Landschaftliches Hochdeutsch: Rekonstruktion der oralen Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert 3515116796, 9783515116794

Bereits lange vor der Etablierung einer nationalen Standardaussprache haben sich Sprecher in der mündlichen Kommunikatio

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DANKSAGUNG
INHALTSVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
2 LANDSCHAFTLICHES HOCHDEUTSCH: GEGENSTANDSKONSTITUTION UND -BESCHREIBUNG
2.1 Zur Entstehung und zum Status der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch
2.2 Motive der Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch
2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache
2.4 Die Weiterentwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch
3 FORSCHUNGSSTAND
4 EIGENE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
4.1 Forschungsfragen
4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch
4.3 Aufbau der Untersuchungen
5 WILHELM VIËTOR „BEITRÄGE ZUR STATISTIK DER AUSSPRACHE DES SCHRIFTDEUTSCHEN“ (1888–1890)
5.1 Quellenlage und -kritik
5.2 Methodik
5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch
Exkurs: Zur Aussprachevariation bei /eː/, /ɛː/ und /ɛ/
5.4 Zwischenfazit und Übersicht der Untersuchungsvariablen
5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch
5.6 Zusammenfassung
6 DYNAMIK DIACHRONE VERÄNDERUNGEN VOM LANDSCHAFTLICHEN HOCHDEUTSCH ZUM REGIOLEKT
6.1 Mülheim an der Ruhr und Remscheid
6.2 Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz
6.3 Segeberg und Ostfriesland
6.4 Hannover
6.5 Flensburg
6.6 Westliches Ostfriesland
6.7 Zusammenfassung und Fazit
7 SCHRIFTSPRACHORIENTIERTE FEHLSCHREIBUNGEN SEKUNDÄRANALYSE DES „SPRACHATLAS DES DEUTSCHEN REICHS“ (1888–1923)
7.1 GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“
7.2 Die zeitgenössische Rezeption als Mittel zur Rekonstruktion
7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses
7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen
7.5 Methodik
7.6 Beispielanalysen
7.7 Zusammenfassung
8 FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
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Landschaftliches Hochdeutsch: Rekonstruktion der oralen Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert
 3515116796, 9783515116794

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Brigitte Ganswindt Landschaftliches Hochdeutsch

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt

band 168

Brigitte Ganswindt

Landschaftliches Hochdeutsch Rekonstruktion der oralen Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Rahmen der Förderung des Akademievorhabens „Regionalsprache.de“ (REDE) durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Hessen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11679-4 (Print) ISBN 978-3-515-11680-0 (E-Book)

DANKSAGUNG Dieses Buch stellt die leicht überarbeitete Version meiner 2016 eingereichten Dissertation dar, die vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg angenommen wurde. Meinen akademischen Lehrern Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt und Prof. Dr. Joachim Herrgen danke ich nicht nur für die Annahme meines Themas und ihre fachliche Unterstützung, sondern vor allem für die stete Förderung. Dank für anregende wissenschaftliche Gespräche und vielfältige Hilfestellungen unterschiedlichster Art gebührt Dennis Bock, Robert Engsterhold (beide Marburg), Prof. Dr. Michael Elmentaler (Kiel), Prof. Dr. Stephan Elspaß (Salzburg), Dr. Hanna Fischer, Marina Frank, Dr. Tanja Giessler, Gundula Grund †, Dr. Gea de Jong-Lendle, Bettina Kehrein, Prof. Dr. Roland Kehrein (alle Marburg), Dr. Andrea Kleene, Dr. Stefan Kleiner (beide Mannheim), Carolin Kiesewalter (Marburg), Prof. Dr. Werner König (Augsburg), Prof. Dr. Alfred Lameli, Dr. Sylvia Langwald, Manuela Lanwermeyer (alle Marburg), Prof. Dr. Alexandra Lenz (Wien), Juliane Limper (Marburg), Prof. Dr. Mark Louden (Madison), Björn Lüders (Hannover), Slawomir Messner, Mark Pennay † (beide Marburg), Dr. Christoph Purschke (Luxemburg), Prof. Dr. Stefan Rabanus (Verona), Dr. Josephine Rocholl (Berlin), Philipp Spang (Köln), Verena Teschke (Roßdorf), Lars Vorberger und Dr. Anna Wolańska (beide Marburg). Weiterhin gilt mein Dank den Reihenherausgebern der „Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik“ für die Aufnahme des Buches und dem Franz Steiner Verlag, namentlich Susanne Henkel und Sarah-Vanessa Schäfer, für die gute Betreuung und Zusammenarbeit. Der Akademie der Wissenschaften und Literatur zu Mainz danke ich für die finanzielle Förderung der Drucklegung. Meinen größten Dank schulde ich meinem Mann Nico für seinen unerschütterlichen Glauben an mich und seine schier endlose Bereitschaft, mit mir zu diskutieren. Leopold und Theodor danke ich für liebevolle Zerstreuung zu jeder Tages- und Nachtzeit. Für ihre Zuversicht und Aufmunterung danke ich meiner Schwester Gerda. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Mutter, die mich auf allen meinen Wegen immer geduldig unterstützt hat. Ohne sie hätte es die folgenden Seiten nicht gegeben. Marburg, im Juli 2017

Brigitte Ganswindt

INHALTSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG .................................................................................................... 11 2 LANDSCHAFTLICHES HOCHDEUTSCH: GEGENSTANDSKONSTITUTION UND -BESCHREIBUNG .................................................... 15 2.1 Zur Entstehung und zum Status der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch ................................................................................................. 15 2.2 Motive der Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch ............................. 21 2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache .................................................... 25 2.4 Die Weiterentwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch......................... 36 3 FORSCHUNGSSTAND .................................................................................... 41 4 EIGENE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG ................................................... 47 4.1 Forschungsfragen ......................................................................................... 47 4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch ................. 49 4.2.1 Audiomaterial der deutschen Rundfunkarchive als mögliche Quellen?............................................................................................... 49 4.2.2 Schriftliche Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch ........................................................................................ 54 4.3 Aufbau der Untersuchungen ........................................................................ 59 5 WILHELM VIËTOR „BEITRÄGE ZUR STATISTIK DER AUSSPRACHE DES SCHRIFTDEUTSCHEN“ (1888–1890).................................................... 63 5.1 Quellenlage und -kritik ................................................................................ 63 5.2 Methodik....................................................................................................... 68 5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch ................................................................................................. 72 Exkurs: Zur Aussprachevariation bei /eː/, /ɛː/ und /ɛ/........................................ 74 5.3.1 Gotha und Erfurt ................................................................................. 77 5.3.2 Artern an der Unstrut .......................................................................... 84 5.3.3 Nordhausen am Harz .......................................................................... 90 5.3.4 Aschersleben ....................................................................................... 95 5.3.5 Hannover ............................................................................................. 99 5.3.6 Greifswald (Neuvorpommern) .......................................................... 104 5.3.7 Segeberg ............................................................................................ 106

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Inhaltsverzeichnis

5.3.8 Flensburg ........................................................................................... 110 5.3.9 Ostfriesland ....................................................................................... 116 5.3.10 Westliches Ostfriesland .................................................................. 120 5.3.11 Bad Ems .......................................................................................... 126 5.3.12 Remscheid ....................................................................................... 131 5.3.13 Mülheim an der Ruhr ...................................................................... 134 5.4 Zwischenfazit und Übersicht der Untersuchungsvariablen ....................... 137 5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch .................................. 140 5.5.1 Clusteranalyse ................................................................................... 140 5.5.2 Implikationsanalyse........................................................................... 144 5.5.2.1 Implikationen im Thüringischen .......................................... 147 5.5.2.2 Implikationen im Westmitteldeutschen ................................ 149 5.5.2.3 Implikationen im Niederdeutschen ....................................... 150 5.5.2.4 Zusammenfassung und Fazit der Implikationsanalyse ......... 153 5.5.3 Vergleich mit LAMELI (2013) ........................................................... 155 5.6 Zusammenfassung ...................................................................................... 158 6 DYNAMIK – DIACHRONE VERÄNDERUNGEN VOM LANDSCHAFTLICHEN HOCHDEUTSCH ZUM REGIOLEKT................. 161 6.1 Mülheim an der Ruhr und Remscheid ....................................................... 163 6.2 Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz ............... 171 6.3 Segeberg und Ostfriesland ......................................................................... 175 6.4 Hannover .................................................................................................... 179 6.5 Flensburg .................................................................................................... 182 6.6 Westliches Ostfriesland .............................................................................. 185 6.7 Zusammenfassung und Fazit ...................................................................... 188 7 SCHRIFTSPRACHORIENTIERTE FEHLSCHREIBUNGEN – SEKUNDÄRANALYSE DES „SPRACHATLAS DES DEUTSCHEN REICHS“ (1888–1923) .................................................................................... 193 7.1 GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“............................ 194 7.2 Die zeitgenössische Rezeption als Mittel zur Rekonstruktion .................. 196 7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses ...................................................... 199 7.3.1 Analysierbare Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch auf Basis des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“.......................... 202 7.3.2 Nicht-analysierbare Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch auf Basis des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ .............................................................................................. 210 7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen .................................................................................. 212 7.4.1 Dialektverschriftung und Laienschreibungen ................................... 213 7.4.2 Regionale Schreibtraditionen ............................................................ 217 7.5 Methodik..................................................................................................... 222

Inhaltsverzeichnis

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7.5.1 Datenauswertung und Kartierung ..................................................... 223 7.5.2 Konzeptionell-technische Entwicklung des Sprachgeographischen Informationssystems REDE (REDE SprachGIS) ........................................................................... 228 7.6 Beispielanalysen ......................................................................................... 231 7.6.1 Analyse 1: Entrundung in müde ....................................................... 232 7.6.1.1 Beschreibung des Phänomenbereichs ................................... 232 7.6.1.2 Analyse ................................................................................. 234 7.6.1.3 Interpretation ......................................................................... 240 7.6.2 Analyse 2: Entrundung in böse......................................................... 244 7.6.2.1 Beschreibung des Phänomenbereichs ................................... 245 7.6.2.2 Analyse ................................................................................. 245 7.6.2.3 Interpretation ......................................................................... 249 7.6.3 Analyse 3: g-Spirantisierung in fliegen ............................................ 253 7.6.3.1 Mülheim an der Ruhr ........................................................... 257 7.6.3.2 Altenburg .............................................................................. 262 7.7 Zusammenfassung ...................................................................................... 265 8 FAZIT ............................................................................................................... 269 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................. 273 ANHANG ............................................................................................................ 292

1 EINLEITUNG

Jeder naive Mensch glaubt zu sprechen, wie er schreibt.

(OTTO BREMER 1895, 189)

Vor der Etablierung einer nationalen Standardaussprache des Deutschen stellten landschaftliche Oralisierungsnormen der Schriftsprache das Hochdeutsch damaliger Sprecher dar. Diese Aussprachekonventionen des Schriftdeutschen werden hier, analog zur Terminologie der Sprachdynamiktheorie (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011), als l a n d s c h a f t l i c h e s H o c h d e u t s c h bezeichnet. Ziel der vorliegenden Studie ist die Rekonstruktion dieser historischen oralen Prestigevarietät, über die bislang nur wenig bekannt ist. Als Untersuchungszeitraum wurde das ausgehende 19. Jahrhundert gewählt, da diese Zeit für den gewählten Forschungsgegenstand besonders interessant erscheint. Die schriftsprachliche Vereinheitlichung war nach einem Jahrhunderte andauernden Prozess weitgehend abgeschlossen und stand unmittelbar vor einer ersten (überstaatlichen) Normierung. Somit war die Schriftsprache erstmals in der Geschichte des Deutschen so homogen, dass aufgrund der literalen Vorlage für die Aussprache des Schriftdeutschen keine regionalen Unterschiede mehr zu erwarten wären, wie es etwa bei den historischen areal differenzierten Schreibsprachen noch der Fall war. Zugleich war das ausgehende 19. Jahrhundert die Zeit, in der aus schulpädagogischer und sprachwissenschaftlicher Richtung verstärkt Versuche zur Normierung der Aussprache unternommen wurden. Die „Aussprachenormierer“ dieser Zeit spalteten sich dabei in zwei Lager auf. Die einen propagierten regionale Aussprachestandards, die nur für einzelne Dialektgebiete Geltung beanspruchen sollten (vgl. etwa ACKERKNECHT 1900/1901). Eine überregionale Aussprachenorm hielten sie weder für erstrebenswert noch für umsetzbar. Die anderen verfochten die Idee eines nationalen Aussprachestandards, der eine einheitliche Norm für alle Sprecher – unabhängig von ihrem dialektalen Hintergrund – bieten sollte. Als die wichtigsten Vertreter dieser Richtung können THEODOR SIEBS und WILHELM VIËTOR angesehen werden. SIEBS begründete schließlich die „Deutsche Bühnenaussprache“ (1898), die zwar für den sprechsprachlichen Alltag aufgrund ihrer Überprononciertheit nicht geeignet war, aber die erste Kodifizierung darstellte, die institutionellen bzw. offiziellen Rückhalt für sich beanspruchen konnte. VIËTORS Normierungsvorschläge hingegen konnten sich offiziell nicht durchsetzen, hätten aber aufgrund ihrer empirischen Fundierung und ihrer Toleranz für Varianten eine für die tägliche Kommunikation geeignetere Orientierungsgrundlage bieten können. Genau dieser interessanten Zeit im ausgehenden 19. Jahrhundert wendet sich die vorliegende Studie zu, um empirisch zu rekonstruieren, wie das „Hochdeutsch“ der damaligen Sprecher geklungen haben könnte. Es wird also unter-

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1 Einleitung

sucht, wie die damaligen Sprecher gesprochen haben, wenn sie überregional verstanden werden wollten oder wenn sie durch ihre Sprachverwendung ein gewisses Prestige erreichen bzw. wahren wollten. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass das landschaftliche Hochdeutsch noch deutlich regional bzw. dialektal geprägt war (vgl. z. B. KÖNIG 2004, 176, ELMENTALER 2005, 407 oder SCHMIDT / HERRGEN 2011, 64). Denn woran sollten sich Sprecher bei ihrer Aussprache orientieren, wenn es noch keinen Aussprachestandard gab, den man hätte nachschlagen können (was vermutlich aber auch heute die wenigsten Menschen tun) und wenn es noch keinen Radiomoderator oder Tagesschau-Sprecher gab, der die normierte Aussprache täglich präsentierte? Wenn man davon ausgeht, dass zur Ausspracheorientierung weitgehend nur die Schriftsprache vorhanden war, dann stellt sich im nächsten Schritt die Frage, welchen Lautwert die damaligen Sprecher mit den Buchstaben und Buchstabenkombinationen des Schriftdeutschen verbunden haben. Da den Sprechern als orale Varietät (neben dem landschaftlichen Hochdeutsch) nur der Dialekt zur Verfügung stand, ist als wahrscheinlich anzunehmen, dass die ihnen daraus bekannten phonologischen und prosodischen Strukturen auch bei der Aussprache des Schriftdeutschen zur Anwendung kamen. Es kann daher angenommen werden, dass Sprecher unterschiedlicher Dialektregionen mit den Buchstaben und Buchstabenkombinationen der Schriftsprache auch unterschiedliche Laute verbunden haben. Somit ergibt sich aus diesen Annahmen die Hypothese, dass das landschaftliche Hochdeutsch je nach dialektaler Grundlage unterschiedlich gewesen sein dürfte. Da es sich beim Dialekt und dem landschaftlichen Hochdeutsch um zwei separate Varietäten gehandelt hat, die zwar aufeinander bezogen gewesen sein müssen, aber nicht identisch gewesen sein konnten, ist die große Frage bei der Rekonstruktion der Prestigevarietät, welche dialektalen Merkmale beim Hochdeutsch-Sprechen beibehalten wurden. Dies könnten zum einen solche sein, die für die Sprecher nicht salient waren. Diese Merkmale blieben also erhalten, weil sie den Sprechern nicht bewusst waren. Denkbar wäre aber auch, dass manche Merkmale bewusst beibehalten wurden, weil mit ihnen zum Beispiel ein gewisses Sprachprestige verbunden wurde. Außerdem könnten sich im landschaftlichen Hochdeutsch auch andere Merkmale als im Dialekt vorhandene etabliert haben. Diese offenen Fragen, die sich mühelos um weitere ergänzen ließen, zeigen deutlich, dass es über die historische orale Prestigevarietät des Deutschen bislang kaum gesicherte Erkenntnisse gibt. Zwar bietet die Literatur viele (gut begründete) Annahmen und Thesen zu diesem Thema, die empirische Untermauerung hingegen fehlt bislang weitgehend (vgl. hierzu den Forschungsüberblick in Kapitel 3). In diese Forschungslücke positioniert sich die vorliegende Arbeit. Die Studie will einen Beitrag dazu leisten, die historische Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert empirisch fundiert zu rekonstruieren. Dass dabei nicht alle linguistischen Systemebenen betrachtet werden können, versteht sich von selbst. Im Fokus der Arbeit liegt daher die Rekon-

1 Einleitung

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struktion der phonetisch-phonologischen Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch, welche anhand verschiedener Quellen erschlossen werden sollen. Daneben wird hier überprüft, ob das landschaftliche Hochdeutsch als historische Grundlage der rezenten standardnahen und -nächsten Varietäten und Sprechlagen des Deutschen angesehen werden kann (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 65–68). Durch die massenmediale Verbreitung der deutschen Standardaussprache in Rundfunk und später Fernsehen kann davon ausgegangen werden, dass das landschaftliche Hochdeutsch ab den 30er/40er Jahren des 20. Jahrhunderts von vielen Sprechern als regional begrenzt wahrgenommen wurde. Die ehemalige Prestigevarietät wurde nun Teil einer sich neu konstituierenden Regionalsprache und wird dabei als Grundlage des Regiolekts angesehen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 66). Die Forschungsfragen, die diese Arbeit beantworten möchte, sind also: Welche phonetisch-phonologischen Merkmale finden sich im areal differenzierten landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Welche Variantenprofile lassen sich für einzelne Orte oder Regionen aufstellen? Wo verlaufen Grenzen im landschaftlichen Hochdeutsch zur Untersuchungszeit? Stimmen diese mit den Grenzen der Dialektgebiete überein? Lassen sich lautliche Phänomene mit großräumiger Verbreitung im landschaftlichen Hochdeutsch der Untersuchungszeit identifizieren? Und wenn ja, welchen Raumstrukturen unterliegt ihre Verbreitung? Inwieweit kann das landschaftliche Hochdeutsch als historische Vorstufe der rezenten Regiolekte gelten? Und wie abbausensitiv verhalten sich lautliche Phänomene im diachronen Vergleich? Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen ist die Arbeit wie folgt aufgebaut: Zunächst wird der Gegenstand der Untersuchung, die Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch, aus theoretischer Perspektive betrachtet (Kapitel 2). Dies geschieht in Anbindung an die Theorie der Sprachdynamik (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, SCHMIDT 2005b), da mit ihr eine präzise Erklärung der hier relevanten sprachlichen Dynamik des Deutschen möglich ist. Neben der Gegenstandsbestimmung wird auf die Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch eingegangen. Zudem wird die Entwicklung der deutschen (schriftlichen und mündlichen) Standardsprache nachverfolgt und aus theoretischer Sicht die Weiterentwicklung der historischen Prestigevarietät in den Blick genommen. Im Anschluss wird der Stand der bisherigen Forschungsergebnisse zum hier behandelten Themengebiet referiert (Kapitel 3). Daran anschließend folgen die eigenen empirischen Untersuchungen. In Kapitel 5 werden WILHELM VIËTORS „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ (1888–1890) detailliert ausgewertet. Mit diesen Daten einer indirekten Erhebung zur Leseaussprache liegt ein gut geeignetes Korpus vor, anhand dessen für Teile des mittel- und niederdeutschen Sprachraumes ortsbzw. regionenspezifische Variantenprofile der phonetisch-phonologischen Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert erstellt werden können. Bei der Rekonstruktion der lautlichen Merkmale wird zudem untersucht, ob diese aus dem jeweiligen Dialekt beibehalten wurden oder anderen Ursprungs sind. Auf die aus dem Viëtor-Korpus ermittelten Variantenprofile

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1 Einleitung

werden dann verschiedene statistische Methoden angewendet, um Raumstrukturen im landschaftlichen Hochdeutsch zu ermitteln. Zur Überprüfung der These, ob es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um den historischen Vorläufer des Regiolekts handelt, wird in Kapitel 6 die diachrone Entwicklung der Prestigevarietät in den Blick genommen. Dazu werden die in Kapitel 5 gewonnenen Ergebnisse mit aktuellen Studien vergleichend in Beziehung gesetzt. Diese Untersuchung verspricht zudem Erkenntnisse über die diachrone Abbausensitivität und über die Salienz lautlicher Merkmale. Im Anschluss erfolgt eine Sekundäranalyse ausgewählter Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (Kapitel 7). Die Auswertung schriftsprachorientierter Fehlschreibungen auf diesen Karten ermöglicht Aussagen über die sprachgeographische Verbreitung lautlicher Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch.

2 LANDSCHAFTLICHES HOCHDEUTSCH: GEGENSTANDSKONSTITUTION UND -BESCHREIBUNG Im Fokus dieser Arbeit steht die Rekonstruktion einer historischen Prestigevarietät des Deutschen, die in Anlehnung an die Terminologie der Sprachdynamik als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet werden soll (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 65–67). Ziel dieses Kapitels ist eine Beschreibung des Forschungsgegenstandes. Dabei ist zunächst zu klären, was genau unter den Begriff des landschaftlichen Hochdeutsch gefasst werden soll. Untrennbar verbunden mit dieser Gegenstandsbeschreibung ist die Erläuterung der Entstehung des landschaftlichen Hochdeutsch in der spezifischen sprachlichen Situation des Deutschen. Aus diesem Grund erfolgen Gegenstandsbeschreibung und -konstitution zusammen (Kapitel 2.1). Im Folgenden wird dann auf die Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch näher eingegangen. Dabei wird zum einen diskutiert, welche Bevölkerungsgruppen als Trägerschaft des landschaftlichen Hochdeutsch angesehen werden können. Soweit es der Forschungsstand zulässt, soll dabei auch eine zeitliche Einordnung vorgenommen werden. Zum anderen dient Kapitel 2.2 dazu, die Motive der Sprecher, sich einer (neuen) Prestigevarietät zu bedienen, näher zu beleuchten. Diese Motivation der Sprecher kann einerseits als Motor und andererseits als Resultat der Etablierung einer überregionalen deutschen Einheitsoder Standardsprache angesehen werden. Im Anschluss (Kapitel 2.3) wird daher der Weg zur deutschen Standardsprache näher beschrieben. Da neben dem vorrangigen Ziel dieser Arbeit, der Rekonstruktion der historischen Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch, auch die Weiterentwicklung dieser Prestigevarietät untersucht werden soll, widmet sich Kapitel 2.4 unter theoretischem Blickwinkel diesem Gegenstand. Dabei wird der Theorie der Sprachdynamik folgend (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011) die sprachgeschichtliche Weiterentwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch betrachtet, was einhergeht bzw. gleichbedeutend ist mit der Entstehung der modernen Regionalsprachen, wie sie die aktuelle sprachliche Situation des Deutschen ausmachen. 2.1 Zur Entstehung und zum Status der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch Für die Vorstufe des heutigen Deutschen sind nebeneinander bestehende, areal differenzierte, kleinräumige Varietäten anzunehmen. Eine Annahme der Existenz dieser „lantsprachen“1 erscheint aufgrund der sprachgeschichtlichen Zeugnisse plausibel. So finden diese erstmals um circa 1300 und in der Folge öfter Erwähnung und zwar in einer Schrift des Bamberger Schulrektors HUGO VON TRIM1

Zur Übersetzung des Begriffes als „Landessprache“ oder „Muttersprache“ und keinesfalls als „Dialekt“ vgl. REIFFENSTEIN (2003, 2208–2209).

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

BERG,

die unter dem Namen „Renner“ bekannt ist (vgl. EHRISMANN 1970). Die Beschreibungen dort lassen davon ausgehen, dass zwischen diesen Arealsprachen keine Konkurrenzsituation um die Sprache mit dem größten Prestige anzunehmen ist, sondern vielmehr ein Nebeneinander gleichwertiger Sprachen. Zudem erlauben die Beschreibungen im „Renner“ nach REIFFENSTEIN (vgl. 2003, 2208) den Schluss, dass eine überdachende Gemeinsprache nicht einmal in Ansätzen vorhanden war und auch kein Bedürfnis nach einer solchen geäußert wurde. Diese Situation änderte sich sukzessive mit der Einführung und Etablierung einer überregionalen Varietät, die sich zunächst in Form einer deutschen Schriftsprache und später auch in einer mündlichen Standardsprache durchsetzte.2 Ab dem 16. Jahrhundert lässt sich eine neuhochdeutsche Schriftsprache annehmen, die zumindest ansatzweise so weit vereinheitlicht war, dass nicht mehr von einzelnen Schreibsprachen mit areal begrenzter Geltung ausgegangen werden muss.3 Mit dem Vorhandensein einer überregionalen Schriftsprache begannen erste Sprecher(gruppen) sich auch in der Aussprache an dieser schriftlichen Norm zu orientieren. Nachdem sich anfangs nur verhältnismäßig kleine, elitäre Sprechergruppen an der Oralisierung der Schriftsprache versucht haben dürften, weitete sich dieser Kreis etwa um 1700 zunehmend auf immer größere Teile städtischer Sprecher aus (vgl. etwa SCHMIDT / HERRGEN 2011, 54 oder MATTHEIER 2003, 229 sowie Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit). Es ist anzunehmen, dass nach der Etablierung der Schriftsprache als überregionale Ausgleichsvarietät und mit den neuen, auf größere Sprecherkreise ausgedehnten Oralisierungsversuchen selbiger ein Bewusstsein der Sprecher für die areale Begrenztheit ihrer (bisherigen) Sprache entstanden ist. Dementsprechend gehen SCHMIDT / HERRGEN (vgl. 2011, 54 und 65) davon aus, dass die alten Arealsprachen in dem Moment (etwa um 1700) zu Dialekten (also im Sinne der Sprachdynamik zu den „standardfernsten, lokal oder kleinregional verbreiteten Vollvarietäten“,4 SCHMIDT / HERRGEN 2011, 59) wurden, als ihre räumliche Begrenztheit sprecherseitig wahrgenommen werden konnte. Bei den Ausspracheversuchen der Schriftsprache handelte es sich um die einzige Möglichkeit, eine Art „Hochdeutsch“ zu sprechen. Da es für das Deutsche noch keine normierte Standardaussprache (Orthoepie) gab, stellten diese nicht 2 3 4

Vgl. zur Etablierung einer deutschen Einheits- oder Standardsprache auch den detaillierteren Überblick in Kapitel 2.3. Zu Datierungen der verschiedenen Entstehungsphasen der neuhochdeutschen Schriftsprache sowie zum Einfluss der arealen Schreibsprachen siehe etwa BESCH (1987). Der Begriff der Varietät ist im selben theoretischen Rahmen, in dem sich ebenfalls die vorliegende Arbeit verortet, wie folgt definiert: „Individuell-kognitiv sind Varietäten [...] durch je eigenständige prosodisch-phonologische und morpho-syntaktische Strukturen bestimmte und mit Situationstypen assoziierte Ausschnitte des sprachlichen Wissens. [...] [Sprachsozial sind sie] als partiell systemisch differente Ausschnitte des komplexen Gesamtsystems Einzelsprache, auf deren Grundlage Sprechergruppen in bestimmten Situationen interagieren, [definiert].“ Dem Status einer „Vollvarietät“ genügen diejenigen Varietäten, die der genannten Definition „vollgültig“ entsprechen (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51). Vgl. zum Varietätenbegriff auch SCHMIDT (2005c).

2.1 Zur Entstehung und zum Status der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch

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kodifizierten Oralisierungskonventionen nicht nur im Bewusstsein der damaligen Sprecher die „richtige“ Aussprache des Schriftdeutschen und damit ihr „bestes“ Hochdeutsch dar, sondern waren zugleich das einzige bestehende gesprochene Hochdeutsch. Das Varietätenspektrum großer Teile deutscher Sprecher umfasste also etwa ab 1700 neben ihrem Dialekt auch ihre Aussprache des Schriftdeutschen, so dass von einem Wechsel von einem Einvarietäten- zu einem Zweivarietätensystem des Deutschen ausgegangen werden kann (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 65). Die bisherigen Ausführungen deuten bereits an, dass es sich bei den Oralisierungsversuchen der Schriftsprache nicht um einheitliche Aussprachen für das gesamte deutsche Sprachgebiet gehandelt haben dürfte.5 Vielmehr ist davon auszugehen, dass diese Oralisierungskonventionen regional divergent gewesen sind. Die landschaftlichen Verschiedenheiten sind dabei aus den folgenden Gründen anzunehmen: Vor den Ausspracheversuchen der Schriftsprache stand allen Sprechern in der mündlichen Kommunikation einzig ihr jeweiliger Dialekt zur Verfügung. Jede Umsetzung einer schriftsprachlichen Vorlage in eine mündliche Realisierung musste daher zwangsläufig auf Grundlage des jeweiligen dialektalen Systems erfolgen. Dies ist insbesondere für den lautlichen Bereich relevant, da die Buchstaben und Buchstabenkombinationen der Schrift auf das jeweilige Phonemsystem eines Sprechers bezogen werden mussten. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn im Dialekt eines Sprechers das /g/-Phonem durchweg spirantisch realisiert wurde, dann ist davon auszugehen, dass dieser Sprecher auch bei der Aussprache des Schriftdeutschen alle -Graphien spirantisch umsetzte. Dies konnte dann beispielsweise dazu führen, dass die beiden Wörter Teig und Teich lautlich identisch als [ta̠ɪ͡ ç] realisiert wurden. In Dialekten hingegen, die ein plosivisches /g/-Phonem hatten, sind diese Homonymien bzw. Homophone nicht anzunehmen. Da ein unmittelbarer Einfluss der unterschiedlichen dialektalen Phonemsysteme auf die Oralisierungen der Schriftsprache also aufgrund des Fehlens anderer Orientierungsgrundlagen zwangsläufig anzunehmen ist, muss davon ausgegangen werden, dass diese Oralisierungen (ebenso wie die Dialekte) landschaftlich divergent waren.6 Zumindest für die frühen Oralisierungen können daher die Grenzen der Dialektverbände auch als Grenzen der Oralisierungen des Schriftdeutschen angenommen werden (vgl. auch SCHMIDT / HERRGEN 2011, 64– 65). Im Rahmen der Sprachdynamiktheorie, die davon ausgeht, dass sich sprachlicher Wandel durch Synchronisierungsprozesse erklären lässt, können diese Oralisierungen des Schriftdeutschen wie folgt beschrieben werden: Allgemein lässt sich Synchronisierung definieren als „Abgleich von Kompetenzdifferenzen im Performanzakt mit der Folge einer Stabilisierung und/oder Modifizierung der beteiligten aktiven und passiven Kompetenzen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 28). Bei den Versuchen einzelner Sprecher, die Buchstaben und Buchstabenverbin5 6

Diese sowie die folgenden Erläuterungen beziehen sich – sofern nicht anders angegeben – auf die Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN (2011, insbesondere 63–65). Vgl. hierzu beispielsweise auch KÖNIG (2004a, 176) oder ELMENTALER (2005, 407).

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

dungen des Schriftdeutschen auf den jeweiligen dialektalen Fundamentalbereich ihrer sprachlichen Kompetenz zu beziehen, handelt es sich in diesem Sinne um Mikrosynchronisierungen7 an der Schriftsprache, also „punktuelle, in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung[en] und zugleich Stabilisierung[en] des individuellen sprachlichen Wissens“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29). Mit der im Laufe der Zeit zunehmenden Sprecheranzahl in den städtischen Zentren richteten auch größere Gruppen ihre Synchronisierungen an der Schrift aus. Innerhalb dieser Gruppen ist ein ähnlicher bzw. gleicher dialektaler Hintergrund anzunehmen und die Synchronisierungen ihrer Mitglieder richteten sich auf die gleiche Schriftsprache. Daher ist hier von Mesosynchronisierungen, also „Folge[n] von gleichgerichteten Synchronisierungsakten, die Individuen in Situationen personellen Kontaktes vornehmen und die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichem Wissen führ[en]“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31), auszugehen. Das gemeinsam ausgebildete sprachliche Wissen führte in der Folge innerhalb der einzelnen Gruppen zu relativ einheitlichen und stabilen Aussprachekonventionen der Schriftsprache. Diese Konventionen wurden dann zu fester etablierten Oralisierungsnormen mit vermutlich weiterer arealer (großlandschaftlicher) Ausdehnung, als sie an immer größer werdende Sprecherkreise über sogenannte Normierungsagenturen verbreitet wurden.8 Solche Institutionen der Normverbreitung sind zum einen in der Kirche zu sehen, zum anderen aber – mit wohl wesentlich größerem Einfluss – in der Schule, wo die landschaftliche Oralisierung des Schriftdeutschen von Pfarrern und Lehrern an die Kirchgänger9 bzw. die Schulkinder weiter vermittelt wurde (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 64–65).10 Je stabiler und verbreiteter diese Oralisierungsnormen wurden, desto weniger notwendig war ein persönlicher Kontakt der Sprecher, die ihre Synchronisierungen an der Schriftsprache bzw. 7

Die Mikrosynchronisierung stellt den allen anderen Synchronisierungen zugrunde liegenden Elementarakt dar. Der Abgleich individueller Kompetenzen in Einzelinteraktionen umfasst sowohl den Sprachproduktionsakt, also die Seite des Sprechers bzw. Schreibers, als auch den dazugehörigen Verstehensakt (Hörer bzw. Leser) und damit die beiderseitigen Stabilisierungen bzw. Modifizierungen der individuellen Kompetenzen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29). 8 Vgl. zur Entstehung regionaler Umgangssprachen (also dem landschaftlichen Hochdeutsch in der hier verwendeten Terminologie) und ihren Zusammenhang mit der Verwendung im Schulunterricht des 19. Jahrhunderts auch ELMENTALER (2005). 9 Der Einfluss der Kirche lässt sich mit BRENNERS (1904, 137) Worten prägnant wie folgt zusammenfassen: „Gerade das Kirchenlied zwang den gemeinen Mann wenigstens einmal in der Woche hochdeutsche Laute und Worte selbst zu sprechen.“ 10 Später sieht etwa WEBER (1908, 6) auch einen Einfluss von Printmedien auf die Entwicklung und Verbreitung des landschaftlichen Hochdeutsch: „Neben den Einflüssen von Kanzel, Schule und Waffendienst ist auch der der Zeitung nicht zu unterschätzen, die heute jeder täglich liest […]. Oft habe ich zugehört, wie Leute, die sonst reine Mundart sprechen unter dem Eindruck der gelesenen Artikel über Unglücksfälle und Politik halb mundartlich, halb hochdeutsch darüber redeten. Zum Teil tun sie es auch im Gefühl der Bedeutung, Wichtigkeit des Ereignisses, in gehobener Stimmung; denn ich habe auch sonst beobachtet, daß Leute die Schriftsprache gebrauchen, um etwas zu beteuern oder ihren Worten Nachdruck zu verleihen.“

2.1 Zur Entstehung und zum Status der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch

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der neuen Oralisierungsnorm ausrichteten. Im Endeffekt entstanden die mündlichen Normen einzelner Landschaften also durch (sich wiederum aus Mikro- und Mesosynchronisierungen zusammensetzenden) Makrosynchronisierungen11 mit der überdachenden literalen Norm. Die bisherigen Ausführungen erlauben nun eine Definition des hier im Fokus stehenden Forschungsgegenstandes: Als l a n d s c h a f t l i c h e s H o c h d e u t s c h werden die auf Synchronisierungsprozessen beruhenden, areal divergenten Oralisierungen der Schriftsprache durch Dialektsprecher nach der Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache bezeichnet. Bis zur Einführung einer nationalen Standardaussprache (Orthoepie) handelte es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um das „beste“ Hochdeutsch der damaligen Sprecher. Es stellt sich nun die Frage, wie einheitlich das landschaftliche Hochdeutsch zu einem bestimmten Zeitpunkt war. Sicher ist, dass auch innerhalb einer Region nicht jeder Sprecher exakt das gleiche landschaftliche Hochdeutsch gesprochen hat. Dies widerspricht sowohl dem sich in ständigem Wandel befindlichen, dynamischen Wesen von Sprache12 als auch der Struktur der jeweiligen Sprachkompetenzen von Individuen, die sich grundsätzlich unterscheiden (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 49). Daher dürfte klar sein, dass es selbst zum Zeitpunkt relativ einheitlicher Oralisierungen der Schriftsprache Unterschiede im landschaftlichen Hochdeutsch innerhalb einer Region gegeben hat. Diese Unterschiede werden, wie die Belege in der Literatur zeigen, bereits ab dem 16. Jahrhundert vereinzelt (vgl. etwa JOSTEN 1976, 216) und in der Folge häufiger mit einer sozialen Schichtung der Sprecher begründet (vgl. etwa MIHM 2003). In der Regel beschränken sich die Ausführungen in der Literatur allerdings auf die Nennung von (sozialen) Unterschieden im landschaftlichen Hochdeutsch, ohne dabei auf konkrete sprachliche Beispiele einzugehen. Eine dahingehend differenzierte Untersuchung lässt daher nur wenig verlässliche Ergebnisse erhoffen. Für die hier im Forschungsinteresse stehende Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch ist eine über die oben genannte Definition hinausgehende Spezifikation der Varietät (also beispielsweise nach verschiedenen sozialen Schichtungen) weder sinnvoll noch notwendig. Sie kann und muss mit den dahingehend jeder Rekonstruk-

11 Makrosynchronisierungen sind in der Sprachdynamiktheorie (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32) definiert als: „Synchronisierungsakte, mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten.“ Diese werden von „tendenziell alle[n] Mitglieder[n] einer Sprachgemeinschaft oder auch Mitglieder[n] von Großgruppen vor[genommen], zwischen denen kein persönlicher Kontakt bestehen muss. Auf die Dauer gesehen, definieren die Grenzen gemeinsamer Makrosynchronisierungen die Grenzen des dynamischen Systems Einzelsprache. Für die Sprecher sind sie identisch mit den Grenzen der Einzelsprache.“ 12 Vgl. auch die Definition von Sprachdynamik in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 20): „Unter Sprachdynamik verstehen wir daher die Wissenschaft von den Einflüssen auf die sich ständig wandelnde komplexe Sprache und von den sich daraus ergebenden stabilisierenden und modifizierenden Prozessen.“

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tion historischer Sprache innewohnenden Vereinheitlichungstendenzen umgehen.13 Des Weiteren bleibt noch zu klären, in welchem zeitlichen Rahmen von der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen werden kann.14 Der Ursprung der historischen Varietät ist – wie bereits erläutert wurde – in den ersten Oralisierungsversuchen der neuhochdeutschen Schriftsprache zu sehen. Die frühen Belege in der Literatur (vgl. etwa die in JOSTEN 1976 genannten) können dies bestätigen. In der Folge setzen sich diese weiter fort (vgl. für das 18. Jahrhundert z. B. BRAUN 1765, 7 oder die Wörterbucharbeit POPOWITSCHS [hier in der Edition von 2004]; für den Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls wortgeographisch etwa KRETSCHMER 1918, der eine Beschreibung des landschaftlichen Hochdeutsch für den Wortschatz vorlegt). Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht insbesondere das ausgehende 19. Jahrhundert, weshalb auf diese Zeit nun genauer eingegangen werden soll. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, welche kommunikative Relevanz dem landschaftlichen Hochdeutsch in dieser Zeit zukam. Die zahlreichen Belege in der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeigen eine intensive Auseinandersetzung mit dem landschaftlichen Hochdeutsch.15 Ähnlich wie in den Jahrhunderten zuvor überwiegen die metasprachlichen Zeugnisse die objektsprachlichen Beschreibungen bei weitem. Leitende Fragen in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Varietät sind dabei die folgenden: Gibt es eine Region mit dem besten landschaftlichen Hochdeutsch, und wenn ja, welche ist das (vgl. etwa DIEDERICHS 1884, 4)? Wird es eine überregionale Einheitsbzw. Standardsprache geben (vgl. BEHAGHEL 1896, 14; BRENNER 1903, 57)? Wenn diese jemals zu verwirklichen ist, wann könnte der Zeitpunkt dafür sein? Ist eine überregionale Standardaussprache überhaupt notwendig bzw. erstrebenswert (vgl. etwa PAUL 1916, 132–133; LUICK 1904/1905, 349–350; ACKERKNECHT 1900/1901, 538; BRENNER 1905, 221)? Wie ließe sich eine solche umsetzen (vgl. ACKERKNECHT 1900/1901, 540; BRENNER 1905, 221)? Zudem werden, wie bereits erwähnt, häufig soziale Schichtungen des landschaftlichen Hochdeutsch angesetzt, die in der Regel an verschiedene Sprechergruppen gekoppelt sind (vgl. etwa KRÜGER 1843, 13–14; PHILIPP 1897, 5; LOEWE 1889, 50– 51; BRENNER 1903, 57). 13 Darüber hinaus ist es fraglich, ob die Auswertung einer hier fiktiv angenommenen, ausreichenden Datengrundlage anhand objektiver Verfahren zu dem Ergebnis käme, dass die beschriebenen sozialen Schichtungen überhaupt voneinander separierbaren Sprechlagen zuweisbar wären. Vorstellbar wären hier auch subjektive Beurteilungen der Autoren, die sich anhand sprachlicher Daten als nicht verifizierbar herausstellen könnten. 14 AUER (vgl. 2005, 23) etwa bezeichnet die hier als landschaftliches Hochdeutsch benannte Varietät für die Zeit vom 15. bis 17. Jahrhundert als „first-order standard variety“, während er für das 19. und frühe 20. Jahrhundert eine „second-order standard variety“ annimmt, die erstere in ihrem Prestigestatus ablöst. 15 Die verwendeten Termini zur Bezeichnung der Varietät sind dabei vielfältig und umfassen beispielsweise die Begriffe „Hochdeutsch“, „Umgangssprache“, „Gebildetensprache“, „Haussprache“, „Volkssprache“ oder „einheimisches Hochdeutsch“.

2.2 Motive der Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch

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Die umfangreiche Auseinandersetzung mit dem landschaftlichen Hochdeutsch sowie mit Fragen, die eine Aussprachevereinheitlichung im ausgehenden 19. Jahrhundert und bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein behandeln, zeigt, dass die landschaftliche, gesprochene Prestigevarietät zu dieser Zeit noch von großer Relevanz war. Das landschaftliche Hochdeutsch war im kommunikativen Alltag der meisten Sprecher präsent und stellte die neben dem Dialekt gesprochene Varietät der Zeit dar. Eine Auseinandersetzung mit der Prestigevarietät erscheint damit auch bzw. insbesondere in diesem recht kurz vor der Etablierung einer nationalen Oralisierungsnorm gelegenen Zeitraum (vgl. hierzu Kapitel 2.3) von besonderem Interesse zu sein. Dies ist insbesondere dadurch der Fall, dass im Vergleich zum Dialekt das landschaftliche Hochdeutsch in der zeitgenössischen Forschungsliteratur kaum detailliert beschrieben ist. Zwar finden sich auch einige wenige Beschreibungen linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch (vgl. etwa DIEDERICHS 1884 oder BECKER 1936), es überwiegen aber die metasprachlichen Auseinandersetzungen. Mit SCHMIDT / HERRGEN (vgl. 2011, 73–74) liegt der Grund für die Konzentration der Forschung auf die exakte Beschreibung der Varietät Dialekt und die zeitgleiche „Vernachlässigung“ der zweiten oralen Varietät darin, dass die Dialektologie durch die Etablierung des landschaftlichen Hochdeutsch ihren primären Forschungsgegenstand – die Dialekte – als bedroht und daher beschreibenswert ansah. Das landschaftliche Hochdeutsch hingegen erfuhr, da es im kommunikativen Alltag hoch frequent war und damit nicht gefährdet erschien, keine auch nur ansatzweise detaillierte Beschreibung. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die in dieser Arbeit vorgenommene Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert einen für diese Zeit äußerst relevanten Ausschnitt der oralen Kommunikation abdeckt. Nachdem der im Fokus stehende Forschungsgegenstand genauer beschrieben wurde, soll im Folgenden ein detaillierterer Blick auf die Träger des landschaftlichen Hochdeutsch geworfen werden. Nach ersten bisherigen Andeutungen („Gebildetensprache“, „Prestigevarietät“) soll nun genauer betrachtet werden, wer im Laufe der Zeit die Sprecher bzw. Sprechergruppen des landschaftlichen Hochdeutsch waren. Damit unmittelbar einher geht die Untersuchung der Motive dieser Sprecher(gruppen), zunächst versuchsweise und im weiteren Verlauf immer fester werdende Konventionen bzw. Normen der mündlichen Realisierung des Schriftdeutschen zu schaffen und zu etablieren. 2.2 Motive der Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch Eine über die enge areale Begrenztheit der Dialekte hinausgehende Form der mündlichen Kommunikation kann sich aus verschiedenen Erfordernissen heraus als notwendig und/oder erstrebenswert erweisen. Im Folgenden sollen die Motive von Sprechern zur Verwendung einer solchen näher betrachtet werden. In unmittelbarem Zusammenhang mit den Motiven stehen die Sprecher selbst, so dass versucht wird, soweit dies die Dokumentationslage zulässt, die Sprecher- und

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

Sprechergruppen des landschaftlichen Hochdeutsch im Verlauf der Zeit zu beleuchten. Dies kann für die Anfänge des landschaftlichen Hochdeutsch aufgrund der Quellenlage nur skizzenhaft erfolgen. Für die hier im Fokus stehende Untersuchungszeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts erlauben die Ausführungen der zeitgenössischen Literatur einen etwas detaillierteren Einblick in die Trägerschaft des landschaftlichen Hochdeutsch. Eine mündliche Orientierung an der Schriftsprache setzt zunächst eine literale Kompetenz voraus. Daraus ergibt sich für die Träger des landschaftlichen Hochdeutsch nicht nur in seinen frühesten Anfängen, dass es sich um Menschen gehandelt haben muss, die Lesen und Schreiben gelernt und damit eine Form der Schulbildung genossen haben müssen. In den protestantischen Landesteilen gab es schon im 16. und 17. Jahrhundert erste Ansätze zu einer Schulpflicht. Bis sich diese aber allgemein durchsetzte, verging nicht nur in den katholisch dominierten Gebieten viel Zeit. Auch wenn die Notwendigkeit einer Schulbildung nach und nach immer mehr anerkannt wurde,16 musste zunächst die Etablierung der dafür benötigten Infrastruktur (zum Beispiel Errichtung von Schulgebäuden, Ausbildung von Lehrern und Erstellung von Unterrichtsmaterialien) erreicht werden. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts (1919 mit der Weimarer Verfassung) wurde die allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland festgeschrieben. In der Anfangszeit des landschaftlichen Hochdeutsch kam jedwede Form schulischer Bildung zunächst also nur den Kindern der Familien zu, die einerseits Bildung als einen Wert betrachteten und andererseits finanziell nicht auf die Mitarbeit der Kinder zur Erwirtschaftung des Lebensunterhalts angewiesen waren. Die größten Teile der ländlichen Bevölkerung scheiden daher als Träger des landschaftlichen Hochdeutsch in seiner Anfangszeit aus. Stattdessen ist davon auszugehen, dass es sich dabei zunächst um Angehörige der Kirche und des Bildungsbürgertums gehandelt haben muss. Daraus ergibt sich, dass größtenteils die Bewohner städtischer Zentren als diejenigen angesehen werden können, die sich an der Oralisierung der Schriftsprache versuchten (vgl. VON POLENZ 2013, 228–235).17 Bildung war anfangs nicht reiner Selbstzweck, sondern diente in der Regel einem weiteren (monetären) Zweck. Die Kirche hatte als Träger und Vermittler von Bildung einen zunächst solitären Stand erreicht, den sie zu erhalten trachtete. Bildung war darüber hinaus aber auch dort nötig, wo Handel getrieben wurde. Da sich Handel nicht nur auf die engen Grenzen des eigenen Dialektverbundes beschränkte, ergab sich daraus nicht nur ein unmittelbares Erfordernis nach Bildung (Rechnen, Schreiben, Lesen, Fremdsprachen,18 etc.), sondern auch die 16 Wo Kinder für die Sicherung des Lebensunterhaltes der Familie etwa bei der Arbeit in der Landwirtschaft „benötigt“ wurden, gestaltete sich allerdings auch das schwieriger. 17 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen BECKERS (1936, 3) zum Obersächsischen, der einen Ursprung der „sächsischen Umgangssprache“ in den städtischen Zentren Leipzig und Dresden beschreibt, von wo aus es auch zu einer Ausstrahlungswirkung auf die umliegenden ländlicheren Gebiete gekommen sei. Siehe auch KETTMANN (1981). 18 Über den Fremdsprachenerwerb etwa der reichsstädtischen Eliten Augsburgs und Nürnbergs im 16. bis 19. Jahrhundert vgl. GLÜCK / HÄBERLEIN / SCHRÖDER (2013). Neben dem notwendigen Erwerb von Fremdsprachen für den Fernhandel finden sich im 17. und 18. Jahr-

2.2 Motive der Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch

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Notwendigkeit, in der mündlichen Kommunikation überregionale Verständlichkeit zu erlangen. Es zeigt sich also, dass die Motive, überregionale orale Verständlichkeit zu erlangen, in der Regel mit der Sicherung einer Prestigestellung (Kirche, Bildungsbürgertum) und der Erreichung wirtschaftlicher Ziele (Handel) verbunden waren.19 Das landschaftliche Hochdeutsch als eine „über“ den Dialekten des Volkes stehende Form der Kommunikation diente damit auch als „Erkennungsmerkmal“ für diejenigen Sprecher(kreise), die sich Bildung leisten konnten. Das Sprechen „nach der Schrift“ kann demnach als Prestigemarker der Eliten betrachtet werden, es war nicht zuletzt ein Ausdrucksmittel sozialer Schichtunterschiede. Daher kann das landschaftliche Hochdeutsch als orale Prestigevarietät bezeichnet werden. Eine ausführliche Diskussion dieser frühen sozialen Schichtung der Sprache findet sich beispielsweise in MIHM (2003).20 Wie metasprachliche Kommentare nahelegen, kann schon während des Mittelalters eine geschichtete Mündlichkeit im festlandsgermanischen Sprachgebiet angenommen werden. So hält MIHM (vgl. 2003, 90) fest, dass sich über Angehörige der Oberschichten Merkmale bevorzugter Regionen ausbreiten konnten. Den sprachlichen Mehrwert dieser Vorbildsprachen führt MIHM einerseits auf ihre als nachahmenswert angesehene Lautung zurück, hält in diesem Zusammenhang aber auch die wirtschaftliche und kulturelle Überlegenheit einer Region für entscheidend.21 Weiter hält MIHM fest, dass die Übernahme von vorbildsprachlichen Merkmalen in der Regel im interpersonalen Kontakt stattfand und zwar vorzugsweise bei Aufenthalten in auswärtigen Prestigeregionen. Diese von ihm als Diffusionsprozesse bezeichneten Übernahmen sprachlicher Prestigemerkmale sind bis ins 17. Jahrhundert bezeugt, wobei er zunächst offen lassen muss, welchen Anteil sie damals am gesamten Standardisierungsvorgang hatten. Nach MIHM (vgl. 2007 [2001], 59) kann für das 16. Jahrhundert das Entstehen einer Ausgleichssprache nicht auf ein Streben nach größerer kommunikativer Reichweite zurückgeführt werden, da „sich die frühen Entlehnungssprachen in ihrer räumlichen Reichweite nicht erkennbar von den Basissprachen unterscheiden“. Somit sieht er das Hauptmotiv zur Entstehung in dem Bedürfnis nach einem „gehobeneren“, prestigeträchtigeren Kommunikationsmittel. Für den Bereich der privaten Schriftlichkeit, aus dem wiederum Rückschlüsse auf die mündliche Kommunikation gezogen werden können, hält VON POLENZ (2013, 220) zusammenfassend fest, dass es im 17. und 18. Jahrhundert hauptsächlich das „akademisch und literarisch erfolgreich[e] Bildungshundert vermehrt Zeugnisse für sogenannte „Kavalierstouren“. Diese dienten in erster Linie nicht kommerziellen Interessen, sondern waren Ausdruck eines elitären Bewusstseins und zudem eine Vorbereitung zur Erlangung von Kompetenzen, die für die Übernahme von Verwaltungsaufgaben erforderlich waren. 19 Vgl. auch die Beschreibung des Zusammenhangs von bürgerlicher Macht und Schrift in VON POLENZ (1999, 38). Siehe ebenfalls MATTHEIER (2000b, 1954). 20 Vgl. auch den Überblick in VON POLENZ (2013, 234–249) oder MATTHEIER (1997). 21 Zur Vorbildfunktionen einzelner Landschaften und deren Wandel im Laufe der Zeit vgl. das nachfolgende Kapitel 2.3.

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

bürgertum [...]“ war, welches eine „Verbesserung“ der deutschen Sprache vorangetrieben habe. Der Adel hingegen war daran höchstens sporadisch beteiligt und wandte sich in dieser Zeit eher dem Französischen als Prestigesprache statt einem „besseren“ Deutsch zu. Mit zunehmender Alphabetisierung22 der Menschen kann nach dem bisher Gesagten von einer immer größer werdenden Anzahl von Sprechern des landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen werden.23 Gleichzeitig ist von einer ausgedehnteren arealen Verbreitung der einzelnen landschaftlichen Prestigevarietäten (vgl. hierzu SCHMIDT / HERRGEN 2011, 63–65 „großlandschaftliche Oralisierungsnormen“) auszugehen, indem sich in den Schulen eine einheitlichere Vermittlung dieser herauskristallisierte. Mit der Vergrößerung der Sprecherzahl wird zudem auch eine differenzierte (soziale) Schichtung der Ausprägungen des landschaftlichen Hochdeutsch angenommen, wie etwa die metasprachlichen Zeugnisse des 19. Jahrhunderts belegen (vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 2.1). So beschreibt beispielsweise LOEWE (1889, 50–51) für das Niederdeutsche, im Speziellen für das Magdeburgische, verschiedene Sprachschichten, die sich durch „eine kontinuierliche Reihe von Übergangsstufen von der Sprache der Gebildeten bis zur Mundart der Arbeiter“ auszeichneten. Diese Abstufungen erklärt er als „Folge des Strebens, sich dem Idealbilde der hochdeutschen Normalsprache möglichst anzunähern“. Dabei beobachte er häufig, wie Eltern versuchten, mit ihren Kindern das „ihnen geläufig[e] Hochdeutsch“ zu sprechen, sich also einer „besseren“ Sprachschicht zu bedienen. LOEWE bemerkt allerdings auch, dass „diese Annäherung an das mustergiltige Hochdeutsch dadurch gestört [werde], dass die geringere Anzahl der vornehmer Sprechenden der weitaus grösseren Anzahl der minder vornehm Sprechenden nachg[ebe], infolgedessen recht häufige Wörter auch in die Sprache der Gebildeten [drängen].“ Ein weiteres Zeugnis für den größeren Sprecherkreis des landschaftlichen Hochdeutsch in der hier primär interessierenden Untersuchungszeit sei mit SCHMIDT (vgl. 1873, 11) genannt. Er führt für den norddeutschen Sprachraum an, dass es zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum mehr Menschen gäbe, die nur noch Plattdeutsch, also Dialekt sprächen. Verbunden mit dieser Feststellung, die für den Norden fast alle Sprecher als solche des landschaftlichen Hochdeutsch herausstellt, führt SCHMIDT auch eine weitere Motivation dieser Sprecher an. So 22 VON POLENZ (vgl. 1999, 51–52) schätzt die Zahl der Analphabeten um 1800 auf 50 Prozent, Mitte des 19. Jahrhunderts auf etwa 30 Prozent und um 1900 auf etwa 1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. ELSPASS (2005, 101) spricht vom 19. Jahrhundert als dem der „Massenalphabetisierung“; vgl. auch den detaillierten Überblick zu den Lese- und Schreibfähigkeiten der deutschen Bevölkerung im 19. Jahrhundert in ELSPASS (2005, 76–110). Vgl. zur Alphabetisierung auch LUDWIG (1998). 23 Doch noch für das beginnende 19. Jahrhundert sei nach MATTHEIER (vgl. 1985, 84) die normierte „hochdeutsche Sprache“ lediglich im Bildungsbürgertum verbreitet gewesen. MATTHEIER (2000b, 1953 u. 1956) geht dann für das 19. Jahrhundert von einer Durchsetzung der „hochdeutschen Schriftsprache [...] im sprechsprachigen Bereich [...] als alleinige Varietät [...] bei etwa 20 Prozent der [deutschen] Bevölkerung“ aus. Vgl. hierzu auch DAVIES (2009, 191).

