Lebendige Gemeinden: Festschrift Emil Sulze zum 80. Geburtstag am 26. Februar 1912 [Reprint 2019 ed.] 9783111558097, 9783111187594


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German Pages 220 [236] Year 1912

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Evangelisches Gemeindeleben in England und Nordamerika
2. Die Gemeinde und ihre Jugend
3. Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission
4. Die Geineindepredigt
5. Die evangelische lebendige Gemeinde ein Bollwerk gegen Rom
6. Die Gemeinde als sittlich-religiöse Autorität
7. Welche Ziele sind für die volkskirchliche Erziehung erreichbar?
8. Die Gemeinde und die Frauen
9. Gemeindepolitik
10. Ideelle Gemeinde und empirische Gemeinde
11. Das Parochialprinzip und der theologische Streit
12. Seelsorgebezirke
13. Das evangelische Kirchengebäude
14. Die Konferenz für evangelische Gemeindearbeit insbesondere ihre Aufnahme in der kirchlichen Öffentlichkeit
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Lebendige Gemeinden: Festschrift Emil Sulze zum 80. Geburtstag am 26. Februar 1912 [Reprint 2019 ed.]
 9783111558097, 9783111187594

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Lebendige Gemeinden

Festschrift für (Emil Sülze

Studien zur praktischen Theologie in Verbindung mit

Professor D.

Karl Eger

Direktor ö. Predigersem. in Friedberg

D. Dr.

und

Martin Schian

o. Professor an der Universität Gießen

herausgegeben von 6. BdtlO

D. Dr.

Carl Llemen

cio. Professor an der Universität Bonn

heft 1

Lebendige Gemeinden Festschrift

Emil Sülze zum 80. Geburtstag am 26. Februar 1912 dargebracht von

Carl Llemen - Johannes Eger - Paul Grünberg Paul ltirmtz - Walter ttötzschke - Carl Lammers Heinrich Matthes - Paula Müller - Friedrich Mebergall Martin Schian - Jakob Schoell - Fr. Siegmund-Schultze Friedrich Spitta - August Stock Mit einem Bilde Emil Sulzes

Verlag von Alfred Opelmann (norm. I. Ricker) Gießen 1912

(Emil Zulze mit ehrerbietigem Dank für reiche Anregung und Förderung

und mit dem Gelöbnis treuer Weiterarbeit an der Verwirklichung

seines Gemeinde-Ideals

Inhaltsverzeichnis Seite

1. Carl Elemen, Evangelisches Gemeindeleben in England und Nord­ amerika

...................................................................................................

2. Johannes Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend

.........................

1

15

3. Paul Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission

29

4. Paul Khmßr Die Gemeindepredigt......................................................

47

5. Walter Kötzschke, Die evangelische lebendige Gemeinde ein Boll­ werk gegen Hom...................................................................................

61

6. Earl Lammers, Die Gemeinde als sittlich-religiöse Autorität ...

77

7. Heinrich INatthes, Welche Ziele sind für die volkskirchliche Er­

ziehung erreichbar?...............................................................................

89

8. Paula Müller, Die Gemeinde und die Frauen......................................111

9. Friedrich Niebergall, Gemeindepolitik.................................................. 119 10. Martin Schian, Ideelle Gemeinde und empirische Gemeinde

...

141

11. Jakob Schoell, Das Parochialprinzip und der theologische Streit .

155

12. Friedrich Siegmund-Schultze, Seelsorgebezirke................................. 167 13. Friedrich Spitta, Das evangelische Kirchengebäude............................. 187 14. August Stock, Die Konferenz für evangelische Gemeindearbeit, ins­

besondere ihre Aufnahme in der kirchlichen Öffentlichkeit ....

197

(Kernen, Evangelisches Gemeindeleben in England u. Nordamerika.

1

1.

Evangelisches Gemeindeleben in England und Nordamerika. von Prof. D. Dr.

(Earl Tlemen

in Bonn a.RI).

Der verehrte Mann, dem diese Blätter gewidmet sind, hat sich für die Realisierbarkeit einiger seiner Forderungen gelegentlich auch auf andre, als reichsdeutsche Kirchen berufen; in seiner „Reform der evan­ gelischen Landeskirchen", die, wenn er es in seiner Bescheidenheit auch nicht Wort haben will, doch eine praktische Theologie in nuce gibt, verweist er stellenweise auf die Siebenbürger Sachsen. Sonst werden, soweit ich sehe, in unsern Lehrbüchern der praktischen Theologie, an die Studierende und Geistliche doch in erster Linie gewiesen sind, diese andern deutschen Kirchen außerhalb des Reiches oder auch nur der Landeskirchen sehr wenig berücksichtigt. Seit Schleiermacher, der ihr ja selbst entstammte, ist hie und da von der Brüdergemeinde die Rede; Theodosius harnack schrieb zunächst für die Deutschen in den russischen Gstseeprovinzen und ging daher auf ihre Verhältnisse ein; Krauß war lange Zeit Pfarrer in der Schweiz und verwertete so dort gemachte Erfahrungen; aber sonst, und auch von dem jüngsten Klassiker 'der praktischen Theologie, Achelis, werden selbst diese und andere solche deutsche Kirchen nur sehr selten berücksichtigt. Und noch weniger ge­ schieht das mit den andern, nichtdeutschen Kirchen der Gegenwart. Wir werden eingehend z. B. über die Entwicklung der Liturgie in der griechisch- und römisch-katholischen, sowie in den deutschen lutherischen Kirchen orientiert, aber von der Form des Gottesdienstes in andern neueren Kirchen, die uns doch viel näher als die ersterwähnten stehen, ist kaum die Rede. Zwar begegnet man fast regelmäßig der anglikanischen, hie und da einer englischen Freikirche, gelegentlich einmal den hollän­ dischen oder französischen Evangelischen - das ist aber dann auch alles. Noch andre Kirchen, namentlich amerikanische, scheinen nicht zu existieren, und auch von jenen ist längst nicht so oft die Rede, wie es angezeigt wäre. Lebendige Gemeinden.

1

2

Lebendige Gemeinden.

So ist es mit dankbarster Freude zu begrüßen, daß Drews in seiner ausgezeichneten Kirchenkunde auch die Brüdergemeinde und die siebenbürgische Landeskirche behandeln lassen will. Daß in den Stu­ dien zur praktischen Theologie, in denen diese Festschrift erscheint, noch darüber hinaus die nichtdeutschen evangelischen Kirchen berücksichtigt werden sollten, kündigte ich gleich in dem ersten, vor fast sechs Jahren ausgeschickten Prospekt an; von dieser „Kirchenkunde des evangelischen Auslandes", wie wir die besondere Serie nannten, sind bis jetzt die die Schweiz, Norwegen und Schottland behandelnden Abteilungen er­ schienen. Für die in diesem heft erörterten Fragen kommt vor allem die letzte in Betracht, denn die Church of Scotland und die United Free Church sind diejenigen Kirchen, in denen das Sulzesche Gemeinde­ ideal am allgemeinsten und vollkommensten verwirklicht ist. Aber auch von den englischen und nordamerikanischen Kirchen, um andre nicht erst zu nennen, können wir trotz unserer allerdings wesentlich anders­ artigen Verhältnisse, wie sonst, so für unsere Gemeindearbeit mancherlei lernen, ohne daß es wohl so bald möglich werden wird, all das in einer zusammenfassenden Kirchenkunde Englands und Amerikas dar­ zustellen. Bei der Kompliziertheit der dortigen Verhältnisse wird man sich zunächst auch fernerhin darauf beschränken müssen, einzelne Seiten des kirchlichen Lebens zu schildern, und so mag denn hier zusammen­ gestellt werden, was ich von Gemeindearbeit in England und Nord­ amerika beobachtet und allerdings großenteils schon in verschiedenen Zeit­ schriften, wo es doch naturgemäß wenig beachtet worden ist, dargestellt habe. Daß ich dabei von England im eigentlichen Sinne des Worts rede, liegt ja schon in dem Gesagten, und auch daß unter Nordamerika nur die vereinigten Staaten verstanden werden, brauche ich wohl kaum

erst zu bemerken,- dagegen ist es vielleicht nicht überflüssig, von vorn­ herein und ein für allemal zu bemerken, daß ich nicht daran denke, was sich in England oder Nordamerika bewährt hat, ohne weitres für uns zu empfehlen. Dazu sind unsre Verhältnisse, Anschauungen, Gewohn­ heiten doch vielfach zu verschieden, und eines schickt sich nicht für alle.

*

*

*

Wollen wir aus unsern parochien wirkliche Gemeinden machen, so müssen wir da anfangen, wo wir einen mehr oder minder großen Teil der Parochianen wirklich schon beisammen haben, beim Gottesdienst. Woran liegt es also, daß man sich in den meisten englischen und amerikanischen Gottesdiensten ganz anders zusammengehörig fühlt als vielfach bei uns? Ts liegt zunächst an dem gottesdienstlichen Raum. Zwar findet man nicht nur bei den Anglikanern diesseits und jenseits des Atlan­ tischen Ozeans, sondern hie und da auch bei den Nonkonformisten.

Clemen, Evangelisches Gemeindeleben in England u. Nordamerika.

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namentlich den Presbyterianern und dann den Irvingianern Kirchen, die sich eigentlich überhaupt nicht für evangelischen, sondern nur für ka­ tholischen Gottesdienst eignen: weitläufige Kathedralen mit mehreren Schiffen und hohem Lhor, der nur für Geistliche und Sänger bestimmt und, wie noch mehr die Kanzel, nur für einen Teil der Gemeinde sicht­ bar ist. Aber die meisten Kirchen wenigstens der Dissenter sind doch wirkliche evangelische Gemeindekirchen, in denen sich die ganze Gemeinde zunächst mit dem Geistlichen zusammengehörig fühlt, weil sie ihn überall gut sieht und hört, vielleicht trägt zu jenem Gefühl auch bei, daß der Geistliche wohl bei allen Nonkonformisten außer den Presbyterianern und Irvingianern keinen Talar trägt, sondern im Gehrock erscheint, mehr noch, daß er von Anfang des Gottesdienstes an, vielleicht im Kreise der Ältesten, in der Kirche sitzt und nicht nur von Zeit zu Zeit aus der Sakristei auftaucht. So erscheint er von vornherein als ein Glied der Gemeinde, und diese faßt, was er sagt, als von einem der Ihrigen kommend auf. vor allem aber fühlt sich die Gemeinde selbst als ein Ganzes, zum Teil wohl schon, weil sie in einem übersichtlichen Raume unter­ gebracht ist; ist überhaupt eine Empore vorhanden, so doch nur eine und keine so hohe, daß sich die auf ihr Sitzenden von der Gemeinde im Schiff getrennt oder gar ausgeschlossen fühlten, vor allem freilich gründet sich jenes Gefühl der Zusammengehörigkeit darauf, daß sich bei dem regelmäßigen Kirchenbesuch und den festen Plätzen, die die meisten haben, sehr viele, die jahraus jahrein nebeneinander sitzen, gut kennen. Sie begrüßen sich denn auch, wenn sie kommen, und beginnen, sobald der Gottesdienst zu Ende ist, sofort die lebhafteste Unterhaltung. Sehr vielfach geht dann auch der Geistliche durch die Gemeinde oder tritt an die Tür und entläßt jeden mit einem freundlichen Wort. Kommt ein Fremder zum erstenmal in eine Kirche, so überläßt man es ihm nicht, sich selbst einen Platz zu suchen, man überträgt das auch nicht einem Küster oder dergleichen Angestellten, sondern Gemeinde­ glieder, ältere oder jüngere Herren, empfangen jeden solchen Fremden, fragen ihn vielleicht nach seinen besondern wünschen, reichen ihm ein Gesangbuch und weisen ihm einen Platz an, wie er ihn gern hat. Begrüßt der Geistliche am Schluß die einzelnen Kirchgänger, so unterhält er sich auch mit einem solchen Gast, und ebenso wird dieser in oder vor der Kirche oft von Gemeindegliedern angesprochen, die ihn fragen, wie es ihm gefallen habe, ob er nicht wiederkommen wolle, wo er wohne u. dgl. Nun hat das alles ja gewiß vielfach den Grund, daß man den Fremden gern für sich gewinnen möchte. Kleine und arme Gemeinden sind, wenn sie vorwärtskommen wollen, ja einfach darauf angewiesen, zahlreichere und wohlhabendere Mitglieder zu bekommen zu suchen, und geraten da auch an solche, die ihnen nur einmal einen Besuch machen 1*

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Lebendige Gemeinden.

Konnten und wollten. Aber wer sich schon zu einer Gemeinde hingezogen fühlt oder fremd an einen Grt kommt, wo überhaupt nur eine Gemeinde ist, der empfindet es doch sehr angenehm, daß man ihn sofort so freundlich aufnimmt und nicht erst jahrelang die Kirche besuchen lätzt, bis er vielleicht zufällig einmal mit dem Geistlichen oder einem Gemeindeglied bekannt wird. Der Gottesdienst selbst ist auch in England und Amerika keines­ wegs immer so anheimelnd und packend, wie man wünschen möchte. 3n der Church of England werden bekanntlich nicht nur jeden Sonntag, sondern eigentlich auch jeden Wochentag, morgens und abends, genau vorgeschriebene, sehr lange und großenteils für das ganze Jahr gleich­ lautende Gebete gelesen, ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang mehrere Psalmen gesungen und nach einem bestimmten Turnus zwei Kapitel, eins aus dem Alten, eins aus dem Neuen Testament verlesen: man kann also trotz aller Schönheit der Gebete und Psalmen, trotz aller Reich­ haltigkeit der Schrift, die der Gemeinde so ganz anders aufgeht, doch

nicht in eine einheitliche und deshalb eigentlich überhaupt in keine rechte Stimmung kommen. Ja daran fehlt es auch in den Gottes­ diensten der Nonkonformisten noch sehr häufig. Namentlich die Vorträge des Thors fallen oft völlig aus dem Rahmen des Gottesdienstes heraus; er geht eben namentlich in Amerika in der Regel gar nicht aus der Gemeinde hervor, sondern wird von ihr angestellt und singt nun vielfach, was ihm gut scheint. Und auch die sonstigen Bestandteile des Gottes­ dienstes (Gemeindegesang, Gebet, Schriftverlesung, predigt) schließen sich oft

recht wenig zu einem Ganzen zusammen. Es war doch höchst charakte­ ristisch, daß in Nordamerika erst 1889 sog. Brookfield Services aufkamen (so genannt, weil sie damals zuerst in Brookfield, Nlafi., von verschiednen kongregationalistischen Geistlichen gehalten wurden), deren Besonderheit war und sein sollte, daß in ihnen alles zusammenpaßte! Seitdem ist dieses natürlich allein richtige Prinzip allerdings in weiten Kreisen anerkannt worden, ja vielfach, zumal in England, wurde es stillschweigend schon früher befolgt. Und auch wo das nicht der Fall ist, haben die einzelnen, vorhin schon genannten Bestandteile des Gottesdienstes doch vielfach

mehr Anziehungskraft, namentlich mehr gemeinschaftbildende Kraft. Jedem, der auch nur einmal einen englischen oder amerikanischen Gottesdienst besucht, fällt sofort auf, daß man da frischer singt, als viel­ fach auch jetzt noch bei uns. 3um Teil liegt das ganz einfach daran, daß man in England und Amerika zum Singen allgemein aufsteht; da kommt der Ton, wie jeder weiß, ganz anders heraus. Ferner ist in den meisten Gesangbüchern die Melodie vierstimmig angegeben; so brauchen diejenigen, denen die Gberstimme nicht liegt und die einiger­ maßen nach Noten zu fingen verstehen, nicht von einer Dktave in die andre zu steigen, um schließlich, wenn sie immer wieder nicht hoch

Llemen, Evangelisches Gemeindeleben in England u. Nordamerika.

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genug hinauf oder tief genug herunter können, überhaupt das IMtsingen aufzugeben. Nlan hört die Unterstimmen auch; denn die Orgel be­ gleitet diskret und deckt jene daher nicht so zu, wie bei uns manch­ mal. hat man schon deshalb am Gesang mehr Freude, so ist weiter­ hin zu jeder Strophe, manchmal zu jeder Zeile angegeben, mit welcher Tonstärke sie zu singen ist, und auch dadurch wird der Gesang leben­ diger. Ferner sind die Melodien mannigfaltiger und vielfach frischer als bei uns. Allerdings haben manche von diesen geringen musika­ lischen wert, aber neben derartigen minderwertigen Melodien, wie sie nun auch zu uns gedrungen sind, stehen solche von hoher Schönheit und durchaus kirchlichem Charakter. Und endlich sind auch die Texte häu­ figer derart, daß man sie sich unmittelbar aneignen kann, daß man nicht erst von der zeitlich bedingten Form zu abstrahieren und sich auf den religiösen Kern zu besinnen braucht. Man verwendet eben, was sich von moderner religiöser Lyrik für den Gottesdienst eignet, nun

auch wirklich in diesem, und veranlaßt durch all das die Gemeinde, sich viel allgemeiner als anderwärts am Gesang zu beteiligen und so als zusammengehörig zu fühlen. Mit dem Gebet erreicht man dasselbe Ziel, indem man es so ge­ staltet, daß es wirklich alle mitbeten können und müssen, vielfach werden gewiß schon die vorgeschriebnen Gebete der Church of Eng­ land, die jeder in seinem Common Prayer Book nachliest, deshalb wirk­ lich mitgebetet; in andern Fällen allerdings wirken sie naturgemäß ab­ stumpfend und einschläfernd. Die meisten übrigen Kirchen pflegen daher das freie Gebet, das nun aber keineswegs mit dem unvorbereiteten zu verwechseln ist. wenigstens die besseren Prediger wissen sehr wohl, was in ein gemeinsames Gebet gehört, überlegen sich vorher, was sie in den ein­ zelnen Gebeten, die sie in jedem Gottesdienst zu halten haben, vorbringen wollen, und überlassen nur die Formulierung dem Augenblick; solche freie Gebete ergreifen und packen dann ganz anders, als agendarische, und stärken wirklich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gemeinde. Vie Schriftverlesung scheint dazu nicht viel beitragen zu können, wäre es doch schließlich jedem möglich, auch für sich zu Haus den be­ treffenden Abschnitt überzulesen. Aber vielleicht wäre er dann gerade auf diesen, der ihm doch auch etwas zu sagen hat, nie verfallen, und wäre das geschehen, so hätte er doch vieles nicht verstanden. Dem kann im gemeinsamen Gottesdienst dadurch abgeholfen werden, daß man zu­ gleich eine ganz kurze Erklärung gibt, viele englische und amerikanische Geistliche pflegen jede Schriftverlesung mit ein paar Worten einzuleiten, damit man sofort weiß, was dieser Abschnitt soll, worauf man in ihm zu achten hat, und verdeutlichen auch dann einzelne Worte oder Rede­ wendungen, die nicht unmittelbar verständlich sind. Natürlich darf sich eine

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Lebendige Gemeinden.

solche kurze Erklärung nicht zu einer eigentlichen Auslegung auswachsen; sie führt uns aber allerdings zu demjenigen Bestandteil des Gottesdienstes hinüber, der wenigstens bei den Freikirchen im allgemeinen der wichtigste ist und auch in hervorragendem Matze zur Stärkung des Zusammen­ gehörigkeitsgefühls der Gemeinde benutzt wird: der predigt. wie sonst im Gottesdienst, so vermeidet man vollends in der predigt, wo es ja auch am wenigsten hinpatzt, zunächst alles formel­ hafte, bei dem sich viele doch nicht mehr viel denken. Ich glaube in England und Amerika, autzer bei den Jrvingianern, niemals einen Ranzelgrutz oder ein Schlutzvotum gehört zu haben, nicht einmal in der Church of England. Auch Text und Thema werden ohne weitere Umstände angekündigt, Disposition in der Regel gar nicht. Man geht einfach von einem puMt zum andern weiter und hebt jedesmal hervor, wenn man zu etwas Neuem kommt, aber teilt der Gemeinde nicht im voraus (oder gar mehrmals, mit erstens, zweitens, drittens) seine Dis­

position mit. Kurz, man predigt so, wie man sonst redet, und spricht nun auch im einzelnen ganz natürlich, nicht in einem besondern Ranzel­ jargon oder mit einem besondern Ranzelpathos. Das hängt wieder mit der Art der Vorbereitung zusammen. Manche Geistliche schreiben ihre predigt wohl vollständig nieder, lesen sie dann aber auch vielfach und nicht nur in der anglikanischen Rirche ab; denn eine predigt genau zu memorieren, fällt nur ganz wenigen ein. Die übrigen binden sich nicht an ihr Manuskript oder arbeiten ihre predigt nur teilweise aus und überlassen die Formulierung des Einzelnen der Eingebung des Augenblicks. Die Engländer und mehr noch vielleicht die Amerikaner sind ja zumeist geübte Redner; sonst kämen sie auch gar nicht mit den zwei predigten zustande, die in der Regel jeder Geist­ liche allsonntäglich zu halten hat. Natürlich verfallen bei einem solchen teilweisen Extemporieren manche Geistliche immer wieder in dieselben Gedankengänge und Redewendungen, oder es laufen ihnen Ausdrücke unter, die doch nicht auf die Ranzel passen. Vie Amerikaner können auch da ihrer Neigung, über alles und jedes ihre, übrigens harmlosen, Scherze zu machen, selten widerstehen; wenigstens erinnere ich mich, drüben keine predigt gehört zu haben, in der sich nicht mindestens an einer Stelle mein Gesicht zu einem Lächeln verzogen hätte. Aber wie schon dagegen unter Umständen nichts einzuwenden ist: im allgemeinen hat doch diese englisch-amerikanische Predigtweise vor der bei uns zumeist herrschenden unleugbare Vorzüge. Eine solche predigt wirkt viel unmittel­ barer und macht daher einen viel tieferen Eindruck, namentlich wenn der Geistliche, wie es in England und Amerika die Regel ist, seine ganze Persönlichkeit einsetzt. Besonders die Amerikaner sind ja einer jugend­ lichen Begeisterung fähig, wie man sie auf unserm Kontinent, dem alten,

Clemen, Evangelisches Gemeindeleben in England u. Nordamerika.

