüdischer Religion oder Abstammung, ganz gleich welches ihre Nationalität war, in Nazi-Deutschland und den von diesem besetzten und abhängigen Ländern an Leib, Leben und Gut aufs Höchste gefährdet war.47
Die Rekurskommission konnte nicht umhin, dieser Argumentation zu folgen, und gab Dreifuss recht. den – mehr als 20 Jahre zurückliegenden – Vorstrafen des Verfolgten (für Bagatelldelikte). Dieselbe Begründung lag der Ablehnung des Entschädigungsgesuchs seiner Hinterbliebenen zugrunde. 47 BAR E2001-08#1978/107#450*, Jules Dreifuss-Schick an die Rekurskommission für Nationalisierungsentschädigungen, 7. Juli 1961.
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In anderen Fällen machen hingegen Leerstellen in der offiziellen Darstellung stutzig. So überrascht die mehrfache Ablehnung der Gesuche der Geschwister Willy Meyer und Marcelle Rubi, die ebenfalls im Frühling 1940 aus dem Elsass nach Lateinamerika geflüchtet waren. Die KNV lehnte ihre Entschädigungsgesuche mit unmissverständlicher Deutlichkeit ab, obschon die Konfiskation ihres Eigentums offensichtlich antisemitischen Charakter hatte. Es liege keine NS-Verfolgung vor, ist im Entscheid zu lesen, und die Flucht sei einzig dem ängstlichen Charakter von Willy Meyer zuzuschreiben. Dieser habe die Empfehlung zur Rückkehr in die Schweiz in den Wind geschlagen „und zwar nur aus Angst.“ Beide Geschwister verwahrten sich gegen diese Darstellung. Die Unterstellung, sie hätten sich von der Panik treiben lassen und planlos gehandelt, versuchte Marcelle Rubi mit dem Hinweis zu widerlegen, dass sie sich vor der Abreise alle nötigen Visa besorgt hätten. Im Rekurs fügte sie zudem eine Episode an, die ein völlig neues Licht auf die Geschichte wirft : Während eines Zwischenhalts auf ihrer Flucht durch Frankreich hätten sie im Juni 1940 das Schweizer Konsulat in Bordeaux aufgesucht. Dort habe sie den Schweizer Gesandten angetroffen, der ihr in einer persönlichen Audienz davon abgeraten habe, in die Schweiz zurückzukehren. Denn für Juden sei die Situation im Moment sehr kritisch und die weitere Entwicklung ungewiss. Laut ihrer Erinnerung soll er gesagt haben, „qu’il était difficile de garantir l’intégrité du droit des personnes“48, weshalb einzig die Auswanderung nach Übersee im Moment ihre persönliche Sicherheit garantieren könne. Die Episode lässt aufhorchen. Bei dem besagten Gesandten, falls Marcelle Rubi effektiv bei ihm vorgesprochen hat, konnte es sich um niemand anderes als Walter Stucki handeln, der während der deutschen Invasion der französischen Regierung nach Bordeaux gefolgt war und von dort düstere Berichte über die chaotische Lage in Frankreich und die ungewisse Zukunft an die Schweizer Regierung sandte.49 Die von Stucki präsidierte Rekurskommission lehnte die Beschwerde der beiden Geschwister ab und ging mit keinem Wort auf die von Marcelle Rubi geschilderte Begegnung ein. Im Bestreben, die Dinge ins rechte Licht zu rücken, hält sie stattdessen fest : „Il convient, d’autre part, de relever qu’en agissant contrairement à ce qui leur était conseillé et en s’opposant à leur rapatriement la recourante et son frère ont pris sur eux les risques de leur émigration.“50 Im Dossier ist jedoch kein Beleg für dieses angebliche 48 Übersetzung durch die Herausgebenden : „dass es schwierig sei, die Integrität der Rechte des Einzelnen zu garantieren“. 49 Stamm, Stucki, S. 186–189. 50 Übersetzung durch die Herausgebenden : „Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die Antragstellerin und ihr Bruder das Risiko ihrer Auswanderung auf sich nahmen, indem sie entgegen dem, was ihnen geraten worden war, handelten und sich ihrer Repatriierung widersetzten.“
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Heimschaffungsangebot zu finden. Aus welcher Quelle die Rekurskommission diese Information bezog, bleibt offen. Damit erhärtet sich die Vermutung, dass die KNV in diesem Fall gezielt darauf hinwirkte, eine kanonische Version der Geschichte zu implementieren und unliebsame Erinnerungen zu überschreiben. Ob dies geschah, um die Reputation eines geschätzten Spitzendiplomaten und der Behörde als Ganzes zu schützen, bleibt Spekulation. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie die Erinnerung von Marcelle Rubi nicht einmal einer Widerlegung würdig erachtete, sondern sie schlichtweg ignorierte und damit den Anspruch der Gesuchstellerin auf authentische Zeugenschaft negierte.
Fazit : Eine Episode erfolgreicher Vergangenheitsbewältigung Wie eingangs erwähnt, ist der Hauptgrund für das Vergessen der Schweizer NS-Opfer im Akt des organisierten Vergessens durch Wiedergutmachung zu suchen. Entschädigung nach Schweizer Art hatte den Effekt, den Unrechtscharakter der nationalsozialistischen Verfolgung zu relativieren und schweizerische Verwicklungen in den Holocaust sowie die daraus resultierenden rechtsstaatlichen Konsequenzen verschwinden zu lassen. Die Schweizer NS-Opfer waren gewissermaßen der Kollateralschaden einer vergangenheitspolitischen Strategie zur Neutralisierung der politischen Verantwortung. Unter Einsatz erheblicher symbolischer Gewalt, durch Benennen und Klassifizieren, entschärfte die schweizerische Entschädigungsbehörde die rechtlichen und politischen Sprengsätze, die in den Geschichten der NS-Opfer steckten und erschütterte dabei Schritt für Schritt die originäre Zeugenschaft der Verfolgten. Dies geschah primär durch die Assimilation von Unrechtsopfern an Sozialhilfeempfänger*innen, durch die Verschuldensprüfung und durch das Umschreiben ihrer Geschichten. Indem sie den NS-Opfern das Vermögen entzogen, sich selbst zu erzählen, gelang es den Bundesbehörden, das staatliche Deutungsmonopol über dieses Kapitel der Vergangenheit zu zementieren. War das Vergessen der NS-Opfer wohl eher ein Nebeneffekt der offiziellen Selbstimmunisierung, so war’s kein unerwünschter. Das wiederholte Vergessen der NS-Opfer belegt schließlich, dass die Wiedergutmachung in der Schweiz ein gelungener Akt der Vergangenheitsbewältigung war. Vergangenheitsbewältigung ist hier nicht zu verwechseln mit dem, was Adorno als Aufarbeitung der Vergangenheit bezeichnete. Er verstand darunter nämlich eine Vergegenwärtigung von Vergangenem, bei der man sich den unangenehmen Fragen der Geschichte stellt, um den Bann der Vergangenheit über die Gegenwart zu brechen.51 51 Adorno, Aufarbeitung.
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Die Vergangenheitsbewältigung hingegen bewirkt genau das Gegenteil – sie kommt, wenn man den etymologischen Sinn des Wortes bedenkt, Vergangenem mit Gewalt bei, indem sie es bezwingt und unterdrückt. Insofern war die Entschädigung also ein erfolgreicher Akt der Vergangenheitsbewältigung. Es gelang der Schweizer Entschädigungsbehörde unter erheblichem Einsatz symbolischer Gewalt und einer Strategie des organisierten Vergessens, erst die NS-Opfer zum Schweigen zu bringen und sodann bis auf den heutigen Tag eine kritische, öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der Geschichte zu verhindern, eine Auseinandersetzung, die über die emotio nale Betroffenheit hinaus politische Strukturen und vergangene Prioritätensetzungen durchleuchten und auf ihre Bedeutung für das heutige Staatsverständnis und das Selbstbild der Schweiz hin befragen würde.52
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Gedenken an den Armeniermord und den Holocaust Öffentliche Wahrheit als Kern historischer Gerechtigkeit What is historical justice ? Public truth, according to this essay, is its core and minimum. This minimum is not self-evident, as proves the fact that the public commemoration of the Armenian genocide in World War I was obstructed for decades. The comparison of the Armenian Genocide and the Holocaust therefore poses fundamental questions about forms of remembrance and reparation politics in the West in the 20th and early 21st century. The essay emphasizes that both genocides must together be taken seriously in the public history of today’s Europe, that is more closely intertwined with the Middle East and its crises than ever before. Dieses Kapitels reflektiert über die Schweiz als Schauplatz von Debatten, juristischen Verhandlungen und öffentlichen Darstellungen historischer „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (crimes contre l’humanité, fortan „Menschheitsverbrechen“). Seine grundsätzliche Reflexion macht sich die Erfahrungen mit einem prominenten, von der Wissenschaft und vielen Parlamenten nunmehr anerkannten Genozid zunutze. Es handelt sich um den Armeniermord („Aghet“ oder „Metz Yeghern“ in armenischer Bezeichnung) in der spätosmanischen Türkei. Er ist instruktiv, um Grenzen öffentlichen Einforderns historischer Gerechtigkeit aufzuzeigen und mahnt daher zur Bescheidenheit beim Gebrauch des Begriffs „historische Gerechtigkeit“. Dem Verbrechen an den Armeniern wurde jahrzehntelang der öffentliche Status einer Wahrheit und historischer Faktizität versagt. Nur private Kreise, nicht einmal Lehrstühle konnten ihn als das gelten lassen. Der Vertrag von Lausanne aus dem Jahre 1923 war entscheidend für diese Übertünchung und den völligen Verzicht auf Wiedergutmachung. Dieses Defizit wurde schon damals öffentlich kritisiert, insbesondere in der Schweiz,1 aber ohne staatliche Institutionen zu beeinflussen. Vorab folgen Überlegungen, warum mein Essay anerkannte, öffentlich gemachte Wahrheiten als Kern und unabdingbares Minimum historischer Gerechtigkeit postuliert. Danach untersucht es ausgewählte Spuren von Bemühungen um historische Gerechtigkeit im „Gedächtnisraum Schweiz“. Dieser eignet sich gut, um grenzüberschreitendem öffentlichem Gedenken an Menschheitsverbrechen nachzugehen. Ein 1 Vgl. Krafft-Bonnard, Conférence de Lausanne ; Mandelstam, Société des Nations.
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weiterer Teil des Essays dient dazu, über öffentliches Gedenken nach dem Ende der zeitgeschichtlichen „Ära nach 1945“ und der kurzen Periode globalen Aufbruchs nach 1989 zu reflektieren. Es unterstreicht schließlich die Notwendigkeit, den modernen Nahen Osten ins öffentliche Gedenken in Europa einzubeziehen, damit Holocaustund Genozidgedenken der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts standhalten kann.
Genozid, Menschenrechte und Gedächtnisraum Mein Essay versteht öffentliche Wahrheit als Minimum historischer Gerechtigkeit und als primäres Kriterium für gültiges, teilbares Gedenken, und damit für die Möglichkeit gemeinsamer menschlicher Erinnerung. Gemeinsame Erinnerung, selbst an Menschheitsverbrechen, ist alles andere als selbstverständlich. Sie ist es noch weniger geworden in der polarisierten, national und populistisch zerteilten Welt der 2020erJahre. Es gibt zahllose Beispiele dafür, wie Trauer- und Gedenktage dem Schüren kollektiven Hasses zwischen verschiedenen Gruppen dienten. Dennoch bietet die Gegenwart auch wie nie zuvor die Möglichkeit, global über Grenzen hinweg Wissen zu teilen und damit ein verbindliches, historisch akkurates Gedenken zu lernen. Diese Art Gedenken fordert über ethnoreligiöse Rückbindung hinaus elementare Werte ein und verwirft geschichtlich aufgeladenen Hass. Das öffentliche Gedenken an extreme Verbrechen wie Genozid und Holocaust geht notwendig mit deren Ächtung einher. Ächtung kann allerding den positiven Bezug auf Werte und Menschenrechte nie ersetzen. Weder eine symbolische Weltordnung noch ein Gesellschaftsvertrag oder eine nationale Identität lassen sich dauerhaft auf negativen Referenzen aufbauen. Ächtung einer vergangenen bösen Tat ergibt für sich allein keinen zukunftsweisenden Standard. Es bedarf, mit anderen Worten, eines positiven, universalen und aufs Individuum zielenden Begriffs von Menschsein und Menschenwürde, wenn es um zukunftsweisende Gerechtigkeit gehen soll und um eine Gerechtigkeit, die nicht ethnoreligiös gebunden bleibt. Bis zu einem bestimmten Grad darf und muss historische Gerechtigkeit ethnoreligiös sein. Der Begriff „Genozid“ unterstreicht zu Recht die kollektive Dimension einer Gruppe, die letztlich zu definieren allerdings die Täter sich anmaßten, denen nicht das letzte Wort zusteht. Daher ist mit „Genozid“ auch eine begriffliche Schwäche verbunden, da er individuellen Erfahrungen nicht gerecht wird. Das Recht muss „Genozid“ daher notwendig mit dem Maßstab der Menschenrechte und Oberbegriffen wie Menschheitsverbrechen ergänzen, die nicht an „genos“ und „ethnos“ gebunden sind.2 2 Der Konflikt zwischen individuellen Menschenrechten und „tribalem“ Genozidverständnis ist in letz-
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Die Überlegungen in diesem Essay reden einer vertieften und aktualisierten Holocaust-Erinnerung das Wort, die dem Verlust und der Verengung ebenso wie der Zweckdienlichkeit und Instrumentalisierung grundlegender Referenzen der Shoah3 zuvorkommt. Denn die Realität ist voller unguter Beispiele und die Versuchung groß, wirkungsmächtige Inhalte der Erinnerung „für bestimmte rasche politische Gewinne“4 an jeweilige Adressaten anzupassen. Mein Essay geht von der Unzulänglichkeit einer auf öffentlichem Gedenken beruhenden symbolischen Ordnung aus, die Postulate historischer Gerechtigkeit nicht mit dem politischen Willen zu Gerechtigkeit im Zusammenleben der Gegenwart in Einklang bringt. Es ist nie banal, heute damaliger Opfer zu gedenken und das damals Böse zu ächten. Dieses Essay teilt die Einsicht und Rede vom kontinentaleuropäischen Zivilisationsbruch in Auschwitz. Aber es stellt den europäischen und amerikanischen Selbstanspruch universalen Gedenkens an den Holocaust in Frage, wenn dieser exklusiv auf Kontinentaleuropa statt auf Greater Europe zentriert. Dieser Begriff meint Europa mit Einschluss Russlands und des Nahen Ostens, wie es der engen Vernetztheit und interaktiven Realität Europas im 19. und frühen 20. Jahrhundert entsprach, und damit dem historischen Raum der Shoah.5 Die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, insbesondere der europäischen Juden, ist untrennbar mit dem Nahen Osten verknüpft. Spätestens seit Ende des Kalten Kriegs hat diese Weltgegend Kontinental europa als Brennpunkt globaler Politik abgelöst. Sie bedarf deshalb und wegen alter Defizite einer besonders angestrengten historischen Aufarbeitung. Noch bis tief ins 20. Jahrhundert hinein herrschte eine Perspektive vor, die den Nahen Osten orientalisierte und exotisierte, sodass die Menschen und ihre Geschichte dort in jeder, auch kritischer Hinsicht nicht für voll genommen wurden. Eine justierte Gedenkperspektive, die Greater Europe ernstnimmt, kommt nicht umhin, den umfassenden Völkermord an osmanischen Staatsangehörigen im Ersten Weltkrieg als initialen Zivilisationsbruch im zur Frage stehenden historischen Raum wahrzunehmen. Das heißt, als systematischen Massenmord an einer wohl vertrau-
ter Zeit mehrfach in der Gegenüberstellung des Menschenrechtsanwalts Hersch Lauterpacht versus Raphael Lemkin thematisiert worden. Vgl. Sanders, East West Street. 3 „Shoah“ steht in diesem Essay für die jüdische Katastrophe unter den Nazis, 1933–1945, „Holocaust“ für den Genozid an den Juden, 1941–1945. Als Holocaust-Opfer werden ansonsten alle Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bezeichnet, jüdische Opfer überdies auch als Shoah-Opfer. Zu dieser begrifflichen Unterscheidung vgl. Bauer, Rethinking the Holocaust, S. 39–67. 4 JPost Editorial. „The Holocaust needs to be above politics : Revising history – never again“. Jerusalem Post, 04.02.2020 : https://www.jpost.com/Opinion/The-Holocaust-needs-to-be-above-politics-616540, letzter Zugriff : 16.02.2020. 5 Zum Begriff „historischer Raum“ siehe Kieser/Schaller, Völkermord, S. 11–80.
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ten Volksgruppe „mitten unter uns“, gegen den niemand einschreiten mochte/wollte/ konnte. Viele damalige Staatsmänner (miss)verstanden ihn als zwangsläufig im Sinne von „Realpolitik“. Zwar wurde er in der Öffentlichkeit als Menschheitsverbrechen angeprangert,6 aber der nahöstliche Pfeiler des Pariser Vertragssystems nach dem Ersten Weltkrieg – der Vertrag von Lausanne – ging 1923 mit Stillschweigen darüber hinweg. Die Führer Westeuropas und der Türkei segneten in Lausanne nicht nur das Resultat straf- und entschädigungslos ab, nämlich die „Entarmenisierung“ und „Dechristianisierung“ Kleinasiens, sondern komplettierten den Rechtsbruch noch durch die offizielle Zwangsmigration von zwei Millionen vor allem nichtarmenischer Christen, von denen viele bereits zuvor vertrieben oder getötet worden waren. So wurde Sozialdarwinismus und exterminatorischer Nationalismus politisch salonfähig, noch bevor Antisemitismus als „Zersetzungsferment der gesamten europäischen Welt“7 voll zur Wirkung gelangte. Weil ab 1923 alle Großmächte gute Beziehungen mit der sogenannten neuen Türkei erstrebten, deklarierte ihre Diplomatie fortan die gewaltsame „Entmischung der Völker“ als letztlich gelungene und notwendige Lösung alter ethnoreligiöser Konflikte. Ohne diese Initialereignisse gibt es für Europa keinen relevanten „Gedächtnisraum“ zum Thema Genozid in der Weltkriegsära. Denn sie machten extrem gewaltsames demographic engineering salonfähig und begründeten den nachosmanischen Nahen Osten mit der Türkei als unitärem Einparteistaat. Damit strahlten sie paradigmatisch ins Europa der Zwischenkriegszeit aus. Daher setzt dieses Essay voraus, dass eine aufrichtige öffentliche Holocaust-Erinnerung die Leugnung des Armeniermords ausschließt und dass beiderlei Arten europäischen Gedenkens zusammengehören, auch wenn für Kontinentaleuropa der Holocaust mit seiner potenzierten Mord-Industrie von überragender Bedeutung bleibt. Beides betrifft dunkelste Abgründe europäischer Weltkriegsgeschichte. Beides stand dem Juristen Raphael Lemkin explizit vor Augen, als er den Begriff „Genozid“ prägte, der 1948 in der entsprechenden UN-Konvention zum völkerrechtlichen Begriff wurde. Auf Deutsch übersetzt mit dem Wort „Völkermord“,8 bezeichnet der Neologismus „Genozid“ die Zerstörung eines ethnoreligiös definierten Kollektivs. Dass der Vertrag von Lausanne auf höchster Ebene der Diplomatie explizit die Resultate und implizit den Völkermord der Türkei billigte, ist das entscheidende politisch-diplomatische Bindeglied zwischen dem Armeniermord im Ersten und dem Judenmord im Zweiten Weltkrieg.
6 Namentlich im Zusammenhang mit dem Berliner Prozess gegen Soghomon Tehlirian, den Mörder von Talaat Pasha, 1921. Siehe Ihrig, Justifying Genocide, S. 191–298. 7 Arendt, „Mittel zur Versöhnung“, S. 168. 8 „Völkermord“, „Vernichtung“ oder „Ausrottung der armenischen Rasse“ sind in den 1910er-Jahren auf Deutsch verwendete Ausdrücke.
Gedenken an den Armeniermord und den Holocaust
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Aghet-Erinnerung in der Schweiz Der Armeniergenozid ist in der Schweiz über Jahrzehnte hinweg stärker in der öffentlich artikulierten Erinnerung geblieben als in den meisten übrigen Ländern Europas.9 Das trifft teilweise auch für andere Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu, wie etwa das von den Sowjets verleugnete und in der westlichen Diplomatie des Kalten Kriegs vertuschte Massaker von Katyn.10 Charakteristisch für den Armeniermord ist, dass er von den 1940er-Jahren an als Bezugspunkt für die Verbrechen an den Juden diente. So schrieb der religiös-sozialistische Theologe Leonhard Ragaz kurz vor seinem Tod 1945 : „Jene Armeniergreuel erinnern mich heute, da sie wieder vor mir aufsteigen, stark an die des Nationalsozialismus, welche in den Tagen, wo ich dies schreibe, durch die geschehenen Enthüllungen die Welt erschüttern. Es besteht hier ein bedeutsamer Zusammenhang.“11 Zwar mag Zufall im Spiel sein, aber dennoch scheint aussagekräftig, dass im Historischen Lexikon der Schweiz von neun Nennungen des Begriffs „Völkermord“ vier die Armenier, zwei Ruanda, einer die „Zigeuner“ sowie zwei (neben 14 Nennungen des Holocaust) die Juden betreffen. In der Schweiz existieren zweifellos gute Anhaltspunkte für einen Gedächtnisraum, der einlädt zu einem weiten, präzisen, grenzüberschreitenden Gedenken an Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts. In dessen Zentrum, aber nicht an dessen Anfang, steht die Shoah. Ausgewählten Spuren der Bemühungen um historische Gerechtigkeit im „Gedächtnisraum Schweiz“ soll im Folgenden nachgegangen werden. Organisierte Hilfe aus der Schweiz an armenische Überlebende dauerte bis ins späte 20. Jahrhundert an. Daher blieb das Thema nicht nur in der Presse präsent, sondern seiner wurde auch an öffentlichen Anlässen und auf Gedenktafeln gedacht. So zum Beispiel auf dem 1971 für Jakob Künzler von der „dankbare[n] Heimatgemeinde“ für den „Retter und Vater der Armenier“ vor der evangelischen Kirche in Walzenhausen eingeweihten Gedenkstein und auf der 1959 an der Kirche in Hundwil angebrachten Tafel für „Jakob Künzler, Vater der armenischen Waisenkinder. Geb. in unserer Gemeinde 8. März 1871. Gest. 15. Januar 1949 in Ghazir am Libanon.“12 9 Vgl. Kieser, Armenische Frage. 10 Vgl. Zander, Tageszeitungen. 11 Ragaz, Mein Weg, S. 182. 12 „Jakob Künzler, Arzt und Retter der Armenier“, Walzehuuser Gmaandszytig, Braachmonet 2015, S. 2 : http:// www.walzenhausen.ch/media/files/treffpunkt/2015/treffpunkt-130-web.pdf, letzter Zugriff : 29.02.2020 ; Buff, „Gemeinde-Chronik. Hundwil“. Appenzellische Jahrbücher 87 (1959), S. 97 : https://www.e- periodica.ch/digbib/view ?pid=ajb-001 :1959 :87#102, letzter Zugriff : 29.02.2020. Jakob Künzler war ein väterlicher Freund des ebenfalls aus Walzenhausen stammenden Generalkonsuls Carl Lutz in Budapest, der Künzler als sein Vorbild bezeichnete. Für einen Vergleich von Aghet- und Shoah-Denkma-
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Hans-Lukas Kieser Abb. 1 : Armenischer Gedenkstein (Khatchkar) mit Inschriftentafel bei der armenischen Kirche Surp Hagop in Troinex. Foto : Arminé Aghayan, © CC BY-SA 4.0
Die alte, aber kleine armenische Diasporagemeinde in der Schweiz war bis vor dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vor allem am Genfersee beheimatet. 1969 wurde deren armenische Kirche Surp Hagop in Troinex (GE) erbaut, in deren Vorhof sich ein armenischer Kreuzstein (Khatchkar) befindet, der explizit an die Opfer des Genozids von 1915 erinnert. Seit 1980 steht auch auf dem Dorfplatz von Troinex eine stèle commémorative. Eine weitere, 1986 auf dem Dorfplatz von Begnins (VD) aufgestellte Stele erinnert an das dortige armenische Waisenhaus der Zwischenkriegszeit. Es gibt noch weitere, unscheinbare armenische Erinnerungsorte, aber nicht alle mit direktem Bezug zum Völkermord.13 Erst als der Nationalrat Ende 2003 den Völkermord offiziell anerkannte, erwuchs der Wunsch und Mut, ein größeres Denkmal an prominenterer Stelle aufzustellen. Die armenische Gemeinde, die es zu finanzieren bereit war, sprach 2004 auf ihrer
len siehe Meyer, Monumentales Gedächtnis ? S. 76–80. 13 Vgl. Gaspard, „Trois siècles de présence arménienne en Suisse“. Artzakank-Echo, 15.4.2011. https:// artzakank-echo.ch/2011/04/15/trois-siecles-de-presence-armenienne-en-suisse, letzter Zugriff : 16.02. 2020 ; Gaspard, „Des lieux pour mémoire“. http://www.centre-armenien-geneve.ch/articles/des-lieux- pour-memoire.htm, letzter Zugriff : 16.02.2020.
Gedenken an den Armeniermord und den Holocaust
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Abb. 2 : Gedenkstein in Begnins in Erinnerung an die 1921 aufgenommenen Opfer des Völkermords an den Armeniern. Foto : Fabienne Meyer 2015
Suche nach einem Standort dafür bei der Stadtregierung von Genf vor. Eine Motion des Genfer Stadtparlaments hielt 2008 fest, dass (1) Genf die Faktizität des Völkermords an den Armeniern 1998 und 2001 offiziell anerkannt habe ; (2) die Armenier seit vielen Generationen eng und direkt mit Genf verbunden seien ; und daher (3) im öffentlichen Raum auf ein Monument hinzuarbeiten sei, das an Massengewalt und insbesondere an den Armeniermord erinnere. Das gehöre sich für Genf als Stadt der Menschenrechte und somit auch der Genozidprävention. Als Folge der Motion wurde ein Wettbewerb organisiert, aus dem das Werk „Les Réverbères de la Mémoire“ des französisch-armenischen Künstlers Melik Ohanian erfolgreich hervorging. Obwohl das Projekt von Anfang an behutsam in universaler Sprache formuliert war und sich „dem Recht auf Erinnerung aller geknickten Völker“ (droit à la mémoire des peuples blessés) verpflichtet sah, hatte es mit massiven Widerständen zu kämpfen.14 Den Widerstand gegen ein gut sichtbares Aghet-Denkmal orchestrierte die türkische Diplomatie zusammen mit einer türkischen Vereinigung in der Westschweiz. 14 Ville de Genève. „Les Réverbères de la Mémoire“ : https://www.ville-ge.ch/reverberes, letzter Zugriff : 09.02.2020 ; Heimberg, „Une œuvre commémore désormais le génocide des Arméniens dans l’espace genevois“. Mediapart, 12.05.2018 : https://blogs.mediapart.fr/heimbergch/blog/210518/une-oeuvre- commemore-desormais-le-genocide-des-armeniens-dans-l-espace-genevois, letzter Zugriff : 09.02.2020.
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Daher konnte es 2015, beim Hundertjahr-Gedenken des Völkermords, noch nicht aufgestellt werden. Der Bundesrat, an den Ankara gelangte, hielt sich an die Gepflogenheit westlicher Diplomatie seit dem Lausanner Vertrag, statt von Völkermord von tragischen Ereignissen zu sprechen. Schon 2003 hatte er gegenüber der Türkei betont, der Nationalrat, nicht der Bundesrat habe den Genozid anerkannt. Bundespräsident und Außenminister Didier Burkhalter sandte daher Ende 2014 der Genfer Stadtregierung einen Brief, in welchem er die Ablehnung der Baubewilligung fürs Projekt am damals geplanten Ort im Park Ariana empfahl. Doch die Initiatoren erhielten schließlich grünes Licht von Genf für einen Standort im Park Trembley, wo Les Réverbères de la Mémoire am 13. April 2018 feierlich eingeweiht wurden, wenn auch ohne Beteiligung hoher Politiker.15 Anders als beim Holocaust betrieben und betreiben nicht nur politische Außenseiter Aghet-Leugnung. Zudem gab es bis Ende des 20. Jahrhunderts keine vergleichbare Gesetzgebung dagegen. Dies änderte sich 1995 mit der schweizerischen Antirassismusstrafnorm, welche die Leugnung von Menschheitsverbrechen (einschließlich Genozide und den Holocaust) unter Strafe stellt und seither mehrfach dafür angewandt wurde. So wie die Strafverfolgung öffentlicher Holocaustleugnung sich als griffige Waffe gegen Neonazis erwies, sollte sie es gegen Auswüchse des türkischen Nationalismus in der Schweiz sein. Ein erster Fall endete 2001 mit dem Freispruch der türkischen Autoren eines Briefs an den Nationalrat, der jeglichen Genozid abstritt. Immerhin monierte das Urteil Leugnung, Relativierung und bornierten Nationalismus einschlägig sozialisierter Kreise, aus denen die Autoren stammen. Zudem machte es deutlich, dass die Judikative einer Aussage der Legislative zum Sachverhalt Armeniergenozid bedurfte. Diese erfolgte mit einem Postulat des Nationalrats am 15. Dezember 2002 : „Der Nationalrat anerkennt den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915.“16 Danach begann die Justiz die Strafnorm mehrfach anzuwenden, was zweimal zu einer durchs Bundesgericht bestätigten Strafe führte.
15 Rebetez, „Nouvelle résistance au mémorial du génocide arménien à Genève“. RTS, 09.12.2014 : https:// www.rts.ch/info/regions/geneve/6369653-nouvelle-resistance-au-memorial-du-genocide-armenien- a-geneve.html, letzter Zugriff : 09.02.2020 ; Gianora, „Dix ans plus tard, le mémorial du génocide arménien inauguré à Genève“. RTS, 13.04.2018 : https://www.rts.ch/info/regions/geneve/9484821-dixans-plus-tard-le-memorial-du-genocide-armenien-inaugure-a-geneve.html, letzter Zugriff : 09.02.2020. 16 Zu diesem Postulat Vaudroz, siehe https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft ?AffairId=20023069, letzter Zugriff : 09.02.2020. Zur Geschichte der Anerkennung des Armeniergenozids in der Schweiz, siehe Zwahlen, Völkermord an den Armeniern. Zu den Prozessen wegen Leugnung des Armeniergenozids, siehe Gesellschaft Schweiz-Armenien : http://www.armenian.ch/ index.php ?id=saa_denial&L=-1%27%22, letzter Zugriff : 09.02.2020.
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Abb. 3 : Les Réverbères de la Mémoire, Park Trembley, Genf. Foto : © Sandra Pointet
Der prominenteste Fall ist derjenige des Ultranationalisten Doğu Perinçek, der sich zwar als antiimperialistischer Linker ausgibt, aber dennoch der gegenwärtigen Regierung in Ankara nahesteht. Die Zeitschrift seiner Kleinpartei in der Türkei hetzt seit Jahren mit gravierenden Folgen gegen Akademiker und Menschenrechtler, die den Armeniergenozid ansprechen. Als Mitglied des aus Ankara und Nordzypern unterstützten internationalen „Talat Pascha-Komitees“ reiste Perinçek 2005 in die Schweiz mit dem Ziel, in öffentlichen Reden vor türkischem Diasporapublikum die „internationale Lüge“ des Armeniergenozids zu denunzieren und die schweizerische Antirassismusstrafnorm zu demontieren. Prompt wurde er angeklagt und von einem Bezirksgericht, schließlich vom Kantons- und Bundesgericht zu einer Geldstrafe verurteilt. Die schweizerischen Gerichte hatten sich eingehend auch in die historische Materie eingearbeitet und dafür internationale Experten mit aktuellem Forschungswissen aufgeboten. Zwar war Perinçek 2013 für kurze Zeit in der Türkei als „Führer einer terroristischen Organisation“ inhaftiert, aber er wurde dennoch von Ankara in seinem Revisionsbegehren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unterstützt. Dieser sprach ihn 2014 in der Kleinen und 2015 in der Großen Kammer frei.17 17 Die Urteile sind einsehbar auf https://hudoc.echr.coe.int, letzter Zugriff : 09.02.2020.
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In ihrem Urteil beharrte eine Mehrheit der Richter auf der Meinungsfreiheit des Privatmanns Perinçek, während eine große Minderheit sich in einer dezidierten separaten Meinungsäußerung dagegen aussprach. Wohl entscheidend war die Richterin aus der Schweiz, die von Anfang an den bundesgerichtlichen Entscheid im Richterkollegium in Straßburg nicht verteidigte. Das Urteil des EGMR stieß viele mit der Materie Vertraute, darunter Menschenrechtler in der Türkei, vor den Kopf. Auch Vertreter der Rechtswissenschaften hielten ihn höchst problematisch. Immerhin enthielt die Begründung der Großen Kammer nicht mehr die massiven Mängel der auf dürftigem Wissensstand der frühen 1980er-Jahre verbliebenen historischen Ausführungen der Kleinen Kammer. Das Urteil des EGMR verlieh Perinçek und seinem Kreis in der Türkei und in der türkischen Diaspora gewaltigen Auftrieb. Es schwächte hingegen die im europäischen Vergleich progressive schweizerische Antirassismusstrafnorm, die sich dadurch auszeichnet, dass sie bei der Leugnung von Menschheitsverbrechen universal angewandt wird.
Den Nahen Osten einbeziehen – das Ende der Epoche nach 1945 Dieses Essay reflektiert mit Beispielen aus der Schweiz kritisch über öffentliches Gedenken nach dem Ende der von den USA angeführten „Ära nach 1945“. Es stuft diese als geschichtspolitisch eurozentrisch ein. Die Verortung der Gegenwart jenseits der „Ära nach 1945“ geht mit dem Befund einher, dass öffentliche Erinnerung im Europa des 20. Jahrhunderts an der Amnesie der eng mit Europa verknüpften modernen nahöstlichen Gewaltgeschichte gekrankt hatte. Deutschland, der Verbündete der osmanischen Türkei in den 1910er-Jahren, anerkannte erst 2016, nach einem Jahrhundert offizieller Leugnung, den Völkermord an den Armeniern im Bundestag. Es wäre weltfremd zu meinen, die ab 1915 in Diplomatie, Innenpolitik, Universitäten und der Gesellschaft eingeübte Völkermordleugnung hätte Deutschland nicht massiv geprägt. Die USA, Vorreiterin öffentlichen Holocaust-Gedenkens im Westen, anerkannte den Armeniergenozid 2019. Bevor Abgeordnete dies im Kongress am 29. Oktober 2019 mit überwältigendem Mehr taten (der Senat einstimmig am 12. Dezember 2019), verliehen sie ihrer Scham darüber Ausdruck, dass auch die USA aus diplomatischer Rücksicht jahrzehntelang Leugnung passiv oder aktiv unterstützt und damit historisches Gedenken verfälscht hatte. Eine analoge, besonders wirksame Interessenverstrickung mit der Türkei trifft auf Regierungen und Knesset in Israel sowie – bis Ende des 20. Jahrhunderts – vielerlei jüdische Lobbygruppen zu.18 18 Jüngste jüdische Aufarbeitungen des Themas : Baer, Sultanic Saviors und und Bali, Türkiye’de Holokost.
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Die Verstrickung bezieht sich auch auf den Begriff „Einzigartigkeit des Holocaust“. Ankara nutzte ihn zum Zweck, einen anderen Genozid zu leugnen. Den diplomatischen Spielraum für missbräuchliche Erinnerungspolitik hat westliche Interessenpolitik geschaffen. Es erstaunt nicht, dass Seilschaften ändern, wenn in der Geschichtspolitik Interessen statt Wahrheiten überwiegen. Heute aktuell sind Statements des Präsidenten Erdogan, Israel verübe angeblich Genozid in Palästina, oder Genozid gebe es schlechthin nicht durch oder unter Muslimen. Nur Islam- und Türkenhasser könnten das Gedenken an einen Armeniergenozid einfordern. Sein Kampf gegen „Islamophobie“ geht mit Sympathie und Unterstützung für radikale Dschihadisten einher, was bis 2015 offen auch den „Islamischen Staat“ einschloss.19 Ein Gedenken mit universalem Anspruch muss sich konstruktive Kritik gefallen lassen können – auch die öffentliche Erinnerung an den Holocaust und damit verknüpfte Geschichtspolitiken. Politisch und gesellschaftlich konstruktive Ziele gerieten im späten 20. Jahrhundert ins Hintertreffen gegenüber dem Sog öffentlicher Ächtung des Bösen. Nicht die Bejahung eines bien commun, sondern die negativen Referenzen von Nationalsozialismus und Holocaust bestimmten die Werteskala und die politische Abstempelung jeweiliger Gegner. Wirtschaftlicher Liberalismus konnte den Mangel an bien commun nicht beheben. Dieses Defizit der Ära nach 1945 war im Nahen Osten besonders augenfällig. Denn anders als gegenüber Europa erwiesen sich die Westmächte dort nie als verlässlich konstruktiv. Gemeinsam mit ihren türkischen, saudischen und (bis 1979) iranischen Verbündeten behandelten sie Demokratie und die 1948 in der UNO erklärten Menschenrechte als vernachlässigbare Größen. Dieser Sachverhalt schadete dem aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Narrativ von Gut und Böse. Der Aufbruch von 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer erwies sich viel weniger aufbauend für den Nahen Osten als für Europa. Er führte daher, anders als von einigen Zeitgenossen erwartet, in keiner Weise zum finalen Durchbruch einer liberalen amerikanischen Nachweltkriegsära. Die Fixpunkte der Ära nach 1945 traten kurz nach Ende des Kalten Kriegs immerhin nochmals hell in Erscheinung. Gleichzeitig mit einer Sternstunde öffentlicher Holocaust-Erinnerung und, soweit möglich, Wiedergutmachung lief in den 1990er-Jahren ein von liberalem Optimismus getragener, aber vor Ort beidseits ungenügend verankerter Palästina-Friedensprozess ab. Dieser und seine Prinzipien sind inzwischen fast abgestorben. Anfangs der 2020er-Jahre lie19 Der IS begann 2014 einen Genozid an Jesiden und an verbliebenen Resten orientalischer Christen zu verüben und replizierte dabei regionale Muster des Völkermords im Ersten Weltkrieg. An identischen Schauplätzen in Mesopotamien organisierte er Massaker, Massenhinrichtungen sowie öffentliche Sklavenmärkte.
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gen sowohl das Ende der zeitgeschichtlichen Ära nach 1945 als auch der Aufbruchs periode nach 1989 bereits mehrere Jahre zurück. Heute sehen sich westliche Selbstgewissheiten, politische Rezepte und Begriffe historischer Gerechtigkeit der Ära nach 1945 durch nahöstliche Realitäten tief erschüttert. Aus der Rückschau betrachtet, waren die Referenzen der globalen Ära nach 1945 unter US-amerikanischer Ägide fragil. Vor allem wurden sie von ihren Trägern nur selektiv ernstgenommen. Seit Ende des Kalten Kriegs hat sich der weltpolitische Krisenfokus von Europa zum Nahen Osten verschoben, und mit ihm Wahrnehmungen moderner Geschichte und Opfergruppen. Diese Entwicklung hat sich mit den extrem gewalttätigen 2010er-Jahren in Syrien, Irak und Jemen und dem türkischen Absturz in eine islamistische Autokratie noch verstärkt. Neue Narrative sind im Entstehen, aus denen neue Inhalte und Formen des Gedenkens erwachsen, die der Gewaltgeschichte des modernen Nahen Ostens gerecht werden müssen. Unumstößliches Kriterium für neue Meisternarrative ist, dass sie die Fakten und singulären Ereignisse integrieren, die zur okzidentalen „Meistererzählung nach 1945“ vom Zivilisationsbruch Auschwitz und von der Befreiung Europas von Hitlerdeutschland gehört haben. Es geht heute darum, am Postulat universalen Gedenkens festzuhalten, auch wenn ein universaler Gedächtnisraum utopisch erscheint.
Epilog : „Gedächtnisraum Greater Europe“ Leitender Gedanke in diesem Essay ist, dass anerkannte Wahrheit die Voraussetzung öffentlichen Gedenkens ist und den Kern historischer Gerechtigkeit im Fall von Menschheitsverbrechen ausmacht. Dies ist das den Opfern oder ihren Nachfahren geschuldete immaterielle Minimum. Die Möglichkeit auch materielle Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung einzufordern, beschränkt sich in der Geschichte auf Fälle, in denen nicht allein die erfolgte symbolische Anerkennung, sondern auch die bestehenden nationalen und internationalen Machtverhältnisse dazu Hand bieten. Immerhin bedeutet das postulierte immaterielle Minimum die freimütige Vergegenwärtigung und Anerkennung vergangenen Unrechts im öffentlichen Raum. Nur schon sich dafür einzusetzen wird in vielen Staaten von repressiven Regimen behindert und bestraft. Daher besteht fast überall in der nachosmanischen Welt eine notorische Kluft nicht nur zwischen verschiedenen nationalen Geschichtsdarstellungen, sondern auch zwischen öffentlicher Geschichte und privater oder gruppenspezifischer Erinnerung, die im Unterschied zu Europa meist bis zum Ersten Weltkrieg zurückreicht. Ein neues Verständnis und Erinnern moderner Geschichte des Nahen Ostens ist überfällig. Teile von dessen jeweils aktueller Gewaltgeschichte sind zwar in den Me-
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dien allgegenwärtig, aber geschichtspolitische Diktate verunmöglichen in den meisten nachosmanischen Ländern eine freimütige und akkurate öffentliche Gedenkkultur zu erlebter Massengewalt. Umso klarer muss Gedenken in Europa möglich sein ; umso deutlicher muss es geschichtspolitische Diktate und Verzerrungen abwehren. Denn nahöstliche Gewaltgeschichte betrifft es direkt. Die nachhaltige Manipulation öffentlicher Erinnerung reicht im Nahen Osten des 20. Jahrhunderts auf das protofaschistische Regime der Jungtürken der 1910er-Jahre zurück. Da der Vertrag von Lausanne den Sieg der jungtürkischen Strömung verbürgte (die Kemalisten waren vormalige Jungtürken), trug er grundlegend dazu bei, in der nachosmanischen Welt Gedenkkultur, die ihren Namen verdient und universale Referenzen kennt, abzuwürgen. Dank ihrer Nähe zu diesem Geschehen, seinen Akteuren und vor allem auch seinen Opfern, bietet die Schweiz gute Anhaltspunkte für den „Gedächtnisraum Greater Europe“, um den es hier gehen muss. Die Frage ist, ob sie trotz der fragwürdigen EGMR-Urteile von 2014/15 den Mut aufbringt, ihren universalen strafrechtlichen Ansatz weiterzuverfolgen. Dass europäische Institutionen dafür noch nicht bereit sind, haben die EGMR-Urteile und ihre Begründungen bestätigt. Vielleicht würden sie heute anders ausfallen, zumal inzwischen Deutschland und die USA den Armeniergenozid offiziell anerkannt haben und auch für Laien die Agitation Perinçeks im Dienst repressiver türkischer Geschichtspolitik zu Tage liegt. Nahöstliche Entwicklungen werden die europäische Zukunft noch stärker bestimmen, als sie es bereits tun. Konkurrierende, zum Teil ganz gegenläufige Geschichtserzählungen bestimmen heute den Medienkonsum und viele Moscheepredigten in Europa. Sie wirken sich auf den öffentlichen Diskurs und schulischen Geschichtsunterricht aus. Das sind triftige Gründe dafür, dass öffentliches Holocaust- und Shoah-Gedenken in Europa den Armeniergenozid vollwertig einbezieht. Denn er ging dem Holocaust nicht nur zeitlich, sondern logisch und – via Lausanner Vertrag – modellhaft voraus. Vor allem aber steht er für den exterminatorischen Umgang mit Minderheiten im modernen Nahen Osten selbst. Er, nicht der Holocaust, betrifft nahöstliche Muslime und deren Geschichte unmittelbar. Auch deshalb ist Gedenken an den Armeniergenozid im multikulturellen Europa des 21. Jahrhunderts unabdingbar.