2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache

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führt er aus, dass sich die Menschen für ihr Plattdeutsch schämten. Dies stellt also auch noch für das 19. Jahrhundert den Prestigecharakter des landschaftlichen Hochdeutsch heraus. Die Zugehörigkeit zur Sprechergruppe einer sich in der Vertikale über den Dialekt erhebenden Varietät galt also nach wie vor als erstrebenswert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich bei den Sprechern des landschaftlichen Hochdeutsch in seiner Anfangszeit um gebildete Menschen handelte, die über ihre literale Kompetenz eine mündliche Umsetzung der Schriftsprache zunächst probeweise und später in immer gefestigterer Form produzierten. Die überregional verständliche(re) Form der mündlichen Kommunikation war dabei zum einen ein Prestigemarker. Daneben kann sie zum anderen als eine Form des Machterhalts sowie als Mittel zur Erlangung wirtschaftlichen Erfolgs (Handel) angesehen werden. Mit zunehmender Verfestigung der großlandschaftlichen Oralisierungsnormen sowie ansteigender Alphabetisierungsrate der deutschen Bevölkerung vergrößerte sich die Sprecheranzahl der Prestigevarietät sukzessive. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kann schließlich davon ausgegangen werden, dass nahezu jeder Deutschsprechende eine landschaftliche „Hochdeutsch-Kompetenz“ hatte. Auch zu dieser Zeit stellte das landschaftliche Hochdeutsch eine Prestigevarietät dar, deren Nicht-Erlangung gesellschaftlicher Bewertung unterlag. Über Sprache wurde also nicht nur gesellschaftliches Ansehen verhandelt, die Kompetenz in der Prestigevarietät stellte für beruflich (überregional) Agierende auch eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg dar. Nach dem Überblick über die Trägerschaft des landschaftlichen Hochdeutsch sowie die Motive der Sprecher, eine überregionale gesprochensprachliche Form von Sprache zu konstituieren bzw. sich ihrer zu bedienen, soll im Folgenden genauer auf den Prozess der Standardisierung des Deutschen eingegangen werden. Hierbei steht nun nicht mehr die Sprecher- bzw. Anwenderperspektive im Fokus, sondern die normsetzende, präskriptive Seite dieses Prozesses. Da der Normierungsweg und -prozess der Aussprache des Deutschen direkt auf der Vereinheitlichung und Normierung der Schriftsprache aufbaut, erfolgt die Beschreibung der Standardisierung des Deutschen hin zu einer Orthographie und einer Orthoepie zusammen in einem Kapitel. 2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache Wie die obigen Ausführungen bereits andeuten, begann der Weg zur deutschen Standardsprache,24 also zur kodifizierten Norm der deutschen25 Sprachgemein24 Der Begriff der Standardsprache soll hier mit SCHMIDT / HERRGEN (2011, 62) wie folgt definiert werden: „Standardsprache heißt diejenige Vollvarietät, auf deren Literalisierungsnorm die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ihre Makrosynchronisierung ausrichten. Die – nationalen – Oralisierungsnormen dieser Vollvarietät sind durch Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen gekennzeichnet.“ Für weitere Diskussionen des Begriffs vgl.

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

schaft, wie sie etwa in Schulen gelehrt wird, zunächst mit einer Vereinheitlichung und Normierung der Schriftsprache (Orthographie). Erst darauf aufbauend etablierten sich sukzessive Aussprachekonventionen des Schriftdeutschen (landschaftliches Hochdeutsch). Schließlich wurde eine Normierung der Standardaussprache (Orthoepie) geschaffen. Diese Entwicklung soll im Folgenden dargestellt werden, um die sprachgeschichtlichen Voraussetzungen des landschaftlichen Hochdeutsch nachzuzeichnen und zudem diese historische orale Prestigevarietät in ihren Entwicklungszusammenhang einzuordnen. Wie bereits oben ansatzweise erläutert (vgl. Kapitel 2.1), sah die sprachliche Gesamtsituation des Deutschen vor dem 16. Jahrhundert etwa so aus, dass es in der mündlichen Kommunikation gleichberechtigt nebeneinander stehende „lantsprachen“ gab. Im schriftlichen Bereich verhielt es sich nach der gängigen Forschungsmeinung recht ähnlich,26 auch hier gab es verschiedene Schreibsprachen, die innerhalb einzelner (Groß-)Regionen relativ einheitlich gestaltet, von einer einheitlichen neuhochdeutschen Schriftsprache aber noch weit entfernt waren. Wie die Studie von BESCH (1987) zeigt, kann von einer neuhochdeutschen Schriftsprache erst ab dem 16. Jahrhundert ausgegangen werden. Er kommt bei Auswertungen von Handschriften aus dem 15. Jahrhundert (also vor dem Vereinheitlichungsprozess) zu dem Ergebnis, dass in allen vor dem 16. Jahrhundert angesetzten Untersuchungen höchstens Vorstufen der neuhochdeutschen Schriftsprache beschrieben werden können.27 Ab dem 16. Jahrhundert kam es dann vermehrt zu Ausgleichsprozessen zwischen den Schreibsprachen der einzelnen Regionen. Dies geschah im Wesentlichen dadurch, dass die zeitgenössischen Drucker und Schreiber bei der Erstellung ihrer Schriftstücke Variantenselektionen vornahmen.28 BESCH (1987) konnte in seiner Untersuchung zeigen, dass insbesondere der ostmitteldeutsche, der ost-

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etwa AMMON (1997), LAMELI (2004), MIHM (2008) oder KEHREIN (2012). Die Konzepte regionaler Standards oder die Prozesse von Destandardisierungen, wie sie in der Literatur (etwa von AUER 1990 oder BEREND 2005; vgl. hierzu auch die Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN 2011, 349–350 oder KEHREIN 2012, 24–33) diskutiert werden, können und müssen hier nicht weiter ausgeführt werden. Da der Fokus dieser Arbeit auf dem heute bundesdeutschen Gebiet liegt, finden andere Nationen mit Deutsch als Amtssprache (etwa Österreich oder die Schweiz) und die dort herrschenden sprachlichen Besonderheiten hier keine Beachtung. Siehe etwa BESCH (1987), GLASER (2003), MIHM (2003) oder REICHMANN (2003). Vgl. hierzu auch WOLF (2003), der sich der Frage widmet, ob es althochdeutsche Sprachregionen bzw. eine althochdeutsche Schriftsprache gab. Mit der Verneinung dieser Frage kommt er zu dem Ergebnis, dass vor dem späten Mittelalter keinerlei Ansätze zu einer Einheitssprache vorhanden waren (vgl. WOLF 2003, 124). Vgl. hierzu etwa GLASER (2003), die annimmt, dass die zeitgenössischen Drucker und Schreiber wohl beurteilen konnten, ob eine Variante heimisch war. Dabei stellt sich für GLASER aber die Frage, wie die Beurteilung erfolgen konnte, ob eine Variante auch überregionale Geltung hatte bzw. überregionale Anerkennung genoss. Sie schätzt eine solche Beurteilungskompetenz bei den Schreibenden des 16. Jahrhunderts als zweifelhaft ein und wirft daher die Frage auf, wie Regionalismen überhaupt als solche erkannt und in der Folge durch überregionale Varianten ersetzt werden konnten.

2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache

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fränkische sowie der bairische Sprachraum bzw. ihre Schreibsprachen einen wesentlichen Einfluss auf diese Ausgleichsprozesse hatten. Das heißt also, wenn eine Variante in diesen Räumen dominierte, hatte sie gute Chancen, sich gegen andere Varianten durchzusetzen und so die Form der (späteren) Schriftsprache zu werden.29 Demnach kann die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht einem einzigen Raum zugeordnet werden, sondern muss als durch Ausgleichsprozesse verschiedener Räume (insbesondere des ostmitteldeutschen, ostfränkischen und bairischen) entstanden betrachtet werden.30 Etwa bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts kann also von einer Phase der Grundlegung der neuhochdeutschen Schriftsprache ausgegangen werden. Diese beruhte auf einer ostmitteldeutschen-ostoberdeutschen Basis und verbreitete sich zunächst auf hochdeutschem Sprachgebiet, wodurch sie überregionale Geltung erlangte (vgl. BESCH 1987 oder allgemeiner auch BESCH 1983). Häufig diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Rolle LUTHERS (1483– 1546) und sein Beitrag zur Entstehung und Verbreitung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Zunächst war seine mitteldeutsche Herkunft in der entstandenen „ostmitteldeutschen-ostoberdeutschen Schreiballianz“ (BESCH 2003a, 2262) sicher von großem Vorteil. Dabei schreibt BESCH (vgl. 1987, 37–38) LUTHER neben der Rolle eines Verbreiters der Schriftsprache hauptsächlich eine variantenselektierende Funktion (Wahl zwischen landschaftlich divergenten Formen) zu. BESCHS Auswertungen zeigen zudem, dass LUTHER sich immer dann gegen eine heimische, das heißt ostmitteldeutsche, Variante entschied, wenn er dadurch die Weitenwirkung der Schriftsprache als gefährdet ansah. Wie die Auswertungen von JOSTEN (vgl. 1976, 48–49)31 zeigen, bestand eine sich gegenseitig bestärkende Wechselwirkung zwischen dem sprachlichen Ansehen des Ostmitteldeutschen im 15./16. Jahrhundert und dem Ansehen von LUTHERS Sprache.32 LUTHER war 29 BESCHS Auswertungen belegen außerdem, dass eine im gesamten oberdeutschen Raum geltende Variante ebenfalls gute Chancen hatte, als schriftsprachliche Form aufgenommen zu werden (vgl. BESCH 1987, 37). 30 Mitunter werden auch andere Erklärungsansätze diskutiert. So nimmt etwa MATTHEIER (vgl. 1981, 293–303) auf Basis von Untersuchungen zum Kölner Sprachraum keinen Ausgleichssondern vielmehr einen Überschichtungsprozess an. Er geht dabei davon aus, dass die ripuarische Schreibsprache im 15./16. Jahrhundert in einem ersten Prozess durch die oberdeutsche („Gemeines Deutsch“) überschichtet wurde. Im 17./18. Jahrhundert seien dann alle nicht mit dem Ostmitteldeutschen übereinstimmenden oberdeutschen Varianten durch die prestigeträchtigeren ostmitteldeutschen Formen ersetzt worden. Demnach sei die Durchsetzung der neuhochdeutschen Schriftsprache im Westmitteldeutschen ähnlich wie im Niederdeutschen verlaufen (vgl. auch MATTHEIER 2000a sowie die Ausführungen unten). 31 JOSTEN wertet in seiner Arbeit hauptsächlich Rhetoriken, Poetiken, Schreibmeisterbücher, Leselehren sowie Wörterbücher des 15. bis 17. Jahrhunderts mit dem Ziel aus, „die Hinweise und Äußerungen zur entstehenden deutschen Sprachnorm seit dem Ende des 15. bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert möglichst umfassend zu sammeln und kritisch zu werten.“ (JOSTEN 1976, 10). Eine ähnliche Arbeit liegt auch mit SOCIN (1888) vor. 32 REIFFENSTEIN (vgl. 2003, 2217–2219) hingegen meint nur einen positiven Effekt der LutherSprache auf das Meißnische identifizieren zu können. Dieser Effekt habe sich wiederum erst nach LUTHERS Tod gezeigt, da LUTHER selbst die Sprache Meißens und Thüringens nicht geschätzt, sondern die niederdeutsche Aussprache des Hochdeutschen favorisiert habe.

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

zudem die Person, die in der zeitgenössischen Literatur am häufigsten als sprachliches Vorbild genannt wurde.33 Die Belege stammen dabei hauptsächlich von protestantischen Autoren ostmitteldeutscher Provenienz. Daneben existierten nach JOSTEN (vgl. 1976, 104) aber auch aus anderen deutschen Regionen positive Hervorhebungen von LUTHER als sprachlichem Vorbild, so dass sich dessen Ansehen nicht allein auf Stimmen aus der eigenen Region gründete. Der neben den bisher genannten wohl entscheidende Faktor für LUTHERS sprachgeschichtliche Bedeutung war mit BESCH (2003a) aber das Sujet seiner professionellen Betätigung. Durch die Übersetzung der Bibel und damit dem meistgelesenen sowie lange Zeit auch einzigen Buch der meisten Menschen konnte LUTHER bzw. seine Sprache enorme Breitenwirkung entfalten. Nur durch die Verbreitung der deutschsprachigen Bibel – kein anderes Buch hätte dies erreichen können – konnten Binnensprachgrenzen überwunden werden (vgl. BESCH 2003a, 2271).34 Das 16. Jahrhundert kann also als Phase der Grundlegung der neuhochdeutschen Schriftsprache angesehen werden, die durch schriftliche Ausgleichsprozesse35 vorwiegend auf Basis des Ostmittel- und Ostoberdeutschen entstanden ist. Als sprachliche Vorbilder wurden in den zeitgenössischen Quellen überwiegend das Ostmitteldeutsche (Meißnische) als Landschaft36 und LUTHER als Person gehandelt. In der Folge kam es immer mehr zu einer Ausbreitung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Insbesondere die Ablösung des Plattdeutschen und damit die Verbreitung im niederdeutschen Sprachraum zu Beginn des 17. Jahrhunderts kann als entscheidender Schritt bei der Durchsetzung des hochdeutschen Schrifttypus angesehen werden.37 Anschließend folgte vom 17. bis zum 18. Jahrhundert eine Phase des Ausbaus bzw. der Ausformung, in der zunehmend regionale Varianten abgebaut wurden, wodurch eine schriftsprachliche Normierung erreicht 33 Im 17. Jahrhundert war es dann zunehmend die sprachliche Vorbildfunktion von MARTIN OPITZ (1597–1639) und die Verbindung zu seiner Dichtung, die in den zeitgenössischen Zeugnissen lobend hervorgehoben wurde (vgl. JOSTEN 1976, 127). 34 Anfangs (ab 1523) waren den Drucken von LUTHERS (ostmitteldeutscher) Bibelübersetzung noch Glossare beigegeben, die den verwendeten Wortschatz in den gebräuchlichen der jeweiligen Region übersetzten. Bereits circa zehn Jahre später waren diese Glossare allerdings nicht mehr zu finden, was als Indiz für die schnelle Verbreitung sowie die Verständlichkeit von LUTHERS Sprache gewertet werden kann (vgl. KLUGE 1894, 14–15). Zur regionalen Prägung der LUTHER’schen Sprache vgl. auch BESCH (2003a, 2271). 35 Von der FRINGS’schen These (vgl. 1936 und 1956) einer g e s p r o c h e n e n Ausgleichssprache im ostmitteldeutschen Raum (Sprachausgleich der Siedler) sowie seiner mittelalterlichen Datierung ist die Forschung wieder abgekommen (vgl. BESCH 2003a, 2258–2261). Vgl. in diesem Zusammenhang auch MIHM (2003), der verschiedene (mediale) Ausgleichsprozesse bei der „frühneuzeitlichen Standardisierung“ diskutiert. 36 Daneben kann JOSTEN (vgl. 1976, 68–97) allerdings auch einige Belege für die sprachliche Vorbildfunktion anderer Dialekte bzw. Landschaften finden. Häufiger genannt wurden in der zeitgenössischen Literatur dabei etwa das Schwäbische, das Alemannische, das Schlesische oder das Gemeine Deutsch (Oberdeutsch). Nicht selten entstammten die Autoren, die einen Dialekt lobten, dabei aus der jeweiligen Region. 37 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts (1626) endeten die Bibelübersetzungen ins Niederdeutsche, was als deutliches Indiz für die dortige (rasche) Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache gewertet werden kann (vgl. BESCH 1987, 41, siehe auch BESCH 2003a, 2275).

2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache

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wurde. Maßgeblichen Einfluss auf diesen Prozess hatten die Grammatiker der Zeit (vgl. die Ausführungen in BESCH 1987 und 2003a). Gefördert wurde er zudem durch Faktoren wie die Abwahl des Lateinischen, größere überregionale Kommunikationserfordernisse, ein wachsendes Schreibbedürfnis, den Ausbau der Schulen sowie Vorbilder nationaler Sprachkonsolidierungen in benachbarten europäischen Staaten (vgl. BESCH 2003b, 23; VEITH 2000, 1783). Die sprachliche Vorbildfunktion des Ostmitteldeutschen (Meißnischen)38 und damit sein Einfluss auf den Ausbau der Schriftsprache wurde von vielen Grammatikern des 18. Jahrhunderts als sehr hoch eingeschätzt (vgl. etwa die Angaben in BESCH 1987 und 2003a sowie in VEITH 200039). Daneben kamen aber auch zahlreiche Stimmen von Grammatikern auf, die das Meißnische nicht als vorbildhaft betrachteten (vgl. dazu JOSTEN 1976, 52) bzw. sich generell gegen die Vorbildfunktion einzelner Landschaften mit dem Argument aussprachen, dass ein vorbildliches Hochdeutsch nur eine geschaffene Sprache der Gelehrten sein könne (vgl. dazu REIFFENSTEIN 2003, 2220–2223). Zumindest für das ausgehende 18. Jahrhundert ist dann von einem Verlust des sprachlichen Ansehens des Meißnisch-Obersächsischen auszugehen. Auffallend bei fast allen Regelungen und Diskussionen zum „besten“ Deutsch im 17. und 18. Jahrhundert ist, dass dabei oft keine (differenzierte) Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache getroffen wurde.40 So wurde beispielsweise immer wieder die regionale und soziale Grundlage der neuhochdeutschen Schriftsprache diskutiert und dabei das (gesprochene) Deutsch der städtischen Oberschicht (beispielsweise einer obersächsischen Stadt wie Leipzig) argumentativ als vorbildlich angeführt (vgl. hierzu VEITH 2000, 1783–1785). Im 19. Jahrhundert, genauer von 1852 bis 1902, fand dann der entscheidende „Kampf“ um die deutsche Rechtschreibung statt (VEITH 2000, 1787). Die wiederholten Auseinandersetzungen darüber, auf welcher Dialektgrundlage das beste Deutsch gesprochen werde und damit auch geschrieben werden solle, führten zu der Forderung (etwa 1852 von dem Sprachhistoriker KARL WEINHOLD), dass eine Normierung nur auf der historischen Basis der Schreibung und frei von jeder dialektalen Anbindung erfolgen solle. Gegenstimmen dazu kamen etwa von RUDOLF VON RAUMER, der forderte, die Schreibung und die Aussprache wechselseitig in Übereinstimmung zu bringen. Damit proklamierte er das Ideal einer norddeutsch geprägten Aussprache, indem seiner Forderung der norddeutsche 38 Stellenweise wurde das vermeintliche Geltungsareal des Meißnischen dabei so weit ausgedehnt, dass etwa auch wesentlich weiter nördlich vorkommende Merkmale in ihrer Vorbildhaftigkeit für das Meißnische beansprucht wurden (vgl. dazu REIFFENSTEIN 2003, 2220– 2223 oder VEITH 2000, 1783–1785). 39 Eine genauere Differenzierung der Grammatikermeinungen kann und soll hier nicht geleistet werden. Zu näheren Angaben vgl. etwa JOSTEN (1976) oder VEITH (2000, 1784). Letzterer bietet zudem eine tabellarische Übersicht über die Akteure der orthographischen Normierung vor 1800. 40 Dies kann auch für frühere Zeitstufen angenommen werden, wie etwa MOSER (1987) anhand verschiedener Quellen aus dem 16. Jahrhundert zeigen kann.

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

Grundsatz „Schreib, wie du sprichst!“ zugrunde lag. Nach der Reichsgründung 1871 verstärkten sich die Bemühungen um eine allgemeine verbindliche Orthographie zusehends. Dadurch kam es 1876 zur I. Orthographischen Konferenz. Doch erst 1901 bei der II. Orthographischen Konferenz konnte eine Einigung zur Rechtschreibung erzielt werden, die sowohl in Deutschland, Österreich als auch der Schweiz Geltung beanspruchen konnte. Die dort festgelegten Regelungen wurden 1902 per Gesetz erlassen. Noch im selben Jahr veröffentlichte KONRAD DUDEN die Kodifizierungen in dem neuen preußischen Regelbuch (vgl. VEITH 2000, 1788–1789). Damit hatte ein mehrere Jahrhunderte andauernder Prozess zur Schaffung und Etablierung einer neuhochdeutschen Schriftsprache mit einer normierten und kodifizierten Orthographie (vorerst) seinen Abschluss gefunden.41 Für die Aussprache des Schriftdeutschen, also für das landschaftliche Hochdeutsch, bedeutet das, dass die in den Schulen gelehrte schriftliche Vorlage nun soweit vereinheitlicht und normiert war, dass zumindest hierdurch keine lautlichen Unterschiede in der Aussprache mehr zu erwarten wären.42 Dies ist zunächst eine wichtige Voraussetzung für eine einheitliche Aussprache des Schriftdeutschen. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, stellt sie aber keineswegs eine hinreichende Bedingung dar. Denn auch in der Endphase der Schriftvereinheitlichung und nach dem Abschluss der Orthographienormierung bestanden in der Aussprache des Schriftdeutschen noch große landschaftliche Unterschiede.43 Bevor darauf näher eingegangen wird, soll zunächst der Blick aber zeitlich etwas weiter zurückreichen. Wie aus dem Vorherigen bereits stellenweise hervorgegangen ist, spielte bei dem Einigungsprozess um die neuhochdeutsche Schriftsprache auch die Aussprache des Deutschen immer wieder eine Rolle. So wurde bereits in den Grammatiken des 16. Jahrhunderts44 und weiter zunehmend in den folgenden Jahrhunderten ein argumentativer Zusammenhang zwischen der „besten“ Aussprache (einer Region) und der Schriftsprache hergestellt. Hochkonjunktur hatten die Grammatiken im 17. und 18. Jahrhundert – VON POLENZ (vgl. 2013, 160) konstatiert etwa 100 nachweisbare Orthographen und Grammatiker zu dieser Zeit.45 41 Natürlich kann dieser Prozess nicht als abgeschlossen angesehen werden, wie an den zeitgleich zur ersten Kodifizierung aufkommenden Kritiken bis zur noch heute andauernden Diskussion um die „beste“ und „richtige“ Rechtschreibung und den daraus resultierenden Reformen abgelesen werden kann. Für das hier im Fokus stehende Untersuchungsinteresse ist dies aber nicht von Belang, weshalb darauf nicht weiter eingegangen wird. 42 Hiervon abzugrenzen sind die differenzierten Betrachtungen in ELSPASS (2005), der für das geschriebene Alltagsdeutsch „kleiner Leute“ im 19. Jahrhundert regionale Schreibgewohnheiten identifizieren kann. Diese lassen sich – so auch ELSPASS’ Deutung (vgl. 2005, 31) – als Niederschlag der regional geprägten mündlichen Sprache der Zeit interpretieren und stellen daher keinen Gegensatz zum hier Gesagten dar. Zu einer detaillierteren Auseinandersetzung mit ELSPASS’ Forschung vgl. Kapitel 3. 43 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 2.1. 44 Dies kann beispielsweise VOGE (vgl. 1978, 18–19) bei der Auswertung von Grammatiken dieser Zeit feststellen. Die „gute“ Aussprache wird in diesen immer wieder als Maßstab hinzugezogen. 45 Zu einem Überblick der wichtigsten Grammatiker siehe VON POLENZ (2013, 160–178).

2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache

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Fast durchgängig wurde in diesen Werken nicht zwischen Schreibung und Aussprache, mithin zwischen Buchstabe und Laut, differenziert (vgl. hierzu auch VOGE 1978, 27), so dass die beiden Bereiche auch in einem Werk abgehandelt wurden. Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich dann vermehrt eigenständige Ausspracheregeln und -lehren (vgl. VOGE 1978). In der Auseinandersetzung über eine mustergültige Aussprache des Deutschen erweisen sich über die Jahrhunderte hinweg zwei konträre Argumentationslinien als maßgeblich. Zum einen gab es die Verfechter einer Orientierung an einer vorbildhaften Region.46 Daneben wurde von Anbeginn der Diskussion an von der „Gegenseite“ immer wieder eingebracht, dass eine „richtige“ Aussprache nur überregional und damit unabhängig von einer regionalen Verortung sein könne. Vorbildcharakter könne nach dieser Argumentation etwa Institutionen wie Kanzleien, Gerichten oder Höfen sowie der Schrift- bzw. Literatursprache zukommen.47 Der lange Zeit viel proklamierte Vorbildcharakter des Meißnisch-Obersächsischen wurde im Zusammenhang mit der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache oben bereits ausführlich besprochen. Das hohe Prestige des Meißnisch-Obersächsischen wurde durch das wechselseitige Verhältnis zwischen einerseits der als vorbildlich angesehenen Aussprache der Region und andererseits dem maßgeblichen Einfluss dieses Raumes auf die Schaffung der einheitlichen Schriftsprache bedingt. Schreibung und Aussprache sowie die Diskussionen um beide beeinflussten sich wechselseitig also unmittelbar. Wie oben bereits angesprochen, verloren diese Region und ihre Sprache spätestens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ihren Prestigecharakter. Dabei wurden zunehmend die Mängel dieser ehemals vermeintlich „korrekten“ Aussprache hervorgehoben. Gleichzeitig mit dem Prestigeverlust dieser Region verschob sich das sprachliche Ansehen weiter nach Norden bzw. Nordwesten. Während der ostmitteldeutschen Schriftaussprache nun zunehmend eine regionale Prägung zugesprochen wurde, erschien die norddeutsche als vorbildhaft. Im Norden des Landes hatte sich durch das Diglossieverhältnis von niederdeutschem Dialekt und hochdeutscher Schriftsprache eine buchstabengetreue Aussprache der Schrift48 etablieren können, die immer mehr an Prestige gewann.49 Dabei

46 Vgl. hierzu etwa die analogen Ausführungen zur Vorbildhaftigkeit des Obersächsisch-Meißnischen bei der Herausbildung der Schriftsprache. 47 Vgl. hierzu z. B. JOSTEN (1976) oder VON POLENZ (2013, 154–156). 48 Bereits die Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 60–61) deuten an, dass diese keineswegs frei von regionalen Merkmalen war. Dies lässt sich empirisch nun erstmals (zumindest für das ausgehende 19. Jahrhundert) belegen, wie die Analysen in Kapitel 5 dieser Arbeit zeigen. 49 Siehe z. B. VON POLENZ (2013, 152–154), SCHMIDT / HERRGEN (2011, 60–61), HOLLMACH (2007), VOGE (1978) oder JOSTEN (1976). Mitunter werden für die Prestigeverlagerung neben den sprachlichen auch politische und kulturelle Gründe angeführt wie etwa von BOMMERT-DEHMEL (1993). So sah etwa TRAUTMANN (1884–1886, 140–142) das politische und kulturelle Zentrum Berlin als vorbildlich an.

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

rückte auch die Sprache in der Region Hannover als die des „besten“ Hochdeutsch in den Fokus.50 Trotz der bereits mehrere Jahrhunderte andauernden Auseinandersetzung mit einer Hochsprache des Deutschen existierte auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts weder eine nationale Musteraussprache noch eine einheitliche Vorstellung davon, wie diese gestaltet sein könnte. Der bereits weiter fortgeschrittene Prozess der Etablierung einer einheitlichen neuhochdeutschen Schriftsprache wirkte sich auf den Vereinheitlichungsprozess der Aussprache dergestalt aus, dass die norddeutsche, buchstabengetreue(re) Schriftaussprache an Prestige gewann. Zugleich begann im 19. Jahrhundert – also dem Jahrhundert, in dem sich auch die Phonetik als Wissenschaft etablierte – die Phase der intensivsten Auseinandersetzung mit der „richtigen“ Aussprache des Deutschen. Dies lässt sich auch an der zunehmenden Anzahl an Publikationen zu diesem Thema ablesen, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weiter von anderen sprachlichen Bereichen lösen und sich somit zunehmend absetzen von Grammatiken oder Orthographielehren (vgl. z. B. HEINSIUS 1840, GERVAIS 1840, VIËTOR 1890c, SCHMOLKE 1890 oder BENEDIX 1893). Hochkonjunktur erfuhren die Bestrebungen zur Normierung der Aussprache dann im ausgehenden 19. Jahrhundert, also genau zu der Zeit, der sich die vorliegende Arbeit widmet. Diese Vereinheitlichungsbemühungen erfolgten sowohl aus sprachwissenschaftlicher als auch schulpädagogischer Richtung (vgl. etwa OBERLÄNDER 1890, LUICK 1904/1905 oder DIEDERICHS 1884). Während viele Ansätze dieser Art eine nationale Musteraussprache anstrebten, gab es (schätzungsweise) ebenso viele, die eine überregionale Aussprachenorm entweder für nicht erstrebenswert oder für nicht erreichbar erachteten und daher für jeweils regional gültige Aussprachestandards plädierten.51 Besonders intensiv setzten sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwei Wissenschaftler mit der Schaffung einer nationalen Aussprachenorm auseinander: WILHELM VIËTOR (1850–1918) und THEODOR SIEBS (1862–1941), auf die im Folgenden aus diesem Grund etwas näher eingegangen werden soll. Der Anglist und Phonetiker WILHELM VIËTOR52 beschäftigte sich zeit seines Lebens mit Fragen der Aussprachenormierung und in diesem Zusammenhang mit der regional geprägten Aussprache des Schriftdeutschen. So widmete er sich 50 Vgl. hierzu etwa ELMENTALER (2012) oder BLUME (1987). 51 Vgl. hierzu exemplarisch das Zitat aus PAUL (1916, 132–133): „Es ist auch durchaus nicht nötig, daß alle Deutschen genau nach dem gleichen Kanon sprechen. Soweit das gegenseitige Verständnis zwischen Angehörigen verschiedener Landesteile durch deren Besonderheiten nicht behindert ist, verdienen sie eher Schonung als Ausrottung. In der Schule muß man allerdings einen strengeren Maßstab anlegen, insbesondere für das Lesen. Aber wer den Versuch zu radikaler Unterdrückung aller landschaftlichen Eigenheiten machen wollte, der würde bald gewahr werden, daß er eine Sisyphusarbeit unternommen hätte, wobei viel Zeit und Mühe ohne nennenswerten Erfolg vergeudet wäre. Es ist daher ein ansprechender Gedanke, für die verschiedenen deutschen Gebiete besondere Ausspracheregeln aufzustellen, die deren Eigenheiten bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen.“ 52 VIËTOR selbst legte Wert darauf, seinen Nachnamen mit Trema auf dem zu schreiben (also , um die Aussprache des Namens zu verdeutlichen ([ˈviːeːtoːɒ] und nicht [ˈviːtoːɒ]).

2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache

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bereits 1875 in seiner Schrift „Die Rheinfränkische Umgangssprache in und um Nassau“ der regional geprägten Sprechweise der Gebildeten in seiner Heimat und sensibilisierte seine Leserschaft bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt für das zeitgenössische Varietätenspektrum. In der Ankündigung seines orthoepischen Wörterbuchs53 im Jahre 1883 in dem von ihm herausgegebenen Organ „Zeitschrift für Orthographie, Orthoepie und Sprachphysiologie“ vertrat VIËTOR den Standpunkt, dass die norddeutsche Aussprache oder, wie er schreibt, das „niederdeutsche Hochdeutsch“, mit seiner Unterscheidung von stimmlosen und stimmhaften Konsonanten, als „Norm für eine Aussprachedarstellung“ zu favorisieren sei (VIËTOR 1883, 22). In dieser Ankündigung ermunterte er die Leser, ihm „die Ansicht der Fachgenossen“ über die „mustergültige Aussprache“ von Beispielwörtern mitzuteilen und ihm zudem Angaben über die „in den verschiedenen Gegenden des deutschredenden Vaterlandes unter den Gebildeten thatsächlich herrschende Sprechweise“ zu übermitteln (VIËTOR 1883, 22). Die eingegangenen Einsendungen seiner Leser zur „besten“ Aussprache veranlassten VIËTOR bereits im darauffolgenden Jahr zu der Äußerung, dass keine Region Deutschlands mit ihrer Aussprache als uneingeschränkt vorbildhaft gelten könne, da die Aussprache der Gebildeten überall regionale Merkmale enthalte. Diese Ansicht äußerte er in seinem wohl populärsten Werk („Elemente der Phonetik und Orthoepie des Deutschen, Englischen und Französischen“, vgl. VIËTOR 1884d), das unter anderem für das Deutsche genaue Ausspracheregeln beinhaltet. An VIËTORS Arbeitsweise zeigt sich bereits, dass seine Normierungsvorschläge (ebenso wie seine übrigen Arbeiten) auf empirischen Erhebungen zum zeitgenössischen Sprachgebrauch (insbesondere zur Varietät, die hier als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet wird) beruhen und damit als wesentlich sprachrealitätsnäher als alle später von THEODOR SIEBS publizierten Regelungen einzuschätzen sind. 1885 publizierte VIËTOR dann eine explizit nur für das Deutsche geltende Aussprachelehre, mit der er unter anderem hoffte, „[...] etwas dazu beizutragen, daßs eine reine, des geeinten Deutschlands würdige Aussprache, wie auf der Bühne, so auch in der Schule, in der Kirche und überall sonst zur Geltung kommt, wo nicht engerer Verkehr der Mundart ihr Recht sichert.“ (VIËTOR 1885, IV). Seine weiteren Ausführungen zeigen, dass er die Aussprache für die Bühne – bereits 13 Jahre vor der SIEBS’schen Bühnenaussprache (1898) – im Wesentlichen als (durch die Praxis) geregelt ansah und lediglich kleinere Einzelfragen noch der Klärung bedürften. Mit seinen „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ (vgl. VIËTOR 1888a–1890b) lieferte VIËTOR einen weiteren systematischen Beitrag zur empirischen Erhebung der Aussprache des Schriftdeutschen, auf den unten genauer einzugehen sein wird.54 Bei allen empirischen Bemühungen, die „beste“ Aussprache einzelner Regionen zu erheben, vertrat VIËTOR dennoch klar die Ansicht, dass es nur eine „korrekte“ Musterlau53 Dieses erschien aufgrund zahlreicher Verzögerungen schließlich 1912. 54 Zur erstmaligen ausführlichen Auswertung dieser Quelle vgl. die Analysen in Kapitel 5.

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

tung für das gesamte Land geben dürfe.55 Damit wendete er sich dezidiert gegen die Bestrebungen von Zeitgenossen (vgl. etwa LUICK 1904/1905), regional gültige Aussprachenormen zu schaffen bzw. zu etablieren. Es bleibt also festzuhalten, dass WILHELM VIËTOR bereits vor THEODOR SIEBS einen gut fundierten Normierungsvorschlag für die Aussprache des Deutschen vorgelegt hat.56 Dieser stieß bei seinen Zeitgenossen zwar auf Anerkennung, konnte aber in der Folge für die Normierung der deutschen Standardaussprache nicht die Beachtung finden, die ihm aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten hätte zukommen können.57 Stattdessen setzte sich die „Bühnenaussprache“ von THEODOR SIEBS (1898) durch, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Bei der im Jahr 1898 erschienenen „Deutsche[n] Bühnenaussprache“ des Breslauer Germanistikprofessors THEODOR SIEBS handelt es sich um die erste Kodifizierung der deutschen Standardaussprache, die institutionellen bzw. offiziellen Rückhalt für sich beanspruchen konnte. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Normierungsvorschlägen, wie etwa dem bereits angeführten von WILHELM VIËTOR, betrieb SIEBS für sich und seine „Bühnenaussprache“ eine professionelle Lobbyarbeit, durch die er den Erfolg seiner Normierung erreichen konnte. So kooperierte SIEBS bei der Erarbeitung der „Bühnenaussprache“ mit einem Gremium aus hochrangigen Vertretern aus Wissenschaft und Bühne und versicherte sich zudem des offiziellen Rückhalts etwa des Deutschen Bühnenvereins, der Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner sowie führender Fachzeitschriften. Als Ziel seiner Regelungen wurde eine einheitliche Aussprache für alle deutschen Bühnen genannt. Diese solle wiederum als „Lehrmeisterin Deutschlands“ einen vereinheitlichenden Einfluss auch auf die Schule oder andere Bereiche des täglichen Lebens ausüben und zudem langfristig einen Schritt zur politischen Einigung des Landes darstellen (vgl. SIEBS 1898, 8–9). Zur Erreichung dieser ambitionierten Ziele stellte SIEBS die „Bühnenaussprache“ auf ein (vermeintlich) empirisches Fundament, indem er seine Regelungen auf dem bestehenden Sprachgebrauch der Theaterbühnen aufbauend formulierte. Die deutliche „Bevorzugung“ norddeutscher Bühnenorte führte dabei durchaus zu Kritik (vgl. z. B. BRENNER 1905), entsprach aber dem formulierten Ziel, eine Aussprache der „hochdeutschen Sprachformen“ mit den „einfachen niederdeutschen Lautwerten“ zu erreichen (SIEBS 1898, 18–19).58

55 Vgl. hierzu VIËTORS Ausführungen in dem Vortrag und der gleichnamigen Publikation (VIËTOR 1893) „Wie ist die Aussprache des Deutschen zu lehren?“. 56 Ein detaillierter, phänomenbasierter Vergleich der VIËTOR’schen Regelungen mit denen von SIEBS ist nicht Gegenstand dieser Arbeit und wird daher hier nicht vorgenommen. 57 Vgl. hierzu auch HOLLMACH (2007, 61–89) oder KLEINER (2014). Zum Leben und Werk WILHELM VIËTORS sowie seiner wissenschaftlichen Anerkennung siehe auch STOELKE (1919), DÖRR (1919), SCHROER (1919) und BROTANEK (1919). 58 Als Beispiele für die Bevorzugung norddeutscher Lautung können etwa genannt werden: die Stimmhaftigkeit von an- und inlautend /s/ als [z], die frikativische Aussprache von /g/ als [ç] im Suffix oder stimmhafte Lenes [b, d, g].

2.3 Der Weg zur deutschen Standardsprache

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Problematisch an der „Bühnenaussprache“ und daher auch immer Anlass zu Kritik war unter anderem ihre Überdeutlichkeit und ihr strikter Normanspruch, der keine Aussprachevarianten tolerierte. Für die auf Weitenwirkung und absolute Verständlichkeit abzielende Sprache der Bühne hatte dies zwar seine Berechtigung, war dafür aber umso problematischer, wenn diese Aussprache auf den täglichen Sprachgebrauch außerhalb der Bühne übertragen werden sollte.59 Trotz aller Problematiken konnte sich SIEBS mit seiner „Bühnenaussprache“ allerdings gegen andere Kodifizierungsvorschläge durchsetzen. Somit lässt sich festhalten, dass an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert erstmals eine relativ verbindliche Ausspracheregelung des Deutschen bestand. Ihre Geltung für die Bühne war weitgehend anerkannt, die Ausdehnung auf andere Bereiche des sprachlichen Lebens zum Teil zwar angestrebt, aber dennoch problematisch. In den kommenden circa 70 Jahren erfuhr der „Siebs“ zahlreiche Neuauflagen, bei denen – neben der Integrierung einer Gesangslautung – die wesentliche Neuerung zunächst nur in der Titeländerung bestand.60 Erst mit der 16. Auflage (1957) fanden größere, dem sprachlichen Alltag besser entsprechende Regelungen Eingang in das Werk. 1969 erschien es sogar mit der Titelergänzung „gemäßigte Hochlautung“ in der 19. Auflage zum letzten Mal.61 Für die oben geschilderte, über Jahrhunderte andauernde Auseinandersetzung über die Aussprache des Deutschen mit ihren unterschiedlichen Positionen bedeutete diese Aussprachenormierung, dass letztendlich eine Ausgleichsposition zwischen den beiden Positionen (vorbildliche Region vs. Institution oder Schriftsprache) „gewann“. Es setzte sich also die buchstabengetreue Aussprache, wie sie im Norden des Landes aufgrund der großen Distanz zwischen niederdeutschem Dialekt und hochdeutscher Schriftsprache entstanden war, durch. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es mit dem DUDEN-Aussprachewörterbuch (1. Auflage 1962) und dem „Wörterbuch der deutschen Aussprache“ (WDA, 1. Auflage 196462) neben dem „Siebs“ zwei Aussprachenormierungen des Deutschen, die wesentlich besser an die kommunikativen Erfordernisse des sprachlichen Alltags angepasst sind. Der „DUDEN“ folgte zwar im Wesentlichen den SIEBS’schen Regelungen, machte aber von Anfang an deutlich mehr Zugeständnisse an die Sprachrealität. Das WDA kann als empirisch solide fundiert und sehr sprachrealitätsnah gelten.63 Auf diese Normierungen soll und muss an dieser Stelle nicht detaillierter eingegangen werden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass der lange Weg zur Normierung der deutschen Standardaussprache 59 Zur normierungsgeschichtlichen Einordnung sowie kritischen Auseinandersetzung mit der SIEBS’schen „Bühnenaussprache“ vgl. etwa BESCH (2003c), HOLLMACH (2007), VON POLENZ (1999), EHRLICH (2008), TRENSCHEL (2000) oder KURKA (1980). 60 Ab der 13. Auflage im Jahr 1922 erschien das Werk unter dem Titel „Deutsche Bühnenaussprache – Hochsprache“. 61 Für einen detaillierten Auflagenvergleich siehe z. B. EHRLICH (2008) oder HOLLMACH (2007). 62 1982 erschien mit dem „Große[n] Wörterbuch der deutschen Aussprache“ (GWDA) eine Neubearbeitung der 2. Auflage des WDA. 63 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen in MANGOLD (2000, 1806).

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

mit „Siebs“, DUDEN und DWA/GWDA im 20. Jahrhundert seinen Abschluss gefunden hat. 2.4 Die Weiterentwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch Nachdem nun der Gegenstandsbereich des landschaftlichen Hochdeutsch beschrieben sowie seine sprachhistorische Einordnung im Entstehungsprozess der deutschen Standardsprache erfolgt ist, soll nun die weitere Entwicklung der historischen Prestigevarietät in den Blick genommen werden. Dafür wird in diesem Kapitel näher betrachtet, bis zu welchem Zeitpunkt vom Bestehen eines landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen werden kann. Des Weiteren wird diskutiert, durch welche Anlässe und Prozesse bedingt diese orale Varietät des Deutschen nicht mehr sinnvoll als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet werden kann. Dabei wird näher beleuchtet, wie sich die historische Prestigevarietät entwickelt hat bzw. welche Position den Konstituanten dieses ehemals „besten“ Hochdeutsch in rezenten Variationsspektren des Deutschen zukommt. Die bei dieser Betrachtung in den Blick genommenen modernen Regionalsprachen des Deutschen führen sodann zu einer Diskussion der Frage, welche Relevanz die in dieser Arbeit durchgeführte Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch für die moderne Regionalsprachenforschung haben kann. Wie in Kapitel 2.3 ausführlich erläutert, hat sich für das Deutsche in einem Jahrhunderte andauernden Prozess eine sowohl schriftliche als auch mündliche Standardsprache entwickelt. Dieser Prozess kann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für die Schriftsprache als abgeschlossen angesehen werden (vgl. etwa MATTHEIER 2000b). Die einheitliche neuhochdeutsche Orthographie wurde in den Schulen gelehrt, so dass jedes Schulkind eine mehr oder weniger gut ausgeprägte literale Kompetenz erwerben konnte. Für die gesprochene Sprache lag zu dieser Zeit mit SIEBS’ „Bühnenaussprache“ (1898) erstmals ein kodifiziertes Regelwerk für die Aussprache vor. Im Vergleich zum geschriebenen Standard hatte der mündliche (mit seiner zunächst auf die Bühne eingeschränkten Geltung) jedoch noch keine große Präsenz im sprachlichen Alltag der meisten Sprecher des Deutschen. Zwar sollte die „Bühnenaussprache“ nach SIEBS’ Vorstellungen zur „Lehrmeisterin Deutschlands“ werden (vgl. SIEBS 1898, 8–9), doch war der tatsächliche Einflussbereich dieser normierten Aussprache auf den sprachlichen Alltag der meisten Menschen eher gering. Dies hatte verschiedene Gründe: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte ein Theaterbesuch, bei dem die „Bühnenaussprache“ hätte vernommen werden können, nur für einen eingeschränkten Personenkreis zur regelmäßigen Freizeitbeschäftigung. In den Krisenzeiten der Weimarer Republik der frühen 20er Jahre handelte es sich dabei um einen Luxus, den sich nur sehr wenige Menschen leisten konnten.64 Dementsprechend kann bis dahin der normative Einfluss der Aussprache der Bühne auf die deutsche Bevölkerung als vernachlässigbar angesehen werden. Zu dieser Zeit 64 Vgl. etwa „Deutsches Rundfunkarchiv“ (Hg.) (1986, 11–12).

2.4 Die Weiterentwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch

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gelang in der Informationstechnologie Deutschlands allerdings ein entscheidender Durchbruch, der auch die sprachliche Situation des Landes in der Folge verändern sollte: Das Medium des Rundfunks wurde dabei in der Art weiterentwickelt, dass ein Empfang durch private Endgeräte möglich wurde.65 Zunächst beschränkte sich aus hauptsächlich technischen sowie zum Teil monetären Gründen der Kreis der Rundfunkempfänger auf die Großstädte des Landes. Sukzessive vergrößerte sich dann aber die Anzahl der Empfänger, so dass 1932 etwa ein Viertel der deutschen Haushalte Zugang zu dem neuen Medium hatte.66 Bis zum Zweiten Weltkrieg erfuhr das zunächst großstädtische Medium dann auch in ländlichen Regionen eine große Verbreitung (vgl. CEBULLA 2004, 43). Mit der Einführung und Verbreitung des Rundfunks wurde die Gültigkeit der Bühnenaussprache auch auf dieses neue Medium ausgedehnt.67 Allerdings musste sie hier als deplatziert angesehen werden. Wiederholte Bemühungen des Rundfunks, eine für das Medium brauchbare Ideallautung zu schaffen, scheiterten am Widerstand SIEBS’, so dass sich die im Rundfunk Sprechenden bald eine eigene, dem Medium angemessene Aussprache angewöhnten (vgl. HOLLMACH 2007, 71– 76).68 Somit kann ab den 30er/40er Jahren des 20. Jahrhunderts davon ausgegangen werden, dass große Teile der deutschen Bevölkerung mit einem gesprochenen Standard in Kontakt kamen.69 Den zweiten großen, informationstechnologischen Einschnitt, der für die Verbreitung der deutschen Standardaussprache in der Bevölkerung von Bedeutung war, stellte in der Folge die Erfindung des Fernsehens und seine Entwicklung zum Massenmedium dar.70

65 Am 29. Oktober 1923 wurde das erste deutsche Rundfunkprogramm mit einer Sendedauer von einer Stunde aus dem Berliner Vox-Haus ausgestrahlt. Innerhalb eines Jahres entstanden weitere acht regionale Sendeanstalten in Deutschland, vgl. FROMHOLD (1990, 2). 66 Vgl. hierzu etwa LENK (1997, 14) oder DUSSEL (2010, 41). Letzterer bietet in seiner „Deutschen Rundfunkgeschichte“ eine gut strukturierte Übersicht über die Entwicklung des Mediums in Deutschland unter verschiedensten Gesichtspunkten. 67 Vgl. hierzu die „Rundfunkaussprache“ von SIEBS (1931). Hierbei handelt es sich allerdings im Wesentlichen um einen unveränderten Wiederabdruck der „Bühnenaussprache“, der lediglich um einige Fremdwörter und (fremde) Eigennamen für die Erfordernisse von Rundfunk(nachrichten)sprechern angepasst wurde. 68 Bei dieser neuen Aussprache handelte es sich nach HOLLMACH (vgl. 2007, 75–76) ebenfalls um eine „vorbildliche“ Lautung, die den Ansprüchen an einen Standard genügen konnte. Durch die Nichtanerkennung selbiger durch SIEBS und dessen Festhalten an seiner Ideallautung verschwand in der Folge dessen Einfluss auf die Aussprache des Rundfunks. Eine Diskussion der SIEBS’schen Norm sowie ihrer Anwendung bei verschiedenen Rundfunksprechern der 1960er Jahre nimmt SCHINDLER (1974) vor. 69 MANGOLD (vgl. 2000, 1808) vertritt die These, dass nach 1950 zunächst der UKW-Rundfunk mit seiner zwar guten Sendequalität bei allerdings geringer Reichweite eher dazu beigetragen habe, landschaftliche Ausspracheformen zu verbreiten, als einen überregionalen Standard zu etablieren. 70 Zur ersten Fernsehübertragung 1952 hatten in Deutschland etwa 300 Haushalte ein Empfangsgerät, von einem Massenmedium kann erst ab etwa 1959/1960 gesprochen werden. Vgl. zur Geschichte und Entwicklung des Fernsehens z. B. HICKETHIER (1998) oder ABRAMSON (2002).

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

Durch diese beiden Medien bekam bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts der Großteil der Bevölkerung regelmäßig die gesprochene deutsche Standardaussprache zu hören. Bei diesem Standard der für die Medien geschulten Sprecher handelte es sich annähernd um die (jeweils gültige) nationale Norm bzw. um die jeweilige Annäherung der Sprecher an diese. Dies konnte LAMELI (vgl. 2004, 86) für das Fernsehen auf Basis von Dialektalitätsmessungen zweier Nachrichtensprecher zeigen. Der von ihm gemessene phonetische Abstand in Sprachproben aus den Jahren 1960 und 2001 zur standardsprachlichen Vergleichsnorm war mit Dialektalitätswerten von 0,025 bzw. 0,029 so gering, dass bei den Nachrichtensprechern (und ihrem „Kolloquialstandard“) praktisch von einer Realisierung der kodifizierten Standardsprache ausgegangen werden muss. Zudem konnte LAMELI (vgl. 2004, 127–128) als perzeptive Grenze zur Standardsprachlichkeit einen Dialektalitätswert von 0,17 ermitteln. Dieser Schwellenwert kann so interpretiert werden, dass in einer Sprachprobe, für die ein Wert von 0,17 gemessen wurde, zwar noch regionale Merkmale und damit Abweichungen zur kodifizierten Standardaussprache enthalten sind, dass diese Sprachproben aber in der Regel in Hörerurteil-Tests durch Probanden als „reines Hochdeutsch“ bewertet werden.71 Durch die Präsenz der gesprochenen Standardsprache in den Medien erhielten die deutschen Sprecher also erstmals eine Vergleichsmöglichkeit zwischen ihrem eigenen „besten“ Hochdeutsch und dem Hochdeutsch, das sie in den Medien wahrnahmen.72 Es ist dabei davon auszugehen, dass dadurch früher oder später die meisten Menschen auf die regionale Begrenzung und Markiertheit ihres landschaftlichen Hochdeutsch aufmerksam wurden.73 Dieser Prozess lässt sich treffend mit den Worten von SCHMIDT / HERRGEN (2011, 65) zusammenfassen: In dem Maße, in dem die neuen nationalen Normen der Mündlichkeit als „richtige“, „reine“ Oralisierungen der Standardvarietät kommunikative Präsenz erlangten, wurden die alten großlandschaftlichen Prestigesprechlagen als regional begrenzt wahrgenommen.

Durch das Bewusstwerden der regionalen Begrenzung dessen, was aus Sprechersicht bislang die Prestigevarietät war, kam es zugleich zu einer Umwertung selbiger (häufig in Form einer Abwertung). In einem vertikal gedachten Varietätenspektrum stand das landschaftliche Hochdeutsch nun nicht mehr an oberster Stelle, sondern musste sich eine Stufe „tiefer“, also unterhalb der nationalen Aussprachenorm eingliedern. SCHMIDT / HERRGEN (vgl. 2011, 65–66) datieren auf diesen Zeitpunkt bzw. bedingt durch den soeben beschriebenen Prozess die Ent71 Zur Beurteilung der Standardnähe professioneller Nachrichtensprecher aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vgl. auch HERRGEN (2015, 149–155). 72 Alle Aussagen dieser Art beziehen sich auf die Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Zweifelsohne hatten kleinere Sprecherkreise auch schon früher die Möglichkeit, sich sprachlich am gesprochenen Standard auszurichten. Dies konnte in meiner Magisterarbeit (vgl. OCHS 2007) auf Basis von Sprachaufnahmen deutscher Oberbürgermeister aus den Jahren 1926– 1931 gezeigt werden. 73 Vgl. hierzu etwa SCHMIDT / HERRGEN (2011, 65–66), MIHM (2008, 15), ELMENTALER (2005, 414), SCHMIDT (2005a) oder MIHM (2000, 2113).

2.4 Die Weiterentwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch

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stehung der modernen Regionalsprachen mit ihren jeweiligen Varietäten- und Sprechlagenspektren.74 Sie definieren diese wie folgt: Eine Regionalsprache ist ein durch Mesosynchronisierungen vernetztes Gesamt an Varietäten und Sprechlagen, das horizontal durch die Strukturgrenzen der Dialektverbände/ -regionen und vertikal durch die Differenzen zu den nationalen Oralisierungsnormen der Standardvarietät begrenzt ist. Der Begriff fasst also die Vollvarietäten und ihre Sprechlagen „unterhalb“ der Standardvarietät zusammen. Regionalsprache ist also Sprache und keine regionale Einzelvarietät. Die variationslinguistische Struktur der verschiedenen Regionalsprachen ist vor allem dadurch bestimmt, ob sie neben dem Regiolekt, der als standardabweichende Vollvarietät mit großregionaler Verbreitung zu definieren ist, noch weitere vertikale Varietäten, also Dialekte, die als standardfernste, lokal und kleinregional verbreitete Vollvarietäten definiert sind, umfasst. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 68)

Mit der „Geburt“ der modernen Regionalsprachen ist also zugleich der Zeitpunkt gekommen, an dem nicht mehr von einem landschaftlichen Hochdeutsch gesprochen werden kann. Die im Fokus dieser Arbeit stehende, historische Prestigevarietät wird nach SCHMIDT / HERRGEN (2011) als Grundlage der „standardnahen Varietäten und Sprechlagen“ der modernen Regionalsprachen, mithin der Regiolekte75 bzw. Regionalakzente76 des heutigen Deutschen angesehen. Dieser Prozess lässt sich mit den Worten von MIHM (2000, 2113) wie folgt zusammenfassen: Die durch Standardüberschichtung entstandenen heutigen Umgangssprachen waren ihrer Substanz nach zunächst weitgehend identisch mit den regionalen Hochsprachen der vorangegangenen Zeit, so daß die alten Sprachwertsysteme bei veränderten Trägerschichten und Verwendungsbereichen fortlebten und ihre Attraktivität für die Sprecher der Basisdialekte behielten.

Aufgrund des geschilderten „Fortlebens“ der alten Prestigevarietät ist die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen wird, nicht nur sprachhistorisch, sondern auch für die moderne Regionalsprachenforschung von Interesse. Zudem kann ein sprachdynamischer Vergleich dieses rekonstruierten landschaftlichen Hochdeutsch mit den modernen Regiolekten einen interessanten sprachhistorischen Aufschluss über den oberen Bereich der Varietätenspektren des Deutschen liefern (vgl. hierzu Kapitel 6). Dabei steht zum einen die Frage im Fokus, in welchem Verhältnis das landschaftliche Hochdeutsch einerseits zum Regiolekt und andererseits zur Standardsprache steht. Außerdem ist von besonderem Interesse, was von der ehemaligen Prestigevarietät in den heute standardnahen Varietäten und Sprechlagen erhalten geblieben ist bzw. welche regionalen Merkmale abgebaut wurden. Dies könnte diatopisch zum Teil sehr unterschiedlich ausfallen, unter anderem in Abhängigkeit 74 Vgl. hierzu ebenfalls ELMENTALER (2005, 414). 75 Von Regiolekten als „standardabweichende Vollvarietät[en] mit großregionaler Verbreitung“ sprechen SCHMIDT / HERRGEN (2011, 66) nur dann, wenn „die Fortsetzung des ehemaligen landschaftlichen Hochdeutsch noch den Kriterien einer Vollvarietät entspricht“. 76 Als Regionalakzente werden in der Sprachdynamiktheorie die regionalen Prestigesprechlagen bezeichnet, also die je größtmögliche, wenngleich regional geprägte Annäherung an den Standard (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 66).