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nur selten noch findet; so verstehen sie es wie wenig andre, ihre Ge­ meinden hinzureißen und zu wirklichen Gemeinden zusammenzuschmieden. Ganz besonders kommt es dabei natürlich auf den Inhalt der predigt an. In England ist sie wohl häufiger als bei uns theologisch in dem Sinne, daß Fragen auf die Ranzel gebracht werden, die wirk­ lich für das religiöse Leben von Bedeutung sind, von der Theologie aber jetzt (oder vielleicht schon längst) anders beurteilt werden, als die meisten Gemeindeglieder annehmen. Ja die Theologie in diesem Sinne wird dort zum guten Teil von den Predigern selbst gemacht; wer, wie ich es vor nun zwanzig Jahren in den Studien und Kritiken versuchte, den „gegenwärtigen Stand des religiösen Denkens in Großbritannien" schildern will, kann es gar nicht vermeiden, fort und fort predigten zu zitieren. Freilich ist nochmals zu betonen, daß es theologische Fragen von praktischer Bedeutung, wirklich religiöse Fragen sind, die so be­ handelt werden; von dogmatischen Spekulationen will man nichts wisien. Und noch weniger in Amerika; da muß vollends alles, was man von der Ranzel hören will, mit Gewissen und Willen ergriffen werden können. Was aber vom christlichen Standpunkte aus beurteilt werden kann und soll, das wird auch auf die Ranzel gebracht. So. ist die Zahl der be­ handelten Themen unendlich viel größer als bei uns, ja, da man zugleich viel spezieller predigt, ist sie faktisch unbeschränkt. Ich setze zur Ver­ anschaulichung des Gesagten einige Themen her, über die im Herbst 1908 in Thikago gepredigt wurde: Der dreihundertjährige Geburtstag John Miltons. Das Tolstoi-Jubiläum. Neue Entdeckungen in Ägypten und die Bibel. Vie französische Krisis und das Evangelium. Die Reformation des 20. Jahrhunderts. Am Vorabend der Wahl. Ein guter Präsident. Ein Staatsmann mit reinen Händen. Was würde geschehen, wenn alle so stimmten, wie sie es vor Gott verantworten können? Uganda, das künftige Jagdgebiet des Präsidenten. 3150 Meilen nilaufwärts, wo Präsident Roosevelt jagen will. Vas Negerproblem. Vie Bibel und die Einwanderung. Vie Lage auf den Philippinen. Ein christliches Ehikago. Wie soll man die hungrigen Rinder von Ehikago füttern? Vie Kirche und das Rind. Unsre Töchter.

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Lebendige Gemeinden. Vie Versuchungen eines jungen Mannes in Ehikago. Eine verständige Ansicht von Vergnügungen.

Vie Weltdame. Dos Frauenstimmrecht. Christi Ruf an den Arbeiter und den Kapitalisten. Ist die Kirche die Freundin des Arbeiters? Die Textbehandlung ist allerdings vielfach sehr frei; ein Bibelwort dient nur als Motto der predigt oder wird umgedeutet und allegorisiert. Aber häufig verstehen es diese Prediger doch auch meisterhaft, einer Stelle eine Beziehung zu geben, an die noch niemand gedacht hatte, und aus einem Text Lehren zu ziehen, die bisher keiner darin gefunden. Und all das zieht die Zuhörer an und veranlaßt sie zum wiederkommen. Ganz besonders dient dazu noch die in England und Amerika so beliebte Einrichtung der Serienpredigten. Man predigt über eine Reihe zusammenhängender Texte oder Themen und kündigt in der ersten solchen Predigt gleich die spätern an. Zumeist geschieht das ja zu­ gleich öffentlich, ebenso wie mit Text oder Thema für einzelne Predigten, durch die Zeitung oder durch Anschlag an der Kirche. Das soll dann zugleich Fremde anziehen, die damit natürlich noch nicht Gemeindeglieder werden, aber, wenn sie gleich zu einer Reihe von Predigten kommen, sich doch vielleicht hergewöhnen. Und auch seitens der Gemeindeglieder ist der Besuch solcher Serienpredigten noch besser als der andrer; wie so manche sonstige Besonderheiten des englisch-amerikanischen Gottes­ dienstes helfen also auch sie dazu, wirkliche Gemeinden zu bilden.

*

*

*

Manche von den vorhin angeführten Predigtthemen hätten sich wohl besser für Vorträge geeignet, und auch sonst wird der Unterschied zwischen Predigt und Vortrag öfters nicht genügend beachtet. Außerdem aber werden neben den Predigten noch eigentliche Vorträge gehalten, in denen alle diejenigen Fragen behandelt werden, die zwar auch für das religiös-sittliche Leben von Bedeutung sind, aber doch selbst nach englisch-amerikanischer Anschauung nicht auf die Kanzel gehören. Die Gemeinde wünscht über sie unterrichtet zu werden und findet sich daher zahlreich zu diesen Vorträgen ein: da sie sich vor- und nachher noch ungenierter als beim Gottesdienst unterhalten kann, da vielfach auch nach dem Vortrag debattiert wird, lernt sie sich noch besser kennen und

schließt sich so wieder noch fester zusammen. Andrerseits wird auch dafür gesorgt, daß sich der Einzelne für sich erbauen kann: man veranstaltet (vrgelkonzerte und geistliche Musik­ aufführungen oder öffnet die Kirche nur zu stiller Andacht. Freilich wirkt das ja nicht direkt gemeinschaftbildend; um so mehr die Feier

dienten, Evangelisches Gemeindeleben in England u. Nordamerika.

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des heiligen Abendmahls, die bei den Nonkonformisten durchweg diesen Charakter der wortlosen Andacht, des gemeinsamen Erinnerungsmahles trägt. Vie Gemeinde bleibt in ihren Bänken sitzen, nur daß vielleicht das wagerechte Brettchen zum Aufstellen des Gesangbuchs noch mit einem weißen Tuch bedeckt und so als Tisch gekennzeichnet ist. Auch der Abendmahlstisch ist wirklich gedeckt und trägt die Kelche und 5chüsseln mit dem geschnittenen Brot; dahinter sitzen der Geistliche und rechts und links von ihm die Altesten. Keine Beichte, keine Vorbereitungs­ rede, überhaupt kein unnötiges Sprechen; es wird ein Lied gesungen, gebetet und dann der Cinsetzungsbericht wiederholt. Der Geistliche ißt von dem Brot und läßt es dann durch die Altesten austeilen, d. h. immer dem am Ende einer Bank Sitzenden geben, der davon nimmt und es dem neben ihm Sitzenden weiterreicht; haben so alle gegessen, so genießen die Altesten, an den Abendmahlstisch zurückgekehrt, selbst einen Bissen. Und entsprechend wird dann mit dem wein verfahren; in Amerika verwendet man übrigens in der Regel alkoholfreien und vielfach Einzelkelche, während der Feier wird kaum gesprochen, nur einzelne Geistliche rufen ihrer Gemeinde von Zeit zu Zeit feierlich einen Spruch zu, der sich auf die Bedeutung des Todes Jesu für uns bezieht. Die (Orgel spielt eine leise, ernste weise; so ist jeder mit seinen Ge­ danken allein und fühlt sich doch als Glied eines größern Ganzen. Itlir haben diese Abendmahlsfeiern, die auch in großen Gemeinden natürlich nur kurze Zeit dauern, immer den allertiefsten Eindruck gemacht; hier fällt alles weg, was an unsern Feiern immer so sehr stört, hier wird das Abendmahl wirklich, so gut es unter unsern jetzigen Verhält­ nissen angeht, in seinem ursprünglichen Sinne gefeiert. So wird es nicht verwundern oder gar verletzen, wenn ich im Anschluß daran bemerke, daß die englischen und amerikanischen Ge­ meinden sich auch dadurch näherzukommen suchen, daß sie sonst zu mahlzeiten zusammenkommen. Namentlich in Amerika findet fast in jeder Kirche allmonatlich ein Abendessen statt, zu dem sich die Gemeinde­ glieder vereinigen, Gäste mitbringen, auch weniger Bemittelte einladen. Da unterhält man sich erst stehend eine Zeitlang miteinander, dann wird ein einfaches Wahl genossen, natürlich nur Wasser dazu getrunken und nachher, während man noch zu Tische sitzt, vom Geistlichen und Vertretern der Gemeinde eine kurze Ansprache nach der andern gehalten, scherzhaft und ernst zugleich, wie das eben der Amerikaner so vorzüglich zu vereinigen weiß. Auch in andrer Form finden gesellige Gemeinde­ abende statt und bringen die einzelnen mitglieder einander immer wieder nahe, wie man zu alledem die geeigneten Räume hat, werden wir gleich sehen.

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Lebendige Gemeinden.

handelte es sich bisher um Veranstaltungen für die ganze Ge­ meinde, so finden solche nun auch für die einzelnen Lebensalter, Stände und Berufe statt. Jeder sieht, daß auch für seine besondern Bedürf­ nisse gesorgt werden soll, und schließt sich deshalb noch lieber und fester einer Gemeinde an. Wie verbreitet die Sonntagsschulen in England und Amerika sind, ist ja bekannt; sie haben ja auch, da wenigstens in den öffentlichen Schulen kein Religionsunterricht erteilt wird, neben der Familie allein für die religiös-sittliche Erziehung der Jugend zu sorgen. Daneben gibt es nicht nur fälschlich sogenannte, sondern wirkliche Rindergottesdienste, entweder für Rinder allein (denen sich vielleicht ältere und einfache Leute zugesellen) oder für Rinder und Erwachsene. Für sie zusammen

wird in fast allen Rirchen Englands einmal im Sommer ein flowerservice und im herbst das harvest-festival gefeiert: die Rinder bringen dazu Blumen und Früchte mit und verteilen sie dann an die Armen und Rranken. hie und da können Eltern auch während des nur für sie bestimmten Gottesdienstes ihre kleinen Rinder unter der Gbhut einer Rindergärtnerin lassen. Weiterhin hält man gelegentlich Gottesdienste und Vorträge für junge Leute und hat für sie namentlich die verschiedensten Fortbildungs­ kurse und Rlubs eingerichtet. Doch das ist ja für uns nichts Neues; der Unterschied ist nur der, daß man in England und Amerika häufiger als bei uns nun auch wirklich alle der Gemeinde angehörigen jungen Leute heranzieht. Außerdem sperrt man die beiden Geschlechter nicht so, wie bei uns noch vielfach, voneinander ab, sondern gestattet ihnen, sich des Abends und Sonntag nachmittags in denselben Räumen aufzu­ halten, mit Lesen oder Spiel zu beschäftigen und sonst zu unterhalten. Ja das ist ganz besonders wichtig, daß jeder junge Mann, jedes junge Mädchen in der Gemeinde durch deren Fürsorge ein gemütliches heim hat, wo sie ihre Freizeit zubringen können. Auch für Erwachsene, und vielleicht wieder entweder für Männer oder Frauen, verheiratete oder Unverheiratete, werden hie und da be­ sondre Gottesdienste und Vorträge gehalten. Raum in einer Gemeinde fehlt das mothers’ meeting, und manchmal tritt ihm noch ein verein für Großmütter und alte Frauen überhaupt an die Seite. Ursprünglich nur für Männer, und zwar zu ihrer religiös-sittlichen Weiterbildung waren die pleasant sunday afternoons oder, wie man sie auch nennt, men’s own (seil. Services) bestimmt, die I. Blackham, Diakon einer kongregationalistischen Gemeinde in West-Bromwich, London, zuerst ein­ richtete. Jetzt dienen sie manchmal nur der Unterhaltung oder poli­ tischen Zwecken, aber die meisten stellen nach wie vor das religiös­ sittliche Moment in den Vordergrund: es wird gesungen, gebetet, eine

Tlemen, Evangelisches Gemeindeleben in England u. Nordamerika.

1)

ober mehrere Ansprachen gehalten und vielfach darüber debattiert. Jedenfalls sind diese Veranstaltungen sehr beliebt, ich habe in London Versammlungen von über 1000 Männern erlebt. Und die Männer ziehen wieder Frauen und Kinber nach sich, so datz man hie und da auch für sie solche P. S. A.s, wie man gewöhnlich abkürzt, eingerichtet hat. Schließlich aber dient alles der Gemeinde; der durch seine Schriften auch in Deutschland bekannte Londoner Prediger $. B. Meyer erzählte gern, als er die Christ Church übernommen, habe fast niemand zu ihr gehört, jetzt habe er allsonntäglich über 2000 Zuhörer dank den P. 8. A.s. Soll ich noch von den Veranstaltungen für einzelne Stände und Berufe sprechen? Der frühere Geistliche am City Temple in London, Dr. Jos. Parker, war wohl der erste, der - Donnerstags von 1 bis 2 Uhr - einen besondern Gottesdienst für kaufmännische Angestellte hielt, die um diese Zeit eine Stunde frei haben, Sonntags dagegen vielleicht nicht zur Rirche gehen können, entweder weil sie draußen auf

dem Lande wohnen und dann froh sind, einmal nicht, wie sonst jeden Wochentag, die Bahn benutzen zu müssen, oder auch weil sie nach den sechs Tagen angestrengter Arbeit in Fabrik oder Bureau nun den ganzen Sonntag im Freien zubringen möchten. Allerdings sind diese Gottesdienste, wie sie dann auch anderwärts eingerichtet wurden und gelegentlich ebenso für andre Berufe gehalten werden, nicht nur für die Glieder einer Gemeinde bestimmt; aber manche schließen sich darauf­ hin doch an die betreffende Gemeinde an, weil sie sehen, diese sorgt auch für ihre besondern Bedürfnisse. Und dieselbe Wirkung hat es, wenn eine Gemeinde, zunächst doch für ihre Mitglieder, eine Rechtsauskunftsstelle und einen Arbeitsnachweis einrichtet, wie das letztere in England vielleicht auch öfter geschieht als bei uns. Wo findet nun aber diese ganze Gemeindepflege statt? Zunächst benutzt man den eigentlichen gottesdienstlichen Raum wohl in ganz England und Amerika auch zu andern Dingen, als eben nur zum Gottesdienst; ja manche Gemeinden gehen soweit, in der Rirche turnen, Tee trinken und tanzen zu lassen. Die meisten haben für diese Zwecke, für Vorträge und Unterrichtsstunden noch einen Saal; ja es wird kaum eine Uirche gebaut, die nicht mit einem solchen (und einer Rüche) ver­ bunden wäre. Aber neuerdings genügt auch das nicht mehr; man sucht, soweit es irgend geht, auch all die andern Räume, deren man etwa bedarf, unter demselben Dach oder in demselben Gebäudekomplex unter­ zubringen. So entstehen die sog. institutional churches, wie sie zuerst in Amerika aufkamen; man mietete mehrere Etagen in einem Wolkenkratzer oder errichtete ein mehrstöckiges Gebäude, in dem alle jene Räume übereinander untergebracht waren. In England liebt man mehr den bei uns sog. gruppierten Uirchenbau, man gliedert an

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Lebendige Gemeinden.

die eigentliche Kirche die andern Gebäude an, deren man bedarf. So hat man namentlich in London schon zahlreiche reizvolle Anlagen geschaffen, die sich auch neben den hohen Häusern der Großstadt ganz anders zur Geltung bringen, als es einer bloßen Predigtkirche möglich wäre, vor allem aber hat dieses Prinzip, das ja auch unter den deutschen Architekten manche Freunde besitzt und hie und da bereits angewandt worden ist, natürlich den großen Vorzug, daß man so sofort übersieht, was eine Gemeinde alles ihren Gliedern bietet. Und das dient natürlich wieder dazu, ihr solche zu gewinnen. * * *

vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen, wie lebhaft namentlich amerikanische Gemeinden auch autzerkirchliche kom­ munale Interessen teilen. (Es berührte mich allerdings zuerst eigentüm­ lich, als in einem der ersten Gottesdienste, die ich in Amerika besuchte, um Unterschriften für eine Petition gebeten wurde, die an eine Cisenbahngesellschaft gerichtet werden sollte und sie ersuchte, elektrischen Be­ trieb einzuführen, da das betreffende viertel durch den Rauch zu sehr belästigt würde. Aber die Gemeinde wollte eben auch dadurch zeigen, daß sie sich für alles interessierte und daß man an ihr bei jedem be­ rechtigten Unternehmen einen Rückhalt hätte. Wie die Gemeinden an dem Kampf gegen den Alkohol teilnehmen, der jetzt die Amerikaner ebenso beschäftigt wie seinerzeit der gegen die Sklaverei, ist ja bekannt. * * *^ handelte es sich bisher um die Gemeindearbeit, die an mehreren zugleich, aber an einem Drte getan wird, so geht man nun den ein­ zelnen auch für sich nach, hier ist zunächst der Church of England zu gedenken, von der der jetzige Bischof von Stepnep, Dr. Ingram, einmal mit Recht gesagt hat: „sie mag sich nicht vieler großer Prediger rühmen können, sie mag von manchen als in sozialer Tätigkeit zurückgeblieben angesehen werden; aber als dies wenigstens wird sie von Freund und Feind anerkannt: als eine große Besucherin". Doch suchen es ihr jetzt in England und Amerika manche Vissentergemeinden mindestens gleich­ zutun. Sch hatte die baptistische Kirche, in deren Nähe ich in Lhikago wohnte, erst einige Male besucht, man wußte, daß ich überhaupt nur auf ein paar Monate dort sei, trotzdem besuchte mich der Geistliche. Und er hat diese Arbeit keineswegs allein zu tun: zahlreiche Gemeinde­ glieder, Männer und Frauen, unterstützen ihn darin, ebenso wie in der Armen- und Krankenpflege.

Diese ganze Tätigkeit fesselt nun aber nicht nur diejenigen enger an die Gemeinde, an denen sie ausgeübt wird, sondern ebenso, wenn nicht mehr, diejenigen, die sie ausüben. Ja darauf beruht vielleicht

Llemen, Evangelisches Gemeindeleben in England u. Nordamerika.

jz

zum guten Teil die Blüte der englischen und amerikanischen Gemeinden, daß sie möglichst vielen ihrer Mitglieder etwas zu tun geben. Der Verfasser der besten praktischen Theologie, die Amerika meines Wissens hervorgebracht hat, Dr. Washington Gladden, sagt: Kein Arbeitsloser das sollte das Motto jeder Kirche sein, und betitelt daher sein Buch: The Christian Pastor and the Working Church. Denn auch die Gemeinde als Ganzes hat nun ihre bestimmten Aufgaben, auch neben der Armen- und Krankenpflege, für die sie die Mittel aufbringt. Sie unterhält vielleicht in einem armen viertel, wo es noch keine Kirche gibt, eine sog. Mission oder bringt die Mittel für einen Missionar im Heidenland auf. So hat man an innerer und äußerer Mission ein viel stärkeres Interesse, als wenn man nur im allgemeinen für sie geben soll. Und doch muß natürlich auch das geschehen, wird aber wieder viel lebendiger als bei uns als Pflicht einer christlichen Gemeinde aufgefatzt. Vas kommt schon in der Art, wie diese Kollekten eingesammelt werden, zum Ausdruck: nicht am Schluß des Gottesdienstes, sondern in ihm, in der Regel vor der predigt. Und zwar geht da nicht etwa stillschweigend der Klingelbeutel herum, wie ja in manchen Gemeinden auch bei uns noch, sondern es wird ausdrücklich angekündigt, jetzt würde die Kollekte eingesammelt werden, und dann geschieht das, ohne daß die Gemeinde etwas andres zu tun hätte, nur die Grgel spielt dazu. Vas erscheint zuerst wie eine Störung, ja Entweihung des Gottesdienstes, und doch wird auf diese Weise zum Ausdruck gebracht, daß zu diesem eben auch die Liebesübung gehört. Daß man keine geschloßnen Büchsen, sondern offene Teller herumreicht und so jeder sieht, was die andern gegeben haben, mag ja auch dazu beitragen, daß man so größere Kol­ lekten erzielt. Aber vor allem liegt es gewiß an jener echt christlichen Auffassung des Gebens, daß besonders für äußere Mission bekanntlich so viel mehr einkommt als bei uns. Und die Gemeinden schließen sich wieder so fest und eng zusammen, weil sie als Ganzes und in ihren einzelnen Gliedern bestimmte Aufgaben zu erfüllen haben. Endlich raten und beschließen die Laien nun auch sonst mit. freilich in der Church of England geschieht das nur in sehr geringem Umfang; das ist einer ihrer Hauptmängel. Um so größer ist der Einfluß der Laien in den Freikirchen, am allergrößten bei den Kongregationalisten, den alten Independenten, von denen sich aber, was Verfassung der Kirche betrifft, die Baptisten und Unitarier kaum unterscheiden, hier entsteht ja eine, zunächst ganz unabhängige, Gemeinde eben dadurch, daß sich einzelne Laien zusammenschließen. Auch weiterhin wird man ihr Mitglied nur durch förmlichen Beitritt. Und daraus beruht nun in letzter Linie und vor allem die Lebendigkeit der englischen und amerikanischen Ge­ meinden: es will jeder etwas an seiner Gemeinde haben, sonst würde

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Lebendige Gemeinden.

er nicht zu ihr gehören. Man wird wohl auch aus unsern Parochien nur lebendige Gemeinden machen können, wenn man irgendwie nach englisch­ amerikanischem Vorbild zwischen bloßen adherents, die ja freilich jetzt dieselben Steuern bezahlen und deshalb die gleichen Rechte beanspruchen können, und wirklichen members unterscheidet, die zu einer lebendigen Gemeinde gehören wollen. Doch das ist „ein weites Feld".