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Walter A. Stoffel
Wahrheit und Negationismus im Recht und im Film
Law and film are confronted with the „truths“ of the world, nations, society and individuals, partly to bring them to light, partly to hide them and partly to help them to victory. Is denial of the Holocaust an opinion or a lie ? In the courtroom, the judge decides on this question and thus on the image of reality that we hold of an event that we have not experienced ourselves. In cinema the filmmaker recreates the past event with moving pictures. In the former case, the judge‘s verdict is binding, the latter gives us a representation of the past that we feel is realistic. How do these two „worlds“ relate to each other ? A revealing example is the legal dispute between the Holocaust denier David Irving and the Holocaust researcher Deborah Lipstadt and Mick Jackson‘s movie Denial about this trial. The litigation and the film serve as a basis for the considerations below. Recht und Film sind mit den „Wahrheiten“ der Welt, der Nationen, der Gesellschaft und der Einzelpersonen konfrontiert, teilweise, um sie ans Licht zu bringen, teilweise, um sie zu verbergen und teilweise, um ihnen zum Sieg zu verhelfen. Ist die Leugnung des Holocaust eine Meinung oder eine Lüge ? Im Gerichtssaal entscheidet der Richter über diese Frage und damit über das Abbild der Wirklichkeit, welches wir von einem Ereignis hegen, das wir nicht selber erlebt haben. Im Kino stellt der Filmemacher das vergangene Ereignis mit bewegten Bildern nach. Im ersteren Fall kommt es zu einem verbindlichen Urteil, im anderen zu einer Darstellung der Vergangenheit, die wir als realistisch empfinden. Wie verhalten sich diese beiden „Welten“ zueinander ? Ein aufschlussreiches Beispiel bietet der Rechtsstreit zwischen dem Holocaust-Leugner David Irving und der Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt und Mick Jacksons Film Denial über diesen Prozess. Der Rechtsstreit und der Film dienen als Grundlage für die nachstehenden Überlegungen.1
1 Ich danke Lucie Bader, Medienwissenschafterin, für die zahlreichen Hinweise, meinen Kollegen Samantha Besson, Arnold Rusch und Jacques Picard für die Anregungen in der Podiumsdiskussion zu Denial im Rahmen der Vorstellung «Recht im Film» in Fribourg sowie meiner Assistentin Alexandra Vraca, MLaw.
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Der Fall Irving gegen Lipstadt David Irving ist ein britischer Autor. Der 1938 geborene Autodidakt publizierte eine Reihe von Büchern über den Zweiten Weltkrieg. Er vertrat die Ansicht, dass Hitler nichts von den Konzentrationslagern wusste, sondern dass die Vernichtung der Juden das Werk Görings und Himmlers war. Irving wurde dabei mehr und mehr zu einem Holocaust-Leugner, insbesondere nachdem er sich der These des sog. Leuchter-Berichts angeschlossen hatte, wonach das Zyklon B in Auschwitz für Desinfektionen verwendet worden sei, nicht für die Massentötung von Juden. Deborah Lipstadt ist eine amerikanische Historikerin. Die 1947 geborene New Yorkerin ist Inhaberin des Lehrstuhls „Modern Jewish and Holocaust Studies“ an der Emory Universität in Atlanta. In ihrem 1993 erschienenen Buch Denying the Holocaust : the growing assault on truth and memory und in diversen öffentlichen Vorträgen bezeichnete sie Irving als Holocaust-Leugner. Irving erblickte in dieser Bezeichnung eine Verleumdung (libel), die ihn beruflich und persönlich ruinierte oder zu ruinieren drohte. Er reichte gegen Lipstadt und ihren Verleger Penguin Books Ltd in London Klage auf Schadenersatz ein. Der Prozess fand vom 11. Januar bis zum 15. März 2000 statt und stieß auf internationale Beachtung. Richter Charles Gray wies die Klage Irvings mit Urteil vom 11. April 2000 ab ; die dagegen erhobene Beschwerde hatte keinen Erfolg. Das erstinstanzliche Urteil (Trial Judgement) erwuchs damit in Rechtskraft.2 In seinem 349 Seiten umfassenden Urteil kam Richter Grey zum Schluss, dass Irving die geschichtlichen Fakten bewusst verdreht hatte, um seine persönlichen Überzeugungen als Holocaust-Leugner, Antisemit und Rassist zu stützen. Die reputationsschädigenden Ausführungen, die Lipstadt über Irving gemacht hatte, waren daher begründet, unter anderem, weil die historischen Fakten verzerrt dargestellt wurden : The charges which I have found to be substantially true include the charges that Irving has for his own ideological reasons • persistently and deliberately misrepresented and manipulated historical evidence ; • that for the same reasons he has portrayed Hitler in an unwarrantedly favorable light, principally in relation to his attitude towards and responsibility for the treatment of the Jews ; that he is an active Holocaust denier ; that he is anti-semitic and racist and that he associates with right wing extremists who promote neo-Nazism. (Trial Judgement, Rdz. 13.167 ; Aufzählungszeichen vom Autor) 2 Vgl. David Irving c. Penguin Books Ltd and Deborah Lipstadt ; Trial Judgment, 11 April 2000.
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Abb. 1 : Deborah Lipstadt (Rachel Weisz) in einem Seminar mit Studierenden. Foto : Laurie Sparham – © 2016 Bleecker Street (IMDb)
Deborah Lipstadt verfasste 2005 unter dem Titel History on trial : my day in court with David Irving ein Buch über diesen Prozess. Aufgrund dieses Buches und aufgrund von Interviews mit den Beteiligten wurde im Jahre 2016 der Film Denial gedreht. Regie führte Mick Jackson, das Drehbuch stammte von David Hare, die Hauptrollen spielten Rachel Weisz (Deborah Lipstadt), Andrew Scott (Anthony Julius, Sollicitor für Deborah Lipstadt), Tom Wilkinson (Richard Rampton, Barrister für Deborah Lipstadt) und Timothy Spall (David Irving). Sowohl der Prozess als auch der Film betreffen Fakten und Leugnungen des Holocaust. Im Folgenden sollen Prozess und Film als zwei Instrumente der Vergangenheitsbewältigung in einer Gesellschaft verglichen werden. Dabei möchte ich darlegen, dass die beiden Instrumente sich sowohl ergänzen als auch bedingen. Beide „beweisen“ Vergangenheit, beide sind für sich allein genommen unvollständig, zusammen aber ergeben sie ein gutes „Bild“.
Der Beweis geschichtlicher Fakten im Recht Die Darstellung geschichtlicher Fakten und die Äußerung politischer Meinungen lassen sich nur schwer trennen. Normalerweise gilt in einer demokratischen Gesell-
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schaft für politische Meinungen die Redefreiheit. Es spielt keine Rolle, ob die Rede wahr ist oder nicht. Moralisch sind Lügen verpönt, aber das Recht verbietet Lügen nicht. Unwahre Reden sind daher nicht strafbar. Aber die Redefreiheit gilt nicht absolut. Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel dann, wenn andere Personen durch die Unwahrheit zu Schaden kommen. Das trifft zu im Vertrags- oder im Arbeitsrecht, im Recht der Finanzmärkte und im Recht des Konsumentenschutzes. Der Grund liegt im Schutz des Vertrauens, das die schwächere Partei in die Ausführungen der stärkeren Partei haben darf. Die Unwahrheit kann in derartigen Konstellationen zu einer Schadenersatzpflicht führen. Das Recht und die Verpflichtung zur Wiedergutmachung eines eventuellen Schadens bilden eine sogenannte zivilrechtliche Sanktion. Das steht im Gegensatz zu einer strafrechtlichen Sanktion, welche ein Verhalten (die Lüge) als solches mit einer Strafe ahndet. Strafrechtliche Sanktionen sind bei der reinen Lüge an sich ausgeschlossen. Wie erwähnt liegt der Grund in der Schwierigkeit, Meinungen von Lügen zu unterscheiden. Strafbar wird die Unwahrheit aber dann, wenn qualifizierende Merkmale hinzutreten. Dies ist der Fall, wenn jemand arglistig hinters Licht geführt und dadurch an seinem Vermögen geschädigt wird (Betrug), bei einer schriftlichen Lüge in Form einer Urkunde (Urkundenfälschung) oder eben bei einer Lüge, welche den Ruf eines anderen schädigt (üble Nachrede und Verleumdung). Um Letzteres ging es im vorliegenden Fall. Die Leugnung geschichtlicher Tatsachen ist somit für sich allein genommen nicht strafbar. Zu bestreiten, dass Cäsar gelebt hat, zieht keinerlei rechtliche Konsequenzen nach sich. Weshalb ist das bei der Leugnung des Holocaust anders ? Der Grund liegt nicht im Wahrheits- oder Unwahrheitsgehalt der Aussage, sondern im Aufruf zum Hass und zur Diskriminierung gegen eine Bevölkerungsgruppe, der damit verbunden ist. Das Recht behilft sich hier mit einem qualifizierenden Element, das in einem verpönten Verhalten wie dem Rassismus oder der Aufhetzung zu Gewalt besteht. Das charakterisierende Andere liegt nicht in der Unwahrheit der Aussage, sondern im Verhalten, welches das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft gefährdet. Dafür bedarf es einer besonderen Strafnorm. In allen Rechtsordnungen und auch im schweizerischen Recht besteht diese Norm in einem Verbot der üblen Nachrede (Art. 173 StGB) oder der Verleumdung (Art. 174 StGB). Die üble Nachrede besteht darin, dass jemand eines „unehrenhaften Verhaltens“ bezichtigt wird. Als unehrenhaft gelten „Tatsachen, die geeignet sind, den Ruf zu schädigen“. Wer eine solche Aussage macht, muss beweisen können, dass die vorgebrachte oder weiterverbreitete Äußerung der Wahrheit entspricht, oder dass er ernsthafte Gründe hatte, sie in guten Treuen für wahr zu halten. Gelingt dieser Beweis nicht, ist die üble Nachrede strafbar und wird mit einer
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Geldstrafe bedroht. Die Bestimmung im Schweizerischen Strafgesetzbuch (StGB) lautet wie folgt : Art. 173 Üble Nachrede 1. Wer jemanden bei einem andern eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen, beschuldigt oder verdächtigt, wer eine solche Beschuldigung oder Verdächtigung weiterverbreitet, wird, auf Antrag, mit Geldstrafe bestraft. 2. Beweist der Beschuldigte, dass die von ihm vorgebrachte oder weiterverbreitete Äusserung der Wahrheit entspricht, oder dass er ernsthafte Gründe hatte, sie in guten Treuen für wahr zu halten, so ist er nicht strafbar.
Eine Unterart der üblen Nachrede ist die Verleumdung. Wenn der rufschädigende Vorwurf nicht nur unwahr ist, sondern der Autor ihn wider besseres Wissen erhebt, wird die üble Nachrede zu einer Verleumdung, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden kann. Das ist schwieriger nachzuweisen, weil ein Vorgehen wider besseres Wissen ein subjektives Element betrifft. Aber sowohl bei der üblen Nachrede als auch bei der Verleumdung kann der Beschuldigte sich entlasten, wenn seine Aussage wahr ist. Das entspricht im Wesentlichen dem libel des englischen Rechts. Die Unwahrheit allein genügt somit nicht, es braucht einen rufschädigenden Charakter des unwahren Vorwurfs. Geschützt ist nicht die Wahrheit, sondern die Ehre und der gute Ruf. Jemanden als Lügner zu bezeichnen, ist rufschädigend. Wenn jedoch nachgewiesen werden kann, dass wirklich eine Lüge vorliegt, ist die Rufschädigung nicht strafbar. Obwohl somit die Unwahrheit nicht genügt, spielt die Wahrheit insofern eine Rolle, als die Aussage nicht bestraft werden darf, wenn der erhobene Vorwurf tatsächlich zutrifft. Besteht die Lüge darin, den Holocaust zu verneinen, muss somit nachgewiesen werden, dass der Holocaust stattgefunden hat und die rufschädigende Bezeichnung als Lügner somit zutreffend ist. Dieser Nachweis war Gegenstand des Prozesses, und der Film macht ihn zum Thema.
Die geschichtliche Wahrheit im Film Der Film Denial zeichnet vordergründig den tatsächlich abgelaufenen Prozess David Irving v. Penguin Books Ltd and Deborah Lipstadt nach. Die öffentlichen Verhandlungen dauerten acht Wochen, und die Ausarbeitung des Urteils beanspruchte weitere
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Abb. 2 : David Irving (Timothy Spall) im Gerichtssaal. Foto : Laurie Sparham – © 2016 Bleecker Street (IMDb)
vier Wochen (was sehr wenig ist). Sie werden im Film auf 109 Minuten reduziert. Der Regisseur (Mick Jackson) und sein Drehbachautor (David Hare) konzentrieren sich auf den Beginn des Verfahrens durch Zustellung der Klage, die Vorbereitung des Prozesses durch die Anwälte, die Verhandlungen vor dem Richter, und schließlich die Urteilsverkündigung und den Triumph. Gleichzeitig zeigt der Film aber auch (vielleicht sogar vor allem), dass der Holocaust offensichtlich stattgefunden hat. Wie macht er das ? Um die Frage zu beantworten, bedarf es einer Nacherzählung des Films. Der Film beginnt mit einem öffentlichen Vortrag von Deborah Lipstadt (Rachel Weisz), an welcher David Irving (Timothy Spall) als Zuhörer teilnimmt und die Historikerin fragt, weshalb sie das wissenschaftliche Gespräch mit ihm verweigere. Lipstadt lässt sich provozieren und bezeichnet Irving als „Lügner“. Nach dem Vorspann sehen wir Deborah Lipstadt, die von ihrer Jogging-Tour zurückkehrt und im Briefkasten die Verleumdungsklage Irvings vorfindet. Sie bespricht sich mit Freundinnen und Kollegen und entschließt sich, den Prozess durchzustehen und es auf ein Urteil ankommen zu lassen. Die Bilder zeigen sonnige und warme Tage in Atlanta. In London angekommen, beginnen die Besprechungen mit den Anwälten, zuerst mit dem Sollicitor Anthony Julius (Andrew Scott) und seinen Mitarbeitern und dann mit dem Barrister Richard Rampton (Tom Wilkinson). Lipstadt, anfangs ziemlich
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Abb. 3 : Barrister Richard Rampton (Tom Wilkinson) in Auschwitz Foto : Laurie Sparham – © 2016 Bleecker Street (IMDb)
selbstsicher, muss bald den Verteidigungsplan der englischen Anwälte akzeptieren. Diese schlagen nicht vor, den Holocaust als solchen zu beweisen, etwa durch Befragung von überlebenden Opfern, sondern das Verfahren auf die Person Irvings zu konzentrieren, um seine Glaubwürdigkeit als Historiker infrage zu stellen. Der Barrister bittet Lipstadt nur, ihn nach Auschwitz zu begleiten, was diese annimmt, ohne es zu verstehen. Wie kann man nur Auschwitz beweisen wollen ? Die Bilder sind jetzt in dunklen Blau- und Grautönen gehalten. Innenaufnahmen herrschen vor : die Büros des Sollicitors, in welchem jüngere Anwälte, Historiker und andere Experten auf Lipstadt einreden ; die dunkle Klause des Barristors, der in seiner Freizeit mit Fliegen Fische fängt und zur Besprechung eine Flasche Wein in Plastikbechern offeriert ; die regennassen Londoner Straßen, auf denen Deborah Lipstadt wegen der Zeitverschiebung ihre Jogging-Runden in den schlaflosen Nächten dreht. Darauf folgt die Prozessvorbereitung in Auschwitz. Auschwitz steht im Zentrum des Holocaust und die Gaskammern bilden das Symbol des Vernichtungslagers. Die Strategie des Anwaltes ist es, das Thema der historischen Wahrheit auf die Existenz der Gaskammern zu reduzieren. Für den Zuschauer ist der Holocaust greifbar in den mächtigen Bildern aus Auschwitz, dem blau-grauen und nebelverhangenen Gelände, dem Stacheldraht, den Baracken, den zerstörten Gaskammern, begraben unter den eingestürzten Dächern.
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Für die Zuschauer ist der Beweis erbracht. Aber vielleicht nicht für den Prozess. Tatsächlich gibt es keine Bilder der Gaskammern in Funktion. Die Nazis haben das Fotografieren nicht zugelassen, wie der Historiker erklärt, der im Film durch Auschwitz führt. Und auch die Löcher in der Decke, durch welche das Gas in den Raum gelassen wurde, lassen sich in den Trümmern nicht mehr zeigen. Es könnte somit sein, dass diese Gaskammern nicht der systematischen Vergasung der Lagerinsassen und Juden dienten, sondern für die Desinfizierung der Leichen und für den Schutz der Bewachungstruppen vor Bombardierungen benutzt wurden, wie der Leuchter-Bericht behauptet. Es wird somit darum gehen, die These des anderen Zwecks zu widerlegen. Die Vorbereitung des Prozesses durch den Juristen ist minutiös, aber nicht durchschaubar. Der Barrister Richard Rampston lässt sich nicht beeindrucken von den Bildern des Grauens in Auschwitz, sondern geht unbeirrt unverständlichen Spuren nach. Er schreitet die langen Lagerzäune in gemessenen Schritten ab, während Deborah Lipstadt und die Begleiter auf ihn warten, verständnislos gegenüber der Insensibilität des kühlen Juristen, der mürrische, ja barsche Erklärungen zu seinem Tun abgibt : Wir sind nicht an einer Wallfahrt und wollen nicht wissen, dass es Auschwitz gegeben hat, sondern wie man es beweisen kann. Und es kommt zu kruden Gesprächen, z. B. über den Umstand, dass es für die Tötung von Läusen eine 20-fach höhere Konzentrationen des Gases braucht als für Menschen. Deborah Lipstadt ist entsetzt, aber der Barrister bittet sie, draußen zu warten, um sich zu schonen. Der Film zeigt alsdann die Verhandlungen vor dem Richter. Als Erstes galt es zu vermeiden, dass das Verfahren vor – leicht beeinflussbaren – Geschworenen stattfindet. Das ist nur möglich, wenn beide Parteien auf das Geschworenengericht verzichten und sich auf den Einzelrichter einigen. Es gelingt den Anwälten im Vorverfahren, Irving zu schmeicheln, indem sie sagen, die Geschworenen könnten die subtile historische Argumentation Irvings nicht genügend würdigen : „We should not put before laymen such complex things of history to which Mr. Irving has devoted all his life.“ Irving stimmt zu und verzichtet auf ein Geschworenengericht. Er wird sich selbst verteidigen, ohne Anwälte – ein Fehler. Die Parteien kommen zum Gerichtsgebäude des Londoner High Courts, der aussieht wie eine neugotische Kathedrale. Deborah Lipstadt wird von ihren Anwälten daran gehindert, der sie bestürmenden Presse Auskunft zu geben. Irving sonnt sich im Bad der Menge. Im Gerichtssaal sind wir in einer anderen Welt. Der Richter trinkt im Vorraum seine letzte Tasse Tee, setzt die Perücke auf und schreitet haargenau zur vorgesehenen Zeit in den Raum. Die Weibelin ruft „Court, rise !“. Alle erheben sich und beugen den Kopf, aber nicht Deborah Lipstadt. „I don’t bow, I’m American“. Die Anwälte lassen in der Verhandlung Bild-Simulationen zeigen, die aufgrund von Zeichnungen eines Häftlings erstellt wurden. Wenn Irving die noch vorhandenen Lö-
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Abb.4 : Deborah Lipstadt eilt mit ihrem Sollicitor Anthony Julius (Andrew Scott) zum Gericht, dies vor Pressefotografen und TV-Kameras. Foto : Laurie Sparham – © 2016 Bleecker Street (IMDb)
cher in der Wand als normale Entlüftungslöcher erklärt, ist der Barrister in der Lage nachzufragen, weshalb diese Löcher mit Gittern gegen Innen geschützt werden mussten, wenn nur Leichen desinfiziert werden sollten. Und er kann auch nachfragen, wie die bewaffneten Bewachungstruppen im Falle eines Bombardements innerhalb weniger Minuten die 2 ½ Meilen von den Baracken bis zu den Gaskammern zurücklegen konnten. Damit wird schließlich der Beweis erbracht, dass es sich bei Irving’s These nicht um eine Fehlinterpretation historischer Gegebenheiten handelte. Nur die verbissene Absicht, Hitler zu entlasten, und sein Wille, Antisemitismus zu schüren, kann die systematische Interpretation aller Elemente zur Stützung einer vorgegebenen Argumentationslinie erklären. In den Worten Richard Ramptons, der damit en passant eine schöne Definition der Fahrlässigkeit gibt : „Negligence is random in its effects, whereas deliberateness is all one sided.“ Der Beweis gelingt, obwohl keine Holocaust-Überlebenden vor Gericht zu Wort gekommen sind. Der Zuschauer wird später erfahren, dass die Anwälte die Konfrontation mit Überlebenden vermieden, damit Irving sie nicht wegen kleiner Unstimmigkeiten der Lächerlichkeit preisgeben kann. Die Strategie geht auf, der Holocaust ist bewiesen, das Handeln wider besseres Wissen dargetan. Deborah Lipstadt durfte und darf den Autor dieser Geschichts-
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darstellung als Lügner brandmarken. Die Zuschauer sind ganz bei ihr und freuen sich, dass die Wahrheit obsiegte. Deborah Lipstadt selbst ist erleichtert, aber nicht überrascht, wenn sie am Schluss – jetzt in einem lichtdurchfluteten Saal – der Presse Auskunft gibt und ihren Mitstreitern dankt.
Vergleich Was sagen uns die beiden Darstellungen historischer Wahrheiten, die rechtliche und die filmische ? Zuerst zur rechtlichen Beurteilung, dann zur filmischen Darstellung und schließlich zur Rolle der Wahrheit : a) Das Recht ist durchsetzbar
Für den Laien ist irritierend, dass der Nachweis eines an sich zweitrangigen Elementes rechtlich ausschlaggebend war, um den Prozess über die Existenz des Holocaust zu gewinnen. Es ist nicht das Zeugnis der Überlebenden des Horrors, welches den Nachweis erbringt, obwohl doch die Leiden dieser Zeugen die „wirkliche“ Wirklichkeit waren. Es sind die Gaskammern. Aber dieser Beweis gilt. Die Rolle des Rechts erscheint somit als zwiespältig. Einerseits obsiegt die Wahrheit. Anderseits muss eine historische Evidenz mit teilweise haarspalterischen Argumenten nachgewiesen werden. Lipstadt wusste, dass sie „Recht“ hatte, aber sie muss sich der Dienste eines trickreichen Anwaltes versichern, um in einer elementaren Frage Gerechtigkeit zu erhalten. Es genügt nicht, Recht zu haben, man muss auch Recht bekommen. Und wenn man es bekommen hat, ist es nur „recht“ und billig. Daher werden die Anwälte, auch wenn sie ihren Klienten zum Recht verhelfen, oft nicht wirklich geschätzt. Lipstadt erwähnt sie am Schluss, wenn sie allen dankt, mit keinem Wort. Das erinnert an die Art und Weise, in welcher der berühmte „legal realist“ Karl Lewellyn in den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts den angehenden Jus-Studenten an der New Yorker Columbia University ihren künftigen Beruf schilderte : Der Klient, der gewinnt, ist froh, aber gleichzeitig schimmert unterschwellig der Vorwurf durch, dass der Anwalt ihn mit List und Tücke über die Runden bringe („…[the] lawyer seems to be putting a high cause over by some piddling trick“).3 Dazu kommen die Kosten rechtlicher Verfahren. Die Verhandlungen im Lipstadt-Prozess dauerten acht Wochen. Irving hatte am Ende 2 Millionen Pfund Schulden und war wirtschaftlich ruiniert. Lipstadt wäre bei umgekehrtem Ausgang in einer ähn3 Lewellyn, The Bramble Bush, New York 1930 / 1951 / 1969, S. 169 (chapter X).
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Abb. 5 : Deborah Lipstadt (Rachel Weisz) im Gerichtssaal mit Barrister Richard Rampton (Tom Wilkinson) im Vordergrund. Foto : Laurie Sparham – © 2016 Bleecker Street (IMDb)
lichen Lage gewesen. Ihre Anwälte stellten ein ganzes Team von Historikern ein, um die Widersprüche in Irvings geschichtlichen Darstellungen zu suchen und aufzuzeigen. Sie konnte den Prozess nur dank vieler Spenden durchstehen. Die jüdische Gemeinde in London riet ihr sogar, wenn immer möglich einem „settlement“ zuzustimmen. Auch das ist irritierend. Wie kann es sein, dass die Wahrheit über die Wahrheit kostet ? Aber Recht ist nötig. Holocaust-Leugner müssen in einer freien und demokratischen Gesellschaft als solche gebrandmarkt werden können. Nur die hinter dem Recht stehende Staatsgewalt kann das garantieren. Die Durchsetzbarkeit ist die Macht des Rechts. b) Der Film ist erfahrbar
Den Zuschauern im Film sind diese Widersprüche kaum bewusst. Sie haben die Bilder gesehen und sind überzeugt, dass es den Holocaust gab. Und sie haben die Zeugen gesehen, die vor Gericht nicht zur Sprache kommen durften. Die Holocaust-Überlebende mit dem fremdländischen Akzent und der Auschwitz-Tätowierung am Unterarm, die Lipstadt anfleht, vor Gericht aussagen zu dürfen. Sie ging durch die Hölle, aber sie darf nicht sprechen. Die Zuschauer „wissen“ es, und sie spüren es, letzteres vor allem.
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Die Macht der filmischen Erzählung von Denial beruht auf dem klassischen Narrativ des Duells zwischen der Protagonistin und dem Antagonisten. Der Plot personalisiert die Auseinandersetzung zusätzlich, indem er den Holocaust-Leugner als den um Anerkennung ringenden Selfmade-Historiker zeigt, und Lipstadt als die jüdische Historikerin, der es um die historische Wahrheit geht. Irving beklagt sich, dass Lipstadt und ihre Mitstreiter ihn zum Paria gemacht haben, dessen Reputation ruiniert ist und der bei keinem Verlag mehr publizieren kann. Richard Rampton schaut ihn nie an während des ganzen Prozesses, und er macht dies ganz bewusst : „It goes under his skin.“ Selbst am Schluss verweigert er Irving den Handschlag. Dabei macht der Film sich die Umkehrung zunutze, die daraus entstand, dass es nicht Lipstadt war, die Irving wegen Leugnung des Holocaust verklagte, sondern Irving, der Lipstadt verklagte, weil diese ihn als Holocaust-Leugner bezeichnet hatte. Die Klage wurde von Irving offenbar in London angebracht, weil das englische Recht in Sachen „libel“ strenger ist als das amerikanische und nicht nur den Nachweis verlangt, dass die Behauptung nicht stimmt, sondern auch, dass Irving das wusste. Das trifft so nicht zu, wie wir gesehen haben, aber es dramatisiert die Ausgangslage. Der Film zeigt die beinahe kriminalistischen Untersuchungen, welche die Anwälte von Deborah Lipstadt ersinnen, um den Richter von den antisemitischen Absichten des Autors zu überzeugen. Damit wird der Holocaust zum Gegenstand eines Beweises im Prozess („zum Beweis verstellt“) wie irgendeine Behauptung im Gerichtssaal, eine Ungeheuerlichkeit ! Schließlich kann der Film Sehvergnügen und sogar Humor ins Spiel bringen, was die Sache wieder erträglicher macht. Dazu gehören etwa die Spitzen zu den kulturellen Unterschieden zwischen den USA und Großbritannien. Lipstadt kommt laut und siegessicher nach London und will den englischen Anwälten erklären, was Sache ist. Diese schweigen höflich. Und erklären ihr nach einer Weile, ohne mit der Wimper zu zucken, dass das englische Recht eben genau umgekehrt funktioniert. „Tricky, isn’t it ?“ Der Barrister sitzt in einem dunklen Büro, spricht geistreich über Belanglosigkeiten und verlässt das Büro, wenn Lipstadt ihn bittet, seine Taktik offenzulegen. Kann er Deutsch ? Er kenne das Libretto der Zauberflöte, sagt er. Und er hört dann tatsächlich die Zauberflöte, wenn er den Auftritt des nächsten Tages vorbereitet. Aber auch der schrullige Barrister hat Gefühle. Wenn Deborah ihren „fly-fishing and wine drinking Scotsman“ nach dem Besuch ihn Ausschwitz in einer Bar in Krakau fragt, was er denn heute gefühlt habe, antwortet er : „Shame. Wenn ich damals da gewesen wäre, hätte ich vielleicht auch gehorcht.“ Hier greift der Film aus ins Philosophische, und zwar mit einem deutschsprachigen Zitat aus Goethes Tasso : „Der Feige droht dort, wo er sich sicher fühlt“.
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Die Bildhaftigkeit wirkt nachhaltig. Der Film kann damit geschichtliche Erinnerung im eigentlichen Sinne bewirken. Die Emotion ist die Macht des bewegten Bildes. c) Wahrheit im Recht und im Film
Das Recht schützt die Wahrheit nur zusammen mit einem anderen Rechtsgut ; nur wenn dies der Fall ist, muss die Wahrheit bewiesen werden. Der Film macht demgegenüber die Wahrheit erfahrbar. Dazu muss er die Geschichte plausibel darstellen, und zwar emotional plausibel, während die Geschichte für das Gericht historisch wahr sein muss. Das führt zur Frage, ob geschichtliche Wahrheiten durch Gerichte festgestellt werden dürfen. Der Gedanke, dass dies der Fall sein könnte, lässt in einem demokratischen Staat die Alarmglocken läuten, denn das wollen wir gerade nicht. Aber gleichzeitig sind wir überzeugt, dass gewisse Wahrheiten nicht zur Disposition stehen dürfen. Die Filmemacher lassen Deborah Lipstadt im Brustton der Überzeugung sagen : „Not all opinions are equal. There are facts, and there are opinions.“ Das ist in dieser Absolutheit sicher nicht richtig. Wir brauchen nicht an die heutige Diskussion um fake news zu erinnern, um zu erkennen, dass wir Fakten und Meinungen kaum trennen können. Schon vor 20 Jahren war der Richter Charles Grey sich des Problems bewusst. Er äußerte sich in seinem Urteil gleich zu Beginn dazu, indem er seine Beurteilung auf die Überprüfung der geschichtlichen Methode reduzierte. Er führt aus, dass er sich nicht äußere zur Frage, ob es einen Holocaust gegeben habe oder nicht, sondern nur zur Frage, ob Irving die zur Verfügung stehende geschichtliche Evidenz nach den Grundsätzen einer vertretbaren historischen Methode gewürdigt habe : Needless to say, the context in which these issues fall to be determined is one which arouses the strongest passions. On that account, it is important that I stress at the outset of this judgment that I do not regard it as being any part of my function as the trial judge to make findings of fact as to what did and what did not occur during the Nazi regime in Germany. It will be necessary for me to rehearse, at some length, certain historical data. The need for this arises because I must evaluate the criticisms of or (as Irving would put it) the attack upon his conduct as an historian in the light of the available historical evidence. But it is not for me to form, still less to express, a judgement about what happened. That is a task for historians. It is important that those reading this judgment should bear well in mind the distinction between my judicial role in resolving the issues arising between these parties and the role of the historian seeking to provide an accurate narrative of past events. (Trial Judgement, Rdz. 1.3)
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Es ist eine feine Linie, die der Richter hier zeichnet. Tatsächlich ist ein Urteil über die geschichtswissenschaftliche Methodik nicht wirklich möglich, ohne eine Beurteilung der Schlussfolgerungen, die Irving aus seinen Darstellungen gezogen hatte, nämlich dass er Hitler in einem unzutreffend günstigen Licht („an unwarrantedly favourable light“) darstellte, insbesondere mit Bezug auf die Juden und auf seine Verantwortung für die Behandlung der Juden in Nazi-Deutschland. Über diese Wahrheit musste der Richter eben doch richten. Dennoch haben wir gesehen, dass es rechtlich um die Reputation Irvings ging, nicht um die historische Wahrheit als solche. Im Zusammenhang mit dem Holocaust ist das für uns schwer erträglich. In vielen Rechtsordnungen hat der Gesetzgeber den gordischen Knoten durchschlagen und die Leugnung des Holocaust als solche verboten. Der historische Beweis über die Existenz des Holocaust muss dann vor dem Richter nicht mehr erbracht werden. Das tut auch das schweizerische Strafgesetz in Art. 261bis unter dem Titel Diskriminierung und Aufruf zu Hass : Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder Diskriminierung aufruft (…), wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht, (…), wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Die Bestimmung besteht (erst) seit 1995. Sie wurde damals eingeführt, um den Bei tritt der Schweiz zum Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1965 zu ermöglichen. Die Leugnung von Völkermord und damit auch des Holocaust ist als Mittel der Rassendiskriminierung ausdrücklich verboten.4 Die Leugnung von historischen „Völkermorden“ wird damit zusammengeführt mit dem Schutz der Gleichbehandlung aller Personen unabhängig von „Rasse“ oder „Ethnie“, sodass der gerichtliche Nachweis eines notorischen Völkermordes wie des Holocaust de facto entfällt.
4 Mit der in der heutigen Form zusätzlich im Artikel enthaltenen „sexuellen Orientierung“ hat der Gesetzgeber jetzt den Rassendiskriminierungsartikel auf die Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung ausgedehnt, aber sonst unverändert belassen (Volksabstimmung vom 12. Februar 2020).
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Allerdings löst auch eine solche Bestimmung das Problem der richterlichen Beurteilung historischer Wahrheiten nur beschränkt. Im berühmten Fall Perinçek aus dem Jahr 2008 entschieden schweizerische Gerichte und in letzter Instanz das Bundesgericht ähnlich wie Richter Grey. Doğu Perinçek, ein türkischer Staatsangehöriger, Doktor der Rechtswissenschaften, Politiker, Schriftsteller und Historiker, hatte an drei Vorträgen in der Schweiz das Genozid an den Armeniern als „internationale Lüge“ bezeichnet. Perinçek wurde aufgrund dieser Aussagen wegen der Verletzung der erwähnten Bestimmung über Diskriminierung und Aufruf zu Hass verurteilt. Der von Perinçek angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erblickte in dieser Verurteilung aber eine Verletzung der in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Meinungsäußerungsfreiheit. In seinem Urteil aus dem Jahre 2015 befand er, dass unter den gegebenen Umständen eine derartige Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit nicht gerechtfertigt war. Der Gerichtshof unterstrich, dass keine Armenier-feindlichen Vorfälle in der schweizerischen Vergangenheit vorlagen und dass es an diesbezüglichen Spannungen in der Gesellschaft fehlte, die ein Verbot rechtfertigen könnten. Die Meinungsäußerungsfreiheit war daher höher zu gewichten.5 Der Fall zeigt die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn wir historische Wahrheiten mit rechtlichen Mitteln beurteilen. Wir wollen nicht, dass der Richter den Historiker ersetzt, aber wir wollen auch nicht, dass gewisse „unbestreitbare“ historische Atrozitäten geleugnet werden können. Dazu gehört bei uns sicher der Holocaust. Ob es richtig ist, den Genozid an den Armeniern nicht miteinzuschließen, ist fragwürdig. Aber die divergierenden Urteile des Bundesgerichtes und der Straßburger Richter machen deutlich, dass es im Recht nicht nur um die historische Wahrheit als solche geht, sondern um die Wahrheit im Zusammenhang mit einem anderen Schutzgut, hier dem Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten. Auschlaggebend, wenn auch nicht ausgesprochen, ist dabei die durchaus pragmatische Einschätzung des Gefahrenpotenzials, welches der Leugnung der infrage stehenden Atrozität in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld innewohnt. Dieses Potenzial ist beim Holocaust in Europa sicher größer als beim Genozid an den Armeniern. Im Zusammenhang mit dem Holocaust schreitet das Recht somit ein gegen das Vergessen, gegen das Verharmlosen. Es geht nicht nur um Geschichte und historische Wahrheit, sondern um Erinnerung mit dem (politischen) Ziel, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Dass die Sorge um den latenten Antisemitismus in Europa immer noch sehr ernst zu nehmen ist, zeigte sich gerade jetzt wieder in der Corona-Pandemie. Tobias Stei5 EGMR, Perinçek contre Suisse. 15.10.2015, Beschwerde n° 27510/08 ; BGer, 12. Dezember 2007, 6B_ 398/2007.
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ger, Sektionspräsident des Basler Ablegers der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos), erhob in einem Interview mit dem Journalisten Pelda (Tamedia) gegenüber den Juden den Vorwurf, von der Pandemie zu profitieren, um die Weltbevölkerung zu dezimieren. Er behauptete, dass diese zusammen mit der Rothschild-Dynastie und der Rockefeller-Stiftung zu diesem Zweck einen Microsoft-Chip finanzierten. Er hielt es deswegen nur für gerecht, dass im Gegenzug die Juden zwangsweise sterilisiert würden. Da das Interview in dieser Form nicht publiziert wurde, veröffentlichte Steiger die entsprechenden Passagen unter dem Titel „Schluss mit Lügen und Zensur“ auf der Partei-Homepage. Die Fachstelle Extremismus- und Gewaltprävention (Fexx) reichte daraufhin bei der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft Strafanzeige gegen Steiger und die Pnos ein (NZZ, 23.5.2020). Es ist richtig und wichtig, dass die Rechtsordnung gegen derartige Aussagen mit den Mitteln des Strafrechts einschreitet und seine Durchsetzungsmacht ausübt. Gleichzeitig ist es bedenklich, dass diese Aussagen nicht zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit geführt haben. Vielleicht bräuchte es einen Film !
Schluss : Der Akt der Erinnerung Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass das Recht kein Verfahren über historische Wahrheiten darstellt. Aber es kann ein Verfahren über geschichtliche Fakten zur Verfügung stellen, wenn damit ein Akt der Erinnerung verbunden ist, mit dem Willen, eine Wiederholung zu verhindern. Das rechtliche Verfahren ist beschränkt, weil es punktuell, selten und aufwendig ist. Aber dass es stattfand oder stattfinden könnte, ist wesentlich. Auch der Film baut auf diesem Umstand auf, verleiht ihm aber darüber hinaus die starke emotionale Dimension, die es für eine durchschlagende Wirkung in der gesellschaftlichen Realität braucht. Denial stellt den Prozess gekonnt in den Kontext der menschlichen Dimensionen seiner Protagonisten. Die Zuschauer und Zuschauerinnen „erfahren“ den Prozess, und die gesellschaftliche Tragweite der Leugnung eines historischen Verbrechens wird sichtbar. Die Durchsetzung ist die Macht des Rechts. Die Emotion ist die Macht des bewegten Bildes. Beides zusammen konstituiert einen (nachhaltigen) Akt der Erinnerung.
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Literaturverzeichnis Donatsch, Andreas und Brigitte Tag. Strafrecht I. Zürich : Schulthess, 2013. Donatsch, Andreas, Marc Thommen und Wolfgang Wohlers. Strafrecht IV. Zürich : Schulthess, 2017. Donatsch, Andreas. Strafrecht III. Zürich : Schulthess, 2018. EGMR. Perinçek contre Suisse. 15.10.2015, Beschwerde n° 27510/08 ; BGer, 12. Dezember 2007, 6B_398/2007. Hurtado, Pozo José und Thierry Godel. Droit pénal général. Zürich : Schulthess, 2019. Jositsch, Daniel, Gian Ege und Christian Schwarzenegger. Strafrecht II. Zürich : Schulthess, 2018. Killias, Martin, André Kuhn und Nathalie Dongois. Précis de droit pénal général. Bern : Stämpfli Verlag, 2016. Llewellyn, Karl. The Bramble Bush. On our Law and its study. New York : Oceana Publications, 1951. Niggli, Marcel Alexander. Rassendiskriminierung – Ein Kommentar zu Art. 261 StGB und Art. 171c MStG. Zürich : Schulthess, 2007. Queloz, Nicolas und Patricia Meylan. Droit pénal suisse : partie générale – Guide pour les études. Zürich : Schulthess, 2019. Seelmann Kurt. Strafrecht – Allgemeiner Teil. Basel : Helbing & Lichtenhahn, 2012. Stratenwerth Günter, Guido Jenny und Felix Bommer. Schweizerisches Strafrecht – Besonderer Teil I. Bern : Stämpfli Verlag, 2010. Stratenwerth, Günter und Felix Bommer. Schweizerisches Strafrecht – Allgemeiner Teil II : Strafen und Massnahmen. Bern : Stämpfi Verlag, 2020. Stratenwerth, Günter und Felix Bommer. Schweizerisches Strafrecht – Besonderer Teil II. Bern : Stämpfli Verlag, 2013. Trechsel, Stefan, Peter Noll und Mark Pieth. Schweizerisches Strafrecht – Allgemeiner Teil I. Zürich : Schulthess, 2017.
Filmverzeichnis Denial. United Kingdom / USA 2016, Regie: Mick Jackson.
Urteil David Irving c. Penguin Books Ltd and Deborah Lipstadt. Trial Judgment by Judge Charles Gray, 11. April 2000 ; Appeal Judgment by Lord Justice Pill, 20. Juli 2001.
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ÖFFENTLICHE WAHRHEIT UND GEDENKEN IN DER SCHWEIZ PUBLIC TRUTH AND REMEMBRANCE IN SWITZERLAND Einige Erinnerungsstätten der Schweizer Denkmaltopografie sind in den Diskursen beheimatet, die zumeist rund um die Arbeit und die Erkenntnisse der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK ; Bergier-Kommission) geschaffen worden sind. Dass sich Debatten in Denkmälern niederschlagen, zeigt auch ein jüngeres Beispiel : In den letzten Jahren erwachte in der Schweizer Öffentlichkeit das Interesse am Schicksal der Schweizer Opfer des Nationalsozialismus, unter ihnen auch Schweizerinnen, die ihr angestammtes Bürgerrecht infolge Ausländerheirat verloren hatten. Die Situation dieser Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung sowie die Fragen nach dem damaligen Diplomatie- und Rechtsschutz sind zwar in Forschungsarbeiten beachtet worden. In eidgenössischen Praxen der behördlich-staatlichen Holocausterinnerung wurden dieser Sachverhalt und die einstigen Opfer jedoch über Jahrzehnte hinweg ignoriert. Die jüngste Forderung unter Federführung der Auslandschweizer-Organisation nach einem staatlich finanzierten Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus und eine Initiative für eine Aktion lokaler „Stolpersteine“ kommen im Vergleich zur europäischen Erinnerungslandschaft spät. Ob aber ein eidgenössisches Denkmal, überhaupt Denkmäler, Erinnerungsstätten und Gedenktafeln, in eine Versteinerung von Emotionen und gewohnheitsmäßig ritualisierten Trauerformen münden können oder nicht, muss als kritische Frage im Raum stehen bleiben. Some Swiss memorials emerged from the discourses that have been created mostly around the work and findings of the Independent Commission of Experts Switzerland – Second World War (ICE ; Bergier Commission). Also a more recent example shows that debates are reflected in monuments : In recent years the Swiss public has become more interested in the fate of Swiss victims of National Socialism, including Swiss women who lost their citizenship as a result of marriages with foreigners. Although the situation of these victims of exclusion, persecution and murder, as well as the questions of diplomatic and legal protection at the time, has been taken into account in research work : In federal practices of official Holocaust remembrance, however, these facts and the former victims were ignored for decades. Recent calls under the auspices of the Organisation of the Swiss Abroad for a state-funded memorial for the victims of National Socialism
and an initiative for an action of local “Stolpersteine” come late in the day compared to the European remembrance landscape. But whether or not a federal monument, or any memorials, places of remembrance and commemorative plaques at all, can lead to a petrifaction of emotions and habitually ritualised forms of mourning must remain a critical question.