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2 Landschaftliches Hochdeutsch: Gegenstandskonstitution und -beschreibung

davon, wie das Varietätenspektrum einer modernen Regionalsprache ausgestaltet ist. Eine entscheidende Rolle könnte dabei etwa spielen, ob die Regionalsprache beispielsweise noch einen Dialekt umfasst.77 Für den Erhalt oder den Abbau regionaler Merkmale können verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Einen entscheidenden Einfluss hat dabei sicherlich die Salienz eines Merkmals.78 Daneben werden in der einschlägigen Forschungsliteratur verschiedene Konzepte diskutiert, nach denen regionale Merkmale bzw. deren Varianten hinsichtlich ihrer unterschiedlich ausgeprägten Abbausensitivität typisiert und bewertet werden.79 Die Relevanz des „oberen“ Bereichs im Varietätenspektrum moderner Regionalsprachen zeigt sich an der Vielzahl älterer und neuerer Forschungen zu diesem Themenfeld. Die terminologische Bandbreite bei der Benennung dieses Forschungsgegenstandes („Umgangssprache“, „Regiolekt“, „Regionalakzent“, „regionaler Gebrauchsstandard“ und weitere) ist ähnlich vielfältig wie die theoretische Untermauerung sowie die konzeptionelle und methodische Ausrichtung der verschiedenen Untersuchungen.80 Eine Anbindung der sprachhistorischen Forschung zum landschaftlichen Hochdeutsch an die Untersuchungen zum rezenten Regiolekt verspricht dabei interessante Erkenntnisse.

77 Eine umfängliche Datenbasis zur Erforschung der modernen Regionalsprachen wird in dem Marburger Projekt „Regionalsprache.de“ (REDE) erhoben bzw. zusammengestellt. Auf dieser Datengrundlage aufbauend präsentiert KEHREIN (2012) in seiner Habilitationsschrift eine ausführliche Beschreibung und Analyse von sieben regionalsprachlichen Spektren wichtiger Dialektregionen. 78 Grundlegendes zum Salienzbegriff bzw. zur Erforschung der Salienz von Einzelmerkmalen findet sich etwa in PURSCHKE (2011), KIESEWALTER (2011; i. V.), LENZ (2010) und HERRGEN / SCHMIDT (1985). 79 Vgl. hierzu neben anderen etwa jüngst KEHREIN (2015), LENZ (2003) oder vor fast 90 Jahren SCHIRMUNSKI (1928). 80 Im Rahmen dieser Arbeit kann und muss nicht näher auf die verschiedenen Forschungen in diesem Bereich eingegangen werden. Exemplarisch seien nur einige einschlägige Arbeiten genannt, wobei die Auflistung in keinster Weise einen Vollständigkeitsanspruch erhebt, sondern vielmehr einen Einblick in die Bandbreite gewähren soll: BICHEL (1973), STEGER (1984), KÖNIG (1989), MACHA (1991), LAUSBERG (1993), STEINER (1994), SALEWSKI (1998), MIHM (2000), LENZ (2003), LAMELI (2004), AUER (2005), BEREND (2005), SPIEKERMANN (2008), SCHMIDT / HERRGEN (2011), KEHREIN (2012) und viele weitere.

3 FORSCHUNGSSTAND Eine zumeist theoretische Auseinandersetzung mit der historischen Prestigevarietät, die hier als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet wird, findet sich in der einschlägigen Forschungsliteratur in ungezählter Menge. Eine umfassende Auflistung kann und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden – hierfür böte sich eine eigene Bibliographie zu diesem Themenbereich an. Exemplarisch sei jedoch auf einige einschlägige Arbeiten verwiesen: GERNENTZ (1974), KETTMANN (1981), BESCH (1983), KÖNIG (2004a), MATTHEIER (2004), AUER (2005), ELMENTALER (2005), ELSPASS (2005), SCHMIDT / HERRGEN (2011), KEHREIN (2012), LAMELI (2013), HERRGEN (2015). Dem steht in einem auffallend unproportionalen Verhältnis ein großes e m p i r i s c h e s Defizit in der Erforschung des landschaftlichen Hochdeutsch gegenüber. Eine der vorliegenden Arbeit vergleichbare Studie, in der also das landschaftliche Hochdeutsch im (ausgehenden) 19. Jahrhundert im Hinblick auf seine phonetisch-phonologischen Besonderheiten in größerer arealer Ausdehnung empirisch rekonstruiert wird, liegt meines Wissens nach nicht vor. Aus diesem Grund widmet sich die nun folgende Darstellung des Forschungsstandes zum Teil auch Studien, die beispielsweise ihren Fokus auf weiter zurückliegende Jahrhunderte oder andere linguistische Systemebenen legen. Ein Vergleich mit Ersteren würde Rückschlüsse über diachrone Entwicklungen der historischen Prestigevarietät erlauben. Die Zusammenführung der Ergebnisse aus Studien zu anderen Systemebenen böte die Möglichkeit, zu einem vollständigeren Bild des landschaftlichen Hochdeutsch beizutragen. Bei beidem handelt es sich um reizvolle Forschungsaufgaben, die allerdings nicht Teil dieser Arbeit sind. HERNECK (1941) untersucht in seiner größtenteils handschriftlichen Dissertation Schallplattenaufnahmen deutscher Bühnenschauspieler aus den „letzten fünfzig Jahren“81. Die Arbeit verfolgt dabei das Ziel, die tatsächlich auf den deutschen Bühnen vorherrschende „mustergültig[e] deutsche[e] Bühnenaussprache herauszuarbeiten“ (HERNECK 1941, 1). Der Verfasser nimmt dabei eine sehr aufwändig erstellte und akribische Transkription der Aufnahmen vor und wertet diese anschließend hinsichtlich einzelner Laute und Lautfolgen aus. Damit kann in dieser Studie quasi die empirische Basis der Bühnenaussprache um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gesehen werden, die für SIEBS’ „Bühnenaussprache“ (1898) zwar postuliert, de facto aber nicht vorhanden war. Bei der Auswahl der Aufnahmen beschränkt sich der Autor auf solche der „oberste[n] Sprachschicht“, welche HERNECK ausschließlich im Gedicht, der Ballade und dem Versdrama verwirklicht sieht. Die von ihm ermittelten „mundartlichen und umgangssprachlichen Reste“ seien demnach in „verstärktem Masz für die mittleren und tieferen Sprechstufen der Bühne“ anzunehmen (HERNECK 1941, 9–10). Zu81 So der Titel der Arbeit. Eine genaue Datierung der verwendeten Schallplattenaufnahmen nimmt HERNECK nur in Ausnahmefällen vor.

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sammenfassend kommt HERNECK (vgl. 1941, 204) zu dem Ergebnis, dass die deutsche Bühnenaussprache Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts keineswegs frei von regionalen Merkmalen war („Mundartklängen“) und in „wesentlichen Punkten von den Siebsschen Normen“ abwich.82 In Bezug auf die vorliegende Arbeit sind die Ergebnisse HERNECKS insofern interessant, als sie empirisch belegen können, dass ein gesprochensprachlicher Standard zu dieser Zeit nicht existent war und sich somit selbst in der Domäne der vermeintlich „besten“ Aussprache ein landschaftlich geprägtes Hochdeutsch hielt. VOGE (1978) widmet sich in seiner Studie den Normierungsversuchen zur Aussprache im 18. Jahrhundert. Auf der Datenbasis von insgesamt 60 Grammatiken und Orthographien wertet er die darin formulierten Angaben über eine „korrekte“ Aussprache der Zeit aus. Aufgrund der regionalen Herkunft der Grammatiker zieht VOGE dabei auch Schlüsse über die areale Verbreitung lautlicher Aussprachebesonderheiten im anvisierten „Standard“ der Zeit. Die in den Grammatiken nicht vorhandene Unterscheidung zwischen Lauten und Buchstaben, also zwischen Aussprache und Schreibung, erschwert dabei Aussagen über die konkreten phonetischen Realisierungen. Nichtsdestoweniger erlauben insbesondere die metasprachlichen Kommentare der Sprachnormierer Rückschlüsse auf das landschaftliche Hochdeutsch des 18. Jahrhunderts. SCHIKORSKY (1990) widmet sich in ihrer textanalytischen Arbeit dem sprachlichen Verhalten von Kleinbürgern, Handwerkern und Bauern sowie deren Orientierung an den (bildungsbürgerlichen) Sprachnormen des 19. Jahrhunderts. Anhand von privaten Texten wie Briefen oder Tagebucheinträgen betrachtet sie dabei hauptsächlich pragmatische, semantische, lexikalische und grammatische Variation in der geschriebenen Sprache. Ein kleiner Abschnitt der Arbeit (vgl. SCHIKORSKY 1990, 280–293) widmet sich darüber hinaus dem Einfluss gesprochener Sprache auf die private Schriftlichkeit anhand einiger Variationsphänomene. So kann SCHIKORSKY etwa in manchen Texten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrte Schreibungen nachweisen, die auf einen entrundeten Stammvokal schließen lassen, also beispielsweise - statt orthographisch korrekten -Schreibungen. Die Häufigkeit solcher Belege ist zum Ende des 19. Jahrhunderts rückläufig, woraus SCHIKORSKY (1990, 293) allerdings keine Schlüsse über den Rückgang der Entrundung in der gesprochenen Sprache ziehen will. Als gleichfalls plausible Begründung erscheint ihr für diesen Rückgang, dass die Schreiber gelernt hätten, „mündliche und schriftliche Sprachkompetenz im Gebrauch klarer voneinander abzugrenzen“. JORDAN (2000) untersucht 99 Romane des 19. Jahrhunderts hinsichtlich des Sprachgebrauchs und der Sprachmentalität des Bürgertums im Untersuchungszeitraum. Anhand zahlreicher Beispiele werden unter anderem regionalspezifische phonetische Merkmale aufgeführt, die in den untersuchten Romanen zum Einsatz kommen, um etwa regionale Herkunft oder Schichtzugehörigkeit zu verdeutlichen. Die regionale Verortung JORDANS bleibt mit den drei Kategorien 82 Eine Untersuchung zu den phonetisch-phonologischen Abweichungen von der SIEBS’schen Norm bei Rundfunksprechern der 1960er Jahre liegt mit SCHINDLER (1974) vor.

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nieder-, mittel- und oberdeutsch sehr grob. Interessant ist hingegen ihr Ergebnis, dass auch Romanfiguren als Vertreter des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert regionalsprachliche Merkmale verwenden (vgl. JORDAN 2000, Bd. 2, 114). Dies kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Bestätigung dafür gesehen werden, dass das landschaftliche Hochdeutsch im Bildungsbürgertum der Zeit (noch) so präsent war, dass es frequent Eingang in literarische Werke fand. Auch in der historischen Schreibsprachenforschung werden zum Teil Rückschlüsse auf eine historische Mündlichkeit gezogen. Dazu hält etwa MIHM (2004) fest, dass sich aus der Schreibsprachenforschung „nur“ Rückschlüsse auf den historischen Akrolekt ziehen lassen und eine undifferenzierte Anwendung auf den Dialekt bzw. ein gesamtes historisches Varietätenspektrum problematisch erscheint. In gleicher Weise argumentiert auch ELMENTALER (vgl. 2003, 50). Er untersucht die Duisburger Schreibsprache bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und geht in seiner Studie davon aus, dass „sich die Strukturen der Schreibsysteme in wesentlichen Teilen auf Strukturen des Gesprochenen (d.h. der von der damaligen Oberschicht verwendeten supradialektalen Ortsvarietät)“ beziehen, wobei es andererseits aber auch „differierende Vorstellungen darüber [gab], in welcher Weise dieser Bezug herzustellen sei“ (ELMENTALER 2003, 310). Ebenfalls der historischen Schriftlichkeit Duisburgs widmet sich MIHM (2007 [2001]) und nimmt dabei eine Neubewertung früher „Ausgleichssprachen“ vor. In Duisburger Gerichtsprotokollen des 16. Jahrhunderts zeigt er hochdeutsche Neuerungen in einer niederdeutschen (rheinmaasländischen) Schreibsprache auf und untersucht die jeweiligen Merkmalsverteilungen. Die auf diese bzw. vergleichbare Weise entstehenden Ausgleichssprachen wertet er „primär als Prestigesprachen[, die] einem frühneuzeitlichen Bedürfnis der Oberschichten nach einer gehobenen Sprache [entspringen]“ (MIHM 2007 [2001], 59). ELSPASS / DENKLER (2003) rekonstruieren anhand von Briefen westfälischer Auswandererfamilien des 19. Jahrhunderts Merkmale der „geschriebenen Umgangssprache“ (ELSPASS / DENKLER 2003, 134). Aus der privaten Schriftlichkeit „einfacher Leute“ ziehen sie Rückschlüsse auf die dialektal interferierte Mündlichkeit bei den Versuchen, sich des Schrift- bzw. Hochdeutschen zu bedienen. Die von ihnen ermittelten linguistischen Merkmale werden als „repräsentativ für die bäuerliche und kleinbürgerliche Bevölkerung“ der untersuchten westfälischen Regionen angesehen (ELSPASS / DENKLER 2003, 136). Über den Bereich der Rekonstruktion hinaus nehmen die Autoren auch vergleichende Analysen mit neueren Daten „regionaler Umgangssprachen“ vor, um so zu überprüfen, welche Phänomene sich vom 19. bis zum 20./21. Jahrhundert hin konstant gehalten haben bzw. welche abgebaut wurden („Konstanten regionaler Umgangssprachen“, ELSPASS / DENKLER 2003, 140). Aufgrund der Analysen, die sich auf den phonetisch-graphischen Bereich, die Flexionsmorphologie, die Morphosyntax, die Lexik und die Satzsyntax erstrecken, liefern die Autoren eine recht umfangreiche Auflistung regionaler Merkmale sowie eine Beurteilung hinsichtlich ihrer diachronen Konstanz und kommen dabei zu dem Ergebnis, dass die von ihnen verwendeten Privatbriefe „als verlässliche Textquellen zur Erforschung regionaler

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Sprachgeschichte nutzbar gemacht werden können“ (ELSPASS / DENKLER 2003, 159). In seiner Habilitationsschrift untersucht ELSPASS (2005) dann in wesentlich größerem Umfang anhand von Auswandererbriefen des 19. Jahrhunderts die private Schriftlichkeit „kleiner Leute“. Er geht dabei von der soziopragmatischen Grundannahme aus, dass das geschriebene Alltagsdeutsch der von ihm untersuchten Schreibenden, die überwiegend „nur“ über Volksschulbildung verfügten, eine konzeptionell mündliche Basis hatte. Dadurch sieht er in der „geschriebene[n] historische[n] Alltagssprache des Neuhochdeutschen aus der Feder ungeübter Schreibender [...] zu einem Gutteil geschriebene historische Umgangssprache/geschriebenen historischen Regiolekt“ repräsentiert (ELSPASS 2005, 31). Sein Korpus an Auswandererbriefen erstreckt sich in relativ großer regionaler Streuung über den deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts, so dass seine Analysen der sich in den privaten Briefen zeigenden Schreibvarianten auch dialektgeographisch erfolgen können. Seine Phänomenauswertungen erfassen insbesondere die Bereiche Syntax, Morphosyntax und Lexik und ergeben dabei große Unterschiede zwischen der geschriebenen Alltagssprache und der „gehobenen Schriftsprache“ (vgl. zur Übersicht ELSPASS 2005, 463–464). ELSPASS setzt sich in seiner „Sprachgeschichte von unten“ also insbesondere mit dem geschriebenen Alltagsdeutsch des 19. Jahrhunderts auseinander, auf dem aufbauend er aber die Rekonstruktion der gesprochenen Sprache für möglich hält.83 Anhand von sieben Phänomenen und ihrer Schreibvarianten, die er phonetisch begründet sieht, diskutiert ELSPASS (vgl. 2005, 439–460) auch die Einflüsse regional geprägter Lautungen auf die Schreibung und widmet sich damit dem hier im Fokus stehenden Forschungsgebiet. Er nimmt dabei auch, soweit möglich, eine grobe dialektgeographische Einordnung der Belege vor. Allerdings bleiben seine Ausführungen in dem die Lautungen betreffenden Bereich recht knapp und kursorisch, was dem anders gesetzten Schwerpunkt der Arbeit geschuldet ist. Mit MIHM (2008) liegt eine einschlägige Studie zu einem Einzelphänomenen vor. So untersucht er am Beispiel der Auslautverhärtung, wie innerhalb einer Zeitspanne von etwa 200 Jahren vier verschiedene Realisierungen als vorbildlich galten („Zielnormenwechsel“) und betrachtet dabei die sprachdynamischen Prozesse, die bei den Sprechern entweder zur Akzeptanz einer Zielnorm und dadurch zur Umsetzung oder zu Nicht-Akzeptanz und entsprechend ausbleibender Umsetzung führten. Im Rahmen der Untersuchung rekonstruiert MIHM die landschaftlich unterschiedlichen Realisierungen in der Sprache gebildeter Sprecher in gehobenen Situationskontexten (von ihm als „Akrolekte“ bezeichnet, vgl. 2008, 14) anhand von Schriften verschiedener Sprachgelehrter und Grammatiker des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Vergleich zu neueren Sprachdaten aus KÖNIG (1989) nimmt er zudem eine ausführliche Diskussion möglicher Ursachen vor, die die Umsetzung sprachlicher Normen bei Sprechern begünstigen oder verhin83 Vgl. hierzu: „Die Untersuchung g e s p r o c h e n e r historischer Sprache, die notwendigerweise rekonstruktiv sein muss, kann nur in einem nachfolgenden Schritt erfolgen.“ (ELSPASS 2005, 11; Sperrung im Original, B. G.)

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dern. Für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch liegt mit MIHM (2008) also für ein Einzelphänomen eine differenzierte Analyse vor. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 236–240) führen im Rahmen ihrer Einführung in die Theorie der Sprachdynamik eine exemplarische, phänomenbasierte Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert vor. Anhand eines Ausschnitts der Karte bösen (Nr. 184) aus dem Wenker-Atlas betrachten und bewerten sie die Belege der Lehrer (WENKERS Informanten) hinsichtlich der korrekten lautlichen Repräsentation des Stammvokals im abgefragten Lemma. Dabei interpretieren die Autoren orthographisch korrekte Schreibungen (also mit ), die die abgefragte dialektale Form allerdings lautlich nicht korrekt wiedergeben (weil in diesem Fall der Dialekt keine vorderen gerundeten Vokale kennt, demnach also eine -Graphie „richtiger“ wäre), als „Fehler“ (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 238). Anhand dieser bzw. ihrer arealen Verteilung ziehen die Autoren Schlüsse über die phonologische Gesamtkompetenz (Dialekt und landschaftliches Hochdeutsch) der WENKER’schen Informanten und gelangen damit zu einer phänomenbasierten Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert. Da sich die Analysen schriftsprachorientierter Fehlschreibungen der vorliegenden Arbeit an diese programmatische Beispielanalyse in SCHMIDT / HERRGEN (2011) anlehnen, kann an dieser Stelle auf eine detailliertere Ausführung verzichtet werden. Stattdessen sei auf Kapitel 7 verwiesen. TESCHKE (2011) wertet eine Grammatik aus dem Jahr 1881 über den Dialekt in Leipzig bzw. die darin enthaltene Homophonenliste aus. Bei Letzterer handelt es sich um eine Liste von im Dialekt (bzw. einer anderen regional geprägten Varietät) gleichlautenden Wörtern, deren Gleichklang beim Sprechen nach der Schrift allerdings vermieden werden sollte. Die Auswertung solcher Homophonenlisten verspricht Erkenntnisse über historische gesprochene Sprache, da in ihnen „in besonderer Weise objektsprachliche Daten mit metasprachlichem Wissen und Beobachtungen“ (TESCHKE 2011, 183) vereint werden. Anhand einiger Beispielphänomene nimmt TESCHKE eine Analyse und Beschreibung des Leipziger Dialektes im 19. Jahrhundert vor und zieht darauf aufbauend zum Teil Schlüsse über eine am Schriftdeutschen orientierte Aussprache, die sie in Anlehnung an SCHMIDT / HERRGEN (2011) sowie die vorliegende Arbeit als „landschaftliches Hochdeutsch“ bezeichnet. WILCKEN setzt sich jüngst in ihrer Dissertation mit dem Missingsch84, also dem „intendierte[n] Hochdeutsch mit starken niederdeutschen Interferenzen“ (WILCKEN 2015, 3) auseinander. Dieses finde sich zunächst in der Schreib-, später (zwischen 1650 und 1850) aber auch in der Sprechsprache der bildungsbür84 VON POLENZ (2013, 235) beschreibt Missingsch als die „brockenhafte Vermischung von Hochdeutsch (Meißnisch) mit Niederdeutsch, wenn muttersprachlich Niederdeutsche sich in unvollkommener Weise hochdeutsche Ausdrucksweisen angewöhnten“. Die Bezeichnung „Missingsch“ sei zunächst als „Mißnisch“ in Anlehnung an Meißnisch verwendet worden. Zudem wird zum Teil eine spätere Umdeutung zu „Mi/essingsch“ als Anspielung auf den Mischcharakter von Messing als „unechtes“ minderwertiges Gold angenommen.

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3 Forschungsstand

gerlichen Oberschicht. Im 19. Jahrhundert sei das Missingsch dann als gesprochene Sprache der Mittel- und Unterschicht anzunehmen (vgl. WILCKEN 2015, 4). Ziel der Arbeit ist dabei insbesondere die Rekonstruktion der historischen Varietät des Missingsch. Daneben wird die Inszenierung und Funktionalisierung von Missingsch in literarischen Texten betrachtet und bewertet. Als Korpus dienen WILCKEN 43 Textproben literarisierten Missingsch aus den Jahren 1805 bis 2000 aus verschiedenen niederdeutschen Regionen. Sie arbeitet neben morphosyntaktischen und lexikalischen Phänomenen insbesondere auch phonetischphonologische Besonderheiten des Missingsch heraus. Letztere umfassen beispielsweise die g-Spirantisierung, die Deaffrizierung von [p͡f], Vokalsenkungen sowie -hebungen, ebenso wie niederdeutsche Monophthonge statt hochdeutscher Diphthonge oder niederdeutsche Diphthonge statt hochdeutscher Monophthonge. Die herausgearbeiteten Merkmale werden von WILCKEN hinsichtlich ihrer diachronen Stabilität und ihrer diatopischen Verbreitung kategorisiert. Die stets vorgenommene Bezugnahme auf sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse, die nicht anhand literarischer Werke gewonnen wurden, ermöglicht einerseits eine gute Vergleichbarkeit der verschiedenen Studien und soll andererseits die aus dem literarischen Korpus gewonnenen Ergebnisse absichern. Es zeigt sich dabei, dass das literarisierte Missingsch zwar zu großen Teilen als adäquat in der Abbildung der Sprachrealität betrachtet werden kann, dass aber zugleich keine exakte Abbildung der realen Sprachverhältnisse durch die literarischen Texte gegeben ist. So ist ein Ergebnis der Arbeit, dass der reale und der literale Abbau von Merkmalen zeitversetzt stattfinden (die Realität schreitet dabei voran). Des Weiteren zeigen WILCKENS Analysen, dass die Salienz eines Merkmals entscheidend für die Aufnahme desselbigen in das literarisierte Missingsch ist (vgl. WILCKEN 2015, 289). Diese und andere Problematiken bei der Rekonstruktion historischer Mündlichkeit anhand literarischer Texte werden von WILCKEN ausführlich diskutiert. Neben den genannten Studien, die sich der Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch bzw. historischen Prestigesprechlagen und/oder -varietäten widmen, liegen in vielen Arbeiten mehr bzw. meist weniger umfangreiche Angaben zur neueren diachronen Entwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch vor. In Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit wird sich dieser diachronen Entwicklung bis zum rezenten Regiolekt gewidmet. Daher sollen im Folgenden einige Studien genannt werden, die Rückschlüsse auf diese diachrone Entwicklung erlauben bzw. diskutieren. Es kann an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung der Studien verzichtet werden, da viele von ihnen sowohl in Kapitel 6 zum Vergleich herangezogen als auch in diesem Zusammenhang näher beschrieben werden. Genannt seien hier aber etwa die Arbeiten von KÖNIG (1989), LAUF (1994), LENZ (2003), LAMELI (2004), WECKER-KLEINER (2009), ELMENTALER (2012), KEHREIN (2012) oder LAMELI (2013).

4 EIGENE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG 4.1 Forschungsfragen Primäres Ziel dieser Arbeit ist es, einen empirischen Beitrag zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert zu leisten. Dadurch soll nicht nur zur Schließung sprachhistorischer Wissenslücken beigetragen werden, sondern auch zu einem besseren Verständnis aktueller sprachlicher Entwicklungen. Die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch erfolgt im phonetischphonologischen Systembereich, im Zentrum stehen also die lautlichen Besonderheiten, die die historische Prestigevarietät kennzeichnen. Die Betrachtung des landschaftlichen Hochdeutsch bzw. die Rekonstruktion der lautlichen Merkmale erfolgt dabei diatopisch differenziert. Auf diese Weise sollen zum einen die Charakterisierungen des landschaftlichen Hochdeutsch einzelner Orte oder Regionen möglich werden. Zum anderen kann so merkmalsbasiert überprüft werden, für welche Regionen im Untersuchungszeitraum von einem gemeinsamen bzw. einheitlichen landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen werden kann bzw. wo diatopische Grenzen der historischen Prestigevarietät verlaufen. Dadurch soll – soweit das die vorhandenen Quellen erlauben – überprüft werden, inwieweit die Grenzen zwischen den Dialektverbänden auch für das landschaftliche Hochdeutsch gegolten haben. Der Untersuchungsraum wird dabei für die gesamte Arbeit auf das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland eingeschränkt, da aufbauend auf der Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch die Dynamik der historischen Prestigevarietät in diesem Raum betrachtet wird. In diesem Zusammenhang wird analysiert, welche diachrone Entwicklung das landschaftliche Hochdeutsch vollzogen hat. Mit der Betrachtung soll eine Antwort auf die Frage gefunden werden, inwieweit sich aus dem landschaftlichen Hochdeutsch der Regiolekt entwickelt hat. Die diachrone Darstellung erfolgt dabei konsequenterweise streng merkmalsbasiert. Durch dieses Vorgehen lässt sich einerseits die allgemeine Frage nach dem „Vorläuferstatus“ des landschaftlichen Hochdeutsch beantworten und zum anderen ermöglicht es Aussagen über die Abbausensitivität einzelner linguistischer Merkmale. Da das landschaftliche Hochdeutsch in der Vertikale zwischen den Polen Dialekt und Schriftsprache bzw. später Bühnenaussprache oder einem wie auch immer ausgeformtem Standard85 einzuordnen ist, erfolgt die Beschreibung in Abgrenzung zu diesen Polen. Da sich weiter das landschaftliche Hochdeutsch am „oberen“ Pol orientiert, findet die Beschreibung in dieser Arbeit vielfach in der Form statt, dass regionale Merkmale benannt bzw. rekonstruiert werden, die im 85 Vgl. zum Begriff der Standardsprache und zur Entstehung einer deutschen Schriftsprache sowie einer normierten Standardaussprache Kapitel 2.3.

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4 Eigene empirische Untersuchung

jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch vorhanden, in der Schriftsprache (und einem „Standard“) aber nicht vorgesehen bzw. enthalten sind. Bevor näher auf den genaueren Ablauf zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sowie auf die hierfür geeigneten und verwendeten Quellen eingegangen wird, soll explizit hervorgehoben werden, dass es bei den hier vorgenommenen Analysen nicht um Fehleranalysen bei der Rekonstruktion historischer gesprochener Sprache geht. Es werden also keine Fragen der Art behandelt, wie etwa: Welche „Fehler“ haben die Sprecher im ausgehenden 19. Jahrhundert gemacht, wenn sie versucht haben die Schrift auszusprechen bzw. welche „Fehler“ enthält ihr landschaftliches Hochdeutsch? Vielmehr geht es in der vorliegenden Arbeit darum, aus den vorhandenen Quellen möglichst viel über die Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch unter verschiedenen Gesichtspunkten in Erfahrung zu bringen. Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen dabei die folgenden Fragen: 1. Welche phonetisch-phonologischen Merkmale finden sich im areal differenzierten landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Welche Variantenprofile lassen sich für einzelne Orte oder Regionen aufstellen? 2. Wo verlaufen Grenzen im landschaftlichen Hochdeutsch zur Untersuchungszeit? Stimmen diese mit den Grenzen der Dialektgebiete überein? 3. Lassen sich lautliche Phänomene mit großräumiger Verbreitung im landschaftlichen Hochdeutsch der Untersuchungszeit identifizieren? Und wenn ja, welchen Raumstrukturen unterliegt ihre Verbreitung? 4. Inwieweit kann das landschaftliche Hochdeutsch als historische Vorstufe des Regiolekts gelten? Und in welchem Verhältnis steht es zur Standardsprache? 5. Wie abbausensitiv bzw. -resistent verhalten sich lautliche Phänomene im diachronen Vergleich? Im Folgenden wird zunächst ein Abriss der potentiell geeigneten Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts gegeben. Darauf aufbauend erfolgt eine Begründung der für diese Arbeit ausgewählten Quellen und Materialien. Im Anschluss werden die hier vorgenommenen Analysen beschrieben und ihr Erkenntnispotential im Hinblick auf die oben formulierten Ziele und Fragen dieser Arbeit bewertet. Die im Einzelnen dafür angewandten Analysemethoden werden an dieser Stelle jeweils nur kurz genannt. Da in den Einzelanalysen zum Teil sehr unterschiedliche Methoden zum Einsatz kommen, finden die jeweiligen Methodenbeschreibungen im Rahmen der Kapitel statt, für die sie relevant sind. Dies hat zum einen den Vorteil, dass eine Überfrachtung eines vorgeschalteten Methodenkapitels vermieden werden kann und zum anderen, dass das „Wissen“ über eine Methode jeweils an der Stelle zur Präsentation gelangt, an dem es zum Verständnis der Analyse benötigt wird.

4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch

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4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch Um das landschaftliche Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert rekonstruieren zu können, braucht es geeignete Quellen. Eine Besonderheit der hier gewählten Untersuchungszeit ist dabei, dass in sie entscheidende technische Errungenschaften zur Konservierung von Ton fallen. So wurde es Ende des 19. Jahrhunderts erstmals möglich, gesprochene Sprache aufzuzeichnen und für die Nachwelt zu bewahren. Für die Erforschung historischer Varietäten und Sprechlagen kann diese technische Neuerung sowohl einen qualitativen als auch einen quantitativen Fortschritt ermöglichen. Qualitativ kann dieser sein, indem durch den ermöglichten Rückgriff auf authentisches Sprachmaterial erstmals auch historische gesprochene Sprache beschrieben und analysiert werden kann, ohne dass dafür auf Rekonstruktionen, die auf Basis schriftlicher Quellen erstellt wurden, zurückgegriffen werden muss. Die Vorteile dieses direkten Zugriffs gegenüber Rekonstruktionen liegen auf der Hand und brauchen nicht weiter erläutert zu werden. Durch den ersparten „Umweg“ über Rekonstruktionen kann sich zugleich auch ein quantitativer Fortschritt ergeben, da die standardisierte Bearbeitung geeigneten Tonmaterials eine sowohl von der Anzahl der Sprachproben als auch der arealen Ausdehnung wesentlich umfangreichere Analyse erlauben würde. Aus den genannten Gründen wären Tonmaterialien zur Erschließung des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert also in idealer Weise geeignet. Daher widmet sich das folgende Unterkapitel (4.2.1) zunächst dieser Thematik und diskutiert dabei insbesondere die Frage, ob sich für den fraglichen Zeitraum ein geeignetes Korpus an Audiomaterialien erstellen lässt. Im Anschluss (Kapitel 4.2.2) werden dann weitere Quellen und Quellentypen vorgestellt und sowohl hinsichtlich ihrer Eignung zur Erschließung des landschaftlichen Hochdeutsch als auch ihrer Verfügbarkeit (in ausreichender Korpusgröße) diskutiert.

4.2.1 Audiomaterial der deutschen Rundfunkarchive als mögliche Quellen? Da es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um eine historische mündliche Varietät handelt, würden sich zur Rekonstruktion in idealer Weise Aufzeichnungen gesprochener Sprache anbieten. Genauer gesagt, böte ein ausreichend großes Korpus an Tonaufnahmen die Möglichkeit, das landschaftliche Hochdeutsch nicht rekonstruieren zu müssen, sondern es in direktem Zugriff auf das gesprochene Material zu analysieren und zu beschreiben. Daher setzt die Erstellung eines geeigneten Analysekorpus für die hier im Fokus stehenden Forschungsinteressen bei der Suche nach geeignetem Audiomaterial an. Mit der Erfindung des Edison-Phonographen (1877), der Weiterentwicklung der Wachswalze (1888) sowie der Erfindung und Patentierung von Schallplatten und dem Grammophon (1887) wurden im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Möglichkeiten zur Konservierung von Ton auf Schallträgern geschaffen. In

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4 Eigene empirische Untersuchung

ihren Anfangsjahren waren diese Techniken zum Teil noch unausgereift, gleichwohl bestand durch sie erstmals die Chance, direkten Zugriff auf gesprochene Sprache und damit möglicherweise auch auf die historische Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch zu erlangen. Aus diesem Grund wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine umfangreiche Recherche in deutschen Rundfunkarchiven durchgeführt (vgl. dazu auch GANSWINDT 2017).86 Diese erstreckte sich neben dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) auch auf einige Rundfunkarchive der Länder. Das DRA mit seinen Sitzen in Frankfurt am Main und PotsdamBabelsberg gehört zu den größten Phonotheken Europas. Als gemeinnützige Stiftung von ARD und Deutschlandradio hat das Archiv den öffentlichen Auftrag, „wesentliche Teile der audiovisuellen Überlieferung Deutschlands, insbesondere des Rundfunks vor 1945“ zu archivieren (vgl. ), zu dokumentieren und zu restaurieren. Die Archivbestände erstrecken sich dabei auf die Zeit von den Anfängen der Tonaufzeichnung im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.87 Das DRA kann für die Suche nach historischen Tonaufnahmen als primäre Anlaufstelle betrachtet werden, da die Landesrundfunkanstalten große Teile ihres älteren Bestandes in das DRA ausgegliedert haben. Gleichwohl finden sich aber auch in den dezentralen Archiven noch ältere Materialien, die für die vorliegende Arbeit von Interesse sein könnten. Daher wurde die hier durchgeführte Recherche auf drei Rundfunkarchive der Länder ausgedehnt. Mit dem Bayerischen Rundfunk, dem Norddeutschen Rundfunk und dem Südwestrundfunk wurde dabei eine möglichst große areale Ausdehnung der Archive und damit auch der Herkunft der archivierten Bestände erzielt.88 Ziel dieser Recherchen war zunächst eine Sichtung der dort vorhandenen Materialien für den hier benötigten Zweck und gegebenenfalls eine anschließende Korpuserstellung. Wie oben beschrieben (vgl. Kapitel 2.2) ist davon auszugehen, dass sich im ausgehenden 19. Jahrhundert der Großteil der Sprecher der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch bedienen konnte. Für die Suche nach geeigneten Tonaufnahmen müsste dieser potentiell große Sprecherkreis also von 86 Diese Recherche wurde im Rahmen des Forschungsprojektes „Regionalsprache.de“ (REDE) durchgeführt und finanziert. Neben den Forschungsinteressen der vorliegenden Arbeit diente sie auch der modular angelegten Projektarbeit. Für Modul B-4 konnte so überprüft werden, ob es einen ausreichenden Bestand an Tonaufnahmen gibt, die in das Sprachgeographische Informationssystem REDE (REDE SprachGIS) integrierbar sind und anhand derer eine umfassende Erschließung der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch möglich wäre. 87 Vgl. (Stand: 30.04.2015). Als weiterer Auftrag des DRA findet sich in dessen Internetpräsenz auch die Unterstützung externer Nutzer (beispielsweise aus Rundfunkanstalten oder aus der Wissenschaft) bei der Recherche und Nutzbarmachung der Archivbestände formuliert. Diesem Auftrag entsprechend gestaltete sich die Kooperation mit den dortigen Mitarbeitern auch als sehr entgegenkommend und fruchtbar, wenngleich die Nutzungsordnung des Archivs und nicht zuletzt sein Gebührenkatalog eine umfangreiche Verwendung der Materialien zu wissenschaftlichen Zwecken eher behindert als befördert. 88 Darüber hinaus wurden auch alle weiteren Landesrundfunkanstalten angeschrieben. Die Kooperationsbereitschaft der einzelnen Anstalten war dabei recht unterschiedlich ausgeprägt. Bei den hier nicht namentlich aufgeführten und in die aktive Recherchearbeit miteinbezogenen Archiven erfolgte auf die vorgenommenen Anfragen größtenteils keine Reaktion.

4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch

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Vorteil sein. Da es nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, festzustellen, welche regionalen Merkmale bei geschulten Sprechern trotz Sprecherschulung erhalten geblieben sind, müssen alle Aufnahmen geschulter Sprecher aber als ungeeignet angesehen werden, so dass sich der potentielle Sprecherkreis um diese verkleinert. Um ein Untersuchungskorpus zusammenstellen zu können, bedarf es also einer (einigermaßen) homogenen Gruppe, die keine Sprecherziehung für beispielsweise die Bühne oder den Rundfunk erhalten hat. Zudem müssten von diesen Sprechern Tonaufnahmen in ausreichender Menge vorliegen, in denen sie sich der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch bedienen. Der letzte Aspekt war bei den Recherchearbeiten schwer zu kontrollieren – denn wie soll beurteilt werden, ob sich ein Sprecher dieser Varietät bedient, wenn noch nicht klar ist, wie das landschaftliche Hochdeutsch der Zeit geklungen haben mag? Diese Entscheidung kann daher nur in Abgrenzung zur Verwendung anderer Varietäten getroffen werden und muss gleichwohl mit Unsicherheiten behaftet bleiben. Ausschlusskriterien können also demnach nur einerseits die Verwendung von Dialekt und andererseits die Sprache geschulter Sprecher sein. Eine erste Sichtung der Archivbestände des DRA wurde bereits im Rahmen einer Pilotstudie zu diesem Thema durchgeführt (vgl. OCHS 2007 sowie zusammenfassend GANSWINDT 2010). Der Recherchefokus lag dabei auf Aufnahmen von Sprechern, die als Mitglieder sozialer Eliten angesehen werden können (etwa Politiker, Wissenschaftler, Philosophen). Für die vorliegende Arbeit sowie die für das REDE-Projekt interessierende Sichtung wurden die Recherchen ausgedehnt. Generell gibt es drei verschiedene Möglichkeiten der Suche in den Beständen des DRA: 1. Sehr benutzerfreundlich und übersichtlich sind die vom DRA herausgegebenen Verzeichnisse über seine Bestände zu verschiedenen Themengebieten und Epochen.89 Da die Verzeichnisse thematisch organisiert sind, lässt sich über sie aber keineswegs der gesamte Bestand des DRA erschließen, so dass eine aussagekräftige Recherche darüber hinaus gehen muss. Dazu bietet das DRA 2. die Serviceleistung an, von seinen Mitarbeitern mit vorher zu definierenden Rechercheaufträgen nach geeigneten Tonaufnahmen suchen zu lassen. Während der Rückgriff auf die Erfahrungen dieser Mitarbeiter mit den Suchoptionen ihrer Datenbank und auf deren Wissen über die Bestände des DRA von großem Vorteil sind, muss es für eine möglichst umfassende Übersicht über potentiell geeignete Tonaufnahmen und damit eine ergebnisoffene Suche als nachteilig angesehen werden, wenn Rechercheaufträge zuvor möglichst genau zu formulieren sind. Zudem sind die für eine solche Serviceleistung zu entrichtenden Gebühren nicht unerheblich und bei der Budgetplanung einzukalkulieren. Darüber hinaus eröffnet das DRA 3. auch Externen die Möglichkeit, in seiner Datenbank vor Ort zu recherchieren. Diese dritte Möglichkeit wurde im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit bzw. in der Pilotstudie OCHS (2007) intensiv ge89 Für die Recherchen im Rahmen der Studie OCHS (2007) konnte beispielsweise „Deutsches Rundfunkarchiv“ (Hg.) (1998) intensiv genutzt werden.

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4 Eigene empirische Untersuchung

nutzt. Trotz guter Unterstützung durch Mitarbeiter des DRA90 muss die Suche in dieser Datenbank für die hier angestrebten wissenschaftlichen Zwecke als problematisch beschrieben werden.91 So lässt sich in der Datenbank beispielsweise nach dem Titel einer Tonaufnahme oder (soweit bekannt) nach dem Namen eines Sprechers suchen. Für die vorliegende Arbeit ebenso wie für OCHS (2007) halfen diese Suchoptionen aber nur wenig weiter. Vielmehr wären kombinierte Suchanfragen etwa nach Kriterien wie „Beruf“ und „Geburtsjahr“ notwendig. Diese für eine Korpuserstellung relevanten Informationen über Sprecher mussten daher zusätzlich in anderen Datenbanken, dem Internet oder in Bibliotheken ermittelt werden (soweit dies bei Personen des nicht-öffentlichen Lebens überhaupt möglich war), wodurch sich der Rechercheaufwand in erheblichem Umfang vergrößerte.92 Aus den angeführten Beschreibungen lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Recherchen in den deutschen Rundfunkarchiven (hier exemplarisch am DRA erläutert) zum Zweck einer Korpuserstellung für wissenschaftliche Fragestellungen als sehr aufwändig und wenig komfortabel beschrieben werden müssen. Gleichwohl lassen sich die durchgeführten Recherchen aber verwenden, um Aussagen darüber zu treffen, inwieweit die Bestände der deutschen Rundfunkarchive dazu geeignet sind, eine Erforschung des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu ermöglichen, worauf nun eingegangen werden soll. Da für die Erschließung der historischen Prestigevarietät Aufnahmen aus den Anfangsjahren sowie den ersten Jahrzehnten der Tonaufzeichnung bzw. des Rundfunks notwendig sind, soll zunächst kurz auf die Tonqualität der fraglichen Aufnahmen eingegangen werden. Um zu überprüfen, ob die Tonqualität für eine Analyse ausreichend ist oder ob vielmehr Störgeräusche und/oder altersbedingte Schäden an den Tonträgern eine Auswertung verhindern würden, wurden im DRA circa 50 thematisch verschiedene sowie unterschiedliche Textsorten und Sprecher umfassende Aufnahmen aus den Jahren 1899 bis 1942 in Bezug auf ihre Tonqualität angehört. Vergleichbare Stichproben wurden zudem in den besuchten Landesrundfunkarchiven gezogen. Auf dieser Grundlage kann als Beurteilung festgehalten werden, dass die Tonqualität auch der Aufnahmen älteren Datums bis auf wenige Ausnahmen so gut ist, dass mit diesen eine ohrenphonetische Analyse möglich wäre. Darüber hinaus ist aber insbesondere von Interesse, ob sich anhand der in den deutschen Rundfunkarchiven lagernden Bestände ein repräsentatives Korpus zusammenstellen ließe (bzw. für eine größere Auswertung im REDE-Projekt: mehrere repräsentative Korpora), anhand dessen eine Analyse und Erschließung 90 Besonderer Dank geht an dieser Stelle an Herrn GEORG VORWERK für seine kompetente und unkomplizierte Hilfe. 91 Die Ausführungen gelten für die Externen zur Verfügung stehenden Suchfunktionen. Inwieweit DRA-Mitarbeitern umfangreichere Suchmöglichkeiten offen stehen, vermag an dieser Stelle nicht beurteilt zu werden. 92 Da die hier für das DRA beschriebenen Suchoptionen im Wesentlichen analog für die Datenbanken der Landesrundfunkarchive gelten, kann auf eine zusätzliche Beschreibung dieser verzichtet werden.

4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch

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der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch möglich wäre. Die Rechercheergebnisse hierzu sind leider weniger Erfolg versprechend als jene zur Beurteilung der Tonqualität. So hat sich gezeigt, dass es für das ausgehende 19. Jahrhundert sowie die Jahrhundertwende kaum Aufnahmen gibt, die den oben beschriebenen Kriterien genügen. Vielmehr handelt es sich bei den generell nicht sehr zahlreichen Tonaufnahmen aus der fraglichen Zeit häufig entweder um solche mehr oder weniger geschulter Sprecher oder aber es wird in den Aufnahmen Dialekt gesprochen. Zweifelsohne ist dies dem jungen Alter des Mediums und der anfänglich sehr aufwändig umzusetzenden Aufnahmetechnik geschuldet. So verhinderten der in der Anfangszeit notwendige Aufbau großer Aufnahmeeinrichtungen bzw. alternativ die Aufnahme in einem Tonstudio, dass mehr oder weniger spontanes Sprechen aufgezeichnet wurde. Vielmehr waren die gesprochenen Texte in der Regel sorgfältig vorbereitet und wurden zumeist auch abgelesen. Dies stünde der Verwendung der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch zunächst nicht im Wege. Allerdings kommt die Beurteilung der Dialektnähe bzw. -ferne der Aufnahmen zu dem Ergebnis, dass es sich bei den meisten Sprechern um geschulte Sprecher gehandelt haben muss. Zudem gibt es in den Rundfunkbeständen auch nicht wenige Aufnahmen, in denen Texte verschiedener Art im Dialekt realisiert werden. Somit muss ein Großteil der aufgrund ihres Alters zunächst potentiell geeigneten Tonaufnahmen als ungeeignet für eine Analyse des landschaftlichen Hochdeutsch beurteilt werden, da die fragliche Varietät hier nicht realisiert wird. Die wenigen Tonaufnahmen, für die davon ausgegangen werden kann, dass sie eine Analyse des landschaftlichen Hochdeutsch möglich machen würden, ließen die Zusammenstellung eines einigermaßen homogenen Analysekorpus – hinsichtlich von Kriterien wie Sprecher oder Textsorte – allerdings nicht möglich erscheinen. Für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bis etwa zur Jahrhundertmitte steigt mit der Anzahl an überhaupt vorhandenen Tonaufnahmen auch die Anzahl der potentiell geeigneten. Dabei ist auffällig, dass mit der zunehmenden Etablierung des Rundfunks sowie mit der leichteren technischen Handhabung der Tonaufzeichnung in den Tonaufnahmen auch zunehmend ein spontaneres und damit „natürlicheres“ Sprechen zu finden ist. Andererseits steigt allerdings auch der Einfluss der gesprochenen „Standardsprache“ mit der zunehmenden Massentauglichkeit der Medien. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich die Zusammenstellung eines geeigneten Analysekorpus mit den in den deutschen Rundfunkarchiven vorhandenen Materialien aus den genannten Gründen als äußerst problematisch wenn nicht unmöglich erwiesen hat. Auf eine Auswertung solcher Tonaufnahmen wird daher verzichtet. Vielmehr wird auf diverse andere, wesentlich geeigneter erscheinende Quellen zurückgegriffen, um die Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch zu analysieren. Diese Quellen sowie die Gründe für ihre Auswahl werden im Nachfolgenden beschrieben. Zwar handelt es sich dabei um schriftliche Quellen, so dass eine Rekonstruktion der Prestigevarietät vorgenommen werden muss. Dennoch können sie als deutlich geeigneter für die hier anvisierten For-

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4 Eigene empirische Untersuchung

schungsziele beurteilt werden als die wenigen in Frage kommenden Tonaufnahmen der deutschen Rundfunkarchive.

4.2.2 Schriftliche Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch Im Folgenden soll ein Überblick über geeignete schriftliche Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert gegeben und dabei ihre Vor- und Nachteile diskutiert werden. Obgleich dieser Überblick eine gewisse Bandbreite an Quellen beinhaltet, kann er nicht umfassend sein. Vorab sei noch, wie bereits oben kurz erwähnt, zu betonen, dass die Dokumentation dieser Varietät sowohl in ihrem Umfang als auch in ihrer Art und Weise nicht ansatzweise vergleichbar ist mit der Dokumentation des Dialektes zur fraglichen Zeit. Während letzterer durch die junggrammatischen Ortsmonographien93 in vielen Dialektgebieten sehr genau und akribisch beschrieben ist und zudem mit GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ für einige linguistische Phänomene eine Gesamterhebung der deutschen Dialekte vorliegt, bietet sich der Forschung zum landschaftlichen Hochdeutsch ein nicht ansatzweise systematisches Sammelsurium verschiedenster Daten und Quellen. Eine Begründung dafür liefern SCHMIDT / HERRGEN (2011, 111), wenn sie schreiben: Im ersten halben Jahrhundert der klassischen Dialektologie wurde es [das landschaftliche Hochdeutsch, B. G.] ausschließlich als Fehlerquelle bei Dialekterhebungen gesehen und als solche thematisiert. Damit stehen wir heute bei unseren Rekonstruktionsbemühungen vor der reizvollen Situation, dass die kritischen oder affirmativen Auseinandersetzungen mit dieser Quelle [i. e. der „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, B. G.] die einzigen direkten Zeugnisse für das landschaftliche Hochdeutsch des späten 19. Jahrhunderts sind.

Mit dem landschaftlichen Hochdeutsch als Fehlerquelle in der Dokumentation des Dialektes wird bei SCHMIDT / HERRGEN einer der beiden Hauptbereiche genannt, aus dem die Quellen zur Rekonstruktion der historischen Prestigevarietät stammen. Bei dem zweiten Bereich handelt es sich um jenen, bei dem das landschaftliche Hochdeutsch als Fehlerquelle am entgegengesetzten sprachlichen Pol gesehen wird, nämlich bei der Erreichung einer überregionalen Standardsprache. Daneben ist ein dritter Bereich zu identifizieren. In diesen fallen Quellen, die das landschaftliche Hochdeutsch im Wesentlichen wertungsfrei beschreiben. Zum ersten der beiden Hauptbereiche gehören zwei Quellen, die im Umfeld der Rezeptionsgeschichte des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ anzusiedeln sind. Dies ist zum einen OTTO BREMERS Kritik am WENKER’schen Dialektatlas, die er in Buchform 1895 veröffentlicht hat. Neben anderen von ihm monierten Unzulänglichkeiten und Fehlern des Atlasses formuliert BREMER hier sehr ausführlich, dass durch die Übereinstimmung von Dialekt und Umgangssprache zahlreiche Formen auf die Dialektkarten gelangt seien, die die dialektale Variante der Informanten nicht korrekt wiedergäben. So hätten sich viele Lehrer ortho93 Vgl. zu diesen Datenquellen, ihren sprachgeschichtlichen Hintergründen sowie deren Wert für die Dialektologie die Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 90–97).

4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch

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graphisch korrekter Schreibungen bedient, ohne dabei den lautlichen Unterschied zwischen ihrer Dialektform und der schriftsprachlichen Variante wahrzunehmen. Was von BREMER als zu kritisierende Fehlerquelle bei der Dokumentation des Dialektes beschrieben wird, kann für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch nutzbar gemacht werden. Wenn nämlich der Dialekt der Zeit aufgrund der akribischen Dokumentation in den Dialektgrammatiken bekannt ist und von BREMER Phänomene benannt werden, in denen Dialekt und „Umgangssprache“ (dieser Umgangssprache entspricht in der hier verwendeten Terminologie das landschaftliche Hochdeutsch) übereinstimmen, lassen sich so die zeitgenössischen Hinweise eines Sprechers des landschaftlichen Hochdeutsch (also BREMER) nutzen, um einzelne Phänomene der Prestigevarietät zu rekonstruieren. Die Vorteile dieser Quelle wurden damit bereits angerissen: OTTO BREMER als Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch im hier interessierenden Untersuchungszeitraum benennt konkrete linguistische Phänomene der zu rekonstruierenden Varietät und zwar an einem sehr umfangreichen Korpus. Aufgrund dieser Vorteile findet BREMER (1895) als Quelle Eingang in die vorliegende Arbeit und wird in der Analyse in Kapitel 7 berücksichtigt (vgl. dazu die unten stehende, ausführliche Auseinandersetzung). Nicht verschwiegen werden sollen an dieser Stelle aber auch die Nachteile der Quelle, die ihre Nutzbarkeit (stark) einschränken und zum Teil sogar aus den Vorteilen resultieren. Ob bedingt durch die große areale Ausdehnung des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ oder durch andere Gründe fallen die (dialekt)geographischen Zuordnungen BREMERS oft ausgesprochen ungenau aus, weshalb diese nur partiell für die Analyse nutzbar gemacht werden können. Zudem bleibt in BREMERS Ausführungen oft unklar, woher seine Belege stammen. Zwar handelt es sich bei ihm, wie bereits ausgeführt, um einen zeitgenössischen Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch. Da aber anzunehmen ist (und wie auch die nachfolgenden Analysen zeigen werden), dass dieses areal divergente Ausprägungen hat und BREMER sicher nicht als kompetenter Sprecher jeder deutschen Region gelten kann, muss der oft nur eingeschränkte Belegnachweis als großes Manko der Quelle angesehen und bei ihrer Auswertung berücksichtigt werden. Als weitere wichtige Quelle kann WREDE (1895) gelten. In seinem publizierten Vortrag liefert er Erläuterungen dazu, wie die Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ richtig zu lesen bzw. zu interpretieren seien. Ähnlich wie BREMER (wenngleich deutlich positiver formuliert) benennt auch WREDE Phänomene bzw. Karten, bei denen die Schriftsprache die Informanten zu lautlich nicht dem Dialekt entsprechenden Angaben verleitet habe. Daher ist auch diese Quelle sehr gut zum Identifizieren von Phänomenen des landschaftlichen Hochdeutsch geeignet. Allerdings muss auch für WREDE (1895) das Manko der wenig exakten Lokalisierung der Phänomene konstatiert werden. Da die beiden Quellen quasi aus zwei Richtungen auf das gleiche Ziel hinarbeiten, werden diese in der entsprechenden Analyse (vgl. Kapitel 7) gemeinsam ausgewertet,94 um anhand 94 Ergänzend finden zudem weitere im Zusammenhang mit dem Atlas stehende Schriften/ Quellen Berücksichtigung, auf die in Kapitel 7 näher eingegangen wird.