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Daß das englisch - amerikanische Gemeindeleben, von dem ich eine natürlich sehr lückenhafte Skizze zu geben versucht habe, wirklich An­ ziehungskraft ausübt, mögen zum Schluß noch einige Zahlen beweisen. Nach einem im Winter 1902/03 von den Daily News veran­ stalteten Zensus — ein neuerer scheint nicht stattgefunden zu haben — hätten in dem eigentlichen London Sonntags 2 235 152 Menschen in die Kirche gehen können, nämlich alle diejenigen, die weder zu alt, noch zu jung, weder krank waren, noch in geschlossenen Anstalten irgend­ welcher Art lebten oder am Sonntag zu arbeiten hatten. Tatsächlich taten das regelmäßig 832 051 oder 42 °/o, und von ihnen wieder waren nicht weniger als 39 °/o sog. twicers, sie gingen zweimal in die

Kirche. Ja für das sog. größre London, die entfernteren Vorstädte, stellte sich das Verhältnis der möglichen und wirklichen Kirchgänger wie 885 016 zu 420 382 oder 100 zu 47, also noch günstiger. Vie vereinigten Staaten hatten im Jahre 1910, dem letzten, über das mir eine Statistik vorliegt, etwa 92 Millionen Einwohner. Davon gehörten 35 Millionen als Kommunikanten irgendeiner Kirche an; denn wenn die genaue Statistik für alle sog. Kirchen 35 332 776 ergibt, so werden unter jenen das Judentum, der Buddhismus, Shinto, Kom­ munismus, Sozialismus, Spiritismus, Theosophismus und die ethische Kultur mitverstanden; ihre Anhänger belaufen sich aber eben höchstens auf 300 000. Außerdem ist allerdings zu beachten, daß die Katholiken 85 °/o der ganzen katholischen Bevölkerung als Kommunikanten zählen; will man also die katholische ebenso wie die andern Kirchen behandeln, die nur Erwachsene zählen, so muß man von ihren 12 321 746 Kom­ munikanten, die die Statistik angibt, einige Millionen abrechnen. Aber auch wenn von den 92 Millionen Einwohnern nur etwa 30 Millionen Erwachsener irgendeiner Kirche angehören, so ist das offenbar ein sehr hoher Prozentsatz. Gewiß hat diese immer noch sehr große Kirchlichkeit von England und Amerika verschiedne Gründe. Aber einer dieser Gründe ist sicher auch, daß vielfach das Sulzesche Ideal lebendiger Gemeinden längst mehr oder minder verwirklicht ist.

(Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend.

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2.

Die Gemeinde und ihre Jugend, von Pastor

Johannes (Eger

in Barmen.

(Es ist ein für den heutigen Stand unseres kirchlichen Gemeinde­ lebens vernichtendes Urteil, daß unter den vielen Mitteln, die erwogen werden, um der allgemein anerkannten Jugendnot zu steuern, in der Öffentlichkeit so gut wie nie die Gemeinde genannt wird. von der Uirche erwartet man immerhin noch etwas, wenn auch nicht viel. Ihr fällt die Bufgabe der religiös-sittlichen Unterweisung zu, die man womöglich auch noch im Fortbildungsschulalter fortgesetzt wissen möchte. Wie wenig aber die (Erziehung durch den bloßen Unterricht, auch wenn dieser Unterricht mit Seelsorgergeschick gehandhabt wird, nachwirkt, das haben wir leider vor Bugen und kommt glücklicherweise der Bllgemeinheit immer mehr zum Bewußtsein. Für die Bildung des Charakters erweist sich die einseitige intellektuelle Erziehung, wie sie Uirche und Schule nur zu lange getrieben haben, als völlig unzureichend. Mehr als von der Uirche erwartet man daher für die Jugend schon von den christlichen Vereinen. Sie können und sollen das bieten, was Unterricht, Bnsprachen und Uatechisationen nicht zu bieten ver­ mögen und wofür doch ein starkes Bedürfnis gerade auch in der Jugend vorhanden ist: Gemeinschaft. In richtiger Erkenntnis der Sachlage gehen die christlichen Jugendvereine infolgedessen immer mehr aus den Händen der Innern Mission in die Hände der Uirche und des geordneten Bmtes über. Bber die Vereine und Organisationen, die man zum Zwecke der Jugendpflege schafft, stehen viel zu wenig mit dem Leben der Jugend im Zusammenhang. Einmal ist ihre Basis nicht breit genug. Ihre Brbeit ist zumeist nur auf eine bestimmte Brt der Frömmigkeit zu­ geschnitten, die gerade der Jugend am allerwenigsten entspricht, und die, auch wenn sie die alleinberechtigte wäre, von der Jugend noch nicht verlangt werden darf. Daher erreichen diese Vereine nur einen ganz bestimmten, meist recht kleinen Ureis innerhalb der großen Masse des jungen Volkes. Der Mehrzahl der christlichen Vereine, die sich der

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Lebendige Gemeinden.

Jugendpflege widmen, fehlt es zurzeit noch an dem rechten Wirk­ lichkeitssinn, an dem psychologischen Blick für die Jugend, wie sie nun einmal ist. Sie gehen nicht von dem Tatbestand aus, sondern bringen ihre fertigen Ideale, ganz gleich ob sie diese bekehrte Christen oder christliche Persönlichkeiten nennen, an die naturgemäß noch unfertigen, noch im Werden befindlichen jungen Leute heran und stoßen dadurch viele ab oder erzielen bei andern eine gewisse Frühreife. Einseitigkeit ist der Mangel jedes Vereinslebens, zumal da, wo Berufsarbeiter oder -arbeiterinnen, die in einem Anstaltsleben aus­ gebildet sind, und nicht Männer und Frauen, die praktische Arbeit leisten und in denselben Lebensverhältnisien wie die Jugend stehen,

die geistige Leitung des Vereins in der Hand haben. Dieser Mangel macht sich bei den Jugendvereinen um so fühlbarer geltend, weil die Glieder solcher vereine noch der Zeit ihrer ungebrochenen Individua­ lität und Originalität, also der Kindheit, die aller Vereinsschablone zu­ wider ist, besonders nahe stehen. Dazu kommt, daß das Vereinsleben immer nur zu gewissen Zeiten, etwa Sonntag abend für etliche Stunden, in Kraft treten kann. Für die übrige, bei weitem längere Zeit der Woche bleibt die meist trügerische Hoffnung, daß jene kurzen Stunden des Zusammenseins im vereine nicht vergeblich gewesen sind und bis auf die Straße und in die Arbeitsstätte nachwirken. Es liegt uns fern, Mut und Freudigkeit zur Vereinsarbeit zu zer­ stören. Die christlichen Jugendvereine haben mehr geleistet und leisten mehr, als man ihnen nachrechnen und damit vor der Öffentlichkeit be­ weisen kann. Ihre jahrzehntelange stille, verborgene Arbeit soll nicht vergeßen werden. Sie waren auf dem Plane, ehe die Instanzen an Jugendpflege dachten, die heute in dieser Sache das große Wort führen. Ihre Zeit ist auch jetzt noch nicht vorüber, wer aber auf das Ganze, auf die Massen sieht, wird nur zu leicht diese Vereinstätigkeit zu unter­ schätzen geneigt sein. Indessen, selbst wenn ein verein innerlich und äußerlich wächst, blüht und gedeiht, er bleibt doch immer nur ein Not­ behelf. vereine sind nicht das Letzte und Beste, womit der Jugend ge­ dient werden kann. wichern hat wohl auch gar nicht an solche vereine, wie wir sie haben, gedacht. Ihm lag der Schwerpunkt der Jugenderziehung in der Familie oder, wo diese fehlt, in dem Ersatz derselben durch familien-

haftes Zusammenleben. Dieses Letztere hat er wiederum nicht gefaßt in dem Sinne des üblichen Anstaltslebens, sondern in dem Sinne der Familienfreiheit, die nur durch die Liebe gebunden ist. Er wußte, daß für die Charakterentwicklung des Menschen nichts so ausschlaggebend ist wie die Gesellschaft, das Milieu, in dem er groß wird. Darum hat er auf die Familie als auf das fundamentale religiös-sittliche Kraft-

(Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend.

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Zentrum hingewiesen und sein eigenes Familienleben in diesen Dienst gestellt. Vie Heimatluft der Familie kann durch nichts ersetzt werden. Ist sie schlecht, so werden die schädlichen Wirkungen schwerlich durch das, was Schule und Kirche an sog. erziehlichen Unterricht leisten, aufgehoben werden. Vas ist geradeso, wie wenn ein Kind aus einer tuberkulös verseuchten Familie jedes Jahr vier Wochen in die Ferien­ kolonie geschickt wird. Gewisse Besserungen treten ein, aber sie liegen meist nur auf der Oberfläche und werden nur zu schnell wieder auf­ gehoben. Schließlich erliegt doch in der Regel der Mensch der viel zu tief in seinem Organismus wurzelnden Krankheit. Ist aber die Heimatluft der Familie eine gute, dann ist zwar auch noch lange nicht gesagt, daß das aus solcher Familie herauswachsende Kind nicht ver­ loren geht, aber es ist doch „von Haus aus gesund" und darum in viel höherem Maße befähigt, Krankheiten, die ja nicht ausbleiben, zu überstehen und anderswo eingeatmete Krankheitserreger als Fremd­ körper von sich auszuscheiden. Nun wächst kein Kind bloß in seiner Familie auf. Die Luft des Hauses ist bedingt durch die Luft, die das Haus umgibt und die durch Fenster und Türen, durch Ritzen und Fugen in das Haus hineindringt. Der Geist der Familie wird stark beeinflußt durch den Geist der nächsten und weiteren Umgebung. Das können wir beobachten an den Familien, die von dem Land in die Stadt ziehen. Sie werden nur zu oft im Laufe weniger Jahre innerlich ganz andere infolge der ganz andern sittlich-religiösen Atmosphäre, deren Einwirkungen sie sich nur selten ent­ ziehen können. Ihre Kirchlichkeit hatte den stärksten halt in der kirch­ lichen Sitte des Dorfes. Mit der Unkirchlichkeit der großstädtischen Umgebung wurden auch sie unkirchlich. Selbst da, wo eine Familie sich hermetisch gegen die zersetzenden Einflüsse von außen her abzu­ schließen vermag und in sich und unter sich die alte Zucht und Ordnung beibehält, selbst da, wo die Eltern nicht angesteckt werden von der sie umgebenden schlechten Luft, wird es sich nicht vermeiden lassen, daß die Kinder, daß die Jugend außerhalb der vier^wände des Hauses einem zuchtlosen und unordentlichen Geiste zum Opfer fallen. Die Familie ist eben nicht der alleinige Mutterboden, aus dem die Zukunft unseres Volkes herauswächst. Sie ist es um so weniger, je näher die Familien neben- und übereinander wohnen und je früher die Kinder in das Leben hinaustreten. Vie Jugenderziehung kann daher nicht bloß eine Privatsache der Familie sein. Sie muß als eine allgemeine Aufgabe derer anerkannt werden, die zusammenwohnen, also der Lokalgemeinde, wichern bedarf der Ergänzung durch Sülze. Unsere Aufgabe an der Jugend beschreibt sich nicht in einem Kreise, dessen Zentrum die Familie ist, sondern in einer Ellipse, deren Lebendige Gemeinden.

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Lebendige Gemeinden.

einen Brennpunkt die Familie, deren andern aber weder Schule, noch Kirche, noch Staat, sondern die Gemeinde bildet. Die Not unserer Jugend mutz die christlichen Familien zusammenzwingen zu der gemein­ samen Sorge für ihre Rinder. (Es ist unwürdig und unklug, datz sich die einzelnen christlichen Familien nur kümmern um ihre Rinder, um sie zu erziehen, so gut es eben noch geht. Aber den Mut und die Liebe besitzen die wenigsten, sich ohne unerwünschte Einmischung in an­ dern Familien doch auch deren Rinder mit einer gewissen Selbstverständ­ lichkeit und sachlichen Ruhe anzunehmen, soweit sie autzerhalb des Be­ reiches ihrer Familien sich ungebührlich betragen. Datz wir dahin ge­ kommen sind, solches im wesentlichen der Polizei oder der Schule, die auch oft nur als Polizei wirkt, zu überlassen, datz wir dahin gekommen sind, Rinder bei einer fremden Instanz zu verklagen, das ist eine Bankrott­ erklärung der erziehlichen Autorität der christlichen Gemeinde. Wir haben Recht und Pflicht, unsern christlichen Gemeinsinn in Liebe und Ernst ohne Nervosität und Prüderie gegenüber der Jugend, die unter unsern Augen aufwächst, zu betätigen. Denn wir sind an ihrem inneren Werden und nicht blotz an dem unserer eigenen Rinder ursächlich mitbeteiligt, zumal beider Werden sich gegenseitig bedingt. Daher muh die Summe der christlichen Familien, das ist die christliche Gemeinde und nicht blotz der Vater und die Mutter, der Lehrer und der Pastor sich für ihre Jugend verantwortlich wissen. Dann wird auch die Jugend sich ver­ antwortlich wissen gegenüber der Gemeinde, die sie umgibt und deren Auge sie allezeit und überall auf sich gerichtet sieht nicht als ein Auge des Gesetzes, sondern als ein Auge heiliger Liebe. Um solches zu erreichen, ist es das mindeste Erfordernis, datz der Pastor nicht blotz seinen bestimmten Bezirk hat, sondern auch in diesem Bezirke wohnt und also in des Wortes eigentlicher Bedeutung in seiner Bezirksgemeinde zu Hause ist. Datz in den Städten immer noch mehr als ein Pastor neben die Rirche plaziert wird, ist nicht zu billigen. Die Wohnung des evangelischen Pastors, der ja keine Messen mehr zu lesen hat, gehört nicht neben das Rirchengebäude, sondern in den Bezirk, für den er da ist, damit er nicht blotz besuchsweise dort weilt, sondern, sooft er auf die Stratze tritt, sich mitten unter den Menschen und unter der Jugend befindet, die ihm anvertraut sind. Ein Gleiches mutz die christliche Gemeinde von ihren Lehrern ver­ langen. Das ist eine viel wichtigere Forderung, die sie an die Schule zu stellen hat, als geistliche Schulaufsicht oder auch Leitung resp. Kontrolle des Religionsunterrichtes durch die Pastoren. Das ist sogar noch wich­ tiger als die Mitwirkung des Pastors im Schulvorstande. Es gibt volk- und damit kinderreiche Industriebezirke, in denen grotze Schul­ gebäude stehen mit je 24 Schulklassen. Aber nur zwei oder drei dazu-

(Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend.

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gehörige Lehrer haben ihre Wohnung in den betreffenden Bezirken. Auf dem Rad eilen die andern des Morgens in die Schule, um nach Vollendung der Unterrichtsstunden die Gegend wieder ebenso eilig zu verlassen, während der übrigen Zeit des Tages, wenn die Rinder auf den Straßen und Plätzen sind, bekommen sie ihre Lehrer nicht zu sehen und bekommt der Lehrer sie nicht zu-sehen. (Es ist dankenswert und verdient Nachahmung, daß z. B. eine Stadt wie Barmen wenigstens noch ihre Rektoren an deren Schulbezirk bindet, indem sie ihnen neben oder in dem Schulgebäude eine Dienstwohnung einräumt. Über auch für die andern Lehrer sollte es trotz aller Schwierigkeiten um der Er­ ziehung willen angestrebt werden, auf daß auch sie unter denen wohnen und leben, unter denen sie ihre Praxis haben, Fehlt es an geeigneten Wohnungen, so sind solche zu beschaffen. Pastor und Lehrer sind aber noch lange nicht die Gemeinde. Ruch ist in vielen kleinen Gemeinden, besonders auf dem Lande, das bereits zum Segen verwirklicht, was für die Großstädte angestrebt werden muß. viel schwieriger ist es, die Gemeinde selbst für die Erziehung der Jugend in Aktion zu setzen. Das Einfachste wäre die Anstellung eines Jugend­ pflegers und einer Jugendpflegerin. Da, wo man die Not empfindet, be­ tritt man auch schon diesen Ausweg. Die Gemeinde bewilligt die Mittel und glaubt damit, im großen und ganzen ihre Pflicht erfüllt zu haben. Dieser Weg führt jedoch nicht zum Ziele. Geld kann die persönliche Leistung, die verlangt werden mutz, niemals ersetzen. Vie Anstellung von Jugend­ pflegern und Jugendpflegerinnen dient leicht zur Beschwichtigung des Gemeindegewissens und ist darum als ein Abweg oder nur als ein Hilfsweg zu bezeichnen. $ür die Vereinsarbeit mag eine bezahlte Kraft unentbehrlich sein. Die Gemeinde kann sich damit nicht begnügen, von ihr muß mehr, mutz etwas anderes verlangt werden. Die Ge­ meindeglieder müssen sich selbst für ihre Jugend interessieren. $rei von allen Sonderinteressen und Parteirücksichten, die die Jugend nicht werden und wachsen lassen, sondern sie in ein bestimmtes, fettiges Netz einzufangen suchen, mutz die Gemeinde darauf bedacht sein, ihrer Jugend in deren Entwicklung zu dienen und zu helfen, damit der in ihr liegende Ldelkern zur Entfaltung gelange und nicht in der Sturm- und vrangperiode des Lebens verkümmere oder verderbe, welcher politischen oder kirchlichen Partei sich die mannbar gewordene Jugend später anschließt, kann und muß der christlichen Gemeinde gleichgültig sein. Es hieße die Jugend vergiften, wenn man sie, die doch naturgemäß noch unselbständig ist und kein reifes Urteil haben kann, mit dem Gift unseres öffentlichen Lebens bereits infizieren wollte. Jugendarbeit muß mehr als irgendeine andere kirchliche Arbeit den Geist der Freiheit atmen. Es gilt, der Jugend christlichen Geist ent2*

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Lebendige Gemeinden.

gegenzubringen, aber nicht, sie in denselben hineinzuzwingen, sondern sie hineinwachsen zu lassen. (Es gilt, der Jugend Jesum Christum so lebendig nahe wie nur irgendmöglich zu bringen, Gott es aber anheim­ zustellen, wie das Verhältnis des Einzelnen zu dem Herrn und Meister sich gestalte und auswirke. Gerade die christliche Gemeinde darf der Jugend gegenüber keine Politik der Angst und hetze treiben, sondern mutz von dem vertrauen leben. Vas kann sie um so mehr, als sie sich bewutzt ist, das Beste zu bieten, was geboten werden kann, und als den wahren Werten gegenüber allen Scheinwerten, den höchsten Werten gegenüber den niederen eine unbedingte Überlegenheit inne­ wohnt. Zudem strebt das Menschenherz ganz von selbst zu Jesus hin. 3it diesem prozetz Kirnst oder Gewalt brauchen, hietze die feinen Schwingungen des Herzens in Unordnung bringen. Jede Treiberei ist ein Geständnis der eigenen Schwäche und eine Verkennung der Eigen­ tümlichkeit der Jugend als der Zeit, in der der Mensch wird und werden will. Die Arbeit der christlichen Gemeinde kann daher nur auf breitester Basis erfolgen. Aber auch dann werden sich noch lange nicht alle Hausväter und Hausmütter der Lokalgemeinde bereit finden, ihrer Jugend gegenüber die christliche Gemeinde energisch und würdig zu vertreten, teils weil es ihnen an Gemeindebewutztsein überhaupt fehlt, teils weil es ihnen an spezifisch christlichem Bewutztsein gebricht. (Es werden also zunächst diejenigen sich zusammenschlietzen müssen, die so­ viel christliches Gemeindebewutztsein haben, datz sie ihre Pflichten gegen­ über der Gemeindejugend erkennen. Nicht zu einem neuen verein darf dieser Zusammenschlutz führen. Der 3dee entspricht am besten eine freie Organisation, in deren Mittelpunkt Pastor und Lehrer der Gemeinde stehen. Diese in ihrer Erziehungsarbeit mit Rat und Tat zu unterstützen, ein offenes Auge für die Jugend zu haben überall da, wo man ihr begegnet, sie solches in liebevoller Weise frei von aller Pedanterie auch merken zu lassen, dabei sich selbst eines vorbildlichen Wandels zu befleißigen, das und nichts anderes sind die praktischen Aufgaben. Ihre Erfüllung und einheitliche Durchführung in die Wege zu leiten, dazu eignen sich am besten regelmäßige Elternabende, allerdings nicht in dem üblichen Sinne von Unterhaltungs- und Familienabenden, auf denen die Jugend in Turnen, Musizieren und Deklamieren zeigt, was sie kann. Auch diese Veranstaltungen haben ihre Berechtigung, dienen aber nicht in erster Linie dem Zweck der Gemeindejugender­ ziehung. Dazu müssen die Eltern zusammenkommen ohne die Jugend, um teils allgemeine Erziehungsfragen, teils die lokalen Rote und Schwierigkeiten, teils die individuellen Sorgen und Beobachtungen zu

(Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend.