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Kontext, Kritiken und Nachhaltigkeit des BergierBerichtes In the mid-1990s, the Swiss authorities had to adapt their stance to the new circumstances, at the political, economic, cultural and generational levels. In December 1996, the Federal Assembly set up the Independent Commission of Experts Switzerland – Second World War (ICE), which was given a very broad research mandate. However, after the publication of the ICE’s reports in 2001/2002, they were quickly put aside despite numerous debates and polemics. Also, the fact that Switzerland holds the chairmanship of the International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) in 2017 is hardly known to the country’s general public. Little attention is paid to the research findings of the ICE and other historical analyses of recent years. Less ritual and more research would be necessary. Wie andere Länder hat auch die Schweiz hitzige und kontroverse Debatten über den Zweiten Weltkrieg erlebt.1 Am Ende des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich diese Debatten vor allem auf die Vernichtung der europäischen Juden und die Beziehungen zum NS-System. Die Schweiz zeichnet sich im Vergleich mit anderen Staaten jedoch durch einen wichtigen Unterschied aus : Die institutionelle und politische Kontinuität über den Krieg hinaus (zu der auch die Gewerkschaften und die 1943 in den Bundesrat eingetretene Sozialdemokratische Partei gehören) hat einen gesellschaftlichen Konsens und damit auch eine gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gefördert. Diese nationale Identität beruht auf einer „Bricolage“ (einem Patchwork oder einer Konstruktion), ein von Claude Levi-Strauss eingeführtes Konzept, das Bernard Crettaz zur Analyse der Schweizer Kultur verwendet hat.2 Crettaz weist darauf hin, dass das Ergebnis einer solchen „Bricolage“ brüchig bleibt. Diese strukturelle Schwä1 Der erste Teil dieses Beitrages ist eine aktualisierte und zusammengefasste Version von : Perrenoud, „Or, diamant et refoulements“. Der gesamte Artikel wurde von Fabienne Meyer aus dem Französischen übersetzt. 2 Vgl. Crettaz/Jost/Pithon, Peuples inanimés. Gemäß dem Konzept der „Bricolage“ werden vorhandene Probleme mit vorhandenen Mitteln gelöst. Auf dieser Grundlage analysierte Guy P. Marchal „eine imagologische Bastelei“, vgl. dazu Marchal, „Das ‘Schweizeralpenland’“. Seine Analysen der Mythen, welche die nationale Identität ausmachen, sind bei nationalkonservativen Personen umstritten. Vgl. auch Maissen, “Vom rechten Gebrauch der Geschichte.“
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che wird auf eine besonders harte Probe gestellt, wenn die Identitätsansprüche von Kritikern aus dem Ausland infrage gestellt werden. Seit den 1950er-Jahren wurden Diskussionen über die jüngere Geschichte von AkademikerInnen, JournalistInnen und den politischen Behörden geführt. Das Wiederaufleben und die Transformationen dieser Debatten lassen sich in drei Namen zusammenfassen : Carl Ludwig, Edgar Bonjour und Jean-François Bergier. Deren Namen symbolisieren Meilensteine der historischen Aufarbeitung innerhalb der Schweiz, die zur Veröffentlichung von Berichten in den Jahren 1957, 1968–1970 und 1998–2002 führten. In diesen Berichten wurden drei verschiedene Bereiche angesprochen. Die erste Studie konzentrierte sich auf die Flüchtlingspolitik, die zweite Studie widmete sich der Frage der Neutralität und der Außenpolitik3 und die dritte beleuchtete hauptsächlich die wirtschaftlichen und finanziellen Aspekte. Ein gemeinsames Merkmal der drei Berichte besteht darin, dass die Schweizer Regierung Experten mit der Abfassung dieser Berichte beauftragte, nachdem Dokumente, die außerhalb der Schweiz archiviert worden waren, veröffentlicht wurden und die gängigen Überzeugungen infrage stellten, die auf dem nach dem Kriegsende entwickelten historischen Gedächtnis gründeten. Die öffentlichen Debatten, die zwischen 1996 und 2002 stattfanden, stellen die längste und tiefgreifendste Krise im Verhältnis der Schweizer Bevölkerung zu ihrer Vergangenheit dar.4 Dafür gibt es geopolitische und generationsbedingte Gründe. Während 1945 das damals sogenannte „malaise suisse“ bedeutend war, ermöglichten die Anfänge des Kalten Krieges der Schweiz die Überwindung ihrer internationalen Isolation, da die Alliierten ihre Kritik an den Kompromissen der Schweiz mit dem Dritten Reich mehrheitlich einstellten. Die Eidgenossenschaft wurde angesichts des kommunistischen Lagers zu einem nützlichen Partner und konnte sich als Asylland und humanitäres Zentrum profilieren. Eine reichlich anmaßende Identitätskonstruktion führte nun zur Selbstdarstellung der Schweizer als einzigartige Verfechter des Widerstands, der Großzügigkeit und des Humanismus. Während des Kalten Krieges war dieses Selbstbild im Zeichen der Neutralitätsmetaphorik noch bequem, der Fall der Berliner Mauer führte aber zu einer neuartigen internationalen Konstellation, in der die Schweiz nicht mehr den gleichen Nutzen daraus zog. Die amerikanische Kritik, die während des Kalten Krieges „eingefroren“ war, erlebte einen neuen Aufschwung. Hinzu kam, dass der Generationenwechsel dazu führte, dass die Schweiz in den 1990er-Jahren auf ihre Weise in die „Ära der Zeitzeugen“ eintrat und die Massenmedien Methoden zu verwenden begannen, die im Gegensatz zur üblichen Besonnenheit der traditionellen Zeitungen und zur strukturellen Zurückhaltung der poli3 Vgl. Zala, „Governmental Malaise with History“ sowie Zala, Gebändigte Geschichte. 4 Zum Wissensstand in den späten 1990er-Jahren, vgl. Kreis, Switzerland and the Second World War.
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tischen Kultur in der Schweiz standen. Jüdische Organisationen, insbesondere aus den USA, verstanden die Fragilität der Schweizer Position im neuen internationalen Kontext und bedienten sich der neuen Medientechniken, um kritische Fragen zu stellen.5 Die aufgeworfenen Probleme betrafen vor allem die gestohlenen und nicht beanspruchten Vermögenswerte.6 Während die beiden vorangegangenen öffentlichen Diskussionen zu dieser Problematik eher begrenzt blieben, setzte seit 1996 eine Reihe von Druckwellen ein, die in elektronischen Medien und gedruckten Publikationen heftige Debatten auslösten. Schweizer Behörden und Vertreter des Bankenplatzes sahen sich vor Kommissionen des US-amerikanischen Kongresses zitiert, um Rechenschaft abzulegen. Die einstige Lösung, das Washingtoner Abkommen von 1946 und der Meldebeschluss von 1962, durch den der integrative Lösungsansatz des Völkerrechtlers Paul Guggenheim verworfen wurde7, waren zum Problem geworden. Vor den Ausschüssen des U.S. Kongresses wurde der Fall „Schweiz“ vorgeführt und deren Geschichte in Gestalt von „Beweisen“ und Dokumenten präpariert, deren Verwendung offensichtlich auf politische Druckerzeugung zielte.8 In diesem Zusammenhang rief der Bundesrat im Oktober 1996 innerhalb des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) eine „Task Force Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ ins Leben, die bis zu ihrer Auflösung im März 1999 von Botschafter Thomas Borer geleitet wurde. Seine Aufgabe war es, die Forschung zu koordinieren und die Schweizer Interessen zu vertreten.9 Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK), besser bekannt als „Bergier- Kommission“10, wurde im Dezember 1996 von der Schweizer Regierung und dem Parlament eingesetzt. Nicht eine einzige Person, sondern neun Experten waren für die Forschung zuständig, darunter fünf Schweizer Bürger. Die aus acht HistorikerInnen11 5 Vgl. Maissen, Verweigerte Erinnerung. 6 Vgl. Ludi, „Why Switzerland ?“. 7 Der Genfer Völkerrechtler Paul Guggenheim hatte in den frühen 1950er-Jahren eine Lösung zur Klärung und Befriedung von nachrichtenlos gewordenen, in der Schweiz liegenden Vermögen von NS-Opfern vorgeschlagen, bei der Schweizer Behörden, Vertreter von Schweizer Banken und Vertreter von Opferrestitutionsorganisationen in einer gemeinsamen Treuhand zusammengewirkt hätten ; vgl. Guggenheim, Die erblosen Vermögen. 8 Es wurde sowohl vor dem Bankenausschuss des Senats wie des Repräsentantenhauses zu dieser Frage getagt ; vgl. United States Congress, Disposition of Assets Deposited in Swiss Banks by Missing Nazi Victims, Serial 104–76. 9 Vgl. Borer-Fielding, Public Affairs, S. 175–225. 10 Zur Persönlichkeit und Karriere des Präsidenten der UEK, vgl. Boschetti/Müller, Jean-François Bergier im Gespräch. 11 Nach ihrem Tod im Jahr 2000 wurde die Historikerin Sybil Milton im Februar 2001 durch die Ökonomin Helen B. Junz ersetzt.
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Abb. 1 : Erster Teil des Reliefs „Mémoire“ von Isabelle Perez bei der Jüdischen liberalen Gemeinde Genf (GIL). Foto : Fabienne Meyer 2020
und einem Juristen zusammengesetzte Kommission publizierte Anfang 2002 ihren Schlussbericht, nachdem sie zwei Zwischenberichte veröffentlicht hatte, einen über Goldtransaktionen (1998) und einen über Flüchtlinge (1999).12 Von 1995 bis 2002 führten die historiografischen Debatten, Paradigmenwechsel und neuen Forschungsstrategien zu einer Erneuerung der Perspektiven und zum Einbezug anderer Erinnerungen. Parallel zu all diesen Vorgängen wurde durch die Schweizer Banken und die jüdischen Restitutionsorganisationen ein internationales Committee of Eminent Persons, das Volcker-Committee, bestellt, das einen aufwändig produzierten Schlussbericht erstellte, ohne dass aber die zugrunde liegenden Revisorenberichte über die einzelnen Bankinstitute je veröffentlicht worden wären.13 Zwei internationale Schiedsge-
12 Die Webseite der UEK, www.uek.ch, enthält detaillierte Informationen über die drei erwähnten Berichte. Für eine Synthese der UEK-Publikationen vgl. Boschetti, La Suisse et les nazis. 13 International Committee of Eminent Persons (ICEP), Report on Dormant Accounts. Die zahlreichen nicht publizierten Berichte der Revisoren zu den einzelnen Banken sind bei der Eidgenössischen Bankenkommission deponiert worden.
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richte für die Abwicklung der Ansprüche von Holocaustopfern oder deren Nachkommen basierten auf der Zahlung eines Geldbetrages seitens der großen Schweizer Banken, womit nahezu umfassend alle individuellen Ansprüche zugunsten jüdischer und weiterer Organisationen kollektiviert wurden ; dargelegt worden ist dies jüngst in einem Schlussbericht eines amerikanischen Distriktgerichts, der 2020 den Vorgang zum Abschluss brachte.14 Zu vermerken sei hier auch das plebiszitär entsorgte Versprechen einer Solidaritätsstiftung, die aus den Verkäufen von Nationalbank-Gold hätte geäufnet werden sollen. Und schließlich ist an einen schweizerischen Fonds für bedürftige Holocaust-Opfer und ihre Nachkommen unter der Leitung von Rolf Bloch zu erinnern, der vorab zugunsten von in Osteuropa und Russland lebenden Menschen segensreich wirkte.15
Die historische Debatte in sechs Phasen Während einer ersten Phase im Dezember 1996 wurden mit der Ausarbeitung und der Ernennung der Mitglieder der UEK die rechtlichen Mittel für die „historische und rechtliche Untersuchung des Schicksals der infolge der nationalsozialistischen Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte“ geschaffen, wie es im Bundesbeschluss vom 13. Dezember 1996 heißt.16 Um die Fragen zu beantworten und die Lücken in der bisherigen Forschung zu schließen, entschieden die Behörden, dass das Geschäftsgeheimnis zur Einschränkung der Forschung nicht geltend gemacht werden könne, was die Öffnung der Privatarchive für die Mitglieder der UEK und ihre Mitarbeiter bedeutete. Andere Historiker kritisierten jedoch, dass Fragen wie Neu tralität, Landesverteidigung oder das tägliche Leben außerhalb des Mandats der UEK lagen, was zu skeptischen bis virulenten Vorbehalten gegenüber der UEK führte. Die Ende 1996 vom abtretenden Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz gemachte Aussage, Auschwitz liege nicht in der Schweiz, versurachte Anfang 1997 Irritationen und einige Veröffentlichungen gegen diese apologetische Äußerung.17
14 United States District Court, Swiss Banks Settlement. 15 Bloch, „Anerkennung für erlittenes Schicksal“. 16 Bundesbeschluss betreffend die historische und rechtliche Untersuchung des Schicksals der infolge der nationalsozialistischen Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte, 13.12.1996. https://www. uek.ch/de/index.htm, letzter Zugriff : 30.09.2020. 17 Die in diesem Beitrag abgebildeten drei Fotografien des Reliefs „Mémoire“ von Isabelle Perez bei der Synagoge der Jüdischen Liberalen Gemeinde Genf (GIL) stellen einen Kontrast zu Delamuraz‘ Aussage dar. Vgl. auch Gehring u. Picard, Auch Auschwitz liegt in der Schweiz, S. 408.
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Während einer zweiten Phase im Jahre 1997 deckte die erste Forschungsrunde der UEK private Archive in weit größerer Zahl auf, als man angenommen hatte. Dies veranlasste die UEK, den Bundesrat um zusätzliche Mittel zu bitten, um ihren Auftrag erfüllen zu können. So wurden die Mittel, die der UEK für fünf Jahre Arbeit zur Verfügung gestellt wurden, von ursprünglich 5 auf 22 Millionen Franken erhöht. Im Vergleich zu anderen Forschungsprogrammen ist dies eine sehr bedeutende Summe, welche im Vergleich zu anderen Bundesausgaben jedoch relativiert werden muss. Die dritte Phase kann 1998/1999 situiert werden. Im Mai 1998 erregte die Veröffentlichung des ersten UEK-Zwischenberichts über Goldtransaktionen das öffentliche Interesse und die Kritik von Ökonomen wie Jean-Christian Lambelet, der argumentierte, dass Finanz- und Währungsfragen jenseits des Fachwissens von Historikern lägen. In den ersten Monaten des Jahres 1999 traf die Schweizer Regierung zwei Entscheidungen : a) Die Einrichtung eines Kontaktbüros für Raubkunst, das dem Bundesamt für Kultur untersteht. Dieses Büro nahm im Januar 1999 seine Tätigkeit auf. Die Schweizerische Eidgenossenschaft stützte ihre Aktivitäten im Bereich der Raubkunst auf drei Säulen : Transparenz, Legalität und Angemessenheit. b) Die Einführung von unkomplizierten Antragsverfahren zur Auszahlung der Guthaben an die ehemaligen Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkrieges interniert waren und deren zwangsverwaltete Konten und Depots nie zurückgerufen wurden. Eine vierte Phase begann im Dezember 1999 mit der Veröffentlichung des zweiten Zwischenberichts der UEK über die Flüchtlingspolitik. Obwohl der Auftrag der UEK darin bestand, sich mit den wirtschaftlichen und finanziellen Aspekten der Asylpolitik zu befassen, stießen diejenigen Kapitel des Berichts, die sich mit diesen Themen befassten, in der Öffentlichkeit und selbst unter HistorikerInnen kaum auf Interesse. Es kam hingegen zu einer Kontroverse, die sich auf Statistiken über Zurückweisungen beschränkte, da die UEK die Ergebnisse einer im Bundesarchiv zu diesem Thema durchgeführten Recherche ohne ausführliche Erklärungen in den Bericht aufgenommen hatte. Zu dieser zugegebenermaßen sehr wichtigen Frage über die Zahl der Zurückgewiesenen blieben die verfügbaren Quellen aufgrund der während des Krieges nicht schriftlich festgehaltenen Ereignisse und der Zerstörung von Archiven sehr dünn. Dennoch wurde von vielen Seiten Kritik geäußert. Es schien, als könne die Geschichte der Asylpolitik von jedermann analysiert und beurteilt werden, während die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme den Bankiers und Wirtschaftsprofessoren vorbehalten bleiben sollten, die als Einzige befugt sind, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Einige Aussagen von Schweizer Zeugen wurden instrumentalisiert, um den Analysen der UEK und anderer Forscher, die bereits zuvor zur Thematik der Schweizer Asylpolitik gearbeitet hatten, entgegenzuwirken. Während sich die Ludwig- und Bonjour-Berichte sehr knapp zum Thema Schweizer Antisemitismus äußerten, ana-
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lysierte die Bergier-Kommission die Besonderheiten und den Einfluss des Antisemitismus in der Schweizer Gesellschaft und Politik. Dieser Perspektivenwechsel bedeutet ein Bruch mit der politischen und historiographischen Tradition. Die fünfte Phase, von Sommer 2001 bis März 2002, war gekennzeichnet durch die Veröffentlichung der 25 Bände der UEK und ihres Abschlussberichts, der im März 2002 druckfrisch vorlag. Über 11.000 Seiten wurden veröffentlicht. Die UEK zeigte insbesondere auf, a) dass der wirtschaftliche und finanzielle Nutzen der Schweiz für die Achsenmächte größer war als zuvor angenommen, b) dass die Schweizer Unternehmen, Banken und Behörden deshalb gegenüber den Achsenmächten einen größeren Handlungsspielraum hatten und diesen auch nutzen konnten, c) dass die Politik gegenüber Flüchtlingen und Opfern antisemitischer Verfolgung großzügiger hätte sein können, was die damals geäußerte Kritik an der sehr restriktiven Politik bestätigte. Diese Analysen der UEK gaben Anlass zu Artikeln in der Tagespresse und einigen Berichten in den elektronischen Medien. Aber die Debatten, die sich die Mitglieder der UEK erhofft hatten, blieben 2002 noch sehr dürftig und von kurzer Dauer. Zwar enthielten die Bände eine Vielzahl bisher unveröffentlichter Informationen, aber sie lösten weniger öffentliche Debatten aus als die den Fachleuten weitgehend bereits bekannten Fakten, die von Herbst 1996 bis Anfang 2000 ein breites und anhaltendes öffentliches Interesse geweckt hatten. Nach der Veröffentlichung des Schlussberichts im Jahr 2002 begann eine sechste Phase, die durch fünf Aspekte geprägt war : Erstens durch Diskussionen und Kritiken zu den historischen Analysen der UEK und deren Integration ; zweitens durch Debatten über die Schulbildung ; drittens bezüglich der Entwicklung des Diskurses der Bundesbehörden ; viertens durch Aktivitäten zum Gedenken an den Holocaust ; und schließlich fünftens durch die Lücken und Perspektiven in der historischen Forschung.
Diskussionen, Kritiken und Integration der historischen Analysen der UEK Nach 2002 zeichneten sich zwei Trends ab. Auf der einen Seite haben einige wenige Wissenschaftler, insbesondere Professor Hans Ulrich Jost (Lausanne), eine Reihe von vertiefenden Lesungen organisiert. In Fachzeitschriften wurden Rezensionen veröffentlicht. Und eine Reihe von im Ausland veröffentlichten Sammelbänden enthielt Beiträge von UEK-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern. Das Interesse der akademischen Welt blieb jedoch eher begrenzt. Auf der anderen Seite wurde eine Reihe von Werken, insbesondere von Herbert A. Reginbogin, veröffentlicht, in denen versucht wurde, die Analysen der UEK zu korrigieren und in denen ihr vorgeworfen wurde,
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den historischen Kontext und internationale Vergleiche vernachlässigt zu haben. Man warf der UEK auch Übertreibung vor sowie, die Schweiz zur Selbstgeißelung angestachelt zu haben, mit den heutigen Maßstäben eine vergangene Generation zu kritisieren und es versäumt zu haben, das tägliche Leben der Bevölkerung zu untersuchen. Diese Bücher erwähnen hingegen kaum das Mandat, das die Bundesbehörden der UEK erteilt haben, sondern versuchen, den seit dem Ende des Weltkriegs etablierten traditionellen Diskurs zu ergänzen und zu aktualisieren. Eine andere Haltung zeigte sich in den Kommentaren von Professor Michel Porret von der Universität Genf, der 2010 schrieb : La Suisse a longtemps vécu avec l’idée qu’elle pouvait avoir la conscience tranquille par rapport à son passé. Aux yeux de nos parents et de nos grands-parents, la Mobilisation ou le rationnement alimentaire montraient que la Suisse avait fait ce qu’il fallait pour échapper au mal durant la Deuxième Guerre mondiale. Le Rapport Bergier a prouvé de manière incontestable que nous nous étions accommodés comme les autres de la réalité du moment et que nous n’avions pas forcément les mains propres. Ce qui a largement contribué à désenchanter la vision que les Suisses avaient d’eux-mêmes. […] Toucher à la mémoire nationale conduit forcément à modifier la configuration politique d’un pays. Et pour l’heure, pour beaucoup de citoyens suisses, il semble encore difficile d’accepter le désenchantement.18
Im gleichen Jahr 2010 wurden anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Todestag von General Guisan Bücher veröffentlicht, um den Oberbefehlshaber der Schweizer Armee zu feiern und zu honorieren. Die Autoren dieser Publikationen, Jean-Jacques Langendorf und Markus Somm,19 haben die von der UEK veröffentlichten Analysen wiederholt zurückgewiesen. Auch zu Ehren von Jean Hotz, dem Direktor der Handelsabteilung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements während des Krieges, erschien ein hagiographisches Buch.20 Dagegen fanden andere Publikationen, die 18 Porret, „Aux sources de l’histoire“, S. 13. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Die Schweiz hat lange mit dem Gedanken gelebt, dass sie ein reines Gewissen über ihre Vergangenheit haben könne. In den Augen unserer Eltern und Grosseltern zeigte die Mobilisierung oder Lebensmittelrationierung, dass die Schweiz das Notwendige getan hatte, um dem Bösen während des Zweiten Weltkriegs zu entkommen. Der Bergier-Bericht bewies zweifelsfrei, dass wir uns wie alle anderen mit der Realität der damaligen Zeit arrangiert hatten und dass unsere Hände nicht unbedingt sauber waren. Dies trug wesentlich zur Ernüchterung über das Selbstbild der Schweizer Bevölkerung bei. […] Wenn das natio nale Gedächtnis angetastet wird, führt dies unweigerlich zu Veränderungen in der politischen Konfiguration eines Landes. Und vorläufig scheint es vielen Schweizerinnen und Schweizern noch schwer zu fallen, die Ernüchterung zu akzeptieren.“ 19 Vgl. Somm, General Guisan. Vgl. insbesondere die Review in der NZZ vom 01.04.2010. 20 Bondt, Der Minister aus dem Bauernhaus.
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sich nicht gegen die UEK stellten, sondern deren Forschung zu vertiefen suchten, weniger Beachtung in den Medien.21 Ebenfalls 2010 schrieb Professor Claude Hauser, der selbst ausführlich über das Asylwesen in der Schweiz gearbeitet und geschrieben hat, in seinem Vorwort zu Christian Favres Dissertation über die französisch-schweizerische Grenze : Il existe une ligne de démarcation claire dans l’historiographie de la Suisse face à la Seconde Guerre mondiale, soit un ‘avant’ et un ‘après’ la publication, en 2002, du Rapport final de la CIE. La remise en cause du passé helvétique durant la période du nazisme qu’a consacré le Rapport Bergier a en effet permis de définitivement tourner la page sur la vision mythifiée de cette histoire, construite et entretenue avec force moyens politiques et effets de propagande de l’immédiat après-guerre au dernier quart du XXe siècle.22
Claude Hauser erwähnt auch die Tatsache, dass die UEK nie behauptet hat, ihre Publikationen seien erschöpfend und abschließend. Die Dissertation von Christian Favre lieferte somit neue Informationen und innovative Analysen. Es wurden auch weitere Studien veröffentlicht, insbesondere zu mehreren Grenzabschnitten oder zu verschiedenen Akteuren der Asylpolitik. Die besonders dramatische und bewegende Reise von „Rosette“, die von der UEK anonym erwähnt wird, wurde insbesondere dank der Initiative von Claire Luchetta-Rentchnik untersucht. Claude Torracinta hat ein Buch über das tragische Schicksal dieses jungen Mädchens veröffentlicht, das 1943 vertrieben und in Auschwitz vergast wurde.23 Im Jahr 2013 wird Professor Volker Reinhardt in seinem zusammenfassenden Buch zur Schweizer Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart die Analysen der UEK und ihre Rezeption in der Schweizer Bevölkerung resümieren : 21 Vgl. insbesondere : Gerardi, La Suisse et l’Italie ; Schaufelbuehl, La France et la Suisse ; Rauh, Schweizer Aluminium für Hitlers Krieg ? ; Perrenoud „La Suisse, les Suisses, la neutralité et le IIIe Reich“. 22 Favre, Une frontière entre la guerre et la paix. Vorwort von Claude Hauser, S. 11. Übersetzung durch die Herausgebenden : „In der Geschichtsschreibung zur Schweiz während des Zweiten Weltkrieges gibt es eine klare Trennlinie, nämlich ein „vor“ und ein „nach“ der Veröffentlichung des UEK-Abschlussberichts im Jahr 2002. Die Auseinandersetzung des Bergier-Berichts mit der Vergangenheit der Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus ermöglichte es, die mythische Vision dieser Geschichte, die mit politischen Mitteln und Propagandaeffekten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis ins letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts konstruiert und aufrechterhalten wurde, definitiv auf den Kopf zu stellen.“ 23 Torracinta, Rosette, pour l’exemple. Vgl. auch Heimberg, „Rosette pour l’histoire et pour mémoire“. https://blogs.mediapart.fr/heimbergch/blog/130716/rosette-pour-l-histoire-et-pour-memoire, letzter Zugriff : 10.07.2020. Seit 2000 hat Charles Heimberg, Professor an der Universität Genf, zahlreiche Texte über die Arbeit der Bergier-Kommission veröffentlicht. Vgl. insbesondere Heimberg, „Une didactique de l’histoire“.
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Kennzeichnend für die Schweiz zwischen 1939 und 1945 war ein tiefer Gegensatz zwischen Wissen und Handeln. Die ausschlaggebenden Stellen der Eidgenossenschaft waren früh über den Holocaust informiert, hatten aber ihre Handlungsspielräume nicht ausgeschöpft, sondern vor dem ‚Dritten Reich‘ moralisch kapituliert. Von einer Gesamtschuld zu sprechen, hielt der Schlussbericht jedoch für nicht angebracht ; im Gegensatz zur oft ängstlichen Zurückhaltung staatlicher Stellen habe die Bevölkerung viele Beweise individueller Hilfs- und Opferbereitschaft erbracht. Die differenzierte Bilanz der ‚Wahrheitskommission‘ wurde von der Öffentlichkeit – mit Ausnahme des rechtsbürgerlichen Lagers – weitgehend als ausgewogen akzeptiert.“24
Die bürgerlich-konservativen Kreise engagierten sich jedoch weiterhin in der Öffentlichkeit und zitierten seit der Veröffentlichung des Zwischenberichts 1999 immer wieder Serge Klarsfelds Kritik an der UEK. So sehr seine Aktivitäten zur Verhaftung und Verurteilung ehemaliger Nazis und zur Analyse der Rolle von Vichy im Holocaust respektabel und bewundernswert sind, so problematisch sind seine Aussagen über die Schweiz und die UEK. Im Februar 2013 erklärte er in der Online-Zeitung „Les Observateurs“ : „La commission Bergier n’a pas travaillé.“25. In der Wochenzeitung der gleichen bürgerlich-konservativen Bewegung, Die Weltwoche vom 12. Februar 2014, geißelt Klarsfeld die Ernennung der UEK-Mitglieder durch den Bundesrat : „Ein Fehler war auch, dass mit Saul Friedländer ein Mann der Kommission angehörte, dessen Eltern tatsächlich aufgrund einer Rückweisung deportiert worden waren.“26 Im Gegensatz dazu waren zahlreiche Menschen der Meinung, dass es eine große Chance für die UEK war, von der Teilnahme von Saul Friedländer profitieren zu können. Seit rund zwanzig Jahren zeugen die Äußerungen von Serge Klarsfeld leider von seiner mangelnden Kenntnis der Schweizer Geschichte und der sie betreffenden Archive. Die Eidgenossenschaft ist nicht Vichy-Frankreich. Tatsächlich bedeutete der Schweizer Antisemitismus weder eine systematische Identifizierung der vertriebenen Juden noch die Erstellung von Listen dieser Opfer. Es ging darum, sie zurückzuweisen, nicht sie zu deportieren. In seinem jüngsten Artikel, der 2019 veröffentlicht wurde, wiederholt Serge Klarsfeld seine Angriffe auf die Bergier-Kommission, zitiert aber weder ihr Mandat von 1996 noch ihren Abschlussbericht von 2002.27 Es handelt 24 Reinhardt, Die Geschichte der Schweiz, S. 442–444. 25 Vgl. Les Observateurs. „Serge Klarsfeld : ‘La commission Bergier n’a pas travaillé’“. https://lesobservateurs.ch/2013/02/11/serge-klarsfled-la-commission-bergier-na-pas-travaille/, letzter Zugriff : 19.06. 2020. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Die Bergier-Kommission hat nicht gearbeitet.“ 26 Bandle, „Es geht um die Ehre der Schweiz“. Vgl. auch Friedländer, Where Memory Leads. 27 Vgl. Klarsfeld, „La Suisse face au génocide. Vgl. auch : Perrenoud, „Le rapport de la Commission Bergier“.
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sich um eine Anklageschrift und nicht um eine historische Analyse. Auf der anderen Seite geißelt er erneut Saul Friedländer, ohne seine Bücher zu zitieren, einen bedeutenden Historiker, der für seine integrierten und nuancierten Analysen der Shoah auf europäischer Ebene international anerkannt ist. Diese polemischen und oberflächlichen Angriffe schwächen die Kritik von Serge Klarsfeld, der in dieser Debatte die Haltung eines Staatsanwalts einnimmt und nicht die eines Historikers, der die historische Komplexität analysiert. Serge Klarsfeld bezieht sich auf Ruth Fivaz-Silbermanns Arbeit über jüdische Menschen, die von 1942 bis 1944 die französisch-schweizerische Grenze erreichten. Das Mandat der UEK war es, das Schicksal von Personen (Juden und Nichtjuden) an der gesamten Schweizer Grenze während des Krieges zu untersuchen. Dieser Unterschied in den Kriterien führte zu entsprechend divergierenden Statistiken. Im Jahr 2017, anlässlich der Verteidigung der Dissertation von Ruth Fivaz-Silbermann, kam es zu einem Wiederaufleben der Medienpolemik gegen die UEK, was mehrere Historiker dazu veranlasste, auf die gravierenden Einschränkungen der Dissertation hinzuweisen.28 Der Generalsekretär des SIG und promovierte Historiker, Jonathan Kreutner, bezeichnet sie als „Unnötige Debatte um Flüchtlingszahlen“29. In seinem Artikel vom 5. Juli 2017 zeigt er die Grenzen der Analysen von Fivaz-Silbermann auf, die zwar viele Informationen über Einzelschicksale liefert, aber nicht zu einer ausgewogenen Synthese kommt, die eine Revision der Ergebnisse der UEK und anderer Historiker, welche die Realität des Antisemitismus und die verschiedenen Facetten der Schweiz und der SchweizerInnen während der Shoah aufgezeigt haben, erfordern würde. In einem 2018 online veröffentlichten Artikel kontextualisierte Charles Heimberg die Aussagen von Serge Klarsfeld und Ruth Fivaz-Silbermann und zeigt die sehr problematischen Grenzen ihrer Aussagen auf, die zu einer Rehabilitierung des traditionellen Bildes der Schweiz beitragen.30
28 Burnand, „Studie zu abgewiesenen Juden entfacht neue Debatte“. https://www.swissinfo.ch/ger/shoah_ malaise-um-neue-studie-zu-von-der-schweiz-abgewiesenen-juden/43228342, letzter Zugriff : 05.08. 2020. 29 Kreutner, „Unnötige Debatte um Flüchtlingszahlen“. https://www.swissjews.ch/de/news/sig-news/ueberfluessige-debatte-um-fluechtlingszahlen/, letzter Zugriff : 07.08.2020. 30 Heimberg, „Quand les mésusages du passé sont le fait des historiens eux-mêmes“. https://blogs.mediapart.fr/heimbergch/blog/070218/quand-les-mesusages-du-passe-sont-le-fait-des-historiens-eux-memes, letzter Zugriff : 15.06.2020.
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Abb. 2 : Zweiter Teil des Reliefs „Mémoire“ von Isabelle Perez bei der Jüdischen liberalen Gemeinde Genf (GIL). Foto : Fabienne Meyer 2020
Debatten über Schulbildung Die Auswirkungen der Arbeit der UEK wurden durch einen zweiten Aspekt gekennzeichnet : Es begannen sich Debatten über die Schulbildung abzuzeichnen. Im Jahr 2000 verfasste der Historiker und Lehrer Charles Heimberg eine Broschüre mit dem Titel „Le rapport Bergier à l’usage des élèves : la question des réfugiés en Suisse à l‘époque du national-socialisme“ (Der Bergier-Bericht für Schülerinnen und Schüler : die Flüchtlingsfrage in der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus), die er 2002 auf der Grundlage des Schlussberichts der UEK überarbeitete und ergänzte. Die Broschüre stieß auf Kritik von Personen, die eine solche Aktualisierung der Lehrmittel nicht befürworteten.31 Im Jahr 2006 wurde mit Unterstützung der Zürcher Behörden ein neues Geschichtslehrbuch herausgegeben, das von vier Experten verfasst wurde, von denen zwei für die UEK gearbeitet hatten.32 Die Verwendung dieses Lehrbuches in den Schulen des Kantons Zürich, aber auch in anderen Kantonen, löste Diskussionen 31 Vgl. Heimberg et al. Le cartable de Clio. 32 Bonhage/Gautschi/Hodel/Spuhler, Hinschauen und Nachfragen.
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und Artikel aus, die es zu einem Bestseller machten – eine seltene Ausnahme für ein Buch dieses Genres. Im Jahr 2010 veröffentlichte der Lehrer Dominique Dirlewanger das Synthesewerk „Tell me. La Suisse racontée autrement“ (Tell me. Die Schweiz neu erzählt)33, in das die Ergebnisse der UEK eingeflossen sind. Der Erfolg dieser innovativen Publikation und der Synthese von Pietro Boschetti zeugte vom gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer erneuerten und aktualisierten Geschichtsschreibung, trotz des Widerstrebens der traditionalistischen Bewegung.
Entwicklung des Diskurses der Bundesbehörden Nach der Veröffentlichung des UEK-Flüchtlingsberichts beschloss der Bundesrat im Jahr 2001, ein deutliches und nachhaltiges Zeichen gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit und für die Menschenrechte zu setzen. Von 2001 bis 2005 wurden 15 Millionen Schweizer Franken für Ausbildungs-, Sensibilisierungs- und Präventionsprojekte sowie für die Unterstützung von Opferhilfen und Konfliktberatungsdiensten bereitgestellt. Der Bundesrat hat deshalb einen Fonds für Projekte gegen Rassismus und zugunsten der Menschenrechte eingerichtet.34 Darüber hinaus verabschiedete das Parlament am 20. Juni 2003 ein neues Gesetz zur Rehabilitierung von Personen, die verurteilt worden waren, weil sie Flüchtlingen, die unter dem Nazi-Regime verfolgt worden waren, Hilfe geleistet hatten. Mit diesem Gesetz wurden strafrechtliche Verurteilungen aufgehoben und eine Rehabilitierungskommission eingesetzt, um die gesprochenen Strafen aufzuheben. Zwischen 2004 und 2009 hat die Rehabilitierungskommission 137 Personen rehabilitiert.35 Im Jahr 2016 veröffentlichte die Fachstelle für Rassismusbekämpfung ihren Bericht über die Maßnahmen des Bundes zur Bekämpfung des Antisemitismus in der Schweiz. Im Kapitel über den historischen Kontext wird erwähnt, dass die UEK in ihren Arbeiten nachwies, „dass die ausgrenzende Politik der Schweiz gegenüber jüdischen Flüchtlingen auch auf antisemitischen Haltungen beruhte.“36 33 Dirlewanger, Tell me. 34 Vgl. Swissinfo.ch. „La lutte contre le racisme n’est jamais finie“. https://www.swissinfo.ch/fre/-la-luttecontre-le-racisme-n-est-jamais-finie-/4847218, letzter Zugriff : 20.07.2020. 35 Vgl. Bericht der Rehabilitierungskommission über ihre Tätigkeit in den Jahren 2004–2008. 02.03.2009. https://www.parlament.ch/de/%C3%BCber-das-parlament/archiv/fruehere-kommissionen/kommission-rehako, letzter Zugriff : 14.07.2020. 36 Fachstelle für Rassismusbekämpfung. Bericht über die Massnahmen des Bundes gegen Antisemitismus in der Schweiz. Bern, 10.10.2017. https://www.edi.admin.ch/dam/edi/de/dokumente/FRB/Neue%20 Website%20FRB/Monitoring%20und%20Berichterstattung/Thematische%20Berichte/Bericht%20
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Während diese Projekte durch die Initiative der Bundesverwaltung unterstützt wurden, hat sich der offizielle Diskurs anlässlich von Gedenkfeiern verschoben : Im Mai 1995 hat sich Bundespräsident Kaspar Villiger anlässlich der Gedenkfeier zum Kriegsende vor 50 Jahren für den 1938 mit dem Dritten Reich ausgehandelten „J“-Stempel in den Pässen der Juden entschuldigt.37 Im Dezember 1999, wurde diese Position von Bundespräsidentin Ruth Dreifuss bei der Veröffentlichung des Zwischenberichts der UEK bekräftigt. Im Mai 2005 und später waren die Reden der Bundesräte hingegen von einer nationalkonservativen Perspektive gefärbt.38 So bekräftigte am 27. Januar 2013 auch die Botschaft von Bundespräsident Ueli Maurer zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust das traditionelle Bild des Asylwesens in der Schweiz und gab Anlass zu einer gemeinsamen Erklärung der jüdischen Organisationen : Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Plattform der Liberalen Juden der Schweiz (PLJS) bedauern, dass der Bundespräsident in seiner Botschaft zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust die Schweiz in einem einseitigen, nur positiven Licht darstellt. Der Bundespräsident lässt die Schwächen und Irrtümer der Politik der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges, wie sie die vom Bundesrat eingesetzte Bergier-Kommission erkannte, ausser Acht. […] Es ist zu bedauern, dass der Bundespräsident heute die notwendige kritische Auseinandersetzung der Schweiz mit ihrer eigenen Vergangenheit und insbesondere ihrer Flüchtlingspolitik unerwähnt lässt.39
In der Folge bedauerte der Bundespräsident das Nicht-Gesagte und präzisierte seine Haltung.40 Diese Episode veranschaulicht die Art und Weise, wie die UEK-Analysen allmählich verworfen wurden, während es eine Zeitlang (1996-1997) den Anschein erweckte, als ob die politischen Behörden die UEK instrumentalisieren wollten. Massnahmen%20gegen%20Antisemitismus_2017_d.pdf.download.pdf/Bericht%20Massnahmen%20 gegen%20Antisemitismus_2017_d.pdf, letzter Zugriff : 18.07.2020. 37 In seiner Rede vom 7. Mai 1995 äußerte Kaspar Villiger : „Wir haben damals im allzu eng verstandenen Landesinteresse eine falsche Wahl getroffen. Der Bundesrat bedauert das zutiefst, und er entschuldigt sich dafür, im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar ist.“ 38 Vgl. insbesondere die Reden vom Mai 2005, die ich in meinem Beitrag von 2009 zitiert habe : Perrenoud, „Or, diamant et refoulements“, S. 172–173. 39 Swissjews.ch. „SIG und PLJS bedauern die Botschaft des Bundespräsidenten zum Holocaustgedenktag“. https://www.swissjews.ch/de/medien/medienmitteilungen/sig-und-pljs-bedauern-die-botschaftdes-bundespraesidenten-zum-holocaustgedenktag/, letzter Zugriff : 03.06.2020. 40 Vgl. Swissjews.ch. „Ueli Maurer zollt der jüdischen Gemeinschaft seinen Respekt“. https://www.swiss jews.ch/de/news/sig-news/ueli-maurer-zollt-der-juedischen-gemeinschaft-seinen-respekt/, letzter Zugriff : 03.06.2020.
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Aktivitäten zum Gedenken an den Holocaust Während sich die Arbeiten zur Geschichte des Holocaust vervielfachten, motivierte die „Pflicht zur Erinnerung“ auch Aktivitäten zur Weitergabe von Informationen über den Holocaust an künftige Generationen. Seit 1999 werden in der Schweiz Bücher mit Memoiren von Überlebenden veröffentlicht.41 2007 gab der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) eine DVD mit Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden und Interviews mit Historikern heraus.42 Zeugenaussagen von Überlebenden, die ihre Geschichten in Schulen erzählt hatten, wurden veröffentlicht, insbesondere durch den Verlag Éditions Alphil, gegründet und geleitet von einem ehemaligen Mitarbeiter der UEK, Alain Cortat.43 2004 schloss sich die Schweiz der Task Force für internationale Zusammenarbeit im Bereich Holocaust-Bildung, Erinnerung und Forschung (ITF ; später International Holocaust Remembrance Alliance, IHRA) an, nachdem sie es 1998 verpasst hatte, selber aktiv zu werden.44 Diese Organisation wurde 1998 von Schweden, den Vereinigten Staaten und Großbritannien gegründet ; Deutschland und Israel schlossen sich bald darauf an. In diesem Rahmen werden mit Unterstützung des Bundes Aktivitäten in Schulen organisiert.45 Andere Initiativen führten zu pädagogischen Publikationen. Mit Unterstützung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wurde eine 15-bändige Reihe mit dem Titel „Memoiren von Holocaust-Überlebenden“ herausgegeben.46 Anfang 2017 wurde angekündigt, dass die Schweiz bis März 2018 den Vorsitz der IHRA übernehmen wird. Botschafter Benno Bättig erklärte bei dieser Gelegenheit : Die Schweiz hat sich in der Vergangenheit immer traditionell für Menschenrechte, Nichtdiskriminierung, gegen Antisemitismus und Rassismus eingesetzt. Es ist also nichts als lo41 Gross/Lezzi/Richter, „Eine Welt, die ihre Wirklichkeit verloren hatte“. 42 Pruschy, ÜberLebenErzählen. 43 Vgl. insbesondere die Bücher von Sigmund Toman, Ruth Fayon sowie Kurt und Catherine Rübner. 44 Vgl. Koller, „Une conférence internationale“. Der Vorschlag (1998) zu einem internationalen Kongress in der Schweiz im Gedenken an die Konferenz von Evian zur Flüchtlingsfrage (1938) und die Folgen dieser Konferenz fanden keine Resonanz in der Schweiz. 45 Zu den Aktivitäten in der Schweiz im Rahmen der IHRA, vgl. https://www.holocaustremembrance. com/country/switzerland, letzter Zugriff : 18.05.2020. 46 Dieses Publikations-Projekt wurde 2008 von der Kontaktstelle für Holocaust-Überlebende mit Unterstützung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) lanciert. https://www.eda.admin. ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/news.html/content/eda/de/meta/news/2017/11/27/memoiren-holocaust.html, letzter Zugriff : 18.05.2020.
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gisch, dass wir jetzt auch hier Verantwortung übernommen haben, und uns bereit erklärt haben, diese Organisation während eines Jahres zu führen.47
Dieses Zitat drückt die Überzeugung aus, dass der Kampf gegen den Antisemitismus in der Schweiz dauerhaft und originär wäre, doch gibt es in der Schweiz auch eine Tradition des Antisemitismus, die in historischen Werken analysiert wurde. Tatsächlich gehörte die Eidgenossenschaft zu den Ländern, die den Juden erst verspätet gleiche Rechte gewährten.48 Im Herbst 1938 hatte sich die Schweiz als erster demokratischer Staat bereit erklärt, einen Vertrag mit dem Dritten Reich zu unterzeichnen, der eine antisemitische Norm in das Schweizer Recht aufnahm. Der Historiker André Lasserre bezeichnete 1995 diese von hochrangigen Persönlichkeiten vertretene und vom Bundesrat im Oktober 1938 einstimmig angenommene Haltung als moralische Kapitulation, wie auch die UEK betonte. Im Zusammenhang mit der Präsidentschaft der IHRA häuften sich nun die Hommagen an Carl Lutz, darunter auch ein Buch mit Zeugnissen.49 Nach der Veröffentlichung des Buches von Theo Tschuy im Jahr 1995 wurden die Archivforschungen jedoch darin nicht weiter fortgesetzt. Grundlegende Aspekte sind somit nicht Gegenstand der jüngsten Publikation, insbesondere auch nicht die Politik der höchsten Verantwortlichen der Schweizer Diplomatie : Im Juni 1944 hatte es der Chef des Eidgenössischen Politischen Departements, Marcel Pilet-Golaz, abgelehnt, den Stab der Schweizer Gesandtschaft in Budapest auf eine amerikanische Bitte hin aufzustocken, um ganz Ungarn beobachten und die Vernichtung der Juden verhindern zu können. Pilet-Golaz schrieb : „il faut lutter contre la tendance de transformer le rôle de la Puissance protectrice et de faire dévier l’activité de la Division des Intérêts étrangers de ce qu’elle doit être.“50 Mit der Beschränkung des diplomatischen Schutzes auf Aus47 SRF. „Marsch der Lebenden“. Tagesschau, 24.04.2017. https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/ marsch-der-lebenden?id=98c76dac-611d-4680-a66b-f842b4b048ce, letzter Zugriff : 18.05.2020. In L’Hebdo vom 26. Januar 2017 stellt Botschafter B. Bättig fest, dass sich die Schweiz „s’est toujours engagée pour la protection des minorités ou le combat contre l’antisémitisme, le racisme, la xénophobie. C‘est d‘autant plus important aujourd‘hui“. Auf die Frage des Journalisten nach den 15 Jahren seit der Veröffentlichung des UEK-Abschlussberichts antwortete er, dass es nicht beabsichtigt sei, noch einmal auf diese historischen Analysen, die nicht mehr auf der politischen Tagesordnung stünden, zurückzukommen. 48 Französischer, englischer und amerikanischer Druck wurde über einen langen Zeitraum auf den 1848 gegründeten Staat ausgeübt. Erst 1866 wurde die Diskriminierung von Nichtchristen beseitigt. Und erst die 1874 verabschiedete zweite Bundesverfassung hält die Gleichberechtigung ohne religiöse Diskriminierung fest. 49 Hirschi/Schallié/Snyder, Under Swiss Protection. 50 Notiz von Marcel Pilet-Golaz vom 21.06.1944. https://dodis.ch/47763, letzter Zugriff : 04.12.2020.