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4 Eigene empirische Untersuchung

beider Quellen typische Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch sowie Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, auf denen diese zur Darstellung kommen, zu identifizieren. Darauf aufbauend erfolgen dann in einem zweiten Schritt entsprechende Sekundäranalysen des Dialektatlasses. Der zweite Hauptbereich umfasst zahlreiche Quellen, die Regelungen zur und Auseinandersetzungen mit einer „korrekten“ Aussprache des Deutschen beinhalten. Sie können ebenfalls Aufschluss über das landschaftliche Hochdeutsch im hier interessierenden Untersuchungszeitraum geben und sind damit für entsprechende Auswertungen nutzbar. Wie in Kapitel 2.3 erläutert, wird im ausgehenden 19. Jahrhundert das Thema der „korrekten“ Aussprache sowohl in sprachwissenschaftlicher als auch in schulpädagogischer Auseinandersetzung intensiv diskutiert. Als Ergebnis dessen liegen zahlreiche Publikationen vor, die sich im weitesten Sinne unter den Begriff der „Aussprachelehre“ subsumieren lassen. Eine umfassende Auflistung dieser ist hier weder angestrebt noch notwendig. Stellvertretend für diese Art von Quelle und ihr Erkenntnispotential für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sollen jedoch einige dieser Publikationen etwas näher betrachtet werden. Der Theaterschauspieler und Schauspiellehrer HEINRICH OBERLÄNDER beispielsweise hat im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine Aussprachelehre verfasst (vgl. OBERLÄNDER 1890). Diese erfährt bis zur Jahrhundertwende eine zehnmalige Wiederauflage, woran einerseits das Interesse und andererseits der Bedarf an einer Aussprachevereinheitlichung (auf der Bühne) zu dieser Zeit erkennbar ist. Neuauflagen des Werkes in den 1920er Jahren (vgl. etwa OBERLÄNDER 1921) belegen die fortwährende, regional bedingte Varianz in der Bühnenaussprache und damit den Fortbestand des landschaftlichen Hochdeutsch auch in dieser Domäne.95 OBERLÄNDER listet in seiner Aussprachelehre zu allen Buchstaben (!) die seiner Ansicht nach korrekten Artikulationsmerkmale auf und nennt im Anschluss Aussprachefehler. Anhand letzterer kann darauf geschlossen werden, welche „Probleme“ die Sprecher damals mit der „richtigen“ Aussprache hatten. Ein solcher „Fehler“ liegt nach OBERLÄNDER (vgl. 1921, 166) beispielsweise vor, wenn in Wörtern wie bist oder ist die Buchstabenfolge wie [ʃt] ausgesprochen werde. Die von ihm behandelten „Fehler“ bei der Schriftaussprache sind dabei größtenteils regionalen bzw. dialektalen Ursprungs und liefern gute Aufschlüsse über lautliche Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch. Problematisch an dieser sehr interessanten Quelle ist indes die kaum vorhandene areale Verortung der thematisierten Merkmale. WILHELM VIËTOR veröffentlichte 1884 sein populäres96 Werk „Elemente der Phonetik und Orthoepie des Deutschen, Englischen und Französischen“ (vgl. 95 Dies spricht auch für die von SCHMIDT / HERRGEN (vgl. 2011, 65–66) aufgestellte und oben bereits angeführte These (vgl. Kapitel 2.4), nach der die Entstehung der modernen Regionalsprachen und die damit einhergehende Umwertung des landschaftlichen Hochdeutsch zeitlich mit der massenmedialen Präsenz einer überregionalen Standardsprache einherging. 96 Das Buch erfuhr innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Neuauflagen und erschien unter anderem auch in einer verkürzten Fassung unter dem Titel „Kleine Phonetik des Deutschen, Englischen und Französischen“ (vgl. VIËTOR 1897).

4.2 Quellen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch

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VIËTOR 1884d), in dem er die Phonetik des Englischen und des Französischen mit der Muttersprache Deutsch seiner Zielgruppe der Fremdsprachen-Lerner kontrastiert.97 Neben den phonetischen Darstellungen und einem Vergleich der Vorkommen einzelner Laute in den behandelten Sprachen geht das Werk auch auf die Aussprache der Bühne sowie – was hier interessiert – auf regionale Besonderheiten bei der Aussprache ein. Es handelt sich bei VIËTORS „Phonetik“ mithin um eine Aussprachelehre des Deutschen, die zugleich die vorherrschende regionale Varianz in der Aussprache der „Gebildeten“ thematisiert. VIËTOR trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass es bis dato keinen Aussprachestandard des Deutschen gab und vertritt zudem die Meinung, dass keine Region als uneingeschränkt vorbildhaft hierfür angesehen werden könne. Diese Ansicht formuliert er folgendermaßen (VIËTOR 1884d, 224): Eine allgemein „gebildete Aussprache“ für das Deutsche, die nicht „an artificial standard“ wäre, gibt es eben nicht; die „natürlichen“ gebildeten Aussprachen sind mindestens provinziell gefärbt, und keine, auch keineswegs die hannövrische, zum orthoepischen Muster geeignet, eine nur einigermassen genügende Nebeneinanderstellung wichtiger Provinzialaussprachen aber einstweilen noch unmöglich.

Seine Angaben zu den „Provinzialaussprachen“ entbehren dabei – wie etwa in manch anderem zeitgenössischen Werk – nicht einer empirischen Grundlage.98 Sie können somit zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch herangezogen werden. Allerdings sind sie, wie VIËTOR selbst schreibt, nicht umfassend und zum Teil diatopisch nur vage verortet (etwa „im Norden“, VIËTOR 1884d, 41). Ganz anders verhält es sich hingegen mit seinen späteren Erhebungen, auf die weiter unten näher eingegangen wird. LUICK (1904/1905) etwa kann hier stellvertretend für eine Richtung genannt werden, die eine einheitliche Aussprache für das gesamte Deutsche nicht für erreichbar bzw. erstrebenswert hält. Er argumentiert gegen eine solche Einheitlichkeit in der Weise, dass „[...] über die ortsübliche umgangssprache nur bis zu einem gewissen grade hinaus [gegangen werden könne], nur soweit als unsere sprechweise unseren sprachgenossen nicht gemacht, affektirt klingt.“ (LUICK 1904/1905, 349). Wenn man diese Beschränkung allerdings annehmen möchte, ergibt sich folgerichtig das Problem, dass man nicht für alle Regionen einheitlich beurteilen kann, was dort als „affektirt“ angesehen wird. Dementsprechend plädiert LUICK für Aussprachelehren, die sich an den Grenzen der Dialektgebiete orientieren. Die Bühnenaussprache sei zur Orientierung für eine korrekte Aussprache nicht geeignet, da sie beispielsweise einen Verschlusslaut für inlautend /g/ verlange, was allerdings dem frikativischen Ausspracheusus in ganz Mittelund Norddeutschland widerspreche (vgl. LUICK 1904/1905, 348). In ähnlicher Weise argumentiert etwa auch BRENNER (1905) gegen eine überregionale Stan97 Das Werk kann laut KOHLER (vgl. 1981, 169) als ein gutes Beispiel der kontrastiven Phonologie angesehen werden, ohne dass es diese Disziplin allerdings bereits gegeben hätte. 98 Wie auch später noch nutzte VIËTOR den Leserkreis seiner Zeitschrift „Phonetische Studien“, um einige „Aussprachefragen an die vereinsmitglieder“ zu richten. Die erhaltenen Antworten (vgl. VIËTOR 1884a–c) flossen in seine „Phonetik“ ein.

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4 Eigene empirische Untersuchung

dardisierung. Aus diesen Werken lassen sich Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch zumeist aus der Heimatregion des jeweiligen Autors entnehmen. Für eine ausgewählte Region kann eine gute Quelle dieser Art daher einen Beitrag zur Rekonstruktion der historischen Prestigevarietät leisten. Bei einer größeren arealen Ausdehnung hingegen gleicht die Arbeit mit diesen Werken einem Puzzlespiel.99 Neben diesen mehr oder weniger „indirekten“ Quellen des landschaftlichen Hochdeutsch gibt es aber auch explizite Beschreibungen der historischen Prestigevarietät (dritter Hauptbereich). Eine solche liegt etwa mit HAAG (1901) vor.100 Er beschreibt für den im Schwäbischen gelegenen Ort Schwenningen in der Baar die „Verkehrs- und Schriftsprache auf dem Boden der örtlichen Mundart“. Dabei stellt er unter anderem den lautlichen Wandel vom Ortsdialekt zum „Gebildetenschwäbisch“ (vgl. HAAG 1901, 262) dar. Während im Dialekt beispielsweise Haus mit langem Monophthong ([uː]) gesprochen werde, werde der Stammvokal im „Gebildetenschwäbisch“ diphthongiert (etwa [o͡u], vgl. HAAG 1901, 263). HAAG differenziert in seiner Beschreibung der im Ort anzutreffenden Register sehr fein und unterscheidet dabei beispielsweise zwischen einer „gebildeten verkehrssprache auf fremdem boden“ und einer „gebildeten verkehrssprache auf heimischem boden“ (HAAG 1901, 261–262). Die Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachschichten zeigt er anhand von „Übersetzungen“ eines Mustertextes. Der Vorteil dieser Quelle für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch liegt in der exakten arealen Verortung und den zahlreichen Beispielen. Als etwas problematisch muss hingegen die bereits thematisierte Feindifferenzierung der Sprachschichten angesehen werden, bei der nicht klar wird, inwieweit diese auf empirischer Grundlage aufgestellt wurde bzw. dem damaligen Varietätenspektrum am Ort tatsächlich entsprochen hat. Als letzte hier zu besprechende Quelle zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sollen WILHELM VIËTORS „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ (vgl. VIËTOR 1888–1890 [i. e. im Einzelnen: 1888a, b, 99 Weniger gut geeignet zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sind die zahlreichen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erschienenen Werke mit „Sprechübungen“ (vgl. etwa VON POSSART 1907 oder SEYDEL 1928). Diese Aussprachelehren, die im Bereich der Sprechwissenschaft zu verorten sind, richten sich oft explizit an Schauspieler oder Berufsredner und thematisieren die phonetisch korrekte Aussprache der einzelnen Laute. Wenn dabei überhaupt auf den regionalen bzw. dialektalen Ursprung einer „falschen“ Aussprache eingegangen wird, so erfolgt die regionale Verortung dabei oft sehr pauschal und geographisch ungenau (vgl. etwa VON POSSART 1907, 16: „Der Süddeutsche liebt es, das a allzu dunkel zu färben [...]“). 100 Eine ähnliche Beschreibung ist in VIËTOR (1875) zu finden. In dem kleinen Buch „Die Rheinfränkische Umgangssprache in und um Nassau“ beschäftigt er sich mit dem Bereich zwischen Schriftsprache und Dialekt und nennt diesen „das Gebiet der dialektischen Umgangssprache“ (vgl. VIËTOR 1875, III). Er definiert diese folgendermaßen (1875, III): „Es ist die Sprache der besseren Stände in engeren Kreisen.“ Und weiter schreibt er: „Fremden gegenüber bedient man sich natürlich des Neuhochdeutschen; letzteres im gewöhnlichen Verkehr peinlich zur Anwendung zu bringen, verräth oft den Halbgebildeten. Dem Volke gilt die dialektische Umgangssprache für ‚vornehm‘.“ (VIËTOR 1875, III–IV).

4.3 Aufbau der Untersuchungen

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1889a und 1890a, b) genannt werden. Da es sich bei diesen in den „Phonetischen Studien“ veröffentlichten Ergebnissen einer Fragebogenerhebung um eine der in der vorliegenden Arbeit behandelten Hauptquellen handelt, erfolgt eine genaue Beschreibung an späterer Stelle (vgl. Kapitel 5). Gleichwohl sollen hier kurz die Vor- und Nachteile dieser Quelle für die Rekonstruktion der historischen Prestigevarietät besprochen werden. VIËTOR hat von seinen phonetisch geschulten Informanten eine lange Wörterliste ausfüllen lassen. Dadurch liegen für die Herkunftsorte der Gewährsleute umfangreiche und präzise Angaben zum landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert vor. Das Problem der ungenauen bzw. nicht ausreichenden arealen Verortung der meisten zuvor diskutierten Quellen besteht hier nicht. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen eine kleinere Region (etwa: westliches Ostfriesland) genannt wird, ist den meisten ausgefüllten Wörterlisten ein genau lokalisierbarer Ort zugewiesen. Dies stellt einen wesentlichen Vorteil dieser Quelle dar. Ein weiterer liegt in der direkten Vergleichbarkeit der Sprachdaten. Dadurch dass VIËTOR an jedem Erhebungsort den gleichen Fragebogen ausfüllen ließ, kann das rekonstruierte landschaftliche Hochdeutsch eines Ortes auf dieser Grundlage direkt mit dem eines anderen Ortes verglichen werden. Ein Nachteil dieser nahezu idealen Quelle liegt in ihrer geringen geographischen Ausdehnung.101 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es zahlreiche schriftliche Quellen gibt, die als Grundlage für eine Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert dienen können. Im Vergleich zu den zuvor thematisierten Audiomaterialien (vgl. Kapitel 4.2.1) erscheinen die schriftlichen Quellen – trotz des Nachteils einer erforderlichen Rekonstruktion – als wesentlich besser geeignet, um die in dieser Arbeit zu behandelnden Fragestellungen zu beantworten.102 Im nun anschließenden Unterkapitel werden die im Rahmen dieser Arbeit erfolgten Untersuchungen in der Reihenfolge ihrer Behandlung vorgestellt. Dabei wird diskutiert, welchen Beitrag die einzelnen Analysen zum übergeordneten Ziel – der Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch – beitragen. 4.3 Aufbau der Untersuchungen Um die Forschungsfragen dieser Arbeit (vgl. Kapitel 4.1) zu beantworten, werden die im Folgenden dargestellten Untersuchungen angestellt. Wie in Kapitel 4.2.2 erläutert, handelt es sich mit VIËTOR (1888–1890) um eine annähernd ideale Quelle, um für einzelne Orte und Regionen phonetischphonologische Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch zu rekonstruieren. Die detaillierte Auswertung dieser Quelle ermöglicht dabei zunächst eine präzise 101 Eine Diskussion der indirekten Erhebungsmethode sowie der Vor- und Nachteile der phonetisch geschulten Informanten erfolgt in Kapitel 5.1. 102 Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache anhand schriftlicher Quellen vgl. z. B. auch RABANUS (2008), ELSPASS (2005) und JORDAN (2000).

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4 Eigene empirische Untersuchung

Benennung von Variationsphänomenen der historischen Prestigevarietät sowie eine Bestimmung der jeweiligen Varianten am einzelnen Untersuchungsort. Dazu wird in Kapitel 5.3 eine detaillierte, merkmalsbasierte Einzelauswertung der von VIËTOR veröffentlichten Ergebnisse seiner Fragebogenerhebung unternommen. Dabei wird für jeden Erhebungsort pro rekonstruiertem linguistischen Merkmal des dortigen landschaftlichen Hochdeutsch auf Basis weiterer Quellen (insbesondere junggrammatischer Ortsmonographien) überprüft, ob die regionale Variante ihren Ursprung im jeweiligen Dialekt hat oder nicht. Als Ergebnis dieser detaillierten Einzeluntersuchungen liegt für jeden VIËTOR’schen Erhebungsort (bzw. jede Region) ein Variantenprofil des dortigen landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor. Auf Basis dieser Ergebnisse wird sodann statistisch die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit der Erhebungsorte bzw. -regionen ermittelt (Kapitel 5.5.1). Mithilfe des explorativen Verfahrens der Clusteranalyse werden dazu Gruppen von Orten/Regionen identifiziert, die Aufschluss über areale Grenzen in der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch geben. Somit werden Raumstrukturen der historischen Prestigevarietät exploriert. Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob sich auf Basis der ermittelten Variantenprofile der Viëtor-Orte Hierarchien in den Merkmalen des landschaftlichen Hochdeutsch abbilden lassen. Mit dem Verfahren der Implikationsanalyse (vgl. Kapitel 5.5.2) werden implikative Beziehungen zwischen den Merkmalen aufgedeckt, die Aussagen der Art ermöglichen, „Wenn Merkmal X vorhanden ist, ist auch Merkmal Y zu erwarten“. Neben der Hierarchisierung der Merkmale ermöglicht die Betrachtung der implikativen Strukturen zum einen unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Clusteranalyse eine weitere Annäherung an die Frage der Reichweite des einzelnen landschaftlichen Hochdeutsch. Zum anderen bilden sie die Grundlage für die später angestellten Untersuchungen zur Abbausensitivität der betrachteten linguistischen Merkmale bzw. ihrer regionalen Varianten. Zuvor werden noch die hier ermittelten Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch mit den Ergebnissen aus LAMELI (2013) verglichen (Kapitel 5.5.3). Der Abgleich der in beiden Studien ermittelten Raumstrukturen ermöglicht eine solide, externe Überprüfung der in der vorliegenden Arbeit rekonstruierten Grenzen der landschaftlichen Oralisierungsnormen. Im nächsten Schritt (Kapitel 6) wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch als historische Vorstufe des Regiolekts gelten kann. Dazu werden die Ergebnisse der Viëtor-Analyse mit Daten aus aktuellen Studien zum Regiolekt verglichen. Neben der Überprüfung dieser Forschungsfrage dient der diachrone Vergleich auch dazu, Aussagen über die Abbausensitivität regionaler Varianten von lautlichen Variationsphänomenen zu ermöglichen. Alle bis dahin vorgenommenen Untersuchungen basieren auf den ViëtorDaten bzw. den auf ihrer Grundlage ermittelten Ergebnissen zum historischen landschaftlichen Hochdeutsch. In Kapitel 7 soll sodann eine andere Datenbasis zugrunde gelegt werden. Der „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ wird mithilfe

4.3 Aufbau der Untersuchungen

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von BREMER (1895), WREDE (1895) sowie weiteren Quellen eingehend auf Variationsphänomene überprüft, bei denen die Übereinstimmung von dialektaler Variante und der Variante des landschaftlichen Hochdeutsch zu schriftsprachorientierten Fehlschreibungen geführt hat, die wiederum Aufschluss über das landschaftliche Hochdeutsch im Untersuchungszeitraum geben können. Nach der Identifizierung entsprechender Variationsphänomene bzw. der sie abbildenden Karten des Atlasses wird für zwei Phänomene ihre Verbreitung im gesamten Untersuchungsgebiet ermittelt sowie mithilfe raumstatistischer Verfahren berechnet und kartiert. So werden erstmals für zwei Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch die ihrer Verbreitung zugrundeliegenden Raumstrukturen genau bestimmt. Für ein weiteres Variationsphänomen werden zwei Teilräume näher untersucht und dabei weitere Daten miteinbezogen, die einerseits Aufschluss über Verschriftungsstrategien der WENKER’schen Informanten geben und andererseits Erkenntnisse über die Abbausensitivität des Variationsphänomens versprechen.

5 WILHELM VIËTOR „BEITRÄGE ZUR STATISTIK DER AUSSPRACHE DES SCHRIFTDEUTSCHEN“ (1888–1890) Eine wesentliche Quelle zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert liegt mit den „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ (1888–1890) von WILHELM VIËTOR vor. Diese Quelle sowie ihre Forschungsrelevanz sollen im Folgenden vorgestellt werden. Anschließend werden die entwickelte Methodik zur Auswertung dieser Quelle vorgestellt und danach die Einzelanalysen der Untersuchungsorte präsentiert. Als Ergebnis liegt pro Untersuchungsort bzw. -region eine Übersicht der rekonstruierten linguistischen Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch vor. Diese Ergebnisse werden im Anschluss mit den statistischen Verfahren der Clusteranalyse und der Implikationsanalyse untersucht, um systematische Zusammenhänge innerhalb des Korpus aufzudecken. 5.1 Quellenlage und -kritik Im Sommer 1885 erstellte WILHELM VIËTOR im Rahmen seiner Marburger Phonetik-Vorlesungen einen Fragebogen mit Aussprachefragen zum Schriftdeutschen. Diesen verschickte er an „verschieden[e] phonetisch und ortoepisch interessirt[e] korrespondenten“ (VIËTOR 1888a, 95) mit dem wie folgt formulierten Forschungsinteresse: Gewünscht wird zunächst auskunft über (I) die beim unbefangenen vorlesen gebräuchliche ortsaussprache des schriftdeutschen (LESESPRACHE). Willkommen sind angaben über (II)

die mehr oder weniger mundartliche sprache des gebildeten verkehrs, etwa im familienkreise (umgangssprache), und (III) die mundart der niederen klassen (volkssprache). – Werden formen von II und III mitangeführt, so wären solche durch vorgesetztes II, resp. III kenntlich zu machen. (VIËTOR 1888a, 95; Hervorhebungen im Original, B. G.)

VIËTORS primäres Interesse gilt also der „Lesesprache“ und damit dem in seiner Einteilung höchsten Register. Daneben sind Angaben zu den „darunter“ liegenden Registern ebenfalls erwünscht. VIËTORS Fragebogen ist wie folgt aufgebaut:103 Nach einer Bitte um Beantwortung folgen neben dem Platz für persönliche Angaben, wie etwa Name oder Wohnort des Informanten, Raum für die Information, für welchen Ort der jeweilige Fragebogen Geltung beansprucht.104 Anschließend steht die oben zitierte 103 Die Beschreibung des Aufbaus beruht auf VIËTORS Schilderungen sowie den publizierten Angaben der einzelnen Untersuchungsorte. Ein Originalfragebogen in der Form, wie er an die Informanten verschickt wurde, ist m. W. nicht mehr auffindbar. 104 Bei der Nennung von für den Geltungsort untypischen sprachlichen Merkmalen können über die separat abgefragten Ortsangaben (Wohn- vs. Geltungsort) Erklärungen über die dialekt-

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Passage über die abgefragten sprachlichen Register. Danach folgt der Hauptteil des Fragebogens. Hierin werden getrennt nach Vokalen und Konsonanten in alphabetischer Reihenfolge zahlreiche Lemmata aufgelistet. VIËTORS Forschungsinteresse gilt dabei den Lautwerten, die bei der Realisierung der Lesesprache den jeweiligen Buchstaben(kombinationen) zugewiesen werden, wie seine folgenden Ausführungen zeigen: Die einzelnen fragen beziehen sich auf die lautwerte der buchstaben und buchstabenverbindungen in charakteristischen stellungen und insbesondere auf solche fälle, wo der aussprachegebrauch (etymologischer verschiedenheit wegen oder aus andern gründen) örtliche schwankungen zeigt oder erwarten lässt. (VIËTOR 1888a, 95–96)

Die Abfrage in Form einer alphabetisch sortierten Wortliste stellt zur Erhebung von Lesesprache ein für Informanten unnatürlicheres Setting als ein zusammenhängender Text dar.105 Dadurch kann die Gefahr eines „Reiheneffektes“ entstehen, das heißt der wiederholten und vielleicht unreflektierten Angabe eines sprachlichen Merkmals, bei allen zu einer Reihe (das ist hier ein Buchstabe bzw. Laut) gehörenden Lemmata. Andererseits kann auch gerade in der alphabetischen Sortierung ein Vorteil dieser Quelle liegen. So ist eine starke Sensibilisierung für den jeweiligen Buchstaben und den damit (jeweils) verbundenen Laut durch die Häufung vergleichbarer Schreibungen anzunehmen.106 Da in VIËTORS Fragebogen pro abgefragtem Lemma jeweils nur ein Buchstabe/Laut im Fokus des Interesses steht – die Informanten sollten also keine Verschriftung des kompletten Wortes vornehmen – kann von einer Sensibilisierung für diesen ausgegangen werden. Stellenweise gibt VIËTOR in seinem Fragebogen ergänzende Erläuterungen zu einzelnen Lautwerten, wenn seiner Einschätzung nach andernfalls nicht mit einer korrekten und diatopisch vergleichbaren Information zu rechnen wäre.107 Im Anschluss an den Hauptteil des Fragebogens folgen noch einige „synthetische Fragen“ wie etwa zur allgemeinen Artikulationsbasis oder zur Sprech-/ Lesegeschwindigkeit (vgl. VIËTOR 1888a, 96 und 112–114). Insgesamt 17 dieser Fragebogen hat VIËTOR in seiner Zeitschrift „Phonetische Studien“ in den Jahren 1888 bis 1890 publiziert.108 Dabei präsentiert er ta-

105 106 107 108

geographische Herkunft des genannten Merkmals ermöglicht werden, wenn beispielsweise der Wohnort des Informanten in einem anderen Dialektgebiet liegt, als der Ort, für den seine Angaben stehen. Eine Abweichung vom Wohn- zum Geltungsort liegt bei „Ostfriesland/ Schleswig“ vor (vgl. Kapitel 5.3.9). Vgl. zu dieser Problematik z. B. KÖNIG (1989, 17–18) oder WECKER-KLEINER (2009, 19– 20). Vgl. hierzu KLEINER (2006, 239), der in ähnlicher Weise argumentiert. So führt er beispielsweise sechs zu unterscheidende a-Laute samt Beispielwörtern als Aussprachereferenz an, vgl. VIËTOR (1888a, 96). Zudem veröffentlichte VIËTOR sowohl zur Aussprache des Deutschen im Elsass als auch in Ungarn einige Notizen (vgl. VIËTOR 1889b und 1892). Diese sind zum einen in ihrer Form und Vollständigkeit nicht mit den hier ausgewerteten Fragebogen vergleichbar und behandeln zudem Gebiete, die außerhalb des hier im Fokus stehenden Raumes (heutige Bundesrepublik Deutschland) liegen. Eine Auswertung erfolgt daher nicht. Weitere ausgefüllte Fra-

5.1 Quellenlage und -kritik

65

bellarisch die Angaben seiner Informanten, ohne jedoch eine Interpretation dieser vorzunehmen.109 Abbildung 1 zeigt einen Ausschnitt der ersten vier publizierten Fragebogen aus dem Jahr 1888:

Abb. 1: Ausschnitt der ersten vier publizierten Fragebogen von VIËTORS „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen (1888a, 105)

Die publizierten Fragebogen der Erhebungsorte umfassen hauptsächlich den nieder- und zum Teil den mitteldeutschen Raum, wobei vier Orte im Osten des damaligen Deutschen Reichs und damit heute nicht mehr im bundesdeutschen Gebiet liegen. Da in dieser Arbeit das landschaftliche Hochdeutsch im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland untersucht wird, werden diese Orte (Rawitsch, Nakel, Konitz und Natangen) in den nachfolgenden Analysen nicht berücksichtigt. gebogen haben VIËTOR wohl vorgelegen, wie aus der folgenden Notiz zu entnehmen ist: „Einige andere auf Westmitteldeutschland bezügliche aufstellungen gedenke ich in einem der nächsten hefte folgen zu lassen.“ (VIËTOR 1890b, 138). Allerdings wurden diese nicht publiziert und sind (bislang) auch nicht auffindbar. 109 Eine systematische Auswertung dieser Quelle ist m. W. bislang nicht vorgenommen worden und wird daher in der vorliegenden Arbeit erstmalig geleistet. Vgl. auch GANSWINDT (2011). Auszugsweise finden die Angaben der Fragebogen Eingang in VIËTOR (1923), indem er dort nach den Anweisungen zur korrekten Artikulation der einzelnen Laute auf regionale Besonderheiten hinweist.

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

In Tabelle 1 werden die Orte in der Reihenfolge der Publikation ihrer Fragebogen unter Verwendung von VIËTORS Benennung110 aufgelistet: Erhebungsort/-region Westl. Ostfriesland Mülheim a. d. Ruhr Remscheid Hannover Aschersleben Nordhausen a. Harz Artern a. d. Unstrut Gotha (Erfurt) Rawitsch (Posen Süd) Nakel (Posen Nord) Konitz (Westpreussen) Natangen (Ostpreussen) Neu-Vorpommern (Greifswald) Holstein (Segeberg) Schleswig (Flensburg) Ostfriesland. Schleswig Bad Ems

Dialektgebiet (nach WIESINGER 1983e) Nordniederdeutsch Übergangsgebiet Niederfränkisch / Ripuarisch Übergangsgebiet Niederfränkisch / Ripuarisch Ostfälisch Thüringisch Thüringisch Thüringisch Thüringisch Schlesisch Ostpommersch Ostpommersch Niederpreußisch Mecklenburgisch-Vorpommersch Nordniederdeutsch Nordniederdeutsch Nordniederdeutsch Moselfränkisch

Tab. 1: Erhebungsorte/-regionen aus VIËTORS „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ (1888–1890) und dialektgeographische Einordnung nach WIESINGER (1983e)

Wie oben dargelegt, zielen VIËTORS Fragebogen auf die Erhebung der Lesesprache ab. Diese stellt in seinem dargestellten sprachlichen Spektrum den höchsten Punkt dar. Als Bezugspunkt zur Orientierung hat sie die Schriftsprache und ist zudem lokal bzw. regional begrenzt, wie VIËTORS Definition zeigt. Demnach entspricht VIËTORS Konzept der Lesesprache genau dem, was hier als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet wird. Folglich liegt mit WILHELM VIËTORS „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ eine absolut einschlägige Quelle zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch vor, die eine wesentliche Datengrundlage dieser Arbeit bildet. Zwar ist die Quelle gut zur Rekonstruktion von linguistischen Merkmalen des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert geeignet, 110 Die Originalbenennung wird im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit zum Teil geringfügig verändert. So wird beispielsweise bei „Schleswig (Flensburg)“ auf die Nennung des ehemaligen Regierungsbezirkes „Schleswig“ verzichtet. Eine eindeutige Referenz bleibt dabei gewährleistet.

5.1 Quellenlage und -kritik

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dennoch birgt sie auch gewisse Problematiken, auf die nun eingegangen werden soll. Dass indirekte Methoden insbesondere zur Erhebung phonetischer Daten problematisch sind, ist in der Dialektologie spätestens seit den Erhebungen zu GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ unumstritten.111 Neben den unzureichenden Möglichkeiten, lautliche Differenzierungen mittels des „normalen“ Alphabets korrekt wiederzugeben, werden dabei auch regionale Schreibtraditionen diskutiert, die stellenweise eine adäquate Verschriftung der dialektalen Lautform verhinderten. Zudem kann insbesondere bei der Verschriftung durch Laien die Übereinstimmung der dialektalen Form mit der des landschaftlichen Hochdeutsch die Schreibungen beeinflussen. Auf diese Problematik soll hier nicht weiter eingegangen werden. Sie wird ausführlich in Kapitel 7 besprochen, wo diese schriftsprachorientierten Fehlschreibungen als Möglichkeit zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch genutzt und ausgewertet werden. Bei VIËTORS Informanten handelt es sich etwa im Vergleich zur WenkerErhebung nicht um Laien.112 Alle verfügen zumindest über phonetisches Grundwissen, wie aus VIËTORS Erläuterungen zu seinen Fragebogen hervorgeht (vgl. 1888a, 95). Das heißt, sie sind zumindest ansatzweise sensibilisiert für die Problematik, mithilfe des normalen Alphabets und nicht mit einer Lautschrift gesprochene Sprache zu verschriften. Dieser Vorteil tritt auch in zahlreichen über die Mittel des Alphabets hinausgehenden Anmerkungen und Notationen in den Fragebogen zu Tage.113 Andererseits birgt die phonetische Bildung und das Interesse an orthoepischen Fragen der Informanten auch die Gefahr „falscher“ Angaben. Diese könnten einerseits darin bestehen, dass regionale Varianten der Lesesprache nicht genannt werden, um die eigene Aussprache „standardnäher“ bzw. überregionaler darzustellen, als sie in Wirklichkeit ist. Andererseits ist durch die phonetische Vorbildung auch die entgegengesetzte Tendenz in den Angaben denkbar. Das würde bedeuten, dass Informanten mehr regionale Varianten angeben, um beispielsweise die Besonderheiten ihrer jeweiligen Herkunft zu betonen.114 Es ist denkbar, dass sich beide Tendenzen in den Daten beobachten lassen. Sollte es Indizien dafür geben, wird dies an entsprechender Stelle angemerkt. Ein Problem historischer Korpora ist häufig die geringe Korpusgröße und die damit verbundene Frage nach Repräsentativität. Das Viëtor-Korpus umfasst 17 Untersuchungsorte, die sich ungleichmäßig auf nieder- und mitteldeutsches Sprachgebiet verteilen. Da die vier außerhalb der heutigen bundesdeutschen 111 Vgl. hierzu die etwa die zeitgenössische Kritik am sog. Wenker-Atlas von OTTO BREMER (1895) sowie die Entgegnungen und Rechtfertigungen GEORG WENKERS und FERDINAND WREDES (1895). 112 Bei den Lehrern und Schülern, die WENKER als Informanten dienten, ist größtenteils nicht von Erfahrungen im Bereich der Dialektverschriftung auszugehen. 113 Hilfreich sind dabei sicher auch die vereinzelten Hinweise VIËTORS zur lautlichen Differenzierung und ihrer Verschriftung, vgl. etwa Fußnote 107. 114 Zur Motivation von Informanten bei indirekten Erhebungen und daraus potentiell resultierenden hyperkorrekten Angaben vgl. KÖNIG (2004b).

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Grenzen liegenden Orte, wie bereits erwähnt, für die zu beantwortenden Forschungsfragen nicht geeignet sind, und zudem der Fragebogen eines Ortes (Greifswald) nur unvollständig ausgefüllt wurde, verringert sich die komplett auswertbare Anzahl der Orte auf 12 bzw. 13 (für Greifswald sind einige Analyseschritte dennoch durchführbar, vgl. Kapitel 5.3.6). Dass anhand dieser Stichprobengröße keine repräsentativen Aussagen über den gesamten nieder- und mitteldeutschen Sprachraum möglich sind, versteht sich von selbst. Die Informationsdichte, also die Anzahl der Einzelinformationen pro Ort bzw. Region ist mit über 300 Belegen allerdings sehr hoch, so dass die Erschließung dieses Korpus eine für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch bislang nie erfolgte „Tiefenbohrung“ für diese Orte bzw. Regionen ermöglicht.115 Wie alle historischen Quellen ist also auch das Viëtor-Korpus nicht frei von Problematiken. Diese werden bei der Analyse und Interpretation der Quelle mit berücksichtigt. Darüber hinaus stellt das Korpus in seiner einzigartigen Anlage und Detaildichte eine unschätzbare Quelle zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch dar. Die methodischen Schritte zur Rekonstruktion werden im Folgenden beschrieben. 5.2 Methodik Zur Rekonstruktion der linguistischen Merkmale des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch am Erhebungsort wird zunächst eine qualitative Analyse zur Überprüfung des Status der einzelnen Merkmale durchgeführt. Im Anschluss daran erfolgen quantitative Auswertungen auf Basis der rekonstruierten Merkmale, die über die Einzelortbeschreibungen hinausgehende Aussagen ermöglichen. Zunächst wurden pro Fragebogen alle Einzeleinträge zur Aussprache der abgefragten Lemmata gesichtet (d. h. circa 315116 Angaben je Fragebogen mal 12 Erhebungsorte/-regionen plus etwa 100 Belege aus dem unvollständigen Fragebogen zu Greifswald ergeben etwa 3.880 Belege). Anschließend wurde ein Abgleich sowohl mit der rezenten Aussprachenormierung nach dem DUDEN Aussprachewörterbuch (2005)117 als auch mit VIËTORS „Deutschem Aussprachewör-

115 Eine Rekonstruktion einzelner linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch in der Fläche erfolgt dann im zweiten empirischen Hauptteil dieser Arbeit, vgl. Kapitel 7. 116 Die nicht für alle Fragebogen exakt übereinstimmende Anzahl ergibt sich daraus, dass manche Informanten zum Teil Angaben weggelassen oder auch eigene hinzugefügt haben, die nicht im Original-Fragebogen vorgesehen waren. 117 Nicht berücksichtigt werden hier die im DUDEN Aussprachewörterbuch (vgl. 2005, 64–67) aufgeführten Varianten der „Umgangslautung“. Diese wird als sozial sowie regional verschieden charakterisiert und werde in der „gewöhnlichen Unterhaltung“ genutzt. Wegen ihres „schwer übersehbaren Reichtum[s] an individuellen, regionalen und sozialen Abstufungen“ werden die Varianten der Umgangslautung im DUDEN nicht systematisch erfasst. Ebenfalls nicht berücksichtigt wird die 7. Auflage des DUDEN Aussprachewörterbuchs (2015) und der hierin dokumentierte „Gebrauchsstandard“.

5.2 Methodik

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terbuch“ (1912) und seiner Schrift „Die Aussprache des Schriftdeutschen“ (1890c) vorgenommen. Die hinzugezogenen Ausspracheregelungen von VIËTOR (1890c und 1912) bilden im Gegensatz zum DUDEN Aussprachewörterbuch keine Normaussprache ab. Vielmehr stellen sie eine Art Vorstufe der Normierung dar. Dementsprechend formuliert VIËTOR die Intention seiner Regelwerke als einen Beitrag zur Verbreitung der auf der Bühne vorherrschenden „rein[en], des geeinten Deutschlands würdige[n] Aussprache“ auch in der Schule, der Kirche und vergleichbaren Bereichen (vgl. VIËTOR 1890c, IV).118 VIËTORS Kodifizierungsvorschlag wird hier dem von SIEBS vorgezogen, da ersterer einen wesentlich größeren Bezug zur gesprochenen Alltagssprache aufweist. Der Abgleich der Belege aus den Fragebogen mit den VIËTOR’schen Regelungen ermöglicht zudem Aussagen darüber, welche Varianten der Lesesprache auch zu dieser Zeit, zumindest in VIËTORS Vorstellungen, als regional markiert gegolten haben. Folglich liegt damit ein weiterer wichtiger Indiziengeber für Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch vor. Resümierend ergibt der Vergleich der beiden zeitlich um gut ein Jahrhundert auseinander liegenden Ausspracheregelungen eine recht große Schnittmenge. Das bedeutet, dass viele rezent geltenden Einzelnormierungen bereits von VIËTOR vorgesehen waren. Die Toleranzspanne für Aussprachevarianten ist bei VIËTOR allerdings stellenweise größer als im DUDEN Aussprachewörterbuch. So nennt VIËTOR beispielsweise alternativ kurzen und langen a-Laut im Lemma Jagd (vgl. 1890c, 48), während das DUDEN Aussprachewörterbuch (vgl. 2005, 438) nur die lange Variante [aː] vorsieht. Ein weiteres Beispiel ist die Realisierung des Phonems /g/, bei der VIËTOR zwar in- und auslautend die spirantisierten Varianten favorisiert, daneben aber auch plosivische Formen toleriert (vgl. z. B. 1890c, 64: „Säge zêjə“ neben „zêgə“).119 Für die Analyse berücksichtigt wurden die Belege, die beim Abgleich von mindestens einem der Vergleichswerke (DUDEN Aussprachewörterbuch und VIËTORS Regelungen)120 als abweichend eingestuft werden konnten. Es werden also auch die Varianten in der Analyse berücksichtigt, die bei VIËTOR als „korrekt“, aus heutiger Sicht allerdings als abweichend gelten. Dies betrifft beispielsweise die spirantischen Varianten von /g/. Wenn ein VIËTOR’scher Informant also zum Beispiel für das Wort Tag einen spirantischen Auslaut angibt, so wird dieser Beleg in die Analyse aufgenommen. Gleiches gilt für die umgekehrten Fälle. Gibt also ein Informant beispielsweise einen vokalisierten Auslaut in Feuer an, was nur nach der rezenten DUDEN-Regelung, nicht aber zum Ende 118 Wenn VIËTOR in seinen Fragebogen die Lesesprache abfragt und anschließend Ausspracheregelungen publiziert (vgl. 1890c und 1912), liegt nahe, dass er aufgrund der Fragebogenrückläufe zu dem Schluss gekommen ist, dass die „beste“ deutsche Aussprache noch immer regional divergent ist, weshalb eine vereinheitlichende Regelung notwendig erscheint. 119 Erst nach VIËTORS Tod wird in der 7. Auflage seiner „Elemente der Phonetik“ (vgl. VIËTOR 1923, 204) nicht mehr den spirantischen Varianten von /g/ sondern der plosivischen der Vorzug gegeben. 120 VIËTOR (1890c) und (1912) werden in diesem Fall wegen ihrer identischen Autorschaft, der übereinstimmenden Regelungen und der zeitlichen Nähe als ein Werk gefasst.

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

des 19. Jahrhunderts als „normgerecht“ gilt, so wird auch dieser Beleg in die Analyse aufgenommen. Als Ergebnis des beschriebenen Abgleichs liegt pro Erhebungsort eine Liste linguistischer Merkmale vor. Diese wurden anschließend mittels der im Folgenden beschriebenen Methodik dahingehend überprüft, ob es sich bei ihnen um Merkmale des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch handelt oder nicht. Für diese Überprüfung wurden dialektgeographisch einschlägige junggrammatische Ortsmonographien sowie Landschaftsgrammatiken,121 deren Publikationsjahr nicht später als 1930 datiert ist, hinzugezogen. Die Beschränkung auf 1930 als spätestes Publikationsjahr lässt sich damit erklären, dass eine Überprüfung der linguistischen Merkmale zeitgenössisch erfolgen sollte. Zwar kann kritisch eingewendet werden, dass am Ende einer Spanne von 40 Jahren eher von einer zeitnahen als von einer zeitgenössischen Überprüfung zu sprechen ist (vgl. beispielsweise die Diskussion in SCHMIDT / HERRGEN 2011, 115), dennoch erscheint dieses Enddatum passend, da 1. nach 1930 unter anderem durch die massenmediale Verbreitung einer Bühnenaussprache durch den Rundfunk von tiefergreifenden sprachlichen Veränderungen des Deutschen auszugehen ist (vgl. Kapitel 2.4), 2. ein früheres Datum keine ausreichende Stichprobengröße zur Merkmalsüberprüfung ergeben würde und 3. ein einheitliches Enddatum eine Vergleichbarkeit der empirischen Untersuchungen dieser Arbeit gewährleistet (vgl. die Kriterien der Quellenwahl in Kapitel 7.5). Anhand dieser Quellen wurde kontrolliert, ob das jeweils herausgearbeitete linguistische Merkmal aus den VIËTOR’schen Fragebogen als ein Merkmal des alten Dialektes bestätigt werden kann oder nicht. Da die Übereinstimmung mit nur einer Quelle auch auf Zufall beruhen kann und nicht zwangsläufig als Bestätigung des Merkmals als eines des alten Dialektes gewertet werden muss, wurden immer mehrere Quellen ausgewertet. Eine exakte Anzahl an Quellen, die für alle Erhebungsorte gleich bleibt, konnte nicht gewählt werden. Zum einen fällt die dialektgrammatische Erschließung der einzelnen Regionen höchst unterschiedlich aus. Zum anderen behandeln auch die einschlägigen Quellen nicht unbedingt die gleichen sprachlichen Phänomene bzw. weisen einen unterschiedlichen phonetischen Feinheitsgrad bei der Beschreibung auf. Aus diesem Grund wurden alle einschlägigen und verfügbaren Quellen ausgewertet. Pro Untersuchungsort liegen daher zwischen vier und sieben Quellen vor, die für die Analyse hinzugezogen werden konnten. Die Überprüfung der Dialektgrammatiken liefert pro Merkmal und Erhebungsort generell drei mögliche Ergebnisse: 1. Das Merkmal wird durch die hinzugezogene Quelle als eines des Dialektes bestätigt, 2. die Quelle nennt das Merkmal nicht, d. h. es findet sich kein Beleg und keine Erläuterung, die einen Rückschluss auf das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein des Merkmals erlauben, und 3. die Quelle verneint das Merkmal, d. h. sie thematisiert das 121 Darüber hinaus wurden häufig auch einschlägige zeitlich später erschienene Quellen sowie SCHIRMUNSKI (1962) herangezogen. Diese liefern gleichwohl wichtige Informationen zur Überprüfung der Merkmale, werden bei der direkten Überprüfung allerdings nur ein Zweifelsfällen mit einbezogen.

5.2 Methodik

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Merkmal als nicht im Dialekt vorhanden. Diese Möglichkeiten können in den verschiedensten Kombinationen vorkommen. Da eine Beurteilung der Quellen, die ein Merkmal nicht nennen, lediglich Spekulation sein kann, werden diese aus der nachfolgenden qualitativen Analyse ausgeschlossen.122 Positive Belege in den Dialektgrammatiken können das Merkmal als dialektales bestätigen. Liegen hingegen widersprüchliche Beurteilungen in den Quellen vor, so müssen weitere Faktoren bei der Beurteilung eines Merkmals Berücksichtigung finden. Diese werden an den entsprechenden Stellen diskutiert. Als Ergebnis dieser qualitativen Analyse liegt eine Liste an linguistischen Merkmalen pro Erhebungsort bzw. -region vor. Diese Merkmale sind zugleich Bestandteil des Dialektes als auch des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch. Es handelt sich bei ihnen also um solche Merkmale, die Teil des jeweiligen Dialektes waren und auch in der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch beibehalten werden. Darüber hinaus kann die Statusüberprüfung bei einigen Orten Merkmale identifizieren, die nicht als Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch bestätigt werden konnten und eventuell auf Fehlern der VIËTOR’schen Informanten beruhen oder ideolektaler Natur sind. Die Gründe dafür werden jeweils pro Ort besprochen. Außerdem zeigen sich linguistische Phänomene, die ihren Ursprung nicht im alten Dialekt haben, gleichwohl aber Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch darstellen. Ihr Entstehen ist in der Regel in überregionalen Ausgleichsprozessen und dem Einfluss der entstehenden Standardsprache zu sehen, was sich u. a. mit der großlandschaftlichen Verbreitung erklären lässt, wie in den folgenden Kapiteln zu sehen sein wird. Als Ergebnis dieser Rekonstruktionen liegen also für jeden Untersuchungsort bzw. jede -region die Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch vor, die in dem jeweiligen VIËTOR’schen Fragebogen genannt und anhand der einschlägigen zeitgenössischen Dialektgrammatiken bzw. anderer Quellen positiv validiert werden konnten. Zur Benennung der Variationsphänomene werden dabei häufig Begriffe verwendet, die einen Prozess des Lautwandels beschreiben (zum Beispiel „Spirantisierung“), aber auch zur Bezeichnung des Resultats eines solchen Prozesses verwendet werden. Hier werden diese Begriffe verwendet, um eine vom (zuvor beschriebenen) „Standard“ vorliegende Abweichung des landschaftlichen Hochdeutsch zu bezeichnen. Ob, um im Beispiel zu bleiben, ein Spirantisierungsprozess stattgefunden hat, der nun zur spirantischen Variante des landschaftlichen Hochdeutsch geführt hat, oder ob im untersuchten Kontext immer schon Spirans (statt Plosiv) in dieser Region vorherrschte, soll durch die Begriffsverwendung nicht impliziert werden (vgl. hierzu auch die Ausführungen in ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 79–80). Aussagen über weitere Variationsphänomene, die beispielsweise für den Dialekt beschrieben sind, aber im ViëtorKorpus nicht belegt sind, oder gar die Aufstellung kompletter Phonemsysteme

122 Mögliche Erklärungen für die Nicht-Nennung wären zum Beispiel: Das Merkmal ist im Dialekt tatsächlich nicht vorhanden; der Autor nimmt das Merkmal nicht wahr; der Autor ist sich unsicher darüber, ob er ein Merkmal hört oder nicht.

72

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch sind aufgrund der Quellenlage nicht möglich. Im Anschluss an die qualitative Analyse werden die rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch einer quantitativen Analyse unterzogen. Hierbei wird zunächst mit dem multivariaten statistischen Verfahren der Clusteranalyse überprüft, welche Untersuchungsorte bzw. -regionen sich aufgrund ihres Merkmalsprofils (rekonstruierte Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch) zu Gruppen kombinieren lassen (Kapitel 5.5.1). Ziel der Clusteranalyse ist die Zusammenfassung möglichst ähnlicher Objekte eines Datensatzes in Cluster. Somit kann mit diesem Verfahren überprüft werden, für welche der Untersuchungsorte ein gemeinsames landschaftliches Hochdeutsch angenommen werden kann. Ebenso lassen sich auf diesem Weg (späte oder nicht vorhandene Fusionierung zu einem Cluster) Grenzen eines landschaftlichen Hochdeutsch ermitteln. Demnach kann die Clusteranalyse Hinweise dafür liefern, inwieweit die Grenzen eines landschaftlichen Hochdeutsch mit denen der großlandschaftlichen Dialektverbände übereinstimmten.123 Anschließend wird mithilfe des statistischen Verfahrens der Implikationsanalyse überprüft, ob sich zwischen den Merkmalen von dialektgeographisch zusammenpassenden Orten sowie bei auf den Ergebnissen der Clusteranalyse basierenden Gruppen implikative Beziehungen aufzeigen lassen. Ziel dieser Analyse ist also zu überprüfen, inwieweit sich zusammengehörende Regionen des landschaftlichen Hochdeutsch aufgrund eines gemeinsamen Sets an sprachlichen Merkmalen abbilden lassen (vgl. Kapitel 5.5.2). Dabei findet eine Hierarchisierung der Merkmale nach ihrem Vorkommen in den einzelnen Untersuchungsorten statt. Die auf Basis der Implikationsanalyse ermittelten Merkmalshierarchien können zudem Indizien für die Abbausensitivität von Variationsphänomenen liefern (vgl. hierzu auch Kapitel 6). 5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch Die aus den Fragebogen von VIËTORS „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ herausgearbeiteten lautlichen Merkmale werden im Folgenden nach den jeweiligen Untersuchungsorten gegliedert einzeln betrachtet. Der zuvor beschriebenen Methodik folgend, wird dabei für jedes Merkmal zunächst überprüft, ob es eines des landschaftlichen Hochdeutsch mit Ursprung im Dialekt ist. Wenn das nicht zutrifft, wird recherchiert, ob es anhand anderer Quellen als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch mit Ursprung in überregionalen Ausgleichsprozessen bestätigt werden kann. Kann ein Merkmal aufgrund dieser beiden Möglichkeiten nicht als eines des landschaftlichen Hochdeutsch rekonstruiert werden, wird dies ebenfalls diskutiert. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, können ein Großteil der aus den VIËTOR’schen Daten extra123 Selbstverständlich lassen sich auf der hier untersuchten Datengrundlage keine Aussagen für alle Dialektverbände treffen.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

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hierten Merkmale als solche des landschaftlichen Hochdeutsch mit dialektalem Ursprung rekonstruiert werden. Die durchgeführten Analyseschritte werden nicht im Einzelnen textlich behandelt. Konnte ein Merkmal als eines des landschaftlichen Hochdeutsch rekonstruiert werden, beschränkt sich die dazugehörige textliche Behandlung häufig im Wesentlichen auf die Nennung des Merkmals und den Verweis auf die Belegstelle im VIËTOR’schen Fragebogen. Nur wenn zusätzliche Erläuterungen zum Verständnis der Rekonstruktion erforderlich sind, werden diese auch ausführlicher textlich behandelt. Außerdem werden vergleichbare Merkmale nach einer ersten umfassenderen Besprechung in der Folge knapper behandelt. Die lauthistorische Entwicklung und Beschreibung eines Phänomens wird häufig nur bei seiner erstmaligen Thematisierung erläutert. Nach der textlichen Behandlung der Merkmale erscheint für den Vokalismus und den Konsonantismus getrennt jeweils eine Tabelle, in der neben der Nennung der Merkmale mit Beispielen die relevanten Belegstellen im VIËTOR’schen Fragebogen und die Belegstellen in den Ortsgrammatiken aufgeführt sind, die Grundlage der rekonstruierenden Analysen waren.124 Die folgende Karte gibt einen Überblick über die analysierten Untersuchungsorte und ihre (dialekt)geographische Verortung:

124 Eine gesonderte Auflistung zu Nebensilben erscheint hier aufgrund der geringen Anzahl nicht notwendig.

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Karte 1: Erhebungsorte aus VIËTORS „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ (1888–1890) (überblendet mit WIESINGER 1983e; erstellt mit )

Vor Beginn der Analysen wird für einen prominenten Phänomenbereich zunächst ein etwas ausführlicherer Exkurs eingeschoben, der für das Verständnis des Nachfolgenden notwendig erscheint. Exkurs: Zur Aussprachevariation bei /eː/, /ɛː/ und /ɛ/ In den folgenden Analysen werden in nahezu allen Untersuchungsorten125 Besonderheiten bei der artikulatorischen Umsetzung der Grapheme und hervortreten. Die Variation erstreckt sich dabei auf Phänomene wie beispielsweise die Hebung von [ɛː], die Senkung von [eː], die Angabe von „halboffenen“ Lauten bis hin zu einer nicht erkennbaren Systematik in der PhonemGraphem-Zuordnung der VIËTOR’schen Informanten. Zwar ist die zu verzeichnende Variation an den einzelnen Untersuchungsorten sowohl qualitativ als auch quantitativ unterschiedlich (stark) ausgeprägt, jedoch zeigt sich im Bereich der 125 Lediglich in Mülheim an der Ruhr findet sich kein Beleg zu diesem Bereich.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

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e-/ä-Laute eine im Vergleich zu anderen Phänomenbereichen besonders auffälli-

ge Variation. Diese scheint dabei häufig durch eine Unsicherheit bei der Aussprache der Schriftsprache begründet zu sein. Während beispielsweise bei dem gleichermaßen frequent auftretenden Phänomen der in- und auslautenden g-Spirantisierung in der Regel eine Systematik zur Ersetzung des Plosivs durch einen Frikativ beobachtet werden kann, ist dies bei den e-/ä-Lauten häufig nicht der Fall. Um einerseits die Aussprachevariation in diesem Bereich für das Verständnis der nachfolgenden Analyse zu klären und dabei andererseits nicht den einheitlichen Analyseaufbau zu durchbrechen, wird hier ein Exkurs zu diesem Phänomenbereich vorangestellt. Die Frage, die hier beantwortet werden soll, ist also: Warum tritt bei den Versuchen die Schriftsprache auszusprechen diese von Unsicherheit geprägte Variation gehäuft bei Schreibungen mit und auf? Die Begründung dafür ist in der Entwicklung der Orthographie des Deutschen und ihrer Normierungsgeschichte zu suchen. Bei der Entstehung der neuhochdeutschen Orthographie, die historisch im Wesentlichen auf Vereinheitlichungsbemühungen von Druckern des 16. und Grammatikern des 17. und 18. Jahrhunderts beruht,126 war insbesondere die - und -Schreibung durch Inkonsequenzen geprägt. Ein wesentliches Prinzip der Orthographieregelungen war das etymologische Prinzip.127 Bei diesem wurde bewusst vom Lautprinzip abgewichen. Das heißt, es wurde nicht der Lautkomplex möglichst exakt durch Schriftzeichen wiedergegeben, sondern das Schriftbild wurde in unterschiedlichen Umgebungen konstant gehalten, um damit Wortfamilien und ihre Zusammenhänge deutlicher hervortreten zu lassen (vgl. AUGST 1974, 22–23).128 Das zur korrekten Umsetzung dieses Prinzips erforderliche etymologische Wissen scheint bei den Grammatikern des 17. und 18. Jahrhunderts nicht durchgängig gut ausgeprägt gewesen zu sein. Infolgedessen kam es nicht selten zu falschen etymologischen Einordnungen, die sich dann in der Schreibung niederschlugen.129 Daneben wurde in einigen Fällen auch dem geltenden Schreibgebrauch Rechnung getragen, indem Schreibungen toleriert wurden, die etymologisch betrachtet zwar falsch waren, sich aber in der Schreibpraxis etabliert hatten (vgl. WILMANNS 1887, 63–70). Das führte zu größeren Unstimmigkeiten, die zum Teil noch heute in der Orthographie Bestand haben.130 126 An dieser Stelle kann nicht näher auf die verschiedenen Konzepte und Theorien zur Entstehung der neuhochdeutschen Orthographie eingegangen werden. Hierzu sei exemplarisch auf den zusammenfassenden Überblick in BESCH (2003a) sowie auf Kapitel 2.3 dieser Arbeit verwiesen. 127 Auch als historisches Prinzip, analoges Prinzip oder Stammprinzip bekannt, vgl. AUGST (1974, 22). 128 Neben der hier thematisierten Umlautschreibung findet das etymologische Prinzip im Wesentlichen bei der Auslautverhärtung Anwendung. 129 Zudem konnten analoge Umlaute die Zuordnungen erschweren. 130 Genauer soll und kann an dieser Stelle nicht auf falsche etymologische Einordnungen eingegangen werden. Eine detaillierte Abhandlung liegt etwa in WILMANNS (vgl. 1887, 65–75) „Orthographie in den Schulen Deutschlands“ vor. Einen ausführlichen, auf der Auswertung

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Da neben diesem Phänomenbereich auch andere der deutschen Orthographie sowohl Inkonsequenzen131 aufwiesen als auch – und dies war der Hauptgrund – von größter Variabilität in der Umsetzung geprägt waren, gab es im 19. Jahrhundert verstärkt Bestrebungen, größere Einheitlichkeit in der Rechtschreibung zu erlangen. Der steinige Weg bis zu einer verbindlichen Rechtschreibnorm, wie sie schließlich 1901 auf der Orthographischen Konferenz beschlossen und 1902 per Gesetz für Deutschland, Österreich und die Schweiz erlassen wurde, braucht hier nicht detailliert nachgezeichnet werden.132 Für die hier exkursiv behandelte Frage nach der großen Variation und der damit verbundenen Unsicherheit bei der Aussprache der e-/ä-Laute im behandelten Korpus ist allerdings relevant, dass die analysierten Daten des Viëtor-Korpus zeitlich vor der verbindlichen Normierung der Orthographie erhoben wurden. Neben der (etymologischen) Inkonsequenz in diesem Phänomenbereich herrschte zudem zu dieser Zeit noch stellenweise Variation in der Schrift vor. So kann BRAMANN (1987, 171–176) im Vergleich verschiedener Regelbücher zur Orthographie des 19. Jahrhunderts noch nebeneinanderstehende bzw. eine schwankende Verwendung für die Graphien und finden. Die skizzierte Varianz beschränkte sich Ende des 19. Jahrhunderts jedoch keineswegs nur auf den Bereich der Orthographie. Viel interessanter für die hier untersuchte Fragestellung ist, dass auch die Aussprachelehren dieser Zeit keine einheitlichen Richtlinien für die Aussprache der e-/ä-Laute gaben.133 So konnte VIËTOR (1923, 136–137) sogar im Vergleich von Werken, die alle eine Aussprache nach etymologischen Kriterien rechtfertigen, unterschiedliche Präskriptionen konstatieren. THEODOR SIEBS (vgl. 1898, 37–38) plädierte in seiner Bühnenaussprache stark für die Beibehaltung unterschiedlicher Qualitäten der langen e-/ä-Laute. Auf den deutschen Bühnen beobachtete er zwar zum Teil Vereinheitlichungstendenzen in diesem Bereich, aber auch große Variation in der Aussprache, die sich zum Teil an der Orthographie orientierte und zum Teil gegen sie handelte. Bei den Vorgaben zur Aussprache der langen e-/ä-Laute orientierte sich die Bühnenaussprache im Wesentlichen an der Orthographie, ließ dabei allerdings die lautliche Qualität des geschlosseneren Lautes weitgehend unbestimmt. Lediglich vor „Ausschreitungen nach beiden Seiten“, also zu [iː] oder [æː] hin, wurde gewarnt (SIEBS 1898, 39). Für die Aussprache von kurzem, offenem e wurde auf die Position vor mehreren Konsonanten verwiesen (z. B. Bett), wobei in dieser Position auch Länge gefordert wurde, wenn sich die Konsonantenhäufung beispielsweise durch Vokalausfall erklären ließ (z. B. geb(e)t) (vgl. SIEBS 1898, 40). Insgesamt wurde in der Bühnenaussprache also im Wesentlichen für eine an der Orthographie orientierte Aussprache plädiert. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die ansonsten sehr rigide formulierten Regelungen von Druckersprachen beruhenden Überblick zur Schreibung von bietet zudem VON BAHDER (1890, 104–153). Vgl. auch D’HARGUES (1862, 30–31) oder BRENNER (1902, 32– 33). 131 Für nähere Informationen hierzu sei beispielsweise auf WILMANNS (1887) oder AUGST (1974) verwiesen. 132 Eine umfassende Darstellung dazu liegt beispielsweise mit BRAMANN (1987) vor. 133 Vgl. beispielsweise ACKERKNECHT (1900/1901, 595–599) oder BRENNER (1905, 223–224).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

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der Bühnenaussprache sich in diesem Bereich durch auffallende Variantentoleranz und ungenaue Beschreibungen auszeichneten. In den Dialekten war die Entwicklung der e-/ä-Laute in höchst unterschiedlicher Weise verlaufen, wie WIESINGER (vgl. 1983c, insbesondere Karte 54.1) zeigen konnte. Dies konnte sich bei der jeweiligen Aussprache des Schriftdeutschen in verschiedener Weise niederschlagen, was hier nicht im Einzelnen vertieft werden kann. In den nachfolgenden Analysen wird jeweils darauf eingegangen werden. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass weder die Phonem-Graphem-Korrespondenzen des Schriftdeutschen einer konsequenten Regelhaftigkeit folg(t)en, noch sich die Verteilung der e-/ä-Laute in den Dialekten regelhaft auf die Schriftsprache beziehen ließen. Dies führte dazu, dass die Aussprache der e-/äLaute im landschaftlichen Hochdeutsch von Unsicherheiten behaftet und dadurch höchst inkonsequent war, wie die folgende Analyse zeigen wird.