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besprechen und sich gegenseitig das herz immer wieder warm zu machen und den Mut zu stärken. (Eben diese Zusammenkünfte tragen wesentlich dazu bei, das Bewußtsein zu wecken und zu heben,, daß es sich in der Bezirksgemeinde um eine große Familie handelt, die ein gemeinsames Interesse an ihrer Jugend hat. Die Pädagogik der Familie ist im Gegensatz zu der Pädagogik der Schule so wenig aufdringlich wie nur möglich. Sie hat zwar auch ihre Momente, in denen sie persönlich und aktuell wird. Sie geht wohl auch bisweilen aggressiv vor, indem sich die Eltern entschließen, irgendeine besondere pädagogische Maßregel zu ergreifen. Aber die Familienerziehung beruht auf einer ganzen Reihe von Imponderabilien, deren erziehliche Bedeutung der Jugend selbst gar nicht zum Bewußt­ sein kommt, denen der Stempel erziehlichen Wertes und erziehlicher Absicht nicht so deutlich sichtbar aufgedrückt ist. (Es ist die ganze Familienätmosphäre, in der die Rinder äufwachsen, die Luft des Hauses, die sie unbewußt einatmen, von ihr gehen die entscheidenderen Wir­ kungen aus. Sie bestimmen die seelische Konstitution des Rindes am nachhaltigsten. Dementsprechend verhält es sich auch bei der großen Familie, die sich in der christlichen Gemeinde darstellt. Wie sich nun in der Familie der Familiengeist, wenn er sich nicht verflüchtigen will, gießen muß in eine feste Hausordnung und ganz wie von selbst sich auch eine solche schafft; wie schon in den Bildern an der Wand, in den Möbeln und Hausgeräten der Geist des Hauses seinen wirksamen Ausdruck findet und dem Gast ankündigt, wes Geistes Rinder hier wohnen, so mutz natürlich auch der christliche Gemeingeist sich ausprägen in ungeschriebenen Sitten und Ordnungen, in sichtbaren Zeichen und Symbolen, die zu der Jugend reden und auf sie ein­ wirken. Was davon zurzeit in der christlichen Gemeinde vorhanden ist, ist viel zu dürftig und das Leben der Jugend zu wenig umfaffend. Die alte Rirchenzucht entspricht nicht mehr dem christlichen Gemeingeist und ist daher ganz von selbst weit und breit eingeschlafen. Alte Sitten der Vergangenheit künstlich aufrechtzuerhalten oder zu beleben, ist in unsern Tagen zwar ebenso modern, wie die Vorliebe für alte Moden und Volkstrachten. Dieses Bestreben führt jedoch zur Hohlheit und zu ge­ machtem Wesen. Erst muß das Zusammengehörigkeitsgefühl derer geweckt werden, die wirklich zusammengehsren, die mit ihrem ganzen Sein und Werden aufeinander angewiesen sind, erst muß in den gegenwärtigen Ge­ meinden das Bewußtsein gegründet werden, daß sie große Familien sind, deren einzelne Glieder sich gegenseitig zu erziehen verpflichtet sind und die gemeinsam für die Jugend ihres Bezirkes Sorge tragen müssen, dann vermögen sich auch wieder Sitten zu bilden, die sittlich sind und sittlich wirken. Wir müssen nur endlich die Scheu überwinden, als seien Sitte

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Lebendige Gemeinden.

und Sittlichkeit einander ausschlietzende Gegensätze. Wir müssen klar sehen lernen in bezug auf den wert der Sitte, um jegliche Überschätzung und Unterschätzung zu vermeiden, wir dürfen in ihr zwar nicht Zweck und Ziel der Erziehung, aber ein doch nicht zu entbehrendes und nicht zu verachtendes Mittel der Erziehung erblicken. Dann werden wir auch die Freudigkeit gewinnen, den Rest der in unserer Gemeinde noch le­ bendigen Sitten zum Wohle unserer Jugend wirksam auszubauen. Natürlich läßt sich auf diesem Gebiete weniger als auf irgend­ einem anderen etwas machen und aus der Erde stampfen. Es mutz werden. Und dazu braucht es Zeit. In einer jungen Ehe ist auch nicht gleich alles fertig, und was vorhanden ist, trägt nur selten den ausgeprägten Eharakter an sich, den wir in einem alten Hauswesen spüren und der uns dort so wohltuend kräftig berührt. Uber die jungen Eheleute können doch bewutzt Hand anlegen, datz auch ihr Haus seinen Charakter immer mehr ausprägt. Die christliche Gemeinde steht ja erst in ihren Anfängen. Sie will sich erst bilden. Das hindert indessen nicht, sondern verpflichtet geradezu diejenigen, die sie bilden wollen, daran zu arbeiten, datz ihr Wesen als christliche Gemeinde und als christliche Gemeinde immer stärker zum Ausdruck und zur Geltung gelange. wie die Derhältnisie jetzt liegen, steht nur die Rindheit in wirk­ licher Berührung mit dem Gemeindeleben, während Äe Jugend im gewöhnlichen Sinne sich selbst überlasten bleibt, soweit sich nicht christ­ liche vereine ihrer annehmen. Für das Rind haben wir bereits eine feste Gemeindeordnung, die sich einer bei kirchlichen Einrichtungen sel­ tenen Popularität erfreut. Das ist die Rindertaufe und die Konfirmation, durch die das Leben des Rindes vom Gemeindeleben eingerahmt wird.

Die Konfirmation ist die das Gemeindeleben am zusammenfastendsten und deutlichsten darstellende kirchliche Handlung. 3n ihr haben wir eine wirkliche Gemeindefeier. Sie den Rindern vorzuenthalten, wird oft ganz unkirchlichen Eltern schwer, nicht wegen der Rechte und Vor­ teile, die mit der Konfirmation verbunden sind, sondern weil es als Ehrensache gilt, an diesem Tage seine Rinder unter den Rindern der Gesamtgemeinde zu sehen. Klag auch die Gestaltung der Feier selbst besonders in bezug auf Bekenntnis und Gelübde der Reform dringend bedürfen, sie bildet doch das stärkste Bindeglied zwischen der Gemeinde und ihrer Jugend und nicht etwa blotz zwischen dem Pastor und der Gemeindejugend. Daher ist bei Lage der verhältniste die Konfirmation der feste Punkt, von dem aus das Verhältnis von Gemeinde und Jugend rückwärts und vorwärts zu ordnen ist. Da Ronfirmandenunterricht und Taufe die conditio sine qua non der Konfirmation sind, so fehlt es ihnen, wenn auch bisweilen nur

(Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend.

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deswegen, nicht an einer gewissen Wertschätzung in weiten Kreisen des evangelischen Volkes. Nur trägt die Taufe viel zu sehr internen, familiären Charakter. Ihre Bedeutung als Aufnahme des Rindes in die christliche Gemeinde — denn das ist schon die Taufe und nicht erst die Konfirmation - tritt fast ganz in den Hintergrund, wenigstens in der Taufrede sollte darauf hingewiesen werden. (Es wäre aber durchaus wünschenswert, wenn die Paten mehr Vertreter der christ­ lichen Gemeinde als der Familie wären. Jedenfalls sollte ohne Paten kein Rind getauft werden; und wenn es den Eltern an solchen fehlt oder sie nicht in der Lage sind, die verlangten zwei zu nennen, dann mutz es als die Pflicht der christlichen Gemeinde angesehen werden, dem Rinde einen Paten aus ihrer Mitte zu stellen. Auf diese Weise käme die Gemeinde zu einer geordneten Vertretung gegenüber ihren Rindern, die auch für den Fall, datz Vormundschaft erforderlich werden sollte, vün Bedeutung werden könnte. Die Taufhandlung selbst zu einer wirklichen Gemeindefeier zu gestalten, wird wohl nur in kleinen verhältniflen möglich sein. Immerhin ließe sich bei den vielfach im Besuche stark gesunkenen Nebengottesdiensten die Einführung von Tauf­ gottesdiensten auch in größeren Gemeinden versuchen. Datz dann das getaufte Rind nicht erst wieder kurz vor der Konfirmation die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf sich lenken darf, sondern schon vorher Gelegenheit hat, nicht bloß indirekt durch Haus und Schule, sondern auch direkt durch Rindergottesdienst mit der Ge­ meinde in Berührung zu kommen, ist glücklicherweise heutzutage kaum noch besonders zu fordern. Es ist ein Unfug, Rinder vom gottesdienst­ lichen Leben der Gemeinde auszuschlietzen. Das geschieht aber, wenn man sie am Gottesdienst der Erwachsenen teilnehmen läßt. Sie sitzen da und sind doch nicht da. (Es bliebe zu überlegen, ob man nicht den Rindern den Besuch des sogenannten Hauptgottesdienstes um der andern Besucher und um ihrer selbst willen geradezu verbieten sollte. Für die Rinder der Gemeinde ist der Rindergottesdienst da. Derselbe ist natür­ lich nicht eine Angelegenheit der Innern UUssion, sondern der Gemeinde, von deren Mitteln und Amt er getragen und geleitet wird. Als solcher gehört er auch in die Kirche, nicht in die Winkel, sondern in die Öffentlichkeit. Er soll auch nicht Rindergottesdienst heißen und Sonn­ tagsschule sein. Sonntagsschulen brauchen wir in Deutschland nicht. Das, was wir brauchen, sind Versammlungen, in denen sich die Ge­ meinde in ihren Rindern darstellt und erbaut. Natürlich werden auch sie lehrhaft wirken, und es bleibt ihre vornehmste Aufgabe, die Seelen der Rinder zum großen Freund der Rinder zu führen. Dabei darf aber die andere Aufgabe nicht außer acht gelassen werden, die wir als die pflege christlich-sozialen Sinnes bezeichnen möchten. In den

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Lebendige Gemeinden.

Rindern mutz das Gemeindebewutztsein, das Zusammengehörigkeitsgefühl im Sinne von Röm. 3,23 und Gal. 3,28 geweckt und gepflegt werden. Vas würde in höherem INahe erreicht werden, wenn auch Erwachsene sich hin und wieder an den Rindergottesdiensten beteiligten und den Rinderpredigten lauschten, jedenfalls ist dies viel wünschenswerter als umgekehrt die Beteiligung der Rinder am Gottesdienst der Erwachsenen. Der eigentliche Gemeindeunterricht ist der Ronfirmandenunterricht. Es ist bedauerlich, wenn gerade an diesem Punkte des Gemeindelebens aus persönlichen Gründen die parochialen Grenzen so oft durchbrochen werden. Läßt sich dies noch ertragen, wenn es sich dabei um wirkliche und berechtigte Ausnahmen handelt, so ist es doch vom Standpunkt der Gemeinde aus entschieden zu verwerfen, wenn die Rinder höherer Schulen in privaten Kreisen unterrichtet werden oder, wie dies in

Städten häufig der Fall ist, sich aus allen Bezirken bei einem Pastor zusammenfinden, der nicht ihr Bezirkspastor ist. Gewiß ergeben sich technische Schwierigkeiten, wenn Rinder, die einen verschiedenen Bil­ dungsgang durchgemacht haben, nun plötzlich zusammen unterrichtet wer­ den sollen. Mer diese Schwierigkeiten sind nicht unüberwindlich. Vie christliche Gemeinde sollte sich diese Gelegenheit, heutzutage fast noch die einzige, die Rinder aller Volksklassen, die auf der Straße aneinander vorübergehen und sich täglich sehen, weil sie zusammenwohnen, in Fühlung miteinander zu bringen, nicht entgehen lassen. (Es kann und mutz bei einigem Geschick und Takt des Pastors sich ein heilsamer Aus­ tausch ergeben, der in dem Bewußtsein, zusammen unterrichtet und ein­ gesegnet zu sein, noch lange nachchirkt, auch wenn die beiderseitigen Lebenswege nachher weit auseinander gegangen sind. Davon hat sicher­ lich schon jeder Seelsorger im Gespräch mit älteren Gemeindegliedern Runde empfangen. Der Ronfirmandenunterricht muß natürlich auch als Gemeinde­ unterricht gegeben werden. Vas in ihm sich anbahnende persönliche Vertrauensverhältnis des Pastors zu „seinen" Rindern soll gewiß nicht unterschätzt werden. Aber die Person des Pastors muß doch schließlich zurücktreten hinter der Gemeinde, in deren Auftrag er den Unterricht erteilt und die das Bleibende ist in der Pastorenerscheinungen Flucht. Vie Rinder vertraut zu machen mit der Bedeutung der christlichen Ge­ meinde für das christliche Leben des Einzelnen, mit ihren Einrichtungen und Betätigungen, erscheint mir als Ziel des Ronfirmandenunterrichtes. Venn die Rinder sollen Freudigkeit gewinnen, an dem Leben der Ge­ meinde teilzunehmen und mit ihr um ihrer Güter und Gaben willen in dauernder lebendiger Beziehung zu bleiben. Nur so steht zu hoffen, daß die Aussaat jenes Jahres vor der Konfirmation nicht zu schnell wieder vom Winde verweht wird und daß das persönliche Christentum,

(Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend.

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das doch unmöglich mit der Konfirmation zum Abschluß gelangt sein kann, im Schatten der Gemeinde sich weiter und reicher entwickelt. Für die Zeit nach der Konfirmation ist aber heute jedes Banb zwischen der Gemeinde und ihrer Jugend so gut wie gelöst. Zwar hat die Jugend eben erst feierlich gelobt, sich treulich zu Gottes Wort und Tisch zu halten und sich willig der Zucht und Ordnung der Kirche zu unterwerfen. Aber sehr bald danach hört der Besuch des Gemeinde­ gottesdienstes bei der Mehrzahl fast ganz auf. Das liegt gewiß nicht bloß an der (Eigentümlichkeit der Jugend, die die Freiheit und Unge­ bundenheit liebt und etwas darin sucht, sich nicht mehr auf die Kirchen­ bank, die mit der Schulbank für sie eine verzweifelte Ähnlichkeit hat, zu setzen. Vas liegt auch nicht lediglich daran, daß sie ihr Konfirma­ tionsgelübde in jener geweihten Stunde am Altar nicht ernst genommen hat. Gewiß mag das bei nicht wenigen zutreffen, aber es hieße, das bewegte und ergriffene Gemüt der Konfirmanden verkennen, wollte man eine solche Geichgültigkeit auch nur bei der Mehrzahl voraussetzen. Spott und kirchenfeindliche Bemerkungen von anderer Seite mögen eben­ falls ihren Teil dazu beitragen, daß das anfänglich vorhandene Intereffe am kirchlichen Leben immer mehr einschläft. Die Gemeinde muß sich aber doch auch die Frage vorlegen, ob sie ihrer Jugend etwas bietet, wodurch sie dieselbe zu fesseln vermag, ob sie nicht auch ein gewisses Maß von Schuld trägt, wenn ihr die im Konfirmandenunter­ richt erworbene Sympathie der Jugend so schnell wieder verloren geht. Sind denn unsere Gemeindegottesdienste wirklich dazu angetan, die jungen Leute festzuhalten? An den Kindergottesdiensten finden sie natur­ gemäß keinen Geschmack mehr. Aber daß sie an den Gottesdiensten für die Erwachsenen auch keinen Geschmack finden, kann man ihnen doch gar nicht so übelnehmen. Diese setzen viel zu viel und andere Erfahrungen voraus, als daß sie in der Jugend den genügenden Re­ sonanzboden finden könnten. Ihre Predigten sind und sollen sein Kraft und Trost für die, die in der Sünde und Not des Lebens mitten drin­ stehen. Sie gehen, gerade wenn sie ihren eigentlichen Zweck erfüllen, nicht nur über den Kopf, sondern auch über das herz der Jugend hinweg und können daher in der Regel die Seele der Jugend nicht packen und bewegen. Mag auch manches Wort für sie abfallen, im allgemeinen entsprechen sie nicht dem, dessen der junge Mensch für sein inneres und äußeres Leben bedarf, und werden das um so weniger tun, je bester sie sind. Cs zeugt von einer totalen Verkennung der Jugend und ihrer Seele, wenn man von ihr verlangt, sie solle sich an dem erbauen, woran sich lebenserfahrene und gereifte Männer und Frauen erbauen. Lin Siebenzehnjähriger ist etwas anderes als ein vierzig- oder gar Sechzigjähriger. Ein junges Mädchen ist etwas

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Lebendige Gemeinden.

anderes als eine Mutter oder eine Großmutter. Die Jugend in den Gottesdienst für die Erwachsenen führen, das heißt, sie zur Langeweile

verurteilen, sie zum Schlafen und Träumen über dem heiligen verleiten und ihr vielleicht für das ganze Leben den Gemeindegottesdienst ver­ ekeln. Gewiß werden einige frühreife Gemüter, ohne Schaden zu nehmen an ihrer Seele, mit innerem Gewinn an ihm teilnehmen können. Aber Frühreife ist nicht das Natürliche und Wünschenswerte. Der Besuch des Gemeindegottesdienstes darf der Jugend selbstver­ ständlich nicht wie den Rindern verwehrt und erschwert werden. Aber es muß der Jugend, und zwar besonders der männlichen Jugend, ein anderer, ein besonderer Gottesdienst geboten werden, in dem sich die Jugend der Gemeinde zusammenfindet und eigens für die Jugend ge­ redet wird. Jugendpredigten sind ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit. Denn die Jugend braucht nicht in erster Linie Trost, sondern Ideale. Wer die Allgemeinheit der Jugend tröstet, der stößt sie ab und schadet ihrer inneren Entwicklung. Die gesunde Natur der Jugend reagiert dagegen wie von selbst. Auch die Liturgie dieser Jugendgottesdienste mutz dem Verständnis der Jugend mehr angepaßt, frischer und vor allen Dingen kürzer sein. Zwischen dem Uindergottesdienst und dem Erwachsenengottesdienst klafft im Gemeindeleben eine Lücke, die ausgefüllt werden muß. In früheren Zeiten hat die sogenannte Christen­ lehre diese Lücke ausgefüllt. Sie hat sich überlebt und ist vielfach schon ganz eingeschlafen oder hat nur noch für das erste Jahr nach der Kon= firmation eine gewisse Bedeutung. Der Wunsch, sie wiederzubeleben und auf die späteren Jahrgänge auszudehnen, wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Ihr lehrhafter, katechetischer Charakter erinnert zu sehr an die Schulzeit, als daß unsere heutige Jugend sich dadurch an­

gezogen fühlen könnte. An die Stelle der Christenlehren sind in manchen Gegenden die Unterredungen mit der konfirmierten Jugend getreten. Diese sind aber mehr seelsorgerlicher Natur, private Unternehmungen des Pastors, die des gemeindlichen Charakters entbehren. Ihr Wesen und ihre Art entspricht mehr der personal- als der Lokalgemeinde. Darum können auch sie nicht als Brücke zwischen Uindergottesdienst und Erwachsenengottesdienst in Betracht kommen. Es bleibt nur die Ein­ führung eines besonderen Jugendgottesdienstes übrig. Gb die Jugend dazu kommen wird? Das wird in hohem Maße davon abhängen, ob der Uonfirmandenunterricht sein Ziel erreicht hat und ob der der Jugend entsprechende Ton in Rede und Liturgie ge­ troffen wird. Das wird weiterhin abhängen von der Art und Weise, wie die Gemeinde sich sonst noch um ihre Jugend Kümmert, ob sie überhaupt etwas für sie tut oder ob sie sie sich selbst überläßt, ob in dem, was sie tut, das direkt Erbauliche schon so in den Vordergrund

(Eger, Die Gemeinde und ihre Jugend.