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länder in Ungarn wendete sich der Bundesrat gegen die Aktivitäten von Lutz und anderen, die jede mögliche Initiative ergriffen haben, um zu versuchen, Leben zu retten. Das 2017 erschienene Buch „Under Swiss protection“ enthält jedoch keine historische Analyse dieses schwerwiegenden Problems. Gegenwärtig macht die Vervielfachung der Gedenkaktivitäten um Carl Lutz51 ihn zu einem neuen Schweizer Helden, der sich in die von Thomas Maissen analysierten Reihe eingliedern lässt.52 Mitte 2017 zeigte Charles Heimberg die Hintergründe des Schweizer Vorsitzes in der IHRA auf. Nach einem Hinweis auf die Schlussfolgerungen der UEK und die Art und Weise, in der die Schweizer Behörden 2002 eine substanzielle Debatte verweigerten, schreibt der Professor an der Universität Genf, dass fünfzehn Jahre später „la situation est encore plus préoccupante puisqu’une véritable tendance à l’occultation s’observe, comme si les enjeux de mémoire en question, et les exigences morales qui en découlent, s’étaient estompés.“53 Trotz der schönen offiziellen Erklärungen beobachtet er eine Rehabilitierung der wohlwollenden Mythen über eine neutrale, humanitäre und großzügige Schweiz. Während die Versuche, die von der UEK analysierten, ernsten Probleme kleinzureden, sehr oft in den Medien Gehör finden, sei die „Erinnerungsarbeit“ durch eine „régression intellectuelle et civique“ gefährdet. Und weiter stellt Heimberg fest : Il est donc préoccupant d’observer que la présidence suisse de l’IHRA ne fait qu’y contribuer alors qu’elle aurait été une fort belle occasion de relancer une réflexion collective de la société suisse sur son passé. Une réflexion qui, à l’époque, lui avait fait honneur.54 (Das Dokument wurde 1992 im 15. Band der Diplomatischen Dokumente der Schweiz veröffentlicht). Übersetzung durch die Herausgebenden : „dass der Tendenz entgegengewirkt werden muss, die Rolle der Schutzmacht zu ändern und die Tätigkeit der Abteilung für fremde Interessen von dem her abzuleiten, was sie sein sollte.“ 51 Vgl. Rosenberg/Nikel, Das Glashaus. Dieses Werk beinhaltet Informationen, insbesondere über die Haltung von Lutz gegenüber Afrikanern, die eine weitere Analyse erfordern würden. Vgl. Zala, „Die Konjunkturzyklen des Carl Lutz“. 52 Maissen, Schweizer Heldengeschichten. 53 Übersetzung durch die Herausgebenden : „dass die Situation noch besorgniserregender ist, da eine wahrhaftige Tendenz zur Verschleierung zu beobachten ist, als ob die anstehenden Themen der Erinnerung und die sich daraus ergebenden moralischen Anforderungen verblasst wären.“ 54 Heimberg, „Travail de mémoire“. https://blogs.mediapart.fr/heimbergch/blog/010717/travail-dememoire-et-prevention-des-genocides-ne-peuvent-se-fonder-sur-loccultation, letzter Zugriff : 30.09. 2020. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Es ist daher besorgniserregend festzustellen, dass der Schweizer Vorsitz der IHRA nur dazu [zu einem intellektuellen und bürgerlichen Rückschritt] beiträgt, während dies eine sehr gute Gelegenheit gewesen wäre, eine kollektive Reflexion der Schweizer Gesellschaft über ihre Vergangenheit wieder in Gang zu bringen. Eine Reflexion, die ihr damals Ehre bereitet hätte.“
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Auch verpasste es die Schweizer Präsidentschaft der IHRA, die schweizerischen Opfer des Nationalsozialismus als Anliegen auf die Agenda ihres IHRA-Präsidialjahres zu setzen. Die Geschichte der Schweizer Opfer pendelt seit den Jahrzehnten nach Kriegsende in der öffentlichen Thematisierung zwischen Beschweigen und Beforschung ; dies gilt auch für die nach 1945 anstehenden Bemühungen ihrer Entschädigung seitens der Bundesrepublik Deutschland oder in Hinsicht einer moralischen, politischen und rechtlichen Anerkennung durch die Schweizer Regierung. Erst durch eine Resolution der Auslandschweizer-Organisation und eine Publikation dreier Journalisten hat das Thema 2019 eine öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.55 Bis März 2018 stand die IHRA unter Schweizer Vorsitz.56 Zur selben Zeit ist in der Schweiz die von der Gamaraal-Stiftung produzierte Ausstellung „The last Swiss Holocaust Survivors“, welche die Bedeutung der Arbeit der UEK erwähnt, ein Publikumserfolg.57 Die Veröffentlichung dieser sehr bewegenden Zeugnisse ist sicherlich eine notwendige und respektable Tätigkeit. Allerdings ergeben sich daraus historiographische und erinnerungspolitische Probleme. Für die Historikerin Rita Thalmann (1926–2013), deren in Basel geborene Mutter durch die Heirat mit einem Deutschen die Schweizer Staatsbürgerschaft verlor und während der deutschen Besatzung in Frankreich ums Leben kam, war die Shoah sowohl eine persönliche Erfahrung als auch ein Forschungsgebiet, wie sie in ihrem autobiografischen Werk zeigte.58 Im Jahr 2009 analysierte sie den Übergang von der „silence contraint aux dérives mémorielles“, also vom „erzwungenen Schweigen zum Fehlgehen der Erinnerungen“,59 indem sie die jahrzehntelange Gleichgültigkeit, dann die Vermehrung der Publikationen, von denen einige gar als Schwindel entlarvt wurden, nachzeichnet. Sie warnt vor einer Fülle von Zeugenaussagen, die nicht von der historischen Forschung begleitet werden, wodurch die Vergangenheit instrumentalisiert werden kann. Nach rund 20 Jahren Gedenkarbeit rund um den Holocaust ist es notwendig, Bilanz zu ziehen. Eine Schlussfolgerung ist, dass die Veröffentlichung von schrecklichen 55 Vgl. dazu die Beiträge von Regula Ludi, Christina Späti sowie Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid in diesem Sammelband. 56 Vgl. den Bericht der IHRA vom 20.06.2018 zur Schweizer Präsidentschaft : https://www.eda.admin. ch/dam/eda/en/documents/aktuell/dossiers/20180620-IHRA-CH17-report_EN.PDF, letzter Zugriff : 10.08.2020. 57 Vgl. Gamaraal Foundation. The Last Swiss Holocaust Survivors. https://www.last-swiss-holocaust-survivors.ch/en, letzter Zugriff : 03.08.2020. Peter Bollag bemerkt in seinem Artikel in der Jüdischen Allgemeine vom 08.05.2017 : „Die Schweiz hat in diesem Jahr den Vorsitz der Internationalen Allianz zur Holocaust-Erinnerung inne. Die allgemeine Öffentlichkeit des Landes hat diese Tatsache bisher kaum bemerkt.“ (http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/28512, letzter Zugriff : 05.03.2020) 58 Thalmann, Tout commença à Nuremberg. 59 Thalmann, „Du silence contraint“.
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Abb. 3 : Dritter Teil des Reliefs „Mémoire“ von Isabelle Perez bei der Jüdischen liberalen Gemeinde Genf (GIL). Foto : Fabienne Meyer 2020
Zeugenberichten im Namen der „Erinnerungspflicht“ nicht die gewünschte Wirkung hat. Im Jahr 2017 zeigten zwei Autorinnen die pädagogischen Grenzen und kontraproduktiven Auswirkungen der seit den 1990er-Jahren eingeleiteten Aktivitäten auf.60 Die Risiken der Ritualisierung sind auch von Autoren wie Michael Wolffsohn aufgezeigt worden.61 Im Januar 2020 stellt Professor Heimberg eine Entwicklung fest, welche die Ergebnisse der historischen Forschung über die Schweiz während des Holocaust immer mehr verdunkelt : Le fait que les autorités suisses prennent tant de soin à ne plus parler de ces questions qui ont engagé la responsabilité morale des autorités et des élites économiques de l’époque est d’autant plus absurde que le travail critique effectué à travers le rapport Bergier était tout à fait honorable. La régression mémorielle qui s’observe aujourd’hui mène par contre à de belles impasses.62 60 Gensburger/Lefranc, A quoi servent les politiques de mémoire ?. 61 Wolffsohn, „Rituelles Holocaust-Gedenken kann zur Falle werden“, NZZ, 30.01.2019. 62 Heimberg, „Défis d’histoire“. https://blogs.mediapart.fr/heimbergch/blog/260120/defis-d-histoire-et-
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Lücken und Perspektiven in der historischen Forschung Wie Peter Gautschi bemerkte, würden gewisse Aktivitäten heute als „zu Bergier-lastig“ empfunden.63 Immerhin, anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes in Europa reiht die NZZ den Schlussbericht der UEK zusammen mit Werken von Primo Levi, Marc Bloch oder Ian Kershaw in die Liste der 15 wichtigsten Bücher zum Zweiten Weltkrieg ein.64 Tatsächlich verblasst nach und nach die Heftigkeit der Polemiken, und die Veröffentlichungen der UEK werden wieder aufmerksamer gelesen. Als Beispiel sei hier die Ausstellung aufgeführt, die das Historische Museum Basel von August 2020 bis März 2021 zeigte und die sich auf die Region Basel während der Jahre des Nationalsozialismus konzentriert. Im Ausstellungskatalog erhält die UEK eine starke Präsenz, sei es durch Zitate aus ihren Berichten oder durch Beiträge von Personen, die für die UEK gearbeitet haben. Thomas Maissen weist im Katalog darauf hin, dass die Analysen der UEK von Personen abgelehnt worden sind, welche die Zeit des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz erlebt hatten und die auf Archivmaterial basierenden Analysen als zu theoretisch verunglimpften. Die Virulenz dieser Kritik, welche die aktive Unterstützung konservativer Kreise genoss, beeinflusste auch die Zurückhaltung der Bundesbehörden : Man mag bedauern, dass die Reaktion gerade der offiziellen Schweiz auf die Leistungen und den Schlussbericht der UEK verhalten war. Aber deren Tätigkeit symbolisierte wie nichts anderes den unvermeidlichen Sieg der Geschichtswissenschaft über die Selbsterklärung der seltener werdenden Zeitgenossen.65
Andere Institutionen spielen eine zentrale Rolle bei der Fortführung und Erweiterung der historischen Forschung. Dies gilt insbesondere für das Archiv für Zeitgeschichte, das unter dem Vorsitz von Jean-François Bergier durch Klaus Urner gegründet de-memoire-dans-la-duree-75-ans-apres-la-fin-d-auschwitz, letzter Zugriff : 05.04.2020. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Die Tatsache, dass die Schweizer Behörden so sehr darauf bedacht sind, nicht mehr über diese Fragen zu sprechen, bei denen es um die moralische Verantwortung der Behörden und der damaligen Wirtschaftseliten ging, ist umso absurder, als die kritische Arbeit, die mit dem Bergier-Bericht geleistet wurde, recht ehrenhaft war. Hingegen führt der heute zu beobachtende Rückschritt in der Erinnerung in regelrechte Sackgassen.“ 63 Tribelhorn/Aschwanden, „Peter Gautschi im Interview“, NZZ, 25.04.2020. https://www.nzz.ch/ schweiz/peter-gautschi-im-interview-geschichtsunterricht-ld.1546925, letzter Zugriff : 01.10.2020. 64 Ernst/Mijnssen/Mäder/Tribelhorn, „Der Weltkrieg in Büchern“, NZZ, 22.05.2020. https://www.nzz.ch/ feuilleton/zweiter-weltkrieg-diese-fuenfzehn-buecher-sollten-sie-kennen-ld.1555667, letzter Zugriff : 30.09.2020. 65 Maissen, „Einleitende Gedanken“, S. 14.
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wurde66 und seit 2007 von Gregor Spuhler geleitet wird, der einer der Hauptautoren des UEK-Berichtes zur Flüchtlingspolitik war.67 So ist es möglich, sowohl neue Forschungen zu fördern als auch die Kontinuität der Forschungen der UEK zu sichern. Das 1996 von der Bundesverwaltung ausgearbeitete Mandat des Bundesrates an die UEK listet die zu analysierenden Probleme auf, insbesondere die bisher umstrittensten und am wenigsten untersuchten Aspekte. Wirtschafts- und Finanzfragen durchziehen die meisten Themen. Aspekte wie die Landesverteidigung, das Alltagsleben der Schweizer oder die Neutralitätspolitik gehörten hingegen nicht in die Liste des 19. Dezember 1996. Der Bundesrat war vielmehr der Auffassung, dass kontroverse und offene Fragen vorrangig behandelt werden sollten. So gab es vereinzelte Zeugenaussagen, die 1997 in den Medien ein enormes Echo fanden, insbesondere die Aussage einer anonymen Zeugin, die behauptete, dass Züge zu den Vernichtungslagern durch die Schweiz gefahren seien ; die UEK hat dies vollständig dementiert und gezeigt, dass diese Zeugin möglicherweise 1943 mit 1945 verwechselt hat, als sie Überlebende nach ihrer Befreiung in die Schweiz kommen sah. Unter den Millionen von Deportierten kamen jedoch auch Schweizerinnen und Schweizer in den NS-Lagern ums Leben. Auch die Forschung zu diesem tragischen und wenig bekannten Thema wurde vom Bundesrat nicht in das Mandat der UEK vom 19. Dezember 1996 aufgenommen, doch verweist die UEK im Schlussbericht wie im Spezialband zum öffentlichen Recht auf die Frage des Opfer-, Rechts- und Diplomatieschutzes gegenüber den vom NS-Staat Verfolgten, unter denen sich auch nicht wenige Frauen befanden, die damals durch Heirat mit einem Ausländer ihr Schweizer Bürgerrecht verloren. Gegenwärtig wird diese Forschungslücke durch motivierte Publikationen und Projekte bearbeitet. Dies entspricht den Wünschen, die 2002 geäußert wurden, als die UEK ihren Abschlussbericht veröffentlichte und weitere historische Analysen anregte.
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Wulff Bickenbach
Grüningers Schicksal auf dem Weg zur Gerechtigkeit
Paul Grüninger’s life, attitude and work are exemplary. Do they still have influence, and what political significance, if any, is there inside and outside Switzerland ? One indicator is the effects of the different explanations and political reactions to the ten attempts at rehabilitation that have been made since 1941 after Paul Grüninger’s conviction in St. Gallen. Can answers be given in terms of historical or political reminiscences ? Entgegen staatlicher Weisungen des Bundes und mit Einverständnis seines Vorgesetzten, Regierungsrat Valentin Keel, hatte Paul Grüninger (1891–1972) als Polizeihauptmann und Kommandant der St. Galler Kantonspolizei bis 1939 Hunderte jüdischer Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung und dem sicheren Tod gerettet.1 Im Mai 1939 wurde Grüninger ohne Pensionsansprüche aus dem Polizeidienst entlassen und am 23. Dezember 1940 durch das Bezirksgericht St. Gallen zu einer Geldstrafe und zur Zahlung der Gerichtskosten verurteilt. Die Verurteilung erfolgte nicht wegen Verstoßes gegen die damalige Flüchtlingspolitik der Schweiz, sondern wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung. Auf diese Weise musste das Gericht die gängige Schweizer Flüchtlingspolitik – und damit moralisch fragwürdige Praktiken – nicht erwähnen.2 Zahlreiche Male wurde versucht, das Urteil revidieren zu lassen und Grüninger über den Schweizerisch Israelitischen Gemeindebund (SIG), über die Kantons- und Stadtregierung St. Gallen oder über den Bundesrat zu rehabilitieren. Zehn Anläufe waren nötig, bis dies 58 Jahre nach der Verurteilung von Paul Grüninger und 23 Jahre nach seinem Tod auch tatsächlich gelang. Trotz rechtlich unklarer Begründung unterstrich der geschäftsleitende Staatsanwalt 1995, dass das Wiederaufnahmebegehren als ein Akt der juristischen Vergangenheitsbewältigung eines Landes betrachtet werden könne, „das den Schrecken des zweiten Weltkrieges einigermassen unbeschadet entronnen ist“.3
1 Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Flüchtlinge, S. 166f. 2 Vgl. Keller, Grüningers Fall ; Bickenbach, Gerechtigkeit. 3 Staatsanwaltschaft St. Gallen, Staatsanwalt Markus Rohrer, 27.11.1995, Plädoyer im Wiederaufnahmeverfahren Paul Grüninger (URA/95/000), S. 1 ; Vgl. dazu auch Bickenbach, Gerechtigkeit, S. 273.
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Einen Großteil des politischen Bedeutungsfeldes von Paul Grüningers Rehabilitierungsprozess grenzen diese beiden Gerichtsverfahren ein. Im ersten war Grüninger verurteilt worden, um die konservative, engstirnige Politik der St. Galler Kantonsregierung im Sinne der Schweizer Regierung zu rechtfertigen. Grüningers Freispruch schließlich, erkämpft durch politischen und juristischen Einsatz, steht für ein verändertes Rechtsempfinden : Begangenes Unrecht sollte endlich wieder gutgemacht werden.4
Ein langjähriger Rehabilitierungsprozess Die Darstellungen von Paul Grüningers Verurteilung, seiner Rehabilitierung und seiner moralischen Vorbildfunktion, die er mittlerweile durchaus innehat, haben in der Schweiz auch eine politische Bedeutung. Sein Rehabilitierungsprozess berührte das Staatsverständnis der Schweiz in Bevölkerung und Regierung in unterschiedlichem Maße. Mit den Rehabilitierungs-Begründungen sollte jeweils das politische Interesse an der Person und dem Schicksal Grüningers geweckt werden – es wurde versucht, die moralische Haltung der staatlichen Akteure gegenüber Grüninger zu ändern. Die Vorgänge um die Rehabilitierung repräsentieren also ein starkes Momentum der Erinnerung, ein Momentum, aus dem sich auch die politische Bedeutung des Holocaust wie der Reaktionen darauf in der Schweiz lesen lässt. Eine Rehabilitierung Grüningers hätte bereits im Januar 1941 Erfolg haben können : Das Urteil war gesprochen und Grüninger hatte aus Kostengründen keine Berufung eingelegt. Der Basler Bürger Albert Falk forderte den SIG und alle größeren israelitischen Gemeinden aber dazu auf, Grüninger und seiner Familie Dank in „praktischer Weise“ auszudrücken und ihm eine Anstellung zu vermitteln. Der SIG gab zur Antwort, dass man sich um eine Anstellung kümmern werde, „was man aber nicht an die große Glocke zu hängen braucht“.5 Wie das Schicksal Grüningers sollte auch nicht publik gemacht werden, dass der SIG wegen der Unterstützungszahlungen der vielen Flüchtlinge finanziell stark belastet war, zumal das illegale Hereinlassen in die Schweiz nach wie vor strafbar war. Eine entsprechende Anstellung bekam Grüninger nicht. Das Schreiben Falks gilt als erster Rehabilitierungsversuch. Nach 1945 vermied die politische Führung der Schweiz vorerst eine offene, nachhaltige Diskussion über ihre Geschichte der dreißiger und vierziger Jahre. Grüningers 4 Vgl. Bickenbach, Gerechtigkeit, S. 304. 5 Archiv für Zeitgeschichte, JB, SIG Archiv 2302, St. Gallen, 21. Januar 1941, Herrn Fürsprech Georges Brunschvig ; Vgl. auch Bickenbach, Gerechtigkeit, S. 211.
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Schicksal wurde weder von Oskar Schürch im durchaus realistischen Rechenschaftsbericht zum Flüchtlingswesen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements von 1951 erwähnt, noch 1957 im Ludwig Bericht oder in Oskar Wyss’ Erhebungen Ende der 1960er-Jahre.6 Bis Ende der 1960er-Jahre lösten auch staatliche Untersuchungen wenig Diskurs und kaum Selbstkritik im Grundverständnis eidgenössischer Flüchtlingsgeschichte aus. Berichte und Untersuchungen zur Flüchtlingspolitik der Schweiz, die das Fehlverhalten der Schweiz zur Flüchtlingspolitik nachwiesen, wurden unterdrückt oder offiziell nicht anerkannt.7 Erst ab 1968 zeigten Grüningers Zivilcourage und seine ethisch-christliche Haltung eine erste spürbare Wirkung in der Bevölkerung und bei Historikern.8 Die großzügige Aufnahme von tschechoslowakischen Flüchtlingen in der Schweiz nach dem Ende des Prager Frühlings rückte Grüninger plötzlich in den Fokus der Medien. Grüningers Tochter Ruth Roduner hatte das Schicksal ihres Vaters dem St. Galler Ständerat, Dr. Willi Rohner, dargelegt. Dessen Leserbrief in der Zeitung „Allgemeiner Anzeiger“ schilderte Grüningers menschliche Haltung gegenüber Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Deutschland und rückte das Unbehagen über die Behandlung durch den Kanton und den Schweizer Staat in den Vordergrund : „Im Widerstreit zwischen sturer bürokratischer Pflichterfüllung und menschlichem Empfinden“, habe Grüninger in „schwerer Gewissensnot“ seine allzu eng gezogenen amtlichen Befugnisse überschritten, „um zahlreiche dieser Todgeweihten in unser Land zu lassen und damit vor dem sicheren Untergang zu retten“, schrieb Rohner damals. Es sollte dem Kanton St. Gallen und der ganzen Öffentlichkeit eine Ehrenpflicht sein, ein Unrecht an einem Manne gutzumachen, der sich in einer Zeit der Barbarisierung und Verfinsterung Europas über eine inhumane amtliche Vorschrift hinwegsetzt und das getan hat, was ihn Menschlichkeit und einfache Christenpflicht zu tun hiessen.9
Diese grundsätzlichen Aussagen fanden sich mehr oder weniger im Tenor aller weiteren Rehabilitierungs-Begründungen. Kantonsrat Hans Breitenmoser-Gossau appellierte am 22. Oktober 1968 an die St. Galler Kantonsregierung und fragte, „ob es nicht gerechtfertigt wäre, allenfalls begangenes Unrecht gutzumachen und den Fall
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Vgl. Schürch, Flüchtlingswesen ; Ludwig, Flüchtlingspolitik ; Wyss, Grenzwachtkorps. Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Flüchtlinge, S. 26. Vgl. u.a. Häsler, Das Boot ist voll ; Meienberg, Brandenburg ; Rings, Golddrehscheibe. Rohner, „Unrecht sollte wieder gutgemacht werden“.
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Grüninger nochmals aufzurollen.“10 Am 16. Dezember 1968 beschloss der St. Galler Regierungsrat jedoch, „dass es – auch im Interesse des Betroffenen – bei Würdigung aller Umstände nicht angezeigt“ erscheine, auf den Fall Grüninger zurückzukommen.11 Die Appellation Breitenmoser-Gossaus und Rohners Leserbrief fanden breiten Widerhall in Schweizer und internationalen Zeitungen. Das Echo führte auch dazu, dass Grüninger von einer Vereinigung jüdischer Kriegsveteranen aus den USA öffentlich geehrt wurde.12 Rehabilitierungsversuche gab es Ende der 1960er und Anfang der 1970er-Jahre einige, adressiert wurden dabei der SIG oder der Kanton St. Gallen. Von Forderungen nach einer Rentenzahlung über die Anfrage von Kantonsrat Leza Uffer für eine offizielle Rehabilitierung zu Grüningers 80. Geburtstag bis hin zu Bemühungen durch die Christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft der Schweiz : Erfolgreich waren die Versuche jeweils nur bedingt. Auf eine Anfrage hin wiegelte der SIG beispielsweise 1969 ab, eine Rehabilitierung wäre im Grunde in der Schweiz „gänzlich unüblich“.13 Man gratulierte Grüninger aber immerhin zum Geburtstag, zusammen mit einer Auszahlung von 1000 Schweizer Franken.14 Die St. Galler Regierung blieb ebenfalls bei ihrer ablehnenden Haltung. Der Regierungsrat bezeugte Paul Grüninger Ende Dezember 1970 in einem Schreiben „für die menschliche Einstellung“ zwar ihre ausdrückliche Anerkennung. Er schrieb aber auch, dass er „aus grundsätzlichen Erwägungen nicht mehr auf die damaligen rechtskräftigen Gerichts- und Verwaltungsentscheide zurückkommen“ könne.15 Die Presse fasste dieses Schreiben teilweise als Rehabilitierung auf, wenn auch als eine „billige Ehrenrettung“, die die Würde des Hauptmannes nicht wiederherstellen könne. Der „Schweizerische Beobachter“ nannte das Ganze einen Vorwand, um „auch nicht einen einzigen Schritt auf dem Wege zur Wiedergutmachung machen zu müssen“.16 Die zivilen Ehrungen und Spenden nahmen dank den Zeitungsberichten im Jahr vor Grüningers Tod zu. Dazu gezählt werden kann auch der Dokumentarfilm „Hauptmann Grüninger“, den das Schweizer Fernsehen im Mai 1971 trotz langanhaltender
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Staatsanwaltschaft St. Gallen 2006, Amtsberichte, 22.10.1968, S. 117f. Zitiert nach Keller, Grüningers Fall, S. 220. Vgl. Ebd. Staatsanwaltschaft St. Gallen 2006. Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, JUNA, Pressestelle, 21.04.1969 Jewish War Veterans, Chicago USA ; Vgl. auch Bickenbach, Gerechtigkeit, S. 214. 14 Vgl. Keller, Grüningers Fall, S. 221. 15 Staatsarchiv St. Gallen. Privatarchiv Paul Grüninger (1891–1972) Polizeihauptmann, Flüchtlingshelfer. Protokoll des Regierungsrates des Kantons St. Gallen, Sitzung vom 22.12.1970, Nr. 1578, Alt Polizeihauptmann Grüninger, Au : Anerkennungsschreiben. 16 Der Schweizerische Beobachter, „Billige Ehrenrettung“.
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heftiger Proteste des Kantons St. Gallen gegen das Drehbuch und die Ausstrahlung erstmals zeigte.17 Kurz vor der Erstausstrahlung drohte der St. Galler Regierungsrat : „Sollte die st. gallische Regierung in diesem Film angegriffen werden, müssen wir uns vorbehalten, aus der bisher mit Rücksicht auf Herrn Grüninger geübten Reserve herauszutreten.“18 Ebenfalls noch zu seinen Lebzeiten wurde Paul Grüninger von der israelischen Stiftung Yad Vashem mit der „Medaille der Gerechten“ ausgezeichnet.19 Zwei Monate vor Grüningers Tod erreichte das Rehabilitierungsbegehren erstmals die Schweizer Bundesebene. Der damalige Bundespräsident, Bundesrat Nello Celio, wies das Gesuch eines Krienser Bürgers aber zurück. Der Bundesrat sei nicht zuständig, stellte er fest, um dann jedoch zu argumentieren, der Regierungsrat St. Gallen habe Grüninger in seinem Schreiben vom 22. Dezember 1970 für seine Haltung gegenüber den Flüchtlingen Dank und Anerkennung ausgesprochen, „womit ihm noch rechtzeitig vor seinem Tode die verdiente menschliche Genugtuung widerfahren ist“.20 Am 22. Februar 1972 starb Paul Grüninger. Erst zwölf Jahre später, 1984, wurde der nächste politische Vorstoß im St. Galler Parlament lanciert. Die ständig wiederkehrende Ablehnung der bisherigen Rehabilitierungs-Begehren und die dadurch entstandene historische und staatspolitische Diskussion veranlassten in den 1980er-Jahren die beiden sozialdemokratischen St. Galler Kantonsräte Paul Rechsteiner (1984) und Hans Fässler (1989) dazu, erneut die rechtliche Rehabilitierung des ehemaligen Polizeikommandanten zu fordern. Fässler fragte dabei erstmals in den bisherigen Rehabilitierungen nach der Gesamtverantwortung für die Flüchtlingspolitik. Mögliche Veränderungen des Schweizer Geschichtsdiskurses und eine Neubeurteilung der Schweizer Flüchtlingspolitik zu Zeiten des Nationalsozialismus drangen immer stärker in die Öffentlichkeit. Beide Gesuche wurden durch den Großen Rat des Kantons St. Gallen jedoch abgelehnt.21 Die Gründe waren nicht neu : Eine St. Galler Kantonsregierung übe keine Kritik an einer Vorgängerregierung ; ein Historiker solle sich um die Angelegenheit Grüninger kümmern ; es gehe bei den Rehabilitierungsgesuchen allenfalls um die Kritik an der damaligen Gesellschaft und der Armee. 17 Vitalie, Hauptmann Grüninger. 18 Staatsarchiv St. Gallen, Privatarchiv Paul Grüninger (1891–1972) Polizeihauptmann, Flüchtlingshelfer. Der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartementes des Kantons St. Gallen, 11.05.1971, Herrn Marcel Bezencon, SRG. 19 Vgl. dazu auch den Beitrag zu den „Gerechten unter den Völkern“ in Yad Vashem von Daniel Gerson in diesem Sammelband. 20 Schweizerisches Bundesarchiv Bern. C. 2. 1852, E 4320 (B), Bd. 10, 1971–1978, Der Vorsteher des Eidg. Finanz- und Zolldepartements, Bern 02.03.1972, Herrn Bruno Willisegger ; Vgl. auch Bickenbach, Gerechtigkeit, S. 226. 21 Vgl. Keller, Grüningers Fall, S. 226.
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Erst Ende November 1993 hat der St. Galler Regierungsrat Paul Grüninger aufgrund einer Untersuchung des Historikers Stefan Keller politisch rehabilitiert. 1994 folgte eine Ehrenerklärung für den Polizeikommandanten durch den Schweizer Bundesrat.22 1995 kam es schließlich auch zur erfolgreichen rechtlichen Rehabilitierung Paul Grüningers : Paul Rechsteiner, selbst Rechtsanwalt, hatte sich im weiteren Rehabilitierungsbegehren, unter Hinzuziehung eines umfangreichen rechtlichen Gutachtens, vom Kanton St. Gallen nicht mehr abwimmeln lassen. Die hartnäckigen Rehabilitierungsversuche und ihre politischen Auswirkungen erzielten im zehnten Anlauf in Staats-Gremien der Schweiz einen – wenn auch vorerst nicht vollkommenen – Erfolg. Gegen einen finanziellen Ausgleich wehrte sich die St. Galler Regierung noch rund zwei weitere Jahre. 23 Jahre nach seinem Tod und mehr als 50 Jahre nach seiner Verurteilung hat sich das zuständige Gericht dazu entschieden, Paul Grüningers ethisches und moralisches Verhalten anzuerkennen und ihn posthum zu rehabilitieren. Am 30. November 1995 sprach das St. Galler Bezirksgericht Paul Grüninger frei. Die Zeit dafür schien endlich reif gewesen zu sein. Erst zwei Jahre später gestand der Kanton St. Gallen der Familie zu, einen finanziellen Ausgleich von zwei Millionen Schweizer Franken in eine Stiftung in ihrem Sinne einzubringen. Der Kanton behielt sich allerdings eine Mehrheit im Stiftungsrat vor, dem Grüningers Tochter Ruth Roduner widersprach. Am 1. April 1998 trafen der Kanton und die Grüninger-Seite eine Vereinbarung auf der Basis von 1,3 Millionen Schweizer Franken zur Gründung der Paul Grüninger Stiftung. Rückblickend meinte die St. Galler Regierungspräsidentin Katrin Hilber 2007, dass Grüninger viel früher den Platz hätte erhalten können, der ihm gebührte. Zu einem solchen Erfolg hätten jedoch die politischen Allianzen der Entscheidungsträger gefehlt.23
Eine moralische Vorbildfunktion Der Rehabilitierungsprozess um Paul Grüninger veränderte die Erinnerungskultur zur Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges. Unter anderem führte die Initiative Paul Rechsteiners auch dazu, dass sich ab 1996 eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) mit der Geschichte der Schweiz zur Zeit des Zweiten Welt-
22 Antwort des Bundesrates vom 13.06.1994 auf die Einfache Anfrage Rechsteiner zur Rehabilitierung von Polizeihauptmann Paul Grüninger (93.1118) vom 17.12.1993 : https://www.eda.admin.ch/dea/de/ home/suche.html/eda/de/meta/pv/zweiter-weltkrieg/1990-1999/rehabilitierung-von-polizeihauptmann-paul-grueninger, letzter Zugriff : 14.02.2020. 23 Gespräch zwischen dem Autor und Katrin Hilber, St. Gallen, 15.06.2007.
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Abb. 1 : Inschrift auf dem Grab von Paul und Alice Grüninger-Federer in Au, SG, gestaltet von Norbert Möslang. Foto : Fabienne Meyer 2020
krieges auseinandersetzen sollte. Grüningers ethisches Verhalten wurde auch in den Berichten der UEK ausführlich dargestellt.24 Bei unveränderter Rechtslage, aber verändertem Rechtsempfinden stellte die UEK in ihrem Schlussbericht 2002 fest, dass die Behörden den „Sinn für das richtige, gerechte Recht“ dort vermissen ließen, „wo sie auf Praktiken zurückgriffen, welche mit den ‘übergesetzlichen’ Grundsätzen der Menschlichkeit nicht zu vereinbaren waren“.25 Grüningers Rehabilitierungsverlauf gab denn auch Anlass für die Einbringung und Verabschiedung des Schweizerischen Bundesgesetzes über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus vom 20. Juni 2003.26 Die Rehabilitierungskommission hat von 2004 bis 2011 auf dieser rechtlichen Grundlage 137 Personen rehabilitiert. Die Rehabilitierung Grüningers zog jedoch nicht nur juristische oder politische Konsequenzen nach sich, auch in kultureller und bildungspolitischer Hinsicht hatte die Figur Paul Grüningers dauerhafte Auswirkungen. So fand sein Wirken Eingang
24 Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Flüchtlinge. 25 Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Schlussbericht, S. 431. 26 Bundesgesetz über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus, 20.06.2003 : http://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2003/4570.pdf, letzter Zugriff : 14.02.2020.
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in deutsch- und französischsprachige Schweizer Schulbücher, wenn auch erst lange nach seinem Tode und seiner Rehabilitierung. Erstmals in einem Schulbuch erwähnt wird Paul Grüninger 1998.27 Noch bis Anfang der 2010er-Jahre wurde sein Wirken kontrovers dargestellt.28 Das 2014 erschienene Buch „Menschen mit Zivilcourage“ des Lehrmittelverlages Luzern zeichnet ein ausführliches Portrait Grüningers mit deutlichen Hinweisen zu dessen Rehabilitierung und Gedenken, sowie zu seiner zeitgeschichtlichen Wirkung und Würdigung.29 Ähnliches beinhaltet auch das Themenbuch „Gesellschaften im Wandel“ des Lehrmittelverlages Zürich von 2017.30 Paul Grüningers Rehabilitierungsprozess wird auch im kulturellen Bereich aufgegriffen : Am Theater St. Gallen wurde 2013/2014 das Theaterstück „Paul Grüninger – Ein Grenzgänger“ wiederholt aufgeführt.31 Mit dem von der SRG finanzierten Kinofilm „Akte Grüninger“ von 2014 wurde die Geschichte Grüningers noch stärker popularisiert. Seine Rehabilitierungsgeschichte blieb darin jedoch mehrheitlich ausgeblendet. Aber auch materielle Denkmäler wurden dem Flüchtlingshelfer gewidmet : Sein Name ziert einen zentralen Platz in Sankt Gallen sowie Straßen in Schweizer und in israelischen Gemeinden. Im Wiener Stadtteil Floridsdorf wurde 1996 die Paul-Grüninger-Schule erbaut. Das Stadion des FC Brühl sowie die Rheinbrücke zwischen Diepoldsau und Hohenems wurden trotz einiger politischer Querelen nach Paul Grüninger benannt. Und an seinem ehemaligen Wohnhaus in Au erinnert eine Tafel an sein Wirken, seine Verurteilung und Rehabilitierung.32 Zudem wurde Paul Grüninger 2014 mit einer Feier und der Einweihung einer Gedenktafel durch die St. Galler Kantonspolizei geehrt. Der St. Galler Justiz- und Polizeidirektor Fredy Fässler drückte aus, dass Paul Grüninger allen ein Vorbild sein sollte.33 Paul Grüningers Aktualität zeigte sich im August 2019 auch anlässlich des Strafprozesses des Walliser Kantonsgerichtes gegen die Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz, die einen afghanischen Flüchtling über die italienisch-schweizerische Grenze gebracht hatte : Im Zuschauerraum wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Grüninger“ hochgehalten.34 27 Vgl. Felder et al. Schweiz. 28 Lang andauernde Kontroversen gab es beispielsweise rund um das Schulgeschichtsbuch : Bonhage et al. Hinschauen. Vgl. dazu auch : Rauber, „Bergier „light“ für die Schule“. Neue Zürcher Zeitung, 19.03.2006 : https://www.nzz.ch/articleDNWNN-1.19600, letzter Zugriff : 12.02.2020. 29 Vgl. Wyss et al. Zivilcourage. 30 Vgl. Marti et al. Gesellschaften. 31 Vgl. Gabriel / Stazol, Nina, Grenzgänger. 32 Vgl. dazu auch den Beitrag von Fabienne Meyer in diesem Sammelband. 33 Vgl. SDA. „Späte Rehabilitierung Paul Grüningers“. Neue Zürcher Zeitung, 15.08.2014. https://www. nzz.ch/schweiz/spaete-rehabilitation-paul-grueningers-1.18363718, letzter Zugriff : 12.02.2020. 34 Vgl. Maurer, „Das Wunder vom Wallis bleibt aus“, Tagblatt, 21.08.2019 : https://www.tagblatt.ch/newsticker/schweiz/urteil-kantonsgericht-anni-lanz-ld.1144871, letzter Zugriff : 12.02.2020.
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Lanz erhielt 2019 zudem den Preis der Paul-Grüninger-Stiftung.35 Im Oktober 2020 wurde Paul Grüninger außerdem in die neue Dauerausstellung der deutschen Gedenkstätte „Stille Helden“ in Berlin aufgenommen, die dem Widerstand gegen Judenverfolgungen gewidmet ist.36 Aus Gesprächen im Rahmen dieser Recherche wurden von vielen Seiten immer wider Überlegungen zu möglichen weiteren Aktivitäten im Rahmen eines politischen Bedeutungsfeldes zu Grüninger geäußert.37 Paul Grüningers Leben, seine Haltung und sein Wirken sind beispielhaft. Grüninger hat sich als Symbolfigur für Zivilcourage und Menschenrechte im kulturellen Gedächtnis festgesetzt und die traditionellen Grundüberzeugungen der Menschen in der Schweiz und darüber hinaus positiv verändert. Beispielhaft sind auch seine späte Rehabilitierung und Ehrung.38 Für die nachwachsende Generation stellt sich die Frage, ob genügend Motivationskraft für eine fortdauernde Auseinandersetzung mit dieser Symbolfigur vorhanden ist, insbesondere bezüglich der veränderten menschenrechtlichen Implikationen.
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35 Der Paul-Grüninger-Preis ging auch an die Crew-Mitglieder des Rettungsschiffes Iuventa sowie an die Hilfsorganisation Mosaik. Vgl. dazu Medienmitteilung der Paul Grüninger Stiftung vom 10.04.2019 : http://www.paul-grueninger.ch/pagine/stiftung/paul-grueninger-preis-2019.html, letzter Zugriff : 12.02.2020. 36 Gedenkstätte „Stille Helden“. Widerstand gegen die Judenverfolgung, 1933–1945, Berlin : https://www. gedenkstaette-stille-helden.de/gedenkstaette/, letzter Zugriff : 12.02.2020. Zur Präsenz Paul Grüningers, vgl. dazu auch den Beitrag von Kaspar Surber in diesem Sammelband. 37 Beispielsweise : Online-Stellung der digitalisierten Akten beider Grüninger-Prozesse ; eine Würdigungs- und Erinnerungsfeier zum 50. Todestag Paul Grüningers oder zu seinem 130. Geburtstag durch den Kanton St. Gallen mit Einladung an damalige Flüchtlinge oder deren Angehörige ; Die Einrichtung eines Shoah-Gedächtnistages in der Schweiz ; Entschädigungszahlungen an abgewiesene Flüchtlinge oder deren Angehörige ; das Anbringen je eines „Stolpersteines“ bei ehemaligen aber noch existierenden Schweizer Grenzgebäuden zur Zeit des Nationalsozialismus. 38 Vgl. dazu auch den Beitrag zu Raoul Wallenberg von Nadav Kaplan in diesem Sammelband.
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Christina Späti
Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Erforschung der Schweizer NS-Opfer Research in the field of Swiss victims of National Socialism is associated with many difficulties. Questions arise regarding the treatment of dual citizens and native-born Swiss women, the correct handling of the wide range of victim definitions, the protection of victims by diplomats and officials, and the behavior of collaborative governments. On the other hand, the comparatively good source material allows an in-depth examination of the very different fates of victims and the victim diplomacy of neutral states against the background of contemporary ideological interpretations. Dass auch Schweizerinnen und Schweizer Opfer der NS-Gewaltherrschaft wurden, hat sich kaum ins kollektive Gedächtnis der Schweiz eingeprägt. Obwohl sich in der Zeit zwischen 1933 und 1945 Hunderte von Schweizerinnen und Schweizern an die Schweizer Konsulate und Gesandtschaften in zahlreichen europäischen Ländern wandten und um Schutz vor Verfolgungsmaßnahmen durch die nationalsozialistischen Behörden baten, – und damit aktenkundig wurden –, ist diese Geschichte bis heute kaum aufgearbeitet worden. Zahlreiche dieser NS-Opfer beschäftigten die Behörden über Jahre und noch deutlich über das Kriegsende hinaus. So waren einige von ihnen viele Monate interniert oder wurden in Konzentrationslager deportiert, wo sich ihre Spur verlor. Andere kehrten nach ihrer Befreiung in die Schweiz zurück und wandten sich an die Behörden, um Entschädigung für das erlittene Leid zu erhalten. Ab Mitte der 1950er-Jahre waren zahlreiche Bundesbeamte und Diplomaten an Verhandlungen und Umsetzungen rund um eine Entschädigung für Schweizer NS-Opfer beteiligt. Und einige der Holocaust-Überlebenden meldeten sich in der Öffentlichkeit zu Wort. Der Waadtländer Pfarrer Ami Bornand beispielsweise berichtete 1946 im Kanton Neuenburg mehrmals über seine Erlebnisse im KZ Dachau.1 Und René Pilloud, Überlebender des KZ Mauthausen, sandte nach Kriegsende seine Erinnerungen an mehrere Schweizer Zeitungen, die sie, wenn auch teilweise stark gekürzt, abdruckten.2 1 Vgl. bspw. Sp. „Souvenirs de Dachau.“ Feuille d’Avis de Neuchâtel, 12.02.1946, S. 6. 2 Vgl. bspw. B., „Erlebnisse eines Schweizers in Mauthausen.“ St. Galler Tagblatt, 14.09.1945 ; „Was ein von der Gestapo verschleppter Schweizer erlebte.“ National-Zeitung (Morgen-Blatt), 22.09.1945 ; Pilloud, René. „Un jeune Fribourgeois dans un camp de concentration.“ La Liberté, 24.08.1946, S. 8–9
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Nichtsdestotrotz stellen die Schweizer NS-Opfer bis heute ein erhebliches Forschungsdesiderat dar. Neuerdings liegt eine sorgfältig erstellte und reflektierte Studie zu den Schweizer KZ-Opfern vor.3 Um die große Menge an Quellen zu bewältigen, konzentrierten sich die drei Autoren auf die ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern in einem engeren Sinne. NS-Opfer, die in Internierungslagern in den besetzten Gebieten, in Gefängnissen oder Arbeitslagern eingesperrt oder erschossen worden waren, wurden hier nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie jene, die nicht verhaftet, aber zur Flucht gezwungen worden waren oder in der Folge von „Arisierungen“ und anderen Diskriminierungen wirtschaftliche Verluste erlitten hatten.4 Im Folgenden wird am Beispiel Frankreichs aufgezeigt, wo die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der geschichtswissenschaftlichen Erforschung der Schweizer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung liegen.5 Gerade bei Kollaborationsregierungen stellt sich beispielsweise die Frage, wer denn verantwortlich war, wenn Schweizer*innen von lokalen Behörden verhaftet und in lokalen Lagern interniert waren. Während in diesem Fall nicht a priori von NS-Opfern zu sprechen sein wird, gilt der Umkehrschluss, dass es sich hier nicht um NS-Opfer handle, auch nicht. Dafür waren die Abhängigkeiten und Verflechtungen zwischen dem Deutschen Reich und den besetzten Gebieten viel zu groß, insbesondere, was die Verfolgung von Jüdinnen und Juden betrifft.6 Beispielsweise wurden in Frankreich in einigen Fällen verhaftete Juden zunächst im Lager Drancy bei Paris interniert, das bis Sommer 1943 dem französischen Polizeipräfekten unterstand, dann aber später ins Deutsche Reich oder in Konzentrationslager deportiert. Ähnliches gilt auch für nicht-jüdische Personen, die in Frankreich aufgrund von gemeinrechtlichen Vergehen zu Zwangsarbeit verurteilt wurden und diese dann anschließend im Reich leisten mussten, ebenso wie offensichtlich für diejenigen, die nach ihrer Verhaftung durch französische Polizeikräfte aus Frankreich in KZs oder Gefängnisse außerhalb Frankreichs verschleppt wurden.