5.3.1 Gotha und Erfurt Der Fragebogen zu den Orten Gotha und Erfurt wurde von dem Informanten Dr. WILHELM BOHNHARDT ausgefüllt. Der Ausnahmefall, dass hier zwei Orte zusammen dargestellt werden, wird durch den Informanten dadurch begründet, dass die Sprache beider Städte im Wesentlichen gleich sei (vgl. VIËTOR 1888b, 209). Die Städte Gotha und Erfurt gehören zum thüringischen Dialektgebiet (vgl. WIESINGER 1983e). Eine differenziertere Sprachraumgliederung des Thüringischen nimmt SPANGENBERG (1993) vor. Hier befinden sich die etwa 35 km voneinander entfernt liegenden Städte im Zentralthüringischen, vgl. Abbildung 2. Im Folgenden werden die linguistischen Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch beschrieben, welche aufgrund der in Kapitel 5.2 dargestellten Überprüfung einschlägiger, zeitgenössischer Dialektgrammatiken bestimmt werden konnten (vgl. BRANDIS 1892, KÜRSTEN 1901, KÜRSTEN 1910 und 1911, KÜRSTEN / BREMER 1910 und SCHIRMER 1928). Dabei werden (wie auch in den folgenden Erhebungsorten) zunächst Phänomene des Vokalismus und anschließend des Konsonantismus behandelt. Bei den im Folgenden aufgeführten Variationsphänomenen handelt es sich also um rekonstruierte Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch. Die jeweiligen Belegstellen in den Dialektgrammatiken sind in den Tabellen 2 und 3 detailliert aufgelistet. Wurde ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch rekonstruiert, welches seinen Ursprung nicht in der Varietät des Dialektes hat, so wird dies gesondert angemerkt.

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Karte 2: Sprachraumgliederung des Thüringischen (SPANGENBERG 1993, XV)

Vokalismus: –



Hebung von [aː]. Die von VIËTORS Informant als „tief“ bezeichnete Artikulation des Langvokals [aː] bei fast allen abgefragten Lemmata (z. B. Saat, vgl. VIËTOR 1888b, 210), ist als Variationsphänomen der artikulatorischen Hebung (zeitgenössisch auch „Verdumpfung“) (vgl. WIESINGER 1983d, 1106) zu benennen, wie der Rückgriff auf VIËTORS „Phonetik“ (1923, 107) zeigt („Durch Rückgang der Zungenhebung entstehen tiefere, dunklere, [ɔ]- oder [å]-ähnliche […] Laute.“). Die für die ostmitteldeutschen Dialekte typische Erscheinung (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 241) kann durch die zeitgenössischen Grammatiken als dialektales Merkmal bestätigt werden. Palatales [a]. Der gehobenen Variante für langes [aː] steht im landschaftlichen Hochdeutsch eine palatalisierte Variante des Kurzvokals [a] gegenüber. Diese vorverlagerte Variante wird im Fragebogen mit der Ergänzung „hell“ bei einigen Lemmata vermerkt (z. B. bei satt, vgl. VIËTOR 1888b, 210).134 Anhand der Grammatiken kann die palatalisierte Variante als eine des alten Dialektes ausgewiesen werden.

134 In der Beschreibung von VIËTORS „Phonetik“ (1923, 107; Fettdruck im Original) wird zwischen der Artikulation von „hellen“ und „hohen“ a-Lauten nicht differenziert: „[…] durch Vorrücken der Zungenhebung [entstehen] höhere, helle, [ɛ]- oder [æ]-ähnliche a-Laute.“ Aus den Erläuterungen zu dem Fragebogen zu Hannover (vgl. VIËTOR 1888a, 97) und den in seine „Phonetik“ (1923, 110) eingegangenen Auszügen der Fragebogen ergibt sich, dass in den Fragebogen mit „hell“ eine Palatalisierung von [a] gemeint ist. Daher wird in der Auswertung die Angabe „hell“ als Indikator dieses Phänomens gewertet.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch –







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Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Eine Systematik in der Verteilung von /eː/, /ɛː/ und /ɛ/ ist im Fragebogen kaum erkennbar. Weder entsprechen die Angaben der Aussprache des neuhochdeutschen Standards, noch kann eine Zuordnung zu den historischen Bezugssystemen erkannt werden. Vielmehr dominieren Angaben wie „halboffen“ (z. B. bei essen), „etwas offener“ (z. B. bei säen) oder die Nennung von zwei Varianten pro Lemma (z. B. bei Beredsamkeit), was auf Unsicherheit bezüglich der Distribution der e-/äLaute hindeutet (vgl. VIËTOR 1888b, 211–212).135 Im thüringischen Dialekt ist nach SCHIRMUNSKI (1962, 243) offenes e (zusammengefallen aus mhd. ë und ä ) zu [a] gesenkt worden. Dem gegenüber steht ein geschlossenes e (Primärumlaut), welches sowohl eine offenere als auch eine geschlossenere lautliche Realisierung erfahre. Während die Senkung im Viëtor-Korpus nicht belegt ist, erklären sich durch den dialektalen Phonemzusammenfall und die zwei lautlichen Qualitäten des ehemaligen Primärumlautes die Schwierigkeiten in der Zuordnung der Laute in der Lesesprache. Hebung von [ɔ]. Die Kennzeichnung von Lemmata mit nhd. offenem /ɔ/ von VIËTORS Informant durch den Zusatz „halboffen“ (z. B. bei Ross) sowie ein „Schwanken“ in Bezug auf die lautliche Qualität (z. B. bei Knoblauch), deuten auf Unsicherheiten bei der lautlichen Realisierung hin (vgl. VIËTOR 1888b, 214). Dialektal lässt sich dieses Phänomen des landschaftlichen Hochdeutsch durch die Neutralisierung der Opposition von /oː/ und /ɔ/ (Phonemzusammenfall) erklären, wie sie neben den zeitgenössischen Quellen auch von WIESINGER (1983c, 1060) und SPANGENBERG (1993, 40) für das Thüringische beschrieben wird. Eine etwas geschlossenere Artikulation von [ɔ] sowie Unsicherheiten bezüglich der Distribution der o-Laute werden als „Reste“ des dialektalen Phonemzusammenfalls ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen. Tendenzielle Entrundung von [øː]. Die dialektale Entrundung der gerundeten palatalen Vokale scheint im landschaftlichen Hochdeutsch nicht durchgängig erhalten zu sein. So notiert der Informant lediglich an einer Stelle (bei höhnen), dass „Lippenrundung […] nicht erforderlich“ sei (VIËTOR 1888b, 215). Dieser Kommentar könnte indirekt einen Rückschluss auf die Variantentoleranz der Zeit zulassen. Demnach scheinen sowohl die gerundeten als auch die gespreizten Varianten im dortigen landschaftlichen Hochdeutsch akzeptiert gewesen zu sein. Eingang in die gehobenere Varietät scheint dieses dialektale Merkmal also nur tendenziell zu finden. Vokal-Epenthese. Für das Lemma Milch ist die Einfügung eines Sprossvokals im Fragebogen verzeichnet (vgl. VIËTOR 1888b, 226), so dass eine Variante wie [mɪlɪç] anzunehmen ist. Bei diesem in den hochdeutschen Dialekten verbreiteten Phänomen wird zwischen die Liquide /l/ oder /r/ und den nachfolgenden Konsonanten ein Schwa eingefügt (in palataler Umgebung auch [iː/ɪ]). So werden aus einsilbigen Formen zweisilbige und offene Silben werden zu geschlossenen (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 401–402). Das im Dia-

135 Für genauere Angaben zu diesem Phänomenbereich vgl. den Exkurs in Kapitel 5.3.

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lekt noch wesentlich häufiger belegte Auftreten des Sprossvokals (vgl. Dialektgrammatiken) lässt den Abbau dieses Phänomens erkennen. Im landschaftlichen Hochdeutsch kommt es nur noch in vereinzelten Wörtern vor. Variationsphänomen Hebung von [aː] z. B. bei Saat

Palatales [a] z. B. bei satt

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei essen, säen

Hebung von [ɔ] z. B. bei Ross

Tendenzielle Entrundung von [øː] z. B. bei höhnen

Vokal-Epenthese bei Milch

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888b, 210)

BRANDIS (1892, 4) KÜRSTEN (1901, 14) KÜRSTEN / BREMER (1910, 14) SCHIRMER (1928, 5)

VIËTOR (1888b, 210)

BRANDIS (1892, 4) KÜRSTEN (1901, 13–14) KÜRSTEN (1910, 6) KÜRSTEN / BREMER (1910, 13–14) SCHIRMER (1928, 5)

VIËTOR (1888b, 211–212)

BRANDIS (1892, 6–9) KÜRSTEN (1901, 13) KÜRSTEN (1910, 6) KÜRSTEN / BREMER (1910, 13) SCHIRMER (1928, 16)

VIËTOR (1888b, 214)

BRANDIS (1892, 14) KÜRSTEN (1901, 13) KÜRSTEN (1911, 3) KÜRSTEN / BREMER (1910, IX) SCHIRMER (1928, 19)

VIËTOR (1888b, 215)

BRANDIS (1892, 5) KÜRSTEN (1901, 28) KÜRSTEN / BREMER (1910, 69–70) SCHIRMER (1928, 21 u. 25)

VIËTOR (1888b, 226)

BRANDIS (1892, 12) KÜRSTEN (1901, 22) KÜRSTEN / BREMER (1910, 53)

Tab. 2: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Gotha und Erfurt

Konsonantismus: –



Fortisierung von anlautendem [b] vor Liquid. Die mit der binnendeutschen Konsonantenschwächung in Zusammenhang stehende Fortisierung von Plosiven kann hier für den bilabialen Verschlusslaut [b] anlautend vor Liquid als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch bestätigt werden (z. B. bei Blei, vgl. VIËTOR 1888b, 216). Den Ursprung des Variationsphänomens im alten Dialekt können die Ortsgrammatiken bestätigen. Inlautende b-Spirantisierung. Der mit der zweiten Lautverschiebung zum Plosiv gewordene germanische Frikativ Ҍ ist in einigen Dialekten wie dem Thüringischen als spirantische Variante erhalten geblieben (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 301–302). Als Phänomen des landschaftlichen Hochdeutsch

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch









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mit Ursprung im Dialekt begegnen die spirantischen Varianten von /b/ hier in intervokalischer Position (z. B. in aber, vgl. VIËTOR 1888b, 216). In- und auslautende g-Spirantisierung.136 Bei der nicht erfolgten Verschiebung der germanischen Spirans g zum stimmhaften, velaren Plosiv /g/ handelt es sich um ein areal weit verbreitetes Phänomen der nieder-, mittel- und zum Teil auch oberdeutschen Dialekte (letztere in auslautender Position).137 Bereits von SCHIRMUNSKI (1962, 315) wird es zudem als typisch für die standardnäheren Varietäten und Sprechlagen beschrieben. Als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch dialektalen Ursprungs tritt die g-Spirantisierung in Erfurt und Gotha sowohl in palataler als auch in velarer Lautumgebung, intervokalisch und zwischen Vokal und Konsonant sowie im (Silben-)Auslaut auf (etwa in Siege, folgt oder Tag, vgl. VIËTOR 1888b, 218– 219). Lenisierung von (silben)anlautendem [k] vor Liquid. Als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch dialektalen Ursprungs kann die Lenisierung von (silben)anlautendem [k] vor Liquid (Konsonantenschwächung) rekonstruiert werden. Daneben kommt es mit den Worten von VIËTORS Informant auch zur „[V]erwechslung von k und g “ (VIËTOR 1888b, 220, z. B. in klein) in der genannten Position. Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]. Während im Neuhochdeutschen finales als [ŋ] realisiert wird, wird im Thüringischen ebenso wie in einigen anderen alten Dialekten ein auslautender Verschluss artikuliert. Die dialektalen Quellen belegen die Variante mit plosivischer Lösung für einige Lemmata. Für das landschaftliche Hochdeutsch in Gotha und Erfurt kann es auf Grundlage des untersuchten Korpus lediglich lexemgebunden (Ding ; vgl. VIËTOR 1888b, 221) rekonstruiert werden. Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Durch die Zweite Lautverschiebung nimmt germ. p eine unterschiedliche Entwicklung in den dialektalen Großregionen.138 Die im Ostmitteldeutschen vorherrschende Realisierung als einfacher Frikativ [f] erfährt in der Forschung unterschiedliche Erklärungsansätze. Von WREDE (vgl. 1925, 28) und in der Weiterentwicklung durch FRINGS

136 Die g-Spirantisierung im In- und im Auslaut wird hier und in den folgenden Ortsauswertungen als ein Merkmal zusammengefasst. Dies erscheint gerechtfertigt, da zum einen das Phänomen im untersuchten Korpus in diesen beiden Positionen in der Regel nur zusammen auftritt und zum anderen auch für die anderen behandelten Variablen keine detaillierte Trennung nach Lautumgebung vorgenommen wird. Die g-Spirantisierung im Anlaut hingegen folgt eigenen Auftretensbedingungen und wird daher auch als separates Merkmal diskutiert und gewertet. 137 Zur lautgeschichtlichen Entwicklung und Verbreitung des Phänomens vgl. unter anderem FRINGS (1955), der Unsicherheiten über den ursprünglichen Lautwert von germ. g beschreibt und zudem von einer „Lockerung des Verschlusses“ als artikulatorische Ursache der Entstehung der Spirantisierung ausgeht. Vgl. auch SCHIRMUNSKI (1962, 319–330), der einen ausführlichen Überblick der Forschungslage und der lautgeschichtlichen Entwicklung anhand zahlreicher Belege sowie verschiedener Schreibtraditionen liefert. 138 Zur Entwicklung dieses Lautwandels allgemein vgl. z. B. SCHIRMUNSKI (1962, 272–273) oder SCHMIDT (2007, 380–381).

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

(vgl. 1956, 31) wird dabei das Konzept einer Kompromissform zwischen oberdeutschem pf- und westmittel- sowie niederdeutschem p- der Kolonisten vertreten.139 Im Thüringischen lässt sich dieses Variationsphänomen für das landschaftliche Hochdeutsch als eines mit dialektalem Ursprung bestätigen (z. B. in Pferd, vgl. VIËTOR 1888b, 221).140 r-Vokalisierung. Die von VIËTORS Informant angegebene wortauslautende r-Vokalisierung nach Langvokal (etwa in Ohr, vgl. VIËTOR 1888b, 222) lässt sich aufgrund der konsequenten Verschriftung als in den zeitgenössischen Dialektgrammatiken zunächst nicht bestätigen. Demgegenüber stehen allerdings die Aussagen in SPANGENBERGS „Beiband zum Thüringischen Wörterbuch“ (1993, 232–234), wo Formen der r-Vokalisierung, der Reduktion oder des kompletten Schwundes als weit verbreitetes Phänomen des Thüringischen beschrieben werden. Da dieses Werk auf einem umfangreichen dialektalen Quellenbestand beruht, der zumindest partiell aus der hier interessierenden Zeit stammt, erscheint es als ein geeignetes Werk zur Klärung der Diskrepanz zwischen VIËTORS Fragebogen und den Dialektgrammatiken. Die weiteren Ausführungen in SPANGENBERG (1993, 233–234) zeigen zum einen Variation zwischen konsonantischen und vokalisierten Realisierungen, was die Wiedergabe der schriftsprachlichen Form in den Grammatiken erklären kann. Daneben wird für diesen Bereich ein mangelndes phonetisches Bewusstsein der Schreiber aufgedeckt. Und schließlich beschreibt SPANGENBERG eine Entwicklung von konsonantischen Varianten der älteren Generation hin zu vokalisierten der jüngeren. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die r-Vokalisierung als linguistisches Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch dialektaler Herkunft gelten kann, auch wenn dies aus den Dialektgrammatiken zunächst nicht erkennbar ist. Phonemzusammenfall /s/ und /z/. Die Opposition zwischen stimmlosem /s/ und stimmhaftem /z/ des neuhochdeutschen Standards findet sich in vielen Dialekten nicht wieder. Im Thüringischen ist nach SCHIRMUNSKI (1962, 359) die stimmhafte Realisierung [z] lediglich im Norden vorhanden. Die Angaben in VIËTORS Fragebogen zeigen absolute Unsicherheit in der Verteilung von /s/ und /z/ (etwa die Angabe „schwankend“ bei Linse oder „meist z = s ?“ bei so oder Rose, VIËTOR 1888b, 222–223), was durch den Zusammenfall im Dialekt gestützt wird.

139 Zu unterschiedlichen Einschätzungen des Phänomens in der Forschung entweder als lautgesetzliche Weiterverschiebung oder artikulatorische Vereinfachung vgl. beispielsweise HARTWEG / WEGERA (2005, 145) und MOSER (1951, 132–133). 140 An anderen Erhebungsorten handelt es sich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, bei diesem Phänomen in der Regel um eines des landschaftlichen Hochdeutsch, welches seinen Ursprung nicht im alten Dialekt hat.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

Variationsphänomen Fortisierung von anlautendem [b] vor Liquid z. B. bei Blei

Inlautende b-Spirantisierung z. B. bei aber

In- und auslautende g-Spirantisierung

z. B. bei Siege, folgt, Tag

Lenisierung von (silben)anlautendem [k] vor Liquid

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888b, 216)

BRANDIS (1893, 3) KÜRSTEN (1901, 4) KÜRSTEN (1910, 4) KÜRSTEN / BREMER (1910, IX u. 55) SCHIRMER (1928, 6 u. 34)

VIËTOR (1888b, 216)

BRANDIS (1893, 5) KÜRSTEN (1901, 18) KÜRSTEN / BREMER (1910, 13–14) SCHIRMER (1928, 8)

VIËTOR (1888b, 218–219 )

BRANDIS (1893, 15–16) KÜRSTEN (1901, 25 u. 27) KÜRSTEN (1910, 7) KÜRSTEN / BREMER (1910, 62–65) SCHIRMER (1928, 15)

VIËTOR (1888b, 220)

BRANDIS (1893, 13) KÜRSTEN (1901, 11) KÜRSTEN (1910, 4) KÜRSTEN / BREMER (1910, 62) SCHIRMER (1928, 22)

VIËTOR (1888b, 221)

BRANDIS (1892, 13) KÜRSTEN (1901, 23) KÜRSTEN (1911, 9) KÜRSTEN / BREMER (1910, 48) SCHIRMER (1928, 18)

VIËTOR (1888b, 221)

BRANDIS (1893, 4) KÜRSTEN (1901, 19) KÜRSTEN (1910, 4 u. 7) KÜRSTEN / BREMER (1910, 57) SCHIRMER (1928, 8)

VIËTOR (1888b, 222)

[KÜRSTEN (1901, 16)]141 [KÜRSTEN / BREMER (1910, 48)] [SCHIRMER (1928, 35)]

VIËTOR (1888b, 222–223)

KÜRSTEN (1901, 16) KÜRSTEN (1910, 6) KÜRSTEN / BREMER (1910, 49–51) SCHIRMER (1928, 8)

z. B. bei klein

Plosivische Lösung von finalem als [ŋk] bei Ding

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung z. B. bei Ohr

Phonemzusammenfall /s/ und /z/ z. B. bei Linse

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Tab. 3: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Gotha und Erfurt

Die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Gotha und Erfurt konnte sowohl vokalische als auch konsonantische Variationsphänomene aufzeigen. Alle genannten Merkmale haben dabei ihren Ursprung im Dialekt, wie die Validierung anhand zeitgenössischer Dialektgrammatiken zeigen konnte. Im Bereich des Konsonantismus fällt die Häufung von 141 In dieser sowie den nachfolgenden Tabellen stehen die Quellen in eckigen Klammern, die die thematisierte regionale Variante n ich t für den Dialekt belegen bzw. bestätigen können.

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomenen auf, die Stimmhaftigkeitsoppositionen (Fortisierung, Lenisierung, Phonemzusammenfall) betreffen. Daneben ist eine Tendenz des landschaftlichen Hochdeutsch zur Spirantisierung von Plosiven erkennbar. Im Bereich des Vokalismus ist etwa die Hebung von [aː] oder die höchst inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute charakteristisch für das landschaftliche Hochdeutsch in Gotha und Erfurt. Bei einigen der rekonstruierten linguistischen Merkmale lassen sich bereits Abbautendenzen feststellen. So treten beispielsweise Varianten mit plosivischer Lösung von finalem als [ŋk], Vokal-Epenthesen oder entrundete Formen der palatalen Rundungsvokale im alten Dialekt noch deutlich frequenter auf, als es im landschaftlichen Hochdeutsch der Fall ist.

5.3.2 Artern an der Unstrut Der VIËTOR’sche Erhebungsort Artern an der Unstrut liegt im thüringischen Dialektgebiet und zwar, der Einteilung SPANGENBERGS (1993, XV) folgend, auf der Grenze vom Nordthüringischen zum Nordostthüringischen (vgl. Karte 2). Der Fragebogen zu diesem Ort wurde von einem Herrn stud. Phil. GUSTAV ROSSMANN ausgefüllt. Im Folgenden werden die rekonstruierten Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch für Artern an der Unstrut aufgeführt und besprochen. Zur Überprüfung wurden die folgenden dialektalen Quellen verwendet: JECHT (1888), HERTEL (1895), FRANK (1898), KÜRSTEN (1901), DÖRING (1903), KÜRSTEN / BREMER (1910) und SCHIRMER (1928).

Karte 3: VIËTOR’scher Erhebungsort Artern an der Unstrut (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Vokalismus: –

Hebung von [aː] und [a]. Sowohl langes [aː] als auch kurzes [a] kommen im landschaftlichen Hochdeutsch als artikulatorisch gehobene Varianten vor.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch









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Das zeitgenössisch auch als Verdumpfung bezeichnete Phänomen wird bei VIËTOR (1888b, 210; Kursivierung im Original) mit der Angabe „tief“ (z. B. bei Adler) und der ergänzenden Bemerkung „klingt nach o hin“ beschrieben. Seinen Ursprung hat das Variationsphänomen im Dialekt. Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Insgesamt scheint im landschaftlichen Hochdeutsch eine Unsicherheit über die Verteilung von /eː/, /ɛː/ und /ɛ/ zu herrschen. Während die ergänzenden Angaben im Fragebogen zum Dialekt die dialektale Senkung zu [a(ː)] betonen, findet diese aber keinen Eingang in das landschaftliche Hochdeutsch. Eine unter Umständen aus der dialektalen Senkung resultierende Unsicherheit bei der Schriftaussprache ist an Angaben wie „etwas weniger offen“ (z. B. bei Städte) sowie an einer Abstufung des Öffnungsgrades, die keiner erkennbaren Systematik folgt, ersichtlich (vgl. VIËTOR 1888b, 211–212). Die Dialektgrammatiken können die Unsicherheiten hinsichtlich der Distribution der Laute insofern bestätigen, als dass sie mit bis zu sechs verschiedenen e-/ä-Lauten (vgl. z. B. SCHIRMER 1928, 5 u. 17) ein dialektales Überangebot im Vergleich zur Schriftsprache beschreiben. Unsicherheiten hinsichtlich der Zuordnung lassen sich daraus erklären. Hebung von [ɔ]. Bei den Angaben im VIËTOR’schen Fragebogen zu /ɔ/ ist häufig eine „halboffene“ Qualität vermerkt, die auf eine artikulatorische Hebung zu [o] hindeutet (etwa bei Ross, vgl. VIËTOR 1888b, 214). Diese Hebung als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch hat seinen Ursprung im dialektalen Phonemzusammenfall von /oː/ und /ɔ/. (Tendenzielle) Entrundung. Die gerundeten palatalen Vokalphoneme /yː/, /ʏ/, /øː/ und /œ/, die im Dialekt vollständig entrundet und damit mit den palatalen ungerundeten Vokalphonemen zusammengefallen sind, werden im landschaftlichen Hochdeutsch ebenfalls in der gespreizten Variante realisiert. Bei /yː/ und /ʏ/ scheint allerdings eine schwache Lippenrundung vorhanden zu sein (z. B. bei Hühner), so dass hier nur von einer tendenziellen Entrundung ausgegangen werden kann. Bei /øː/ und /œ/ hingegen weist das landschaftliche Hochdeutsch ebenso wie der Dialekt fast vollständige Entrundung auf (z. B. in höhnen, vgl. VIËTOR 1888b, 215–216). Vokal-Epenthese. Für das Lemma Milch notiert der Informant in VIËTORS Fragebogen die Einfügung eines Sprossvokals (also etwa eine Realisierung wie [mɪlɪç], vgl. VIËTOR 1888b, 226). Interessant ist dabei insbesondere der ergänzende metasprachliche Kommentar: „[…] sonst durch fremden einfluss vermieden“ (VIËTOR 1888b, 226). Durch Sprachkontakt mit Nicht-Einheimischen scheint dieses dialektale Merkmal also den Sprechern bewusst geworden zu sein. Infolgedessen kommt es zu Synchronisierungsakten, mit dem Ergebnis, dass das dialektale Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch na-

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

hezu abgebaut ist.142 So wird die Vokal-Epenthese bewusst vermieden und findet in das „beste“ Hochdeutsch nur noch in wenigen Wörtern Eingang. Variationsphänomen Hebung von [aː] und [a] z. B. bei Adler

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei Städte

Hebung von [ɔ] z. B. bei Ross

(Tendenzielle) Entrundung

z. B. bei Hühner, höhnen

Vokal-Epenthese bei Milch

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1888b, 210)

VIËTOR (1888b, 211–212)

Belege in dialektalen Quellen HERTEL (1895, 33) FRANK (1898, 8) KÜRSTEN (1901, 14) DÖRING (1903, 2) KÜRSTEN / BREMER (1910, 14) JECHT (1888, 18) FRANK (1898, 10 u. 19) KÜRSTEN (1901, 13–14) DÖRING (1903, 2) KÜRSTEN / BREMER (1910, 13–14) SCHIRMER (1928, 5 u. 17)

VIËTOR (1888b, 214)

FRANK (1898, 9) KÜRSTEN (1901, 13) DÖRING (1903, 3) KÜRSTEN / BREMER (1910, 13)

VIËTOR (1888b, 215–216)

JECHT (1888, 32) HERTEL (1895, 10) FRANK (1898, 9 u. 18) KÜRSTEN (1901, 28) DÖRING (1903, 3) KÜRSTEN / BREMER (1910, 69–70) SCHIRMER (1928, 21 u. 25)

VIËTOR (1888b, 226)

JECHT (1888, 69) FRANK (1898, 27–28) KÜRSTEN (1901, 22) DÖRING (1903, 51) KÜRSTEN / BREMER (1910, 23) SCHIRMER (1928, 18)

Tab. 4: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Artern an der Unstrut

Konsonantismus: –

Phonemzusammenfall /b/ und /p/. Neben fortisiertem /b/ (z. B. in bei ) und Unsicherheiten hinsichtlich der Verteilung von /b/ und /p/ (vgl. die Angabe „stimmlos = ?“ bei Pein) gibt der Informant explizit an, dass die beiden Laute „nur mit [M]ühe scharf zu scheiden“ seien bzw. verwechselt würden (VIËTOR 1888b, 216–217 u. 221). Dieser Phonemzusammenfall im landschaftlichen Hochdeutsch hat seinen Ursprung im Dialekt, wie die zeitgenössischen Ortsgrammatiken bestätigen.

142 Zum Konzept der Synchronisierung (Abgleich von Kompetenzdifferenzen in der sprachlichen Interaktion und den daraus resultierenden Folgen) und ihren drei Grundtypen (Mikro-, Meso- und Makrosynchronisierung) vgl. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 28–33).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch –















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Inlautende b-Spirantisierung. Intervokalisch sowie zwischen Liquida und Vokal erscheint das Phonem /b/ in spirantischer Variante (z. B. in über oder übler, vgl. VIËTOR 1888b, 216). Diese Spirantisierung findet aus dem Dialekt stammend Eingang in das landschaftliche Hochdeutsch. Phonemzusammenfall /d/ und /t/. Ebenso wie die bilabialen Plosive sind auch der alveolare stimmhafte und stimmlose Plosiv zusammengefallen, was als dialektales Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch bei „nachl[ässiger] [A]ussprache“ erhalten bleibt (z. B. bei leider oder teuer, VIËTOR 1888b, 223 sowie 217). Lenisierung von intervokalischem [f]. Im Mittelhochdeutschen erscheint f (< germ. f ) medial in intervokalischer Position als stimmhafter bilabialer Lenisfrikativ w (z. B. ōwə ‘Ofen’, vgl. SIMMLER 1983, 1122). In den meisten mitteldeutschen Dialekten und so auch im Thüringischen bleibt diese im Frühneuhochdeutschen nahezu wieder abgebaute stimmhafte Spirans intervokalisch erhalten (vgl. HARTWEG / WEGERA 2005, 146 und SCHIRMUNSKI 1962, 356). Zumindest lexemgebunden (Stiefel und Teufel, vgl. VIËTOR 1888b, 218) bleibt die lenisierte Variante von intervokalischem [f] auch im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten. Anlautende g-Spirantisierung. In anlautender Position wird /g/ im landschaftlichen Hochdeutsch spirantisch realisiert (etwa in gut). Neben dieser Variante scheint eine plosivische Form aufgekommen zu sein, wie der folgende metasprachliche Kommentar zeigt: „g-[Laut] […] nur durch fremden [E]influss“ (VIËTOR 1888b, 218; Kursivierung im Original). Die dialektalen Belege liefern ebenfalls ein zweigeteiltes Bild, neben Plosiven ist auch die anlautende Spirans belegt. Unter Umständen handelt es sich bei diesem Phänomen um eines mit Abbautendenz, worauf der Kommentar bei VIËTOR sowie das Bestehen der beiden Varianten nebeneinander hindeuten können. In- und auslautende g-Spirantisierung. Sowohl in medialer als auch finaler Position erscheinen im landschaftlichen Hochdeutsch die Realisierungen des Phonems /g/ in spirantischer Form (z. B. in Tage oder Sieg). Diese Spirans wird als dialektales Merkmal ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen. Zum Teil scheinen daneben einige plosivische Varianten durch den Kontakt mit Nicht-Einheimischen Eingang in das landschaftliche Hochdeutsch gefunden zu haben (vgl. VIËTOR 1888b, 218). Lenisierung von anlautendem [k]. „[I]m [A]nlaut kh u[nd] g bunt durcheinander […]“ (etwa bei konnte, VIËTOR 1888b, 220; Kursivierung im Original), lautet die Beschreibung des Informanten zur Konsonantenschwächung von /k/. Das Merkmal dialektalen Ursprungs ist ebenfalls Teil des landschaftlichen Hochdeutsch. Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]. Während im alten Dialekt orale Verschlusslösungen von als [ŋk] häufiger belegt sind, bleibt dieses Variationsphänomen im landschaftlichen Hochdeutsch nur noch lexemgebunden (Ding) erhalten (vgl. VIËTOR 1888b, 221). Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Für die Variable [p͡f] im Anlaut stehen im landschaftlichen Hochdeutsch zwei Varianten nebeneinander. Neben der

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

als „natürlicher“ bezeichneten Realisierung als [f] (etwa bei Pferd), bei der es sich auch um die dialektale Form handelt, scheint auch die Variante [p͡f] im landschaftlichen Hochdeutsch vorzukommen (vgl. VIËTOR 1888b, 221). r-Vokalisierung. Im Wortauslaut nach Langvokal sowie in der Endung wird /r/ im landschaftlichen Hochdeutsch vokalisiert (etwa in Ohr oder Feuer, vgl. VIËTOR 1888b, 222). Über den Ursprung des Phänomens im Dialekt und zur Problematik der Überprüfung der r-Vokalisierung vgl. die ausführliche Diskussion in Kapitel 5.3.1. Phonemzusammenfall /s/ und /z/. Die nicht vorhandene Distinktion von /s/ und /z/ im landschaftlichen Hochdeutsch thematisiert VIËTORS Informant mit den Kommentaren, dass „stimmhaft und stimmlos bei nachlässiger [A]ussprache oft verwechselt“ (z. B. bei Rose) werden und im Anlaut häufig eine stimmlose Realisierung erfolge (z. B. bei sie) (vgl. VIËTOR 1888b, 222). Die zeitgenössische Überprüfung dieses Phänomens ergibt ein zweigeteiltes Bild: neben Bestätigungen des Phonemzusammenfalls liefern die dialektalen Quellen auch gegenteilige Belege. Diese Variation lässt sich mit SPANGENBERG (vgl. 1993, XIV–XV u. 210–211) dadurch erklären, dass Artern an der Unstrut in einem Gebiet liegt, das abweichend vom übrigen Thüringischen auch stimmhaftes /z/ hat, wenngleich dieses aber im Abbau begriffen und zudem die Stimmlosigkeit auch ein Merkmal der „Umgangssprache“ sei. Das vorliegende Korpus kann also SPANGENBERG bestätigen und dabei zeigen, dass die ehemals stimmhafte Variante des Dialektes im landschaftlichen Hochdeutsch nahezu abgebaut ist. Variationsphänomen Phonemzusammenfall /b/ und /p/ z. B. bei Pein, bei

Inlautende b-Spirantisierung z. B. bei übler

Phonemzusammenfall /d/ und /t/ z. B. bei leider, teuer

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888b, 216–217 u. 221)

JECHT (1888, 5 u. 76) HERTEL (1895, 10 u. 33) FRANK (1898, 12 u. 33) KÜRSTEN (1901, 17 u. 23) DÖRING (1903, 3) KÜRSTEN / BREMER (1910, 55–56) SCHIRMER (1928, 30 u. 34)

VIËTOR (1888b, 216)

JECHT (1888, 5) FRANK (1898, 31) KÜRSTEN (1901, 18) DÖRING (1903, 78) KÜRSTEN / BREMER (1910, 42 u. 55) SCHIRMER (1928, 8)

VIËTOR (1888b, 217 u. 223)

JECHT (1888, 14 u. 110) HERTEL (1895, 10 u. 33) FRANK (1898, 12) KÜRSTEN (1901, 17) DÖRING (1903, 3) KÜRSTEN / BREMER (1910, 58–59) SCHIRMER (1928, 7– 8 u. 11)

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

Variationsphänomen Lenisierung von intervokalischem [f] bei Stiefel, Teufel

Anlautende

g-Spirantisierung z. B. bei gut

In- und auslautende g-Spirantisierung z. B. bei Tage, Sieg

Lenisierung von anlautendem [k] z. B. bei konnte

Plosivische Lösung von finalem als [ŋk] bei Ding

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung

z. B. bei Ohr, Feuer

Phonemzusammenfall /s/ und /z/ z. B. bei Rose, sie

Beleg im Fragebogen

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Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888b, 218)

JECHT (1888, 20 u. 116) FRANK (1898, 32) KÜRSTEN (1901, 22) DÖRING (1903, 77) KÜRSTEN / BREMER (1910, 49) SCHIRMER (1928, 6)

VIËTOR (1888b, 218)

JECHT (1888, IV) HERTEL (1895, 28) [FRANK (1898, 31)] DÖRING (1903, 24) [KÜRSTEN / BREMER (1910, 62)] [SCHIRMER (1928, 48–49)]

VIËTOR (1888b, 218–219)

JECHT (1888, IV) HERTEL (1895, 26) FRANK (1898, 32) KÜRSTEN (1901, 18 u. 21) DÖRING (1903, 3) KÜRSTEN / BREMER (1910, 62–64) SCHIRMER (1928, 7)

VIËTOR (1888b, 220)

HERTEL (1895, 33) FRANK (1898, 12 u. 33) KÜRSTEN (1901, 11) DÖRING (1903, 1) KÜRSTEN / BREMER (1910, 62) SCHIRMER (1928, 12)

VIËTOR (1888b, 221)

HERTEL (1895, 82) FRANK (1898, 29) KÜRSTEN (1901, 23) SCHIRMER (1928, 18)

VIËTOR (1888b, 221)

JECHT (1888, 78) HERTEL (1895, 9) FRANK (1898, 13) KÜRSTEN (1901, 22) KÜRSTEN / BREMER (1910, 57) SCHIRMER (1928, 8)

VIËTOR (1888b, 222)

FRANK (1898, 29) [KÜRSTEN / BREMER (1910, 48)] [SCHIRMER (1928, 35)]

VIËTOR (1888b, 222–223)

HERTEL (1895, 33) KÜRSTEN (1901, 16) [DÖRING (1903, 3)] [KÜRSTEN / BREMER (1910, 50)] [SCHIRMER (1928, 6)]

Tab. 5: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Artern an der Unstrut

Für das landschaftliche Hochdeutsch des VIËTOR’schen Untersuchungsortes Artern an der Unstrut konnten sowohl vokalische als auch konsonantische Merk-

90

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

male rekonstruiert werden. Für den Konsonantismus erweisen sich insbesondere solche Variationsphänomene als prägend, die die Stimmhaftigkeitsopposition von Phonempaaren betreffen. Diese Oppositionen des neuhochdeutschen Standards bzw. der Schriftsprache sind im landschaftlichen Hochdeutsch (ebenso wie im alten Dialekt) nahezu nicht vorhanden. Im Bereich des Vokalismus ist beispielsweise eine große Unsicherheit und daraus entstehend eine inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute sowie die (tendenzielle) Entrundung der neuhochdeutsch gerundeten Palatalvokale als charakteristisch für das landschaftliche Hochdeutsch zu benennen. Bei allen rekonstruierten Merkmalen handelt es sich um solche dialektalen Ursprungs. Auffällig ist hier, dass der sprachliche Einfluss von „Fremden“ und/oder der Schriftsprache zumindest im Bewusstsein des VIËTOR’schen Informanten einen nicht unerheblichen Einfluss zu spielen scheint, wie die entsprechenden metasprachlichen Kommentare ebenso wie die nebeneinander bestehenden Varianten (schriftsprachlich orientiert vs. ursprünglich dialektal) zeigen.

5.3.3 Nordhausen am Harz Den VIËTOR’schen Fragebogen für das im Thüringischen liegende Nordhausen am Harz hat cand. phil. HERMANN LINTZEL ausgefüllt. Nordhausen liegt etwa 30 km südlich der Grenze zum Niederdeutschen im nordthüringischen Dialektgebiet (vgl. hierzu auch die Einteilung SPANGENBERGS 1993, XV in Karte 2). Zur Überprüfung der Variationsphänomene wurden die folgenden dialektalen Quellen hinzugezogen: SCHULTZE (1874), LIESENBERG (1890), HERTEL (1895), FRANK (1898), DÖRING (1903), DÖRING (1912) und SCHIRMER (1928).

Karte 4: VIËTOR’scher Erhebungsort Nordhausen am Harz (überblendet mit WIESINGER 1983e)

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

91

Im Folgenden werden die rekonstruierten Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch für Nordhausen am Harz aufgeführt und besprochen. Vokalismus: –







Hebung von [aː] und [a]. Die artikulatorische Hebung der a-Laute tritt im landschaftlichen Hochdeutsch sowohl bei langem [aː] als auch bei kurzem [a] auf (z. B. in Saat oder satt, vgl. VIËTOR 1888b, 210). Das Variationsphänomen mit Ursprung im alten Dialekt bleibt bei der Oralisierung der Schriftsprache erhalten. Tendenziell inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Sowohl langes /ɛː/ als auch kurzes /ɛ/ werden in einzelnen Lemmata im landschaftlichen Hochdeutsch zu geschlossener artikulierten Varianten gehoben. Zwar finden sich auch im alten Dialekt Belege, die die Hebungen erklären könnten. Dennoch ist hier vermutlich von einer Orientierung an der Schriftsprache als Einflussfaktor auszugehen, da die Hebungen im Viëtor-Korpus nur bei Lemmata mit -Graphien auftreten (etwa in elf, vgl. VIËTOR 1888b, 211). Entrundung. Die gerundeten palatalen Vokale erscheinen im landschaftlichen Hochdeutsch der dialektalen Grundlage entsprechend als entrundete Varianten (etwa in höhnen oder in Hühner, vgl. VIËTOR 1888b, 215–216). Vokal-Epenthese. Die Einfügung eines Sprossvokals zwischen Liquid und nachfolgendem Konsonant tritt hier nicht nur in vereinzelten Wörtern auf (wie in den zuvor behandelten Orten Gotha und Erfurt sowie Artern an der Unstrut), sondern wird für alle in dieser Rubrik abgefragten Lemmata notiert (elf, Milch, fünf und Tulpe; vgl. VIËTOR 1888b, 226). Somit kann hier im Vergleich zu den bislang behandelten thüringischen Erhebungsorten von einer stärkeren Bewahrung der dialektalen Form im landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen werden. Variationsphänomen

Hebung von [aː] und [a] z. B. bei Saat, satt

Tendenziell inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei elf

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888b, 210)

SCHULTZE (1874, 1) LIESENBERG (1890, 15–17) HERTEL (1895, 3) FRANK (1898, 9–10) DÖRING (1903, 2) DÖRING (1912, 10) SCHIRMER (1928, 5)

VIËTOR (1888b, 211)

SCHULTZE (1874, 1–3) LIESENBERG (1890, 8–14) FRANK (1898, 10) DÖRING (1912, 11–12) SCHIRMER (1928, 5)

92

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen Entrundung

z. B. bei höhnen, Hühner

Vokal-Epenthese z. B. bei Milch

Beleg im Fragebogen

VIËTOR (1888b, 215–216)

VIËTOR (1888b, 226)

Belege in dialektalen Quellen SCHULTZE (1874, 1) LIESENBERG (1890, 39–42) HERTEL (1895, 18) FRANK (1898, 9 u. 10) DÖRING (1903, 3) SCHIRMER (1928, 21 u. 25) SCHULTZE (1874, 8) LIESENBERG (1890, 46) FRANK (1898, 27– 28) DÖRING (1903, 51) DÖRING (1912, 21) SCHIRMER (1928, 18)

Tab. 6: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Nordhausen am Harz

Konsonantismus: –









Phonemzusammenfall /b/ und /p/. Ebenso wie im Dialekt sind im landschaftlichen Hochdeutsch die bilabialen Plosive zu stimmlosem [b̥] zusammengefallen (z. B. in Blei oder Raupe, vgl. VIËTOR 1888b, 216–217 u. 221). Der dialektale Phonemzusammenfall bleibt bei der Aussprache des Schriftdeutschen also erhalten. Inlautende b-Spirantisierung. Intervokalisch sowie zwischen Liquida und Vokal wird /b/ als stimmhafter bilabialer Frikativ realisiert (etwa in übrig vgl. VIËTOR 1888b, 216). Dieses Variationsphänomen hat seinen Ursprung im Dialekt und bleibt im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten. Phonemzusammenfall /d/ und /t/. Die alveolaren Plosive erfahren ebenfalls einen dialektal gestützten Phonemzusammenfall zu [d̥] (etwa in leider und raten, vgl. VIËTOR 1888b, 217 u. 223). Lediglich in „schulmässiger [A]ussprache“ werde aspiriertes [tʰ] realisiert (vgl. VIËTOR 1888b, 224). Interessant an dieser Aussage des Informanten ist die Differenzierung zwischen der Lesesprache und der „schulmässigen Aussprache“. Die Erwähnung letzterer zeigt, dass hier von einem Bewusstsein für eine Art Standardnorm ausgegangen werden muss. Inwieweit diese allerdings eine Entsprechung in der gesprochensprachlichen Realität hatte oder rein präskriptiv war, lässt sich anhand der Daten nicht abschließend klären. Lenisierung von intervokalischem [f]. Der im Neuhochdeutschen stimmlose labiodentale Frikativ [f] wird im landschaftlichen Hochdeutsch intervokalisch stimmhaft realisiert (etwa in Briefe oder Teufel, vgl. VIËTOR 1888b, 218). Die bilabiale Variante des Dialektes werde laut VIËTORS Informanten dabei zum Teil beibehalten, in manchen Lemmata aber auch an die neuhochdeutsche labiodentale Artikulation angeglichen (vgl. VIËTOR 1888b, 218). In- und auslautende g-Spirantisierung. Durchgängig frikativisch erscheint im landschaftlichen Hochdeutsch das Phonem /g/ sowohl in medialer als auch in

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch





93

finaler Position (z. B. in legal oder Berg, vgl. VIËTOR 1888b, 218–219). Die dialektale Spirans bleibt hier also komplett erhalten. Lenisierung von [k]. Der stimmlose velare Plosiv /k/ wird im landschaftlichen Hochdeutsch lenisiert, also als stimmloses [g̊] realisiert (etwa in können, vgl. VIËTOR 1888b, 220). Wieder ist sich VIËTORS Informant hier der regionalen Variante bewusst, was er dadurch deutlich macht, dass er auf eine „schulmässige“ bzw. „norddeutsche“ Aussprache verweist (vgl. VIËTOR 1888b, 218 u. 220). Wortinitial kommt es durch die Lenisierung von [k] und die in dieser Position erfolgte Fortisierung von [g] zu einem Zusammenfall. Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Die Affrikata [p͡f] wird der dialektalen Grundlage entsprechend im landschaftlichen Hochdeutsch zur einfachen Spirans [f] reduziert (z. B. in Pferd, vgl. VIËTOR 1888b, 221). Variationsphänomen Phonemzusammenfall /b/ und /p/ z. B. bei Blei, Raupe

Inlautende

b-Spirantisierung z. B. bei übrig

Phonemzusammenfall /d/ und /t/ z. B. bei leider, raten

Lenisierung von intervokalischem [f]

z. B. bei Briefe, Teufel

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888b, 216–217 u. 221)

SCHULTZE (1874, 5) LIESENBERG (1890, 47) FRANK (1898, 12) DÖRING (1903, 3) DÖRING (1912, 15) SCHIRMER (1928, 30 u. 34)

VIËTOR (1888b, 216–217)

SCHULTZE (1874, 5) LIESENBERG (1890, 48) HERTEL (1895, 43) FRANK (1898, 21) DÖRING (1903, 78) DÖRING (1912, 15) SCHIRMER (1928, 8)

VIËTOR (1888b, 217 u. 223–224)

VIËTOR (1888b, 218)

SCHULTZE (1874, 5) LIESENBERG (1890, 47 u. 55–58) HERTEL (1895, 12) FRANK (1898, 12 u. 33) DÖRING (1903, 3) DÖRING (1912, 16) SCHIRMER (1928, 7–8 u. 11) SCHULTZE (1874, 6–7) LIESENBERG (1890, 51) FRANK (1898, 20) DÖRING (1903, 77) DÖRING (1912, 18) SCHIRMER (1928, 6)

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen In- und auslautende g-Spirantisierung z. B. bei legal, Berg

Lenisierung von [k] z. B. bei können

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

Beleg im Fragebogen

VIËTOR (1888b, 218–219)

VIËTOR (1888b, 218 u. 220)

VIËTOR (1888b, 221)

Belege in dialektalen Quellen SCHULTZE (1874, 6) LIESENBERG (1890, 53–54) HERTEL (1895, 43) FRANK (1898, 31) DÖRING (1903, 3) DÖRING (1912, 16–17) SCHIRMER (1928, 7, 9 u. 13) SCHULTZE (1874, 5) HERTEL (1895, 30) FRANK (1898, 12 u. 33) DÖRING (1903, 1) DÖRING (1912, 15) SCHIRMER (1928, 12, 15 u. 18) SCHULTZE (1874, 7) LIESENBERG (1890, 49–50) HERTEL (1895, 9) FRANK (1898, 13) DÖRING (1912, 18) SCHIRMER (1928, 8)

Tab. 7: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Nordhausen am Harz

Die Rekonstruktion der lautlichen Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch in Nordhausen am Harz konnte sowohl Variationsphänomene aus dem Bereich des Vokalismus als auch des Konsonantismus aufzeigen. Ähnlich wie bei den zuvor behandelten thüringischen Erhebungsorten sind auch hier die Aufhebungen der neuhochdeutschen Stimmhaftigkeitsoppositionen bei /b, d, g/ vs. /p, t, k/ charakteristisch für das landschaftliche Hochdeutsch. Außerdem bleiben dialektale Plosivspirantisierungen (/b, g/) erhalten. Beim Vokalismus zeigen sich (bis auf Ausnahmen) die gleichen regionalen Varianten wie in Gotha und Erfurt sowie Artern an der Unstrut, allerdings bleiben einige Variationsphänomene (vgl. Entrundung und Vokal-Epenthese) in Nordhausen am Harz noch etwas stabiler erhalten. Insgesamt scheint der VIËTOR’sche Informant für diesen Erhebungsort ein recht ausgeprägtes Bewusstsein für eine „Standardnorm“ bzw. eine „regelgerechte“ Aussprache zu haben, wie zum einen die oben angeführten metasprachlichen Kommentare zeigen und zum anderen die an der Schrift orientierten, gehobenen Varianten von /ɛ(ː)/ andeuten.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

95

5.3.4 Aschersleben Für den thüringischen Ort Aschersleben stand VIËTOR ein Informant namens MARMODÉE (Gymnasiallehrer) zur Verfügung.