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tritt, datz ein besonderer Gottesdienst überflüssig erscheint, aber wiederum auch nicht derart in dem Hintergründe steht, datz das Interesse dafür schwindet. Bet allem, was die christliche Gemeinde für ihre Jugend tut, darf nicht verleugnet werden, datz es sich um die christliche Ge­ meinde und um die christliche Gemeinde handelt. 3u den Andachten und Bibelstunden der Vereine, so wichtig und segensreich sie auch sein mögen, wird sich nie ein grötzerer Kreis zusammenfinden, auch wenn „jedermann herzlich dazu eingeladen" ist. Solange die direkt religiöse Beeinfluflung, die die Gemeinde ihrer Jugend gewährt, sich auf der Basis von Vereinen vollzieht, geschieht in lvirklichkeit für die Gemeindejugend nichts. Diese jugendlichen Erbauungsstunden müssen heraus aus den Winkeln der Vereinsräume in die Öffentlichkeit des Gemeindelebens, in

die Kirchen. Auf diese weise ist erst tatsächlich jedermann die Mög­ lichkeit gegeben, daran teilzunehmen, ohne zuvor die enge Pforte eines Vereines passieren zu müssen. Einige unserer sogenannten Nebengottes­ dienste brauchten nur zu Gottesdiensten umgestaltet zu werden, die be­ sonders für die Jugend da sind. Nehmen auch Männer und Frauen daran teil, so werden diese Gottesdienste der Jugend erst recht wichtig sein. Aber sie selbst muh dabei so im Vordergründe stehen, wie sie bei der jetzigen Art unserer Gottesdienste im Hintergründe steht. Gb die Jugend in großer Zahl Kommen wird, bleibt dann immer noch eine Frage. Aber wir haben nicht nach dem subjektiven Bedürfnis, sondern nach dem objektiven Bedürfnis zu fragen und danach zu entscheiden, was geschehen mutz. Auf diesem Wege könnte auch die Gemeinde dem größten Fehler, den sie an ihrer Jugend begeht, begegnen. Es ist geradezu unverant­ wortlich, datz Kinder von vierzehn Jahren nach der Konfirmation als mündige Glieder der Gemeinde angesehen und mit dem Alter auf gleiche Stufe gestellt werden. Alle Rechte, die die christliche Gemeinde zu ver­ geben hat, übergibt sie am Tage der Konfirmation gänzlich unreifen Gliedern. Denn selbst das Wahlrecht wächst den Konfirmierten mit den Jahren von selbst zu, ohne datz es weiterer kirchlicher Qualifikationen bedarf. Vas Bewußtsein, von der Gemeinde mit allen Rechten bereits belehnt zu sein, mutz verderblich auf die konfirmierte Jugend wirken und den wert der Gemeinde in ihren Augen herabsetzen. Die jungen Leute müssen wissen, datz sie sich erst Sitz und Stimme in der Zahl der mündigen Gemeindeglieder erwerben müssen. Die Erteilung des Wahl­ rechtes und auch des patenrechtes darf nicht von der Konfirmation ab­ hängig gemacht werden, sondern von einer Willenserklärung, die in einem reiferen Alter, in den Jahren zu erfolgen hat, in denen erst die Jugendzeit ihren Abschluß findet und der Übertritt in das öffentliche Leben sich vollzieht. Frühestens das 21. und spätestens das 25. Lebens-

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Lebendige Gemeinden.

jähr kommt dafür in Betracht. Heinrich Matthes macht in seinen „Aus­ sichten und Aufgaben der evangelischen Landeskirchen in der Gegen­ wart" (Studien zur prakt. Theologie III, 1), Gießen 1909, 43 ff. bereits Vorschläge, die näher zu untersuchen und zu entwickeln hier nicht der Grt ist. Jedenfalls muß die Gemeinde irgendwie einen feierlichen Akt finden, der die Jugendzeit abschlietzt, wie dies bei den Jahren der Kindheit durch die Konfirmation geschieht. Wie die Taufe infolge der sich immer fühlbarer machenden Taufnot die Konfirmation seinerzeit aus sich selbst herausgesetzt hat, so muß und wird die Konfirmation

infolge der immer fühlbarer werdenden Konfirmationsnot etwas Neues aus sich heraussetzen zu ihrer eigenen Entlastung und zu vollständigerem und geordneterem Aufbau des Gemeindelebens. Der ganzen Arbeit der Gemeinde an ihrer Jugend würde dadurch ein praktisches, greifbares Ziel gesetzt, das ihr jetzt noch fehlt. Ihre Notwendigkeit würde der Gemeinde und der Jugend klarer zum Be­ wußtsein kommen und das gegenseitige Interesse erstarken lassen. Die Erziehung, die die christliche Gemeinde ihrem Nachwuchs zuteil werden läßt, verliefe nicht mehr im Sande, sondern fände einen bedeutungs­ vollen Abschluß. Vie ganze Jugendpflege würde eingegliedert in die Etappenstraße kirchlicher Arbeit, die bezeichnet wird durch die drei festen Punkte: Taufe, Konfirmation und Mündigkeitserklärung.

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

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3.

Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission. von Pfarrer D.

Paul Grünberg

in Straßburg i. E?

Über da§ Verhältnis von Innerer Mission und Gemeinde oder Kirche ist geredet, geschrieben und gestritten worden, solange man überhaupt von Innerer Mission redet, das heißt seit etwas über 60 Jahren, stuf der Tagesordnung des ersten Kongresses für Innere Mission (1849) stand schon das Thema: Die Innere Mission als Ge­ meindearbeit. Mir werden demgemäß bei der Besprechung des Ver­ hältnisses von Innerer Mission und evangelischer Gemeinde sachgemäß davon ausgehen, wie „der Vater der Inneren Mission", lvichern, dieses Verhältnis sich gedacht hat. Wir verfolgen dann, welche Wandlung die Begriffe Innere Mission und Gemeinde und ihr Verhältnis bei dem klas­ sischen Vertreter des Gemeindegedankens, Sülze, erfahren haben, um zuletzt das theoretische und praktische Ergebnis der bisherigen Verhandlungen kritisch zusammenzufassen. Somit zerfällt unsre Studie in drei Teile. *) Diese Skizze beruht in der Hauptsache auf folgenden stufsätzen und Schriften des Verfassers aus den letzten Jahren, in denen sich die näheren stusführungen und Belege finden: 1. Wicherns Anschauungen über die Innere Mis­ sion in ihrem Verhältnis zu Kirche, stmt und Gemeinde (Monatschrift für pastoraltheologie, April 1908); 2. Die parochialverhältnisse in großen Städten (Monatschrift für pastoraltheologie, Juli und August 1908); 3. Der Einfluß der Inneren Mission auf die Auffassung von Pfarramt und Gemeinde (Monats­ blätter für Innere Mission, Mai und Juni 1909); 4. Die Arbeit der Inneren Mission in ihrem Verhältnis zu der Arbeit der kirchlichen Gemeinde und ihrer Organe (Die Innere Mission im evangelischen Deutschland, Januar und Februar 1910); 5. Die evangelische Kirche, ihre Organisation und ihre Arbeit in der Großstadt (praktisch-theologische Handbibliothek, 14. Band)', Göttingen 1910; 6. Die I. Konferenz für evangelische Gemeindearbeit in Braunschweig (Monat­ schrift für pastoraltheologie, Juni 1910); 7. Innere Mission und Gemeinde­ arbeit in Stadt und Land (Monatsblätter für Innere Mission, Dezember 1910); 8. Verlauf und Ertrag der II. Konferenz für evangelische Gemeindearbeit in Darmstadt (Monatsblätter für Innere Mission, Mai 1911).

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Lebendige Gemeinden.

I. Die Innere Mission hatte in der Kirche und neben der Kirche ihr Recht und ihre Stellung sich zu erkämpfen, Wichern wurde, insbesondere von hochkirchlich-lutherisch-konfessioneller Seite, in den vierziger Jahren schon daraufhin angegriffen, daß die Innere Mission, die „Dereinerei" und „Vereinzelei" die Kirche nicht baue, sondern störe, daß das kirchliche Amt unter dieser Betonung der Laienarbeit leide und die Grenzen der Konfessionskirchen bei der Arbeit der Inneren Mission verwischt würden. Lutheraner wie Löhe haben damals schon in aller Schärfe der Inneren Mission das Gemeindeprinzip entgegengehalten und von diesem Prinzip aus die Arbeit der lvichernschen Inneren Mission teils als schädlich, teils als überflüssig bezeichnet. Ebensolchen Angriffen gegenüber er­ klärte Wichern auf jenem ersten Kongreß für Innere Mission: Etwas Neues könnL nicht gleich in allen seinen Beziehungen zu dem vorhan­ denen erkannt werden; erst die Entwicklung, das Leben, die Praxis könnten diese Klarheit bringen. Man wird Wichern nicht zu nahe treten, wenn man behauptet, daß es bei ihm selbst zu einer vollkommnen Klarheit auch später nicht gekommen ist. vielmehr gehen unausgeglichen oder doch nur notdürftig für die Praxis verbunden drei begrifflich und theoretisch verschiedene Auffassungen des Verhältnisses von Innerer Mission und Kirche bei ihm nebeneinander her, die wir folgendermaßen definieren können: 1. Die Innere Mission ist nur ein Notbehelf; sie übernimmt Ar­ beiten, die „die Kirche" übernehmen sollte; und in dem Maß, als die Kirche sie übernimmt, wird die Innere Mission überflüssig. Diese Auffaffung hat ihren sozusagen offiziellen Ausdruck gefunden in dem § 1 der Satzungen des „Zentralausschusses für die Innere Mission der deut­ schen evangelischen Kirche" vom 9. Januar 1849: „Die Innere Mission umfaßt nur diejenigen Lebensgebiete, welche die geordneten Ämter der evangelischen Kirche mit ihrer Wirksamkeit ausreichend zu bedienen nicht imstande sind, so daß sie diesen in die Hände arbeitet und in dem­ selben Maße ihre Aufgabe für gelöst ansieht, als die Wirksamkeit des kirchlichen Amts sich erweitert." Die Rücksicht auf das Mißtrauen der Amtsträger ist hier deutlich spürbar; die „Gemeinden" selbst werden gar nicht erwähnt; sie erscheinen lediglich repräsentiert durch „die ge­ ordneten Ämter der evangelischen Kirche"; und als solches kam damals in praxi fast nur das Pfarramt in Betracht, denn abgesehen von einigen altreformierten Kirchengebieten und etwa der rheinisch-westfälischen Kirche gab es damals in den deutschen evangelischen Landeskirchen kaum Laienämter und Gemeindevertretungen, die diesen Namen ver­ dienten. Wichern hat allerdings auf dem berühmten Kirchentag von Wittenberg (1848) schon laut die Forderung erhoben: Die „Kirche"

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

zi

mutz innere Mission treiben, wie sollte aber diese ideelle Forderung tatsächlich durchgesetzt werden, wenn die Kirchenbehörden sich zurück­ hielten, wenn soundsoviel Pfarrer selbst „ungläubig" waren oder aus beschränktem Amtsbewußtsein nicht mitmachten, wenn Gemeindevertre­ tungen mit Initiative fehlten, wenn in den großen Städten abge­ grenzte Gemeinden nicht vorhanden und überhaupt die meisten Gemein­ den „tot" waren? Unter diesen Umständen wandte sich wichern eben an die willigen Kräfte, wo er sie sand. Er erklärte auch offen, man könne nicht von irgendeiner Amts- und Kirchentheorie, sondern man müsse vom Leben, von den konkreten Notständen und Bedürfnissen aus­ gehen. Und der Zukunft müsse es überlassen werden, wann die Kirche die notwendige Arbeit selbst übernehmen kann und will. Die These, daß eigentlich die Kirche die Arbeit der Inneren Mission treiben müsse, verlor auch noch dadurch an praktischer Bedeutung, daß diese Kirche im Sinne wicherns sich eigentlich mit der konkreten Landeskirche gar

nicht deckte, sondern eine ideelle Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe war, die wichern gelegentlich in einen scharfen Gegensatz zu der „Staatskirche" als einer halb weltlichen Einrichtung setzte. Nichtsdesto­ weniger wird dann doch wieder auf die konkrete Landeskirche, ja auf die lokalen Einzelgemeinden als die berufenen Träger der Inneren Mission reflektiert. 2. Neben diesem Gedanken, daß die Innere Mission nur ein vor­ übergehender Notbehelf sei wegen der unvollkommenen kirchlichen Zu­ stände — wir leben in einem großen „Ausnahmezustand", sagt Wichern einmal -, geht aber ebenso bestimmt der andere einher, Kirche und Innere Mission haben es mit zwei verschiedenen Arbeitsobjekten zu tun, die Kirche, bzw. das geistliche Amt, mit den normalen, gesunden, lau­ fenden Seelenbedürfnissen, die Innere Mission mit dem Kranken, Ge­ fährdeten, heillosen, verlorenen. Insofern bleibt ihre Arbeit geschieden. Und auch ihre Kräfte und Mittel bleiben verschieden, sofern die Kirche mit dem geordneten Amt arbeitet, die Innere Mission mit freien, frei­ willigen, charismatischen Kräften und Gaben, die innerhalb der ge­ ordneten Ämter und infolgedessen innerhalb der Kirche gar nicht zur vollen Entfaltung kommen können. In diesem Zusammenhang versteigt sich wichern gelegentlich zu der Bemerkung, daß der Pfarrer als solcher und von Amts wegen mit der Inneren Mission gar nichts zu tun habe, nur nebenamtlich und freiwillig vermöge des allgemeinen geistlichen Priestertums, hieraus ergibt sich dann der Schluß, daß das Ideal eine Synthese, ein entsprechendes Hand-in-Hand-arbeiten von Kirche und Innerer Mission sei, damit nicht eine chaotische Verwirrung der Liebes­ arbeit entsteht, sondern „die in den Vereinen sich sammelnde Kraft für das Gemeindeleben als solches fruchtbar gemacht und in das Gemeinde-

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Lebendige Gemeinden.

bett zurückgelenkt werde, damit dieses nicht zuletzt ausdorre, während die abgelenkten lebendigen Wasser das Land überfluten". 3. Aber auch hierin erschöpft sich der Begriff und Beruf der Inneren Mission für wichern noch nicht. Sein letzter und höchster Be­ griff ist vielmehr der, datz die Innere Mission eine durch die im vierten Jahrhundert vollzogene Wandlung der Kirche in eine Volks-, Massenund Staatskirche notwendig gewordene, in der Reformation mächtig ein­ setzende, alles umfassende geistliche, religiöse und sittliche innere Reform­ bewegung sei, welche Kirche, Staat, Wissenschaft, Kunst, Volkswirtschaft, ja das gesamte Kulturleben umfaßt, und deren Ziel kein geringeres ist als die völlige Durchdringung aller äußerlich der christlichen Kirche an­ gehörigen Kreise, aller Getauften, mit den Heils- und Segenskräften des Evangeliums, mit Gottes wort und Gottes Geist. In diesem vollen Sinn ist die Innere Mission der höhere, der allumfassende Be­ griff, dem auch Kirchen- und Gemeindearbeit nur als Teilarbeit sich einstigen können, heißt es nach jener ersten Formulierung: „die Kirche muß Innere Missson treiben", so kann man auf diesem Standpunkt sagen: die Innere Mission muß die Kirche, ja schließlich alles treiben, wichern war nicht ein Systematiker und Theoretiker der Inneren Mission, sondern durch die Tat schöpferisch, anregend, bahnbrechend. Daß seine besten und fruchtbarsten Gedanken sich nicht zu einer logischen Einheit zusammenfügen, dies Schicksal teilt er mit einem Größeren, mit Luther. Die Theoretiker und Systematiker sind es überhaupt nicht, die das Leben am wirksamsten beeinflussen, denn das Leben ist kein aus einem Systeme und Guß sich logisch entwickelnder Aufbau, sondern ein Kompromiß von theoretisch und logisch unvereinbaren Strebungen und Kräften, die in stetem Kampf sich auseinandersetzen. Unfertig, wie

die Theologie Wicherns, ist auch seine Theorie von Kirche und Innerer Mission und seine Bestimmung des Verhältnisses von Innerer Mission und Kirche. Aber praktisch hat er den Kirchenbegriff umgestaltet, dem kirchlichen Leben einen neuen Inhalt gegeben, der Theologie und den Kirchenbehörden neue Aufgaben gestellt, den Horizont der Pfarrer er­ weitert, die Laien mobil gemacht, neue Fäden geknüpft zwischen dem Volksleben und dem kirchlichen Leben, durch die vereine, Anstalten, (vrgane und Kongresse der Inneren Mission gegenüber der herrschenden Isoliertheit und Beschränktheit der großen und kleinen Landeskirchen das Solidaritätsgefühl der „deutschen evangelischen Kirche" mächtig ge­ stärkt, ja nicht zum wenigsten diesen Begriff erst in Aufnahme gebracht und durch alle diese Anregungen und Motive zwar nicht direkt die Gemeindearbeit und Gemeindeorganisation gefördert, ja zeitweise und stellenweise sie vielleicht in ihrer Entwicklung gehemmt, aber doch, auf

das große Ganze angesehen, die Voraussetzungen schaffen helfen, unter

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission. denen

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evangelischer Gemeindeleben im modernen Sinn sich entfalten

konnte.

II. Inwieweit hat Sülze diese Entwicklung gefördert, weitergeführt, umgebildet, inwieweit insbesondere das Verhältnis von Innerer Mission und Gemeinde neu bestimmt? Sülze steht auf den Schultern von wichern ganz besonders in dem Hauptpunkt, datz die Liebestätigkeit, und zwar die organisierte Liebes­ tätigkeit, als notwendige Lebensbetätigung der evangelischen Kirche und Gemeinde auch von ihm gefordert und sozialethische Aufgaben der Kirche als zu ihrem innersten lvesen gehörig zugewiesen werden. Das war das verhältnismäßig Neue, welches die wichernsche Innere Mission zur Geltung gebracht hat. Daß der Glaube sich in der Liebe betätigen mutz, ist freilich so alt wie das Christentum selber. Die katholische Kirche des Mittelalters hat auch eine reiche Liebestätigkeit entfaltet. Die Reformation hat im Prinzip von der evangelischen Gemeinde die Betätigung der helfenden Liebe an Armen, Kranken, Witwen, Waisen, auch Fremden und notleidenden Glaubensgenossen verlangt. In der Hauptsache und in der Praxis, insbesondere auf dem deutsch-lutherischen Kirchengebiet, erschöpfte sich aber Begriff und Aufgabe der Gemeinde in dem Begriff der Bekenntnis- und Kultusgemeinschaft (Wort Gottes, Sakrament, Lehre, predigt) und der Gemeinschaft christlicher Zucht (Beichte, Absolution, Kirchenzucht). Der Pietismus hat zwar gegenüber

der Lehre das Leben und die Liebe betont, ohne aber eine organische Verbindung der Liebestätigkeit mit dem kirchlichen Leben zu erreichen und anzustreben. Daß zum Wesen der kirchlichen Gemeinschaft die Liebestätigkeit, die Fürsorge für die geistlich und leiblich notleidenden Glieder gehört und ohne diese der Zweck der kirchlichen Gemeinschaft überhaupt nicht erfüllt wird, das betont und praktisch durchgesetzt zu haben, bleibt ein Hauptverdienst der durch wichern inaugurierten In­ neren Mission. Und hierin sehen wir das wichtige Bindeglied zwischen Wichern und Sülze, zwischen der Inneren Mission und dem Sulzeschen Gemeindeideal. Der Fortschritt, die Weiterbildung und Umbildung durch Sülze liegt nun zunächst darin, datz die Aufgabe der christlichen Liebestätig­ keit mit der Einzel- und Lokalgemeinde in eine viel engere Verbindung gebracht wird. Bei Wichern fehlen zwar keineswegs dahingehende An­ deutungen und Ansätze. Aber sie treten mehr in Form gelegentlicher Gedanken, frommer Wünsche, letzter Ziele, Zukunftshoffnungen auf. Der Schwerpunkt der praktischen Arbeit, das nächste Ziel der Bestrebungen ist bei ihm auf die Werke der Inneren Mission als solcher, auf die Aus­ bildung und Ausbreitung ihrer Kräfte, Grgane, vereine, Anstalten und Lebendige Gemeinden.

-z

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Lebendige Gemeinden.