3 Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge. 4 Auch im vorliegenden Beitrag werden die wirtschaftlichen und finanziellen Einbußen von Opfern der NS-Verfolgung nicht thematisiert. Entsprechende Dokumente im Bundesarchiv, z. B. über „Arisierungen“ in Frankreich, sind bislang noch kaum ausgewertet worden. Einige Hinweise finden sich bei : Picard, Die Schweiz und die Juden, S. 169–176 ; Balzli, Treuhänder des Reichs, S. 68–69 und S. 80 ff. 5 Siehe hierzu auch : Picard/Thürer, „Was fehlt und was es braucht“. 6 Eismann, Hôtel Majestic, S. 191–209 ; Delacor, Attentate und Repressionen, S. 5–60.
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Wer war ein NS-Opfer ? Im Hinblick auf die Frage, wer unter „Schweizer Opfer“ subsumiert werden soll, ergeben sich viele Schwierigkeiten. Aufgrund der damaligen französischen Staatsbürgerschaftsgesetze gab es zahlreiche französisch-schweizerische Doppelbürger, obwohl dies im Schweizer Staatsbürgerrecht nicht vorgesehen war.7 Dazu kam noch, dass damals Schweizerinnen, die Ausländer heirateten, die schweizerische Staatsbürgerschaft verloren.8 Diese beiden Kategorien stellten insofern einen Spezialfall dar, als die Schweizer Behörden sich grundsätzlich auf den Standpunkt stellten, für diese Personen nichts tun zu können. In der Praxis lässt sich aber an mehreren Beispielen aufzeigen, dass sich einzelne Diplomaten oder Beamte dann doch wieder für sie verwendeten, und dies teilweise auch mit Erfolg.9 Daher macht es Sinn, Doppelbürger*innen und ehemalige Schweizerinnen ebenfalls auf die Liste der Schweizer Opfergruppen zu nehmen.10 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Opfer-Definition. Bereits bei den Entschädigungszahlungen in den Nachkriegsjahren zeigte sich, dass die Frage nach der Definition von NS-Opfern komplex war und unterschiedlich beantwortet werden konnte. Während der Verfolgung von Jüdinnen und Juden, Behinderten oder Fahrenden unbestrittenermaßen nationalsozialistische Ideologeme wie „Rasse“ oder „Volk“ zugrunde lagen, wurden beispielsweise Zwangsarbeiter*innen bis in die 2000er-Jahre nicht entschädigt, weil Zwangsarbeit als eine Begleiterscheinung des Krieges einge-
7 Frankreich akzeptierte seit 1927 die doppelte Staatsbürgerschaft von Personen, die auf dem Territorium Frankreichs geboren wurden. Der Gesetzgeber interessierte sich dabei nicht für die Frage, ob die alte Staatsbürgerschaft beibehalten wurde oder nicht. Vgl. Weil, Qu’est-ce qu’un Français ?, S. 256–257. 8 Studer, „Citizenship as Contingent National Belonging“, S. 627–629. 9 Im Falle von Robertine Bernheim, die die Schweizer Staatsbürgerschaft durch Heirat verloren hatte und am 25. Mai 1944 mit ihren beiden Söhnen von der Gestapo verhaftet worden war, wandte sich der Schweizer Gesandte in Vichy, Walter Stucki, nach persönlicher Intervention durch Bundesrat Eduard von Steiger an die deutschen Behörden und fragte, ob eventuell eine Rückführung in die Schweiz veranlasst werden könnte (Schweizerisches Bundesarchiv [BAR], E2200.42-01#1000/594#448*). Zu diesem Zeitpunkt war Bernheim bereits von Drancy nach Auschwitz deportiert worden, wo sie ermordet wurde (https://yvng.yadvashem.org/index.html ?language=de&s_lastName=bernheim&s_firstName=robertine&s_place=&s_dateOfBirth=&cluster=true, letzter Zugriff : 20.02.2020). Der Doppelbürger Paul Forster, der am 25. April 1944 von der deutschen Sicherheitspolizei verhaftet worden war, kam Anfang Juni 1944 wieder frei, nachdem sich der Schweizer Konsul in Dijon mehrere Male für ihn eingesetzt hatte (BAR, E2200.61-01#1969/43#212*). 10 Dieser Logik folgten auch : Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, S. 64–65 und S. 242.
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schätzt wurde.11 Auch „Asoziale“ und „Kriminelle“ wurden lange nicht als spezifische Opfer der NS-Ideologie und -Verfolgung gesehen.12 Selbst bei Opfern politischer Verfolgung ist der Fall nicht immer eindeutig. In Bezug auf die Besetzung Frankreichs hatte sich lange Zeit in der Geschichtsschreibung die Vorstellung halten können, die Wehrmacht habe sich bis fast zuletzt gemäß den Regeln eines konventionellen Kriegs verhalten, bei dem die nationalsozialistische Ideologie eine geringe Rolle spielte. Somit sei zumindest bis zur Stärkung der Position der SS im Mai 1942 die Besatzung in Frankreich, im Gegensatz zur Kriegführung im Osten, militärisch zweckmäßigen und nicht ideologischen Vorgaben gefolgt.13 Dem widersprechen neuerdings Autoren wie Ahlrich Meyer, dessen Ansicht nach „die Bekämpfung der französischen Widerstandsbewegung durch die deutsche Besatzungsmacht ideologisch ausgerichtet“ war, da dabei eine enge Verbindung zwischen den beiden Feindbildern „Juden“ und „Bolschewisten“ hergestellt wurde. Auch „Arbeitsverweigerer“, die sich dem „Reichseinsatz“ entzogen, galten als Mitglied des Widerstands. In der Schlussphase der Besatzung, so Meyer, „wurde die gesamte französische Zivilbevölkerung zum Feind.“14 Folglich sind für Frankreich auch die Opfer politischer Verfolgung aufgrund von organisiertem oder zivilem Widerstand als Opfer der NS-Herrschaft zu bezeichnen. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass die Gründe für die Verhaftungen, Internierungen und Deportationen in vielen Fällen von den unterschiedlichen nationalsozialistischen und teilweise auch französischen Behörden geliefert wurden. Für die spätere wissenschaftliche Bewertung der Haftgründe ergibt sich erstens das Problem, dass die Nationalsozialisten Vorgänge kriminalisierten, die für die Betroffenen schlicht überlebensnotwendig waren, u.a. die zahlreichen illegalen Grenzübertritte, im Falle von Schweizerinnen und Schweizern insbesondere zwischen der Schweiz und Frankreich. Aber auch das verbotene Überqueren der Demarkationslinie zwischen der Nordzone und Vichy-Frankreich war insbesondere für Jüdinnen und Juden auf der Flucht überlebensnotwendig.15 Ähnliches gilt für Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt und Fälschungen von Lebensmittelkarten, beides Bereiche, die für die vom legalen Markt ausgeschlossenen Juden oder für im Untergrund lebende Angehörige des Widerstands zentral waren.16 Zweitens machten die nationalsozialistischen Behörden teilweise falsche oder sehr vage Angaben über die 11 Vgl. bspw. Goschler, „Die Auseinandersetzung“, S. 115–130. 12 Ayass, „’Asoziale’“. 13 So auch in neuerer Zeit noch : Lieb, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg ? 14 Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944, S. 3. 15 Alary, „Les Juifs et la ligne de démarcation, 1940–1943“, S. 13–49. 16 Grenard, La France du marché noir (1940–1949), S. 284–286.
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Haftgründe. Aufgrund des willkürlichen und repressiven Charakters der NS-Herrschaft geschahen außerdem viele Verhaftungen, für die selbst das deutsche Unrechtsregime nachträglich keine Begründungen liefern konnte, weshalb diese Menschen nach Intervention durch die Schweizer Behörden zumindest bis Herbst 1943 oftmals wieder freigelassen wurden.17 In vielen Fällen lässt sich nicht mehr eruieren, ob die den Opfern von den Nationalsozialisten auferlegten „Vergehen“ tatsächlich begangen worden waren. Hinzu kommt, dass insbesondere ab 1943 viele der Verschleppungen in Arbeitslager und andere Haftstätten außerhalb Frankreichs nicht in erster Linie und einzig als Bestrafungen, sondern als Arbeiterbeschaffungsmaßnahmen und Akquirierung von Ersatz für die an die Front beorderten Deutschen zu verstehen sind.18 Es ist zu vermuten, dass es hier auch oftmals darum ging, die georderten Mengen an Arbeiterinnen und Arbeitern zu liefern. Trotz dieser Schwierigkeiten bei der Kategorienbildung sowie angesichts der Problematik, dass damit auf die „Kategorien der Mörder“19 zurückgegriffen wird, folgt die nachfolgende Kategorisierung weitgehend den verschiedenen Verfolgungsgründen, die die NS-Instanzen bei Verhaftungen, Internierungen und Deportationen geltend machten.
Opfer „rassischer“ Verfolgung Bei diesen Opfern handelte es sich hauptsächlich um Juden und Jüdinnen. Zum Zeitpunkt der deutschen Besetzung Frankreichs im Mai 1940 lebten dort mehrere Hundert Schweizer Juden und Jüdinnen.20 Als kurze Zeit später sowohl in der von den Deutschen besetzten und unter dem Kommando des militärischen Befehlshabers stehenden Nordzone wie auch im von Marschall Pétain regierten Vichy-Frankreich antisemitische Gesetze in Kraft traten, stellte sich die Frage, ob diese auch für Schweizer Juden als Angehörige eines neutralen Staates gelten würden. Wie sich bald zeigen sollte, betrafen die auf ökonomische Exklusion angelegten antijüdischen Maßnahmen alle Jüdinnen und Juden unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Ab Juli 1941 17 Dies war etwa der Fall bei Ferdinand Koeberlin (BAR, E2200.61-01#1969/43#150*) oder bei Albert Némitz (BAR, E2200.41-04#1000/1687#270*). 18 Quellien, „Motifs d’arrestations et de déportation“, S. 163–172. Dies erklärt nicht nur, warum viele der Motive für die Deportationen den Schweizer Behörden auch auf Nachfrage nicht genannt wurden, sondern auch, warum bei der Angabe von vergleichbaren Haftgründen durch die Deutschen die Bestrafungen unterschiedlich ausfallen konnten. 19 Quack, „Einleitung“, S. 8. 20 Picard, Die Schweiz und die Juden, S.187–193 ; Mächler, Hilfe und Ohnmacht, S. 236–241.
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wurde jüdischer Besitz „arisiert“, auch das Eigentum der Schweizer Juden wurde von diesen Regelungen nicht ausgenommen.21 Bei anderen antijüdischen Maßnahmen zeigten sich die deutschen Behörden nachgiebiger. So waren beispielsweise Schweizer Juden und Jüdinnen davon befreit, den „Judenstern“ zu tragen.22 Die Vielzahl an antijüdischen Gesetzen sowie ihre oftmals vage und unklare Formulierung hatten zur Folge, dass die Schweizer Konsulatsmitarbeiter jedes Mal bei den Behörden oder auch bei den Konsulaten anderer neutraler Staaten nachfragen mussten, ob die Angehörigen neutraler Staaten von bestimmten Erlassen ausgenommen werden könnten.23 Ebenfalls relevant für die Schweizer Jüdinnen und Juden war der Umstand, dass seit Oktober 1940 ausländische Juden und Jüdinnen ohne Angabe von Gründen interniert werden konnten.24 Teilten die deutschen Behörden den Schweizern zunächst mit, ihre Staatsangehörigen seien davon nicht betroffen, so stellte sich bald heraus, dass dies nicht den Tatsachen entsprach. Zwischen 1941 und 1944 wurden mehrere Dutzend Schweizer Jüdinnen und Juden in Frankreich interniert und teilweise in Konzentrationslager außerhalb Frankreichs deportiert. Die Verhaftungen erfolgten zum Teil im Zusammenhang mit Razzien, wie etwa im August 1941 in Paris, als erstmals auch Schweizer Juden Opfer von groß angelegten Verfolgungsmaßnahmen wurden.25 Eine große Zahl der internierten Schweizer Jüdinnen und Juden wurde indessen individuell verhaftet. Auf Nachfrage des Schweizer Konsulats gaben die deutschen Behörden – wenn überhaupt – unterschiedliche und teilweise vage Begründungen wie Unregelmäßigkeiten bei den Identitätspapieren oder Fälschungen von Lebensmittelkarten an. Es war aber auch den Konsulatsmitarbeitern klar, dass die Internierungen in erster Linie aufgrund der religiösen Zugehörigkeit der Verhafteten erfolgten.26 Weitere Verhaftungen und in diesem Fall häufig Deportationen von Schweizer Jüdinnen und Juden geschahen als Folge angeblich „feindlicher Aktivitäten“. Waren einige, wie etwa Marcel Wyler,27 tatsächlich Mitglieder des organisierten Widerstands, blieben die Aktivitäten anderer unklar und konnten auch nach dem Krieg nicht mehr 21 Hinweise finden sich bei : Balzli, Treuhänder des Reichs, S. 68–69. 22 BAR, E2001D#1000/1553#3862*, W. Stucki an Schweizer Konsulate in Frankreich, 30.06.1942. 23 Späti, „Arrests, Internments and Deportations“. 24 Mayer, Staaten als Täter, S. 30. 25 Zu dieser Razzia siehe : Klarsfeld, Vichy – Auschwitz, S. 39–42 ; Wieviorka/Laffitte, À l‘intérieur du camp de Drancy, S. 21–32. Zu den verhafteten Schweizern siehe : BAR, E2200.41-04#1000/1684#406*, R. Naville an Abteilung für Auswärtiges, 31.10.1942. 26 Späti, „Arrests, Internments and Deportations“. 27 Nach seiner Rückkehr nach Frankreich verfasste Marcel Wyler seine Memoiren : http://jewishtraces. org/de-montluc-a-mauthausen/, letzter Zugriff : 03.01.2019.
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eruiert werden, da diese Personen die Lager- oder Gefängnisaufenthalte nicht überlebt hatten. Anderen, wie beispielsweise Arthur Bernheim, dem „antideutsche Aktivitäten“ vorgeworfen wurden, was im Mai 1943 zu seiner Verhaftung durch die Gestapo geführt hatte, konnte offenbar nichts Gravierendes nachgewiesen werden. Im November 1943 wurde er, nach der Inhaftierung im Gefängnis von Limoges sowie in den Internierungslagern Compiègne und Drancy, freigelassen unter der Bedingung, in die Schweiz repatriiert zu werden.28 Obwohl seitens des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes gegenüber dem Schweizer Konsul in Paris, René Naville, mehrmals versichert wurde, dass Schweizer Jüdinnen und Juden nicht außerhalb Frankreichs verschleppt würden, erfolgten die ersten Deportationen bereits im Sommer 1942. Neben den bereits gut aufgearbeiteten Fällen der Familie Rothschild sowie des Ehepaars Weill betrafen diese gemäß den Recherchen von Spörri et al. weitere 91 Schweizer Jüdinnen und Juden.29 Zu erwähnen ist etwa Adhémar Wyler, der am 4. April 1942 an der Demarkationslinie vom deutschen Posten verhaftet und am 20. Juli 1942 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Im Zuge der Evakuation im Januar 1945 gelang ihm die Flucht ; er kehrte im Mai 1945 nach Paris zurück.30 Als gegen Ende 1942 die deutschen Stellen in Frankreich die Schweizer aufforderten, die jüdischen Staatsbürger*innen zu repatriieren, da sie ansonsten wie die anderen Juden in Frankreich behandelt würden, ahnten insbesondere die Schweizer Diplomaten vor Ort, dass dies nichts Gutes bedeuten würde. Nach einigem Zögern erklärte sich auch das Eidgenössische Politische Departement (EPD) einverstanden. Im Januar und Februar 1943 und im darauffolgenden September wurden ca. 360 Juden und Jüdinnen in die Schweiz repatriiert. Darunter waren auch Doppelbürger*innen sowie ausländische Ehepartner*innen von Schweizer*innen zu finden.31 Viele Deportationen von Schweizer Juden und Jüdinnen geschahen kurz vor der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten. Wie Naville nach Bern berichtete, hätten die deutschen Stellen ihm gegenüber gesagt, sie könnten diese Personen jetzt nicht mehr freilassen, sondern wollten sie als „monnaie d’échange“ (Wechselgeld) für in der Schweiz internierte Deutsche einsetzen.32 28 BAR, E2200.41-04#1000/1687#602*, Abteilung für Auswärtiges an Schweizerische Gesandtschaft in Vichy, 30.09.1943 ; Société Helvétique de Bienfaisance, Paris, an Schweizerisches Konsulat in Paris, 20.07.1944. 29 Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge. Siehe auch : Speck, Der Fall Rothschild ; Perrenoud, „De La Chaux-de-Fond à Auschwitz“. 30 BAR, E2200.41-04#1000/1685#276*. 31 Späti, „Arrests, Internments and Deportations“. 32 BAR, E2200.56-06#1000/647#26*, R. Naville an Abteilung für Auswärtiges, 22.08.1944.
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Nicht immer entsprach die nationalsozialistische Definition von Juden der Selbstwahrnehmung der Opfer. Im Dezember 1943 erklärte der Ehemann der als Jüdin verhafteten Eva Winkelmann-Solowicz, seine Familie sei „aryenne 100 %“ (100 % arisch), weshalb sie auch nicht in die Schweiz zurückgekehrt seien.33 Und im Falle von Angèle Fallot, die am 11. Juli 1942 zusammen mit ihrem jüdischen Lebenspartner verhaftet wurde, stellte sich heraus, dass sie „arisch“ war, weshalb sie kurze Zeit später wieder freigelassen wurde.34 Es ist davon auszugehen, dass auch Schweizer Fahrende in den Kriegsjahren in Frankreich interniert wurden.35 Am 1. Dezember 1941 wandte sich François Weiss an das Konsulat in Paris und berichtete, er sei seit einem Jahr mit seiner Frau und seinen fünf Kindern im „Zigeunerlager“ Jargeau interniert. Er bat den Konsul, zu seinen Gunsten bei den Behörden zu intervenieren.36 Obwohl das französische Innenministerium dem Konsulat gegenüber die (alleinige) schweizerische Staatsbürgerschaft von François Weiss und seiner Frau bestätigte,37 blieb der Konsul inaktiv und fragte stattdessen bei Weiss um weitere Papiere und seine Passnummer nach.38 Die Nachfrage blieb unbeantwortet, das Dossier endete an diesem Punkt. Das Lager Jargeau wurde erst im Dezember 1945 aufgehoben.39
Opfer politischer Verfolgung Aus politischen Gründen Verfolgte bildeten die größte Gruppe unter den Schweizer Opfern der NS-Gewaltherrschaft.40 Dabei kann zwischen organisiertem und zivilem 33 BAR, E2001-08#1978/107#1840*, A. Winkelmann an Bundesrat M. Pilet-Golaz, 24.12.1943. Eva Winkelmann-Solowicz wurde am 3. März 1944 freigelassen und zwei Wochen später repatriiert. BAR, E2001-08#1978/107#1840*, W. Stucki an Abteilung für Auswärtiges, 09.03.1944. 34 BAR, E2200.41-04#1000/1685#313*, Schweizerisches Konsulat in Paris an G. Schweblin, 06.08.1942 ; Schweizerisches Konsulat in Paris an Schweizerische Gesandtschaft in Berlin, 06.11.1942. 35 Bis heute sind nur sehr wenige solche Fälle bekannt, siehe Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, Anmerkung 3, S. 303. Es ist davon auszugehen, dass Fahrende sehr häufig nicht aktenkundig wurden, weil sie nicht registriert waren und sich wohl auch aufgrund bisheriger Erfahrungen keine grossen Hoffnungen auf Beistand durch die Behörden machten. 36 BAR, E2200.41-04#1000/1684#433*, F. Weiss an Schweizerisches Konsulat in Paris, 01.12.1941. 37 BAR, E2200.41-04#1000/1684#433*, Französisches Innenministerium, Paris, an Schweizerisches Konsulat in Paris, 09.04.1942. 38 BAR, E2200.41-04#1000/1684#433*, R. Naville an F. Weiss, 27.04.1942. 39 Zu Jargeau siehe : Vion, Le Camp de Jargeau, juin 1940 – décembre 1945. Zu den „Zigeunerlagern“ in Frankreich im Allgemeinen siehe : Peschanski, La France des camps, S. 192–196 und S. 376–383. 40 Als eine spezifische Form der politischen Verfolgung kann der Vorwurf der Spionage gelten, den die Deutschen gegenüber mehreren Schweizerinnen und Schweizern aussprachen. Dieser Themenkomplex muss noch weiter erforscht werden und kann hier nicht berücksichtigt werden.
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Widerstand unterschieden werden.41 Der organisierte Widerstand in Frankreich war vielfältig und heterogen und entwickelte sich in verschiedenen Phasen. Eine wichtige Rolle spielten die Kommunisten, die ab dem Zeitpunkt des deutschen Überfalls der Sowjetunion ihre Aktivitäten verstärkten. Andere Widerstandsgruppen kamen aus dem sozialistischen oder gewerkschaftlichen Milieu, während am anderen Ende des politischen Spektrums christliche Gruppierungen, gemäßigte Republikaner und konservative Monarchisten aktiv waren. Zu einer Massenbewegung wurde der Widerstand ab 1943, als sich viele Franzosen in den Maquis begaben, um den Zwangsrekrutierungen zum Arbeitsdienst in Deutschland zu entgehen.42 Die Heterogenität der Bewegung spiegelte sich auch bei den Schweizer*innen, die Teil des organisierten Widerstands waren. Wie Luc van Dongen aufgezeigt hat, reichten ihre Motivationen von anti-nationalsozialistischer Gesinnung bis hin zu Abenteuerlust.43 Bei den Mitgliedern des organisierten Widerstands handelte es sich teilweise um Doppelbürger. Die meisten von ihnen wurden nach ihrer Verhaftung in Konzentrationslager deportiert.44 Andere hingegen wurden im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen seitens der NS-Instanzen erschossen.45 Dies war etwa der Fall bei Carlo Polla, der am 5. Juni 1944 von der Sicherheitspolizei verhaftet und im Fort Montluc in Lyon inhaftiert wurde. Eine Woche später wurde er in Dagneux (Ain) exekutiert, mutmaßlich, weil er bei der Resistance gewesen war.46 Auch der erst 14-jährige Serge Stauffer, der bei seinem Onkel wohnte, wurde erschossen, als er bei einer Hausdurchsuchung im Zusammenhang mit Vergeltungsmaßnahmen durch die deutsche Feldgendarmerie am 27. Januar 1944 die Flucht ergriff, wie der Militärbefehlshaber in Frankreich dem Schweizer Konsulat mitteilte.47 Andere wiederum kamen in deutsche Gefängnisse, wie etwa der im Januar 1944 verhaftete 18-jährige René Vallat. Wegen Waffenbesitz und Mitgliedschaft in einer Widerstandsgruppe war er zunächst zum Tode verurteilt worden. Nach Intervention seines Pflichtverteidigers sowie durch die Schweizer Behörden wurde die Todesstrafe in eine Zuchthausstrafe umgewandelt, welche er im Wehrmachtsgefängnis in Freiburg/Br. verbüßte.48 41 Quellien, „Motifs d’arrestations et de déportation“, S. 163–167. 42 Deák, Kollaboration, Widerstand und Vergeltung im Europa des Zweiten Weltkrieges, S. 175–181. 43 Van Dongen, „Des Suisses dans la Résistance française (1944–1945)“, S. 281–301. 44 Siehe die Auflistung in : Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, S. 244 und S. 253–295. 45 Delacor, „L’évolution de la politique répressive pendant l’occupation allemande en France“, S. 59–67. 46 BAR, E2001-08#1978/107#1335*, Bericht der Kommission für Vorauszahlungen an schweizerische Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, 13.03.1962, S. 2. 47 BAR, E2200.41-04#1000/1689#234*, Militärbefehlshaber in Frankreich, Paris, an Schweizerisches Konsulat in Paris, 22.05.1944. 48 BAR, E2200.41-04#1000/1689#222*, Abteilung für Auswärtiges an Schweizerische Gesandtschaft in Berlin, 29.04.1944 ; Abteilung für Auswärtiges an Schweizerisches Konsulat in Besançon, 14.12.1944.
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Auch Schweizerinnen wurden wegen Anschuldigung des organisierten Widerstands verhaftet, teilweise zusammen mit ihren Ehemännern oder Söhnen. Dies war etwa der Fall bei Jane Gabrielle Guerne und ihrem Ehemann Armel-Eugène, die beide am 2. Juli 1943 verhaftet und in das Gefängnis von Fresnes gebracht wurden.49 Als Grund für die Verhaftung nannte die Deutsche Botschaft in Paris, dass sie „fortlaufende strafbare Handlungen zum Schaden der Besatzungsmacht betätigt“ hätten.50 Naville stellte weitere Nachforschungen an und erfuhr – wohl von deutschen Behörden – dass gegen die beiden schwerwiegende Beschuldigungen erhoben worden seien : „Man sprach mir von einem hässlichen, bestialischen Fall und von überlegten Handlungen, denen viele Opfer zuzuschreiben seien.“51 Entsprechend gering war das Bemühen der Schweizer Behörden, sich für die Guernes einzusetzen. Im Juni 1945 meldete sich Guerne beim Schweizer Konsulat und berichtete, ihm sei bei der Deportation von Fresnes nach Buchenwald am 17. Januar 1944 die Flucht gelungen, und über Jane Guerne erfuhr Naville, dass sie am 30. Januar 1944 zunächst ins KZ Ravensbrück, anschließend ins KZ Holleischen deportiert worden war, wo sie von den amerikanischen Truppen befreit wurde. Im Mai 1945 kehrte sie nach Paris zurück.52 Wie sich nach dem Krieg herausstellte, waren beide bedeutende Akteur*innen im britischen Widerstandsnetz „Prosper“ gewesen.53 Das Beispiel zeigt eindrücklich, wie sehr sich die Schweizer Behörden von der nationalsozialistischen Sichtweise beeinflussen ließen. Mehr Engagement zeigten die Schweizer Behörden im Falle der fast 60-jährigen Alice Berthoud-Colomb, die am 9. November 1943 in Angers „wegen Betätigung zum Schaden der Besetzungsmacht“ verhaftet wurde. Die Schweizer Behörden wollten sie im Rahmen eines Gefangenenaustausches in die Schweiz zurückbringen und erfuhren bei dieser Gelegenheit, dass sie ihre Wohnung für die Aufnahme von Rundfunksendungen zur Verfügung gestellt hatte.54 Die Deutschen waren jedoch mit dem Austausch nicht einverstanden und teilten am 21. April 1944 mit, sie müsse „zwecks
49 BAR, E2200.41-04#1000/1687#249*, Schweizerisches Konsulat in Paris an Deutsches Generalkonsulat in Paris, 06.08.1943. 50 BAR, E2200.41-04#1000/1687#249*, Deutsche Botschaft in Paris an Schweizerisches Konsulat in Paris, 10.09.1943. 51 BAR, E2200.41-04#1000/1687#249*, R. Naville an Schweizerische Gesandtschaft in Berlin, 14.02.1944. 52 BAR, E2200.41-04#1000/1687#249*, R. Naville an Abteilung für Auswärtiges, 08.06.1945. 53 Guerne war Dichter und Übersetzer, sein Tagebuch über diese Zeit wurde später veröffentlicht : Guerne, Armel. Journal 1941-1942 et autres textes. Lectoure : Editions Le Capucin, 2000. 54 BAR, E2001E#1967/113#1843*, Liste der in Deutschland oder in deutschbesetzten Gebieten verhafteten Schweizer, 17.07.1944, S. 13.
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militärgerichtlicher Aburteilung“ inhaftiert bleiben.55 Sie starb im April 1945 im KZ Buchenwald.56 Während bis kurz vor Kriegsende nur wenige Schweizer*innen aus KZs entlassen wurden, kamen in Gefängnissen Inhaftierte in gewissen Fällen nach Verbüßung ihrer Strafe frei. Teilweise wurden sie dann aber in „Sicherungshaft“ genommen. Damit sollte verhindert werden, dass sie sich nach ihrer Freilassung weiter gegen das Deutsche Reich betätigen würden. Diese „Sicherungshaft“, über die die Deutschen gegenüber den Schweizer Behörden in der Regel keine genaueren Angaben machten, dauerte häufig viele Monate, in manchen Fällen bis zur Befreiung Frankreichs, zum Kriegsende oder zum Tod des Häftlings. Das Ehepaar Henri und Berthe Rollini beispielsweise wurde bereits am 27. Juni 1941 in Paris „wegen Kommunismus“ in Schutzhaft genommen.57 Die NS-Behörden verhinderten aber trotz wiederholter Bemühungen Navilles eine Freilassung, und so kamen die beiden erst im August 1944 frei, mehr als drei Jahre nach ihrer Verhaftung und erst, nachdem Frankreich befreit worden war.58
Verfolgte aufgrund zivilen Widerstands Auch die Akte zivilen Widerstands deckten ein breites Spektrum ab. Sie reichten von anti-deutschen Äußerungen über die Weigerung, sich für Zwangsarbeit rekrutieren zu lassen bis hin zur Unterstützung von Verfolgten oder Gegnern des Reichs.59 Diese Bandbreite ließ sich auch bei den Schweizerinnen und Schweizern finden, die unter
55 BAR, E2001E#1967/113#1843*, Notiz für W. Stucki, 01.05.1944. 56 BAR, E2200.257B#1974/65#20*, M. Goude-Berthoud an Schweizerisches Konsulat in Nantes, 26.12. 1958. 57 BAR, E2001E#1967/113#1843*, Liste der in Deutschland oder in deutschbesetzten Gebieten verhafteten Schweizer, 17.07.1944, S. 21. Ob die Rollinis tatsächlich Mitglieder der Kommunistischen Partei gewesen waren, muss hier offenbleiben. Rollinis Bruder Joseph, Kantonsratsmitglied in Genf, bezweifelte es, eine Sichtweise, der sich nach einigem Zögern auch das EPD anschloss. BAR, E2200.4104#1000/1684#405*, Abteilung für Auswärtiges an R. Naville, 21.07.1942. 58 Während Henri in Compiègne interniert wurde, kam seine Frau zunächst ins Gefängnis La Roquette. Im Januar 1942 signalisierte ein Herr Blanchard von der Délégation Générale du Gouvernement Français gegenüber Naville, eine Freilassung könnte unter der Bedingung der Repatriierung angestrebt werden. BAR, E2200.41-04#1000/1684#405*, Polizeipräfekt an R. Naville, 28.08.1941 ; Verbal von R. Naville, 22.01.1942. Bureau des transports d’Annemasse an Schweizerische Gesandtschaft in Paris, 28.04.1944 ; Französisches Aussenministerium, Paris, an Schweizerische Gesandtschaft in Paris, 02.05.1945. 59 Quellien, „Motifs d’arrestations et de déportation“, S. 165–166.
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dem Verdacht des zivilen Widerstands von französischen oder deutschen Behörden verhaftet wurden. Auch die Art und die Härte der Bestrafung durch die nationalsozia listischen Instanzen variierte stark. Ein schwerer Fall war Joseph-Ernest Clémence, der zur nicht unbedeutenden Gruppe von Geistlichen gehörte, die gegen die Besatzungsmacht Widerstand leistete.60 Bereits im Herbst 1941 wurde er verhaftet, weil er angeblich antideutsche Flugblätter verteilt hatte. Er wurde nach Deutschland deportiert und am 10. August 1943 vom Sondergericht in Köln wegen „Feindbegünstigung“ zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren verurteilt, die er in verschiedenen Zuchthäusern und Lazaretten verbringen musste.61 Ebenfalls hart bestraft wurde Jeanne Despond, die von den deutschen Besetzungsbehörden zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war, weil sie Juden geholfen hatte, illegal die Demarkationslinie sowie die Grenze zur Schweiz zu überschreiten.62 In einigen Fällen wurden die Betroffenen nach der Verbüßung der Strafe interniert, wodurch sich die Haftzeit stark verlängern konnte. Dies war etwa der Fall bei Jean-Antoine Nizzola, der im März 1942 in Moulins zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde, weil er offenbar in „einem Kaffeehaus eine etwas deplacierte Bemerkung in bezug auf die Besatzungstruppen“ habe fallen lassen. Nachdem Nizzola die Strafe im Fort Hauteville bei Dijon verbüßt hatte, wurde er vorerst noch eine Zeitlang im Gefängnis behalten, danach in das Fort de Romainville gebracht und schließlich in Compiègne interniert.63 Naville erkundigte sich wiederholt bei den deutschen Diplomaten nach den Gründen der Internierung und der Möglichkeit einer Freilassung, erhielt aber, bis auf eine Meldung der Sicherheitspolizei (SIPO) im Juni 1943, wonach eine Freilassung nicht anvisiert werden könne, keine Antworten.64 Im Oktober 1943 signalisierten die deutschen Behörden, dass eine Freilassung unter Bedingung der Repatriierung möglich wäre, und am 15. Januar 1944 konnte Nizzola in die Schweiz
60 Weitere Schweizer Geistliche, die in Frankreich verhaftet wurden, waren u.a. Ami Bornand (BAR, E2001E#1972/33#5575*) ; Roland de Pury (BAR, E2200.56-06#1000/647#155*) ; Robert Buff (BAR, E2200.41-04#1000/1689#224*) ; Jacques-Louis Roulet (BAR, E2200.56-06#1000/647#165*). 61 BAR, E2200.56-06#1000/647#59*, Abteilung für Auswärtiges an Schweizerische Gesandtschaft in Berlin, 28.05.1942 ; Abteilung für Auswärtiges an Internationales Komitee vom Roten Kreuz, 03.07.1944. Clémence schrieb später seine Erinnerungen nieder : Clémence, Joseph-Ernest. 40 mois chez les nazis. Compte-rendu de ma détention. O.O. 1945. 62 BAR, E2001E#1967/113#1843*, Liste der in Deutschland oder in deutschbesetzten Gebieten verhafteten Schweizer, 17.07.1944, S. 9. 63 BAR, E2200.41-04#1000/1685#338*, R. Naville an Deutsche Botschaft in Paris, 28.09.1943. 64 BAR, E2200.41-04#1000/1685#338*, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Bereich des Militärbefehlshabers in Frankreich, Paris, an Schweizerisches Konsulat in Paris, 08.06.1943.
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einreisen.65 Romainville fungierte bis Ende 1943 als „Geisellager“, eventuell war dies der Grund, warum Nizzola so lange nicht freigelassen wurde.66 Jedenfalls zeigt dieses Beispiel die große Willkür, die die nationalsozialistischen Behörden über das Mittel der Internierung ausübten und der die Schweizer nichts entgegenzusetzen hatten. In den ersten Kriegsjahren wurden auch mehrere Schweizerinnen und Schweizer verhaftet, einige Zeit in Haft gehalten und dann wieder freigelassen, wahrscheinlich, weil man ihnen nichts nachweisen konnte.67 Dabei war auch Willkür im Spiel, was den Schock von Maßnahmen verstärken konnte.68 Bei anderen Fällen kam es zu Verurteilungen und die Verurteilten mussten die Strafen in Gefängnissen und Lagern in Frankreich absitzen ; teilweise wurden sie auch in deutsche Gefängnisse oder Konzentrationslager gebracht. Georges Gerster beispielsweise wurde im April 1942 wegen Abhörens fremder Radiosender verhaftet und vom Gericht der Feldkommandantur Besançon zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt. Zunächst war er in der Zentralstrafanstalt Clairvaux, anschließend wurde er in die Strafanstalt Bernau am Chiemsee (Bayern) verlegt. Offenbar wurde er vorzeitig entlassen, denn er reiste am 24. März 1944 in die Schweiz ein.69 Ab Herbst 1943 nahm die Zahl der Freilassungen ab. Stattdessen wurden nun vermehrt aus Gründen des politischen Widerstands Verhaftete ohne Gerichtsprozess in Konzentrationslager deportiert.70 Dies wurde auch von den Schweizer Behörden 65 BAR, E2200.41-04#1000/1685#338*, R. Naville an Abteilung für Auswärtiges, 29.10.1943 ; R. Naville an Schweizerische Gesandtschaft in Berlin, 15.06.1944. 66 Fontaine, Les oubliés de Romainville : un camp allemand en France (1940–1944), S. 31–46. 67 Siehe zur Gerichtsbarkeit unter militärischer Besatzung : Himmelsbach, Kriminalität, Kriegsgerichtsbarkeit und Polizeistrafgewalt, S. 306–307. 68 Das folgende Beispiel zeigt dies drastisch : Der Fabrikdirektor William Droz spazierte eines Sonntagnachmittags im April 1942 mit seiner Frau über den Friedhof Père-Lachaise, als er unvermittelt von einem französischen Polizisten verhaftet und den deutschen Behörden übergeben wurde. Wie es sich herausstellte, hatte er am Grab eines Kommunisten eine unwillkürliche Handbewegung gemacht, die der dies beobachtende Polizist als erhobene Faust interpretierte. Nach Intervention des Konsulats bei den deutschen Behörden wurde er nach einem Monat wieder aus der Haft entlassen, aber der Schock über die erlebte Willkür saß bei Droz tief, wie er am 17. Mai 1942 an Naville schrieb : „[ç]a c’est une plaie profonde que j’ai au coeur et qui n’est pas cicatrisée encore“. BAR, E2200.4w4#1000/1685#292*, Verbal von R. Naville, 11.05.1942. W. Droz an R. Naville, 23.05.1942. W. Droz an Schweizerisches Konsulat in Paris, 17.05.1942. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Dies ist eine tiefe Wunde in meinem Herzen, und sie ist noch nicht vernarbt.“ 69 BAR, E2200.56-06#1000/647#88*, Schweizerisches Generalkonsulat in München (ab 1943 in Rottach-Egern) an Abteilung für Auswärtiges, 15.10.1943 ; Abteilung für Auswärtiges an Schweizerisches Generalkonsulat in München, 18.04.1944. 70 Siehe die zahlreichen Beispiele bei : Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, S. 253– 295.
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zunehmend mit Besorgnis registriert, zumal über „das Ergehen der einzelnen Häftlinge und ihren Internierungsort meistens nur unvollständige Nachrichten“ vorlägen und auch über „die Natur der ihnen zur Last gelegten Verfehlungen […] bestenfalls nur summarische Auskünfte erteilt worden“ seien. Dies hielt Hans Frölicher, der schweizerische Gesandte in Berlin, nach einer Besprechung in Bern im November 1944 gegenüber der deutschen Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes fest und machte dabei den Vorschlag, alle verhafteten Schweizer an einem Ort zu versammeln, um dann „durch eine besondere Vereinbarung mit dem Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches eine allgemeine Freilassung dieser in Haft befindlichen Schweizerbürger und ihre Ausreise nach der Schweiz herbeizuführen“.71 Eine Antwort der Politischen Abteilung ließ sich im Dossier nicht finden.
Verfolgte aufgrund gemeinrechtlicher Vergehen Neben den aus rassistischen und politischen Gründen Verfolgten gab es auch eine Reihe von Schweizerinnen und Schweizern, die für gemeinrechtliche Vergehen bestraft wurden, die aber aufgrund der damaligen Umstände ebenfalls als Opfer der NS-Gewaltherrschaft aufgefasst werden können. Einerseits galt dies für gewisse „Vergehen“, wie etwa Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt oder illegale Überschreitungen der Demarkationslinie oder der Staatsgrenzen. Andererseits ergab sich das Verfolgungsmoment aus der Art und Weise der Bestrafung, etwa wenn es um Internierungen ohne Gerichtsprozesse oder Zwangsverschleppungen zur Arbeit im Deutschen Reich ging. Viele der gemeinrechtlichen Delikte standen im Zusammenhang mit der Beschaffung von Lebensmitteln aufgrund einer sich verschärfenden Ernährungslage in Frankreich und entsprechenden Rationierungen durch die Regierung in Vichy, was einen regen Schwarzmarkt nach sich zog.72 Ab Sommer 1943 wurden die Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt zunehmend als Form des politischen Widerstands interpretiert. Zudem waren von den deutschen und Vichy-Behörden verfolgte Gruppen wie Angehörige des Maquis, Juden, Refraktäre des Service de travail obligatoire (STO) und andere in besonderem Ausmaß auf den Schwarzmarkt angewiesen, weil ihnen der Zugang zur legalen Wirtschaft verwehrt war.73 Auch hier zeigt sich demnach, dass die Bekämpfung des Schwarzmarktes durch Vichy und die deutschen Besatzer bis zu 71 BAR, E2200.56-06#1000/647#26*, H. Frölicher an Abteilung für Auswärtiges, 06.11.1944 (inklusive beigelegte Aufzeichnung vom 01.11.1944). 72 Fogg, The politics of everyday life in Vichy France, S. 25–37. 73 Grenard, La France du marché noir (1940–1949), S. 284–286.
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einem gewissen Grad auch als Versuch der Niederschlagung politischen Widerstands verstanden werden kann. Wenn die wegen gemeinrechtlicher Delikte angeklagten Personen von französischen Gerichten verurteilt wurden und ihre Strafe in von Franzosen geführten Gefängnissen absolvieren mussten, ist die Herstellung eines Bezugs zu nationalsozialistischer Verfolgung nicht ohne Weiteres möglich.74 Anders präsentierte sich der Fall des im Februar 1944 wegen Handels mit gefälschten Lebensmittelkarten von der Sicherheitspolizei verhafteten Schweizers Donald Brown, der nach Stationen im Wehrmachtsgefängnis Fresnes und im Lager Compiègne im April 1944 nach Deutschland deportiert wurde.75 Wie die Deutschen den Schweizer Behörden mitteilten, gehörte er zu einer „Bande von Dokumenten-Fälsche[r]n“, welche Widerstandsgruppen mit gefälschten Lebensmittelkarten versorgten.76 Brown wurde im Mai 1945 aus dem KZ Mauthausen befreit.77 Auch in anderen Fällen war es so, dass die Verurteilungen durch deutsche Gerichte erfolgten oder die Strafe im Deutschen Reich verbüßt werden musste. So wurde beispielsweise Albert-Paul Strim am 20. Dezember 1942 von den Besatzungsbehörden verhaftet und am 18. Januar 1943 vom Tribunal der Feldkommandantur 745 in Auxerre wegen Diebstahls und Hehlerei zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Strafe musste er im Straf- und Jugendgefängnis in Stuhm (Westpreussen) verbüßen.78 Ein weiteres gemeinrechtliches Vergehen, wegen dem zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer verhaftet und in der Regel durch deutsche Instanzen bestraft wurden, war die unerlaubte Überschreitung der Demarkationslinie oder der Staatsgrenze (zumeist zwischen der Schweiz und Frankreich). Das Überschreiten der Demarkations74 So wurde beispielweise der 19-jährige Willy Kunz am 3. Juni 1943 wegen Handels mit gefälschten Lebensmittelkarten in Untersuchungshaft genommen und am 18. Februar 1944 durch den „Tribunal d’état“ zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Untersuchungshaft von neun Monaten, die gemäss Naville einem Jahr Haft entsprochen hätte, wurde jedoch nicht angerechnet, und so wurde Kunz nach dem Zeitpunkt seiner eigentlichen Freilassung am 3. März 1944 in der von der Préfecture de Police geführten Kaserne von Tourelles interniert. BAR, E2200.41-04#1000/1689#213*, R. Naville an Polizeipräfektur, Paris, 07.03.1944 und 30.03.1944 ; E. Kunz an Schweizerisches Konsulat in Paris, 06.03.1944 ; Verbal vom 23.05.1944. 75 BAR, E2200.56-06#1000/647#47*, H. Frölicher an Auswärtiges Amt des Deutschen Reiches, Berlin, 07.03.1945. 76 BAR, E2200.56-06#1000/647#47*, Anmerkung auf dem Brief des Schweizerischen Konsulats in Paris an die Deutsche Botschaft in Paris, 17.03.1944. 77 Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, S. 259. 78 BAR, E2200.56-06#1000/647#175*, Schweizerisches Konsulat in Dijon an Abteilung für Auswärtiges, 06.07.1943.