Karte 5: VIËTOR’scher Erhebungsort Aschersleben (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Aschersleben befindet sich direkt an der Grenze vom Mitteldeutschen zum Niederdeutschen. So verortet es Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise HAUSHALTER (1883) in einem sich nach Norden ausdehnenden Mischgebiet, in welchem sich das Mitteldeutsche zu Ungunsten des Niederdeutschen ausbreite. Die sprachliche Grenzsituation wird auch von SCHIRMUNSKI (vgl. 1962, 290) beschrieben, der das Gebiet in der Zeit um 1300 noch zum Niederdeutschen, späterhin aber zum Mitteldeutschen rechnet. SPANGENBERG (1993) zeichnet die Grenze seines thüringischen Arbeitsgebietes so, dass Aschersleben nicht eingeschlossen ist (vgl. Karte 2). Nach WIESINGER (1983e) zählt der Ort noch zum Thüringischen. Wie die uneinheitlichen dialektgeographischen Verortungen bereits andeuten, befindet sich der Erhebungsort Aschersleben durch seine Lage auf der Grenze vom Mittel- zum Niederdeutschen sprachlich in einer besonderen Situation. Diese lässt unter Umständen bei der Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sowohl niederdeutsche als auch mitteldeutsche bzw. hier thüringische Merkmale erwarten, was in der folgenden Analyse zu prüfen sein wird. In der dialektgeographischen Einteilung der vorliegenden Arbeit wird Aschersleben zum Mitteldeutschen, genauer zum nördlichsten Thüringischen gezählt, was übereinstimmend mit der Mehrzahl der Zuordnungen in der Literatur ist. Zur Überprüfung der Variationsphänomene wurden die folgenden dialektalen Quellen hinzugezogen: SCHULTZE (1874), JECHT (1888), LIESENBERG (1890),

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5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

DAMKÖHLER (1895), HENNEMANN (1901), LEHMANN (1922) und VORHOLZ (1936)143. Vokalismus: –







Hebung von [aː]. Der Langmonophthong [aː] wird dem Dialekt entsprechend auch im landschaftlichen Hochdeutsch in artikulatorisch gehobener Variante realisiert. Im VIËTOR’schen Fragebogen wird dafür das Attribut „tief“144 bei den entsprechenden Lexemen angegeben (z. B. in Adler, vgl. VIËTOR 1888b, 210). Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Laut VIËTORS Informant werden Lemmata wie Glas, Rad oder Schlag mit kurzem Stammvokal gesprochen (vgl. VIËTOR 1888b, 210). Diese Kürze kann durch unterbliebene Analogiedehnung der mittelhochdeutschen kurzen Vokale zu den mehrsilbigen Formen desselben Lexems entstanden sein.145 Dieses insbesondere für das Niederdeutsche typische Merkmal dehne sich auch auf den Grenzbereich zum Nordthüringischen aus, wie in Überblicksdarstellungen beschrieben wird (vgl. z. B. WIESINGER 1983a, 1092 oder SCHIRMUNSKI 1962, 263). Auch in SPANGENBERG (vgl. 1993, 68) findet sich für den äußersten Norden des Thüringischen die Kürze des Stammvokals erwähnt. Ein anderes Bild zeigt allerdings die zeitgenössische Überprüfung der thüringischen Dialektgrammatiken, die lediglich einen entsprechenden Beleg liefert. Folglich muss es sich bei diesem Phänomen um eine Übernahme aus dem Niederdeutschen in das nordthüringische landschaftliche Hochdeutsch handeln. Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Über die Verteilung von /eː/, /ɛː/ und /ɛ/ scheint im landschaftlichen Hochdeutsch große Unsicherheit zu herrschen, wie die zahlreichen notierten Fragezeichen („?“) und Beschreibungen als „halboffen“ bei VIËTOR zeigen (etwa in setzen und legen, vgl. 1888b, 211–212). Für den alten Dialekt ist zum einen Senkung eines offenen e-Lautes zu [a] und zum anderen ein überoffener ä-Laut beschrieben. Das dialektale System dürfte dabei eine korrekte Phonem-Graphem-Zuordnung beim Lesen der Schriftsprache erschwert haben, was die „Verwirrung“ bei der Distinktion der e-/ä-Laute und die „halboffenen“ Qualitäten erklären könnte. Hebung von [ɔ]. VIËTORS Informant vermerkt im Fragebogen häufig eine „halboffene“ Qualität und damit eine Hebung von [ɔ] (etwa in Ross oder ob, vgl. VIËTOR 1888b, 214). Dieses Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch

143 Obwohl das Publikationsjahr von VORHOLZ nach 1930 liegt, wird diese Quelle dennoch hinzugezogen, da sie sich explizit auf den Dialekt von Aschersleben bezieht und daher nicht aufgrund eines wenige Jahre später liegenden Erscheinungsjahres von der Analyse ausgeschlossen werden sollte. 144 Zur Identifizierung des Variationsphänomens aufgrund der Bezeichnung „tief“ vgl. Kapitel 5.3.1. 145 Zur Analogiedehnung vgl. beispielsweise HARTWEG / WEGERA (2005, 137) oder TSCHIRCH (1975, 162–163).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch



97

kann seinen Ursprung im dialektalen Phonemzusammenfall von /oː/ und /ɔ/ finden. Senkung von [uː]. Ebenfalls mit dem Attribut „halboffen“ wird von VIËTORS Informant eine Senkung von [uː] beschrieben (z. B. bei Schuster, vgl. VIËTOR 1888b, 215–216), die sich analog zum landschaftlichen Hochdeutsch auch im Dialekt findet. Variationsphänomen Hebung von [aː] z. B. bei Adler

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1888b, 210)

VIËTOR (1888b, 210)

z. B. bei Glas, Rad

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei setzen, legen

Hebung von [ɔ]

z. B. bei Ross, ob

Senkung von [uː] z. B. bei Schuster

VIËTOR (1888b, 211–212)

VIËTOR (1888b, 214)

VIËTOR (1888b, 215–216)

Belege in dialektalen Quellen SCHULTZE (1874, 1) LIESENBERG (1890, 15–17) HENNEMANN (1901, 17) LEHMANN (1922, VI) VORHOLZ (1936, 10) [JECHT (1888, 94)] [LIESENBERG (1890, 16)] HENNEMANN (1901, 30) SCHULTZE (1874, 1–3) JECHT (1888, 18) LIESENBERG (1890, 9–14) HENNEMANN (1901, 13–14) LEHMANN (1922, VI) VORHOLZ (1936, 10) HENNEMANN (1901, 14) LEHMANN (1922, VI) VORHOLZ (1936, 10) SCHULTZE (1874, 3) DAMKÖHLER (1895, 87) HENNEMANN (1901, 7 u. 26) LEHMANN (1922, VI) VORHOLZ (1936, 10)

Tab. 8: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Aschersleben

Konsonantismus: –





Inlautende b-Spirantisierung. Intervokalisch sowie zwischen Liquid und Vokal wird /b/ als stimmhafter bilabialer Frikativ realisiert (etwa in übrig, vgl. VIËTOR 1888b, 216–217). Die Form des landschaftlichen Hochdeutsch entspricht damit der dialektalen. In- und auslautende g-Spirantisierung. Sowohl im In- als auch im Auslaut wird das Phonem /g/ in allen Lautumgebungen spirantisch realisiert (z. B. in Berge, siegt oder Tag, vgl. VIËTOR 1888b, 218–219), was der dialektalen Grundlage entspricht. Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]. Die orale Verschlusslösung von auslautendem bleibt als dialektales Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten (etwa in bang oder Ding, vgl. VIËTOR 1888b, 221).

98 –

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Lexemgebunden (in Pferd ) wird die anlautende Affrikate [p͡f] zur einfachen Spirans [f] (vgl. VIËTOR 1888b, 221). Das dialektale Merkmal des Thüringischen bleibt hier also lexemgebunden erhalten. Variationsphänomen Inlautende

b-Spirantisierung z. B. bei übrig

In- und auslautende g-Spirantisierung

z. B. bei Berge, siegt, Tag

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888b, 216–217)

SCHULTZE (1874, 5) JECHT (1888, 5) LIESENBERG (1890, 48–49) DAMKÖHLER (1895, 81) HENNEMANN (1901, 50) LEHMANN (1922, 38) VORHOLZ (1936, 8–9 u. 11)

VIËTOR (1888b, 218–219)

SCHULTZE (1874, 6) JECHT (1888, IV) LIESENBERG (1890, 53) DAMKÖHLER (1895, 80– 81) HENNEMANN (1901, 15) LEHMANN (1922, 89) VORHOLZ (1936, 12)

Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]

VIËTOR (1888b, 221)

SCHULTZE (1874, 6) LIESENBERG (1890, 2) HENNEMANN (1901, 16) VORHOLZ (1936, 12)

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

VIËTOR (1888b, 221)

SCHULTZE (1874, 7) LIESENBERG (1890, 49) HENNEMANN (1901, 15) VORHOLZ (1936, 11)

z. B. bei bang, Ding

bei Pferd

Tab. 9: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Aschersleben

Die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch konnte sowohl vokalische als auch konsonantische Variationsphänomene in Aschersleben zeigen. Im Bereich des Vokalismus konnten unter anderem neben der Hebung von [aː] sowie Hebungen bzw. Senkungen der Velarvokale auch ein typisch niederdeutsches Variationsphänomen (Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen) rekonstruiert werden. Im Konsonantismus kommen die für die anderen thüringischen Erhebungsorte prominenten Merkmale aus dem Bereich der Konsonantenschwächung nicht vor. Die spirantischen Varianten der Plosive /b/ und /g/ sind in Aschersleben aber ebenfalls Teil des landschaftlichen Hochdeutsch. Außerdem konnten für das landschaftliche Hochdeutsch Ascherslebens Varianten mit plosivischer Lösung von finalem als [ŋk] rekonstruiert werden. Insgesamt erscheinen die Angaben im Ascherslebener Fragebogen im Vergleich zu den anderen thüringischen eher schriftsprachorientiert. Dabei lässt sich aufgrund der Datengrundlage nicht ausschließen, dass VIËTORS Informant für Aschersleben bei der Notierung regionaler Varianten zurückhaltender war als die anderen thüringischen Informanten. Gleichwohl erscheint es plausibel, eine Begründung dafür in

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

99

der sprachgeographischen Lage und damit der oben beschriebenen Grenzsituation zu sehen.

5.3.5 Hannover Der Fragebogen zum ostfälischen Erhebungsort Hannover wurde von einem Informanten names Dr. F. KNIGGE ausgefüllt.

Karte 6: VIËTOR’scher Erhebungsort Hannover (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Für Hannover ist die Quellenlage eine besondere im Vergleich zu den übrigen Orten. Hannover gilt spätestens ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als vorbildhaft für eine „korrekte“ Aussprache des Hochdeutschen, was einhergeht mit einer Ablösung des Meißnisch-Obersächsischen als Träger dieser Vorbildfunktion.146 Dies kann wohl als Ursache dafür angesehen werden, dass die ostfälische Region um Hannover dialektgeographisch für die hier interessierende Zeit vergleichsweise schlecht erschlossen ist. Andererseits liegen Beschreibungen vor, die genau dieses „beste Hochdeutsch“ in Hannover thematisieren. So liefert beispielsweise HUSS (1879) wertvolle Hinweise über das landschaftliche Hochdeutsch Hannovers. In seiner Aussprachelehre „Das Deutsche im Munde des Hannoveraners“ beschreibt HUSS das „hannöverische Idiom“, welches im Ausland in „hohe[m] Ansehen“ stehe, so dass „deutsch studirende[...] Fremde[…] nur in ihm unterrichtet zu werden“ wünschen (HUSS 1879, 3). Die Behandlung regionaler Varianten verschiedener Variationsphänomene in dieser Aussprachelehre erlaubt also direkten Aufschluss über das landschaftliche Hochdeutsch Hannovers im ausgehenden 19. Jahrhundert. Denn obwohl die Sprache der Region als vorbildhaft galt, war das landschaftliche Hochdeutsch hier keinesfalls frei 146 Vgl. zu diesem thematischen Komplex auch Kapitel 2.3.

100

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

von Regionalismen, wie im Folgenden zu sehen sein wird und auch bereits mehrfach in der Literatur beschrieben wurde.147 Aufgrund dieser Quellenlage erfolgt die Auswertung der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch für Hannover auch nicht strikt nach den gleichen Prinzipien wie bei den anderen Orten, sondern muss bzw. kann sich stellenweise auf andere Quellen als Dialektgrammatiken beziehen. Da HUSS (1879) bei seiner Beschreibung des „besten Hochdeutsch“ auf den zugrundeliegenden Dialekt Bezug nimmt,148 ist es bei der Rekonstruktion der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch gleichwohl möglich, ihren Ursprung zu bestimmen. Als dialektale Quellen wurden hier KRÜGER (1843), BIERWIRTH (1890), LUDEWIG (1925) und JARFE (1929) herangezogen. Vokalismus: –





Palatales [a]. Das kurze /a/-Phonem tritt im landschaftlichen Hochdeutsch durchgängig in einer vorverlagerten Variante auf. Diese palatalisierte Form wurde unter Umständen zudem leicht gehoben artikuliert, wie die Ergänzung „sehr hell“ in VIËTOR (1888a, 97, z. B. in satt) nahelegt. Bei dieser vorverlagerten/gehobenen Variante handelt es sich um ein Phänomen dialektalen Ursprungs, welches in der Aussprachelehre von HUSS (vgl. 1879, 15) (daher) abgelehnt wird. Stattdessen fordert er einen neutralen a-Laut. Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Kurzer Stammvokal in Lexemen wie Rad, Glas oder Schlag bleibt als dialektales Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten. In seiner „Phonetik“ beschreibt VIËTOR (1884d, 41) die Beibehaltung der Kürze in den unflektierten Formen als „noch weit verbreitete[n] norddeutsche[n] (auch hannövrische[n]) Provinzialismus“. Zudem findet die lexemgebundene Kürze in HUSS (1879, 38–39) Erwähnung. Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Neben Hebungen des Kurzmonophthongs [ɛ] (z. B. in Sätze) notiert VIËTORS Informant auch Senkungen des Langmonophthongs [eː] (etwa in legen) sowie „halboffne“ Laute (z. B. in Wärter), die keiner erkennbaren Systematik folgen (vgl. VIËTOR 1888a, 98– 99). Die dialektalen Quellen beschreiben Phonemzusammenfälle der mittelniederdeutschen e-/ä-Laute für das Ostfälische (ebenso wie SCHIRMUNSKI [vgl. 1962, 253, 255 und 259]) und HUSS (1879, 21) erklärt, dass in der Wortwurzel vorkommendes e bis auf Ausnahmen geöffnet sei. Die Unsicherheiten bzw. Senkungen und Hebungen im landschaftlichen Hochdeutsch können darin ihre Ursache haben.

147 Vgl. etwa BLUME (1987) oder ELMENTALER (2012). 148 In der Regel wird der Dialekt dabei als Quelle von zu vermeidenden Regionalismen betrachtet.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

Variationsphänomen Palatales [a] z. B. bei satt

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1888a, 97)

Belege in (dialektalen) Quellen KRÜGER (1843, 22) HUSS (1879, 15) BIERWIRTH (1890, 3) BLUME (1987, 24–25) 149 KRÜGER (1843, 20)

VIËTOR (1888a, 97)

HUSS (1879, 38–39)

z. B. bei Rad, Glas

BIERWIRTH (1890, 19)

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute

KRÜGER (1843, 23) HUSS (1879, 21) BIERWIRTH (1890, 36) BLUME (1987, 25)

z. B. bei Sätze, legen

101

VIËTOR (1888a, 98–99)

Tab. 10: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Hannover

Konsonantismus: –





In- und auslautende g-Spirantisierung. Inlautend vor Konsonant, im gedeckten Auslaut (z. B. bei folgt) und in auslautender Position (etwa in Sieg, vgl. VIËTOR 1888a, 105–106) ist die spirantische Realisierung des /g/-Phonems ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch mit dialektalem Ursprung. Plosivische Lösung von als [ŋk]. Die orale Verschlusslösung von auslautend kann als typisch niederdeutsches Merkmal (vgl. z. B. STELLMACHER 1981, 57–59) auch für Hannover bestätigt werden. Hier bleibt das Phänomen auch im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten (etwa in bang oder Ding, vgl. VIËTOR 1888a, 108). Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Bei diesem Phänomen handelt es sich um eines des landschaftlichen Hochdeutsch, das seinen Ursprung nicht im Dialekt, sondern in überregionalen Ausgleichsprozessen hat und zudem eine Aussprachevereinfachung darstellt. Während die dialektale Form einfachen Plosiv [p] hat, fordert HUSS (1879, 29) die Realisierung als Affrikata. Gleichwohl wird in VIËTOR (1888a, 109, etwa in Pferd ) die einfache Spirans [f] im Anlaut genannt, was auch von BLUME (1987, 27) als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch beschrieben wird, welches zudem großregional (er nennt beispielsweise die Städte Hamburg und Berlin) verbreitet war.150 VIËTOR (1890c, 18) stellt in seiner „Aussprache des Schriftdeutschen“ fest, dass sich das „norddeutsche f statt pf […] im Anlaut […] zum Teil wohl daraus [erklärt], dass diese Lautverbindung dem Niederdeutschen

149 BLUME (1987) findet hier ungeachtet seines zeitlich zu spät liegenden Publikationsdatums als Quelle Verwendung, da seine Untersuchung zum „Gesprochene[n] Hochdeutsch in Braunschweig und Hannover“ auf diversen Quellen des 19. Jahrhunderts fußt, welche die Sprache der „Gebildeten“ zum Thema haben. 150 SCHIRMUNSKI (1962, 273) erläutert allgemein, dass überall dort, wo das dialektale [p] verdrängt werde, sich [f] statt [pf] durchsetze.

102



5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

nicht eigen [sei]“. Ähnliche Beschreibungen zu den Versuchen, die Affrikata schriftsprachlich korrekt zu realisieren und dabei einfache Spirans zu artikulieren, finden sich zu verschiedenen Zeiten in der Literatur immer wieder.151 Somit liegt hier ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch vor, welches sich entgegen der dialektalen Grundlage entwickelt hat. Bewahrung /s/ vor p und t. Während im Laufe des Frühneuhochdeutschen anlautendes /s/ vor Konsonant palatalisiert und damit zu [ʃ] wurde, unterbleibt diese Lautveränderung in den niederdeutschen Dialekten.152 Die Schriftsprache setzt diese Veränderung erst seit etwa 1500 um. Allerdings bleibt vor

und die Schreibweise mit anstelle von erhalten (vgl. SCHMIDT 2007, 383). Dementsprechend bleibt auch die lautliche Bewahrung von [s] hauptsächlich vor bilabialem und alveolarem Plosiv bestehen.153 In diesen Positionen beschreibt sie auch VIËTORS Informant und führt dazu aus: „š statt s in sprechen, stehen fällt auf und kennzeichnet den fremden.“ (VIËTOR 1888a, 111). Bei diesem Phänomen handelt es sich in Hannover um ein besonderes des landschaftlichen Hochdeutsch. Einerseits dialektal gestützt, wird es darüber hinaus bewusst als Stilmittel des „feinen Tons“ in Hannover eingesetzt, wie in VERHEYS (1948, 539 u. 549) diachronem Abriss über die „sp-, st-Aussprache in Hannover“ nachzulesen ist.154

151 Vgl. beispielsweise BEHAGHEL (1916, 260) und MARTENS / MARTENS (1988, 123–125) generell für das Niederdeutsche oder WIESENHANN für ostfriesische Schüler (1977, 9–12). 152 Vgl. beispielsweise SCHIRMUNSKI (1962, 361), SCHMIDT (2007, 383) oder SMITS (2011, 120–125). 153 SCHIRMUNSKI (vgl. 1962, 361) sieht das Festhalten an diesem Phänomen selbst in der Literatursprache niederdeutscher Städte durch diese „zweideutige Schreibweise“ gestützt. Eine ähnliche Interpretation bieten auch MARTENS / MARTENS (vgl. 1988, 125–126), die von einer Orientierung der Aussprache an der Schrift ausgehen, oder jüngst KEHREIN (2012, 297). 154 HUSS (1879, 31) lässt in seiner Aussprachelehre Wahlfreiheit zwischen [s] und [ʃ], während DIEDERICHS (vgl. 1884, 4) dazu auffordert, diese Aussprachebesonderheit der Gebildeten in Hannover abzulegen.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

Variationsphänomen

Beleg im Fragebogen

Belege in (dialektalen) Quellen

In- und auslautende g-Spirantisierung

VIËTOR (1888a, 105–106)

Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]

KRÜGER (1843, 19) HUSS (1879, 23–24) BIERWIRTH (1890, 20) JARFE (1929, 73) BLUME (1987, 27)

VIËTOR (1888a, 108)

HUSS (1879, 27) BIERWIRTH (1890, 63) JARFE (1929, 84)

VIËTOR (1888a, 109)

[KRÜGER (1843, 21)] HUSS (1879, 29) [BIERWIRTH (1890, 73)] BLUME (1987, 27)

VIËTOR (1888a, 111)

KRÜGER (1843, 25) HUSS (1879, 31) BIERWIRTH (1890, 7) LUDEWIG (1925, 1) BLUME (1987, 27)

z. B. bei folgt, Sieg

z. B. bei bang, Ding

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

Bewahrung /s/ vor p und t

z. B. bei sprechen, stehen

103

Tab. 11: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Hannover

Die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch Hannovers hat sowohl vokalische als auch konsonantische Variationsphänomene aufzeigen können. Es handelt sich bei diesen einerseits um linguistische Merkmale dialektalen Ursprungs (vgl. etwa die palatalisierten Varianten von [a], die Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen oder die orale Verschlusslösung von auslautend ). Daneben haben die anlautenden Varianten mit einfacher Spirans [f] anstelle der Affrikata [p͡f] keinen Ursprung im Dialekt. Die Aussprache(versuche) der Schrift (und damit die Abkehr vom dialektalen plosivischen Anlaut) führen hier nicht zur „korrekten“ Affrikata, sondern zur artikulatorisch leichteren Variante mit einfachem Frikativ. Wie die Erläuterungen hier bereits andeuten und wie sich insbesondere bei den nachfolgend zu behandelnden Orten und Regionen zeigen wird, handelt es sich bei diesem Merkmal um eines mit großer arealer Verbreitung im landschaftlichen Hochdeutsch des 19. Jahrhunderts. Daher kann dieses Variationsphänomen als eines bezeichnet werden, das aus überregionalen Ausgleichsprozessen resultiert. Neben diesen Variationsphänomenen, die ihre Ursachen einerseits im Dialekt und andererseits in überregionalen Ausgleichsprozessen haben, konnte für Hannover ein weiteres rekonstruiert werden, das einen besonderen Status einnimmt. Die Bewahrung von wgm. /s/ vor p und t ist zum einen dialektal gestützt und wird zum anderen auch als sprachlich gehobenes Stilmerkmal eingesetzt.

104

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Insgesamt ist die Anzahl der rekonstruierten Variationsphänomene recht gering, was mit der eingangs beschriebenen sprachlichen Vorbildfunktion Hannovers korrespondiert.155

5.3.6 Greifswald (Neuvorpommern) Der Fragebogen für Greifswald wurde von einem Informanten namens Dr. P. TÖNNIES ausgefüllt. Der ostniederdeutsche Erhebungsort liegt im vorpommerschen Gebiet und damit im mecklenburgisch-vorpommerschen Dialektverbund.

Karte 7: VIËTOR’scher Erhebungsort Greifswald (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Im Gegensatz zu den anderen Orten liegt hier nur eine höchst unvollständige Beantwortung vor. So fehlen die Angaben zum Konsonantismus fast vollständig und auch der Vokalismus weist große Lücken in der Bearbeitung auf. Aus diesem Grund kann für die fragliche Region keine auch nur annähernd umfassende Beschreibung der Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch geleistet werden. Ungeachtet der Unvollständigkeit sollen die wenigen hier benannten lautlichen Besonderheiten dennoch untersucht werden. Hierfür wurden die folgenden Grammatiken hinzugezogen: NERGER (1869), WARNKROSS (1912), SCHMIDT (1912) und JACOBS (1925).

155 Bei ELMENTALER (2012) werden als weitere typische Merkmale unter anderem die Realisierung von [r] als Frikativ [x], die Monophthongierung von [a͡i] zu [aː] bzw. [əː] (es werden beide Varianten genannt) sowie von [a͡u] zu [ɔː] genannt. Diese finden in den hier herausgearbeiteten Phänomenen des landschaftlichen Hochdeutsch von Hannover allerdings keine Entsprechung.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

105

Vokalismus: –









Hebung von [aː]. Die Hebung bzw. Verdumpfung des Langvokals [aː] bleibt als typisches niederdeutsches Dialektmerkmal156 auch als Teil des landschaftlichen Hochdeutsch erhalten. Von VIËTORS Informanten wird das Merkmal durch die Bezeichnung „tief“157 im Fragebogen vermerkt (etwa in Saat, VIËTOR 1890a, 12). Palatales [a]. Der Kurzvokal [a] erscheint im landschaftlichen Hochdeutsch palatal realisiert. Diese vorverlagerte Variante gelangt als dialektales Merkmal in die Prestigevarietät und wird bei VIËTOR (z. B. in satt, vgl. 1890a, 12) als „hell“ bezeichnet. Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Unflektierte Einsilbler wie Rad, Schlag oder Glas werden mit kurzem Stammvokal realisiert (vgl. VIËTOR 1890a, 12). Hierbei handelt es sich ebenfalls um ein dialektales Merkmal mit Reflex im landschaftlichen Hochdeutsch. Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Neben der Hebung von kurzem [ɛ] und langem [ɛː] (etwa bei säen) kommt auch eine Senkung von [eː] vor /r/ (etwa in Berg) im landschaftlichen Hochdeutsch vor. Daneben wird von VIËTORS Informant zum Teil auch eine „halboffene“ Qualität angegeben (etwa in er), die auf eine Unsicherheit hinsichtlich der Distribution der e-/äLaute hinweisen kann (vgl. VIËTOR 1890a, 13). Das dialektale System der e-/äLaute wird beispielsweise in SCHMIDT (1912, 36–46) beschrieben, vgl. Entwicklung der mnd. ē-Laute: ē1 wird diphthongiert (z. B. in zehn; vgl. das nachfolgend diskutierte Phänomen), ē2 und ē3 erscheinen als lange und geschlossene [eː] (z. B. in Klee und in Käse). Die mnd. tonlangen e-/ä-Laute sind zusammengefallen in offenes langes [ɛː] (z. B. in Predigt). Eine korrekte Distribution der e-/ä-Laute entsprechend des Neuhochdeutschen erscheint aufgrund der dialektalen Situation erschwert, wodurch sich die Angaben bei VIËTOR erklären lassen.158 Diphthongierung von /eː/. Bei der Diphthongierung des geschlossenen Langvokals /eː/ zu [a͡ɪ] (auch als Diphthongoid mit verkürzter zweiter Komponente) handelt es sich um ein frequentes Merkmal niederdeutscher Dialekte.159 Die Diphthongierung von ê, die nach LASCH (vgl. 1914, 74–82) ihre Ausbreitung von Westen her in mittelniederdeutscher Zeit gefunden hat, ist auch Teil des landschaftlichen Hochdeutsch und wird bei VIËTOR (etwa für See,

156 Vgl. SCHIRMUNSKI (1962, 254–255) oder für die Verbreitung in rezenten niederdeutschen Dialekten beispielsweise MARTENS / MARTENS (1988, 136). 157 Vgl. Kapitel 5.3.1 zur Identifizierung des Variationsphänomens aufgrund der Bezeichnung „tief“. 158 GERNENTZ (1974, 230) beschreibt die Verteilung geraume Zeit später so, dass der niederdeutsche Dialekt die Phonemopposition von /eː/ und /ɛː/ zugunsten von stets offenem [ɛː] und die hochdeutsch geprägte „Umgangssprache“ von stets geschlossenem [eː] aufgegeben habe. 159 Vgl. z. B. KRÜGER (1843, 24), GRIMME (1922, 29), NIEKERKEN (1957, 81–82) oder MARTENS / MARTENS (1988, 133).

106

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

1890a, 13; Kursivierung im Original) wie folgt beschrieben: „[d]ie geschlossenen e zeigen i-nachklang.“. Variationsphänomen Hebung von [aː] z. B. bei Saat

Palatales [a] z. B. bei satt

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1890a, 12)

NERGER (1869, 115) WARNKROSS (1912, 27) SCHMIDT (1912, 35)

VIËTOR (1890a, 12)

NERGER (1869, 12) WARNKROSS (1912, 13) SCHMIDT (1912, 26)

VIËTOR (1890a, 12)

NERGER (1869, 114) WARNKROSS (1912, 60) SCHMIDT (1912, 32–33) JACOBS (1925, 107)

VIËTOR (1890a, 13)

NERGER (1869, 118–121 u. 127–128) WARNKROSS (1912, 27–28) SCHMIDT (1912, 36–46)

VIËTOR (1890a, 13)

NERGER (1869, 132) WARNKROSS (1912, 35) SCHMIDT (1912, 27)

z. B. bei Rad, Glas

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei säen, Berg

Diphthongierung von /eː/ z. B. bei See

Belege in dialektalen Quellen

Tab. 12: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Greifswald

Aufgrund des unvollständig ausgefüllten Fragebogens zu Greifswald konnten für das dortige landschaftliche Hochdeutsch nur vokalische Variationsphänomene rekonstruiert werden. Bei diesen handelt es sich fast ausschließlich um solche mit Ursprung im alten Dialekt (z. B. die diphthongierten Varianten von /eː/). Zwar umfasst der Fragebogen auch vereinzelte Angaben zum Konsonantismus. Diese enthalten allerdings keine regionalen Varianten, sondern entsprechen dem damaligen und heutigen „Standard“. Aus diesen Angaben weitergehende Rückschlüsse auf den Konsonantismus des landschaftlichen Hochdeutsch zu ziehen, wäre nicht gerechtfertigt, da sie weniger als zehn Prozent des abgefragten Materials umfassen.

5.3.7 Segeberg Den Fragebogen zu Segeberg (heute: Bad Segeberg) im Holsteinischen hat ein Informant namens Dr. KADLER gemeinsam mit dem Informanten cand. prob. TEEGE ausgefüllt (vgl. VIËTOR 1890a, 11). Segeberg liegt im östlichen Westniederdeutschen, genauer im nordniederdeutschen Dialektgebiet. Als dialektale Quellen zur Überprüfung der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch wurden KRÜGER (1843), WALTHER (1849), DIEDERICHS (1884), JELLINGHAUS (1889), HOOPMANN (1893) und GRIMME (1922) verwendet.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

107

Karte 8: VIËTOR’scher Erhebungsort Segeberg (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Vokalismus: –









Hebung von [aː] und [a]. Alle langen [aː] und zum Teil auch die kurzen werden in artikulatorisch gehobener bzw. verdumpfter Variante realisiert, was bei VIËTOR (etwa bei Arzt oder hat, 1890a, 12) durch „[…] die tiefen a neigen nach o […]“ ergänzend kommentiert wird. Das Phänomen findet seine Entsprechung im Dialekt. Palatales [a]. Neben einigen gehobenen Varianten von kurzem [a] werden die übrigen Belege mit „hellen“ Varianten angegeben. Wobei hier wahrscheinlich nicht von einer vollständig durchgeführten Vorverlagerung ausgegangen werden kann, was sich durch die einschränkende Bemerkung „Sämtliche hellen a sind nicht ganz rein hell […]“ ergibt (etwa bei an, VIËTOR 1890a, 12; Kursivierung im Original). Ebenso wie das landschaftliche Hochdeutsch hat auch der Dialekt die palatale Variante. Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Die lexemgebundene Kürze von /aː/ in unflektierten Einsilblern wie Rad, Glas oder Schlag kann als ursprünglich dialektales Merkmal auch im landschaftlichen Hochdeutsch bestätigt werden. Lediglich in HOOPMANN (vgl. 1893, 2) wird ein Schwanken hinsichtlich der Vokalquantität beschrieben und eine Tendenz zu Langvokalen. Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Die unsystematische Verteilung bei VIËTOR (vgl. 1890a, 13–14) mit Senkungen von [eː] sowie Hebungen von [ɛː] und zum Teil „halboffenen“ Qualitäten (etwa bei Herde) zeigt eine nicht vorhandene Differenzierung der beiden langen e-/ä-Laute bzw. eine Unsicherheit hinsichtlich der Distribution. Die dialektalen Quellen können Phonemzusammenfälle bei den langen e-/ä-Lauten belegen, auf die das Phänomen zurückgeführt werden kann. Diphthongierung von /eː/. Langes geschlossenes /eː/ wird zu [a͡ɪ] diphthongiert (z. B. bei See, vgl. VIËTOR 1890a, 13). Damit bleibt ein frequentes dialektales Phänomen auch im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten.

108 –

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Rundung von [iː] und [ɪ]. In der Lautumgebung vor /r/ wird sowohl geschlossenes [iː] als offeneres [ɪ] gerundet artikuliert, was von VIËTORS Informant (etwa bei wirr, 1890a, 15) mit „[N]eigung zu ü“ erläutert wird. Auch hier bleibt damit ein dialektales Merkmal Teil des landschaftlichen Hochdeutsch. Variationsphänomen Hebung von [aː] und [a] z. B. bei Arzt, hat

Palatales [a] z. B. bei an

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1890a, 12)

KRÜGER (1843, 22) WALTHER (1849, 2) JELLINGHAUS (1889, 54) HOOPMANN (1893, 2)

VIËTOR (1890a, 12)

KRÜGER (1843, 22) WALTHER (1849, 2) JELLINGHAUS (1889, 54)

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

VIËTOR (1890a, 12)

[HOOPMANN (1893, 2)]

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute

VIËTOR (1890a, 13–14)

KRÜGER (1843, 23) WALTHER (1849, 2) HOOPMANN (1893, 2–3) GRIMME (1922, 29)

VIËTOR (1890a, 13)

KRÜGER (1843, 24) WALTHER (1849, 2) JELLINGHAUS (1889, 55) GRIMME (1922, 31)

VIËTOR (1890a, 15)

KRÜGER (1843, 21) HOOPMANN (1893, 3) GRIMME (1922, 22)

KRÜGER (1843, 20)

z. B. bei Rad, Glas

z. B. bei Herde

Diphthongierung von /eː/ z. B. bei See

Rundung von [iː] und [ɪ] z. B. bei wirr

GRIMME (1922, 22)

Tab. 13: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Segeberg

Konsonantismus: –

In- und auslautende g-Spirantisierung. In finaler sowie zum Teil in medialer Position (beispielsweise aber nicht intervokalisch), handelt es sich bei der g-Spirantisierung um ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch (etwa in leugne, folgt oder Berg, vgl. VIËTOR 1890a, 19–20). Diese Verteilung spiegelt sich auch in den dialektalen Grammatiken wider, die für den Auslaut durchgängig die Spirans belegen. Für den Inlaut ist das nicht bei allen Quellen der Fall (KRÜGER 1843 und WALTHER 1849, bei denen es sich auch um die ältesten Grammatiken handelt, beschreiben nur Spirans im Auslaut).160

160 Die von WALTHER (1849, 3) und JELLINGHAUS (1889, 56) angegebene Spirantisierung auch im Anlaut findet sich bei VIËTOR (1890a) nicht und kann folglich auch nicht als Phänomen des landschaftlichen Hochdeutsch angesehen werden.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch –









109

Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]. Zwar sind die dialektalen Quellen bei der Beschreibung der oralen Verschlusslösung von zurückhaltend, gleichwohl findet sich aber auch hier Bestätigung. Zudem verortet SCHIRMUNSKI (1962, 394) die dialektale Aussprache als [ŋk] im gesamten niederdeutschen Sprachraum und merkt weiter an, dass es sich in der „lokalen Aussprache der Literatursprache“ dort erhält, wo es im Dialekt vorkommt. Da auch DIEDERICHS (vgl. 1884, 20) aufgrund seiner Untersuchungen Bestätigung liefern kann, lässt sich das Phänomen als dialektales einstufen, welches Eingang ins landschaftliche Hochdeutsch gefunden hat (bei VIËTOR 1890a, 22, etwa in bang oder Ding). Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Bei diesem Variationsphänomen handelt es sich um eines des landschaftlichen Hochdeutsch mit Ursprung in überregionalen Ausgleichsprozessen.161 Demnach erfolgt die Realisierung als einfache Spirans [f] im Anlaut (etwa in Pferd bei „nachl[ässiger] ausspr[ache], VIËTOR 1890a, 22) entgegen der Form des Dialektes mit einfachem Plosiv. r-Vokalisierung. Nach Langvokal am Wortende sowie in der Endung wird im landschaftlichen Hochdeutsch ein vokalisiertes /r/-Allophon realisiert, wie die Belege in VIËTOR (etwa in Ohr oder Feuer, vgl. 1890a, 23) zeigen. Obwohl die Verschriftung der vokalisierten Varianten in den Dialektgrammatiken nur sehr sporadisch erfolgt (vgl. die Ausführungen in Kapitel 5.3.1), liefert die zeitgenössische Überprüfung im Dialekt zwei positive Belege, so dass das Phänomen bestätigt werden kann. Desonorisierung von anlautendem [z]. Die stimmlose Realisation des stimmhaften alveolaren Frikativs [z] im Anlaut ist ein verbreitetes dialektales Merkmal des Niederdeutschen (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 359), welches sich auch im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten hat (etwa in sie, vgl. VIËTOR 1890a, 23). Bewahrung /s/ vor p und t. Der stimmlose alveolare Frikativ [s] vor bilabialem und alveolarem Plosiv bleibt als dialektales Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten (etwa in sprechen oder stehen). Durch „süddeutsch[en] [E]influss“ gelange allerdings bisweilen postalveolares [ʃ] in diese Position (VIËTOR 1890a, 24). Hier findet sich also bereits in VIËTOR eine Beschreibung von Sprachwandel im landschaftlichen Hochdeutsch, der auf die Beseitigung einer dialektal begründeten Variante zielt.

161 Vgl. zur näheren Erläuterung die Ausführungen in Kapitel 5.3.5.

110

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen

Beleg im Fragebogen

In- und auslautende g-Spirantisierung

VIËTOR (1890a, 19–20)

Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]

VIËTOR (1890a, 22)

z. B. bei leugne, Berg

z. B. bei bang, Ding

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung

z. B. bei Ohr, Feuer

Desonorisierung von anlautendem [z] z. B. bei sie

Bewahrung /s/ vor p und t

z. B. bei sprechen, stehen

VIËTOR (1890a, 22–23)

Belege in dialektalen Quellen KRÜGER (1843, 19) WALTHER (1849, 3) JELLINGHAUS (1889, 56) HOOPMANN (1893, 7–8) GRIMME (1922, 39 u. 48) WALTHER (1849, 3) DIEDERICHS (1884, 20) [GRIMME (1922, 48)] [KRÜGER (1843, 18)] [WALTHER (1849, 3)] [JELLINGHAUS (1889, 54)] [GRIMME (1922, 44)]

VIËTOR (1890a, 23)

WALTHER (1849, 3) GRIMME (1922, 35–37)

VIËTOR (1890a, 23)

WALTHER (1849, 3) HOOPMANN (1893, 9) GRIMME (1922, 49)

VIËTOR (1890a, 24)

KRÜGER (1843, 25) WALTHER (1849, 3) HOOPMANN (1893, 7) GRIMME (1922, 50)

Tab. 14: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Segeberg

Das landschaftliche Hochdeutsch Segebergs ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch die Bewahrung typisch nordniederdeutscher dialektaler Merkmale. Hierzu zählen alle genannten Merkmale des Vokalismus und die meisten des Konsonantismus. Mit der anlautenden Deaffrizierung von [p͡f] weist das landschaftliche Hochdeutsch zudem ein Merkmal nicht-dialektalen Ursprungs auf, dessen Ursache in überregionalen Ausgleichsprozessen bzw. Aussprachevereinfachungen zu sehen ist. Zudem zeichnet sich in den untersuchten Daten bei einem Variationsphänomen (Bewahrung von wgm. /s/ vor p und t) ein Wandel ab, bei der die auf den Dialekt zurückgehende Variante durch die der frühen Normierungsversuche bzw. des späteren Standards langsam abgelöst zu werden scheint.

5.3.8 Flensburg Den Fragebogen zu Flensburg in der Region Schleswig hat ein Informant namens Dr. KADLER gemeinsam mit dem Primaner J. LASSEN ausgefüllt (vgl. VIËTOR 1890a, 11). Flensburg liegt im äußersten Norden des Nordniederdeutschen und war ebenso wie die anderen nordschleswigschen Städte ursprünglich eine dänische

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

111

Siedlung.162 Während der Zeit der Hanse zogen immer mehr niederdeutsche Kaufleute und Handwerker in diese Siedlungen, so dass sich das Deutsche durchsetzen konnte. Bereits im Mittelalter hat die Herrschaft des holsteinischen Adels auf der dänischen Halbinsel viele niederdeutsche Bauern ins Land gezogen, so dass sich ein deutsch-dänisches Mischgebiet entwickelte (vgl. JØRGENSEN 1954, 5). Das Niederdeutsche wurde im 16. Jahrhundert als Sprache der Regierung und im 17. Jahrhundert in den Gerichten, der Kirche und der Schule durch das Hochdeutsche ersetzt. Dadurch konnte das Hochdeutsche auch maßgeblichen Einfluss auf die gebildete Umgangssprache nehmen, wie JØRGENSEN betont (vgl. 1954, 6).163 In Flensburg ist mit dem vollständigen Verschwinden der dänischen Mundart im 19. Jahrhundert zu rechnen.

Karte 9: VIËTOR’scher Erhebungsort Flensburg (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Zur Überprüfung der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch wurden die folgenden dialektalen Quellen verwendet: KRÜGER (1843), WALTHER (1849), WASSERZIEHER (1892), SIEVERS (1914) und GRIMME (1922). Vokalismus: –

Hebung von [aː] und [a]. Sowohl kurzes [a] als auch langes [aː] werden bei VIËTOR (1890a, 12, etwa in Adler und satt) als „tief“ bzw. „gutt[ural]“164 beschrieben. Die Hebung bzw. Verdumpfung kann als Merkmal dialektalen Ursprungs im landschaftlichen Hochdeutsch bestätigt werden.

162 FOERSTE (vgl. 1954, 2037) beschreibt das Schleswigsche als ein „lautlich vielfach archaisches“ Niederdeutsch mit vielen hochdeutschen, friesischen und jütischen „Einsprengseln“. 163 Zum Wechsel vom Nieder- zum Hochdeutschen in Flensburg vgl. auch SCHÜTT (1919). 164 Zur Identifizierung des Variationsphänomens aufgrund der VIËTOR’schen Bezeichnungen vgl. Kapitel 5.3.1.

112 –











5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Palatales [a]. Das landschaftliche Hochdeutsch scheint zudem eine vorverlagerte Variante von kurzem [a] zu kennen, die auch aus dem Dialekt stammt. Eine systematische Verteilung dieser palatalen Formen im Vergleich zu den gehobenen Varianten lässt sich bei VIËTOR (vgl. 1890a, 12, genannt etwa in Kanone) jedoch nicht ausmachen und kann daher hier nicht näher beschrieben werden. Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Während der Dialekt in der Regel Varianten mit kurzem Stammvokal (z. B. Rad oder Glas) hat, notiert der VIËTOR’sche Informant die Kürze für das landschaftliche Hochdeutsch lediglich für mag, magst und nach (vgl. VIËTOR 1890a, 12). Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Die dialektal nicht vorhandene Differenzierung von /eː/ und /ɛː/ (vgl. z. B. SCHIRMUNSKI 1962, 255) findet ihren Niederschlag im landschaftlichen Hochdeutsch. Sie zeigt sich durch eine generelle Unsicherheit hinsichtlich der Distribution der beiden langen e-/äLaute, die in VIËTOR (1890a, 13–14) durch eine „halboffene“ Qualität (etwa in essen) zum Ausdruck gebracht wird. Zum anderen werden aber auch Hebungen von [ɛː] und Senkungen von [eː] realisiert, die ebenfalls auf dialektaler Grundlage begründbar sind. Diphthongierung von /eː/. Mit der Diphthongierung von langem geschlossenen /eː/ zu [a͡ɪ] liegt ein Phänomen dialektalen Ursprungs im landschaftlichen Hochdeutsch vor (in VIËTOR 1890a, 13 z. B. in See). Senkung von [ɪ]. Bei der Senkung von [ɪ] zu [e] handelt es sich um ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch dialektalen Ursprungs. Zu Beginn der mittelniederdeutschen Zeit tritt neben die Dehnung der alten Kurzvokale auch eine Senkung dieser (unter anderem i >ē, u >ō) (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 253).165 Aus der Schriftsprache werden die gesenkten Formen im 16. Jahrhundert weitgehend verdrängt. In den Dialekten und auch im landschaftlichen Hochdeutsch (hier lexemgebunden in Lippe und Rinne, vgl. VIËTOR 1890a, 15) bleiben sie aber zum Teil erhalten. Rundung von [ɪ]. Die bei VIËTOR (1890a, 15; Kursivierung im Original) als „nach ü neigd.“ beschriebene Rundung von [ɪ] in einigen Lexemen (z. B. wirr, Liste, Kissen oder Zitat) kann als ursprünglich dialektales Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch bestätigt werden. Generell findet sich dieses Variationsphänomen insbesondere in Gebieten mit erhaltener Umlautrundung und ist damit vor allem im Niederdeutschen präsent. Hervorgerufen wird die „historisch unberechtigte Rundung“ (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 207) hauptsächlich in der Lautumgebung von mit Lippenrundung gebildeten Konsonanten. Bisweilen tritt das von WIESINGER auf das 13. Jahrhundert datierte Phänomen aber auch unabhängig vom Lautcharakter benachbarter Konsonanten auf.166

165 Zur Verbreitung dieses Lautwandelphänomens in den deutschen Dialekten vgl. WIESINGER (1983d), der die Senkung ebenfalls für das Niederdeutsche beschreibt. 166 Vgl. WIESINGER (1983b, 1103–1104) sowie SCHIRMUNSKI (1962, 207–208).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch –



113

Senkung von [uː] und [ʊ]. Die Reflexe der Senkung des mnd. Kurzvokals u zu o sind bei VIËTOR (1890a, 16–17; Kursivierung im Original) zum Teil explizit benannt („nach o neigd.“, etwa in Mutter) und zum Teil durch eine „halboffene“ Qualität (etwa in gut) angegeben.167 Damit bleibt auch dieses dialektale Phänomen im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten. Vorverlagerung/Hebung von in Nebensilben. Bei VIËTOR (1890a, 14) wird für in der Nebensilbe ein „ä-laut“ angegeben, also eine sehr offene und vordere Variante der r-Vokalisierung. Zwar finden sich in den zeitgenössischen Dialektgrammatiken Belege für r-Vokalisierungen, allerdings nicht in vorverlagerter bzw. gehobener Variante. Bei SCHIRMUNSKI (vgl. 1962, 373) wird das Phänomen allerdings als dialektal und typisch niederdeutsch beschrieben. Zudem wird es in jüngeren Untersuchungen zum Regiolekt immer wieder aufgeführt (vgl. z. B. LAUF 1994, 43; TRENSCHEL 2000, 111; LAMELI 2004, 229–231 oder jüngst KEHREIN 2012, 297), jedoch lauthistorisch nicht näher beschrieben. Es bleibt also festzuhalten, dass es sich bei der vorverlagerten bzw. gehobenen Variante der r-Vokalisierung in der Nebensilbe um ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch handelt. Sein Ursprung im Dialekt kann aufgrund der Quellenlage nicht einwandfrei nachgewiesen werden. Möglicherweise beruht es auf Ausgleichsprozessen, die sich allerdings auf das niederdeutsche Sprachgebiet beschränkten, wie die Angaben in der Literatur zur Verbreitung des Merkmals nahelegen. Variationsphänomen Hebung von [aː] und [a] z. B. bei Adler, satt

Palatales [a]

z. B. bei Kanone

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1890a, 12)

KRÜGER (1843, 22) WALTHER (1849, 2) SIEVERS (1914, 10) GRIMME (1922, 25)

VIËTOR (1890a, 12)

KRÜGER (1843, 22) WALTHER (1849, 2) SIEVERS (1914, 9) GRIMME (1922, 16) KRÜGER (1843, 19)

VIËTOR (1890a, 12)

z. B. bei mag, nach

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei essen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1890a, 13–14)

SIEVERS (1914, 65) GRIMME (1922, 22 u. 25) KRÜGER (1843, 23) WALTHER (1849, 2) SIEVERS (1914, 8–9 u. 43–48) GRIMME (1922, 29)

167 Zudem wird an einer Stelle die Hebung von [oː] (vgl. VIËTOR 1890a, 16) genannt, was mit dem hier behandelten Phänomen in Zusammenhang steht.

114

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen Diphthongierung von /eː/ z. B. bei See

Senkung von [ɪ] bei Lippe, Rinne

Rundung von [ɪ]

z. B. bei wirr, Kissen

Senkung von [uː] und [ʊ] z. B. bei Mutter, gut

Vorverlagerung/Hebung von in Nebensilben bei

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1890a, 13)

KRÜGER (1843, 24) WALTHER (1849, 2) SIEVERS (1914, 8)

VIËTOR (1890a, 14)

KRÜGER (1843, 23) WALTHER (1849, 2) WASSERZIEHER (1892, 563) SIEVERS (1914, 8) GRIMME (1922, 26)

VIËTOR (1890a, 15)

KRÜGER (1843, 21) SIEVERS (1914, 49) GRIMME (1922, 22)

VIËTOR (1890a, 16–17)

VIËTOR (1890a, 14)

KRÜGER (1843, 20) WALTHER (1849, 2) WASSERZIEHER (1892, 563) SIEVERS (1914, 67) GRIMME (1922, 30) [KRÜGER (1843)] [WALTHER (1849)] [GRIMME (1922)] [SIEVERS (1914)]

Tab. 15: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Flensburg

Konsonantismus: –







In- und auslautende g-Spirantisierung. Bei der spirantischen Realisierung des Phonems /g/ sowohl in medialer als auch in finaler Position handelt es sich um ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch. Neben den Formen mit Frikativ werden bei VIËTOR (etwa in leugne und Sieg, vgl. 1890a, 20) auch Varianten mit Plosiv aufgeführt (etwa bei segle und Tag) – die Verteilung der beiden Formen folgt dabei keiner erkennbaren Systematik. Dialektal finden sich für die g-Spirantisierung zahlreiche Belege, wobei die älteren Quellen (KRÜGER 1843 und WALTHER 1849) nur solche für den Auslaut nennen. Lenisierung von [k]. Die Konsonantenschwächung des stimmlosen velaren Plosivs [k] ist Teil des landschaftlichen Hochdeutsch. Das dialektal gestützte Phänomen wird bei VIËTOR (1890a, 21; Kursivierung im Original) als „[…] schwach, fast = g̊ […]“ beschrieben (etwa bei konnte). Lenisierung von [p]. Ebenso wie [k] tritt auch der stimmlose bilabiale Plosiv [p] in lenisierter Variante im landschaftlichen Hochdeutsch auf und bleibt somit als dialektales Merkmal erhalten (z. B. in Pein oder Raupe, vgl. VIËTOR 1890a, 22). Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Im Anlaut wird [p͡f] als einfache Spirans [f] realisiert (etwa in Pferd, vgl. VIËTOR 1890a, 22). Ebenso wie in den bisher besprochenen niederdeutschen Erhebungsorten handelt es sich auch hier nicht um ein dialektales Merkmal (der Dialekt hat den einfachen Plosiv [p]),

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch









115

sondern um eines auf überregionalen Ausgleichsprozessen bzw. auf Aussprachevereinfachungen beruhendes. r-Vokalisierung. Die Vokalisierung von /r/ am Wortende nach Vokal, vor [t] und in der unbetonten Endsilbe (etwa in Ohr, hart oder Feuer, vgl. VIËTOR 1890a, 23) kann als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch trotz der bereits thematisierten schwierigen Verschriftung dieses Phänomens (vgl. Kapitel 5.3.1) anhand der dialektalen Quellen bestätigt werden. Desonorisierung von [z]. Die bei VIËTOR (etwa für so oder Rose, 1890a, 23; Kursivierung im Original) als „Charakteristische neigung, s und sch nur stimmlos zu sprechen“ bezeichnete Desonorisierung von [z] lässt sich als dialektal basiertes Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch bestätigen. Bewahrung /s/ vor p und t. Der stimmlose alveolare Frikativ [s] bleibt vor bilabialem und alveolarem Plosiv als ursprünglich dialektales Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten (z. B. in sprechen und stehen, vgl. VIËTOR 1890a, 24). Lenisierung von [t]. Ebenso wie die übrigen stimmlosen Konsonanten wird auch alveolares [t] lenisiert (z. B. in teuer oder retten, vgl. VIËTOR 1890a, 25). Die dialektale Konsonantenschwächung erfasst demnach alle stimmlosen Plosive. Variationsphänomen

Beleg im Fragebogen

In- und auslautende g-Spirantisierung

VIËTOR (1890a, 20)

KRÜGER (1843, 19) WALTHER (1849, 3) WASSERZIEHER (1892, 563) GRIMME (1922, 39 u. 48)

VIËTOR (1890a, 21)

KRÜGER (1843, 19) SIEVERS (1914, 49) GRIMME (1922, 34)

VIËTOR (1890a, 22)

KRÜGER (1843, 19) SIEVERS (1914, 38) GRIMME (1922, 25)

VIËTOR (1890a, 22)

[KRÜGER (1843, 18)] [WALTHER (1849, 3)] [GRIMME (1922, 44)]

VIËTOR (1890a, 23)

WALTHER (1849, 3) SIEVERS (1914, 8–9) GRIMME (1922, 33)

VIËTOR (1890a, 23)

WALTHER (1849, 3) WASSERZIEHER (1892, 563) SIEVERS (1914, 15) GRIMME (1922, 49)

VIËTOR (1890a, 24)

KRÜGER (1843, 25) WALTHER (1849, 3) WASSERZIEHER (1892, 563) SIEVERS (1914, 51) GRIMME (1922, 40–41)

z. B. bei leugne, Sieg

Lenisierung von [k] z. B. bei konnte

Lenisierung von [p] z. B. bei Pein, Raupe

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung

z. B. bei Ohr, hart, Feuer

Desonorisierung von [z] z. B. bei so, Rose

Bewahrung /s/ vor p und t

z. B. bei sprechen, stehen

Belege in dialektalen Quellen

116

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen Lenisierung von [t] z. B. bei teuer, retten

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1890a, 25)

Belege in dialektalen Quellen KRÜGER (1843, 25) SIEVERS (1914, 48) GRIMME (1922, 50)

Tab. 16: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Flensburg

Beim landschaftlichen Hochdeutsch Flensburgs fällt zunächst die Vielzahl der rekonstruierten Variationsphänomene sowohl im Bereich des Vokalismus als auch des Konsonantismus auf. Die Merkmale haben dabei im Wesentlichen einen dialektalen Ursprung (vgl. etwa die diphthongierten Varianten von /eː/ oder die Konsonantenschwächungen). Aufgrund der großen Anzahl rekonstruierter dialektaler Varianten ist im Vergleich zu den bisher behandelten Erhebungsorten vermutlich von einem konservativeren bzw. dialektnäheren landschaftlichen Hochdeutsch in Flensburg auszugehen. Neben den Phänomenen dialektalen Ursprungs konnten für das dortige landschaftliche Hochdeutsch auch zwei weitere Merkmale rekonstruiert werden. Dabei handelt es sich zum einen um die in überregionalen Ausgleichsprozessen begründete anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Zum anderen um die Vorverlagerung/Hebung von in Nebensilben, deren Ursprung bislang nicht abschließend geklärt werden konnte.

5.3.9 Ostfriesland Den Fragebogen für die Region Ostfriesland (es wird kein genauer Ort genannt) hat ein Informant namens Dr. KADLER gemeinsam mit dem Oberlehrer METGER ausgefüllt. METGER stamme zwar, so VIËTORS einleitende Worte, aus Ostfriesland, wohne allerdings seit einigen Jahren in Flensburg, was sich auf seine Sprache ausgewirkt habe (vgl. VIËTOR 1890a, 11). Um dies zu verdeutlichen, wurde in die Benennung des Fragebogens neben „Ostfriesland“ auch „Schleswig“ aufgenommen. Für die nachfolgende Rekonstruktion muss diese Abweichung des Wohnortes bei VIËTORS Informanten dann berücksichtigt werden, wenn sich ein Variationsphänomen nicht aus dem Dialekt in der Region Ostfriesland bestätigen lässt. Zur Überprüfung wurden die folgenden dialektalen Quellen hinzugezogen: KRÜGER (1843), WALTHER (1849), HOBBING (1879) und SCHÖNHOFF (1908).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

117

Karte 10: VIËTOR’sche Erhebungsregion Ostfriesland (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Vokalismus: –









Hebung von [aː] und [a]. Langes [aː] erscheint im landschaftlichen Hochdeutsch stets in einer artikulatorisch gehobenen Variante („Verdumpfung“) (etwa in Saat oder Adler). Bei kurzem [a] komme die Hebung lediglich in zwei der abgefragten Lemmata (an und man) vor (vgl. VIËTOR 1890a, 12). Die gehobenen Varianten haben ihren Ursprung im Dialekt. Palatales [a]. Neben den beiden gehobenen Formen von [a] wird die Mehrzahl der kurzen a-Laute vorverlagert artikuliert, was ebenfalls aus dem Dialekt in das landschaftliche Hochdeutsch übernommen wurde (etwa in satt oder das, vgl. VIËTOR 1890a, 12). Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Die Kürze des Vokals in unflektierten Einsilblern wie Rad, Schlag oder Glas ist auch hier ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch dialektalen Ursprungs (vgl. VIËTOR, 1890a, 12). Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Neben Hebungen von [ɛː] und Senkungen von [eː] vor /r/ scheint im landschaftlichen Hochdeutsch eine generelle Unsicherheit hinsichtlich der Distribution der e-/ä-Laute zu bestehen, wie an den Qualitätsbeschreibungen „halboffen“ oder „fast geschl[ossen]“ (etwa bei säen oder sehen, VIËTOR 1890a, 13–14) erkennbar ist. Anhand der e-/ä-Laute des Dialektes lässt sich diese Unsicherheit erklären, wie auch bereits in den voranstehenden niederdeutschen Untersuchungsorten diskutiert wurde. Diphthongierung von /eː/. Als typisches dialektales Merkmal wird die Diphthongierung von /eː/ zu [a͡ɪ] auch ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen (z. B. in See, vgl. VIËTOR 1890a, 13–14).