Veranstaltungen, aus die Erkenntnis der vielfachen Notstände und ihre Bekämpfung gerichtet, wicherns eigentümliche Gaben gerade für solche Propaganda, der tatsächliche Mangel an Gemeindeorganisationen, an die er hätte anknüpfen können, nicht zum wenigsten gewiß auch der Um­ stand, daß wichern selbst kein Gemeindepfarrer war und also nicht so persönlich und unmittelbar an der Gemeindebildung interessiert, alle diese Umstände wirkten zusammen, um der organisierten evangelischen Liebes­ tätigkeit zunächst eine Richtung zu geben, die nicht so direkt zur Ge­ meinde hinführte. Sülze geht von den Erfahrungen im praktischen Gemeindeamt einer Großstadt, von der konkreten Einzelgemeinde aus. Sülze findet auch, etwa 40 Jahre nach wichern in Rktion tretend, einen weit fortgeschritteneren Zustand von bürgerlichen und kirch­ lichen Gemeinderechten, von bürgerlicher und kirchlicher Gemeindeselbst­ verwaltung vor. Endlich aber kommt ihm und seiner Gemeindetheorie die neue Theologie Ritschls entgegen, unter deren Einfluß er steht, ohne im übrigen dogmatisch ein Schüler Ritschis zu sein. Eben in der Zeit, wo wichern müde und krank vom öffentlichen Schauplatz sich zurückzog, ging Ritschls Stern auf. Metaphysik und Spekulation zurückdrängend, rückt Ritschl die praktische ethische Lebensrichtung und die tätige ethische Weltgestaltung in den Vordergrund. Besonders wichtig ist aber für unsere Frage, daß er das aus dem Glauben an Christus resultierende versöhnungsbewußtsein und Vertrauensverhältnis zu Gott stets bezogen wissen will auf den Zusammenhang des Einzelnen mit der „Gemeinde". Freilich war die Gemeinde in Ritschls System durchaus nicht identisch mit der rechtlich verfaßten Rirche oder der empirischen Gemeinde, viel­ mehr „ein ideelles und überzeitliches Ganzes", selbst „Gegenstand des religiösen Glaubens im Unterschiede von aller sinnenfälligen Wahr­ nehmung". Und es wäre eine sehr dankenswerte Studie, zu verfolgen, wie jener ideelle religiöse Begriff der Gemeinde in Ritschls Schule, in der kirchlichen Rrbeit und in der praktischen Theologie sich gleichsam verwandelte in ein konkretes und reales kirchliches Gemeindeprinzip. Schon 1890 faßte der erste „Evangelisch-soziale Rongreß", wesentlich getragen von den Vertretern der modernen Theologie, eine Resolution zugunsten der Organisation lebendiger Gemeinden. Ich vermute, daß es gerade Sülze war, der seit 1887 durch seine Veröffentlichungen in Zeitschriften, ganz besonders aber durch „Die evangelische Gemeinde" (1891) die praktische Umprägung des Gemeindegedankens und im Zu­ sammenhang damit das Rufkommen der Schlagwörter „Gemeindearbeitz Gemeindeprinzip, Gemeindeideal" ganz wesentlich mitbestimmt hat. So angesehen erscheint Sulzes Werk als eine eigentümliche Verbindung wichernscher und Ritschlscher Gedanken und Impulse. Ritschi und die moderne Theologie wirkten auf die Weiterbildung

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

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und Umbildung der Bestrebungen der Inneren Mission auch dadurch wesentlich ein, daß bas Interesse für Innere Mission sich allmählich los­ löste aus der engen Verbindung mit einer bestimmten theologischen und religiösen Anschauung, in der es bei Michern erscheint, Wicherns Grund­ lagen liegen in der religiösen Erweckung, die mit dem neueren Pietis­ mus und durch diesen mit der neuen Orthodoxie eine bedeutsame Ver­ bindung eingegangen ist. Ritschl, ohne Parteitheologe sein zu wollen und bei aller theologischen Bildung und Weitherzigkeit, hat doch nie ein hehl daraus gemacht, daß der „Rationalismus" für ihn der „Un­ glaube" ist, von dem er keine christliche Liebestätigkeit im vollen Sinn des Wortes, zumal keine evangelisatorisch- missionarische Tätigkeit er­ wartet. Durch den Bund mit dem neuen Pietismus und der Kestaurationstheologie wurde so die Innere Mission in eine Verwandtschaft und Gemeinschaft mit konservativ-reaktionärer Staats- und Weltanschauung gebracht. Das allein dient auch zur Erklärung und Entschuldigung der Tatsache, daß der Protestantenverein die Innere Mission jahrzehntelang völlig ignorierte und z. B. Schenkel noch 1862 bas Rauhe Haus als eine Stätte des Muckertums leidenschaftlich bekämpfte. Ritschl und Sülze haben, jeder an seinem Teil und in seiner weise, bas große Verdienst, die moderne und die liberale Theologie für die christliche Liebestätig­ keit gewonnen und ihren Anhängern den weg zum Zusammengehen in „praktischer Liebesarbeit" und Gemeindearbeit mit orthodox-pietitistischen Rreisen unter Zurückstellung der „theologischen Differenzen" gebahnt, eben damit aber Gemeindearbeit in weiteren Rreisen angeregt zu haben. Das konnte freilich nicht geschehen, ohne daß bas Moment, welches für wichern eigentlich die Seele, tiefster Beweggrund und letztes Ziel aller Inneren Mission gewesen, die Verkündigung und Verbreitung des Wortes Gottes, des Evangeliums von Christo, an allen Orten und mit allen Mitteln, im spezifischen Sinne der Bekehrung, des LrwecklichErbaulichen und Aggressiv-Evangelisatorischen, zurückgestellt wurde hinter bas Lharitative, Diakonische, humanitäre, Ethisch-Soziale. Auch Sülze hat diese Umbildung mitgemacht, freilich, im Unterschied von vielen andern, mit dem entschiedenen Vorbehalt, daß alle Liebesarbeit schließlich im Dienste der Seelsorge steht und das geschichtlich und genuin Lhristliche durchaus nicht in eme Humanitätsreligion und bloße Wohltätigkeit verflacht werden darf. Nähert sich so Sülze Wichern in einem wichtigen religiösen Interesse und unterscheidet er sich von gewissen Ausläufern der modernen Schule, die wenigstens in der Praxis bas Religiöse und Seelsorgerliche hinter dem Humanitären und Sozialen stark zurücktreten lassen, so bleibt naturgemäß bei der verschiedenen religiösen und theologischen Richtung und Anschauung beider doch ein gewisser Unterschied des Interesses 3*

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Lebendige Gemeinden.

und infolgedessen auch der Praxis zwischen Sulzescher Gemeindearbeit und den Zielen und dem Geist der älteren Inneren Mission. Diese nicht wegzuleugnende religiöse und theologische Spannung zwischen den Modernen und den Altgläubigen, Konservativen, positiven und Orthodoxen hat dann auch ohne Zweifel mitgewirkt bei der Leiden­ schaftlichkeit und Lebhaftigkeit, mit der namentlich in den neunziger Jahren die Gemeindearbeit der Inneren Mission entgegengestellt und die verkirchlichung, bzw. vergemeindlichung der Inneren Mission verlangt wurde. (Es war nicht nur eine Frage der Taktik, der Technik, der Praxis, der Organisation, ob auf diesem oder jenem Wege, durch Amt und Gemeinde oder durch „vereine" und Anstalten die Liebestätigkeit und Seelsorge besser geübt werden konnte, sondern dahinter steckte viel­ fach ein Mißtrauen und eine Abneigung gegen den Geist vieler An­ stalten, vereine, Vertreter und Organe der Inneren Mission. Bet der Frage des Verhältnisses von Innerer Mission und Gemeinde wirkte teils unbewußt, teils ausgesprochenermaßen der Wunsch und das Bestreben mit, die Gemeindearbeit sicherzustellen gegen von außen kommende hemmende und störende Einwirkungen einer anders orientierten und interessierten Frömmigkeit und Christlichkeit. Andeutungsweise wenigstens macht sich diese Spannung bemerkbar auch in der Art, wie Sülze in seinen grundlegenden Werken („Die evangelische Gemeinde" und „Reform der evangelischen Landeskirchen")

über das Verhältnis von Innerer Mission und Gemeinde sich ausspricht. Er tut es unter dem Titel „Gemeinde und vereine": Man kann es der Kirche nicht verdenken, sagt er, wenn sie zu den vereinen sich „spröde" verhält. Sie will ihre Aufgabe selbst lösen, „fremde Hilfe abweisen". Und zwar muß in der evangelischen Kirche grundsätzlich jede Gemeinde alles darbieten, was zur Erreichung ihres Ziels notwendig ist. Beson­ dere kirchliche vereine können nur zu dem Zweck entstehen, die offizielle Kirche auf ein neu entstandenes Bedürfnis aufmerksam zu machen und ihr die Mittel zu seiner Befriedigung zu gewähren. Sie müssen in der Absicht gebildet werden, sich selbst sobald als möglich entbehrlich zu machen, halten sie diese Absicht nicht inne, so können sie, so wohl­ tätig sie sonst auch wirken mögen, nur der Kirche die Kraft entziehen und sie zerstören. Jeder verein vertritt eben ein kirchliches Interesse nur einseitig; an sich wird es in der Kirche besser vertreten. So sollte z. B. jede Gemeinde selbst ein Protestantenverein oder ein Evangelischer Bund sein. Der Gustav-Adolf-Verein, der verein zur Verbreitung der heiligen Schrift, der verein für äußere Mission greifen am wenigsten in das Leben der Kirche ein. vielleicht kommt die Zeit, wo auch ihre Tätigkeit auf die Kirche übergehen kann. Wer aber weiß, wie un­ absehbar lange Zeit die Kirche noch brauchen wird, bis sie ihre nächste

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

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Aufgabe gelöst, nämlich seelsorgerisch tätige Gemeinden gebildet hat, der kann diesen vereinen nur aufrichtig danken, daß sie fürerst treu und mit so grotzer Liebe ihr Werk tun. Eine eigentümliche Stellung nehmen die vereine für Innere Mission ein. Soweit sie sich bemühen, Anstalten zu errichten, die in christlich evangelischer Weise zur Rettung aus leiblicher und Seelennot bestimmt sind, so weit gilt auch von ihnen, daß die Kirche es ihnen nie genug danken kann, wenn sie ihr Auf­ gaben abnehmen, zu deren Lösung ihr gegenwärtig die Zähigkeit noch fehlt. Ghne diese aufopfernde Arbeit stünde die evangelische Kirche der katholischen sehr arm und ohnmächtig gegenüber, hiervon ist aber streng zu unterscheiden „das Eingreifen dieser vereine in das Leben der Gemeinden". So hoch wir jene Anstalten achten, so unbedingt müssen wir dieses dadurch entbehrlich machen, daß wir die Gemeinden befähigen, alle ihre Aufgaben selbst zu lösen. „Zu welchem Zweck kann z. B. ein verein für Innere Mission in einem Stadtteil, der be­ reits eine Kirche hat und als parochie konstituiert ist, wohl einen Gottesdienst errichten?" Doch nur, um Parteizwecke zu erreichen „und die Gemeinde zu sprengen". Was soll eine Stadtmission, wenn ein Hausväterverband da ist? Bedenklich ist auch das Berufsmäßige an den Stadtmissionaren. Nichts als Liebestätigkeit und Seelsorge Tag für Tag treiben, welche Gefahren mutz das dem Charakter des Laienpastors bereiten? Außerdem fehlt ihnen der Auftrag der offiziellen Kirche. Sie sind nur Agenten eines Privatvereins. „Ich bleibe bei dem Grundsatz: Nur, was offiziell ist, das ist von Bestand und Kraft". Solche Missio­ nare verhalten sich zu den Kirchendienern, wie Zreischaren zu einer geordneten Armee. „Fährt die Innere Mission fort, sich in das Leben geordneter Gemeinden einzumischen, so kann sie nur endlich von diesen als Sekte ausgestotzen werden." Schließlich müßte sich neben der Lan­ deskirche eine Kirche der Inneren Mission bilden, „von der gar nicht behauptet werden soll, daß sie nur schädlich sein würde", vielleicht wäre es eine Volkskirche im Unterschiede von der Kirche der Gebildeten mit ihren archäologischen, dogmatischen und künstlerischen Kulturinteressen. Jedenfalls wäre das ein neuer Zwiespalt, der solange wie möglich vermieden werden muß. Auch die zersplitterte humanitäre Vereins- und Liebestätigkeit bietet für die mit seelsorgerischer Erweckung verbundene Liebestätigkeit der Kirchengemeinde, wenn wir auch leider die privaten vereine noch lange nicht entbehren können, keinen Ersatz, vergleichen wir mit diesen Ausführungen Sulzes vom Jahre 1891 die 15 Jahre später vorgenommene Überarbeitung in der „Reform der evangelischen Landeskirchen", so wird hier womöglich noch stärker be­ tont, daß so unfertige verbände wie unsere evangelischen Landeskirchen großen sozialen Aufgaben noch lange nicht gewachsen sind und nament-

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lich die Errichtung von Anstalten der Vereinstätigkeit noch überlassen müssen. Das Ziel der Gemeindearbeit wird sehr einfach dahin for­ muliert: „Unsere Gemeinden müssen möglichst sich beschränken auf die Seelsorge und die Liebestätigkeit, die sich auf einzelne ihrer Mitglieder und auf einzelne Familien bezieht, bestimmter Anstalten aber nicht be­ darf". (Es fehlt der Satz „Nur was offiziell ist, hat Bestand und Kraft" und die Drohung, daß die Kirche diejenige Innere Mission, die nicht aufhort, sich in ihr inneres Leben zu mischen, schließlich als Sekte aus­ stoßen müsse. Dem „Verein für Innere Mission" wird ein für allemal besonderer Dank ausgesprochen für die Verdienste, die er um das evan­ gelische Deutschland sich erworben hat. Nur das Bedauern kommt zum Ausdruck, daß der Verein für Innere Mission „zuweilen" sich nicht hat entschließen können, sobald die Gemeinden gewisse Pflichten selbst zu erfüllen vermochten, ihnen das zu überlassen, was sie übernehmen konnten, ein „vereinsegoirmus", der nicht im Sinne wicherns sei, und, ohne daß man will, eine Gegenkirche schaffe. Ich habe wert darauf gelegt, diese Stellung des Altmeisters des Gemeindeideals zu der Arbeit der Inneren Mission ausführlich wieder­ zugeben. Abgesehen davon, daß im Unterschied von dem großzügigen Programm, das Wichern von der Inneren Mission entworfen hat, die­ selbe bei Sülze doch etwas eng gefaßt erscheint als eine Summe von einzelnen Anstalten und Vereinen, ist die Stellungnahme selbst besonnen, nüchtern und sozusagen bescheiden. Je länger, je weniger ist davon die Bede, daß die „Gemeinde" oder auch die „Kirche" alles machen könne oder müsse. Ein sehr weites Gebiet, das der Anstaltstätigkeit, wird fast ohne Vorbehalt der freien Vereinstätigkeit überlassen. Man hat beinahe den Eindruck, daß längere Beobachtung und Erfahrung die Einsicht in die Unmöglichkeit einer durchgehenden verkirchlichung der Inneren Mission und das Interesse, freundlich und friedlich mit derselben Hand in Hand zu gehen, fast noch verstärkt haben. Die einzige Reibungsfläche bildet, wohl auf Grund bestimmter persönlicher und lokaler Erfahrungen, die fortdauernde Einmischung von Stadtmissionsvereinen und Stadtmissionaren in Gottesdienste, Seelenpflege (Hausbesuche?), Kin­ dergottesdienste u. dgl., wo doch Kirchen, parochien und gemeindliche Einrichtungen für Seelenpflege vorhanden sind und Vereinsarbeit in diesem Sinne also als unnötig, unberechtigt, ja schädlich erscheint. Mit dieser Stellung Sulzes stimmt es überein, daß derselbe in Braunschweig bei der ersten Konferenz für evangelische Gemeindearbeit (1910), als

ein gewisser Eon der Rivalität und Gereiztheit gegen die Innere Mission sich gelegentlich bemerkbar machte, ausdrücklich die Dienste der Inneren Mission und das gute Einvernehmen mit derselben in Sachsen anerkannte.

Sülze ist also weit entfernt von einer konsequenten Durchführung

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

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des Gemeindegedankens, demgemäß die Gemeinden oder die organisierten größeren Kirchenverbände die in freien Vereinen, verbänden, Anstalten sich vollziehende Tätigkeit der Inneren Mission in irgendwie absehbarer Zeit aufsaugen sollten und konnten, wenn auch gelegentlich ein platonischer Wunsch in der Richtung dieses Ideals von ihm ausgesprochen worden ist. Jüngere und konsequentere Verfechter des Gemeindegedankens, wie insbesondere Schian in seinem sehr beachtenswerten und verdienstlichen Buch „Die evangelische Kirchgemeinde" (1907), haben in dieser Beziehung einen schärferen Ton angeschlagen und direktere Forderungen gestellt, wenngleich auch sie mit der Forderung der verkirchlichung des ge­ samten Anstaltswesens der Inneren Mission noch nicht recht Ernst machen wollen oder angesichts der tatsächlichen Verhältnisse nicht Ernst

machen können.

III. Ich möchte mich aber nicht begnügen mit der Konstatierung dieser

Zugeständnisse, wie sie die Vertreter des Gemeindegedankens, insbeson­ dere Sülze selbst, der Inneren Mission machen, sondern versuchen, grund­ sätzlich, d. h. aber nicht nur theoretisch-abstrakt, sondern unter notwen­ diger Würdigung der realen Verhältnisse, die Beziehung von Innerer Mission und evangelischer Gemeindearbeit auf Grund der bisherigen Ver­ handlungen und Erfahrungen herauszuarbeiten. Ich betone ausdrücklich, daß dieses Verhältnis meines Erachtens nicht rein abstrakt festgestellt werden kann aus dem „Begriff" der Kirche und der Inneren Mission heraus, sondern nur unter steter Berücksichtigung der historischen und empirischen Gestalt, welche die Innere Mission, die Gemeinde und Kirche im wirklichen Leben gefunden haben und finden. Gewiß ist begriff­ liche Klarstellung wertvoll; gewiß darf man fragen, welches ist eigent­ lich der Begriff der evangelischen Gemeinde, und was ist eigentlich die Innere Mission ihrer reinen Idee nach. Man wird dann leicht finden, daß weder die Innere Mission, noch die Gemeinde in der Wirklichkeit ihrem eigentlichen Begriff entspricht, und kann dann fordern, daß erst beide rein aus ihrer Idee sich gestalten und entfalten müssen, ehe sie das ideale Verhältnis finden können. Es scheint mir aber nicht nur im Hinblick auf die praktische Gegenwartsarbeit unzweckmäßig und un­ fruchtbar, sondern auch prinzipiell und wissenschaftlich unrichtig, das Verhältnis zweier Größen nur nach ihrem abstrakten Begriff, nicht nach ihrer durch psychologische, soziale und geschichtliche Verhältnisse not­ wendig bedingten relativen Erscheinungsform würdigen und' normieren zu wollen, wenn wir vom Verhältnis der Inneren Mission zur evan­ gelischen Gemeinde reden, reden wir doch nicht von dem Verhältnis zweier nirgends realisierten Begriffe, sondern von dem Verhältnis der gegebenen landeskirchlichen Gemeinden und der unter dem Sammelbe-

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Lebendige Gemeinden.

griff der Inneren Mission tatsächlich vorhandenen vereine und Anstalten, Veranstaltungen und verbände für christliche LiebestätigkeU, deren Grenzen im einzelnen zwar nicht scharf bestimmt werden können und fließend sein mögen, die aber dennoch aus§ Ganze gesehen und in der Hauptsache einen bestimmt erkennbaren zusammengehörigen Kom­ plex bilden-, sonst könnte man überhaupt von der Inneren Mission als einer vorhandenen und diskutabeln Größe nicht reden, und unsere Unter­ suchung würde von vornherein hinfällig und gegenstandslos. Dieses vorausgeschickt, scheint mir der Gemeindegedanke und das Gemeindeideal, speziell auf das Verhältnis zur Inneren Mission hin an­ gesehen, von verschiedenen Gesichtspunkten aus eine einschränkende Kritik ebensowohl herauszufordern, wie zu vertragen: a) Vie Aufnahme aller Betätigung christlicher Liebe, gar aller auch humanen und sozialen Fürsorge durch die Kirchengemeinde ist nicht nur, namentlich in den komplizierten Verhältnissen der Großstadt und in konfessionell gemischten Gebieten, undurchführbar und unerzwingbar, weil man schließlich niemand verwehren kann, auch außerhalb der konfessio­ nellen Grenzen und der offiziellen Kirchen- und Gemeindeorganisation, wäre diese auch noch so vollkommen und leistungsfähig, sich in freier Weise zu christlicher Liebestätigkeit, geschweige zu sozialem und humanem wirken mit gleichinteressierten und gleichstrebenden Kreisen zu verbinden, sondern diese Forderung ist auch prinzipiell nicht recht evangelisch. Die Kirche ist eben nach evangelischen Grundsätzen nicht die, sondern nur eine Form der Auswirkung und Ausprägung des christlichen Geistes. So wenig Kunst, Schule, Wissenschaft, Staatsleben, Familienleben, Volks­ wirtschaft usw., in denen ohne Zweifel christlicher Geist, Glaube und Liebe auch wirksam sein kann und soll, dem kirchlichen Gemeinschafts­ leben eingeordnet werden können, so wenig ist es angängig, von vorn­ herein das Gesamtgebiet der materiellen, geistigen und religiös-sittlichen Wohlfahrtspflege, auch nur theoretisch und prinzipiell, der organisierten Kirchgemeinde vorzubehalten. (Es kann nur, nach den jeweiligen Um­ ständen, ein besonderer, von vornherein nicht scharf abzugrenzender, mit der persönlichen Seelsorge und Seelenpflege nach Lage der Dinge am meisten sich berührender Teil der sittlich-sozialen und humanen Auf­ gaben in den Kreis der geistlichen Amtstätigkeit und der evangelischen

Gemeindepflege ausgenommen werden, vieles muß diese, nicht nur not­ gedrungen, sondern gern, ebenso wie staatlichen und kommunalen Orga­ nisationen und der Privatinitiative einzelner, so freien verbänden der Innern Mission und auch humanitären und sozial-ethischen Bestrebungen überlassen. b) Einen prinzipiellen Mangel oder wenigstens eine Einseitigkeit scheint mir die moderne Gemeindetheorie auch darin aufzurveisen, daß

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

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sie dem Institut, der Organisation aus Rosten der Persönlichkeit viel­ fach eine zu hohe Bedeutung beimißt. Eine zu hohe Bedeutung, sage ich. Eine hohe, oft leider unterschätzte Bedeutung hat tatsächlich die äußere Ordnung und Organisation auch in geistlichen, religiösen und sittlichen Dingen. Ein Blick in bas Neue Testament dürfte aber doch zeigen, daß in diesem der Schwerpunkt durchaus auf der religiösen Persönlichkeit, auf der freien Wirkung von Person zu Person liegt, daß nirgends auch nur entfernt einer äußeren Organisation, speziell auch nicht der Grtskirchengemeinde als solcher, wenn man von einer solchen im Neuen Testament überhaupt reden kann, eine zentrale, ent­ scheidende Bedeutung für die pflege und Verwirklichung des christlichen Lebens zugesprochen wird. Aber nicht nur die Urkirche, sondern auch die weitere Entwicklung des kirchlichen und religiösen Lebens zeigt es doch wohl (und insbesondere auch die Geschichte der Inneren Mission),

daß gerade solche Anregungen und Tätigkeiten, die nicht auf dem Amtsund Rirchenbezirk beruhen, für das große Ganze und bis in tausend Cinzelgemeinden und Linzelleben hinein die größte und segensreichste Nachwirkung ausgeübt haben. Dieses Recht und diese Möglichkeit einer von Amts- und Gemeindegrenzen unabhängigen religiösen, geistlichen und sittlichen Einwirkung, freier persönlicher Initiative und Assoziation kann ja natürlich durch keine Gemeindetheorie und Gemeindeordnung beseitigt und aufgehoben, sollte aber ausdrücklich anerkannt und auch für die Zukunft in Rechnung gestellt und nicht mit einem bloßen „Dank"

für das, was freie Vereine und Kräfte bisher auf dem Gebiet der Inneren Mission getan haben, abgefertigt werden. Lin ganz augen­ scheinlicher Beweis dafür, daß abgegrenzte „übersehbare" Gemeinden von zweckmäßiger Größe noch lange nicht die Entwicklung eines evan­ gelischen Gemeindelebens garantieren, wenn gewifle innere und persön­ liche Voraussetzungen fehlen, sind die Tausende von Dorf- und Kleinstadt­ gemeinden, die seit Jahrhunderten durchaus übersichtlich und abgegrenzt sind, und deren kirchliches Gemeindeleben oft auf dem tiefsten Punkt steht. Anderseits versichern uns Kenner rheinisch-westfälischer Stadt­ gemeinden, daß dort unter Umständen alle nur erdenkbaren Gemeinde­ einrichtungen bereits bestehen und doch wirkliches Gemeindeleben und Gemeindebewußtsein nicht vorhanden ist. c) Man hat wohl den wert und die Bedeutung der Einzel- und

Lokalgemeinde aus Kosten der Gesamtgemeinde vielfach überschätzt. Die Sache steht doch in Wirklichkeit so, daß ein evangelischer Christ sich zu­ nächst und zumeist als Glied seiner „evangelischen Kirche", nicht seiner Grtskirche fühlt. Freilich gehört er eben durch die Einzelgemeinde der Gesamtkirche an; die Linzelgemeinde vermittelt ihm zum großen Teil die Gaben, werte, Kräfte, Schätze, die die Gesamtkirche in sich birgt.