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linie wurde, falls es sich nicht um Juden handelte, in der Regel mit einigen Wochen Gefängnis bestraft, auf die eine Freilassung folgte.79 Ebenfalls mit einigen Monaten Haft bestraft wurde der illegale Grenzübertritt.80 Eine spezifische Form der Bestrafung von gemeinrechtlichen Delikten stellte die Verpflichtung der Verhafteten zur Zwangsarbeit dar. Nachdem das NS-Regime zunächst nicht sehr erfolgreich versucht hatte, auf freiwilliger Basis Ersatzarbeitskräfte für die an der Front stehenden deutschen Wehrmachtsangehörigen zu finden, wurde am 21. März 1942 Fritz Sauckel zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz berufen. Unter dessen Druck etablierte die Vichy-Regierung im Februar 1943 den STO, der die zwangsweise Einberufung aller Franzosen der Jahrgänge 1920–1922 zur Arbeit im Deutschen Reich vorsah. Da Sauckel die angestrebten Rekrutierungszahlen nicht erreichte, dehnte der STO die Rekrutierungsbasis immer stärker aus.81 Entsprechend wurden auch Schweizerinnen und Schweizer gelegentlich vor die Wahl gestellt, eine Strafe oder Internierung in Frankreich zu verbüßen oder alternativ sich zur Arbeit für das Deutsche Reich verpflichten zu lassen. So erging es Arthur Nicolet, der am 28. Mai 1943 wegen unbefugten Grenzübertritts von den Besatzungsbehörden festgenommen und im September 1943 für „Deutschland angeworben und in Marsch gesetzt“ wurde. Der Konsul der schweizerischen Vertretung in Besançon hielt in diesem Zusammenhang gegenüber dem EPD fest : „Es dürfte sich hierbei um einen der nicht seltenen Fälle handeln, wo Schweizerbürger wegen leichterer Vergehen vor die Wahl gestellt werden, eine Freiheitsstrafe zu verbüßen oder sich ‚freiwillig‘ zur Arbeitsannahme in Deutschland zu melden“.82 Offenbar wurde Nicolet dann 1943 in Deutschland inhaftiert. Er soll 16 Monate in einer Fabrik im Ruhrgebiet gearbeitet haben.83
79 Beispielsweise wurde Paul André Richard im Juni 1942 von den Besatzungsbehörden beim unerlaubten Passieren der Demarkationslinie bei La Guerche verhaftet, im „Maison d’Arrêt du Bordiot“ in Bourges (Cher) inhaftiert und nach acht Wochen freigelassen. BAR, E2200.41-04#1000/1685#307*, Schweizerisches Konsulat in Paris an Feldkommandantur in Bourges, 21.07.1942 ; Sicherheitspolizei-(SD)-Kommando Orléans, Aussenkommando Bourges, an Schweizerisches Konsulat in Paris, 05.08.1942 ; Abteilung für Auswärtiges an Schweizerisches Konsulat in Paris, 20.08.1942. 80 So wurde Raoul Engeli im Oktober 1943 beim Grenzübertritt in die Schweiz bei La Cure par Morez (Jura) von den deutschen Autoritäten verhaftet, da er über kein notwendiges Visum verfügte. Er wurde zu zwei Monaten Haft wegen illegalen Grenzübertritts verurteilt und konnte das Gefängnis Prison de la Butte, Section française, in Besançon ordnungsgemäß im Dezember 1943 verlassen. BAR, E2200.5606#1000/647#77*, Schweizerisches Generalkonsulat in Lyon an Schweizerisches Konsulat in Besançon, 26.10.1943 ; Abteilung für Auswärtiges an G. Engeli, 23.11.1943 und 06.01.1944. 81 Arnaud, Les STO, S. 1–24. 82 BAR, E2200.56-06#1000/647#141*, Schweizerisches Konsulat in Besançon an Abteilung für Auswärtiges, 14.10.1943. 83 Buhler, Jean, „La revanche du légionnaire.“ Terre & Nature, 04.09.2008, S. 26.
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Waren die meisten Schweizer Zwangsarbeiter*innen in Frankreich durch den STO rekrutiert worden, so gab es auch einige, die für die „Organisation Todt“ (OT) arbeiteten. Die von Fritz Todt gegründete und nach dessen Tod 1942 von Albert Speer übernommene paramilitärische Organisation führte im Reich sowie in den besetzten Gebieten kriegsrelevante Großbauten durch, in Frankreich v.a. den Atlantikwall.84 Die zur OT eingezogenen Schweizer, die bei den Schweizer Konsulaten in Frankreich aktenkundig wurden, hatten sich in der Regel kaum freiwillig zur Verfügung gestellt. So war es beispielsweise der Fall beim 18-jährigen Roger Pahud, der am 14. Oktober 1942 zu 13 Monaten Gefängnis wegen Diebstahls von Fahrrädern verurteilt worden war. Nach Verbüßung seiner Strafe wurde er im November zwecks administrativer Internierung nach Tourelles gebracht. Verzweifelt über seine Inhaftierung habe Pahud die Anordnungen der deutschen Behörden befolgt und sich in die Organisation Todt begeben. Wie auch seinem Landsmann Jean Vuillemin gelang es ihm, nach einigen Monaten der OT zu entkommen.85 Damit hatte er Glück, denn ab 1943 war es in der OT in Frankreich nicht mehr möglich, eigenmächtig einen Rückzug aus dem Arbeitsverhältnis zu erlangen, außerdem lebten die OT-Zwangsarbeiter in Lagern, die größtenteils bewacht waren. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter gestalteten sich je nach Ort und Firma, für die sie arbeiten mussten, unterschiedlich.86 Willy Müller, der aus dem Internierungslager Compiègne im September 1943 auf die Insel Alderney zur Organisation Todt gelangt war, beklagte sich im November 1943 in einem Brief an das Schweizer Konsulat in Marseille, er führe ein Dasein eines Lagerhäftlings, müsse 15 Stunden pro Tag arbeiten und erhalte keinen Lohn.87
Reaktionen der Schweizer Behörden Im Folgenden werden im Sinne eines Fazits einige Aspekte der Reaktionen der Schweizer Behörden auf die Verhaftungen und Deportationen von Schweizerinnen und Schweizern aufgegriffen. Die Frage, ob genügend getan wurde für diese Personen, kann an dieser Stelle (noch) nicht abschließend beantwortet werden. Zu komplex waren die Mechanismen von Diplomatie, NS-Willkür und Handlungsspielräumen, zu groß war die Anzahl involvierter Stellen nicht nur bei den Schweizern, sondern 84 Lemmes, „Arbeiten für den Besatzer“, S. 83–103. 85 BAR, E2200.41-04#1000/1687#287*, Anhang eines Schreibens des Schweizerischen Konsulats in Paris an das französische Innenministerium, Paris, 28.08.1945 ; BAR, E2200.41-04#1000/1687#245*, Verbal vom 18.12.1943. 86 Lemmes, „Arbeiten für den Besatzer“, S. 97–102. 87 BAR, E2200.41-04#1000/1687#229*, W. Müller an Schweizerisches Konsulat in Marseille, 15.11.1943.
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auch bei den Franzosen und den Deutschen, zu unübersichtlich ist nach wie vor die Quellenlage. Prägend für die Handlungsweisen der Schweizer Behörden war sicher die Tatsache, dass die Schweiz den neuen „ordre public“, den die Nationalsozialisten auch in den besetzten Gebieten durchsetzten, anerkannten und daher auch nicht grundsätzlich gegen damit verbundene Maßnahmen protestierten. Wie es v.a. in Bezug auf die Situation der Schweizer Juden und Jüdinnen in Frankreich explizit hieß, könne man nicht prinzipiell verlangen, dass die Schweizer Juden in Frankreich anders behandelt würden als die französischen Juden. Daher glaubte Pierre Bonna, Chef der Abteilung für Auswärtiges, „qu’il serait préférable de nous en tenir, comme pour l’Allemagne et pour l’Italie, à des interventions dans des cas particuliers, en cherchant à sauver ce qui peut encore être sauvé et en s’élevant contre toute discrimination au détriment de nos compatriotes“.88 Ebenso anerkannten die Schweizer zumindest implizit das Recht der NS-Instanzen, politischen Widerstand zu ahnden. Belegt sind zahlreiche Fälle, wo die Schweizer Behörden entschieden, sich nicht für eine Person, die politischen Widerstand geleistet hatte, einzusetzen.89 Eine zweite wichtige Grundvoraussetzung stellten die ideologischen und politischen Ausprägungen des damaligen Zeitgeists dar. Antisemitische Tendenzen in Form von für die Schweiz typischen Überfremdungsängsten zeigten sich im großen Zögern seitens Beamter der Bundesverwaltung, die in Frankreich lebenden Schweizer Juden und Jüdinnen zu repatriieren.90 Auch den kommunistisch geprägten Mitgliedern des Widerstands gegenüber zeigten sich deutliche Vorbehalte, wenn es darum ging, sie in die Schweiz zurückzuholen, wie auch bei den Kleinkriminellen, die monatelang ohne Gerichtsprozess in Frankreich interniert waren.91 Trotz dieser Vorbehalte war es aber keineswegs so, dass diese Personen gänzlich ihrem Schicksal überlassen blieben. Auch wenn rund hundert Schweizer Juden und Jüdinnen aus 88 BAR, E2200.42-01#1000/586#2*, Abteilung für Auswärtiges an Schweizerische Gesandtschaft in Vichy, 04.07.1941. 89 Vgl. bspw. Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, S. 85–98 ; Wirth, „‚Arrêté par les autorités allemandes‘“. 90 Siehe Späti, „Arrests, Internments and Deportations“. 91 Im Zusammenhang mit der Repatriierung von drei Schweizerinnen, die monatelang wegen gemeinrechtlicher Vergehen in französischen Lagern interniert gewesen waren, schrieb der Chef der Polizeiabteilung : „II s’agit ici de cas peu intéressants pour lesquels l‘assistance aux frais de la Confédération ne pourrait être sollicitée. […] C’est donc uniquement par pure commisération que nous intervenons pour le rapatriement de ces personnes.“ BAR, E2200.41-04#1000/1685#269*, Chef der Polizeiabteilung an das Schweizer Konsulat in Paris, 20.06.1942. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Es handelt sich hier um unbedeutende Fälle, für die der Bund keine Kostenunterstützung aufbringen wird. […] Wenn wir uns für die Repatriierung dieser Personen einsetzen, dann lediglich aus reinem Mitleid.“
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Frankreich in Konzentrationslager deportiert wurden – noch mehr wurden gerettet, indem es den Diplomaten gelungen war, sie aus Drancy zu befreien sowie durch die anschließenden Repatriierungen.92 Die Schweizer Behörden erkannten den wahren Charakter und die tatsächlichen Ausmaße der NS-Politik nur teilweise. Zwar stellte der Beginn der Deportationen von Schweizern im Sommer 1942 und dann die starke Zunahme dieser Verschleppungen ab Herbst 1943 einen gewissen Wendepunkt dar. Vor allem ab Herbst 1944 lassen sich zahlreiche Hinweise finden, dass der Ton der Schweizer sich verschärfte und versucht wurde, den Deutschen klarzumachen, dass man die Deportationen ohne Gerichtsprozesse und die dilatorischen Antworten auf die Nachfragen nach dem Aufenthaltsort der Deportierten nicht mehr einfach so hinzunehmen gewillt war. Auch Entschädigungspflichtandrohungen wurden nun seitens Schweizer Beamter ausgestoßen.93 Umgekehrt gibt es auch zahlreiche Hinweise, dass Schweizer Beamte nicht nur dazu tendierten, Schreckensmeldungen als „Gräuelpropaganda“ abzutun, sondern gerade auch im Zusammenhang mit der NS-Judenpolitik, rassistische Kategorien und von der nationalsozialistischen Weltanschauung geprägte Ansichten kritiklos zu übernehmen.94 Auffallend ist etwa, dass Konsulatsmitarbeiter stets relativ positiv über ihre Besuche in den Internierungslagern rapportierten. So berichtete beispielsweise ein Mitarbeiter des Konsulats in Paris, er habe am 3. Juni 1942 Henri Rollini im Internierungslager Compiègne besucht. Dieser habe erklärt, er befinde sich in guter Gesundheit, „et son moral ne semble pas trop atteint par le séjour au camp“.95 Ganz anders klang es wenige Monate später in einem Brief Rollinis an seinen Bruder in Genf, von welchem dieser dem EPD berichtete : „Mon malheureux frère est extrêmement mal nourri et manque de vêtements. Il se trouve dans un Stalag d’où l’on a déjà déporté de nombreux détenus en Silésie ou ailleurs, et il craint tous les jours que ce soit son tour.“96 Seine Angst war nicht unbegründet. Tatsächlich erfolgten mehr als ein Drittel der Deportationen aus Frankreich aus dem Lager Compiègne, 92 Späti, „Arrests, Internments and Deportations“. 93 BAR, E2200.56-06#1000/647#26*, Abteilung für Auswärtiges an Schweizerische Gesandtschaft in Berlin, 27.12.1944. 94 Beispiele dafür finden sich bei : Späti, „Arrests, Internments and Deportations“. 95 BAR, E2200.41-04#1000/1684#405*, Verbal vom 03.06.1942. Übersetzung durch die Herausgebenden : „und seine Stimmung scheint durch den Aufenthalt im Lager nicht allzu sehr beeinträchtigt zu sein.“ 96 BAR, E2200.41-04#1000/1684#405*, J. Rollini an Eidgenössisches Politisches Departement, 28.10.1942. Hervorhebung im Original. Übersetzung durch die Herausgebenden : „Mein unglücklicher Bruder ist extrem unterernährt und hat keine Kleidung. Er befindet sich in einem Stalag, aus dem bereits viele Gefangene nach Schlesien oder anderswo deportiert worden sind, und er fürchtet jeden Tag, dass er an der Reihe ist.“
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wo Platzmangel, Nahrungsmittelknappheit und mangelnde hygienische Verhältnisse herrschten.97 Wie die Aspekte zeigen, benötigt die Beantwortung der Frage nach der Verantwortung der damaligen Behörden für den Tod von mehreren Hundert Schweizerinnen und Schweizern in Konzentrations- und anderen Lagern, in Zuchthäusern, während der Zwangsarbeit oder durch Erschießungen einer differenzierten Sichtweise, die nicht nur weiterer Forschung bedarf, sondern auch eines sorgfältigen Abwägens der einzelnen Beurteilungselemente. Abgesehen von den daraus ableitbaren Handlungsspielräumen der Behörden ermöglicht die Erforschung der NS-Gewaltherrschaft in Frankreich anhand der von Schweizer Instanzen produzierten Quellen darüber hinaus eine differenzierte Sichtweise auf das Schicksal verschiedenster ausländischer Opfergruppen in Frankreich, ebenso wie auf den Umgang der Nationalsozialisten mit Vertretern neutraler Staaten.
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97 Zu Compiègne siehe : Peiffert/Jouin, „Le camp d’internement de Compiègne“, S. 449–474.
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Zwischen Internet und Stolpersteinen Eine Reflexion zu den Möglichkeiten und Vorhaben einer angemessenen Erinnerung an Schweizer Opfer des Nationalsozialismus 75 years after the end of the Second World War, the need for places of remembrance for the victims of National Socialism is also growing in Switzerland. But who should we remember, where and in what form ? A long-winded debate threatens to curb the current dynamic. A solution would be a modular approach, the culmination of which could be a national memorial. But before this can happen, comprehensive research is needed ; a virtual database of all Swiss victims needs to be set up – and a variety of local remembrance initiatives, such as the one that recently installed Stolpersteine (stumbling stones) for Zürich victims. Only in this way can a culture of remembrance develop that is supported by the population and is a prerequisite for a national memorial. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt sich in unserem Land allmählich ein breit abgestütztes Bedürfnis, sich an die Schweizer Opfer der natio nalsozialistischen Verfolgung zu erinnern. Einen wichtigen Anstoß gab die Auslandschweizer-Organisation (ASO), die 2018 eine Aufarbeitung der Geschichte der Schweizer Nazi-Opfer und die Errichtung einer Gedenktafel forderte. Beim Internationalen Holocaust-Gedenktag in Auschwitz sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (SP) am 27. Januar 2020, der Bundesrat stehe einer Gedenkstätte für die Gesamtheit der Schweizer NS-Opfer aufgeschlossen gegenüber.1 Als erste Schweizer Regierungsvertreterin hatte sie kurz zuvor die Existenz der Schweizer KZ-Häftlinge eingeräumt und hinzugefügt, die Überlebenden seien nach dem Krieg von der eigenen Regierung „zu oft abweisend und kaltherzig behandelt“ worden.2 Nur Tage zuvor hatte ASO-Präsident Remo Gysin in der „Schweizer Revue“ ebenfalls eine Gedenkstätte statt einer Gedenktafel gefordert, und zwar „an einem öffentlich gut sichtbaren, leicht zugänglichen, würdigen Ort, vorzugsweise in Bern, der auch ein Bekenntnis der Schweiz zu ihrer historischen Verantwortung ausdrückt“. Eine Steu1 E-Mail von Bundi, Annetta (Mediensprecherin UVEK) an Verfasser vom 23.01.2020. 2 Botschaft von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, 27.01.2020 : https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/uvek/medien/interviews-und-stellungnahmen/holocaust-gedenktag-2020.html, letzter Zugriff : 28.02.2020.
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erungsgruppe hat die ursprüngliche Projektidee einer zentralen Gedenkstätte weiterentwickelt und ein Konzept erarbeitet, welches sie als fundierte Stoßrichtung und als inhaltliche Grundlage für die politische Initiative zur Errichtung eines Denkmals versteht.3 Parallel dazu formierte sich eine Gruppe, die in Zürich inzwischen sieben „Stolpersteine“ verlegt hat, die an die lokalen Nazi-Opfer erinnern.
Puzzleteile So erfreulich die Aufbruchstimmung ist, so groß ist die Gefahr, dass die kurzfristig aufgebaute Energie in langfädigen Diskussionen verbrannt wird, weil sich die Teilnehmenden nicht einig sind, welche Opferkategorien berücksichtigt werden sollen und welche nicht, wo die Gedenkstätte hinkommen könnte, wie sie auszustatten wäre und welche Inhalte sie zu transportieren hätte. Um einen „kreativen Stillstand“ zu vermeiden, sollten die ersten Schritte ausschließlich im virtuellen Raum unternommen werden. Die Errichtung der traditionellen, mit Händen greifbaren Gedenkstätte stünde nicht am Anfang der Bemühungen, sie würde den krönenden Abschluss bilden. Entstehen sollte ein möglichst umfassendes Geschichtsbild über die Schweizer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (wobei sich sofort die Frage stellt, ob alle „Schweizer Opfer“ im Besitz eines roten Passes gewesen sein müssen, oder ob ein Schweizer Geburtsort oder ein langjähriger Aufenthalt in der Schweiz genügen würden). Dieses umfassende Geschichtsbild wird wie ein Puzzle von verschiedenen Akteuren Stück für Stück zusammengetragen. Mit unserem Buch über die Schweizer KZ-Häftlinge und der dahinterstehenden, umfangreichen Forschungsdokumentation liegt ein solches Puzzlestück vor.4 Es bildet zwar lediglich eine Opferkategorie von vielen ab, dafür aber umfassend : die der Schweizer KZ-Häftlinge.
3 Die Steuerungsgruppe besteht neben Mitgliedern der ASO auch aus Mitgliedern des Archivs für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich, des Zentrums für jüdische Studien Basel (ZjS), des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG), der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft Bern (CJA) und einer Expertin für Denkmäler. Als Grundlage beruft sich die Steuerungsgruppe auf die Diskussionen und Ergebnisse der am 18.03.2019 im AfZ veranstalteten Tagung „Ein Denkmal für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus ?“. Zudem hat der Bundesrat auf die Frage nach seiner Unterstützung einer Gedenkstätte für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus geantwortet : „Die zuständigen Stellen der Bundesverwaltung stehen dem Vorschlag aufgeschlossen gegenüber. Sobald die Projektidee konkreter ausgestaltet ist, werden sie ihre Unterstützung in Bezug auf Form und Inhalt präziser bestimmen können.“ 4 Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge.
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Die Freiburger Historikerin Christina Späti wird demnächst ein weiteres Puzzle-Teil beisteuern : Sie hat in ihrer jüngsten, bei Drucklegung dieses Buches noch nicht publizierten Studie in der Nordzone Frankreichs Dutzende von Schweizerinnen und Schweizern eruiert, die in Drancy oder anderen Lagern interniert waren und wieder freikamen. Dazu kommen Schweizer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, die in Gefängnissen und Zuchthäusern litten wie der Hitler-Attentäter Maurice Bavaud,5 die Zwangsarbeit leisten mussten, erschossen wurden, die ihr Vermögen, ihre Arbeit oder ihre Firmen verloren. Mit jedem Puzzleteil würde das Gesamtbild vollständiger und damit aussagekräftiger. Es liegen bereits eine Menge Puzzleteile vor, man müsste sie nur noch zusammenfügen. Einige willkürlich herausgegriffene Beispiele : Die rigide eidgenössische Opferschutzpolitik jener Zeit hat May Broda in einer Publikation über den homosexuellen Schweizer Leopold Obermayer thematisiert, der im KZ Mauthausen starb.6 Silke M. Redolfis Buch über „Die verlorenen Töchter“ beleuchtet die rechtliche Situation und den Lebensalltag von Schweizerinnen in der Nazi-Zeit, die nach der Heirat mit einem Ausländer ausgebürgert und oft ihrem Schicksal überlassen wurden.7 Ein weiteres Puzzle-Teil wäre Anton-Andreas Specks Schicksalsgeschichte über die in Auschwitz getötete Schweizer Familie Rothschild.8 Oder der Dokumentations-Film „Ende der Erinnerung ?“ von Peter Scheiner aus Anlass der Auflösung der Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust in der Schweiz.9 Im Archiv des Schweizer Radios gibt es überdies O-Töne von überlebenden Schweizer KZ-Häftlingen, die aufbereitet werden könnten. Insgesamt ginge es also um eine Gedenkstätte, die zukunftsgerichtet ist, ins digitale Zeitalter passt und einen konkreten Nutzen für die Bevölkerung hat, insbe sondere auch für die Schulen. Das Ziel wäre, Dokumente und Informationen zu Schweizer Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung in einer zentralen Datenbank zu sammeln und ausgewählte Materialien für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Schülerinnen und Schüler könnten sich mit vielfältigen Inhalten auseinandersetzen, Lehrpersonen auf vorbereitete Lektionsreihen zugreifen. Auf diese Weise könnte die virtuelle Gedenkstätte schon in naher Zukunft eine lebendige und nachhaltige Auseinandersetzung der Schweizer Bevölkerung mit diesem bislang vernachlässigten Kapitel der Schweizer Geschichte in Gang setzen.
5 Vgl. Urner, Der Schweizer Hitler-Attentäter ; Villi/Meienberg/Stürm, Es ist kalt in Brandenburg. 6 Broda, „Der Schweizer Bürger Leopold Obermayer im KZ Dachau“. 7 Redolfi, Die verlorenen Töchter. 8 Speck, Der Fall Rothschild. 9 Scheiner, Ende der Erinnerung ?
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Informationen aus der Öffentlichkeit zur Vervollständigung der Datenbank wären willkommen. Stichwort Schwarmintelligenz : Es gibt viele Menschen in der Schweiz – zum Beispiel Nachfahren von Betroffenen –, die ihr Wissen zum Thema und gesammelte Unterlagen gerne weitergeben würden. Ein Beispiel dafür ist der Walliser Laurent Favre, der an unserem Buch mitgearbeitet hat und seit Jahrzehnten Dokumente zu diesem Thema sammelt. Historikerinnen und Historiker könnten in den nächsten Jahren die Ergebnisse neuer Forschungsarbeiten sukzessive in die Datenbank einpflegen, Journalisten könnten weitere Lebensgeschichten von Opfern recherchieren und schreiben. Insgesamt bietet sich der Schweiz beim Aufbau einer virtuellen Gedenkstätte ein großer Vorteil : Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Die in Österreich konzipierte Gedenkstätte für den Lagerkomplex Mauthausen könnte als Vorbild dienen.10 Zentral ist dort der „Raum der Namen“, der 2013 eröffnet wurde. In einer abgedunkelten Halle werden auf großflächigen, schwarzen Glastafeln die Namen von 81.000 Menschen aufgeführt, die im Lager ermordet wurden. Die Namen sind zufällig angeordnet. Auf der Website der Gedenkstätte kann man eruieren, an welcher Stelle im „Raum der Namen“ eine bestimmte Person aufzufinden ist. In der umfangreichen Datenbank von Mauthausen finden Benutzer biografische Hinweise und Informationen zum jeweiligen Todesort und dem Todesdatum. Eines der Projektziele besteht darin, ausführliche Biografien von möglichst vielen Opfer zu sammeln : Sachdienliche Dokumente und Fotos können von Einzelpersonen oder Institutionen in unterschiedlichen Sprachen auf die Website hochgeladen werden. Fachleute der Gedenkstätte prüfen das Material, redigieren es, übersetzen bei Bedarf und machen es schließlich öffentlich zugänglich. Auf diese Weise wird die Gedenkstätte unter Mithilfe der Bevölkerung erweitert und um wertvolle Materialien angereichert – das Puzzle wächst von Jahr zu Jahr.
Die Aufgaben einer Gedenkstätte Gerade im heutigen politischen Umfeld kann und sollte eine solche Gedenkstätte eine Reihe wichtiger Aufgaben erfüllen : Erinnerungen wachhalten und Bewusstsein schaffen : Wie im Ausland besteht auch in der Schweiz die Gefahr, dass bei jüngeren Generationen das Wissen über die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg ausdünnt oder sogar verloren geht. Die wichtigste 10 Langfristiges Gedenkstättenkonzept der KZ-Gedenkstätte Mauthausen : https://www.mauthausen-memorial.org/de/Ueber-uns/Langfristiges-Gedenkstaettenkonzept, letzter Zugriff : 28.02.2020.
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Aufgabe der Gedenkstätte bestünde folglich darin, das vorhandene Wissen zu bewahren, auszubauen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. So könnte das historische, ethische und politische Bewusstsein schweizweit gefördert werden. Insbesondere junge Menschen sollten in die Lage versetzt werden, historische Tatsachen zur kritischen Beurteilung der Gegenwart heranziehen zu können. Tendenzen wie die Relativierung geschichtlicher Vorgänge – wie beispielsweise in Deutschland, wo der AfD-Politiker Alexander Gauland im Juni 2018 gesagt hatte, Hitler und die Nazis seien „nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ gewesen – oder gar Geschichtsleugnung sollen auf der Basis sachlicher Darstellungen verhindert werden. Das wiederum bedingt, dass sich die Verantwortlichen der Gedenkstätte bei Bedarf auch in aktuelle politische Auseinandersetzungen einmischen, sei es mittels Teilnahme an Diskussionsveranstaltungen oder in Form eigener Publikationen – immer auf der Basis des in der Gedenkstätte vorhandenen Wissens. Dabei sollten auch die modernen Kommunikationskanäle wie Social Media genutzt werden. Auf diese Weise würde die nationale Gedenkstätte zu einem permanenten gesellschaftspolitischen Faktor. Forschung, Lehre und Unterrichtsmaterialien. Wichtige Kapitel der Schweizer Geschichte sind auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch nicht geschrieben. Die Aufarbeitung der Geschichte der Schweizer KZ-Häftlinge in den Jahren 2015 bis 2019 ist nur ein Beispiel dafür. Diese Lücken könnte eine Gedenkstätte schließen, die sich zu ihrem Forschungs- und Lehrauftrag bekennt. Das bedeutet, dass sich die Universitäten am Projekt beteiligen müssten. Beispielsweise, indem sie Studierende zu entsprechender Forschung motivieren. Die Ergebnisse flössen wiederum in den Fundus der Gedenkstätte ein. Neue Forschungsergebnisse könnten im Rahmen beachteter Veranstaltungsreihen präsentiert werden – mit garantiertem Niederschlag in den Medien. Die Aussetzung eines „Forschungspreises“ zum Thema würde weitere Kräfte freisetzen. Eine wünschenswerte Folge des Engagements im Bereich Forschung und Lehre wäre die Entwicklung einschlägiger Unterrichtsmaterialien. Zudem sollte beim Aufbau der virtuellen Schweizer Gedenkstätte sichergestellt werden, dass darin direkt aus den Klassenzimmern recherchiert werden kann. Wenn Schulen der Online-Zugang ermöglicht wird, steigen die Chancen, dass Schülerarbeiten zum Thema entstehen, zurückfließen und im Rahmen von Ausstellungen veröffentlicht werden können. Internationale Kooperationen. Auch bezüglich internationaler Kooperationen kann die KZ-Gedenkstätte Mauthausen der Schweiz als Vorbild dienen. Sie ist seit mehreren Jahren Mitglied im Netzwerk der „International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)“ und unterhält mehrere Kooperationen mit Archiven wie dem International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen oder dem Archiv des Staatlichen
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Abb 1 : Gedenktafel zur Erinnerung an die Schweizer Staatsbürger in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Foto : Fabienne Meyer 2019
Museums Auschwitz-Birkenau. Auch die Schweiz könnte von solchen Verbindungen profitieren. Natürlich stellt sich bei solchen Projekten immer die Frage nach der Finanzierung. Österreich hat für die erste Phase des Mauthausen-Projekts (Zeitspanne von 2017 bis 2021) insgesamt 21 Millionen Euro Bundesgelder budgetiert. Die Puzzle-Strategie würde es in der Schweiz erlauben, die virtuelle Gedenkstätte mit einem vertretbaren Jahresaufwand Schritt für Schritt aufzubauen. Die Diskussionen um den Standort und die Gestaltung der materiellen Gedenkstätte könnten in der Aufbauphase somit ohne Druck geführt werden. Parallel könnten zusätzliche Projekte zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung mit wenig Aufwand vorangetrieben und realisiert werden. Eine Möglichkeit wäre, in Konzentrationslagern, in denen Schweizerinnen und Schweizer litten und starben, einfache Gedenktafeln anzubringen. In einigen KZ ist das bereits geschehen, in Mauthausen zum Beispiel an der „Klagemauer“.
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Schweizer Stolpersteine Zu den bekanntesten Formen der Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes gehören die sogenannten Stolpersteine. Kreiert hat sie der deutsche Künstler Gunter Demnig. Den ersten Stein legte er am 16. Dezember 1992 vor dem Kölner Rathaus, darin eingraviert der Text des „Schnellbriefs“ vom Januar 1943, in dem der sogenannte Auschwitz-Erlass des Reichführers SS Heinrich Himmler zitiert wird.11 Unter dem Titel „Einweisung von Zigeunermischlingen, Rom-Zigeunern und balkanischen Zigeunern in ein Konzentrationslager“ ordnete Himmler darin die Deportation aller innerhalb des Deutschen Reichs lebenden Sinti und Roma an. Seither sind über 75.000 Stolpersteine in 28 Ländern dazugekommen, ein Großteil davon in Deutschland. Die Erscheinungsform ist einheitlich : Auf einer quadratischen Messingtafel wird von Hand der Name des Opfers eingeschlagen, diese wird auf einem Betonwürfel von 96 x 96 x 100 Millimetern Größe angebracht. Ebenerdig in den Boden eingelassen, markiert der Stolperstein meist den letzten Wohnort der Person vor der Deportation.12 Heute gilt das Stolperstein-Projekt als größtes dezentrales Mahnmal der Welt. Inzwischen ist die Aktion sogar Teil der Populärkultur : Im August 2019 veröffentlichte der bekannte deutsche Hip-Hop- und Dancehall-Sänger Stefan Richter alias „Trettmann“ einen Song mit dem Titel „Stolpersteine“. Auf YouTube hatte der Clip Ende Februar 2020 über 900.000 Aufrufe. In der Schweiz sind noch bis vor Kurzem erst drei Stolpersteine verlegt worden – alle in der Bodenseeregion. Zwei erinnern in Kreuzlingen TG an die Fluchthelfer Andreas Fleig (deutscher Staatsbürger) und Ernst Bärtschi (Schweizer). Beide überlebten das Zuchthaus Ludwigsburg. Der dritte Stolperstein liegt in der Gemeinde Tägerwilen, ebenfalls im Kanton Thurgau. Auf ihm ist der Name des deutschen Widerstandkämpfers Otto Vogler verewigt, der von der Gestapo verhaftet und im KZ Dachau ermordet wurde. Alle drei gehen zurück auf die deutsche Bürgerinitiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“. In ihrer Erscheinung und inhaltlich unterscheidet sich diese Form der Erinnerung fundamental von einer nationalen Gedenkstätte. Für ein zentrales Mahnmal wird aus einzelnen Schicksalen eine Gruppe geformt, derer sich das Land erinnern soll. Stolpersteine widmen sich dagegen ganz dem Individuum. Diese beiden Formen schließen sich nicht aus. Eine zentrale Gedenkstätte und hyperlokale Mini-Denkmäler können sich vielmehr ergänzen. Vielleicht bedingt ein nationales Denkmal, das 11 Engbring-Romang, Die Verfolgung der Sinti und Roma, S. 342–347. 12 „75‘000 „Stolpersteine“ erinnern an Nazi-Opfer“. Deutsche Welle, 29.12.2019 : https://www.dw.com/ de/75000-stolpersteine-erinnern-an-nazi-opfer/a-51828018, letzter Zugriff : 22.02.2020.
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wirklich von der Bevölkerung angenommen werden soll, sogar das Bewusstsein, dass dem NS-Terror auch Schweizerinnen und Schweizer zum Opfer fielen. Stolpersteine könnten dieses Bewusstsein schaffen. Auch in der Stadt Zürich ist nun ein erstes Stolperstein-Projekt realisiert worden : Im Rahmen von Veranstaltungen, an denen namhafte Politikerinnen und Politiker teilnahmen, wurden Ende November 2020 insgesamt sieben Stolpersteine für NS-Opfer mit engem Bezug zur Stadt verlegt. 2021 sollen weitere folgen. Nach der Veröffentlichung unseres Buches hatte der Zürcher Journalist Res Strehle in einem Kommentar im Tages-Anzeiger zum Umgang mit dem Zürcher Sozialdemokraten und Dachau-Häftling Albert Mülli eine Erinnerung vor dessen ehemaligem Wohnhaus an der Gamperstraße gefordert : „Die Stadt Zürich sollte im Fall von Albert Mülli vorangehen : Wer nachfühlt, was diese Menschen mitgemacht haben, der lege den ersten Stein.“13 Strehle übernahm das Präsidium des neu gegründeten Vereins „Stolpersteine Schweiz“.14 Für den Vorstand konnte er die Schriftstellerin Ruth Schweikert, den Historiker Jakob Tanner, den Unternehmensberater Roman Rosenstein und den Theologen Roland Diethelm gewinnen. Das Präsidialdepartement der Stadt Zürich unterstützte das Projekt mit einem vierstelligen Betrag. Aus insgesamt 94 KZ-Opfern mit engem Zürcher Bezug wählte der Vereinsvorstand zunächst folgende Personen für eine Steinsetzung aus : Lea Berr und ihren Sohn Alain (in Auschwitz ermordet), Albert Mülli (überlebte in Dachau), Selma Rothschild und ihre erwachsenen Kinder Julia und Armand (in Auschwitz ermordet) sowie Josef Traxl (in Buchenwald ermordet). Das Engagement des Vereins zeigt beispielhaft, worin die Kraft des Stolperstein-Projekts liegt. Im Vergleich zu einer nationalen Gedenkstätte ist es relativ schnell, unbürokratisch und preisgünstig zu realisieren. Gemäß Demnig belaufen sich die Kosten pro Stein auf 132 Euro.15 Wie Erfahrungen im Ausland zeigen, stoßen solche Steine in der Öffentlichkeit auf große Aufmerksamkeit und sind – in den meisten Fällen – politisch unumstritten ; freilich bleibt in jedem Einzelfall abzuklären, wie Familien und Nachfahren betroffener Opfer dazu stehen. Und : Stolpersteine entsprechen ganz dem föderalen Prinzip, die Erinnerungskultur an die NS-Opfer – komplementär zu bereits existierenden Shoa-Mahnmalen16 – lokal wachsen zu lassen und so für eine nationale Gedenkstätte das Fundament zu legen. Die Initiative in Zürich 13 Strehle, „Die Schweizer KZ-Opfer ehren“. 14 Vgl. www.stolpersteine.ch, letzter Zugriff : 04.12.2020. 15 E-Mail von Gunter Demnig an Res Strehle vom 16.12.2019. 16 Meyer, Monumentales Gedächtnis.
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Abb. 2 : Die ersten Stolpersteine in Zürich vor ihrer Setzung an der Clausiusstrasse 39. Sie erinnern an Lea Berr, die durch die Heirat mit einem Franzosen ihre Schweizer Staatsbürgerschaft verlor, und an ihren Sohn Alain. Beide wurden in Auschwitz ermordet. Foto : Fabienne Meyer 2020.
könnte als Blaupause für weitere lokale Gruppierungen in anderen Schweizer Gemeinden dienen. Städte mit vielen Opfern sind zum Beispiel Genf, Basel, Bern und La Chaux-de-Fonds NE.
Die Herausforderungen in der Schweiz Wer in der Schweiz Stolpersteine verlegen will – oder sich im Allgemeinen mit der Planung einer Gedenkstätte beschäftigt –, wird aber auch mit Herausforderungen konfrontiert, die so in Deutschland und den ehemals vom NS-Regime besetzten, europäischen Ländern nicht existieren : Zum Beispiel wird zu erwägen sein, nach welchen Kriterien die Orte für Stolpersteine in der Schweiz zu bestimmen wären – die große Mehrheit der Schweizer Opfer hatte ihren Wohnsitz nicht in der Schweiz. Ob nun der Heimat- und Bürgerort und dort das Gemeindehaus oder der letzte Wohnort in der Schweiz, die Wohngemeinde der Vorfahren oder ein symbolisch bestimmter Ort infrage kommen – dies wird sich noch zeigen müssen. Ein zentrales Merkmal der Aktion in Deutschland ist die Verlegung vor dem letzten Wohnort des Opfers vor der Deportation. Gunter Demnig baut die Beschriftung
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schematisch weitgehend nach demselben Muster auf.17 Zur Veranschaulichung kann der in unserem Buch dokumentierte Fall der Schweizerin Emma Kübler-Schlotterer dienen, für die im süddeutschen Badenweiler ein Stolperstein mit folgender Inschrift verlegt wurde : Hier wohnte Emma Kübler geb. Schlotterer Jg. 1885 Verhaftet 1936 KZ Mauthausen Ravensbrück/Auschwitz Tot 1945 in Bergen-Belsen
„Hier wohnte“ ist die am weitaus häufigsten verwendete Einleitung. Es gibt auch Beispiele, bei denen dem Opfernamen ein „Hier lehrte“ oder „Hier arbeitete“ vorangestellt ist. Bei den bisher bekannten 408 Schweizerinnen und Schweizer, die in KZ waren, handelt es sich fast ausschließlich um Auslandschweizer. Fälle wie jener von Albert Mülli bilden die Ausnahme. Mülli wurde in Wien verhaftet, weil er mit dem Nachtzug Propagandamaterial ins Dritte Reich geschmuggelt hatte. Vor seiner Verhaftung wohnte er in Zürich. Die meisten anderen Schweizer Opfer wohnten zum Zeitpunkt der Verhaftung im Ausland – zum Teil seit ihrer Geburt. Wo verlegt man für diese Schweizer Opfer einen Stolperstein ? Eine Möglichkeit zeigt der Fall Lea Berr, geborene Bernheim. Die Schweizer Jüdin (Bürgerort Zürich) heiratete 1940 den Franzosen Ernst Berr, mit dem sie in Nancy wohnte. Am 13. April 1944 wurde Lea Berr mit ihrem zweijährigen Sohn Alain nach Auschwitz deportiert und ermordet.18 In Nancy wurde vor Jahren bereits ein Stolperstein für Lea Berr verlegt. Zwei weitere Steine erinnern nun an der Clausiusstrasse 39 in Zürich an Alain und seine Mutter, die vor ihrer Heirat dort wohnte. Und wo legt man Steine für all jene Auslandschweizer, die nie in der Schweiz gelebt haben ? Zum Beispiel für den Kunstmaler Gino Parin, der in Bergen-Belsen starb ? Er kam 1876 in Triest zur Welt, von wo ihn die Nationalsozialisten 1944 deportierten. Der einzige geografische Bezugspunkt zur Schweiz ist sein Heimatort Campo (Blenio) im Tessin. Möglich wäre aus unserer Sicht, in solchen Fällen Stolpersteine an einem zentralen Ort der Heimatgemeinde der Opfer zu verlegen. Gunter Demnig 17 Hesse, Stolpersteine. 18 Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, S. 255.
Zwischen Internet und Stolpersteinen
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weist denn auch darauf hin, dass es auch Steine gibt, auf denen „Hier geboren“ steht.19 Eine weitere wichtige Frage lautet : Für wen werden in der Schweiz Stolpersteine verlegt ? Albert Mülli war als KZ-Häftling ein Opfer, an das man sich ohne gemischte Gefühle erinnert. Er wurde als junger Antifaschist von Hitler-Deutschland ins KZ gesteckt – bei seiner Rückkehr behandelte ihn die Schweiz auf beschämende Art und Weise. Die Opfer-Täter-Rollen sind hier klar verteilt. So einfach ist die Sachlage aber nicht immer, wie ein anderer Zürcher Fall zeigt, jener von Emil Würth. Der ehemalige Frontist und Hochstapler beging gemeinsam mit seiner Zürcher Geliebten Nelly Hug Straftaten, bevor ihn die Nazis in den KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen misshandelten. Nelly Hug war in Ravensbrück und Flossenbürg inhaftiert. Beide überlebten. Sie waren Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung – aber nicht nur. Würde man in Zürich gerne auch an Nelly Hug und Emil Würth erinnern ? Oder lieber nur an „gute Opfer“ wie Albert Mülli ? Und wie geht man mit Schweizer Häftlingen wie Carmen Mory oder Eugen Wipf um, die im KZ Menschen töteten ? Wer sich mit Gedenkstätten für Schweizer Opfer des Holocaust befasst, wird früher oder später mit solch unbequemen Fragen konfrontiert, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Unter dem Strich wird eines klar : Mit einer nationalen Gedenkstätte einzig in Form eines Denkmals ist es nicht getan. Ein solches Mahnmal könnte gewiss eine wichtige Funktion erfüllen, genügt aber nicht den Ansprüchen der heutigen Zeit. Zentral ist, dass weiter geforscht wird mit dem Ziel, über die Jahre ein möglichst umfassendes Geschichtsbild der Schweizer Opfer des Nationalsozialismus zu erstellen – vergleichbar mit der Arbeit an einem Puzzle. Das gesammelte Wissen muss zeitnah mit neuzeitlichen Methoden vermittelt werden, die auch kommende Generationen erreicht.
Literaturverzeichnis Broda, May. „Der Schweizer Bürger Leopold Obermayer im KZ Dachau. Ein frühes Beispiel eidgenössischer Opferschutzpolitik.“ Dachauer Hefte 23 (2007), S. 3–29. Engbring-Romang, Udo. Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 2001. Hesse, Hans : Stolpersteine. Idee. Künstler. Geschichte. Wirkung. Essen : Klartext, 2017. Meyer, Fabienne. Monumentales Gedächtnis ? Shoah-Denkmale in der Schweiz. Masterarbeit. Universität Zürich, 2015. Redolfi, Silke M. Die verlorenen Töchter. Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat
19 E-Mail von Gunter Demnig an die Verfasser vom 20.02.2020.
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eines Ausländers. Rechtliche Situation und Lebensalltag ausgebürgerter Schweizerinnen bis 1952. Zürich : Chronos Verlag, 2019. Scheiner, Peter. Ende der Erinnerung ? Dokumentarfilm, 2017. Speck, Anton-Andreas. Der Fall Rothschild. NS-Judenpolitik, Opferschutz und „Wiedergutmachung“ in der Schweiz 1942–1962 (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz 9). Zürich : Pendo Verlag, 2003. Spörri Balz, René Staubli und Benno Tuchschmid. Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. Basel : NZZ Libro, 2019. Strehle, Res. „Die Schweizer KZ-Opfer ehren.“ Tages-Anzeiger, 31.12.2018, S. 13. Urner, Klaus. Der Schweizer Hitler-Attentäter. Drei Studien zum Widerstand und seinen Grenzbereichen. Frauenfeld : Huber Verlag, 1980. Villi, Hermann, Niklaus Meienberg und Hans Stürm. Es ist kalt in Brandenburg. Dokumentarfilm, 1980.
Valérie Arato Salzer / Erich Bloch / Sabina Bossert / Hannah Einhaus / Remo Gysin / Fabienne Meyer / Erik Petry / Gregor Spuhler / Herbert Winter1
Ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus In recent years, a wide variety of initiatives and activities in Switzerland have dealt with the victims of National Socialism and related issues. A steering group has brought together and condensed the various efforts and demands for a Swiss memorial for the victims of National Socialism. In view of the country’s historical responsibility, it considers it to be appropriate that the Swiss Confederation should plan and finance a memorial that (1) consists of a central designed memorial site in the sense of an artistic intervention in public space, which is dedicated to the memory and commemoration of the defined groups of people and which is open and accessible to all visitors as a place of contemplation. The memorial should (2) also include an information offer on the historical context as well as a continuous educational work, which on the one hand takes place at the memorial site itself and on the other hand is based on a multimedia offer (website), which serves to link and convey knowledge.