118

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen Hebung von [aː] und [a] z. B. bei Adler, man

Palatales [a]

z. B. bei satt, das

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1890a, 12)

KRÜGER (1843, 22) WALTHER (1849, 2) HOBBING (1879, 10) SCHÖNHOFF (1908, 14)

VIËTOR (1890a, 12)

KRÜGER (1843, 22) WALTHER (1849, 2) HOBBING (1879, 10) SCHÖNHOFF (1908, 20) KRÜGER (1843, 20)

VIËTOR (1890a, 12)

z. B. bei Rad, Schlag

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei säen, sehen

Diphthongierung von /eː/ z. B. bei See

Belege in dialektalen Quellen

HOBBING (1879, 9) SCHÖNHOFF (1908, 44 u. 47)

VIËTOR (1890a, 13–14)

KRÜGER (1843, 23) WALTHER (1849, 2) HOBBING (1879, 9) SCHÖNHOFF (1908, 13)

VIËTOR (1890a, 13)

KRÜGER (1843, 24) WALTHER (1849, 2) HOBBING (1879, 10–12) SCHÖNHOFF (1908, 88)

Tab. 17: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Ostfriesland

Konsonantismus: –





In- und auslautende g-Spirantisierung. Fast durchgängig in medialer Position sowie vollständig in finaler wird das /g/-Phonem im landschaftlichen Hochdeutsch spirantisch realisiert (z. B. in leugne, folgt oder Tag, vgl. VIËTOR 1890a, 20). Diese Spirantisierungen finden sich ebenfalls im Dialekt. Plosivische Lösung von als [ŋk]. Explizit nach der lautlichen Realisierung gefragt, geben VIËTORS Informanten zunächst an, [ŋ] zu artikulieren. Wohingegen sie bei der Frage nach einer Verwechslung von /g/ und /k/ vermerken, dass das Lemma jung „stark mit k“ gesprochen werde (VIËTOR 1890a, 21 sowie 22). Daher erscheint die Untersuchung des genannten Phänomens gerechtfertigt und kann anhand der dialektalen Quellenlage auch als ein aus dem Dialekt stammendes bestätigt werden. Die in DIEDERICHS (vgl. 1884, 20) für diese Region dialektal belegte Realisation von Velarnasal mit anschließendem Frikativ168 kann für das landschaftliche Hochdeutsch nicht (mehr) nachgewiesen werden. Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Die Realisation von [p͡f] als einfache Spirans [f] (etwa bei „nachl[ässiger] ausspr[ache]“ in Pferd, VIËTOR 1890a,

168 Er begründet diese Variante des sogenannten „westfälischen Dreiecks“ (DIEDERICHS 1884, 22) mit der frikativischen Aussprache von /g/ in diesem Gebiet, die sich auch auf die Aussprache der Graphemverbindung ausgewirkt habe.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch





119

22) ist, wie auch in den übrigen bislang behandelten niederdeutschen Erhebungsorten, ein Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch mit Ursprung in überregionalen Ausgleichsprozessen (der Dialekt hat [p]). Allerdings finden sich hier in der jüngsten konsultierten Dialektgrammatik (vgl. SCHÖNHOFF 1908, 25) Belege für die einfache Spirans [f] und damit ein Hinweis auf einen sich auch im Dialekt andeutenden Wandel. r-Vokalisierung. In der unbetonten Nebensilbe ist das vokalisierte Allophon von /r/ Teil des landschaftlichen Hochdeutsch (etwa in Feuer, vgl. VIËTOR 1890a, 23). Der Ursprung der vokalisierten Variante im Dialekt ist zeitgenössisch belegt. Bewahrung /s/ vor t. Während sich vor [p] im landschaftlichen Hochdeutsch bereits entgegen des alten Dialektes der postalveolare Frikativ [ʃ] durchgesetzt zu haben scheint, stehen vor [t] im landschaftlichen Hochdeutsch zwei Varianten ([s] und [ʃ]) nebeneinander (etwa bei stehen, vgl. VIËTOR 1890a, 24). Hier scheint sich demnach der Abbau eines ursprünglich dialektalen Merkmals im landschaftlichen Hochdeutsch beobachten zu lassen. Variationsphänomen

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen KRÜGER (1843, 19) WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 18) SCHÖNHOFF (1908, 35)

In- und auslautende g-Spirantisierung

VIËTOR (1890a, 19–20)

Plosivische Lösung von finalem als [ŋk]

VIËTOR (1890a, 21 u. 22)

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

VIËTOR (1890a, 22–23)

[KRÜGER (1843, 21)] [WALTHER (1849, 3)] [HOBBING (1879, 11)] SCHÖNHOFF (1908, 25)

VIËTOR (1890a, 23)

WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 24) SCHÖNHOFF (1908, 37)

VIËTOR (1890a, 24)

KRÜGER (1843, 25) WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 23) SCHÖNHOFF (1908, 152)

z. B. bei leugne, folgt, Tag

bei jung

z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung z. B. bei Feuer

Bewahrung /s/ vor t

z. B. bei stehen

WALTHER (1849, 3) SCHÖNHOFF (1908, 170)

Tab. 18: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Ostfriesland

Für das landschaftliche Hochdeutsch in der Region Ostfriesland konnten sowohl vokalische als auch konsonantische Variationsphänomene rekonstruiert werden. Diese haben größtenteils ihren Ursprung im Dialekt der Region (vgl. etwa die Hebung von [aː] oder die in- und auslautende g-Spirantisierung). Das ViëtorKorpus liefert allerdings keine Hinweise auf linguistische Merkmale, die keinen Ursprung im ostfriesischen Dialekt hingegen aber in dem von Flensburg haben. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass der VIËTOR’sche Informant

120

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

bedingt durch seinen Umzug nach Flensburg Varianten in seinem landschaftlichen Hochdeutsch realisiert hat, die erst durch die neue sprachliche Umgebung entstanden sind. Das Korpus liefert allerdings einen Hinweis auf den partiellen Abbau einer typisch ostfriesischen Variante eines Variationsphänomens. So kann hier eine plosivische Lösung von finalem als [ŋk] rekonstruiert werden. Charakteristisch für das Ostfriesische wäre eine frikativische Endung (vgl. auch Kapitel 5.3.10). Hier lässt sich also gut der Abbau einer kleinräumigen zugunsten einer großräumigeren, aber gleichwohl noch „standardabweichenden“ Variante beobachten. Darüber hinaus finden sich im Viëtor-Korpus keinerlei weitere Hinweise auf Phänomene, die aufgrund der neuen sprachlichen Umgebung des Informanten bzw. entsprechenden Synchronisierungsprozessen abgebaut wurden bzw. im Abbau begriffen waren. Da zumindest vereinzelte „Spuren“ auf solche erwartbar wären, kann davon ausgegangen werden, dass der Informant trotz seines Wohnortwechsels verlässliche Angaben zum landschaftlichen Hochdeutsch Ostfrieslands gemacht hat. Neben den ursprünglich dialektalen Variationsphänomenen, die sich im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten haben, konnte, ebenso wie in den anderen Untersuchungsorten auch, die nicht-dialektale anlautende Deaffrizierung von [p͡f] rekonstruiert werden. Außerdem hervorzuheben ist der zu beobachtende Abbau eines ursprünglich dialektalen Merkmals im landschaftlichen Hochdeutsch. Während sich die Variante [ʃp] bereits gegen das dialektale [sp] durchgesetzt hat, sind für /s/ vor [t] im landschaftlichen Hochdeutsch die beiden Varianten [ʃt] und [st] nebeneinander belegt.169

5.3.10 Westliches Ostfriesland Für die Region westliches Ostfriesland hatte VIËTOR mehrere Informanten: Dr. HEINRICH TJADEN und Dr. HINDERK GROENEVELD haben einen Fragebogen zusammen ausgefüllt. Ergänzend werden auch Angaben von einem Informanten namens cand. phil. GERHARD BUDDE aufgeführt, der VIËTOR eine Übersicht über die Aussprache des Schriftdeutschen im Ort Leer zur Verfügung gestellt hat. Eine exakte geographische Festlegung, wo die Region westliches Ostfriesland und damit auch der Geltungsbereich dieser Angaben zum landschaftlichen Hochdeutsch endet, ist nicht leicht zu treffen. Die zeitgenössischen Dialektgrammatiken bieten hierfür keine Entscheidungshilfe. Dies hat auch zur Folge, dass für die Region westliches Ostfriesland und für die Region Ostfriesland (vgl. das vorangehende Kapitel) dieselben Dialektgrammatiken zur Überprüfung der Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch hinzugezogen wurden (i. e. KRÜGER 1843, WALTHER 1849, HOBBING 1879 und SCHÖNHOFF 1908). Die Validierungsergebnisse sind bei übereinstimmenden Variationsphänomenen da169 Dieser Abbau lässt sich nicht auf den Einfluss des neuen Wohnortes des Informanten zurückführen (in Flensburg waren die dialektalen Varianten noch stabil belegt, vgl. Kapitel 5.3.8).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

121

her identisch. Aufgrund der separaten Veröffentlichung der beiden Fragebogen durch VIËTOR erscheint die getrennte Betrachtung der beiden ostfriesischen Regionen dennoch gerechtfertigt. Für die sprachliche Situation im westlichen Teil Ostfrieslands bleibt festzuhalten, dass hier bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein Niederländisch die dominierende Predigtsprache war. In der mündlichen Kommunikation wurde allerdings weitgehend das Niederdeutsche verwendet. Es gibt außerdem ab 1800 Belege dafür, dass sich das Emder Bürgertum zunehmend des Hochdeutschen in der Kommunikation bediente, was als sozialer Prestigemarker gegenüber den unteren Ständen und ihrer Verwendung des Niederdeutschen gesehen werden kann (vgl. REERSHEMIUS 2004, 25–26).

Karte 11: VIËTOR’sche Erhebungsregion westliches Ostfriesland (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Vokalismus: –





Hebung von [aː] und [a]. Ohne erkennbares System erscheinen nach den Angaben in VIËTOR (vgl. 1888a, 97, etwa bei Arzt oder an) gehobene („verdumpfte“) Formen sowohl bei langem [aː] als auch bei kurzem [a] im landschaftlichen Hochdeutsch. Die gehobenen Varianten haben ihren Ursprung im Dialekt. Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Dialektal gestützt bleibt der kurze Stammvokal in unflektierten Einsilblern wie Bad, Glas oder Schlag auch im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten (vgl. VIËTOR 1888a, 97). Tendenziell inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Während im Dialekt ein Zusammenfall der langen e-/ä-Laute stattgefunden hat, tritt im landschaftlichen Hochdeutsch eine Hebung von [ɛː] in einigen Lemmata auf (etwa in säen, vgl. VIËTOR 1888a, 98). Die bereits angesprochene Tendenz im Niederdeutschen in höheren Sprechlagen die Phonemopposition von /eː/ und /ɛː/ zugunsten von geschlossenem [eː] aufzugeben (vgl. beispielsweise GERN-

122

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

1974, 230), findet sich also bereits im untersuchten Zeitraum im landschaftlichen Hochdeutsch. Die Bezeichnung des Phänomens als „tendenziell inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute“ erscheint insofern aufgrund der nicht durchgängig durchgeführten Hebung gerechtfertigt. Diphthongierung von /eː/. Im Gegensatz zu den anderen niederdeutschen Erhebungsorten scheint die Diphthongierung von /eː/ zu [a͡ɪ] hier entweder im Abbau begriffen oder negativer Bewertung als (dialektales) Phänomen unterworfen zu sein, da es bei VIËTOR (1888a, 98, etwa bei See) mit dem Kommentar versehen ist, es käme „auf d[em] lande zuweilen“ vor. Gleichwohl ist das Merkmal mit dialektalem Ursprung (noch) im landschaftlichen Hochdeutsch vorhanden. Entrundung von [ɔ͡ɪ]. Der Diphthong [ɔ͡ɪ] wird im landschaftlichen Hochdeutsch häufig entrundet ([a͡ɪ]) realisiert (etwa in Freude, vgl. VIËTOR 1888a, 100), was anhand der zeitgenössischen Grammatiken auch für den Dialekt bestätigt werden kann. ENTZ





Variationsphänomen Hebung von [aː] und [a] z. B. bei Arzt, an

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1888a, 97)

KRÜGER (1843, 22) WALTHER (1849, 2) HOBBING (1879, 10) SCHÖNHOFF (1908, 14)

VIËTOR (1888a, 97)

KRÜGER (1843, 20) HOBBING (1879, 9) SCHÖNHOFF (1908, 44 u. 47)

z. B. bei Bad, Glas

Tendenziell inkonsistente Distinktion der e-/äLaute

VIËTOR (1888a, 98)

z. B. bei säen

Diphthongierung von /eː/ z. B. bei See

Entrundung von [ɔ͡ɪ] z. B. bei Freude

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888a, 98)

VIËTOR (1888a, 100)

KRÜGER (1843, 23) WALTHER (1849, 2) HOBBING (1879, 9) SCHÖNHOFF (1908, 13) KRÜGER (1843, 24) WALTHER (1849, 2) HOBBING (1879, 10–12) SCHÖNHOFF (1908, 88) KRÜGER (1843, 20) WALTHER (1849, 2) SCHÖNHOFF (1908, 125)

Tab. 19: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch im westlichen Ostfriesland

Konsonantismus: –

Velarisierung von [ç]. Abweichend von den übrigen niederdeutschen Dialekten wird die Velarisierung von [ç] (und damit zugleich das Fehlen des palatalen stimmlosen Frikativs) in den zeitgenössischen Dialektquellen für Ostfriesland beschrieben. Im landschaftlichen Hochdeutsch bleibt die Velari-

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch















123

sierung gleichsam erhalten (z. B. bei Bäche oder sicher, vgl. VIËTOR 1888a, 104). Anlautende g-Spirantisierung. Als typisches dialektales Merkmal wird die initiale g-Spirantisierung auch ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen (etwa bei gut oder gleich, vgl. VIËTOR 1888a, 105). In- und auslautende g-Spirantisierung. Neben der anlautenden Position erfährt das /g/-Phonem auch in medialer und finaler Position durchgängige Spirantisierung (z. B. bei legal oder Tag, vgl. VIËTOR 1888a, 105–106). Die spirantisierten Varianten haben ihren Ursprung im Dialekt. Spirantische Lösung von finalem als [ŋx].170 Die von DIEDERICHS (vgl. 1884, 20) beschriebene Realisierung von Velarnasal mit anschließendem Frikativ ist hier auch im landschaftlichen Hochdeutsch belegt (etwa in bang oder Ding, vgl. VIËTOR 1888a, 108). Zwar sind, wie bereits in den zuvor beschriebenen Erhebungsorten erwähnt, die dialektalen Belege nicht sehr zahlreich, gleichwohl lässt sich das Phänomen als eines des alten Dialektes beschreiben. Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Im landschaftlichen Hochdeutsch wird die Affrikata [p͡f] als einfache Spirans [f] realisiert (z. B. in Pferd, vgl. VIËTOR 1888a, 109). Wie auch in den übrigen niederdeutschen Orten beschrieben, beruht dieses Phänomen auf überregionalen Ausgleichsprozessen und nicht auf dialektalem Einfluss. r-Vokalisierung. Nach Langvokal sowie in der Nebensilbe (z. B. in Ohr oder Feuer, vgl. VIËTOR 1888a, 109–110) tritt sowohl im Dialekt als auch im landschaftlichen Hochdeutsch ein vokalisiertes /r/-Allophon auf.171 Bewahrung /s/ vor p und t. Der stimmlose alveolare Frikativ [s] bleibt vor bilabialem und alveolarem Plosiv als ursprünglich dialektales Merkmal im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten (z. B. in sprechen und stehen, vgl. VIËTOR 1888a, 111). Bewahrung /s/ vor weiterer Konsonanz. Während in den übrigen behandelten Erhebungsorten der stimmlose alveolare Frikativ [s] nur vor p und t erhalten bleibt, ist hier für das landschaftliche Hochdeutsch der Erhalt auch vor weiterer Konsonanz belegt (z. B. in schlagen, schneiden oder schwimmen, vgl. VIËTOR 1888a, 111). Der lauthistorische Ursprung der Phänomene ist zwar gleich, dennoch erscheint eine gesonderte Thematisierung gerechtfertigt. Denn zum einen wird die Bewahrung von /s/ vor p und t durch die Schreibung gestützt (vgl. Kapitel 5.3.5) und zum anderen tritt die Bewahrung vor übriger Konsonanz nur im landschaftlichen Hochdeutsch des westlichen Ostfrieslands auf, welches (wie am folgenden Phänomen ebenfalls zu sehen sein

170 Dieses linguistische Merkmal wird in den folgenden Cluster- und Implikationsanalysen aufgrund etymologischer Zusammengehörigkeit mit der plosivischen Lösung von finalem zusammengefasst. 171 DENKLER / ELSPASS (vgl. 2007, 95) finden das Merkmal auch in Briefen ostfriesischer Auswanderer im 19. Jahrhundert belegt.

124







5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

wird) wesentlich konservativer in der Bewahrung dialektaler Merkmale zu sein scheint, als die übrigen niederdeutschen Erhebungsorte.172 Bewahrung /sk/. Während sich in den hochdeutschen Dialekten das wgm. Konsonantencluster /sk/ zu [ʃ] entwickelt hat, bleibt es im Niederdeutschen (insbesondere im Westfälischen und Ostfriesischen) zum Teil erhalten (vgl. z. B. SMITS 2011, 120–125 oder NIEKERKEN 1957, 78).173 Dieses dialektale Merkmal ist hier auch im landschaftlichen Hochdeutsch sowohl im An- als auch im Auslaut belegt (etwa in schön oder Fisch, vgl. VIËTOR 1888a, 111).174 Lenisierung von [t]. Der stimmlose alveolare Plosiv [t] wird im landschaftlichen Hochdeutsch lenisiert. Die Konsonantenschwächung mit Ursprung im Dialekt wird bei VIËTOR (etwa bei teuer und Rat, 1888a, 111; Kursivierung im Original) mit „schwach“ und zum Teil einer „Verwechsl[ung] von t und d “ beschrieben. Deaffrizierung von [t͡s]. Diesem Merkmal liegt der gleiche Aussprachevereinfachungsprozess zugrunde wie der Deaffrizierung von [p͡f]. Während die dialektale Variante mit einfachem Plosiv ([t]) statt [t͡s] erscheint, ist im landschaftlichen Hochdeutsch [s] belegt (etwa in zwei, vgl. VIËTOR 1888a, 112), wie auch spätere Arbeiten zum Regiolekt bestätigen können (vgl. LAUF 1994, 199 oder MARTENS / MARTENS 1988, 124–125).175 Im Gegensatz zur Deaffrizierung von [p͡f] können die Analysen dieser Arbeit das Phänomen aber nicht als eines mit überregionaler Verbreitung ausweisen.

172 Natürlich spielt der jeweilige Informant als Gewährsmann eine Rolle als Einflussfaktor auf die Nennung bzw. Nichtnennung der untersuchbaren Variationsphänomene. Anders als bei eigenen (direkten oder indirekten) Erhebungen sind bei dem Rückgriff auf historische Korpora soziolinguistische Faktoren der Gewährspersonen nur bedingt kontrollierbar. 173 Die lauthistorische Entwicklung dieses Phänomens wird von SCHIRMUNSKI (1962, 362) folgendermaßen beschrieben: „sk > sx > šx > š zeigt die aufeinanderfolgenden Stufen in der Assimilation der germanischen Konsonantenverbindung, die letzten Endes š ergibt“. 174 DENKLER / ELSPASS (vgl. 2007, 95) können in Briefen ostfriesischer Auswanderer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts das Merkmal im privaten Schriftgebrauch belegen. 175 ELSPASS / DENKLER (vgl. 2003, 143) können das Merkmal auch in Briefen westfälischer und ostfriesischer (vgl. DENKLER / ELSPASS 2007, 94) Auswanderer im 19. Jahrhundert belegen und vermuten bedingt durch die frühe sprachliche Anpassung an das Hochdeutsche einen breiter ausgedehnten Geltungsbereich auf den norddeutschen Raum.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

Variationsphänomen

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888a, 104)

KRÜGER (1843, 27) HOBBING (1879, 25) SCHÖNHOFF (1908, 35)

VIËTOR (1888a, 105)

KRÜGER (1843, 19) WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 18) SCHÖNHOFF (1908, 35)

In- und auslautende g-Spirantisierung

VIËTOR (1888a, 105–106)

Spirantische Lösung von finalem als [ŋx]

KRÜGER (1843, 19) WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 18) SCHÖNHOFF (1908, 35)

VIËTOR (1888a, 108)

WALTHER (1849, 3) DIEDERICHS (1884, 20) SCHÖNHOFF (1908, 170)

VIËTOR (1888a, 108–109)

[KRÜGER (1843, 21)] [WALTHER (1849, 3)] [HOBBING (1879, 11)] SCHÖNHOFF (1908, 25)

VIËTOR (1888a, 109–110)

WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 24) SCHÖNHOFF (1908, 30)

Bewahrung /s/ vor p und t

VIËTOR (1888a, 111)

KRÜGER (1843, 25) WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 23) SCHÖNHOFF (1908, 152)

Bewahrung /s/ vor weiterer Konsonanz

VIËTOR (1888a, 111)

KRÜGER (1843, 25) WALTHER (1849, 3) HOBBING (1879, 23) SCHÖNHOFF (1908, 152)

VIËTOR (1888a, 111)

KRÜGER (1843, 26) WALTHER (1849, 7) HOBBING (1879, 23) SCHÖNHOFF (1908, 159)

VIËTOR (1888a, 111)

KRÜGER (1843, 25) SCHÖNHOFF (1908, 162)

VIËTOR (1888a, 112)

[KRÜGER (1843, 18)] [WALTHER (1849, 2)] [HOBBING (1879, 16)]

Velarisierung von [ç] z. B. bei Bäche, sicher

Anlautende g-Spirantisierung

z. B. bei gut, gleich

z. B. bei legal, Tag

z. B. bei bang, Ding

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung

z. B. bei Ohr, Feuer

z. B. bei sprechen, stehen

z. B. bei schlagen, schneiden

Bewahrung wgm. /sk/

z. B. bei schön, Fisch

Lenisierung von [t] z. B. bei teuer, Rat

Deaffrizierung von [t͡s] z. B. bei zwei

125

Tab. 20: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch im westlichen Ostfriesland

Für das landschaftliche Hochdeutsch der Region westliches Ostfriesland konnten zahlreiche Variationsphänomene rekonstruiert werden. Diese umfassen sowohl den Vokalismus als auch insbesondere den Konsonantismus. Dabei überwiegen diejenigen Merkmale, die auf Basis des Dialektes in das landschaftliche Hochdeutsch übernommen wurden, wie beispielsweise die Velarisierung von [ç] oder

126

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

die Hebung der a-Laute. Hervorhebenswert sind für diese Region die Bewahrung zum Teil sehr konservativer Phänomene des alten Dialektes auch in der Prestigevarietät, die für das landschaftliche Hochdeutsch der übrigen Erhebungsorte nicht rekonstruiert werden konnten (vgl. etwa die Bewahrung von wgm. /sk/). Darüber hinaus umfasst das landschaftliche Hochdeutsch des westlichen Ostfrieslands auch Phänomene, die keinen Ursprung im Dialekt haben (vgl. die Deaffrizierungen von [p͡f] sowie [t͡s]). Daneben lässt sich bei der Diphthongierung von /eː/ vermutlich der Abbau eines ursprünglich dialektalen Phänomens im landschaftlichen Hochdeutsch beobachten. Diese Ergebnisse für das westliche Ostfriesland können die gesonderte Betrachtung der Region (also keine Zusammenfassung mit den Angaben des Fragebogens zu Ostfriesland) rechtfertigen, da sie zum Teil erheblich von den rekonstruierten Variationsphänomenen Ostfrieslands abweichen.

5.3.11 Bad Ems Der sehr ausführlich ausgefüllte Fragebogen zu dem im Moselfränkischen176 liegenden Bad Ems von THEODOR MAXEINER wurde von VIËTOR ungekürzt abgedruckt. Zusätzlich zu den Angaben zur Lesesprache hat MAXEINER fast vollständige Angaben zum Dialekt gemacht. Demnach liegt für Bad Ems eine günstige Situation der Merkmalsüberprüfung vor, indem von demselben Informanten das komplette Varietätenspektrum dokumentiert ist (vgl. auch Kapitel 5.3.13). Da die Überprüfung von Merkmalen mit Daten aus der gleichen Quelle die Gefahr eines interpretatorischen Zirkelschlusses bergen kann, wurden weitere Dialektgrammatiken hinzugezogen (i. e. MAXEINER 1890b, BALDES 1895, LUDWIG 1906, FRISCH 1911, BACH 1921, FRINGS 1924, BACH 1930 und MÜLLER 1931).

176 Der gebürtige Bad Emser ADOLF BACH, der sich ausführlich mit den sprachlichen Verhältnissen seiner Heimat auseinandergesetzt hat, rechnet den dortigen Dialekt als zum „Mainzer Kulturkreis“ gehörend. Zu diesem zählen auch die westnassauischen Mundarten bis zur Lahn und das Hessische. Von diesem abzugrenzen sei der „Trierer Kulturkreis“, der zum Beispiel die Orte Koblenz und Arzbach umfasse (vgl. BACH 1930, 2).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

127

Karte 12: VIËTOR’scher Erhebungsort Bad Ems (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Vokalismus: –

– –



Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Eine generelle Unsicherheit hinsichtlich der Distribution der e-/ä-Laute zeigt sich bei VIËTORS Informant in einer fast durchgängigen Verwendung eines „Mittellautes“ bei den abgefragten Lemmata mit und (etwa bei setzen oder legen, VIËTOR 1890b, 123–124). Dialektal lässt sich diese Unsicherheit durch ein „Überangebot“ an e-/ä-Lauten erklären. Senkung von [iː]. Dialektal gestützt wird im landschaftlichen Hochdeutsch [iː] häufig gesenkt realisiert (z. B. bei Bibel, vgl. VIËTOR 1890b, 125–126). Fehlende Opposition von /oː/ und /ɔ/. Im landschaftlichen Hochdeutsch scheint Unsicherheit über die Verteilung von /oː/ und /ɔ/ zu herrschen, wie die häufige Benennung eines „Mittellautes“ bei VIËTOR (etwa in Ross oder Rose, 1890b, 126–127) nahelegt. Das dialektale „Überangebot“ an o-Lauten kann dies erklären. Tendenzielle Entrundung. Entrundete Varianten der vorderen gerundeten Vokale stehen im landschaftlichen Hochdeutsch neben entrundeten Varianten (Entrundung etwa bei Wörter, vgl. VIËTOR 1890b, 127). Der Dialekt hat durchgängige Entrundung. Dementsprechend wird hier ein dialektales Merkmal zum Teil ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen, wobei es im Abbau begriffen zu sein scheint.

128

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei setzen, legen

Senkung von [iː] z. B. bei Bibel

Fehlende Opposition von /oː/ und /ɔ/ z. B. bei Ross, Rose

Tendenzielle Entrundung z. B. bei Wörter

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1890b, 123–124)

MAXEINER (1890b, 123–124)177 BALDES (1895, 10) LUDWIG (1906, 8) FRISCH (1911, 3) MÜLLER (1931, 12)178

VIËTOR (1890b, 125–126)

MAXEINER (1890b, 125–126) BALDES (1895, 15 u. 22) LUDWIG (1906, 15) FRINGS (1924, 32) BACH (1930, 37) MÜLLER (1931, 23 u. 26)

VIËTOR (1890b, 126–127)

MAXEINER (1890b, 126–127) BALDES (1895, 10) LUDWIG (1906, 7) FRISCH (1911, 19) MÜLLER (1931, 12)

VIËTOR (1890b, 127)

MAXEINER (1890b, 127) BALDES (1895, 18 u. 20) LUDWIG (1906, 17–20) MÜLLER (1931, 44–45 u. 49–51)

Tab. 21: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Bad Ems

Konsonantismus: –





Phonemzusammenfall /b/ und /p/. Durch Konsonantenschwächung bedingt sind std. /b/ und /p/ in stimmloses [b̥] zusammengefallen (etwa bei Preis oder Raupe, vgl. VIËTOR 1890b, 128 und 134). Das dialektale Merkmal bleibt hier im landschaftlichen Hochdeutsch erhalten. Inlautende b-Spirantisierung. Intervokalisch sowie zwischen Vokal und Liquid (z. B. in aber, glaube, übrig ; VIËTOR 1890b, 128) wird /b/ spirantisch realisiert. Diese Varianten haben ihren Ursprung im Dialekt. Koronalisierung. Als typisches Merkmal unter anderem des Westmitteldeutschen wird auch im landschaftlichen Hochdeutsch der stimmlose palatale Frikativ [ç] durch einen stimmlosen koronalen Frikativ [ɕ] oder [ʆ] ersetzt (etwa in Bäche, vgl. VIËTOR 1890b, 128–129). Das in HERRGEN (1986) umfassend thematisierte Phänomen der Koronalisierung wird bei VIËTOR (1890b, 128 und 130) als „Zwischenlaut“ bezeichnet. Entsprechend der in HERRGEN (vgl. 1986, 106) nachgezeichneten Entwicklung des Phänomens ist in den älteren Dialektgrammatiken (vgl. BALDES 1895 und LUDWIG 1906) kein Beleg zu finden. Ausgehend vom „Neuen Substandard“ (HERRGEN

177 Hierbei handelt es sich um die Angaben MAXEINERS zum Dialekt in VIËTOR (1890b). 178 Das etwas zu spät liegende Publikationsdatum von MÜLLER (1931) wird hier in Kauf genommen, um eine ausreichend große Menge an Grammatiken zur Validierung zur Verfügung zu haben.

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch













129

1986, 106) breitet sich die Koronalisierung in der Folge auch auf die Basisdialekte aus und ist daher in den späteren Grammatiken ebenfalls belegt (vgl. BACH 1921 oder MÜLLER 1931). Phonemzusammenfall /d/ und /t/. Der dialektale Phonemzusammenfall von /d/ und /t/, dessen Ursprung im Dialekt liegt, ist ebenfalls Teil des landschaftlichen Hochdeutsch (etwa in retten, vgl. VIËTOR 1890b, 129–130 und 136–137). In- und auslautende g-Spirantisierung. Sowohl medial als auch final wird das Phonem /g/ im landschaftlichen Hochdeutsch ebenso wie im Dialekt spirantisch realisiert (z. B. in Tage oder Sieg, vgl. VIËTOR 1890b, 131–132). Lenisierung von [k]. Lediglich anlautend vor Vokal tritt das Phonem /k/ zum Teil als stimmloser aspirierter Plosiv auf. In allen anderen Lautumgebungen fällt /k/ mit desonorisiertem [g̊] zusammen, welches zudem bei Lemmata mit im Anlaut realisiert wird (etwa bei Fackel oder gut, vgl. VIËTOR 1890b, 131–133). Die Konsonantenschwächung wird als dialektales Phänomen ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen. Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Im Anlaut wird die Affrikata als einfache Spirans [f] realisiert (etwa bei Pferd, vgl. VIËTOR 1890b, 134–135). Entgegen des Dialektes, der einfachen bilabialen Plosiv [p] hat, beruht die labiodentale Spirans [f], wie bereits in den vorangehenden Kapiteln erläutert, auch in Bad Ems auf überregionalen Ausgleichsprozessen. r-Vokalisierung. Nach Vokal sowie in der unbetonten Nebensilbe wird im landschaftlichen Hochdeutsch ebenso wie im Dialekt eine vokalisierte r-Variante realisiert (z. B. in Ohr oder Feuer, vgl. VIËTOR 1890b, 135). Desonorisierung von [z]. Der stimmhafte alveolare Frikativ [z] wird im landschaftlichen Hochdeutsch durchgängig als stimmloses [s] realisiert (etwa bei so oder Wiese, vgl. VIËTOR 1890b, 135–136). Die Desonorisierung wird damit aus dem Dialekt ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen. Variationsphänomen Phonemzusammenfall /b/ und /p/ z. B. bei Preis, Raupe

Inlautende b-Spirantisierung

z. B. bei aber, übrig

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1890b, 128 u. 134)

VIËTOR (1890b, 128)

Belege in dialektalen Quellen MAXEINER (1890b, 128 u. 134) BALDES (1895, 10) LUDWIG (1906, 9) BACH (1921, 269) FRINGS (1924, 49) MÜLLER (1931, 14) MAXEINER (1890b, 128) BALDES (1895, 7) LUDWIG (1906, 39) MÜLLER (1931, 117)

130

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen Koronalisierung z. B. bei Bäche

Phonemzusammenfall /d/ und /t/ z. B. bei retten

In- und auslautende g-Spirantisierung z. B. bei Tage, Sieg

Lenisierung von [k] z. B. bei Fackel

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung

z. B. bei Ohr, Feuer

Desonorisierung von [z] z. B. bei so, Wiese

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1890b, 128 u. 130)

Belege in dialektalen Quellen MAXEINER (1890b, 128 u. 130) [BALDES (1895, 10)] [LUDWIG (1906, 47–48)] BACH (1921, 269) MÜLLER (1931, 14–15)

VIËTOR (1890b, 129–130 u. 136–137)

MAXEINER (1890b, 129–130 u. 136–137) BALDES (1895, 10) LUDWIG (1906, 9) BACH (1921, 269) FRINGS (1924, 49) MÜLLER (1931, 14)

VIËTOR (1890b, 131–132)

MAXEINER (1890b, 131–132) BALDES (1895, 8) LUDWIG (1906, 43–44) FRISCH (1911, 22) MÜLLER (1931, 70–71)

VIËTOR (1890b, 131–133)

MAXEINER (1890b, 131–133) BALDES (1895, 10) LUDWIG (1906, 9) BACH (1921, 269) FRINGS (1924, 40 u. 49) MÜLLER (1931, 14)

VIËTOR (1890b, 134–135)

[LUDWIG (1906, 40)] [BALDES (1895, 12)] [MÜLLER (1931, 67)]

VIËTOR (1890b, 135)

VIËTOR (1890b, 135–136)

MAXEINER (1890b, 135) BALDES (1895, 19) LUDWIG (1906, 7) MÜLLER (1931, 56–58) BALDES (1895, 13–14) FRINGS (1924, 50) MÜLLER (1931, 63)

Tab. 22: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Bad Ems

Für das landschaftliche Hochdeutsch von Bad Ems konnten sowohl vokalische als auch konsonantische Variationsphänomene rekonstruiert werden. Diese werden überwiegend aus dem Dialekt in die Prestigevarietät übernommen (vgl. etwa die Senkung von [iː] oder die Phonemzusammenfälle bei den Plosiven). Daneben haben zwei der rekonstruierten Merkmale keinen Ursprung im Dialekt, sondern sind in der Prestigevarietät entstanden (anlautende Deaffrizierung von [p͡f] sowie Koronalisierung). Anhand der Entrundung der vorderen gerundeten Vokale lässt

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

131

sich beobachten, wie ein ursprünglich dialektales Merkmal zwar noch ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen, dort aber sukzessive abgebaut wird.179

5.3.12 Remscheid Für Remscheid hatte VIËTOR einen Informanten namens Dr. E. HEUSER (vgl. VIËTOR 1888a, 96). Die dialektgeographische Einordnung des Erhebungsortes Remscheid fällt in der Literatur zum Teil recht unterschiedlich aus. So wird Remscheid etwa von HOLTHAUSEN (vgl. 1885, 403) zu den niederdeutschen, genauer zu den westfälischen Mundarten gezählt. Allerdings gehöre die Stadt politisch zur Rheinprovinz, wie er weiter ausführt, weshalb ihr Vokalismus stark vom Fränkischen geprägt sei und zudem Ähnlichkeiten mit dem Niederländischen aufweise. Durch die Nähe der Hochdeutsch-Niederdeutsch-Sprachgrenze ließen sich die vielen hochdeutschen Formen erklären. Außerdem habe der Dialekt „singenden“ Charakter, welcher den Rheinländern, nicht aber den Westfalen zuzuordnen sei. WENKER (vgl. 1877, 12) ordnet den Remscheider Dialekt weder dem Westfälischen noch dem Niederrheinischen180 zu. Er beschreibt das zwischen diesen Dialekten liegende Übergangsgebiet als das „Bergische“, in dem Remscheid einen eigenen Dialektraum konstituiere. Laut FOERSTE (vgl. 1954, 1935) habe sich das Fränkische im 14. Jahrhundert einen 12 km breiten Streifen im Südwesten Westfalens erobert, in den auch Remscheid falle, so dass die Stadt also seit dem Mittelalter sprachlich nicht mehr zu Westfalen gehöre. SCHIRMUNSKI (vgl. 1962, 634) zählt den Remscheider Dialekt zu den niederfränkisch-ripuarischen Übergangsmundarten. Gemeinsam sind allen Einordnungen dabei die Schwierigkeiten bei der genauen dialektgeographischen Zuordnung. Daher werden in diesem Fall sowohl dialektale Quellen der angrenzenden fränkischen Mundarten als auch zum Teil des Westfälischen berücksichtigt (vgl. WOESTE 1966 [1882], HOLTHAUSEN 1885, HOLTHAUS 1887, HASENCLEVER 1904, LEIHENER 1908, BUBNER 1928).

179 Als Hinweis auf nicht im landschaftlichen Hochdeutsch vorhandene Tonakzente kann der folgende Kommentar des VIËTOR’schen Informanten gewertet werden: „Das singende in der aussprache fehlt vollständig.“ (VIËTOR 1890b, 137). 180 Damit meint er das Dialektgebiet, das heute in der Regel unter der Bezeichnung „Niederfränkisch“ geführt wird.

132

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Karte 13: VIËTOR’scher Erhebungsort Remscheid (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Vokalismus: –





Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Die Kürze des Vokals in unflektierten Einsilblern wie Rad, Glas oder Schlag (vgl. VIËTOR 1888a, 97) kann als Phänomen dialektalen Ursprungs im landschaftlichen Hochdeutsch bestätigt werden. Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute. Die zahlreichen Angaben „halboffen“ sowohl bei Lemmata mit als auch mit in Form von Langsowie Kurzvokalen deutet auf eine Unsicherheit hinsichtlich der Distribution der e-/ä-Laute hin (z. B. bei Sätze, vgl. VIËTOR 1888a, 98–99). Der Ursprung des Merkmals des landschaftlichen Hochdeutsch kann in der dialektalen Situation gesehen werden, für die neben dem Zusammenfall der langen e-/äLaute (vgl. z. B. HOLTHAUSEN 1885, 409) auch mit insgesamt fünf Lauten ein „Überangebot“ im Vergleich zur neuhochdeutschen Schriftsprache beschrieben ist (vgl. z. B. LEIHENER 1908, 31). Senkung von [ʊ]. Als Phänomen dialektalen Ursprungs im landschaftlichen Hochdeutsch lässt sich die Senkung von [ʊ] beschreiben (etwa bei Mutter oder Furt, vgl. VIËTOR 1888a, 102).

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

Variationsphänomen Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888a, 97)

WOESTE (1966 [1882], 80 u. 208) HOLTHAUSEN (1885, 407 u. 419) HOLTHAUS (1887, 340–341 u. 421) HASENCLEVER (1904, 14, 18 u. 37) LEIHENER (1908, 46, 57 u. 106) BUBNER (1928, 8)

VIËTOR (1888a, 98–99)

HOLTHAUSEN (1885, 409) HOLTHAUS (1887, 339 u. 344–345) HASENCLEVER (1904, 19) LEIHENER (1908, 31) BUBNER (1928, 15–17)

z. B. bei Rad, Glas

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute z. B. bei Sätze

Senkung von [ʊ]

z. B. bei Mutter, Furt

133

VIËTOR (1888a, 102)

HOLTHAUSEN (1885, 406) HOLTHAUS (1887, 351) HASENCLEVER (1904, 9 u. 21) LEIHENER (1908, XVI u. XLIV) BUBNER (1928, 24)

Tab. 23: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Remscheid

Konsonantismus: –





Anlautende g-Spirantisierung. In initialer Position wird /g/ spirantisch realisiert (z. B. bei ganz oder gleich, vgl. VIËTOR 1888a, 105). Der Ursprung des Phänomens im Dialekt ist klar belegbar. In- und auslautende g-Spirantisierung. Darüber hinaus wird das Phonem /g/ auch in medialer und finaler Position nicht als Plosiv, sondern als Frikativ realisiert (etwa in Berge, folgt oder Tag, vgl. VIËTOR 1888a, 105–106), wie die zeitgenössischen Dialektgrammatiken ebenfalls bestätigen können. r-Vokalisierung. Nach Vokal im Wortauslaut sowie in der Nebensilbe wird im landschaftlichen Hochdeutsch /r/ vokalisiert (etwa in Ohr oder Feuer, vgl. VIËTOR 1888a, 109–110), was ebenfalls für den alten Dialekt belegt ist. Variationsphänomen Anlautende g-Spirantisierung

z. B. bei ganz, gleich

In- und auslautende g-Spirantisierung

z. B. bei Berge, folgt, Tag

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888a, 105)

HOLTHAUSEN (1885, 406 u. 423–424) HOLTHAUS (1887, 340 u. 365) HASENCLEVER (1904, 47) LEIHENER (1908, XI) BUBNER (1928, 8)

VIËTOR (1888a, 105–106)

HOLTHAUSEN (1885, 406 u. 423–424) HOLTHAUS (1887, 340 u. 365) HASENCLEVER (1904, 47) LEIHENER (1908, XI) BUBNER (1928, 10)

134

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Variationsphänomen r-Vokalisierung

z. B. bei Ohr, Feuer

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888a, 109–110)

HOLTHAUSEN (1885, 404–405 u. 422) HASENCLEVER (1904, 49) LEIHENER (1908, XXIV) BUBNER (1928, 33 u. 38)

Tab. 24: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Remscheid

Insgesamt konnten für das landschaftliche Hochdeutsch Remscheids nur vergleichsweise wenige Variationsphänomene rekonstruiert werden. Die drei vokalischen und drei konsonantischen Merkmale lassen sich dabei alle auf einen Ursprung im Dialekt zurückführen. Hervorzuheben ist auch, dass Remscheid der einzige Ort im Korpus ist, für den nicht die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] im VIËTOR’schen Fragebogen genannt wird und daher auch nicht als Phänomen des landschaftlichen Hochdeutsch rekonstruiert wurde. Die Gründe für die geringe Anzahl an Variationsphänomenen und die damit einhergehende Nähe zum Schriftdeutschen könnten in der zuvor beschriebenen dialektgeographischen Übergangssituation liegen. Des Weiteren kann auch der Informant sozusagen als „Filter“ bei der Notierung der regionalen Varianten eine Rolle gespielt haben. Da sich dies nicht abschließend klären lässt, wird sich hier auf die Feststellung der positiv validierten Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch beschränkt.

5.3.13 Mülheim an der Ruhr VIËTORS Informant für Mülheim an der Ruhr war der ehemalige Mitarbeiter des Deutschen Sprachatlas EMIL MAURMANN (vgl. VIËTOR 1888a, 96). Für diesen Ort besteht die forschungspraktisch komfortable Lage, dass von MAURMANN auch eine junggrammatische Ortsmonographie für seinen Heimatort vorliegt (vgl. MAURMANN 1898). Der Vergleich dieser Quellen ermöglicht also Aussagen sowohl über seinen Dialekt als auch über die Leseaussprache MAURMANNS und damit über sein gesamtes variatives Spektrum. Gleichwohl darf sich die Analyse der Merkmale nicht auf diese dialektale Quelle beschränken, da andernfalls die Gefahr eines interpretatorischen Zirkelschlusses zu groß wäre. Der Erhebungsort Mülheim befindet sich in dem gleichen dialektalen Übergangsgebiet wie das zuvor behandelte Remscheid. Durch die Lage von Mülheim etwas nördlicher als Remscheid fällt die dialektgeographische Einordnung in der Literatur allerdings einheitlicher aus. So wird Mülheim als in einem ripuarischniederfränkischen Sprachgebiet liegend beschrieben (vgl. etwa FRINGS 1917, 241, WIESINGER 1983e, 859 oder WAHLENBERG 1871, 13). Die Zugehörigkeit des Niederfränkischen zum Nieder- oder Mitteldeutschen bietet immer wieder Anlass zur Diskussion, wenngleich im Ergebnis die Zuordnung in der Regel zum Mitteldeutschen erfolgt. Dabei findet die Sonderstellung dieses Raumes stets

5.3 Rekonstruktion linguistischer Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch

135

Erwähnung (vgl. etwa WAHLENBERG 1871, FRINGS 1917, WIESINGER 1983e oder jüngst LAMELI 2013). Aufgrund der besonderen dialektgeographischen Lage werden zur Validierung der Angaben im VIËTOR’schen Fragebogen und damit zur Rekonstruktion der Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch sowohl Dialektgrammatiken des Niederfränkischen als auch des Ripuarischen herangezogen (i. e. MAURMANN 1898, RAMISCH 1906, MEYNEN 1911, NEUSE 1914 und FRINGS 1916).

Karte 14: VIËTOR’scher Erhebungsort Mülheim an der Ruhr (überblendet mit WIESINGER 1983e)

Vokalismus:181 –

Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen. Kurzer Stammvokal in unflektierten Einsilblern kann als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch gelten (etwa in Bad, Glas oder Schlag, vgl. VIËTOR 1888a, 97). Sein Ursprung lässt sich dialektal belegen. Variationsphänomen Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen z. B. bei Bad, Glas

Beleg im Fragebogen VIËTOR (1888a, 97)

Belege in dialektalen Quellen MAURMANN (1898, 31 u. 61) NEUSE (1914, 8)

Tab. 25: Rekonstruierte vokalische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Mülheim an der Ruhr

181 Die bei VIËTOR (vgl. 1888a, 114) angegebene Vokal-Epenthese in den Lemmata elf, Milch und fünf lässt sich weder dialektal sicher bestätigen (nicht einmal MAURMANN 1898 gibt sie in seiner Ortsgrammatik an) noch kommt ihr in neueren Arbeiten zum Regiolekt Bedeutung zu. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Aussprachebesonderheit des Informanten.

136

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Konsonantismus: –









Velarisierung von [ç]. Der stimmlose palatale Frikativ [ç] kommt im landschaftlichen Hochdeutsch ebenso wie im alten Dialekt nicht vor. Stattdessen wird der Frikativ rückverlagert artikuliert bzw. velarisiert, so dass in allen Positionen, in denen [ç] zu erwarten wäre, der stimmlose velare Frikativ [x] erscheint (z. B. in Bäche und sicher, vgl. VIËTOR 1888a, 104). Anlautende g-Spirantisierung. Im Anlaut erscheinen die Realisierungen von /g/ im landschaftlichen Hochdeutsch stets als stimmhafte velare Frikative (so z. B. in Gott oder ganz, vgl. VIËTOR 1888a, 105). Seinen Ursprung findet diese Variante im Dialekt und korrespondiert zudem mit der zuvor beschriebenen velaren Realisierung von [ç]. In- und auslautende g-Spirantisierung. Auch in medialer und finaler Position wird die g-Spirantisierung des alten Dialektes ins landschaftliche Hochdeutsch übernommen (z. B. bei leugne, sagt oder Sieg, vgl. VIËTOR 1888a, 105–106). Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]. Im Anlaut wird im landschaftlichen Hochdeutsch die Affrikata [p͡f] als einfache Spirans [f] realisiert (etwa in Pferd, vgl. VIËTOR 1888a, 109). Die dialektale Form hat einfachen Plosiv. Somit kann wie in den zuvor behandelten Erhebungsorten hier ein auf Artikulationsvereinfachungen basierender, überregionaler Ausgleichsprozess als Ursache angenommen werden. r-Vokalisierung. Nach Langvokal sowie in der unbetonten Nebensilbe erscheint im landschaftlichen Hochdeutsch ebenso wie im alten Dialekt ein vokalisiertes /r/-Allophon (z. B. in Ohr oder Feuer, vgl. VIËTOR 1888a, 109– 110). Variationsphänomen Velarisierung von [ç] z. B. bei Bäche, sicher

Anlautende g-Spirantisierung

z. B. bei Gott, ganz

In- und auslautende g-Spirantisierung

z. B. bei leugne, sagt, Sieg

Beleg im Fragebogen

Belege in dialektalen Quellen

VIËTOR (1888a, 104)

MAURMANN (1898, 10) RAMISCH (1906, 21–22) MEYNEN (1911, 11) FRINGS (1916, 203)

VIËTOR (1888a, 105)

MAURMANN (1898, 32–33) RAMISCH (1906, 18) MEYNEN (1911, 11) NEUSE (1914, 42) FRINGS (1916, 201)

VIËTOR (1888a, 105–106)

MAURMANN (1898, 32) RAMISCH (1906, 18) MEYNEN (1911, 11) NEUSE (1914, 34) FRINGS (1916, 201)

5.4 Zwischenfazit und Übersicht der Untersuchungsvariablen

Variationsphänomen

Beleg im Fragebogen

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

VIËTOR (1888a, 109)

z. B. bei Pferd

r-Vokalisierung

z. B. bei Ohr, Feuer

VIËTOR (1888a, 109–110)

137

Belege in dialektalen Quellen [MAURMANN (1898, 27)] [RAMISCH (1906, 31)] [MEYNEN (1911, 25)] [NEUSE (1914, 113)] MAURMANN (1898, 25–26) MEYNEN (1911, 6 u. 8) NEUSE (1914, 29)

Tab. 26: Rekonstruierte konsonantische Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch in Mülheim an der Ruhr

Für das landschaftliche Hochdeutsch in Mülheim an der Ruhr konnten, ebenso wie im zuvor behandelten Remscheid, nur vergleichsweise wenige Variationsphänomene rekonstruiert werden. Hierunter fällt nur ein vokalisches und fünf konsonantische Phänomene. Bis auf die reduzierten Varianten der anlautenden Affrikata [p͡f] haben alle rekonstruierten Merkmale ihren Ursprung im Dialekt. 5.4 Zwischenfazit und Übersicht der Untersuchungsvariablen Die vorangehenden Rekonstruktionen konnten für alle dreizehn Untersuchungsorte und -regionen aus dem Viëtor-Korpus phonetisch-phonologische Variationsphänomene aufzeigen. Die regionalen bzw. dialektalen Varianten dieser Phänomene wurden damit positiv als Teil des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert validiert. Bei diesen handelt es sich größtenteils um solche, die ihren Ursprung im Dialekt der Region haben. Daneben lassen sich in der historischen Prestigevarietät aber auch solche Merkmale identifizieren, die sich entgegen der dialektalen Variante entwickelt haben und auf (überregionalen) Ausgleichsprozessen beruhen. Die Merkmalsverteilung ist je nach Erhebungsort/-region unterschiedlich ebenso wie die Anzahl der jeweils rekonstruierten Phänomene. So konnten etwa für die nordwestlichste Untersuchungsregion (westliches Ostfriesland) sowie den nördlichsten Untersuchungsort (Flensburg) des Korpus vergleichsweise viele dialektale Merkmale rekonstruiert werden, weshalb diese Oralisierungsnormen zum Ende des 19. Jahrhunderts noch als relativ konservativ bzw. stark dialektal geprägt anzusehen sind. Dahingegen sind für die im ripuarisch-niederfränkisch(-westfälischen) Übergangsgebiet gelegenen Untersuchungsorte wesentlich weniger Variationsphänomene rekonstruiert worden. Bei diesen handelt es sich zudem in Teilen um zwar dialektale, aber sehr großräumig verbreitete Merkmale. Dementsprechend ist bei dem landschaftlichen Hochdeutsch dieser Region von keiner sehr starken dialektalen Prägung und damit von einer größeren Annäherung an die Schriftsprache auszugehen. Die rekonstruierten Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch, die in den vorangehenden Analysen für jeden einzelnen Erhebungsort bzw. jede

138

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

-region aufgeführt wurden, werden in Tabelle 27 zusammenfassend dargestellt. Dabei werden die zum Teil recht differenziert beschriebenen rekonstruierten Variationsphänomene inhaltlich passend zusammengefasst. So gehen beispielsweise in Variable 14 die Variationsphänomene „Phonemzusammenfall /b/ und /p/“, „Fortisierung von anlautendem [b] vor Liquid“ sowie „Lenisierung von [p]“ ein, die alle die Realisierung der bilabialen Plosive betreffen. Die thematisch gerechtfertigten Bündelungen tragen zudem dem unterschiedlich hohen Feinheitsgrad in den Beschreibungen der VIËTOR’schen Informanten Rechnung. Während die vorangegangenen Rekonstruktionen dem Anspruch an eine möglichst korpusnahe und detailgetreue Beschreibung genügen, kann im nächsten Schritt der Abstraktionsgrad erhöht werden. Neben dem zusammenfassenden Überblick dient Tabelle 27 gleichzeitig dazu, eine Übersicht der Untersuchungsvariablen zu präsentieren, die die Grundlage der nachfolgenden Analysen darstellen.182 Nach der orts- bzw. regionsbezogenen Betrachtung sollen im Anschluss über diese hinausgehende Zusammenhänge untersucht werden. Dafür wird zunächst überprüft, ob sich auf Basis der rekonstruierten Variationsphänomene zusammengehörende Gruppen von Untersuchungsorten bzw. -regionen identifizieren lassen. Mittels einer Clusteranalyse wird daher die Ähnlichkeit der jeweiligen Merkmalsverteilungen statistisch überprüft. Dadurch werden Aussagen über die areale Ausdehnung des landschaftlichen Hochdeutsch des 19. Jahrhunderts erwartet (vgl. Kapitel 5.5.1). Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob sich innerhalb der rekonstruierten Variationsphänomene implikative Beziehungen abbilden lassen. Dies wird anhand einer Implikationsanalyse geschehen (vgl. Kapitel 5.5.2). Zugleich können anhand dieses Verfahrens Prognosen über die Abbausensitivität einzelner linguistischer Merkmale erwartet werden. Im Anschluss werden die ermittelten Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch mit den Ergebnissen aus LAMELI (2013) verglichen (Kapitel 5.5.3). Nr.

Untersuchungsvariable

1

a-Hebung

2

a-Palatalisierung

3

Kürze von /aː/

4

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute

Erläuterung bzw. beinhaltete Varianten der Untersuchungsvariablen Gehobene („verdumpfte“) Varianten sowohl des Kurzmonophthongs [a] als auch des Langmonophthongs [aː] Vorverlagerte Varianten sowohl des Kurzmonophthongs [a] als auch des Langmonophthongs [aː] In der Regel lexemgebundene Kürze von /aː/ in einsilbigen geschlossenen Wortformen Sowohl tendenzielle als auch durchgängig auftretende Unsicherheit hinsichtlich der Differenzierung von /eː/, /ɛː/ und /ɛ/

182 Von praktischem Nutzen ist die Tabelle zudem für die Zuordnung von Ziffer zu Untersuchungsvariable. Letztere werden der Übersichtlichkeit halber in den Tabellen der nachfolgenden Analysen nicht mehr in ihrer textlichen Beschreibung verwendet.

5.4 Zwischenfazit und Übersicht der Untersuchungsvariablen

Nr.