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Lebendige Gemeinden.

Hber diese Güter und Kräfte wurzeln doch schließlich mehr in der Ge­ samtkirche, in ihrer Geschichte, in ihren Ordnungen, in den von ihr ausgebildeten und aus ihr hervorgegangenen Persönlichkeiten, in ihrer Literatur und Tradition, in ihrem Gesamtgeist und Gesamtbesitz, als in der Einzelgemeinde. Man wird doch getauft und konfirmiert mehr in die Gesamtkirche als in die Einzelgemeinde hinein. Ganz besonders in den Grotzstadtgemeinden kann nicht die sozusagen zufällige und leicht wechselnde Zugehörigkeit zu dieser oder jener Lezirksgemeinde und parochie, sondern nur die Zugehörigkeit zur Gesamtgemeinde das pri­ märe und Wichtigste sein, auch wird, was ich hier besonders betonen möchte, die Entwicklung der Gemeindearbeit und Gemeindepflege im allgemeinen nicht am besten gedeihen bei möglichster Unabhängigkeit und autonomie der Einzelgemeinden, weil diese ihre autonomie und Selbständigkeit in den meisten Fällen nicht anwenden werden, um mög­ lichst viel, sondern um möglichst wenig oder nichts zu tun. Sowenig wie Gottesdienst, predigt, Unterricht und andere kultische Betätigungen des Gemeindelebens, darf schließlich armen-, Kranken-, Jugendpflege und anderes, wenn es wirklich zum Wesen und zur Substanz des evan­ gelischen Gemeindelebens gehört, dem Zufall und dem guten oder schlechten Willen der jeweiligen Pfarrer und Gemeindevertreter überlassen werden. Die Gemeindearbeit mutz Kirchendienst und Kirchenarbeit in dem Sinne werden, daß, natürlich unter sorgfältiger Berücksichtigung der verschie­ denen Gemeindetypen und Gemeindeverhältnisse, landeskirchliche Ord­ nungen aufgestellt werden, vermöge deren ein gewisses Maß gemeind­ licher Ordnungen und Einrichtungen als kirchliches Erfordernis, als Pflichtaufgabe der Pfarrer und Gemeindevertretungen, als kontrollier­ bare Gegenstände der Berichterstattung, Visitation und Verantwortlich­ keit aufgestellt werden. So muß die Gemeindearbeit einen landeskirch­ lichen Rückhalt gewinnen, und sie kann nur unter dieser Voraussetzung allgemeine Geltung und ausdehnung gewinnen, solange überhaupt unser kirchliches Leben in den Formen der Landeskirche verläuft. Ohne diese systematische und grundsätzliche Verbindung der Gemeindearbeit mit den Organen und Behörden der Landeskirche wird sie zufällig und sporadisch bleiben, wie bisher, je nachdem ein Pfarrer, eine Gemeinde­ vertretung oder eine Synode für das Sulzesche Gemeindeideal sich er­ wärmt und tatkräftig vorzugehen sich entschließt oder nicht. Denn nicht nur auf die guten Gedanken und Prinzipien kommt es hier wie ander­ wärts an, sondern auf die Mittel und Wege, aus den Gedanken Taten werden zu lassen. Interessant war mir in dieser Beziehung, wie Sülze selbst gelegentlich die Förderung anerkannt hat, welche Gemeindearbeit und Innere Mission den anregungen des Konsistoriums in Sachsen in letzter Zeit zu verdanken haben.

Grünberg, Vie evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

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Die aus solchen kritischen Erwägungen für die Zukunft sich er­ gebenden Normen für das Verhältnis von Innerer Mission und Ge­ meindearbeit fasse ich zum Schluß in folgende Sätze zusammen: 1. Die Arbeit der Inneren Mission hat ihre ideelle Einheit in ihrem evangelischen Glaubensgrund und in der Liebe zu Gott und den Brüdern; sie hat auch ein letztes großes Ziel, und dieses Ziel hat sie mit der evangelischen Kirche gemeinsam, dem Reich Gottes und den un­ sterblichen Seelen zu dienen. In ihrer konkreten Gestalt bildet die Innere Mission einen historisch gewordenen Komplex verschiedener Tätig­ keiten, die zu der Arbeit der Kirchgemeinde und ihrer Grgane nicht in demselben und gleichen Verhältnis stehen. 2. Die Arbeit der Inneren Mission war und ist noch zum Teil Ersatz- und Notstandsarbeit in bezug auf Aufgaben, die ihrem Wesen nach der Kirchengemeinde zufallen, die dieselbe aber aus irgendeinem Grund nicht oder noch nicht oder notorisch unvollkommen erfüllt. Sür dieses, aber auch nur für dieses Gebiet gilt, daß es der Wunsch und das Ziel der Inneren Mission sein muß, sich selbst überflüssig zu machen, und sie soll der normalen Ausgestaltung des Gemeindelebens in dieser Beziehung nicht nur keine Hindernisse entgegenstellen, sondern ihr entgegenkommen. 3. Die Frage, ob eine Not- und Crsatzarbeit der Inneren Mission im gegebenen Fall wirklich eine innere Berechtigung hat oder noch hat (z. B. die Arbeit einer Stadt- oder Landmission in Gottesdienst, predigt, Schriftenverbreitung, Kindergottesdienst, Jünglings- und Jungfrauen­ vereinen, religiöser Gemeinschaftspflege, Evangelisation u. dgl.), kann damit nicht als erledigt gelten, daß Kirche, parochie, Pfarrer, Gottes­ dienste, Gemeindevereine usw. überhaupt vorhanden sind, sondern die Möglichkeit mutz zugestanden werden, daß, wenn nicht die formelle und quantitative, so doch die qualitative geistliche Versorgung vorhandene und berechtigte geistliche Bedürfnisse unbefriedigt läßt. Gerade auf diesem Gebiet nicht nur theologischer, sondern ernster religiöser Diffe­ renzen liegen die innerlichen Kompetenzfragen, die oft bedauerliche und für das Gemeindeleben schädliche Parteiungen und Konflikte Hervor­ rufen, aber durch Gemeindetheorien und offizielle Machtsprüche nicht einfach beseitigt werden können. (Es ist freilich nicht alles und nicht das allein „gläubig", was sich selbst dafür hält und ausgibt, aber es ist auch nicht alles evangelisch, was offiziell zur protestantischen Kirche gehört, und nicht alles unkirchlich oder widerkirchlich, was irgendeine Kirchenvertretung oder ein Pfarrer dafür erklärt. Es ist gewiß schwer, in jedem Fall deutlich die Scheidelinie zu ziehen, wo die Innere Mission aufhört, notwendige und berechtigte kirchliche Ersatzarbeit zu tim, und wo sie anfängt, eine unnötige, ungesunde, ja schädliche, wirklich un-

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Lebendige Gemeinden.

und gegenkirchliche Konkurrenz zu werden. Diese Schwierigkeit ist aber nichts anderes, als eine der vielen Folgeerscheinungen, die aus der Freiheit und Vielseitigkeit des Protestantismus sich ergeben und die man in den Kauf nehmen mutz, wenn man nicht entweder die pro­ testantische Freiheit opfern will zugunsten einer unfehlbaren, offiziellen kirchlichen Instanz, oder wenn man nicht auf der andern Seite die evangelische Landeskirche aufgeben will zugunsten einer freien Konkurrenz von religiösen vereinen, Gemeinschaften und Sekten. 3. Die Hrbeit der Inneren Mission stellt sich anderseits dar als Ergänzungsarbeit, die im Einvernehmen mit den kirchlichen Organen und zu deren Unterstützung geleistet wird, indem entweder Arbeiter der Inneren Mission einen Teil der Gemeindearbeit im Auftrag der Kirche übernehmen, oder indem Anstalten der Inneren Mission gewissen Bedürfnissen der Gemeindepflege dienen. Auf diesem Gebiet ist nicht nur persönliches hand-in-hand-arbeiten von Fall zu Fall, sondern die Herbeiführung ständiger und geregelter Beziehungen zwischen den kirch­ lichen Organen und den in Betracht kommenden Anstalten, vereinen und verbänden der Inneren Mission erwünscht und anzustreben, auch tatsächlich schon auf mancherlei Weise angebahnt (landeskirchliche Kol­ lekten und Synodalausschüsse für Innere Mission, landeskirchliche Pfarrer als Berufsarbeiter der Inneren Mission usw.), hierher gehört auch die Verständigung über die statistische Behandlung der gemeinsam gepflegten Arbeitsgebiete (Kindergottesdienste, Jugendvereine, Wohlfahrtseinrich­ tungen). 4. Was insonderheit die Anstalten der Inneren Mission angeht, seien es Anstalten zur Heranbildung von Kräften für die Gemeinde­ arbeit (Schwestern- und Bruderanstalten), seien es Erziehungs- oder

Pflege- und Versorgungsanstalten, seien es Anstalten für christliche Literatur und Zchriftenverbreitung, so steht natürlich dem nichts entgegen, daß größere Gemeinden oder Gemeindeverbände, Synoden, Landeskirchen, ja eventuell der Deutsche evangelische Kirchenausschutz unter Umständen von sich aus solche Anstalten erwerben, gründen, leiten und unterhalten. Wenn aber bisher eine starke Neigung nicht besteht, derartige Anstalten der Inneren Mission allgemein zu verkirchlichen und gleichsam in kirch­ liche Regie zu nehmen, so hat das neben äußeren praktischen Gründen und Schwierigkeiten gewiß auch innere Gründe. Die Gründung, Leitung und das Gedeihen derartiger Anstalten erfordert Kräfte und Eigenschaften, für deren Vorhandensein, Ausbildung und Auswirkung individuell be­ gabte und begeisterte Persönlichkeiten und freie Assoziationen innerlich getriebener Kreise zwar nicht immer, aber in der Regel eine größere Garantie bieten als offizielle Verwaltung und Reglementierung. Gerade auf diesem Gebiet bewahrheitet es sich, daß zur Pflege des religiösen

Grünberg, Die evangelische Gemeinde und die Innere Mission.

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und charitativen Lebens mit den geordneten, amtlichen und stabilen Grgamen freie, bewegliche, enthusiastisch und charismatisch getriebene, auch stcaatskirchlich und kirchenpolitisch weniger gebundene Kräfte in einer gewissen Selbständigkeit und Unabhängigkeit zusammenwirken müssen im Interessse der Anregung, Fortbewegung und Anpassung an neue Bedürf­ nisse umd Aufgaben. Das persönliche und Freie geht nicht nur historisch dem crmtlich Gebundenen überall voraus, sondern das letztere bedarf fortwährend des ersteren zu seiner Ergänzung. 5. Endlich verbleibt der Inneren Mission, d. h. der freien Drganisation von Glauben und Liebe getriebener evangelischer Ehristen, noch ein großer Raum zur Betätigung auf dem weiten Gebiet der Beein­ flussung des persönlichen und öffentlichen Lebens, der öffentlichen Stim­ mung und Meinung durch christlichen Geist, der Beobachtung und Be­ friedigung religiös-sittlicher, sozial-ethischer, geistiger und geistlicher Bedürfnisse m Lebenskreisen und Lebensformen (Volksbildung, Volks­

erholung, Volkssitten, Literatur, Presse, Gesetzgebung, Verwaltung, Für­ sorge für besondere Klassen, Stände, Berufe usw.), welche weder die Cinzelgemeinden, noch größere Kirchenverbände neben ihren nächsten, eigentlichen und spezifischen Aufgaben kultischer, seelsorgerischer, erziehe­ rischer und diakonischer Bedienung ihrer Mitglieder zu umfassen und zu pflegen irgendwie berufen und befähigt sind. Für diese immer komplizierter sich gestaltenden Aufgaben des christlichen Volkslebens und des modernen Kulturlebens haben die Kirchengemeinden und die kirch­ lichen Organe zwar nach Möglichkeit Interesse und Verständnis sich zu bewahren und zu verbreiten, auch Leute bilden zu helfen, die „zu allem guten Werk" geschickt sind, ohne daß sie aber von sich aus bei der „verschlungenheit der Verhältnisse" alle diese Aufgaben angreifen, lösen,

ja im einzelnen auch nur immer übersehen können. Das kirchliche und Gemeindeleben deckt sich eben nicht mit der reichen Mannigfaltig­ keit des geistigen, nationalen, öffentlichen, religiösen und sittlichen Lebens und kann deshalb auch nicht die alles umfassende, tragende und regu­ lierende Form für dasselbe abgeben; es muß sich damit bescheiden, ein zwar sehr wichtiger, aber eben doch nur ein Ausschnitt desselben zu sein. Es war sehr nötig und verdienstlich, auf die Bedeutung und den hohen Beruf des evangelischen Gemeindelebens für das Ganze und auf seine noch lange nicht erschöpfte Entwicklungsmöglichkeit hinzuweisen. Es erscheint im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unnötig, zugleich die Schranken aufzuweisen, die der Gemeinde, ihrer Arbeit und Organisation durch die Natur der Menschen und Dinge gesetzt sind.

Kirmß, Die Gemeindepredigt.

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Die Geineindepredigt. von Pfarrer D. Paul Kirwß in Berlin.

Nach protestantischer Auffassung hat Jesus das Evangelium seinen Jüngern hinterlassen, nicht als den ersten Priestern, sondern als der ersten christlichen Gemeinde. Folglich ist nicht der Priester der Nach­ folger Christi, sondern die Gemeinde. Nicht der Priester hat das Evan­ gelium zu verwalten, sondern die Gemeinde. Jeder hat das Recht, das Evangelium zu verkündigen. Da aber Unordnung entstehen würde, wenn alle von diesem Rechte Gebrauch machen wollten, so soll die Ge­ meinde das Predigtamt in eine Hand legen, wer durch die Gemeinde zum Predigtamt berufen ist, ist rechtmäßig berufen. Er hat im Namen und Auftrag der Gemeinde das Evangelium zu verkündigen, wie so sagt Luther - die Zähne eines Rönig's nach dem Code des Vaters alle das gleiche Anrecht haben auf das Reich ihres Vaters, aber um der Ordnung willen Einen aus ihrer Witte mit der Regierung des väterlichen Reiches betrauen, so haben alle Christen als die Rinder des himmlischen Vaters das gleiche Recht auf das Reich Gottes, ihres Vaters, und auf die Verwaltung dieses Reiches. Aber um der Ordnung willen beauftragen sie Einen aus ihrer Witte mit der Verwaltung dieses Reiches. Das ist der evangelische Pfarrer, der im Auftrage der Gemeinde das Evangelium zu verkündigen hat. von hier aus ergibt sich der Begriff der Gemeindepredigt im Unterschied von der Wissions-Cvangelisations- oder prophetischen predigt. In dieser verkündigt der Prediger, was er seinen Zuhörern aus sich heraus zu geben hat. Cr verkündigt etwas, was er hat, seine Zuhörer dagegen noch nicht haben. In der Gemeindepredigt dagegen verkündigt er das, was er mit der Gemeinde gemeinschaftlich besitzt. In der pro­ phetischen predigt sind die Zuhörer lediglich Objekt; in der Gemeinde­ predigt ist die Gemeinde in dem Prediger, der ihr Beauftragter ist, auch Subjekt. Die prophetische predigt will für etwas Neues gewinnen; die Gemeindepredigt will auf Grund eines bereits vorhandenen Besitzes

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Lebendige Gemeinden.

erbauen. In der prophetischen predigt steht der Prediger über seinen Zuhörern; bei der Gemeindepredigt ist er primus inter pares. In der prophetischen predigt ist der Prediger lediglich der Gebende; in der Gemeindepredigt spricht er aus, was er gemeinschaftlich mit der Ge­ meinde besitzt. Das sind begriffliche Unterschiede. Die Praxis aber richtet sich nicht nach Begriffen. Deshalb sind in der Wirklichkeit die Grenzen fließend, hier aber handelt es sich darum, die Gemeindepredigt nach ihrem Begriff, nach ihrer Idee zu beschreiben.

I. Prediger und Gemeinde. Die Doraussetzung der Gemeindepredigt ist, daß Prediger und Ge­ meinde das Evangelium gemeinsam besitzen. Sie besitzen es gemeinsam; aber sie besitzen es auf verschiedene Weise. Der Pfarrer ist wissen­ schaftlich eingedrungen in die Geschichte, die uns erzählt von der Ent­ stehung, Entwickelung, der Entartung und Wiedergeburt des Christen­ tums. Uber ebenso ist er wissenschaftlich eingedrungen in das Wesen des Christentums, er vermag Zeitliches und Ewiges, Kern und Schale voneinander zu scheiden. Er vermag das Christentum im Zusammen­ hang der Geschichte wie im Zusammenhang des heutigen Lebens zu verstehen. Nun wird durch alles wissenschaftliche Denken an dem Wesen des Christentums gar nichts geändert, wie es ja überhaupt für alle wissenschaftliche Arbeit unergründlich und unzugäng­ lich ist. Es ist dafür zu hoch und zu tief. Ebenso aber hat das Fehlen wissenschaftlicher Erkenntnis auf das Wesen des religiösen Besitzstandes keinen Einfluß. Die Blume bleibt dieselbe, ob sie der Botaniker be­ trachtet, der Name und Art kennt, oder der Laie, der nach dem Namen und der Art nicht fragt. Deshalb ist bei den Gemeindegliedern, denen zumeist das wissenschaftliche Erkennen fehlt, der religiöse Besitzstand nach Art und Wesen derselbe, wie bei dem Pfarrer. Daher steht der Pfarrer religiös nicht über der Gemeinde. Jeder Pfarrer, der Auge und herz offen hat, wird, wenn er seine Gemeinde einigermaßen kennen lernt, sehr bald finden, daß er von manchem seiner Gemeinde­ glieder viel lernen kann. Er steht beschämt vor der Kraft und Hin­ gebung des religiösen Gemütes, wie sie ihm in schlichtem Laiengewand entgegentritt. Er findet religiöse höhen, zu denen er mit all seiner wissenschaftlichen Erkenntnis sehnsüchtig emporsehen muß. Müßte von dem Pfarrer verlangt werden, daß er in seinem religiösen Leben über allen seinen Gemeindegliedern zu stehen habe, so müßten viele Pfarrer ihr Amt niederlegen. Nur die Tatsache, daß der Pfarrer neben dem Evangelium, das er mit der Gemeinde gemeinschaftlich besitzt, über ge­ schichtliche, überhaupt wissenschaftlich-theologische Bildung verfügt, gibt

Kirmß, Die Gemeindepredigt.