Die Schweiz im internationalen Kontext 2020 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Standen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten der von Deutschland begonnene Eroberungskrieg und seine Zerstörungen im Zentrum der Erinnerung, so ist seit den 1980er-Jahren zunehmend der verbrecherische Charakter des nationalsozialistischen Regimes ins historische Bewusstsein gerückt. Dabei steht der unter dem Begriff Holocaust oder Shoah subsumierte Mord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden mit dem Ziel, das Judentum vollständig zu zerstören, im Vordergrund. Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden aber auch viele andere, die mit rassistischen, religiösen, sozialen oder
1 Der Steuerungsgruppe wird Dank ausgesprochen, dass ihre Überlegungen zu einem Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in diesem Sammelband abgedruckt werden dürfen. Das vorliegende Konzept (Stand 12.02.2021) wird von zahlreichen Personen und Institutionen unterstützt und kann als fundierte Stoßrichtung und als inhaltliche Grundlage für die politische Initiative zur Errichtung eines Denkmals verstanden werden.
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politischen „Begründungen“ systematisch aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt, entrechtet, verfolgt und ermordet wurden.2 Auch in der Schweiz hat dieser Wandel des historischen Bewusstseins stattgefunden. Nachdem sie sich bis in die 1980er-Jahre vorwiegend als „verschonte Insel“ in einem kriegsversehrten Europa verstanden hatte, räumte der damalige Bundespräsident Kaspar Villiger 1995 aus Anlass des 50-jährigen Kriegsendes erstmals offiziell eine Verstrickung der Schweiz in die nationalsozialistischen Verbrechen ein und entschuldigte sich im Namen der Landesregierung für die restriktive Politik gegenüber den verfolgten Jüdinnen und Juden.3 Die Untersuchungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK, 1996–2002), die zustande kamen, als die Schweiz wegen ihres Umgangs mit nachrichtenlosen Vermögen unter großem außenpolitischem Druck stand und die im Kontext internationaler Restitutionsbemühungen zu sehen sind,4 zeichneten ein differenziertes Bild schweizerischer Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten gegenüber der damaligen deutschen Wirtschaft und Politik. 2004 trat die Schweiz der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) bei, die sie 2017/18 präsidierte. Damit hat sie sich verpflichtet, „die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten und jüngeren Generationen die Gräuel des Holocaust zur Kenntnis zu bringen, damit junge Menschen ein Bewusstsein entwickeln können, zu was Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung führen können.“5 Am 19. Januar 2020 schließlich empfing Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau 50 Holocaustüberlebende. Sie betonte in ihrer Ansprache, dass dieses Treffen auf ihren
2 Wir orientieren uns an der relativ weiten und damit einschließenden Definition des Begriffs „Holocaust survivor“ durch das US Holocaust Memorial Museum Washington : „The Museum honors as survivors any persons, Jewish or non-Jewish, who were displaced, persecuted, or discriminated against due to the racial, religious, ethnic, social, and political policies of the Nazis and their collaborators between 1933 and 1945. In addition to former inmates of concentration camps, ghettos, and prisons, this definition includes, among others, people who were refugees or were in hiding.“ Vgl. https://www. ushmm.org/remember/resources-holocaust-survivors-victims/individual-research/registry-faq#11, letzter Zugriff : 25.09.2019. 3 Gedanken zum Kriegsende. Rede von Bundespräsident Kaspar Villiger, 07.05.1995, online unter : https://www.admin.ch/cp/d/[email protected], letzter Zugriff : 30.01.2020. 4 Nach dem Ende des Kalten Kriegs rückte zuerst die nur rudimentäre Wiedergutmachung im ehemaligen „Ostblock“ ins Zentrum und weitete sich dann zu einer internationalen Diskussion aus („Arisierungen“ im Osten Deutschlands, Restitution von Raubkunst, osteuropäische Zwangsarbeiter/innen etc.). Vgl. Maissen, Verweigerte Erinnerung. 5 Medienmitteilung des EDA zur Übergabe des Vorsitzes der IHRA an Italien, 06.03.2018 : https:// www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-70013.html, letzter Zugriff : 25.09.2019.
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Wunsch stattgefunden habe, weil „das Schicksal der Überlebenden des Holocaust in Vergessenheit zu geraten drohe.“6 Die Bemühungen der Schweiz in dieser Hinsicht sind vielfältig und haben, gerade was die Bildungsarbeit betrifft, inzwischen eine breite Unterstützung erfahren. Die meisten anderen Mitgliedstaaten der IHRA, darunter auch andere neutrale Staaten wie Schweden,7 haben zudem eines oder mehrere staatliche Denkmäler oder Museen zur Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung errichtet. In der Schweiz gibt es hingegen kein offizielles Denkmal.8 Dies deckt sich durchaus mit den Prinzipien des Föderalismus und der Subsidiarität, welche – im Gegensatz zu den von monarchischer Monumentalität geprägten Nachbarländern – eine „von unten“ gewachsene, „schweizerisch bescheidene“ Gedenkkultur fördern und monumentalen oder zentralen Denkmälern mit Skepsis begegnen. Das Gedenken im Allgemeinen und im Spezifischen das Gedenken an die Shoah war denn auch zumeist die Sache von privaten Institutionen und Initiativen, wie eine wissenschaftliche Untersuchung zeigt, die in der Schweiz über 50 Denkmäler zur Shoah inventarisiert und analysiert hat.9 Diese „Bottom-Up-Kultur“ soll nicht infrage gestellt werden, weil sie die politische Kultur der Schweiz widerspiegelt und ihre Stärke in der lokalen und regionalen Verankerung zeigt. Verkannt werden soll jedoch nicht, dass es Themen gibt, die in den Verantwortungsbereich der offiziellen Schweiz fallen – einer Schweiz, die sich nicht davor scheut, selbstkritisch in die Vergangenheit zu blicken und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. So gibt es Ereignisse und Geschichten, Schicksale und Verfehlungen, die auf staatlicher Ebene nicht nur erinnerungswürdig, sondern erinnerungspflichtig sind. Hier
6 Bachmann, „75 Jahre nach Auschwitz : Sommaruga trifft Überlebende des Holocaust in Bern“ Aargauer Zeitung, 20.01.2020 : https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/75-jahre-nach-auschwitz-sommaruga- trifft-ueberlebende-des-holocaust-in-bern-136248626, letzter Zugriff : 30.01.2020. 7 Das Holocaust-Denkmal in Stockholm wurde von Holocaust-Überlebenden initiiert und mit Unterstützung der schwedischen Regierung errichtet. Vgl. Martinez, „The Stockholm Holocaust memorial – A restoration of human dignity and a warning against inhumanity“. The Local, 03.08.2017 : https://www.thelocal.se/20170803/the-stockholm-holocaust-memorial-a-restoration-of-human-dignity-and-a-warning-against-inhumanity, letzter Zugriff : 14.08.2019. 8 Der Begriff „Denkmal“ wird als vorläufiger und möglichst allgemeiner Oberbegriff verwendet und beinhaltet sowohl einen konkreten Gedenkort als auch die dazugehörigen Informations- und Bildungsangebote. Interessanterweise gibt es im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen eine Tafel zur spezifischen Erinnerung an die Schweizer Opfer. In Buchenwald werden die Schweizerinnen und Schweizer zwischen Schweden und Serben als eine der betroffenen Nationalitäten genannt. Vgl.: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Denkmale : https://www.buchenwald.de/152/, letzter Zugriff : 04.11.2019. 9 Vgl. Meyer, Monumentales Gedächtnis ?
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steht seit jeher die restriktive Flüchtlingspolitik im Fokus der Debatten : Angefangen von den Protesten gegen die Grenzschließung im Herbst 1942 über den Ludwig-Bericht und Alfred A. Häslers Buch „Das Boot ist voll“ bis hin zu den Diskussionen der jüngeren Zeit über die Flüchtlingsstatistik und die Rolle der Schweizer Behörden bei der Kennzeichnung der Reisepässe deutscher „Nichtarier“ mit dem „J“-Stempel. Dazu zählen auch der behördliche Antisemitismus sowie die lange Zeit fehlende Rehabilitierung und Anerkennung derjenigen, die sich – wie etwa Paul Grüninger, Elsbeth Kasser und viele andere – für Flüchtlinge und Vertriebene eingesetzt und dafür unter Umständen beträchtliche Nachteile in Kauf genommen haben. Hier liegt es an der Schweiz, mit einem in die Zukunft weisenden Denkmal ihre historische Verantwortung zu übernehmen – ohne dabei jedoch staatliche Geschichtsschreibung zu betreiben. In den letzten zwei bis drei Jahren erwachte in der schweizerischen Öffentlichkeit zudem das Interesse am Schicksal der Schweizer Opfer des Nationalsozialismus, und es zeigte sich, dass diese von der historischen Forschung bisher kaum beachtet worden waren. Mit dem Abschluss neuester Forschungsprojekte wird sich der diesbezügliche Wissensstand deutlich verbessern.10 In jüngster Zeit sind nun auch verschiedene Initiativen ergriffen worden, um mit einem Denkmal an die Opfer des Nationalsozialismus insgesamt und insbesondere auch an die vergessenen Schweizer Opfer zu erinnern. Damit wird ein Zeichen gegen aktuell wiedererstarkende Ressentiments wie Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus gesetzt.
Aktuelle Bestrebungen in der Schweiz Ein Artikel des „Beobachters“11 im Dezember 2017 über den Schweizer KZ-Häftling Albert Mülli war für die Auslandschweizer-Organisation (ASO) der Anlass, das Thema des Gedenkens an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus aufzugreifen. In der Folge stieß das Anliegen auf beträchtliche Resonanz. Ehemalige Mitglieder der UEK wiesen in einem Schreiben an den Bundesrat im September 2018 darauf hin, dass die Frage der von den Nationalsozialisten verfolgten Schweizer in der Arbeit der UEK wie auch von der Forschung generell bisher vernachlässigt worden war. Die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft Schweiz (CJA) und der Schweizerische
10 Schon früh thematisiert hat dies Regula Ludi in ihrer Arbeit : Ludi, Reparations for Nazi Victims in Postwar Europe. Weitere neuere Publikationen zum Thema : Spörri/Staubli/Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge. Redolfi, Die verlorenen Töchter. 11 Demuth, „Die vergessenen Schweizer Opfer“. Beobachter, 07.12.2017 : https://www.beobachter.ch/gesellschaft/holocaust-die-vergessenen-schweizer-opfer, letzter Zugriff : 30.09.2019.
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Israelitische Gemeindebund (SIG) unterstützten das Anliegen, betrachteten eine Beschränkung des Gedenkens auf die Schweizer Opfer aber mit Skepsis.12 Die Schaffung eines offiziellen Denkmals war auch Thema an den Gedenkveranstaltungen zum Novemberpogrom 1938 und wurde von verschiedenen Medien aufgegriffen. Am 13. Dezember 2018 reichte Nationalrat Angelo Barrile eine Interpellation ein, in der er den Bundesrat nach seiner Haltung zu einem offiziellen Gedenken an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus fragte. Der Bundesrat teilte in seiner Antwort vom 20. Februar 2019 mit, dass die zuständigen Stellen der Bundesverwaltung dem Vorschlag zur Errichtung eines Denkmals aufgeschlossen gegenüberstehen würden : „Sobald die Projektidee konkreter ausgestaltet ist, werden sie ihre Unterstützung in Bezug auf Form und Inhalt präziser bestimmen können.“13 Schon früher hat Bundesrat Cassis der ASO seine Unterstützung der Grundidee zugesichert. In einem weiteren Schritt drückte der Außenminister am 17. August 2019 beim 97. Auslandschweizer-Kongress in Montreux dem Anliegen der ASO, den Schweizer Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken, seine Anerkennung aus : „Der Vorschlag einer Gedenktafel wäre sicher eine Ergänzung der errichteten Holocaust-Denkmäler.“14 Am 18. März 2019 veranstalteten die ASO und das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ) unter dem Titel „Ein Denkmal für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus ?“ eine Tagung. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Kolloquiums wurden mit Kurzvorträgen aktuelle Forschungsprojekte zum Thema präsentiert. Gleichzeitig bot die Veranstaltung eine Plattform, um interessierte Organisationen, Institutionen und Privatpersonen an einen Tisch zu bringen und die grundlegende Stoßrichtung eines solchen Denkmals zu diskutieren.15 An der Veranstaltung nahmen über 40 Personen teil. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Veranstaltung waren Folgende : Eine ausschließliche Einengung auf die „Schweizer Opfer des Nationalsozialismus“ (es geht um mehrere Hundert bis einige Tausend Menschen) ist problematisch, weil sie zum einen viele definitorische und damit ein- bzw. ausschließende Diskussionen 12 Christl, „Berner Juden fordern offizielles Shoa-Mahnmal“. Der Bund, 26.01.2019 : https://www.derbund.ch/bern/stadt/damit-die-erinnerung-nie-verblasst/story/15712714, letzter Zugriff : 30.01.2020. 13 Haltung des Bundesrates zu einem offiziellen Gedenken an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus, Antwort auf die Interpellation 18.4270, eingereicht am 13.12.2018 von Angelo Barrile : https:// www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20184270, letzter Zugriff : 30. 09.2019. 14 sda, „Cassis : Die Auslandschweizer sind Botschafter Schweizer Interessen“. Aargauer Zeitung, 17.08. 2019 : https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/cassis-auslandschweizer-sind-botschafter-schweizer- interessen-135421634, letzter Zugriff : 31.10.2019. 15 Einblick in ihre Forschungen gaben Regula Ludi, Marc Perrenoud, Silke Redolfi, Christina Späti, Ruth Fivaz-Silbermann sowie Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid.
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nach sich zieht : Zählen Schweizerinnen, die durch Heirat mit einem Ausländer ihr Bürgerrecht verloren hatten, zu den Schweizer Opfern ? Wie steht es mit ausländischen Jüdinnen und Juden, die den größten Teil ihres Lebens in der Schweiz verbracht hatten, wegen der antisemitischen Einbürgerungspraxis aber kein Schweizer Bürgerrecht erhalten hatten ? Zum andern wird die Begrenzung auf Schweizer Opfer der Dimension der nationalsozialistischen Verbrechen und der Herausforderungen, die diese für die Schweiz darstellten – etwa in der Flüchtlingspolitik oder in der Frage des Umgangs mit den Vermögenswerten der Verfolgten und Beraubten – nicht gerecht. 1. Eine bloße Gedenktafel oder eine Skulptur ohne Kontextinformationen genügen nicht. Um gemäß dem Anspruch der IHRA über die Erinnerung hinaus auch zur Bewusstseinsbildung beizutragen, welche Gefahren Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung für die Gegenwart darstellen, braucht es mehr. Die Frage, wie dieses „Mehr“ aussehen könnte, wurde im Rahmen der Tagung jedoch nur andiskutiert. 2. Ein rein virtuelles Denkmal im digitalen Raum genügt ebenfalls nicht. Es braucht einen physischen Ort, der aber mit virtuellen Angeboten verknüpft werden kann bzw. soll. 3. Es gibt keinen Ort, der sich aufgrund seiner Verbindung zur Vergangenheit offensichtlich und für alle verständlich als Gedenkort für die gesamte Schweiz anbietet. Ein solcher Ort muss erst gefunden bzw. geschaffen werden. Anlässlich der Tagung wurde ein Konsens darüber erarbeitet, wer im Zentrum der Erinnerung stehen soll. Folgende Personengruppen stießen dabei auf allgemeine Zustimmung : Zur Erinnerung an … … die Schweizerinnen und Schweizer, die vom nationalsozialistischen Regime verfolgt, entrechtet und ermordet wurden ; … diejenigen Frauen, Männer und Kinder, denen die Schweizer Behörden während des Zweiten Weltkriegs die Rettung verweigerten ; … die Schweizerinnen und Schweizer, die sich dem Nationalsozialismus entgegenstellten oder den Verfolgten Schutz und Hilfe boten ; … alle Opfer des Nationalsozialismus und des Holocaust.
Der erste Punkt stellt die Schweizer Opfer ins Zentrum und lässt die oben skizzierten definitorischen Fragen bewusst offen. Der zweite Punkt gilt den Flüchtlingen, die in vollem Bewusstsein über ihre akute Gefährdung an Leib und Leben an der Grenze zurückgewiesen wurden. Für den dritten Punkt stehen die zahlreichen Frauen und
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Männer, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet oder sich auf privater Basis oder in ihren beruflichen Funktionen für die Verfolgten eingesetzt haben. Und der letzte Punkt schließt – im Wissen um die globale Dimension der Verbrechen des Nationalsozialismus – alle Verfolgten, Entrechteten und Ermordeten ein. Neben Jüdinnen und Juden waren von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffen : Osteuropäische Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ; Roma, Sinti, Jenische und andere, die als „Zigeuner“ verfolgt wurden ; Homosexuelle (bzw. Menschen, die heute unter LGBTQ zusammengefasst werden) ; Zeugen Jehovas ; Menschen mit Behinderungen oder kranke Menschen ; politische Oppositionelle und politisch Verfolgte ; Christinnen und Christen, die sich aus religiöser Überzeugung gegen die Diktatur stellten ; sowie allgemein am Rande der Gesellschaft Stehende, die als „Asoziale“ verfolgt wurden. Unter all diesen Verfolgten waren auch Schweizerinnen und Schweizer sowie Personen anderer Nationalitäten, die einen engen Bezug zur Schweiz hatten. Im Anschluss an die Tagung formierte sich die Steuerungsgruppe „Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus“, in der die Auslandschweizer-Organisation (ASO, Remo Gysin, Erich Bloch), der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG, Herbert Winter, Valérie Arato Salzer), die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft Schweiz (CJA, Hannah Einhaus) und als wissenschaftliche Beratung das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ, Gregor Spuhler, Sabina Bossert), das Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel (ZJS, Erik Petry), und eine Expertin zu Denkmälern (Fabienne Meyer) vertreten sind. Diese Gruppe versteht sich als Think Tank und hat auf der Grundlage der oben geschilderten Ausgangslage die Projektidee weiterentwickelt sowie das im Folgenden präsentierte Konzept erarbeitet, welches sie als eine fundierte Stoßrichtung und damit als inhaltliche Basis für die politische Initiative zur Errichtung eines Denkmals versteht.
Konkretisierungen zum Denkmal Das Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus hat zum einen zum Ziel, einen Beitrag zur Erinnerung und zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und an die Schweizerinnen und Schweizer zu leisten, die sich dem Nationalsozialismus entgegenstellten oder sich für die Verfolgten einsetzten. Zum anderen schafft es ein Bildungsangebot, das in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Themen wie Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung in der Gegenwart und für die Zukunft leistet. Dementsprechend soll das Denkmal zwingend aus zwei Komponenten bestehen :
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1. einem zentralen gestalteten Gedenkort im öffentlichen Raum, der der Erinnerung und dem Gedenken an die unter Punkt 1.2. definierten Personengruppen gewidmet ist und der für alle Besucherinnen und Besucher als Ort der Einkehr offensteht und zugänglich ist. 2. einem Bildungsangebot, das Informationen zum historischen Kontext bereitstellt sowie die Möglichkeit für Veranstaltungen bietet. Das Bildungs- und Informationsangebot ist einerseits im virtuellen Raum – bestehend aus einer Webseite, die der Verknüpfung und Vermittlung von Wissen dient – und anderseits am Gedenkort vorhanden bzw. mit diesem verbunden. Grundsätzlich werden beide Komponenten des Denkmals – der Gedenkort und das Informations- und Bildungsangebot – nicht statisch verstanden. Das Denkmal soll also nicht mit seiner Realisation abgeschlossen sein, sondern ist ein ausbau- und wandlungsfähiges Denkmal als Teil einer kontinuierlichen Erinnerungs- und Bildungsarbeit. Die Steuerungsgruppe hat die aus ihrer Sicht interessierten Kreise sowie diverse Fachleute zu einer Stellungnahme eingeladen und ihre Rückmeldungen soweit möglich ins vorliegende Papier eingearbeitet. Im Folgenden werden einige Überlegungen zur Trägerschaft und zum Zielpublikum des Denkmals geschildert. Zur Lage und Gestaltung des Gedenkortes werden anschließend verschiedene Möglichkeiten vorgestellt, jeweils ergänzt durch konkrete Beispiele im internationalen Kontext. Und schließlich werden Vorschläge zur Verbindung des Denkmals mit Informations- und Bildungsangeboten gemacht, wobei vor allem die Idee der Webseite konkreter umrissen wird.
Trägerschaft und Zielpublikum des Denkmals Das Denkmal soll im Kontext der oben skizzierten Selbstverpflichtung stehen, die die Schweiz mit dem Beitritt zur IHRA eingegangen ist. Es ist Ausdruck einer zukunftsorientierten Auseinandersetzung der offiziellen Schweiz mit ihrer Vergangenheit. Deshalb vertritt die Steuerungsgruppe die Ansicht, dass nur die Schweizerische Eidgenossenschaft als Trägerin des Denkmals infrage kommt. Der Bund soll federführend sein und das Denkmal finanzieren – allenfalls mit Unterstützung der Kantone, des Standortkantons und der Standortgemeinde. Zur Realisation setzt der Bund eine unabhängige Arbeitsgruppe ein, in der verschiedene Expertinnen und Experten sowie die interessierten Kreise der Zivilgesellschaft vertreten sind. Durch den Austausch mit und die Unterstützung von wissenschaftlichen Institutionen und Fachexpertin-
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nen und -experten kann und soll dabei eine staatliche Geschichtsschreibung vermieden und eine breite Abstützung in der Zivilgesellschaft angestrebt werden. Für die konkrete Umsetzung stehen dem Bund nach Einschätzung der Steuerungsgruppe verschiedene Wege zur Verfügung. So ist es denkbar, ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus als eigenständige Institution zu etablieren oder an bereits bestehende Institutionen anzugliedern. Die Departemente verfügen dabei über je eigene Themenschwerpunkte, Fachbereiche und Partnerinstitutionen, deren Expertise und Vernetzung eine breit abgestützte und nachhaltige Umsetzung des Projektes begünstigen: So steht das EDA in direktem Austausch mit der ASO und unterhält über die Abteilung Frieden und Menschenrechte enge Kontakte mit der IHRA. Das EDI ist mit dem Bundesamt für Kultur, dem Schweizerischen Nationalmuseum und dem Schweizerischen Bundesarchiv eng mit der Schweizer Kultur-, Museums- und Archivlandschaft verbunden und verfügt mit der Fachstelle für Rassismusbekämpfung sowie der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus auch über geeignete thematische Kompetenzzentren. Das WBF ist im Bildungssektor auch mit den Kantonen – insbesondere über die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren – in stetem Austausch und weist mit dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ein wirkungsvolles Fördermittel von gesellschaftsrelevanten Themen auf. Und nicht zuletzt weisen auch das EFD, das EJPD und das VBS je eigene thematische Schwerpunkte auf, die im Zusammenhang mit einem Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus zu problematisieren und diskutieren sind: Von den nachrichtenlosen Vermögen über die Flüchtlingspolitik bis hin zur Grenzbewachung während des Zweiten Weltkrieges. Der Gedenkort soll so geplant und gestaltet werden, dass er für die Allgemeinheit sicht- und nutzbar und der Zugang sehr niederschwellig ist. Mit seiner Zweiteilung in Gedenkort einerseits und Informations- und Bildungsangebot andererseits bietet das Denkmal zudem die Möglichkeit, unterschiedliche Gruppen auf jeweils geeignete Weise anzusprechen.
Lage und Gestaltung des Gedenkortes Es soll ein konkreter, begehbarer und geografisch zentraler Gedenkort entstehen, der ohne Hürden für alle zugänglich und sichtbar ist. Der Ort muss eine gewisse Ruhe ausstrahlen und einen geschützten Rahmen für die Erinnerung und das Gedenken bieten. Ein direkter Bezug des Ortes zu historischen Ereignissen ist hingegen nicht zwingend, aber möglich. Wichtiger ist ein repräsentativer Standort, der eines Denkmals für die Opfer des Nationalsozialismus würdig und zugleich auch symbolischer
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Ausdruck eines Bekenntnisses des Bundes zu seiner historischen Verantwortung ist. Unter diesen Voraussetzungen ist die Stadt Bern ein naheliegender Ort. Möglich wäre zudem ein Ort in Verbindung mit einer bestehenden Gedächtnisinstitution. Zur Gestaltung des Denkmals hat die Steuerungsgruppe verschiedene Optionen diskutiert. Diese Optionen unterscheiden sich ganz beträchtlich in Bezug auf den Umfang der Bildungsangebote und der damit verbundenen Investitions- und Betriebskosten. Im internationalen Kontext bestehen verschiedene Gedenkorte für die Opfer des Nationalsozialismus. Die umfangreichsten dieser Gedenkorte sind jeweils mit Museen, Archiven und/oder Informations- und Bildungszentren verbunden. Exem plarisch dafür stehen das US Holocaust Memorial Museum in Washington D.C., die israelische Gedenkstätte Yad Vashem, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas bzw. Holocaust-Mahnmal mit angeschlossenem „Ort der Information“ in Berlin, das Mémorial de la Shoah in Paris, das Mémorial, Musée et Centre de documentation sur l’Holocaust et les droits de l’homme in Mechelen (Belgien) oder das Memoriale della Shoah di Milano. Daneben bestehen zahlreiche öffentlich zugängliche Denkmäler, die zwar mit einem Informationsangebot verbunden sind, aber nicht eine selbstständige Institution bilden. Beispiele dafür sind das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin, das Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah in Wien, das eine Anbindung zum dortigen Jüdischen Museum aufweist, oder das Holocaust Monument in Stockholm. Verschiedentlich sind auch Denkmäler zu finden, die ausschließlich als künstlerische Intervention im öffentlichen Raum funktionieren, so das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka in Wien, die Schuhe am Donauufer von Gyula Pauer und Can Togay als Erinnerung an die Massenerschießungen 1944 in Budapest, das Projekt Stolpersteine des deutschen Künstlers Gunter Demnig16 oder die künstlerischen Interventionen von Horst Hoheisel. Die Steuerungsgruppe ist der Ansicht, dass die Konkretisierung des Denkmals das Ergebnis eines bildungs- und kulturpolitischen Meinungsbildungsprozesses sein soll, dem sie hier nicht vorgreifen kann. Zudem wird für die konkrete gestalterische Arbeit ein Architektur- oder Kunst-Wettbewerb ausgeschrieben werden müssen. Zentral ist für die Steuerungsgruppe aber – neben einer zeitnahen Realisation und einer virtuellen Plattform – die kontinuierliche Bildungs- und Informationsvermittlung vor 16 Seit 2020 hat sich auch der Verein „Stolpersteine Schweiz“ der Aufgabe verschrieben, mittels Setzung von „Stolpersteinen“ die Erinnerung an die Schicksale von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, die zu Opfern des Nationalsozialismus wurden, wach zu halten.
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Ort. Deren Ausgestaltung bedarf eines fundierten Konzepts durch Fachleute der Geschichtsvermittlung und Geschichtsdidaktik und ihre Dimensionen hängen von den zur Verfügung gestellten Mitteln ab. Entscheidend ist, dass über das Gedenken hinaus auch auf die Gegenwart und Zukunft Bezug genommen wird. Denn ein Denkmal bleibt stumm, wenn historisches Wissen fehlt. Das Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus soll nicht nur erinnern, es soll auch eine Auseinandersetzung ermöglichen.
Multimediale Informations- und Bildungsangebote Unabhängig davon, in welcher Form der Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus realisiert wird, sollen zur Ergänzung der Angebote vor Ort auch multimediale Informations- und Bildungsangebote geschaffen werden. So kann zum Beispiel eine Webseite konzipiert werden, die bestehende Informationen und Bildungsangebote miteinander verknüpft. Diese Webseite soll viersprachig (D, F, I, E), modular gestaltet und damit ausbaufähig sein. Sie wird sinnvollerweise von einer bereits bestehenden Institution betrieben (z. B. Schweizerisches Nationalmuseum, Bundesarchiv, Dodis, AfZ, ZJS). Die folgende Skizze ist, auch aufgrund der vielfältigen Rückmeldungen in der Stellungnahme, im Vergleich zu den anderen Ausführungen des Konzepts etwas detaillierter umrissen. Modul 1 bietet grundlegende Informationen zu den Themenfeldern Schweiz/ Zweiter Weltkrieg/Holocaust und zum Nationalsozialismus sowie zur Geschichte und zum Projekt des Denkmals, zur Künstlerin oder zum Künstler. Modul 2 setzt sich mit der Flüchtlingspolitik der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Deren Vergegenwärtigung ermöglicht es den Besucherinnen und Besuchern, sich mit der damaligen Politik auseinanderzusetzen und Bezüge zur Gegenwart herzustellen. Dabei müssen auch die damaligen Akteurinnen und Akteure benannt werden, die sich unter großen eigenen Opfern für eine humanitäre Schweiz engagiert hatten – Hilfswerke sowie Flucht- und Flüchtlingshelferinnen und -helfer. Wichtig ist zudem eine Auseinandersetzung mit den Täterinnen und Tätern, den Mitläuferinnen und Mitläufern sowie den Zuschauerinnen und Zuschauern – gerade auch in Bezug auf die damalige Situation in der Schweiz. Dabei sollen Handlungsspielräume und -möglichkeiten aufgezeigt und Raum für persönliche Reflexion geboten werden.17 17 Ein Beispiel ist die Rückweisung von Flüchtlingen durch den Schweizer Grenzsoldaten Erwin Naef, dessen Dilemma inzwischen auch Eingang in ein Schulbuch gefunden hat. Vgl. Kreis/Spuhler, „Eine
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Valérie Arato Salzer et al.
Modul 3 bietet Informationen zu Schweizer Opfern des Holocaust. Basis dafür bildet die dem AfZ übergebene Forschungsdokumentation von Spoerri/Staubli/ Tuchschmid über knapp 1000 Schweizer oder in der Schweiz geborene KZ-Häftlinge. Diese Sammlung bzw. Datenbank wird mit neuen Forschungsergebnissen über das Schicksal von Schweizer Opfern des Nationalsozialismus laufend ergänzt und bietet im Sinne eines wissenschaftlichen Dokumentationszentrums zuverlässige personenbezogene Informationen für weitere Forschungen über Opfer des Nationalsozialismus mit Bezug zur Schweiz. Hier ist auch auf die Memoiren und Geschichten derjenigen Opfer des Nationalsozialismus einzugehen, die nach dem Krieg in der Schweiz eine neue Heimat gefunden haben, zur Zeit ihrer Verfolgung aber keine Schweizer Staatsbürger waren. Auch bei den Schicksalen der Jenischen ist zu beachten, dass es sich dabei meist um transnationale Familien handelte und das Konzept des Schweizer Bürgerrechts hier zu eng gedacht ist. Modul 4 verknüpft mithilfe einer interaktiven Schweizerkarte bestehende Gedenk orte und Bildungsangebote. Auf der Karte werden a) reine Gedenkorte, b) Gedenk orte mit Bildungsangeboten und c) reine Bildungsangebote visualisiert, gesammelt und vorgestellt.18 Dies trägt der föderalen Struktur der Schweiz sowie der Tatsache Rechnung, dass es bereits zahlreiche, meist private und oftmals dezentral gelegene Gedenkorte und verschiedenste Bildungsangebote zum Thema gibt. Damit wird es für Privatpersonen ebenso wie für Schulklassen, Reisegruppen etc. leicht möglich, in der näheren Umgebung Gedenkorte und Bildungsangebote zu finden. Umgekehrt können an den Gedenkorten via QR-Codes weitere Informationen auf der Webseite abgerufen werden. Gedenkorte, die bereits eigene Webseiten betreiben, werden nur knapp vorgestellt und verlinkt, sodass auf eine doppelte Pflege der Daten verzichtet werden kann. Diese Module bilden den auf den Nationalsozialismus und die Shoah bezogenen historischen Kern der Webseite. Dazu sind Erweiterungen innerhalb eines noch zu definierenden Konzepts möglich und erwünscht. Denkbar sind zum Beispiel : 1. ein Modul zur Interaktion mit Schulen, Institutionen und Organisationen. Ihnen können zum einen Informations- und Bildungsangebote zur Verfügung gestellt werden, zum anderen können sie selbst die Webseite mit eigenen Projekten und Veranstaltungen ergänzen, die der historischen und gegenwartsbezogenen Bildungsarbeit im Sinne der IHRA dienen. 2. ein Modul, das mit Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Islamfeindlichkeit sowie Genozid einen Gegenwartsbezug schafft. Mit der BeWoche im September 1943“ sowie Urech/Mathis, Verfolgt und vertrieben. 18 Als Grundlage kann die Arbeit von Fabienne Meyer dienen, vgl. Fußnote 9.
Ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus
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trachtung des heutigen Umgangs mit Grenzen und flüchtenden Menschen kann die unausweichliche Frage gestellt werden, ob wir unserer Verantwortung heute gerecht werden.
Fazit Verschiedenste Initiativen und Arbeiten haben sich in den letzten Jahren in der Schweiz mit den Opfern des Nationalsozialismus und damit zusammenhängenden Themen auseinandergesetzt. Eine Steuerungsgruppe hat die unterschiedlichen Bestrebungen und Forderungen für ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus zusammengeführt und verdichtet. Sie hält es mit Blick auf die historische Verantwortung des Landes für angemessen und richtig, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft ein Denkmal plant und finanziert, das 1. einen zentralen gestalteten Gedenkort im Sinne einer künstlerischen Intervention im öffentlichen Raum beinhaltet, welcher der Erinnerung und dem Gedenken an die definierten Personengruppen gewidmet ist und der für alle Besucher als Ort der Einkehr offensteht und zugänglich ist ; 2. ein Informationsangebot zum historischen Kontext sowie eine kontinuierliche Bildungsarbeit umfasst, die einerseits am Gedenkort selbst stattfindet und sich andererseits auf ein multimediales Angebot (z. B. eine Webseite) stützt, welches der Verknüpfung und Vermittlung von Wissen dient. Ein Schweizer Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus ist lange fällig und bettet sich als Schweizer Baustein in die internationale Erinnerungskultur ein, welche in der IHRA ihre Konkretisierung findet. Die von der Schweiz eingegangene Verpflichtung, die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten und jüngeren Generationen die Gräuel des Holocaust zur Kenntnis zu bringen, findet so eine sichtbare Verortung. Ziel des Denkmals soll es sein, sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen und der Opfer zu gedenken. Ganz konkret geht es dabei auch darum, aufzuzeigen, dass der Schweizer Staat in jener Zeit in vielen Fällen seinen verfolgten Bürgerinnen und Bürgern und den Schutzsuchenden keine sichere Herberge bot, aber auch darum, den Mut derjenigen Personen zu würdigen, die sich für Flüchtlinge eingesetzt oder sich dem nationalsozialistischen System entgegengestellt haben. Ziel und Hoffnung unserer Initiative zur Schaffung eines Denkmals ist es, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einem reflektierten Umgang mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft beiträgt.
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Valérie Arato Salzer et al.
Literaturverzeichnis Bachmann, Gina. „75 Jahre nach Auschwitz : Sommaruga trifft Überlebende des Holocaust in Bern“. Aargauer Zeitung, 20.01.2020. https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/75-jahre-nach-auschwitz-sommaruga-trifft-ueberlebende-des-holocaust-in-bern-136248626, letzter Zugriff : 30.01.2020. Christl, Fabian. „Berner Juden fordern offizielles Shoa-Mahnmal“. Der Bund, 26.01.2019. https: //www.derbund.ch/bern/stadt/damit-die-erinnerung-nie-verblasst/story/15712714, letzter Zugriff : 30.01.2020. Demuth, Yves. „Die vergessenen Schweizer Opfer“. Beobachter, 07.12.2017. https://www.beobachter.ch/gesellschaft/holocaust-die-vergessenen-schweizer-opfer, letzter Zugriff : 30.09. 2019. Kreis, Georg und Gregor Spuhler. „Eine Woche im September 1943“. Traverse 2014/2, S. 131– 146. Ludi, Regula. Reparations for Nazi Victims in Postwar Europe. Cambridge : Cambridge University Press, 2012. Maissen, Thomas. Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte, 1989–2004. Zürich : NZZ Libro, 2005. Martinez, Victoria. „The Stockholm Holocaust memorial – A restoration of human dignity and a warning against inhumanity“. The Local, 03.08.2017. https://www.thelocal. se/20170803/the-stockholm-holocaust-memorial-a-restoration-of-human-dignity-anda-warning-against-inhumanity, letzter Zugriff : 14.08.2019. Meyer, Fabienne. Monumentales Gedächtnis ? – Shoah-Denkmale in der Schweiz. Unveröffentlichte Masterarbeit. Universität Zürich 2015. Redolfi, Silke Margherita. Die verlorenen Töchter. Zürich : Chronos Verlag, 2019. sda. „Cassis : Die Auslandschweizer sind Botschafter Schweizer Interessen“. Aargauer Zeitung, 17.08.2019. https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/cassis-auslandschweizer-sind-botschafter-schweizer-interessen-135421634, letzter Zugriff : 31.10.2019. Spörri, Balz, René Staubli und Benno Tuchschmid. Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. Basel : NZZ Libro, 2019. Urech, Urs und Christian Mathis. Verfolgt und vertrieben. Zürich : Lehrmittelverlag, 2018.
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Das Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz1 führt die Objekte auf, die in der Schweiz mit der Intention erschaffen wurden, explizit oder implizit auf einzelne Aspekte der Shoah Bezug zu nehmen, diese an konkreten Orten in die Öffentlichkeit zu tragen und sie auf Dauer vor dem Vergessen zu bewahren. Auch Archive, Museen oder Ausstellungen, Literatur, Filme oder Musikstücke können diese Erinnerungsleistung erbringen. Diese sind aber entweder nicht an konkrete Orte gebunden, oder es fehlt ihnen der Objektcharakter, weshalb sie hier nicht erfasst werden. Ortsbezeichnungen wie bspw. Straßennamen wurden dort ins Verzeichnis aufgenommen, wo zusätzliche Erläuterungen den/die Namensgeber*in in den Kontext der Shoah rücken. Grabmäler wurden dort erfasst, wo die Inschrift einen besonderen Bezug zur Shoah explizit festhält. Neben den hier aufgeführten Denkmälern in der Schweiz finden sich auch in anderen Staaten zahlreiche Denkmäler, die an die meist im Ausland tätigen Schweizer Flucht- und Flüchtlingshelfer*innen erinnern. Zudem bestehen in der Schweiz – in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg – etliche Denkmäler, die an die internierten Militärflüchtlinge erinnern, der Schweizer Spanienkämpfer*innen gedenken, oder an den Aktivdienst sowie die „geistige Landesverteidigung“ erinnern. Jüdische Opfer und Märtyrer
Die ersten Shoah-Denkmäler in der Schweiz wurden bereits seit Ende der 1940erJahre auf jüdischen Friedhöfen oder bei Synagogen errichtet. Es handelt sich dabei sowohl um größere Gedenksteine oder Gedenktafeln mit einfachen Gravierungen als auch um komplexe Kunstwerke. Die meisten dieser Denkmäler verweisen auf die Jahre 1933–1945 und weisen neben einem deutschen oder französischen Erin1 Basiert auf : Meyer Fabienne. Monumentales Gedenken. Shoah-Denkmale in der Schweiz. Unveröffentlichte Masterarbeit. Universität Zürich, 2015. Ergänzt 2020. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann trotz ausführlicher Recherche nicht erhoben werden. Mit dem verwendeten Begriff Shoah (hebr. = שואה Katastrophe) wird die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der Juden von 1933 bis 1945 bezeichnet, während der geläufigere Begriff Holocaust (gr. holókauston = Brandopfer) ausdrücklich die Jahre der Vernichtung von 1941 bis 1945 umfasst und dabei auch andere Opfergruppen wie Sinti und Roma mit einbezieht.
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Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
nerungstext auch eine hebräische Inschrift auf – und sei es nur das Wort זכורfür „Gedenke !“ –, was die jüdische Prägung der Denkmäler unterstreicht. Schweizer Widerstand
Der größte Teil der Shoah-Denkmäler in der Schweiz erinnert an die Flucht- und Flüchtlingshelfer*innen, die sich für Flüchtlinge und Verfolgte der Shoah eingesetzt haben sowie an Schweizer*innen, die sich durch ideologischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gestellt haben. Es sind mehrheitlich Gedenktafeln und Gedenksteine sowie Straßen- oder Bauwerk-Bezeichnungen, die an Paul Grüninger, Gertrud Kurz-Hohl, Carl Lutz oder an die Fluchthelfer*innen im Risoud, dem Grenzgebiet zwischen Frankreich und dem Kanton Waadt, erinnern. Aber auch an den Hitlerattentäter Maurice Bavaud oder den IKRK-Delegierten und „Befreier des KZ Mauthausen“, Louis Häfliger, wird erinnert. Schweizer Flüchtlingspolitik
Wie schon der Schweizer Widerstand wurde auch die Schweizer Flüchtlingspolitik erst ab den 1990er-Jahren in Skulpturen oder auf Gedenktafeln thematisiert. Zwar erinnern diese Denkmäler immer auch an jüdische Opfer oder Flucht- und Flüchtlingshelfer*innen, sie legen dabei aber ein spezielles Augenmerk auf die Abweisung von Flüchtlingen an der Schweizer Grenze oder deren Ausweisung aus der Schweiz. Zumeist reflektieren sie zudem eine Dialektik zwischen Rettung und Vertreibung, was in dieser Explizitheit in den anderen Denkmälern nicht enthalten ist. Schweizer Opfer
In jüngster Zeit werden auch Forderungen nach Denkmälern laut, die (auch) an die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Unter diesen Schweizern waren etliche auch aufgrund ihrer jüdischen Identität Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Andere wurden aufgrund ihres Widerstandes zu Opfern des Nationalsozialismus, womit sich die Überschneidung mit der Thematik des Schweizer Widerstands zeigt. Insofern haben schon die Denkmäler für Ernst Bärtschi oder Maurice Bavaud an Schweizer Opfer (und Widerstandskämpfer) erinnert, sie waren damals aber noch nicht eingebettet in den heute geführten Diskurs zu den Schweizer Opfern des Nationalsozialismus.
6 7 24 40 53
Genf
48
25
32 35
49
8 9 30
Lausanne
Frankreich
26 27
23 43
2
Jüdische Opfer und Märtyrer Schweizer Widerstand Schweizer Flüchtlingspolitik Schweizer Opfer
10
56
14 15 16 20 55
Bern
28 29
3 39 41 42 50 22 59
Basel
57
Luzern
46 4 12 13 18 31 60
Zürich
Deutschland
52
Lugano
45 51 54 5 17 19 36 47
11 21 33 34 37 38 44 58
St. Gallen
Italien
1
Österreich
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
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Erinnert an
Opfer aus Buchenwald
Jüdische Opfer und Märtyrer
Jüdische Opfer und Märtyrer
Jüdische Opfer und Märtyrer
Nr.
1
2
3
4
Standort
Zürich ZH Jüdischer Friedhof Oberer Friesenberg
Basel BS Jüdischer Friedhof
La Chaux-deFonds NE Jüdischer Friedhof
Davos GR Jüdischer Friedhof
Datum
1952
1.9.1950
2.10.1949
6.9.1946
Form
Gedenkstein Künstlerin : Susi Guggenheim-Weil
Gedenkstein
Gedenkstein
Grabmal
Inschrift
Zum Gedächtnis der sechs Millionen Unschuldiger, die 1933–45 um ihres Judentums Willen hingemordet wurden. Ihr Martyrium verpflichte die Lebenden im Kampf für Recht und Würde des Menschen nie zu erlahmen. Hebr. Inschrift : Möge Gott sich der Gebundenen erinnern
Dem Andenken unserer Brüder und Schwestern. Opfer der Verfolgung und der Deportation während der Schreckensjahre 1933–1945 (identische Inschrift auf Französisch) Hebr. Inschrift : Klagestein Um in unseren Tagen einen Akt zu vollziehen und die Stimme unserer Lippen für die sechs Millionen getöteten Söhne unseres Volkes erklingen zu lassen. Ihr Blut wurde vergossen durch die Hände grausamer Verbrecher und es wird nicht wieder vergeben werden, dass ihre schlimme Regierung darauf aus war, uns im Jahre 5703 zu vernichten. Aber an ihrem Ende im Jahre 5705 kam ihr Lohn über ihre Köpfe. Die Überlebenden Israels werden ihren heiligen Seelen, die zu Märtyrern wurden, bis in die Ewigkeit gedenken. Im Jahre 5710 haben wir, die Menschen der Gemeinde Basel, diesen Stein gesetzt, um ihre Erinnerung in unserem Volk nicht zu erlöschen. Mögen ihre begrabenen Seelen auferstehen und in das Bündel des Lebens eingebunden sein. Amen sela.
À la mémoire des martyrs juifs, victimes de la barbarie 1933–1945
Hebr. Inschrift : Hier sind die Asche und die Überreste von Verbrannten aus dem Lager Buchenwald begraben. Möge seine/ihre Seele eingebunden sein im Bund des Lebens Asche und Überreste von Verbrannten aus Buchenwald 6. Sept. 1946
494 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Jüdische Opfer
Jüdische Opfer und Märtyrer
Jüdische Opfer und Märtyrer
Jüdische Opfer
Jüdische Märtyrer
Jüdische Opfer
Nr.