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ihm bas Recht, sich an die Spitze der Gemeinde zu stellen. Dieses Recht aber legt ihm die Pflicht auf, sich durch sittlich-religiöse Arbeit an sich selbst zu einer höhe emporzuarbeiten, daß die Gemeinde fühlt: er ist auch in seinem sittlich-religiösen Leben der Erste unter uns. So wird er innerlich im Evangelium und durch das Evangelium immer mehr mit seiner Gemeinde eins werden, ein primus inter pares, ein Führer, dem alle in voller Freiheit folgen. wie soll diese Vereinigung geschehen? Mer soll den Anfang machen? Soll sich die Gemeinde an ihren Pfarrer „gewöhnen", oder soll der Pfarrer sich in die Gemeinde einleben? Der Pfarrer, welcher verlangt, daß sich die Gemeinde an ihn gewöhne, der durch sein ganzes Auftreten zu der Gemeinde sagt: „So bin ich und so bleibe ich, und wenn euch das nicht gefällt, so ist es euere Schuld und euer Schade", der ist kein evangelischer Pfarrer, sondern ein katholischer Priester. Der Pfarrer muß den Anfang machen. Denn er ist um der Gemeinde willen da, nicht die Gemeinde um seinetwillen. Daß er vermöge seiner wiflenschaftlichen Bildung das religiöse Leben, wie es in den einzelnen Gliedern und Schichten seiner Gemeinde vorhanden ist, zu verstehen ver­ mag, legt ihm die Pflicht auf, seiner Gemeinde suchend und werbend entgegenzugehen. Er soll damit wahrhaftig nicht sich entweder der Ge­ meindeorthodoxie verschreiben und auf Welt und Sünde schelten, oder, was ja ebenso billig ist, dem liberalen Geile der Gemeinde und mächtig in die Freiheitstrompete stoßen. Gerade wenn er ein wirklich gebildeter liberaler Theologe ist mit weitem Gesichtskreise, wird es ihm nicht schwer fallen, seine Gemeinde zu verstehen, wenn er sich keine Mühe gibt, seine Gemeinde zu verstehen, wie kann er von dieser verlangen, daß sie sich Mühe gebe, ihn zu verstehen! „So man das tut am grünen Holz, was will am dürren werden?" wenn es der Pfarrer nicht tut,

was soll die Gemeinde tun? wenn es der liberale Pfarrer nicht tut, was soll der orthodoxe tun? wir müssen es mit dieser Pflicht besonders ernst nehmen, auch wenn uns die fromme Einfalt in den wunderlichsten Formen entgegentritt. Ls ist ja schwer, es ernst zu nehmen und ernst zu bleiben, wenn alte fromme Weiblein die Christlichkeit und Gläubig­ keit ihres Pfarrers danach taxieren, wie oft er in seiner predigt den Namen Gottes und Jesu Christi gebraucht. Aber auch das muß ge­ tragen werden. Der Pfarrer soll der größere sein. II. Die Gemeindepredigt für die ganze Gemeinde. wir tadeln es mit Recht, wenn ein orthodoxer Prediger die Zwei­ felnden, mit dem Rirchenglauben Zerfallenen, die Suchenden, die „Libe­ ralen" einfach ignoriert und sich in seiner predigt nur an die kleine

Schar seiner Gesinnungsgenossen wendet. Lebendige Gemeinden.

Der liberale Pfarrer würde 4

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Lebendige Gemeinden.

in denselben Fehler verfallen, wenn er bei seiner Predigt nur die Libe­

ralen im Auge hätte. Der Pfarrer ist für die ganze Gemeinde da. Dem ortho­ doxen Pfarrer wird das schwer. Dem liberalen sollte es leichter werden. Deshalb ist es seine Pflicht ganz besonders. Der Satz, daß der Pfarrer für die ganze Gemeinde da ist, wird heutzutage stark bezweifelt. Vie Zerklüftung in der Theologie und in der Kirche ist so groß, daß man schon anfängt, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, ein in seiner Überzeugung fester Pre­ diger eben nur für die Liberalen oder für die positiven da sein könne. Ich kann mich in diesen Standpunkt nicht finden, so sehr ich die achte, die ihn vertreten. Daß jener Satz grundsätzlich unrichtig ist, zeigt sich, wenn man ihn auf eine Gemeinde anwendet, die nur einen Pfarrer hat, also auf sämtliche Landgemeinden, wer gibt mir in diesem Falle das Recht, auch nur ein einziges Mitglied meiner Gemeinde als für mich nicht vorhanden zu betrachten? Aber auch für große Gemeinden ist jener Satz unmöglich, wir gerieten sonst in eine unerträgliche Ver­ wirrung. wir kämen dahin, daß der eine sich betrachtet als Pfarrer der Gebildeten und Reichen, und der andere als Pfarrer der Armen und Ungebildeten, und für diese würden dann wahrscheinlich nur die Pfarrer übrigbleiben, die bei den Reichen und Gebildeten Kein Glück haben. (Ein wirkliches Gemeindeleben wäre unmöglich. Man kann ja freilich sagen: „Wie nun einmal mein Wesen, meine Art ist, bin ich nur für die und die zu gebrauchen. Man mutz mich eben verbrauchen, wie ich bin. Ich Kann nicht aus meiner haut heraus." wer so spricht, möge doch auch bedenken: Ist es nicht meine Pflicht, auch den anderen etwas zu sein? Bin ich nicht auch ihnen etwas schuldig? (Es gehört zur Selbsterziehung, daß wir versuchen, alle zu verstehen, wer darauf verzichtet, beraubt sich selbst. Tr läßt sich alles entgehen, was außerhalb seines Gesichts­ kreises liegt, und damit wird sein eigener Gesichtskreis immer enger, er selbst immer ärmer werden, wie reich kann ein Pfarrer werden durch seine Gemeinde, auch wenn diese sehr klein ist. Das ärmste einfachste Gemeindeglied, welches geistig durch eine tiefe Kluft von ihm getrennt ist, kann ihm neue Gedanken bringen, neue Ausblicke eröffnen, wenn er nur will, strömt von allen Seiten aus seiner Gemeinde neues Leben in seine Seele, wer theologisch liberal ist, der möge seinen geistigen Ver­ kehr auch nicht einmal auf die orthodoxen Glieder seiner Gemeinde be­ schränken, sondern ihn auf die ganze große orthodoxe, positive, pietistische Gemeinde ausdehnen, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus nach England und Amerika. Ich habe es stets als besonders heilsam emp­ funden, wenn ich die orthodoxe Erbauungsliteratur wirklich studierte. Man zwingt sich dadurch in neue Gedankengänge, in eine andere religiöse

Kirmfj, Die Gemeindepredigt.

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Gedanken- und Empfindungswelt hinein. Man lernt andere verstehen, wieviel leichter wird es einem dann werden, die anders gerichteten Glieder der eigenen Gemeinde zu verstehen und ihnen gerecht zu werden. Man wird dadurch reich, und herz und Geist werden einem weit, und man kann auch denen etwas geben, denen man früher nichts Heben konnte. Freilich sollten nun auch die Grthodoxen diesen weg betreten und von den Liberalen lernen wollen, vor allem insofern lernen wollen, als sie uns zu verstehen suchen. (Es liegen ja zwischen den beiden Lagern zahllose Mißverständnisse, auf feiten der Grthodoxen noch mehr wie auf feiten der Liberalen. Jedenfalls ist der gute Wille bei den Liberalen stärker wie bei den Grthodoxen. Über gesündigt wird auf beiden Seiten. Dieses Nichtverstehenwollen, so sehr es sich mit frommem Schein umgibt, ist ein Sichauflehnen gegen Gottes Rat. Denn Gott hat es in seiner Weisheit so eingerichtet, daß wir nebeneinander leben und von­ einander lernen sollen. 6s war von dem alten Friedrich Wilhelm I. sehr weise gehandelt, und es lag zugleich ein gewisser Humor darin, daß er Simultankirchen baute, in denen Lutheraner und Reformierte abwechselnd Gottesdienst halten mußten, damit sie lernten einander verstehen und sich miteinander vertragen. Er hat damit im kleinen nur dasselbe getan, was Gott im großen tut. verzichten wir aber von vornherein darauf, auch für die andersgerichteten Glieder unserer Ge­ meinde da zu sein, so berauben wir uns selbst um das, was Gott in dieser Mannigfaltigkeit uns darbietet, um diesen Reichtum, den unsere evangelische Rirche bei all ihrer äußeren Niedrigkeit vor der katholi­ schen Rirche voraus hat. Man sage nicht, daß die Gemeindepredigt, die sich an die ganze Gemeinde richtet, deshalb verwaschen und farblos sein müsse. .Wenn sie wirklich fromm und etwas taktvoll ist, kann sie zugleich scharf und ausgeprägt sein, was man auch sagen möge, wir haben die Rufgabe, unserer Gemeindepredigt eine religiöse Kreist zu geben, durch welche die Grthodoxen innerlich befreit und die Liberalen innerlich vertieft werden. Das kann aber nur geschehen, wenn wir für die ganze Gemeinde pre­ digen. 6s geht wirklich; man muß es nur ernstlich wollen. Ich will hier persönliches nicht in den Vordergrund stellen. Aber ich darf zur Illustration eine Erfahrung mitteilen, die zu den erfreulichsten meines Lebens gehört. Als ich in Berlin gewählt wurde, protestierte ein posi­ tiver parochialverein gegen mich und entfaltete in der Gemeinde eine sehr heftige Agitation. Nach zwei Jahren aber kam sein Vorsitzender zu mir und forderte mich auf, in einer Vereinsversammlung einen Vor­ trag zu halten. Ich hatte in predigt und Konfirmandenunterricht und in meinem öffentlichen kirchenpolitischen Auftreten aus meinem Libera­ lismus nie ein hehl gemacht. Trotzdem haben positiv gerichtete Fami4*

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lien sich damals mir vertrauensvoll angeschlossen. (Es geht also auch unter schweren Verhältnissen. Gelingt es einem aber nicht, so bleibt dem Pfarrer das Bewußtsein, das Seine getan zu haben. Der Pfarrer ist nicht dazu da, in seiner Gemeinde Anhänger zu sammeln, sondern der ganzen Gemeinde zu dienen. III. Freiheit und Gebundenheit der Gemeinde gegenüber, wir kommen auf diesem Wege auch einer Lösung der Frage nach der Lehrfreiheit näher, soweit eine solche überhaupt möglich ist. Ich brauche hier kein Wort zu verlieren über die Schwierigkeit, diese Frage dogmatisch zu lösen. Ebenso wie sich die meisten darüber einig sind, daß es irgendwelche Grenzen der Lehrfreiheit geben muß, ebenso un­ einig sind sie sich darüber, wie diese Grenzen zu ziehen seien. Ich für meine Person würde den Glauben an den persönlichen Gott, die Aner­ kennung des geschichtlichen Jesus als des (Erstgeborenen unter den Gottes­ kindern, die Anerkennung der Absolutheit des Christentums und die Hoff­ nung auf ein ewiges Leben als die unentbehrlichen Grundlagen evan­ gelischer Verkündigung betrachten, und ich würde, wenn ich mit diesen Stücken innerlich zerfallen wäre, nicht mehr den Mut haben, evange­ lischer Pfarrer zu bleiben. Das ist meine persönliche Ansicht, und ich gebe gern zu, daß andre mit demselben Recht andere Grenzen ziehen können. Soll dieser Streit auf dogmatischem Gebiet ausgefochten werden, so wird er wohl nie zu Cnde geführt werden, sondern in jedem Zeit­ alter von neuem beginnen, viel mächtiger und wichtiger aber als alle dogmatisch bestimmten Lehrgrenzen sind die inneren idealen Lehrgrenzen, welche jedem Pfarrer gezogen sind durch die Verbindung mit seiner

Gemeinde, d. h. durch die Gebundenheit nicht an ein Dogma, sondern an etwas Lebendiges, an Aufgaben, welche die lebendige Gegenwart mit jedem Tage neu erzeugt. Das religiöse Bewußtsein einer Gemeinde um­ faßt die größte Mannigfaltigkeit persönlicher Gestaltungen. Die innere Gebundenheit aber an Gewissen, an die Mannigfaltigkeit des Lebens ist nicht Knechtschaft, sondern Freiheit. Sobald ich mich der ganzen Ge­ meinde verpflichtet fühle, bin ich innerlich frei. (Em Gemeindeterrorismus kann nur da aufkommen, wo der Pfarrer sich einem Teil der Gemeinde unterwirft und den anderen ignoriert. Die Gemeinde aber, der ich mich innerlich verpflichtet fühle, ist eine geschichtliche Größe. Ihr Glauben und Leben ruht auf Ge­ schichte, auf der Geschichte der Entstehung und Entwickelung des Ehristentums. Kus der Geschichte ist die Gemeinde hervorgewachsen. In der Geschichte ruhen ihre Wurzeln. Im Zusammenhang mit der Geschichte ist die Gemeinde erzogen und hat sich ihr religiöses Leben gebildet. Religion, welche, soweit dies überhaupt möglich ist, geschichtslos ist, nur

Kirmfc, Die Gemeindepredigt.

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gegenwärtiges (Erleben, kann nicht die ständige Nahrung einer geschicht­ lich gewordenen Gemeinde bilden. In demselben Matze, als wir das Recht der Gemeinde betonen, müssen wir auch das Recht der Geschichte betonen. Denn eine Gemeinde, welche innerlich von der Geschichte los­ gelöst ist, wäre wie ein Raum, der, aus der Erde gerissen, vom Strome fortgetragen wird und irgendwo zwischen Steinen und Geröll liegen bleibt, zu nichts mehr wert, als datz man ihn zerhackt und verbrennt. Vie Geschichte braucht uns nicht, aber wir brauchen sie. wir brauchen sie für die Gegenwart, wir brauchen sie auch für die Zukunft. Denn ohne Anknüpfung an sie ist kein vernünftiger Fortschritt, keine organische Weiterentwickelung möglich. Je ernstlicher wir die Rirche vorwärts­ bringen wollen, um so mehr Pietät müssen wir gegen die Geschichte haben. Je freier ein Pfarrer theologisch und philosophisch denkt, um so mehr Respekt mutz er vor der Geschichte haben, auf welcher seine

Gemeinde ruht, aus welcher sie hervorgewachsen, in welcher sie er­ zogen ist. War dem Prediger die rechte innere Gebundenheit gibt bei voller innerer Freiheit, das ist nicht ein totes Bekenntnis, überhaupt nichts Geschriebenes, nichts Formuliertes, sondern einmal die lebendige Gegen­ wart in dem Gemeindeleben mit den Gegenwartsbedürfnissen, und dann das Leben der Vergangenheit, wie es uns in der Geschichte entgegen­ tritt. Hier ist Freiheit Gebundenheit und Gebundenheit Freiheit. Ich kann mir für den evangelischen Pfarrer der Gegenwart keine schönere Freiheit denken, als dieses innere Zusammenleben mit der Gemeinde und mit ihrer Geschichte, in welcher sie wurzelt. Das ist meines Er­ achtens auch der einzige gemeinsame Grund, auf welchem die Prediger sich nicht nur mit den Gemeinden, sondern auch miteinander zusammen­ finden. (Es ist neuerdings darauf hingewiesen worden, die Theologie mit ihren Denknotwendigkeiten mützte diesen gemeinsamen Grund bilden. Vas ist unmöglich. Vie Theologie, soweit sie wirklich Theologie war, hat noch nie die Geister geeint. Vas ist auch gar nicht ihre Aufgabe, wenn sie es täte, wäre sie eine „schlechte Theologie". Ihr Clement ist der Kampf und soll der Kampf sein, wie wenig sie imstande ist, zu einigen, zeigt ihr wahrhaft tragisches Geschick in unseren Tagen. Denken wir an die Theologie Ritschls. Sie baute sich auf dem geschichtlichen Jesus auf; da kamen ihre eigenen Schüler und wiesen die Unmöglich­ keit nach, datz der geschichtliche Jesus der (Orientierungspunkt der Theo­ logie sein könne. Sie gründete sich auf das immanent verstandene „Reich Gottes"; da kamen wieder ihre Schüler und suchten zu beweisen, datz das „Reich Gottes" bei Jesus rein eschatologisch zu verstehen sei und also weder für die Theologie noch für die praktische Verkündigung die Grundlage abgeben könne. So ist es mit der Theologie Ritschls

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gegangen. Und seitdem ist kein Punkt zu entdecken, der als Kern einer Neubildung angesehen werden könnte, weder auf „liberaler" noch auf „positiver" Seite. Nichts ist heutzutage so ungeeignet, uns in der Gemeindearbeit zu einigen, wie die Theologie. Verlangen wir von ihr nicht, was sie nicht zu leisten vermag, was uns zu vereinigen vermag, kann lediglich die innere Verpflichtung gegen unsere Gemeinden sein und der Respekt vor der Geschichte, wie sie sich vollzogen hat von der Bibel, von Jesus ab bis heute. Vas ist genug. IV. Inhalt und Form der Gemeindepredigt.

Ist die predigt für die ganze Gemeinde da, so folgt daraus, daß ihr Inhalt nur bestehen kann in dem, was die geistige Grundlage der Gemeinde bildet, was allen gemeinsam ist, was die Gemeinde zu einem Ganzen verbindet oder verbinden soll, nämlich im Evangelium. Jede predigt mutz irgendwie Evangelium enthalten. Ich weitz wohl, datz diese beiden Sätze: die predigt ist für alle da, und: jede predigt mutz Evangelium enthalten, bestritten werden. Nach meiner Ansicht bilden sie in ihrer Verbindung miteinander eine Wahrheit. Der eine hängt am anderen. Ist die predigt nicht für alle da, dann braucht auch ihr Inhalt nicht Evangelium zu sein. Braucht ihr Inhalt nicht Evangelium zu sein, dann ist sie auch nicht für alle da. Da aber jede der beiden Folgerungen auf dem Boden der evangelischen Kirche un­ möglich ist, so findet jeder der beiden Vordersätze im anderen seine Stütze, wenn sich dem Prediger die schwere Verantwortung auf die Seele legt: du sollst am nächsten Sonntag für alle predigen, allen etwas geben, so wird er ganz von selbst zum Evangelium, welches das einende Band der Gemeinde bildet, hingedrängt. Klan stellte früher die homiletische Regel auf, das Predigtthema solle möglichst wenig allgemein, also möglichst eng umgrenzt sein. Diese Regel mag auch heute noch gelten. Aber so eng das Thema auch sein mag, es mutz innerhalb der Grenzen immer Platz sein für das Evangelium. Je mehr sich die predigt in den Mittelpunkt der Gemeinde stellt — und dieser Mittelpunkt ist das Evangelium —, um so leichter wird sie alle erreichen können. (Es läht sich leicht ver­ stehen, welch einen Reiz es für junge begabte Prediger hat, ganz spe­ zielle „moderne Probleme", mit denen sie sich gerade beschäftigen, in der predigt zu behandeln. Das sieht geistreich aus, es ist vielleicht auch geistreich. Trotzdem ist es eine Verirrung und eine Versündigung an der gottesdienstlichen Gemeinde, wenn die predigt nichts andres enthält als ebendies. Denn ganz abgesehen davon, datz derartige Fragen in einer predigt, noch dazu, wenn sie so kurzatmig ist, wie die heutige predigt vielfach zu sein pflegt, gar nicht erschöpfend behandelt werden können, so datz der Unkundige es kaum begreift, um was es sich eigentlich

Kirmfc, Vie Gemeindepredigt.

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gehandelt hat, während der Kundige, der über das „Problem" selbst

nachgedacht hat, nur das Gefühl des Unbefriedigtseins aus der Kirche mit hinwegnimmt, wird eine solche predigt gerade denen, die mit dem lebhaftesten verlangen in die Kirche gekommen sind, gar nichts geben.

Die gottesdienstliche Gemeinde, wie sie wirklich ist, sucht im Gottesdienst etwas ganz anderes, als Aufklärung über „moderne Probleme". So­ wenig ein Mensch, der sich über Astronomie unterrichten will, zur Bibel greift, so wenig geht ein Mensch in den Gottesdienst, um sich über Fragen zu unterrichten, über welche man aus Büchern, Zeitschriften und Vorträgen viel mehr erfährt, als man in der Kirche erfahren kann, wer die Cntkirchlichung unseres Volkes damit erklären zu können glaubt, daß die predigt zu wenig sich mit „modernen Problemen" beschäftige, ist im Irrtum. Und wer sich beim predigen von dieser Ansicht leiten läßt, predigt einer Gemeinde, die er haben möchte, aber tatsächlich nicht hat, einer Gemeinde, die er im Geiste vor sich sieht, aber nicht in der Kirche vor sich hat. Er predigt so, als säßen die unter seiner Kanzel, die nicht da sind,- und denen, welche wirklich da sind, predigt er nicht. (Es ist für jemand, der es mit dem Prediger und der Gemeinde gut meint, eine wahre (Qual, zu sehen, wie sich der Mann auf der Kanzel für Dinge ereifert, welche die Leute unter der Kanzel gar nicht inter­ essieren und interessieren können, und wie verständnislos die Leute unter der Kanzel zu der Kanzel emporsehen. (Es ist ein Jammer, wieviel tüchtige geistige Arbeit, die nur am falschen Grt geleistet und dargeboten wird, völlig zwecklos in die Luft verpufft. Jede Gemeindepredigt muß Evangelium enthalten. Trotzdem kann da von Eintönigkeit oder Gleichförmigkeit keine Rede sein. Das Gebiet, weites der Gemeindepredigt offen steht, wird damit durchaus nicht ein­ geengt. Es kommt nur darauf an, daß, worüber der Prediger auch predigen mag, stets