5
6
7
8
9
10
Standort
Fribourg FR Synagoge
Prilly VD Jüdischer Friedhof
Lausanne VD Synagoge
Veyrier GE Jüdischer Friedhof
Genf GE Synagoge CIG
St. Gallen SG Jüdischer Friedhof
Datum
1974
1960er- / 1970erJahre
Ca. 1966
26.9.1965
14.6.1964
6.9.1953
Form
Gedenktafel
Gedenktafel
Gedenktafel
Gedenkstein
Gedenkstein
Gedenktafel
Inschrift
À la mémoire des six millions de victimes de l’holocauste Hebr. Inschrift : Zum Gedenken an die sechs Millionen Heiligen der Shoah
Hebr. Inschrift : Ewiges Gedenken À la mémoire des six millions de juifs morts pour le kiddoush hashem [sanctification du nom] – leurs souffrances et leur martyre resteront éternellement gravés dans nos cœurs. Que leur souvenir soit sanctifié à jamais. 1933–1945. Hebr. Inschrift : Möge seine/ihre Seele eingebunden sein im Bund des Lebens.
Hebr. Inschrift : Möge das Volk Israel sich der Opfer der Shoah erinnern Souviens-toi Deut. 25/17 1933–1945 Parce qu’ils étaient juifs, six millions d’hommes, de femmes et d’enfants ont été massacrés par les nazis. Puisse désormais l’amour de Dieu et du prochain inspirer tous les hommes afin que soit revolu le temps des larmes et du sang. Aime ton prochain comme toi-même Lev. 19/18
À la mémoire des millions de juifs, hommes, femmes et enfants morts sans sepulture, victimes innocentes de la barbarie nazie – Que Dieu se souvienne de leur martyre. 1933–1945
Hebr. Inschrift : Möge Gott sich der Gebundenen erinnern 1933–1945 Parce qu’ils étaient juifs six millions d’hommes, femmes et enfants ont été tués pendant l’ère nazie, victimes innocentes d’un monde lourd de péchés. Que Dieu se souvienne de leur martyre
Zum Gedenken an die Millionen jüdischer Menschen, die in den Jahren der deutschen Verfolgung 1933–1945 erbarmungslos vernichtet wurden Hebr. Inschrift : Möge Gott sich der Gebundenen erinnern
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
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Erinnert an
Carl Lutz
Jüdische Opfer
Jüdische Opfer
Jüdische Märtyrer
Gertrud KurzHohl
Carl Lutz
Paul Grüninger
Nr.
11
12
13
14
15
16
17
Standort
St. Gallen SG Grüningerweg
Bern BE Carl-Lutz-Weg
Bern BE Gertrud-KurzWeg
Bern BE Jüdischer Friedhof
Zürich ZH Jüdischer Friedhof Or Chadasch
Zürich ZH Jüdischer Friedhof Or Chadasch
Walzenhausen AR Kirche
Datum
1994
1994
1993
9.11.1988
15.9.1985
1980erJahre
17.9.1978
Form
Straßenname
Straßenname
Straßenname
Gedenkstein Künstler : Oskar Weiss
Gedenkstein Künstler : Felix Kohn
Gedenkstein
Gedenktafel
Inschrift
Grüningerweg Paul Grüninger 1891–1972 Kantonaler Polizeioffizier rettete vor dem II. Weltkrieg ungezählte Flüchtlinge vor dem Nazi-Terror
Carl-Lutz-Weg Carl Lutz, 1895–1975, Diplomat, rettete ungarische Juden vor der Deportation 1944/45
Gertrud-Kurz-Weg Gertrud Kurz. 1890–1972. Flüchtlingsmutter
Hebr. Inschrift : Gedenke Unseren sechs Millionen Märtyrern 1933–1945
Hebr. Inschrift : Erinnere dich an die Opfer der Shoah 1933–1945 Inschrift von Namen der Opfer
Hebr. Inschrift : Gedenke Gedenke 1933 1945
Zum Gedenken an Generalkonsul Carl Lutz Geb. 30.3.1895 in Walzenhausen Gest. 13.2.1975 in Bern Ehrenbürger von Walzenhausen Retter vieler tausende verfolgter Juden in Budapest im Jahre 1944 Dank für seinen persönlichen und gefahrvollen Einsatz 1978
496 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Paul Grüninger
Paul Grüninger
Céline & Simon Zagiel-Mokobodzki
Gertrud KurzHohl
Nr.
18
19
20
21
Standort
Lutzenberg AR Haufen 201 (Geburtshaus)
Bern BE Jüdischer Friedhof
St. Gallen SG Grüningerplatz
Zürich Oerlikon ZH Paul-Grüninger-Weg
Datum
1998
5.5.1997
15.6.1996
1996
Gedenktafel
Gedenkstein
Name eines Platzes
Straßenname
Form
Inschrift
In diesem Haus wurde am 15. März 1890 die spätere „Flüchtlingsmutter“ Gertrud Kurz-Hohl geboren, die Tochter von Clara und Reinhard Hohl-Custer. Sich an Gertrud Kurz erinnern heisst : an die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückdenken, an geschlossene Grenzen und an ihren beispiellosen Einsatz zur Rettung von Flüchtlingen ; an ihr Einstehen für Gerechtigkeit und Entwicklung in den Nachkriegsjahren ; an ihr Bemühen um Verständigung und Frieden zwischen Ost und West, Schwarz und Weiss, Juden und Arabern. Dr. h.c. Gertrud Kurz-Hohl starb 1972 in Bern.
Céline und Simon Zagiel-Mokobodzki 1925 1921 1942 1984 victimes de la politique de la barque pleine août 1942
Grüningerplatz Paul Grüninger 1891–1972 rettete in den Jahren 1938/39 als kantonaler Polizeikommandant hunderte jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Unter Missachtung von Weisungen des Bundes ermöglichte er ihnen den Grenzübertritt im St. Galler Rheintal und wurde deshalb 1939 fristlos entlassen. 1940 wurde er gerichtlich verurteilt und 1995 durch einen Freispruch des Bezirksgerichts St. Gallen rehabilitiert.
Paul-Grüninger-Weg Paul Grüninger (1891–1972) St. Galler Polizeikommandant Retter Hunderter jüdischer Emigranten 1938
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
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Erinnert an
Jüdische Opfer und Schweizer Flüchtlingspolitik
Maurice Bavaud
Flüchtlinge und Internierte
William & Laure Francken
Jüdische Opfer und Märtyrer
Jüdische Flüchtlinge
Nr.
22
23
24
25
26
27
Standort
Caux VD Schlossgarten
La Tour-dePeilz VD Jüdischer Friedhof
Begnins VD Gemeindehaus
Genf GE Parc de l’Ariana
Neuchâtel NE Rue du Trésor 7 (Geburtshaus)
Solothurn SO Kantonsschule
Datum
19.8.1999
19.8.1999
17.4.1999
12.12.1998
14.5.1998
1998
Gedenktafel
Gedenkstein
Porträts mit Tafel
Skulptur „Wings of Peace“ Künstlerin : Dina Merhav
Gedenktafel
Skulptur „Shoah“ Künstler : Schang Hutter
Form
Inschrift
En Mémoire Des réfugiés juifs hébergés ici pendant la 2ème guerre mondiale, et en mémoire de ceux qui ont été refoulés à la frontière suisse.
Aux victimes de la barbarie Nazie 1933–1945 Hebr. Inschrift : Möge das Volk Israel sich seiner Märtyrer erinnern Que le peuple d’Israël se souvienne de ses Martyrs…
Docteur William Francken et son épouse Diplôme dHonneur de Yad Vashem ‘Justes parmi les Nations’ 27.04.1998
Beitrag in der NZZ vom 14.12.1998 zur Rede von Ruth Dreifuss anlässlich der Einweihung der Skulptur : „Bundesrätin Dreifuss wies in ihrer Ansprache auf die Widersprüchlichkeit des Verhaltens der Schweiz hin. Die Skulptur erinnere die Schweiz einerseits an die aufgenommenen Flüchtlinge, anderseits aber auch an alle abgewiesenen Hilfesuchenden und damit an die menschliche Schwäche. Die Schweiz habe während der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwar Schutz geboten, diese Möglichkeit aber nicht voll ausgeschöpft.“
Dans cette maison est né, le 15 janvier 1916, Maurice Bavaud le Suisse qui, poussé par son idéal du bien, a tenté de tuer Hitler en automne 1938. Il a été décapité à Berlin le 14 mai 1941. Neuchâtel, le 14 mai 1998 Le Conseil communal
Aussage Schang Hutters in einem Interview mit der Solothurner Zeitung vom 11.10.2014 zu deren früheren Standort vor dem Bundeshaus : „Ich wollte die Figur dort haben, wo im Zweiten Weltkrieg die politischen Entscheidungen getroffen wurden, dorthin, wo entschieden wurde, dass Leute gar nicht in die Schweiz gelassen werden.“
498 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Flüchtlinge und Internierte
Flüchtlinge und Internierte
Nr.
28
29
Büren a.A. BE Häftli (Flüchtlingslager)
Büren a.A. BE Oberbüren (Lagerspital)
Standort
16.9.2000
16.9.2000
Datum
Gedenkstein
Gedenkstein
Form
Inschrift
Internierten-Lager „Häftli“, Büren Zum ehrenden Gedenken an die hier internierten fremden Soldaten und Zivilflüchtlinge (Identische Inschriften in Polnisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Russisch und Englisch) Hier stand das grösste, von 1940–1946 betriebene Flüchtlingslager der Schweiz. 7–8000 fremde Soldaten und Zivilflüchtlinge – Männer und Frauen jeden Alters sowie Kinder – flüchteten vor Krieg und Terror und fanden hier eine zeitweilige Beherbergung. In Büren trafen sie auf wohlmeinenden Helferwillen und erlebten mitfühlende Hilfsbereitschaft – aber auch selbstgerechten Kleingeist, Unvermögen und Ablehnung. Die Geschichte dieses Lagers mit seinem Spital dokumentiert auf einzigartige Weise Licht und Schatten der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Fast alle, die im Lager Büren waren, sind Krieg und Terror entronnen und überlebten. Dafür gebührt der Schweiz Dank. Vergessen wir aber nicht, dass bereits in der damaligen Zeit die Fehlplanung eines sogenannten
Internierten-Spital „Oberbüren“, Büren Zum ehrenden Gedenken an die hier internierten Patienten (Identische Inschriften in Polnisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Russisch und Englisch) Hier stand das Spital des grössten, von 1940–1946 betriebenen Flüchtlingslager der Schweiz. Kranke Männer aus Polen, Russland, Italien und anderen Ländern fanden hier Pflege und Beherbergung.In Büren trafen sie auf wohlmeinenden Helferwillen und erlebten mitfühlende Hilfsbereitschaft – aber auch selbstgerechten Kleingeist, Unvermögen und Ablehnung. Die Geschichte dieses Lagers mit seinem Spital dokumentiert auf einzigartige Weise Licht und Schatten der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Fast alle, die im Spitallager Oberbüren waren, sind Krieg und Terror entronnen und überlebten. Dafür gebührt der Schweiz Dank. 16. September 2000
Nous ne les oublierons pas (Identische Inschrift in Deutsch und Englisch)
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
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Erinnert an
Die „Gerechten“
Louis Häfliger
Fluchthelfer
Paul Vogt
Paul Grüninger
Nr.
30
31
32
33
34
Au SG Kirchweg 4 (Wohnhaus)
Walzenhausen AR Kirche
Le Brassus VD Waldhütte „Hotel d’Italie“ (ehemaliger Unterschlupf)
Zürich Oerlikon ZH Louis-Häfliger- Park
Lausanne VD Synagoge
Standort
Gedenktafel
Gedenktafel
Name eines Parks
Gedenktafel
Form
29.10.2005 Gedenktafel
2005
23.8.2003
August 2003
2001
Datum
Inschrift
In diesem Haus lebte von 1955 bis zu seinem Tod Paul Grüninger (1891–1972) Ehemaliger Polizeikommandant des Kantons St. Gallen
Zum Gedenken Pfarrer Dr. h.c. Paul Vogt * 23. Mai 1900 in Stäfa ZH † 12. März 1984 in Zizers GR Pfarrer in Walzenausen 1929–1936 Gründer des «Sonneblick» 1933 Flüchtlingspfarrer 1943–1947 Niemals am Leid vorübersehn ! Nie müssig stehn ! Zum Dienste gehen ! P.V.
Ici de septembre 1943 à mai 1944, quatorze femmes, enfants, adolescents, Israélites pour la plupart, traqués en France occupée, ont trouvé refuge grâce à Fred Reymond, Anne-Marie Piguet, Madeleine et Victoria Cordier et au gendarme Adrien Goy en poste au Brassus.
Louis-Häfliger-Park Louis Häfliger (1904–1993) Befreier des KZ Mauthausen
Parce qu’ils ont refusé la discrimination et la barbarie nazie, des hommes et des femmes de courage ont merité le nom de „Justes“. La Communauté Israélite de Lausanne rend hommage à tous ceux qui, en Terre Romande et au-delà, ont agi, parfois au risque de leur vie, pour alléger des souffrances ou sauver ceux qui fuyaient l’horreur.
„Concentrationslagers“ erkannt und korrigiert wurde. Nutzen wir diese Einsicht auch künftig als Lehre aus der eigenen Geschichte. 16. September 2000
500 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Fred & Lilette Reymond
Paul Grüninger
Paul Grüninger
Nr.
35
36
37
Au SG Friedhof
St. Gallen SG Paul-Grüninger-Stadion
Le Sentier VD Le Chenit (Wohnhaus)
Standort
2008
20.5.2006
27.1.2006
Datum
Grabmal Künstler : Norbert Möslang
Name eines Stadions
Gedenktafel
Form
Inschrift
Paul Grüninger rettete 1938/39 viele hundert Flüchtlinge
Paul Grüninger 1891–1972 Schweizer Fussballmeister 1915 Präsident des FC Brühl, 1924–1927 / 1937–1940 Polizeikommandant des Kantons St. Gallen Flüchtlingsretter In den Jahren 1938 und 1939 rettete Paul Grüninger mehrere hundert jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Gegen die Weisungen der Schweizer Regierung liess er sie im St. Galler Rheintal in die Schweiz einreisen. Er wurde fristlos entlassen und 1940 gerichtlich verurteilt. Das Bezirksgericht St. Gallen wiederholte 1995 den Prozess gegen Paul Grüninger und sprach ihn von allen Vorwürfen frei. Paul Grüninger spielte in der Brühler Mannschaft, die 1915 Schweizer Meister wurde. St. Gallen, im Mai 2006
Dans cette maison aux volets rouges a vécu Fred Reymond Durant la période 1940–1945, aidé de Lilette son épouse et de personnes courageuses et désintéressées, il a osé enfreindre la loi pour sauver au péril de sa vie de nombreux fugitifs pour la plupart juifs et résistants qui tentaient d’échapper à la barbarie nazie. Son héroïsme payé cher est resté longtemps ignoré.
In den Jahren 1938 und 1939 rettete Paul Grüninger mehrere hundert, vielleicht einige tausend jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung, indem er sie im St. Galler Rheintal in die Schweiz einreisen liess. Mit diesen Handlungen verstiess er gegen die Weisungen der Schweizer Regierung. Er wurde deshalb 1939 fristlos entlassen und 1940 gerichtlich verurteilt. 1995 wiederholte das Bezirksgericht St. Gallen den Prozess gegen Paul Grüninger und sprach ihn frei.
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
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Erinnert an
Flüchtlinge, Fluchthelfer und Verfolgte
Anne Frank
Jüdische Opfer
Flüchtlinge
Flüchtlinge
Nr.
38
39
40
41
42
Standort
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Genf GE Synagoge GIL
Birsfelden BL Anne FrankPlatz
Diepoldsau SG Rohr am Alten Rhein (Grenzübergang)
Datum
22.2.2011
22.2.2011
13.3.2010
7.6.2009
13.4.2009
Form
Skulptur „Rail Menora“ Künstler : Rick Wienecke
Relief „Forsaken“ Künstler : Rick Wienecke
Relief „Mémoire“ Künstlerin : Isabelle Perez
Name eines Platzes
Gedenktafel
Inschrift
In der Raumpräsentation der Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges steht, dass die Skulptur „Rail Menora“ das „Im-Stich-Lassen“ thematisiere. „Das Mittelstück der „Rail Menora“ besteht aus zwei verschlungenen Gleisen, die wie Flammen aufsteigen. Sie symbolisieren den Gewissenskonflikt und die verwirrten Emotionen, die mit der Auslieferung der Flüchtlinge an ihre Henker in den Konzentrationslagern verbunden waren. Die sechs Arme der Menora erinnern an die sechs Millionen ermordeten Juden.“
In der Raumpräsentation der Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges steht, das Relief „Forsaken“ zeige „jüdische Flüchtlinge von Müdigkeit und Schlaf überwältigt und doch hellwach gegenüber der drohenden Todesgefahr. […] Der Zugang nach oben zur Freiheit in die Schweiz ist für die Flüchtlinge zu eng, der Ausgang nach rechts ist versperrt.“
Beschreibung aus dem Katalog „La mémoire et l’avenir“ von Isabelle Perez : „Les corps constituent presque toujours un pluriel indistinct, ils s’entrelacent au point de perdre leurs confins. C’est une foule, une masse de corps, un regroupement de formes humaines, qui s’approchent l’une de l’autre, s’embrassent, se compénétrent. […] qui sont-ils ? sont-ils anonymes ? s’agit-il d’une collectivité ? ou bien de l’amalgame momentané d’une pluralité d’individus ?“
Anne Frank-Platz Anne Frank. Symbolfigur aller unschuldig Verfolgten, geboren 1929, umgekommen 1945 in Bergen-Belsen.
Zum Gedenken an jüdische Flüchtlinge, die sich hier 1938–39 in die Schweiz retten konnten an Menschen, die trotz Verbot ihrem Gewissen folgend ihnen über die Grenze halfen an Verfolgte, die nach der Grenzschliessung in den sicheren Tod geschickt wurden. Im UNO-Jahr der Versöhnung 2009
502 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Maurice Bavaud
Paul Grüninger
Ernst Bärtschi
Andreas Fleig
Jüdische Opfer und Märtyrer
Nr.
43
44
45a
45b
46
Standort
Endingen-Lengnau AG Jüdischer Friedhof
Kreuzlingen TG Schäflerstrasse 7 (Wohnhaus)
Kreuzlingen TG Schäflerstrasse 11 (Wohnhaus)
Diepoldsau SG Paul Grüninger Brücke (Grenz übergang)
Hauterive NE Laténium-Park
Datum
29.6.2014
8.9.2013
8.9.2013
6.5.2012
13.5.2011
Skulptur Künstler : Dan Rubinstein
Stolperstein Künstler : Gunter Demnig
Stolperstein Künstler : Gunter Demnig
Name einer Brücke
Stele Künstlerin : Charlotte Lauer
Form
Inschrift
Tröstet, tröstet mein Volk… Jeschejahu / 40.1 Hebr. Inschrift : Zum ewigen Gedenken an alle Opfer der Shoah, die durch die Heiligung des Namens gestorben sind und an einem unbekannten Ort begraben sind.
Hier wohnte / Andreas Fleig / Jg. 1884 / verzogen 1912 / Deutscher Staatsbürger / verhaftet 1938 / „Vorbereitung zum Hochverrat“ / Zuchthaus Ludwigsburg / Befreit / Überlebt
Hier wohnte / Ernst Bärtschi / Jg. 1903 / Verhaftet 1938 / „Vorbereitung zum Hochverrat“ / Zuchthaus Ludwigsburg / Befreit / Überlebt
Paul Grüninger Brücke In dankbarer Erinnerung an den St. Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger, der an dieser Grenze 1938 und 1939 viele hundert Menschen vor der nationalsozialistischen Verfolgung rettete, indem er ihnen die Flucht in die Schweiz ermöglichte. Sein Name steht stellvertretend für die mutigen Frauen und Männer auf beiden Seiten der Grenze, die Flüchtlingen geholfen haben. Paul Grüninger wurde 1939 fristlos aus dem Polizeidienst entlassen und wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung verurteilt. 1993 wurde er politisch und zwei Jahre später juristisch rehabilitiert. Die Paul Grüninger Brücke wurde am 6. Mai 2012 feierlich nach dem Polizeihauptmann benannt. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
14.05 / Une seule chose m’importe, c’est l’immortalité de l’âme… / M.B. 1941 / Spiritus est, qui vivificat : caro non prodest quidquam / Jean : 6 Maurice Bavaud (1916–1941) Poussé par son idéal du bien, a tenté de tuer Hitler en automne 1938. Décapité à Berlin en 14 Mai 1941
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
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Erinnert an
Paul Grüninger
Fluchthelfer des Risoud
Maurice Bavaud
Gertrud KurzHohl
Nr.
47
48
49
50a
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Bottens VD Schule
Le Pont VD Seeufer
St. Gallen SG Polizei-Hauptgebäude
Standort
13.12.2014
27.9.2014
13.9.2014
22.8.2014
Datum
Gedenktafel
Gedenkstein
Stele
Gedenktafel
Form
Inschrift
Gertrud Kurz (15. März 1890 – 26. Juni 1972) Ihr mutiger Einsatz für Flüchtlinge verhalf ihr schon während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zur Anerkennung als „Mutter der Flüchtlinge“. Mit ihren persönlichen Interventionen gegen die restriktive schweizerische Abwehrpolitik rettete sie viele, mehrheitlich jüdische Flüchtlinge, vor dem tödlichen Rückschub nach Deutschland. Christliches Engagement und Zivilcourage zeichneten sie dabei aus. Eine Stiftung, eine Gedenkmünze und
Maurice Bavaud Originaire de Bottens 15. janvier 1916–14 mai 1941 Décapité pour avoir tenté de tuer Hitler A payé de sa vie son attitude visionnaire et son courage. Honoré à Bottens – Neuchâtel – St. Ilan (Bretagne)
Aux passeurs de la forêt du Risoud, qui ont risqué leur vie pour aider à se réfugier en Suisse, des résistants, des agents de renseignements et des Juifs menacés de mort en France occupée pendant la Seconde Guerre mondiale 1944–2014 La Vallée de Joux reconnaissante (Identische Inschriften in Deutsch, Hebräisch, Englisch, Italienisch und Chinesisch)
Paul Grüninger Kommandant der Kantonspolizei St. Gallen von 1919 bis 1939 In Gedenken an Paul Grüninger. Er rettete vor dem Zweiten Weltkrieg vielen verfolgten Menschen das Leben.
Zum ewigen Gedenken an all jene, die während der Schoah statt einer Zuflucht den Tod und keine Grabstätte gefunden haben. Mögen ihre Seelen bewahrt sein in den Gefilden des Lebenden 29. Juni 2014 / 1. Tamus 5774 Hebr. Inschrift : Möge seine/ihre Seele eingebunden sein im Bund des Lebens
504 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Otto Vogler
Albert Oeri
Federica Spitzer
Flüchtlinge
Ernest Prodolliet
Nr.
51
50b
52
53
54
Amriswil TG Ortsmuseum, später Radolfzellerpark
Genf GE École des Cropettes
Lugano TI Via Federica Spitzer
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Tägerwilen TG Konstanzerstrasse 123 (Wohnhaus)
Standort
4.9.2016
27.1.2016
27.1.2016
9.11.2015
13.9.2015
Datum
Skulptur Künstler : Helmut Giselbrecht
Gedenktafel
Straßenname
Gedenktafel
Stolperstein Künstler : Gunter Demnig
Form
Ernst Prodolliet 1905–1984 Der Amriswiler rettete vor und während dem Zweiten Weltkrieg in Bregenz viele jüdische Flüchtlinge vor der Ermordung durch das deutsche nationalsozialistische Terrorregime. Er hielt sich dabei nicht an die Weisungen von Bundes-Bern und
L’ancienne école des Cropettes, comme d’autres lieux à Genève, a servi durant la Seconde Guerre Mondiale de camp de triage de l’armée pour les réfugiés passés clandestinement en Suisse. Parmi les centaines de juifs qui y transitèrent, certains, hommes, femmes et enfants, furent refoulés à la frontière. Une partie d’entre eux furent ensuite arrêtés, déportés puis assassinés dans les camps de la mort.
Via Federica Spitzer Testimone dell’Olocausto 1911–2002
Albert Oeri (12. September 1875 – 22. Dezember 1950) „Unser Rettungsboot ist noch nicht überfüllt, nicht einmal gefüllt. Solange es noch nicht gefüllt ist, wollen wir aufnehmen, was Platz hat. Sonst versündigen wir uns !“ Als langjähriger Chefredakteur der „Basler Nachrichten“ und Nationalrat engagierte sich Albert Oeri nach 1933 gegen den Nationalsozialismus. In seinen Leitartikeln kämpfte er für die Presse- und Informationsfreiheit und trat für die Aufnahme von Flüchtlingen ein. Er galt seinerzeit als bedeutendster schweizerischer Kommentator der Weltpolitik. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
Hier wohnte / Otto Vogler / Jg. 1876 / Im Widerstand verhaftet 1938 / Zuchthaus Ludwigsburg Neuengamme / Ermordet 14.12.1941 Dachau
Strassen in der Schweiz tragen heute ihren Namen. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
Inschrift
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
| 505
Erinnert an
Anne-Marie Im Hof-Piguet
Paul Vogt
Isaak und Recha Sternbuch
Nr.
50c
50d
50e
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Standort
Form
12.4.2017
24.1.2017
Gedenktafel
Gedenktafel
28.12.2016 Gedenktafel
Datum
Inschrift
Isaak und Recha Sternbuch (Isaak 23.9.1895 – 20.1.1968 / Recha 13.5.1905 – 6.2.1971) Seit 1938 gelang es dem Ehepaar Sternbuch, hunderte deutsche und österreichische Juden in die Schweiz zu retten. Anfang 1939 kam Recha wegen
Paul Vogt (23. Mai 1900 – 12. März 1984) Als reformierter Pfarrer wirkte Paul Vogt ab 1936 in Zürich-Seebach. Sein grosses soziales Engagement galt Arbeitslosen und Flüchtlingen. Schon frühzeitig warte er vor den Judenverfolgungen in Deutschland. Während des Zweiten Weltkrieges kämpfte er auf einer eigens geschaffenen Stelle als „Flüchtlingspfarrer“ für eine grossherzige schweizerische Flüchtlingspolitik. 1943 begründete er eine sog. Freiplatzaktion, durch die jüdische Flüchtlinge in christlichen Familien Aufnahme fanden. Damit wurde ihnen die Einweisung in ein Heim erspart. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
Anne-Marie Im Hof (12. April 1916 – 18. Dezember 2010) Nach einem geisteswissenschaftlichen Studium arbeitete Anne-Marie Im Hof, geb. Piguet, in der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes in Südfrankreich, ab Mai 1943 in der Kinderkolonie im Château de La Hille in Montégut-Plantaurel. Von dort schmuggelte sie aus einem tiefen ethischen Bewusstsein heraus und nur ihrem Gewissen folgend mehrmals jüdische Kinder und Jugendliche über die französisch-schweizerische Grenze. Für diese Rettungsaktionen wurde sie 1991 von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
wurde wegen Amtspflichtverletzungen nach Amsterdam versetzt, wo er zusammen mit seiner Frau mehrere hundert Jüdinnen und Juden vor dem sicheren Tod in den Nazi-Gaskammern rettete. Amriswil ehrt deshalb mit diesem Mahnmal seinen mutigen Mitbürger für dessen uneigennützigen gefahrvollen persönlichen Einsatz in den Jahren von 1938–1943. 2016 – Stadtrat Amriswil und Ortsmuseum
506 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Ernest Prodolliet
Regina Kägi- Fuchsmann
Nr.
50f
50g
Standort
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
24.6.2017
23.5.2017
Datum
Gedenktafel
Gedenktafel
Form
Inschrift
Regina Kägi (geb. Fuchsmann / 10. Mai 1889 – 22. Juni 1972) Als Sozialdemokratin, Frauenrechtlerin und Flüchtlingshelferin gründete die Züricher Lehrerin und Tochter eines jüdischen Kaufmanns Regina Kägi das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH). Sie organisierte Ferien für Arbeiterkinder und holte im Spanischen Bürgerkrieg hungernde Kinder und Verfolgte in die Schweiz. Ab 1940 initiierte sie die Aktion „Colis Suisse“ (Lebensmittelpaket) und reiste in Flüchtlingslager im unbesetzten Frankreich. Ihre unermüdliche Arbeit, Menschenliebe und Erfindungsgabe liessen sie immer wieder Wege zur Errettung gefährdeter Menschen finden. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
Ernest Prodolliet (14.11.1905 – 08.11.1984) Im Frühjahr 1938 wurde die Visumspflicht für Österreicher eingeführt. In seiner Position im Schweizer Konsulat in Bregenz verhalf Ernest Prodolliet zahlreichen Juden zur Flucht in die Schweiz, indem er illegal Visa ausstellte. Er pflegte Kontakt zu Paul Grüninger und Recha Sternbuch, mit denen er verbotene Grenzübertritte organisierte. Im Dezember 1938 wurde er von seinem Posten abgesetzt und ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Er handelte aus Zivilcourage, nachdem ihm klar wurde, dass die von Flüchtlingen beschriebenen Greueltaten den Tatsachen entsprachen. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
Verdachts auf Schlepperdienste, Unterbringung von Flüchtlingen und Beschaffung illegaler Visa in St. Gallen in Untersuchungshaft. Das Ehepaar engagierte sich für Juden in Shanghai und Osteuropa und organisierte Lebensmittel für Konzentrationslager und Ghettos. Es war entscheidend beteiligt an schweizerischen Verhandlungen mit der SS, die 1945 zur Freilassung von 1200 jüdischen Häftlingen aus Theresienstadt führten. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
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Erinnert an
Carl Lutz
Paul Grüninger
Carl Lutz
Nr.
50h
50i
55
Standort
Bern BE Bundeshaus West, Carl Lutz-Saal
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Datum
12.2.2018
6.2.2018
5.9.2017
Form
Name eines Saals
Gedenktafel
Gedenktafel
Inschrift
Carl Lutz L’engagement humanitaire Né en 1895, l’Appenzellois Carl Lutz est entré au Département en 1920, il y a poursuivi une carrière consulaire jusqu’à sa retraite en 1961. Il est mort à Berne en 1975. Entre 1942 et 1945, Carl Lutz a dirigé la Division des intérêts étrangers, notamment britanniques et américains, de la Légation de Suisse à Budapest. Il a développé des mesures de protection pour des dizaines de milliers de Juifs de la capitale après l’occupation allemande en mars 1944 et plus encore après la
Paul Grüninger (27. Oktober 1891 – 22. Februar 1972) Als ab 1938 die Einreise für Flüchtlinge immer schwieriger wurde, liess der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger Menschlichkeit vor Gesetz walten und rettete hunderte, wenn nicht tausende Menschen vor nationalsozialistischer Deportation und Vernichtung. 1939 wurde er von der St. Galler Regierung fristlos entlassen und 1941 durch das Bezirksgericht verurteilt. Er lebte danach weitgehend vergessen in Armut. Seine juristische Rehabilitierung erfolgte erst 1995. Die den Nachkommen zugesprochene Entschädigung floss in die 1998 gegründete Paul Grüninger Stiftung ein. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
Carl Lutz (30. März 1895 – 12. Februar 1975) Als Schweizer Diplomat führte Carl Lutz in Ungarn die grösste Rettungsaktion von Juden während des Zweiten Weltkriegs durch. Er stellte ab Mai 1944 für Juden, die nach Palästina auswandern wollten, Schutzbriefe aus. Auf diese Weise bewahrte er 62.000 Menschen vor dem Tod in den Vernichtungslagern. Das Justiz- und Polizeidepartement wertete sein Verhalten als „Kompetenzüberschreitung“. Zu Lebzeiten kämpfte Carl Lutz vergeblich um die staatliche Anerkennung seiner Leistungen. Yad Vashem verlieh ihm posthum die Ehrung als „Gerechter unter den Völkern“. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch)
508 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Erinnert an
Gertrud KurzHohl
Nr.
56
Biel BE GottfriedIscher-Weg 11 (Pfarrhaus)
Standort
13.6.2018
Datum
Gedenktafel
Form
Inschrift
Gertrud Kurz-Haus Das Boot ist nicht voll ! Gertrud Kurz (1890–1972) setzte sich für die Vertriebenen während des 2. Weltkrieges unermüdlich und auch an höchster Stelle ein. Ihr Mut und ihre Solidarität weisen in die Zukunft. (Identische Inschrift auf Französisch)
prise du pouvoir par le parti pronazi hongrois des Croix-fléchées. Ces mesures comprenaient notamment des lettres de protection, des passeports collectifs et des maisons protégées. Les documents étaient fabriqués et distribués dans la „Maison de verre“, un bâtiment industriel sous protection suisse. L’effort collectif Durant les dernières semaines de la guerre, Carl Lutz a chargé ses nouveaux collaborateurs Peter Zürcher (1914–1975) et Ernst Vonrufs (1906–1972) de garantis l’application des mesures suisses de protection. Son épouse Gertrud (1911– 1995), ses supérieurs successifs et la résistance juive l’ont activement soutenu. Harald Feller (1913–2003), son dernier supérieur, a caché chez lui des persécutés. Enlevé par des agents du NKVD, il n’est rentré de Moscou qu’en 1946. Les autres États neutres et le Comité international de la Croix-Rouge ont pris des mesures similaires de protection. Environ la moitié des Juifs de Budapest ont survécu. La salle Le chef du Département, le conseiller fédéral Ignazio Cassis, a inauguré la salle et la plaque commémorative le 12 février 2018, jour anniversaire de la mort de Carl Lutz. (Identische Inschrift auf Englisch) Cette salle est dédiée à toutes les collaboratrices et à tous les collaborateurs du Département qui, comme Carl Lutz, Harald Feller, Gertrud Lutz-Fankhauser, Ernst Vonrufs et Peter Zürcher en 1944–1945 à Budapest, on fait preuve d’une grande humanité qui doit nous inspirer.
Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
| 509
Erinnert an
Konstanty Rokicki
Carl Lutz
Albert Schudel-Feybli
Anne Frank
Schweizer Opfer des Nationalsozialismus
Nr.
57
58
50k
59
60
Standort
Zürich und allenfalls weitere Orte
Basel BS Anne FrankPlatz (Erlenmattpark)
Riehen BS Inzlingerstrasse 44 Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des 2. Weltkrieges
Walzenhausen AR Wilen 404 (Geburtshaus)
Luzern LU Friedhof Friedental
Datum
ab 2020
2020
3.12.2019
30.3.2019
9.10.2018
Form
Stolpersteine Künstler : Gunter Demnig
Name eines Platzes
Gedenktafel
Gedenktafel
Grabmal
Inschrift
Diverse
Anne Frank-Platz Anne Frank (1929–1945), ihr Tagebuch als Zeugnis des Holocaust erinnert an die Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus, sie stirbt 15-jährig im Konzentrationslager Bergen-Belsen
Albert Schudel-Feybli (14. Juli 1910 – 13. August 2003) Der Riehener Albert Schudel schrieb ab 1939 für die Riehener Zeitung, ab 1941 als deren Chefredaktor. Obwohl die Presseüberwachung während des Zweiten Weltkriegs jegliche Parteinahme verbot, setzte sich Schudel über die Zensur hinweg und schrieb in seinem Lokalblatt hartnäckig gegen den Nationalsozialismus an. Dabei bewies er nicht nur Gerechtigkeitssinn und Mut, sondern auch Fantasie. So nahm er, trotz Drohungen der Pressezensur eines Erscheinungsverbots seiner Zeitung seine Verantwortung als Journalist wahr. (Identische Inschriften in Englisch und Hebräisch).
In diesem Haus wurde am 30. März 1895 geboren Carl Lutz Schweizer Diplomat und „Gerechter unter den Völkern“ Im Zweiten Weltkrieg war Carl Lutz als Vizekonsul der Schweizerischen Gesandtschaft in Budapest tätig. Durch seine mutige Rettungsaktion rettete er zehntausende ungarische jüdische Menschen vor dem Tod in Konzentrationslagern.
Konstanty Rokicki 1899–1958 Polnischer Konsul in Bern Holocaust-Retter
510 | Verzeichnis der Shoah-Denkmäler in der Schweiz
Autor*innenverzeichnis
Maoz Azaryahu, Prof. Professor of cultural geography at the University of Haifa in Israel and Director of the Herzl Institute for the Study of Zionism. His research includes the cultural and historical geographies of public memory, and the cultural history of places and landscapes. Wulff Bickenbach, Dr. phil. Oberst a.D. d.Res., Deutsche Luftwaffe ; Sprecher European Community Monitoring Mission Sarajewo (1998/99), Themenschwerpunkt : Flüchtlingsgeschichte der Schweiz während des Nationalsozialismus. Klaus-Michael Bogdal, Prof. Dr. Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld ; Senior Research Professor ; Chair der Bielefelder Norbert Elias-Lectures ; Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus der Bundesregierung. Forschungsschwerpunkte : Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts ; Gegenwartsliteratur ; Literatur theorie ; Alteritätsforschung und die europäischen Dimensionen kulturhistorischer Entwicklungen ; Roma-Literaturen und -kulturen. Barbara Bonhage, Prof. Dr. Wirtschaftshistorikerin und Expertin für öffentliches Management an der Hochschule Luzern. Autorin mehrerer Studien zu den Schweizer Wirtschaftsbeziehungen mit Nazi-Deutschland sowie eines Lehrmittels zum gleichen Thema für die Sekundarstufe. Sabina Bossert, Dr. phil. Fachreferentin Jüdische Zeitgeschichte und Leiterin der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte am Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Tätigkeitsschwerpunkte : Schweizerisch-Jüdische Geschichte ; Geschichte des Nationalsozialismus ; Jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus ; Oral History.
512 |
Autor*innenverzeichnis
Anna Fersztand, B.A. Soziologie und Medienwissenschaft. Masterstudium in Sozialanthropologie. Themenschwerpunkte : Trauma und Weitergabe der Geschichte von Holocaustopfern ; Psychoanalyse ; Filmdokumentation. Peter Gautschi, Prof. Dr. Leiter des Instituts für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Tätigkeitsschwerpunkte : Unterrichtsforschung ; Lehrplan- und Lehrmittelentwicklung ; Public History. Ulrike Gehring, Prof. Dr. Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Trier und deren Vizepräsidentin. Forschungsschwerpunkte : Amerikanische Kunst und Kunsttheorie nach 1945 ; Bildund Medientheorie ; Natur – Kunst – Wissenschaft ; Niederländische Landschaftsund Marinemalerei im 17. Jh.; Jüdische Kunst und Architektur. Daniel Gerson, Dr. phil. Lehrbeauftragter für jüdische Geschichte der Neuzeit am Institut für Judaistik der Universität Bern ; Schweizer Mitglied der Academic Working Group der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Forschungsinteressen : Judentum und französische Aufklärung ; europäisches Judentum nach dem Holocaust ; Holocaust erinnerung ; moderner Antisemitismus. Helena Kanyar Becker, Dr. phil. Ehem. wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek Basel. Forschungsinteressen : Humanitäre Tradition ; Flüchtlinge ; Juden, Roma und Sinti ; osteuropäische Kulturgeschichte. Nadav Kaplan, Ph.D. Israeli researcher of Memory Studies. Research Fellow, Herzl Institute for the study of Zionism, University of Haifa. His area of focus includes : The phenomenon of belated commemorations of historical events and individuals ; The Holocaust in Hungary and its place in the contemporary Israeli narratives. Hans-Lukas Kieser, Prof. Dr. Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Associate Professor am Centre for the Study of Violence der Universität Newcastle in Austra-
Autor*innenverzeichnis
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lien. Forschungsinteressen : spätosmanische und nachosmanische Geschichte ; moderne nahöstliche Gewaltgeschichte ; Friedensschlüsse und Gesellschaftsverträge. Sara Kviat Bloch, M.A. Managing director of the Collegium generale at the University of Bern and external lecturer in Judaism at the University of Zürich. Author of textbooks on Religion and Judaism. Areas of research include Judaism and popular culture ; Holocaust memory ; Judaism in Denmark. Regula Ludi, Prof. Dr. Titularprofessorin für Geschichte der Neuzeit ; Universität Zürich ; Lehr- und Forschungsrätin am Interdisziplinären Zentrum für Ethik und Menschenrechte der Universität Fribourg. Forschungsschwerpunkte : Nachgeschichte des Holocaust ; Geschichte der Menschenrechte ; Geschlechtergeschichte der Moderne. Fabienne Meyer, M.A. Geschichte und Religionswissenschaft. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Armeestab der Schweizer Armee und freischaffende Historikerin. Themenschwerpunkte : Gedächtnisgeschichte ; Denkmäler der Schweiz ; die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Anna Minta, Prof. Dr. Leiterin des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur, Kath. Privat-Universität Linz. Forschungsinteressen : Architektur, Städtebau und Raumsoziologie der Moderne ; Öffentlicher Raum, Identitätskonstruktionen, Herrschaftsdiskurse und Erinnerungskulturen in Europa, Israel und den USA. Marc Perrenoud, Dr. phil. Ehem. Wissenschaftlicher Berater der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz- Zweiter Weltkrieg ; UEK (1997–2001) und der Forschungsgruppe der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (Datenbank : www.dodis.ch). Forschungsschwerpunkte : Geschichte des Kantons Neuenburg ; Außenbeziehungen der Schweiz ; Arbeiterbewegungen ; Antisemitismus und Integration der Juden in der Schweiz. Erik Petry, Prof. Dr. Stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien, Basel. Forschungsschwerpunkte : Geschichte der Juden und Jüdinnen in Deutschland und der Schweiz in der Neuzeit ; Zionismus ; Geschichte des Antisemitismus ; Geschichte des Nahen Ostens ; Oral History und Gedächtnisgeschichte.
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Autor*innenverzeichnis
Jacques Picard, Prof. em. Dr. Professor emeritus für Jüdische Geschichte und Kultur der Moderne sowie Kulturanthropologie an der Universität Basel ; Fellow der Universität Haifa ; Präsident der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte an der ETH Zürich. Forschungsschwerpunkte : Ideen- und Kulturgeschichte ; Sozial- und Religionsanthropologie zu Judentum und Moderne ; Gesellschaftliche Diskurse in Europa, Nordamerika und Israel. Joel E. Rubin, Ph.D. Associate Professor of Music at the University of Virginia. Musician ; author and acclaimed performer including numerous recordings and publications. Key words : Jewish traditions in music ; Klezmer music ; history and ethnology of music and musicians. Olaf Schlote Freischaffender Fotokünstler in Bremen. Träger des Bundesverdienstkreuzes. Arbeits themen : Menschenbilder ; Leben und Tod ; Erinnerungen ; Holocaustgedenken. Das aktuelle Projekt Erinnerungen an der Universität Haifa wird zuerst im Japanischen Palais in Dresden und im Landesmuseum Bremen / Fockemuseum präsentiert und danach nach Israel ; in das Hecht Museum in Haifa wandern. Christina Späti, Prof. Dr. Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg/Schweiz. Forschungsinteressen : Nationalsozialismus, Holocaust und Umgang mit dem Holocaust nach 1945 ; Antisemitismus, Orientalismus, Rassismus ; vergleichende Sprachenpolitik. Balz Spörri, Dr. phil. Journalist, Themenschwerpunkte : Schweizer Zeitgeschichte und gesellschaftswissenschaftliche Forschung. Co-Autor des Buches „Die Schweizer KZ-Häftlinge“. René Staubli Freiberuflicher Journalist, ehem. Reporter und Redakteur bei „SonntagsZeitung“, „Weltwoche“ und „Tages-Anzeiger“. Tätigkeitsschwerpunkte : Texter, Lektor, Ghostwriter und Buchautor. Co-Autor des Buches „Die Schweizer KZ-Häftlinge“. Walter Stoffel, Prof. Dr. iur., LL.M. (Yale) Professor für Wirtschaftsrecht und internationales Privatrecht an der Universität Fribourg. Ehem. Mitglied des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrates. Ehem. Präsident der Schweizerischen Wettbewerbskommission. Co-Leiter der Ver-
Autor*innenverzeichnis
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anstaltungen „Recht im Film“ an der Universität Fribourg und in Bern. Forschungsschwerpunkte : Wettbewerbs- und Gesellschaftsrecht ; Fragen des schweizerischen und internationalen Verfahrens- und Gerichtssystems. Kaspar Surber, Lic. phil. Redakteur bei der Wochenzeitung WOZ und Historiker. Mitglied im Stiftungsrat der Paul Grüninger-Stiftung. Benno Tuchschmid Journalist, Leiter des Ressorts Magazin der Blick-Gruppe, ehem. Reporter bei der Aargauer Zeitung und bei der Sonntagszeitung, Co-Autor des Buches „Die Schweizer KZ-Häftlinge“. Judy Tydor Baumel-Schwartz, Prof. Professor of Modern Jewish History in the Israel and Golda Koschitzky Department of Jewish History and Contemporary Jewry at Bar-Ilan University in Israel and Director of the Arnold and Leona Finkler Institute of Holocaust Research. Her research includes religious life during and after the Holocaust, gender and the Holocaust, Holocaust commemoration and public memory in the State of Israel.
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