Untersuchungsvariable

5

Diphthongierung von /eː/

6

Senkung von [iː] / [ɪ]

7

Rundung von [iː] / [ɪ]

8

Hebung von [ɔ]

9

Senkung von [uː] / [ʊ]

10

Entrundung

11 12

Entrundung von [ɔ͡ɪ] Vokal-Epenthese

13

Vorverlagerung/Hebung

14

Phonemzusammenfall /b/ und /p/

15

Inlautende b-Spirantisierung

16 17

Velarisierung von [ç] Koronalisierung

18

Phonemzusammenfall /d/ und /t/

19 20

Lenisierung von intervokalischem [f] Anlautende g-Spirantisierung

21

In- und auslautende g-Spirantisierung

22

Lenisierung von [k]

23

Orale Lösung von finalem

24

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

25

r-Vokalisierung

26

Phonemzusammenfall /s/ und /z/

27

Bewahrung /s/ vor p und t

28 29 30

Bewahrung /s/ vor weiterer Konsonanz Bewahrung /sk/ Deaffrizierung von [t͡s]

139

Erläuterung bzw. beinhaltete Varianten der Untersuchungsvariablen Diphthongierung zu [a͡ɪ] bzw. zu einem Diphthongoid mit verkürzter zweiter Komponente Zusammenfassung der Senkung von [iː] und [ɪ] Zusammenfassung der Rundung von [iː] und [ɪ] Variable umfasst zudem die fehlende Opposition von /oː/ und /ɔ/ Zusammenfassung der Senkung von [uː] und [ʊ] Sowohl tendenzielle als auch vollständige Entrundung von [øː], [œ], [yː] und [ʏ] Diphthongentrundung zu [a͡ɪ] Einfügung eines Sprossvokals Vorverlagerte Variante der unbetonten Nebensilbe Variable umfasst zudem die Fortisierung von anlautendem [b] vor Liquid sowie die Lenisierung von [p] Intervokalisch sowie zwischen Liquida und Vokal Rückverlagerung zu [x] Koronalisierte Variante von [ç] Variable umfasst zudem die Lenisierung von [t] Schwächung des labiodentalen Frikativs Wort- sowie silbenanlautend Zusammenfassung aller Lautkontexte in medialer sowie finaler Position Sowohl durchgängig als auch in Position vor Liquid Neben der plosivischen ([ŋk/g]) wird auch die spirantische Lösung von finalem als [ŋx] umfasst Deaffrizierung: [p͡f] wird zu [f] Nach (Lang-)Vokal am Wortende sowie in unbetonten Nebensilben Variable umfasst zudem die Desonorisierung von (anlautendem) [z] Sowohl in beiden Lautkontexten als auch einzeln Vor m, n, l und/oder v Sowohl im Anlaut als auch im Auslaut Deaffrizierung: [t͡s] wird zu [s]

Tab. 27: Zusammenfassende Übersicht der Untersuchungsvariablen aus dem Viëtor-Korpus

140

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

5.5.1 Clusteranalyse Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich mithilfe explorativer, also strukturentdeckender Verfahren Gruppen zusammengehöriger Untersuchungsorte herausarbeiten lassen, die Aufschlüsse über die Reichweite der historischen Prestigevarietät erlauben. Dazu werden auf Basis der rekonstruierten Variationsphänomene des landschaftlichen Hochdeutsch und ihrer Verteilung die Ähnlichkeiten bzw. Unähnlichkeiten der Untersuchungsorte in den Blick genommen. Zur Überprüfung dieses Untersuchungsziels eignet sich das multivariate statistische Verfahren der Clusteranalyse.183 Bei diesem werden Klassifikationsobjekte aufgrund ihrer Merkmalsverteilungen zu in sich möglichst homogenen Gruppen (Clustern) zusammengefasst. Gleichzeitig werden die Klassifikationsobjekte, die sich voneinander unterscheiden, in getrennte Cluster eingeordnet, so dass zwischen den Clustern Heterogenität herrscht (vgl. BACHER / PÖGE / WENZIG 2010). In der vorliegenden Arbeit werden so die zwölf Untersuchungsorte und -regionen184 aus dem Viëtor-Korpus anhand der Verteilungen der 30 in Tabelle 27 aufgeführten Untersuchungsvariablen gruppiert. Zur Berechnung eignet sich das hierarchisch-agglomerative Ward-Verfahren. Dieser Algorithmus basiert auf den folgenden Schritten (vgl. hierzu BACHER / PÖGE / WENZIG 2010, 285–288): 1. Jedes Untersuchungsobjekt (hier: Orte/Regionen) bildet zunächst ein eigenes Cluster. 2. Es werden dann die beiden Objekte gesucht, die die größte Ähnlichkeit bzw. die kleinste Unähnlichkeit aufweisen. 3. Die beiden Objekte werden zu einem neuen Cluster verschmolzen (dadurch verringert sich die ursprüngliche Clusteranzahl um 1) und es wird nach dem nächsten Clusterpaar gesucht. 4. Die Schritte werden so lange wiederholt, bis alle Objekte in einem einzigen Cluster zusammengefasst sind. Beim Ward-Verfahren werden Clusterzentren als Repräsentanten für einzelne Cluster bestimmt. Unter Clusterzentren sind dabei die „Mittelwerte der Cluster, [oder] genauer, der Objekte, in den in die Analyse einbezogenen Klassifikations183 Unter den Begriff der Clusteranalyse werden eine Vielzahl verschiedener Verfahren gefasst, die sich im Wesentlichen in der Zuordnung der Untersuchungsvariablen zu Clustern unterscheiden. Für einen fundierten Überblick der Verfahren sowie ihrer Anwendungsgebiete vgl. BACHER / PÖGE / WENZIG (2010). Anwendungsbeispiele im Bereich der Variationslinguistik oder der Dialektometrie liegen beispielsweise mit LENZ (2003, 217–245), LAMELI (2004, 193–199), STRECK (2012, 419–438) oder STRECK / AUER (2012) vor. 184 Der Ort Greifswald geht aufgrund seiner bereits mehrfach thematisierten Unvollständigkeit in der Datengrundlage nicht in das Clusterverfahren ein.

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

141

variablen“ zu verstehen (BACHER / PÖGE / WENZIG 2010, 286).185 Als Distanzmaß wird die quadrierte euklidische Distanz verwendet. Dieses Unähnlichkeitsmaß kann neben quantitativen Variablen auch bei dichothomen Variablen angewendet werden, da Letztere formal zulässig wie metrische behandelt werden können.186 Daher kann es auch bei den vorliegenden Daten eingesetzt werden. Das Ergebnis der Clusteranalyse wird in einem Dendrogramm visualisiert. In Form einer Baumstruktur werden dabei die einzelnen Fusionierungsschritte der Cluster graphisch veranschaulicht und die Gruppenzugehörigkeit der einzelnen Orte/Regionen visualisiert.187 Das folgende Dendrogramm zeigt die Clusterbildung der zwölf Untersuchungsorte und -regionen aus dem Viëtor-Korpus auf Basis der 30 Untersuchungsvariablen, die für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruiert wurden. Dabei sind auf der Vertikalen die Orte/Regionen angegeben und auf der Horizontalen die Distanzen zwischen den Clustern abgetragen. Das Dendrogramm weist zunächst sehr klar zwei Hauptcluster aus, die sich in weitere Subcluster differenzieren lassen. Hauptcluster 1 (im Dendrogramm das obere Cluster) umfasst alle niederdeutschen Untersuchungsorte/-regionen sowie die im Übergangsgebiet bzw. an der Grenze vom Mitteldeutschen zum Niederdeutschen gelegenen Orte. Hauptcluster 2 (unten im Dendrogramm) beinhaltet alle mitteldeutschen Orte. Auf dieser Clusterebene liegt also eine deutliche Trennung zwischen mitteldeutschen Orten einerseits und niederdeutschen sowie im mitteldeutschen-niederdeutschen Grenzraum liegenden Orten andererseits vor. Als erstes Ergebnis der Clusteranalyse kann also festgehalten werden, dass sich die landschaftlichen Hochdeutschrealisierungen des Niederdeutschen und des Mitteldeutschen klar voneinander abgrenzen lassen.

185 Im Gegensatz dazu ermitteln beispielsweise Repräsentanten-Verfahren für jedes Cluster ein typisches Objekt oder Nächste-Nachbarn-Verfahren bilden ihre Cluster so, dass jedes Objekt eine bestimmte Anzahl nächster Nachbarn hat bzw. in einem Cluster liegt, in dem es einen x-ten (beispielsweise dritten) nächsten Nachbarn hat (vgl. BACHER / PÖGE / WENZIG 2010, 277 u. 233). 186 Hierbei wird davon ausgegangen, dass der binären Verteilung eine prozentuale entspricht, in der 0 = 0 Prozent und 1 = 100 Prozent entspricht. Der Bereich 1–99 Prozent gelangt dabei nicht zur Anschauung. Zur Anwendung metrischer Verfahren auf binäre Daten vgl. auch die ausführliche methodische Diskussion in LAMELI (2013, 47–54). Vgl. zur Anwendung der quadrierten euklidischen Distanz auf dichotome Variablen auch BACHER / PÖGE / WENZIG (2010, 197–199). 187 Sowohl die Berechnungen der Clusteranalyse als auch ihre graphischen Darstellungen wurden mit dem Software-Paket SPSS 23.0 durchgeführt.

142

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Abb. 2: Dendrogramm zur Clusteranalyse der zwölf Untersuchungsorte aus dem Viëtor-Korpus

Eine über diese grobe Separierung hinausgehende Subdifferenzierung ist im Dendrogramm außerdem erkennbar. So bilden die Orte Remscheid und Mülheim an der Ruhr ein Cluster. Die berechnete Distanz dieser beiden Orte ist so gering, dass sie bereits auf einer frühen Stufe fusionieren. Für diese beiden an der hochdeutsch-niederdeutschen Sprachgrenze (im Übergangsgebiet NiederfränkischRipuarisch) gelegenen Orte von e i n e m landschaftlichen Hochdeutsch auszugehen scheint aufgrund der Clusteranalyse demnach gerechtfertigt. Die weitere Partitionierung innerhalb des Hauptclusters 1 zeigt eine sehr frühe Clusterung von Segeberg und Ostfriesland. Der zwischen diesen bestehende Abstand ist der geringste im gesamten Korpus, weshalb die Fusionierung zu einem Cluster auch im ersten Schritt der Analyse erfolgt. Die Ähnlichkeit ist hier so groß, dass für die beiden Orte bzw. Regionen von einem gemeinsamen landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen werden kann. Auf der nächsten Ebene fusioniert Hannover, was sich trotz der Lage in unterschiedlichen Dialektgebieten (Nordniedersächsisch und Ostfälisch) durch eine weitgehend übereinstimmende Merkmalsverteilung erklärt. Im Hauptcluster 2 hebt sich eine frühe Fusionierung mit geringer Distanz von Gotha und Erfurt mit Artern an der Unstrut ab. Auch hier ist aufgrund der Analyse eine Zusammenfassung zu einem Verbund des landschaftlichen Hochdeutsch sinnvoll. Der dritte thüringische Ort Nordhausen am Harz fusioniert dann mit geringfügig größerer Distanz. Dies lässt sich dadurch erklären, dass

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

143

hier im Vergleich zu den anderen Orten eine geringere Anzahl an Merkmalen des landschaftlichen Hochdeutsch rekonstruiert wurde. Diese stellen allerdings eine Teilmenge der Merkmale der anderen Orte dar (vgl. zur Übersicht Kapitel 5.5.2.1). Insofern erscheint es aufgrund der quantitativen Analysen gerechtfertigt, von einem landschaftlichen Hochdeutsch auszugehen, dass sich über ein Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz umfassendes Gebiet erstreckt. Um die Stabilität der hier präsentierten Clusterlösung zu überprüfen, wurden auf dieselbe Datengrundlage verschiedene Fusionierungsmethoden in Kombination mit unterschiedlichen Ähnlichkeits- bzw. Distanzmaßen angewendet. Diese zusätzlichen Clusteranalysen188 zeigen, dass die soeben benannten Gruppen auch bei der Anwendung anderer Verfahren abgebildet werden. Differenzen bestehen hier lediglich in zum Teil etwas größeren oder geringeren Distanzwerten – die Clusterungen hingegen bleiben gleich. Dies spricht für die Stabilität und die Güte der hier präsentierten Lösung. In den zur Stabilitätsüberprüfung durchgeführten Clusterlösungen fusionieren auch stets Flensburg und das westliche Ostfriesland (immer in dieser Reihenfolge) zu dem Cluster Segeberg–Ostfriesland–Hannover. Die Distanzwerte für diese späten Fusionierungen sind allerdings stets so hoch, dass die Ansetzung eines gemeinsamen landschaftlichen Hochdeutsch als nicht gerechtfertigt erscheinen kann und ein Zusammenhang hier nur über die bereits thematisierte Clusterebene „Niederdeutsch“ abbildbar ist.189 Ähnliches kann wohl für die späte Fusionierung des moselfränkischen Ortes Bad Ems zu dem thüringischen Cluster angenommen werden. Auch hier erscheint der Zusammenhang auf die Ebene „Mitteldeutsch“ beschränkt. Interessant verhält sich bei der Überprüfung der verschiedenen Clusterlösungen Aschersleben. Für diesen an der Grenze vom Mittel- zum Niederdeutschen gelegenen Ort kann keine Zuordnungsstabilität zu einem Cluster festgestellt werden. So fusioniert er in manchen Clusterlösungen mit den thüringischen Orten und ordnet sich in anderen Lösungen dem „großen“ niederdeutschen Cluster zu. Dies zeigt sich ebenfalls bei der durchgeführten Diskriminanzanalyse. Mit diesem klassifizierenden Verfahren können die in Clusteranalysen erzeugten Gruppen und Gruppenzugehörigkeiten statistisch überprüft werden. Somit kann die Diskriminanzanalyse als statistischer Plausibilitätstest einer erzielten Clusterlösung angesehen werden (vgl. SCHENDERA 2010, 299). Die Anwendung auf die hier präsentierte Clusterlösung zeigt ebenfalls, dass sich Aschersleben keinem anderen Cluster sicher zuordnen lässt. 188 Aufgrund der zum Teil nur minimalen Differenzen erscheint eine detaillierte Präsentation der Ergebnisse redundant. 189 Die von VIËTOR (vgl. 1890a, 11) thematisierte sprachliche Veränderung der Lesesprache, die sich bei dem Informanten für Ostfriesland durch einen Umzug nach Flensburg ergeben haben könnte (vgl. Kapitel 5.3.9), schlägt sich übrigens auch in dieser Analyse nicht nieder. Insofern liegt hiermit eine weitere Bestätigung dafür vor, dass der Informant als repräsentativ für die Region Ostfriesland angesehen werden kann.

144

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Als Ergebnis der Clusteranalyse bleibt zunächst festzuhalten, dass sich die großlandschaftliche dialektgeographische Aufteilung des deutschen Sprachraumes in ein niederdeutsches und ein mitteldeutsches Gebiet auch im landschaftlichen Hochdeutsch des 19. Jahrhunderts widerspiegelt.190 Weiter deuten sich – trotz der nur auf wenigen Orten basierenden Datenbasis – sowohl Zusammenhänge als auch Grenzen als Ergebnis der Clusteranalyse an, die das landschaftliche Hochdeutsch im 19. Jahrhundert konstituiert haben könnten.

5.5.2 Implikationsanalyse Mit der Implikationsanalyse liegt ein Verfahren vor, das eine Skalierung linguistischer Merkmale191 ermöglicht. Anders ausgedrückt lassen sich mithilfe dieses Verfahrens Wenn-Dann-Hypothesen wie „wenn in einem landschaftlichen Hochdeutsch Merkmal X gegeben ist, kann auch Merkmal Y erwartet werden“ überprüfen. Demnach eignet sich das Verfahren, um Hierarchien der hier im Fokus stehenden Untersuchungsvariablen (vgl. Tabelle 27) aufstellen zu können und, wie LAMELI (2004, 185–193) gezeigt hat, die diachrone Entwicklung von Variablen hinsichtlich ihres Variantenbestandes bewerten zu können.192 GUTTMAN führte das Verfahren der Skalenanalyse193 1944 in die Wissenschaft ein.194 In der Sprachwissenschaft hat sich zur Bezeichnung des Verfahrens der Begriff der Implikationsanalyse (auch: Implikationsskalenanalyse) etabliert. Die Analysemethode hat sich insbesondere in der englischsprachigen Forschung durchgesetzt,195 aber auch in der deutschen Variationslinguistik ist das Verfahren in einschlägigen Arbeiten zur Anwendung gekommen.196 Von den verschiedenen Ausprägungsarten bzw. Richtungen der Implikation ist für die Variationslinguistik insbesondere die unilineare Implikation von Interesse.197 Diese entspricht der folgenden formalisierten Schreibweise: ⊃

,



198

190 Da für das Oberdeutsche im Viëtor-Korpus keine entsprechenden Daten vorliegen, muss eine Aussage darüber hier unterbleiben. 191 Darüber hinaus lässt sich die Methode auch auf nicht linguistische, skalierbare Merkmale anwenden. 192 Die diachrone Entwicklung der hier für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene wird ausführlich in Kapitel 6 betrachtet. 193 Bei SMAZAL (1986, 193) als Skalogrammanalyse benannt. 194 Zur geschichtlichen und methodischen Entwicklung der Implikationsanalyse vgl. die detaillierte Übersicht in SMAZAL (1986). 195 Vgl. DECAMP (1971), BAILEY (1973), BICKERTON (1973) und ROUSSEAU / SANKOFF (1978). 196 Vgl. beispielsweise HERRMANN-WINTER (1979), SMAZAL (1986), SALEWSKI (1998) oder LAMELI (2004). 197 Diese Vorgehensweise wurde 1965 von JOSEPH GREENBERG angewandt. 198 Sprich: x impliziert y, y impliziert nicht x. Die mutuelle Implikation (x ⊃ y, y ⊃ x) ist hingegen kennzeichnend für linguistische Phänomene, die keine Variation in einer Sprachgemeinschaft erfahren. Auf den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit bzw. das

145

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

a I 1 II 1 III 1 IV 0 V 0

Variablen b c d 1 0 0 1 1 1 1 0 1 1 0 0 1 0 0

e 1 1 1 0 1

Orte

Orte

Generell arbeitet die Implikationsanalyse nach dem folgenden Prinzip: eine bestimmte Menge an Merkmalen wird den infrage kommenden Merkmalsträgern binär zugeordnet. Das heißt also, zu jedem Merkmalsträger ist für jedes untersuchte Merkmal die Aussage „vorhanden“ oder „nicht vorhanden“ zu treffen. Wenn als Ergebnis einer (variationslinguistischen) Analyse beispielsweise relative Häufigkeiten für die untersuchten Phänomene vorliegen, müssen diese über die Bestimmung eines Schwellenwertes (cutoff point) in eine binäre Verteilung überführt werden.199 Da in dieser Arbeit im vorhergehenden Analyseschritt zur Rekonstruktion der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch bereits über den Status als zutreffendes Merkmal entschieden wurde, liegen die Daten in binärer Verteilung vor.200 Daher ist die Ansetzung eines cutoff points hier nicht erforderlich. Die zu untersuchenden Variablen werden dann in eine Merkmalsmatrix eingetragen. Dabei enthält jede Spalte ein Merkmal und jede Zeile der Matrix einen Merkmalsträger (hier: Untersuchungsorte und -regionen). In die entsprechenden Zellen wird immer dann eine „1“ notiert, wenn das Merkmal beim Merkmalsträger vorkommt und analog dazu eine „0“, wenn das Merkmal nicht auftritt. Anschließend werden die Zeilen und Spalten nach der Auftretenshäufigkeit des Wertes 1 umgruppiert und nach dem Prinzip der minimalen Differenz angeordnet. Auf diese Weise wird ein Implikationsverbund sichtbar gemacht. Die ideale Implikationsskala mit unilinearem Bezug macht ein Kontinuum kookkurrierender sprachlicher Merkmale mit einer Erstreckung von maximal positiven Werten zu einer Anzahl maximal negativer Werte sichtbar. Die folgende ideale Implikationsskala soll das Vorgehen verdeutlichen:

b II 1 III 1 I 1 V 1 IV 1

Variablen e a d 1 1 1 1 1 1 1 1 0 1 0 0 0 0 0

c 1 0 0 0 0

Tab. 28: Ideale Implikationsskala

Diese Matrix zeigt einen idealen Implikationsverbund, der Aussagen über die implikativen Beziehungen der Untersuchungsvariablen erlaubt. Eine solche liegt beispielsweise zwischen Variable c und Variable d vor, wobei aufgrund der uniThemenspektrum der Variationslinguistik ist die mutuelle Implikation daher nicht anwendbar. 199 Zur Anwendung unterschiedlicher cutoff points und zum methodischen Vorgehen der Erzeugung binärer Klassen vgl. beispielsweise LAMELI (2004, 187–189). 200 Aussagen über relative Häufigkeiten sind bei der Analyse des Viëtor-Korpus nicht zu erwarten.

146

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

linearen Implikation allein die Aussage „c impliziert d“ möglich ist. Für den gesamten Implikationsverbund gelten in formalisierter Schreibung folgende implikative Beziehungen: c ⊃ d ⊃ a ⊃ e ⊃ b. Dass reale empirische Daten sich derart optimal verteilen, dürfte eher die Ausnahme sein. Vielmehr wird ein Datensatz in der Regel Abweichungen von dieser idealen Verteilung aufweisen, die durch das Auftreten des Wertes 0 innerhalb des Implikationsverbundes und ebenso durch Werte von 1 außerhalb des Verbundes sichtbar werden. Bei diesen als Deviationen bezeichneten Abweichungen handelt es sich um Kookkurrenzen von mindestens zwei sprachlichen Merkmalen, die sich nicht in den Implikationsverbund einordnen, obwohl von ihrer Zugehörigkeit zu selbigem ausgegangen wird (vgl. SMAZAL 1986, 197). Um auch bei einer nicht idealen Implikationsskala (also einer mit Deviationen) Aussagen über implikative Beziehungen treffen zu können, muss die Skala im Rahmen eines Toleranzbereichs liegen. Dieser wird durch die Berechnung verschiedener Koeffizienten bestimmt.201 Crep ist der Koeffizient der Reproduzierbarkeit: =1−



Er ermöglicht eine Aussage über die Reproduzierbarkeit der Daten und sollte bei mindestens 90 Prozent liegen. Ein Crep von unter 90 Prozent ist ein Indikator für einen Mangel an Vorhersagbarkeit der Daten. Im Anschluss an den Crep erfolgt die Berechnung des MMrep (minimal marginal reproducibility). Dieser gibt Auskunft über die Reproduzierbarkeit unter Ausschluss der Deviationen und wird wie folgt berechnet: =

korrekter ∗

Aus der Differenz dieser beiden Koeffizienten errechnet sich die prozentuale Verbesserung der Reproduzierbarkeit (% improvement in reproducibility): %

=



Der letzte Schritt gilt der Berechnung des Skalabilitätskoeffizienten (Cscal), der angibt, ob ein Datenset skalierbar und unidimensional ist. Er muss bei mindestens 60 Prozent liegen, um eine Skalierbarkeit zu gewährleisten und damit Aussagen über implikative Strukturen zu erlauben. =

%

201 Die Berechnungsformeln der Koeffizienten sowie die dazugehörigen Erläuterungen sind entnommen aus HATCH / FARHADY (1982, 178–181) und an den erforderlichen Stellen bereits an die hier vorzunehmende Berechnung angepasst.

147

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

Entscheidend für die implikative Bewertung der Daten sind die beiden Koeffizienten Crep und Cscal. Die Implikationsskala für alle Untersuchungsorte und -regionen aus dem Viëtor-Korpus ermöglicht keine Aussagen über implikative Beziehungen der untersuchten Variablen.202 Der Koeffizient der Reproduzierbarkeit (Crep) beträgt 0,82 und der Skalabilitätskoeffizient (Cscal) liegt bei 0,74.203 Cscal liegt damit zwar oberhalb der Minimalgrenze von 60 Prozent. Mit einem Crep von unter 90 Prozent ist die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse allerdings nicht gewährleistet. Für das gesamte Untersuchungsgebiet, welches sich sowohl über das Mitteldeutsche als auch über einen großen Teil des Niederdeutschen erstreckt, lassen sich für die rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch also keine implikativen Beziehungen und keine Merkmalshierarchie nachweisen. Das ist nicht weiter verwunderlich. Im Gegenteil: Implikative Beziehungen zwischen den Merkmalsverteilungen der einzelnen untersuchten landschaftlichen Oralisierungsnormen wären aufgrund der großen arealen Ausdehnung des Untersuchungsgebiets sowie der sich in den vorangehenden Analysen zum Teil gezeigten Heterogenität der Oralisierungsnormen nicht zu erwarten. Das Ergebnis der Implikationsanalyse für alle Untersuchungsorte und -regionen spricht also dafür, dass es im 19. Jahrhundert voneinander differenzierbare landschaftliche Oralisierungsnormen gegeben hat. Damit kann auch das diesbezügliche Ergebnis der Clusteranalyse gezeigt bestätigt werden (vgl. Kapitel 5.5.1). Um nun implikative Merkmalsbeziehungen für kleinere Räume zu überprüfen, werden im Folgenden geographisch sowie insbesondere dialektal näher zusammenliegende Orte und Regionen betrachtet. Die aus der vorangehenden Clusteranalyse gewonnenen Ergebnisse werden hierbei berücksichtigt und zugleich überprüft. 5.5.2.1 Implikationen im Thüringischen Das Viëtor-Korpus umfasst mit Artern, Gotha und Erfurt, Nordhausen und Aschersleben vier (bzw. fünf) thüringische Orte. Die in eine Implikationsskala überführten rekonstruierten Variationsphänomene dieser Orte sind in Tabelle 29 zu sehen: Artern Gotha Erfurt Nordhausen Aschersleben

1 1 1 1 1

4 1 1 1 1

24 1 1 1 1

15 1 1 1 1

21 1 1 1 1

8 1 1 0 1

23 1 1 0 1

10 1 1 1 0

14 1 1 1 0

12 1 1 1 0

22 1 1 1 0

18 1 0 1 0

19 1 0 1 0

25 1 1 0 0

26 1 1 0 0

2 0 1 0 0

20 1 0 0 0

3 0 0 0 1

9 0 0 0 1

11 0 0 0 0

13 0 0 0 0

7 0 0 0 0

6 0 0 0 0

5 0 0 0 0

16 0 0 0 0

17 0 0 0 0

Tab. 29: Implikationsskala der thüringischen Untersuchungsorte aus VIËTOR (1888b)

202 Aus diesem Grund wird auf einen Abdruck verzichtet. 203 MMrep: 0,28 und % improvement in reproducibility: 0,54.

27 0 0 0 0

28 0 0 0 0

29 0 0 0 0

30 0 0 0 0

148

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Da der Skalabilitätskoeffizient der dargestellten Skala bei 0,90 (= 90 Prozent) liegt sowie mit einem Crep von 0,94 (= 94 Prozent) auch die Reproduzierbarkeit gewährleistet ist, lassen sich Aussagen über implikative Beziehungen treffen.204 So ermöglicht die Reihenfolge der Variablen eine Vorhersage der Art, dass wenn beispielsweise eine regionale Variante der Variable 18 Teil des landschaftlichen Hochdeutsch ist, dann ist anzunehmen, dass das ebenso für Variable 22 zutrifft. Der Implikationsverbund integriert dabei sowohl vokalische, jedoch deutlich mehr konsonantische Variablen und zeigt die folgenden Hierarchiebeziehungen: 20 (anlautende g-Spirantisierung) ⊃ 2 (a-Palatalisierung) ⊃ 26 (Phonemzusammenfall /s/ und /z/) ⊃ 25 (r-Vokalisierung) ⊃ 19 (Lenisierung von intervokalischem [f]) ⊃ 18 (Phonemzusammenfall /d/ und /t/) ⊃ 22 (Lenisierung von [k]) ⊃ 12 (Vokal-Epenthese) ⊃ 14 (Phonemzusammenfall /b/ und /p/) ⊃ 10 (Entrundung) ⊃ 23 (orale Lösung von finalem ) ⊃ 8 (Hebung von [ɔ]) ⊃ 21 (in- und auslautende g-Spirantisierung) ⊃ 15 (inlautende b-Spirantisierung) ⊃ 24 (anlautende Deaffrizierung von [p͡f]) ⊃ 4 (inkonsistente Distribution der e-/äLaute) ⊃ 1 (a-Hebung).205 Zudem ist auffällig, dass bis auf die Variablen 3 und 9 (Kürze von /aː/ und Senkung von [uː] / [ʊ]; beide nur in Aschersleben belegt), die sich nicht in den Implikationsverbund integrieren, alle anderen in den thüringischen Orten belegten Variablen Teil des Verbundes sind. Die außerhalb liegende Position von Variable 3 (Kürze von /aː/) lässt sich dadurch erklären, dass es sich hierbei um ein niederdeutsches Phänomen handelt, welches für das nordthüringische Aschersleben rekonstruiert werden konnte. Zudem bilden die Variablen 1, 4, 24, 15 und 21 mit ihrer durchgängigen Belegung in allen vier Orten eine recht prominente Hierarchiespitze. Anhand der Implikationsskala lassen sich Prognosen über die diachrone Entwicklung der Untersuchungsvariablen aufstellen. So ist nach der vorliegenden Merkmalshierarchie davon auszugehen, dass sich die Variablen an der Hierarchiespitze (also 1, 4, 24, 15 und 21) weniger abbausensitiv verhalten als die am anderen Ende der Skala (etwa 20 oder 2). Demnach ist anzunehmen, dass die palatalen Varianten von /a/ sowie anlautende Spirans von /g/ am schnellsten abgebaut werden.206 Da der Ort Aschersleben in der vorangehenden Clusteranalyse nicht mit den anderen thüringischen Orten zusammengefasst wurde und auch im Implikationsverbund in Tabelle 29 unter anderem durch zwei Merkmale hervorsticht, die für die übrigen Orte nicht rekonstruiert wurden (und damit zu Deviationen führen), soll nun noch eine Implikationsanalyse ohne den Ort Aschersleben gezeigt werden (vgl. Tabelle 30). 204 MMrep: 0,4 und % improvement in reproducibility: 0,54. 205 Die Variablen [26 und 25], [19 und 18], [22, 12, 14 und 10], [23 und 8] sowie [21, 15, 24, 4 und 1] können in ihrer Position im Implikationsverbund innerhalb ihrer Gruppen gegeneinander ausgetauscht werden. Diese zu einer Gruppe gehörenden Variablen weisen jeweils die gleiche Verteilung auf, so dass hier sowohl von implikativen Beziehungen einzelner Variablen als auch von Variablengruppen ausgegangen werden kann. 206 Zur diachronen Betrachtung der regionalsprachlichen Dynamik vgl. Kapitel 6.

149

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

Artern Gotha Erfurt Nordhausen

1 1 1 1

4 1 1 1

24 1 1 1

15 1 1 1

21 1 1 1

10 1 1 1

14 1 1 1

12 1 1 1

22 1 1 1

18 1 0 1

19 1 0 1

8 1 1 0

23 1 1 0

25 1 1 0

26 1 1 0

2 0 1 0

20 1 0 0

3 0 0 0

9 0 0 0

11 0 0 0

13 0 0 0

7 0 0 0

6 0 0 0

5 0 0 0

16 0 0 0

17 0 0 0

27 0 0 0

28 0 0 0

29 0 0 0

30 0 0 0

Tab. 30: Implikationsskala der thüringischen Untersuchungsorte aus VIËTOR (1888b) ohne Aschersleben

Die Skala umfasst ohne Aschersleben deutlich weniger Deviationen. Der Skalabilitätskoeffizient liegt nun bei 0,94 (= 94 Prozent) und auch Crep hat sich erhöht auf 0,97 (= 97 Prozent).207 Somit lassen sich für die thüringischen Orte noch stärkere implikative Beziehungen zeigen, wenn Aschersleben von der Analyse ausgeschlossen wird. Im Folgenden sollen nun die westmitteldeutschen Untersuchungsorte des Viëtor-Korpus auf implikative Strukturen überprüft werden. 5.5.2.2 Implikationen im Westmitteldeutschen Die Skala der drei westmitteldeutschen Untersuchungsorte lässt ebenfalls implikative Strukturen erkennen, was der Skalabilitätskoeffizient von 0,92 (= 92 Prozent) sowie der Crep von 0,94 (= 94 Prozent) zeigen.208 Dabei sind in aufsteigender Reihenfolge folgende Hierarchiebeziehungen zwischen den Variablen enthalten: 26 (Phonemzusammenfall /s/ und /z/) ⊃ 22 (Lenisierung von [k]) ⊃ 18 (Phonemzusammenfall /d/ und /t/) ⊃ 17 (Koronalisierung) ⊃ 15 (inlautende bSpirantisierung) ⊃ 14 (Phonemzusammenfall /b/ und /p/) ⊃ 6 (Senkung von [iː] / [ɪ]) ⊃ 10 (Entrundung) ⊃ 8 (Hebung von [ɔ]) ⊃ 9 (Senkung von [uː] und [ʊ]) ⊃ 4 (inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute) ⊃ 24 (anlautende Deaffrizierung von [p͡f]) ⊃ 20 (anlautende g-Spirantisierung) ⊃ 3 (Kürze von /aː/) ⊃ 21 (in- und auslautende g-Spirantisierung) ⊃ 25 (r-Vokalisierung).209 Bad Ems Remscheid Mülheim

25 1 1 1

21 1 1 1

3 0 1 1

20 0 1 1

24 1 0 1

4 1 1 0

9 0 1 0

8 1 0 0

10 1 0 0

6 1 0 0

14 1 0 0

15 1 0 0

17 1 0 0

18 1 0 0

22 1 0 0

26 1 0 0

16 0 0 1

1 0 0 0

2 0 0 0

5 0 0 0

7 0 0 0

11 0 0 0

12 0 0 0

13 0 0 0

19 0 0 0

23 0 0 0

27 0 0 0

28 0 0 0

29 0 0 0

30 0 0 0

Tab. 31: Implikationsskala der westmitteldeutschen Untersuchungsorte aus VIËTOR (1888a und 1890b)

Auffällig sticht bei der Skala der westmitteldeutschen Untersuchungsorte Bad Ems hervor. Mit mehr als doppelt so vielen Merkmalen wie die anderen beiden 207 MMrep: 0,46 und % improvement in reproducibility: 0,51. 208 MMrep: 0,27 und % improvement in reproducibility: 0,68. 209 Die folgenden Variablengruppen haben die gleiche Merkmalsverteilung und könnten daher in der Skala innerhalb ihrer Gruppe die Positionen wechseln: [26, 22, 18, 17, 15, 14, 6, 10 und 8], [20 und 3] sowie [21 und 25].

150

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Orte bestimmt Bad Ems die Form des Implikationsverbundes maßgeblich. Entsprechend der Ergebnisse der vorangehenden Clusteranalyse wird Bad Ems daher aus der nachfolgenden Skala (vgl. Tabelle 32) ausgeschlossen. Mit nur zwei Orten ist diese Skala zwar sehr übersichtlich, zeigt aber stärkere implikative Beziehungen. Der Skalabilitätskoeffizient liegt hier bei 0,96 (= 96 Prozent) und Crep beträgt 0,97 (= 97 Prozent).210 Remscheid Mülheim

25 21 3 20 24 4 9 8 10 6 14 15 17 18 22 26 16 1 2 5 7 11 12 13 19 23 27 28 29 30 1 1 1 1 0 1 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Tab. 32: Implikationsskala von Remscheid und Mülheim an der Ruhr aus VIËTOR (1888a)

Einen gemeinsamen Stamm in diesem Verbund bilden die Variablen 25, 21, 3 und 20 (in- und auslautende g-Spirantisierung, r-Vokalisierung, Kürze von /aː/ und anlautende g-Spirantisierung). Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass sich lediglich eine Deviation außerhalb des Implikationsverbundes befindet.211 Der enge Zusammenhang der beiden Orte Remscheid und Mülheim an der Ruhr, der bereits in der Clusteranalyse hervortrat, bestätigt sich im Hinblick auf die implikativen Strukturen ebenfalls. Hinsichtlich der Abbausensitivität der Untersuchungsvariablen wäre auf Grundlage dieser Skala anzunehmen, dass die gerade aufgeführten Merkmale, die den gemeinsamen Stamm bilden, diachron stabil erhalten bleiben müssten, wohingegen sich etwa die velarisierten Varianten von [ç] deutlich abbausensitiver verhalten sollten (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.5.2.2 und 6). 5.5.2.3 Implikationen im Niederdeutschen Nach den mitteldeutschen sollen nun die niederdeutschen Orte auf gemeinsame implikative Beziehungen der rekonstruierten Merkmale überprüft werden. Dazu werden zunächst die vier im Nordniederdeutschen liegenden Untersuchungsorte betrachtet:

210 MMrep: 0,18 und % improvement in reproducibility: 0,78. 211 Die Velarisierung von [ç] (Variable 16), die im untersuchten Korpus außerdem im westlichen Ostfriesland als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch rekonstruiert werden konnte, fügt sich unabhängig von der Zusammenstellung der untersuchten Orte in keinen Implikationsverbund ein.

151

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

Flensburg w. Ostfriesl. Segeberg Ostfriesland

3 1 1 1 1

4 1 1 1 1

1 1 1 1 1

25 1 1 1 1

5 1 1 1 1

21 1 1 1 1

24 1 1 1 1

27 1 1 1 1

23 0 1 1 1

2 1 0 1 1

7 1 0 1 0

26 1 0 1 0

18 1 1 0 0

9 1 0 0 0

6 1 0 0 0

22 1 0 0 0

13 1 0 0 0

14 1 0 0 0

20 0 1 0 0

11 0 1 0 0

16 0 1 0 0

30 0 1 0 0

28 0 1 0 0

29 0 1 0 0

19 0 0 0 0

17 0 0 0 0

15 0 0 0 0

12 0 0 0 0

10 0 0 0 0

8 0 0 0 0

Tab. 33: Implikationsskala der nordniederdeutschen Untersuchungsorte und -regionen aus VIËTOR (1888a und 1890a)

Die Skala der nordniederdeutschen Orte zeigt ebenfalls implikative Beziehungen der Untersuchungsvariablen. Der Skalabilitätskoeffizient liegt hier bei 0,86 (= 86 Prozent) und der Crep bei 0,92 (= 92 Prozent).212 Die Merkmalshierarchie ist in aufsteigender Richtung wie folgt ausgestaltet: 14 (Phonemzusammenfall /b/ und /p/) ⊃ 13 (Vorverlagerung/Hebung ) ⊃ 22 (Lenisierung von [k]) ⊃ 6 (Senkung von [iː] / [ɪ]) ⊃ 9 (Senkung von [uː] / [ʊ]) ⊃ 18 (Phonemzusammenfall /d/ und /t/) ⊃ 26 (Phonemzusammenfall /s/ und /z/) ⊃ 7 (Rundung von [iː] / [ɪ]) ⊃ 2 (a-Palatalisierung) ⊃ 23 (orale Lösung von finalem ) ⊃ 27 (Bewahrung /s/ vor p und t) ⊃ 24 (anlautende Deaffrizierung von [p͡f]) ⊃ 21 (in- und auslautende g-Spirantisierung) ⊃ 5 (Diphthongierung von /eː/) ⊃ 25 (r-Vokalisierung) ⊃ 1 (a-Hebung) ⊃ 4 (inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute) ⊃ 3 (Kürze von /aː/).213 Charakteristisch für den Implikationsverbund der nordniederdeutschen Orte ist eine solide Basis an Merkmalen für alle vier Untersuchungsorte, die durch acht Variablen vertreten ist. Neben typisch niederdeutschen Phänomenen wie etwa der Diphthongierung von /eː/ (Variable 5) finden sich an der Spitze der Merkmalshierarchie aber auch großlandschaftlich verbreitete Phänomene wie die in- und auslautende g-Spirantisierung (Variable 21). Daneben ist auffällig, dass sich die außerhalb des Implikationsverbundes liegenden Deviationen lediglich aus einem Untersuchungsort speisen. Bei diesen im westlichen Ostfriesland rekonstruierten Phänomenen (Variablen 20, 11, 16, 30, 28 und 29) handelt es sich größtenteils um solche dialektalen Ursprungs, die sich im Merkmalsbestand des landschaftlichen Hochdeutsch anderer niederdeutscher Orte oder Regionen nicht zeigen. Dies deutet darauf hin, dass für das westliche Ostfriesland ein eigenes landschaftliches Hochdeutsch anzunehmen ist. Ebenfalls auffällig sind die fünf lediglich in Flensburg vorkommenden Merkmale. Auch diese können auf ein eigenes landschaftliches Hochdeutsch hindeuten. Neben den nordniederdeutschen Orten enthält das untersuchte Korpus noch zwei weitere niederdeutsche Orte. Während Greifswald (Mecklenburg-Vorpommerisch) aufgrund der bereits thematisierten unvollständigen Datengrundlage nicht sinnvoll in eine Implikationsanalyse einbezogen werden kann, soll im nächsten Schritt Hannover (Ostfälisch) mit betrachtet werden. Zwar wird die zuvor durchgeführte Implikationsanalyse der nordniederdeutschen Orte hierbei 212 MMrep: 0,41 und % improvement in reproducibility: 0,51. 213 Auch hier weisen wieder Gruppen von Variablen die gleiche Verteilung auf, so dass ihre Positionen in der Skala innerhalb „ihrer“ Gruppe variabel sind. Es sind dies: [14, 13, 22, 6 und 9], [26 und 7] sowie [27, 24, 21, 5, 25, 1, 4 und 3].

152

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

lediglich um einen weiteren Untersuchungsort ergänzt, dennoch kann auf diese Weise (zumindest in Ansätzen) überprüft werden, ob sich implikative Beziehungen auch für ein weiter ausgedehntes niederdeutsches Gebiet nachweisen lassen. Die Skala ist in Tabelle 34 zu sehen:

Flensburg w. Ostfriesl. Segeberg Ostfriesland Hannover

3 1 1 1 1 1

4 1 1 1 1 1

21 1 1 1 1 1

24 1 1 1 1 1

27 1 1 1 1 1

2 1 0 1 1 1

23 0 1 1 1 1

1 1 1 1 1 0

5 1 1 1 1 0

25 1 1 1 1 0

7 1 0 1 0 0

26 1 0 1 0 0

18 1 1 0 0 0

9 1 0 0 0 0

6 1 0 0 0 0

22 1 0 0 0 0

13 1 0 0 0 0

14 1 0 0 0 0

20 0 1 0 0 0

11 0 1 0 0 0

16 0 1 0 0 0

30 0 1 0 0 0

28 0 1 0 0 0

29 0 1 0 0 0

19 0 0 0 0 0

17 0 0 0 0 0

15 0 0 0 0 0

12 0 0 0 0 0

10 0 0 0 0 0

8 0 0 0 0 0

Tab. 34: Implikationsskala der niederdeutschen Untersuchungsorte und -regionen aus VIËTOR (1888a und 1890a)

Auch für alle niederdeutschen Orte lassen sich bei einem Skalabilitätskoeffizienten von 0,89 (= 89 Prozent) und einem Crep von 0,93 (= 93 Prozent) implikative Strukturen unter den Variablen nachweisen.214 Die in aufsteigender Reihenfolge sich abzeichnende Merkmalshierarchie umfasst dabei die folgenden Variablen: 14 (Phonemzusammenfall /b/ und /p/) ⊃ 13 (Vorverlagerung/Hebung ) ⊃ 22 (Lenisierung von [k]) ⊃ 6 (Senkung von [iː] / [ɪ]) ⊃ 9 (Senkung von [uː] / [ʊ]) ⊃ 18 (Phonemzusammenfall /d/ und /t/) ⊃ 26 (Phonemzusammenfall /s/ und /z/) ⊃ 7 (Rundung von [iː] / [ɪ]) ⊃ 25 (r-Vokalisierung) ⊃ 5 (Diphthongierung von /eː/) ⊃ 1 (a-Hebung) ⊃ 23 (orale Lösung von finalem ) ⊃ 2 (a-Palatalisierung) ⊃ 27 (Bewahrung /s/ vor p und t) ⊃ 24 (anlautende Deaffrizierung von [p͡f]) ⊃ 21 (in- und auslautende g-Spirantisierung) ⊃ 4 (inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute) ⊃ 3 (Kürze von /aː/). Die Merkmalshierarchie gestaltet sich erwartungsgemäß ähnlich wie bei der Skala der nordniederdeutschen Orte. Dennoch gibt es kleinere Veränderungen. So besteht der gemeinsame Stamm aller niederdeutschen Orte aus fünf Variablen, die als gemeinsame Basis der landschaftlichen Hochdeutschrealisierungen auf niederdeutschem Gebiet angesehen werden können. Dabei handelt es sich um drei großlandschaftlich verbreitete Phänomene (inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute, in- und auslautende gSpirantisierung und anlautende Deaffrizierung von [p͡f]) sowie um zwei auf das Niederdeutsche (bzw. seine angrenzenden Übergangsgebiete) beschränkte Merkmale (Kürze von /aː/ und Bewahrung /s/ vor p und t). Bei diesen kann von einer erhöhten Abbauresistenz ausgegangen werden. Die einzigen außerhalb des Implikationsverbundes liegenden Deviationen speisen sich auch hier wieder aus den bereits thematisierten Phänomenen des westlichen Ostfrieslands. Hervorzuheben ist zudem die Position von Hannover in der Implikationsskala. Mit insgesamt (nur) sieben rekonstruierten Merkmalen positioniert sich der Ort des „besten Hochdeutsch“ am unteren Ende der Skala. Die Implikationsskala allein der nordniederdeutschen Orte liefert nur minimal abweichende Werte von der Skala aller niederdeutschen Orte. Letztere erbringt sogar minimal höhere 214 MMrep: 0,37 und % improvement in reproducibility: 0,56.

153

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

Werte, so dass von etwas stärkeren implikativen Beziehungen aller niederdeutschen Untersuchungsorte im Vergleich zu allen nordniederdeutschen ausgegangen werden kann. Nachdem die Implikationsanalyse für die niederdeutschen Untersuchungsorte zwar gleichwohl implikative Beziehungen aufweisen konnte, sich bei den Erhebungsorten/-regionen Flensburg und westliches Ostfriesland aber die Existenz eines jeweils eigenen landschaftlichen Hochdeutsch angedeutet hat, soll nun eine Implikationsanalyse ohne diese beiden Orte/Regionen folgen. Diese wird auch durch die Ergebnisse der Clusteranalyse nahe gelegt (vgl. Kapitel 5.5.1). Zur Erinnerung: Segeberg und Ostfriesland fusionierten im ersten Schritt zu einem gemeinsamen Cluster und mit geringer Distanz kam im nächsten Schritt Hannover zu dieser Gruppe dazu. Die Implikationsskala von Segeberg, Ostfriesland und Hannover ist in Tabelle 35 zu sehen:

Segeberg Ostfriesland Hannover

3 1 1 1

4 1 1 1

2 1 1 1

21 1 1 1

24 1 1 1

27 1 1 1

23 1 1 1

1 1 1 0

5 1 1 0

25 1 1 0

7 1 0 0

26 1 0 0

18 0 0 0

9 0 0 0

6 0 0 0

22 0 0 0

13 0 0 0

14 0 0 0

20 0 0 0

11 0 0 0

16 0 0 0

30 0 0 0

28 0 0 0

29 0 0 0

19 0 0 0

17 0 0 0

15 0 0 0

12 0 0 0

10 0 0 0

8 0 0 0

Tab. 35: Implikationsskala von Segeberg, Ostfriesland und Hannover aus VIËTOR (1888a und 1890a)

Deutlicher als in der hier vorliegenden Skala lassen sich die implikativen Beziehungen nicht ausweisen. Ein Blick auf die Tabelle zeigt sofort, dass hier eine ideale Implikationsskala vorliegt und der Skalabilitätskoeffizient sowie Crep demnach bei 1 (= 100 Prozent) liegen.215 Für Segeberg, Ostfriesland und Hannover ist demnach sehr sicher von einem einheitlichen landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert auszugehen. 5.5.2.4 Zusammenfassung und Fazit der Implikationsanalyse In Tabelle 36 sind die Koeffizienten der Implikationsanalysen verschiedener Subgliederungen absteigend sortiert aufgeführt.

215 MMrep: 0,32 und % improvement in reproducibility: 0,68.

154

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Subgliederung Segeberg–Ostfriesland–Hannover Westdeutsch ohne Bad Ems Thüringisch ohne Aschersleben Westdeutsch gesamt Thüringisch gesamt Niederdeutsch gesamt Nordniederdeutsch (ohne Hannover) Mitteldeutsch gesamt Alle

Crep 1 0,97 0,97 0,94 0,94 0,93 0,92 0,9 0,82

Cscal 1 0,96 0,94 0,92 0,90 0,89 0,86 0,85 0,74

Tab. 36: Absteigend sortierte Koeffizienten der Implikationsanalysen verschiedener Subgliederungen

Die Anwendung der Implikationsanalyse auf alle VIËTOR’schen Untersuchungsorte und -regionen gemeinsam konnte, wie bereits erläutert, keine implikativen Strukturen innerhalb der rekonstruierten Untersuchungsvariablen aufzeigen und nimmt den untersten Platz in der Tabelle ein. Dementsprechend ist von einer (mehr oder weniger stark ausgeprägten) Diversität der landschaftlichen Oralisierungsnormen des 19. Jahrhunderts auszugehen. Dieses Ergebnis entspricht einerseits den Einzelrekonstruktionen (vgl. Kapitel 5.3) und bestätigt andererseits die Forschungsmeinung zu diesem Thema. Bei der Betrachtung der kleinräumig gefassten Gruppen an Untersuchungsorten und -regionen konnten hingegen klare implikative Strukturen herausgearbeitet (vgl. zur Übersicht Tabelle 36) und Zusammenhänge im Auftreten der rekonstruierten Einzel-Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch aufgezeigt werden. So lassen sich Raumstrukturen der traditionellen Dialekteinteilung (vgl. etwa WIESINGER 1983e) auch im landschaftlichen Hochdeutsch wiederfinden. Dies gilt sowohl für kleinere Dialektgebiete wie das Thüringische als auch für Großräume wie das Mitteldeutsche oder das Niederdeutsche. Besonders ausgeprägt sind die implikativen Beziehungen allerdings bei den Subgliederungen, die durch die Clusteranalyse als eine Gruppe und damit ein landschaftliches Hochdeutsch ausgewiesen wurden. Der Implikationsverbund der niederdeutschen Orte/Regionen Segeberg, Ostfriesland und Hannover weist gar eine sehr klare implikative Struktur (ohne jegliche Deviationen) auf. Damit konnte gezeigt werden, dass in den Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch Grenzen der Dialektverbände erkennbar sind. Allerdings sind die dialektalen Grenzen nicht allein raumstrukturierend für die historische Prestigevarietät. So konnte etwa mit dem landschaftlichen Hochdeutsch von Segeberg–Ostfriesland–Hannover die Überwindung von Dialektgrenzen in der Prestigevarietät festgestellt werden. Die sich im Rahmen der Implikationsanalyse abzeichnenden Prognosen hinsichtlich der Abbausensitivität von Variationsphänomenen werden bei der Betrachtung der diachronen Entwicklung (vgl. Kapitel 6) weiter verfolgt.

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

155

Bevor auf die Dynamik des landschaftlichen Hochdeutsch und seine diachronen Veränderungen hin zum Regiolekt näher eingegangen wird, soll zunächst noch untersucht werden, ob die hier aufgezeigten raumstrukturellen Zusammenhänge tatsächlich plausibel die Grenzen des landschaftlichen Hochdeutsch bzw. der großlandschaftlichen Oralisierungsnormen des 19. Jahrhunderts abbilden. Um das zu überprüfen, bietet sich ein Vergleich zu der von LAMELI (2013) vorgelegten Studie an.

5.5.3 Vergleich mit LAMELI (2013) LAMELI (2013) hat eine quantitative Studie vorgelegt, in der er Ähnlichkeiten (Similarität) zwischen den deutschen Dialekten des 19. Jahrhunderts ermittelt und horizontale Strukturen des deutschen Dialektraumes zur Darstellung bringt. Die hierfür verwendeten Daten basieren auf GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (vgl. hierzu auch Kapitel 7). Auf dieser Datenbasis hat FERDINAND WREDE eine Einteilungskarte der deutschen Dialekte publiziert, die gleichzeitig eine Klassifikation der umfangreichen Datenmasse des Atlasses leistet. Die in LAMELI (2013) ausgewerteten Daten beruhen wiederum auf den von WREDE für seine Klassifikation als raumbildend angesehenen linguistischen Variablen. So wertet LAMELI insgesamt 66 phonetisch-phonologische und morphologische Variablen hinsichtlich ihrer jeweiligen sprachlichen Realisierungen aus. Die Auswertung geschieht für das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland und zwar auf Landkreisebene (die 30.000 Erhebungsorte des Gebietes werden dadurch auf die handhabbarere Größe von 439 Landkreisen reduziert). Mithilfe statistischer Verfahren werden die Variantenverteilungen aller Variablen der betrachteten Landkreise untereinander verglichen. Auf diese Weise werden die Ähnlichkeiten (Similarität) der Dialekte ermittelt und auf Signifikanz überprüft. Mithilfe statistischer Klassifikationsverfahren lassen sich diese Analyseergebnisse hierarisch zusammenfassen und räumlich darstellen. Als Ergebnis stellt LAMELI (2013, 327) „ein auf interdialektalen Ähnlichkeiten beruhendes Kategorienmodell der Dialekte in Deutschland“ auf, dass er als Similaritäts-Modell (kurz: SIM-Modell) bezeichnet.216

216 Die im SIM-Modell zum Ausdruck kommenden Hierarchien werden graphisch durch unterschiedlich starke Linien veranschaulicht (vgl. Abb. 3).

156

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

Abb. 3: „Gliederung der Dialekte“ nach LAMELI; oben: „SIM-Modell aufgrund fusionierter Similaritäten“; unten: „generalisierte Raumrelationen“ (LAMELI 2013, 193–194)

Im Wesentlichen steht die von LAMELI anhand des SIM-Modells aufgestellte Gliederung des deutschen Dialektraumes mit anderen Dialekteinteilungen (etwa WIESINGER 1983e) im Einklang. Ein deutlicher Unterschied zu den traditionellen Gliederungen zeigt sich allerdings in der Hierarchisierung der Dialekträume. So kann das SIM-Modell beispielsweise zeigen, dass sich die niederdeutschen Subdialekte untereinander wesentlich ähnlicher sind als die hochdeutschen und sich Erstere damit auf einem anderen Differenzierungslevel befinden (vgl. LAMELI 2013, 187). Diese Ähnlichkeit der niederdeutschen Subdialekte erschwert auch eine Abgrenzung selbiger untereinander (vgl. LAMELI 2013, 214). So weist das

5.5 Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch

157

SIM-Modell auf der obersten Hierarchieebene eine Unterteilung in das Nordfriesische, das Niederdeutsche, das Westdeutsche und das Hochdeutsche auf. Das Hochdeutsche gliedert sich auf der nächsten Ebene unmittelbar in Mitteldeutsch und Oberdeutsch auf, ebenso wie das Westdeutsche in Niederfränkisch und Mittelfränkisch. Die Differenzierung des Niederdeutschen in ein nördliches und ein südliches Niederdeutsch hingegen erfolgt, wie bereits angedeutet, erst auf einer tieferen Hierarchieebene, auf der sich beispielsweise auch die Differenzierung des Ostoberdeutschen in Ostfränkisch und Bairisch befindet. LAMELIS SIM-Modell liefert aber nicht nur eine Raumgliederung der deutschen Dialekte des 19. Jahrhunderts, sondern leistet zugleich eine Einteilung der Regionalsprachen des Deutschen, weshalb es hier zum Vergleich herangezogen werden soll. So gelangt LAMELI (2013, 247) nach der Betrachtung der raumstrukturellen Zusammenhänge zwischen den von ihm analysierten Dialektdaten und der Schriftsprache in verschiedenen Analyseschritten zu dem Ergebnis, dass „die Einheiten des SIM-Modells die Grenzen der modernen Regionalsprachen abbilden, an denen sich auch die schrift- bzw. standardnahen Sprechlagen des Varietätengefüges orientieren“. Gemäß der oben angeführten sprachdynamischen Definition (vgl. Kapitel 2.4), nach der eine Regionalsprache ihre historische Basis auf einer großlandschaftlichen Oralisierungsnorm (also einem landschaftlichen Hochdeutsch) hat, bietet sich ein Vergleich der Ergebnisse der hier durchgeführten Clusteranalyse (vgl. Kapitel 5.5.1) mit den Ergebnissen LAMELIS an, um die herausgearbeiteten Grenzen des landschaftlichen Hochdeutsch überprüfen zu können.217 Wie oben bereits ausgeführt, fusionieren als Subcluster von Hauptcluster 1 die beiden Erhebungsorte Remscheid und Mülheim auf einer sehr frühen Stufe. Die Clusteranalyse zeigt also ein hohes Maß an Ähnlichkeit, so dass von einem gemeinsamen landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen wurde. Der Vergleich mit LAMELI (2013) kann diese Annahme stützen. So zeigt sich in seinen Analysen bereits auf der ersten Hierarchieebene eine Separierung des Mittelfränkischen aus dem hochdeutschen Verbund (vgl. LAMELI 2013, 205), so dass das SIM-Modell deutlich eine „räumliche Sonderstellung“ des Westdeutschen ausweist. Zwar kann der Vergleich mit den Viëtor-Daten lediglich auf zwei Erhebungsorten beruhen, gleichwohl können sich die beiden Ergebnisse gegenseitig bestätigen. Im Hauptcluster 2 der Viëtor-Daten fusionieren die thüringischen Erhebungsorte Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz, so dass für sie ein gemeinsames landschaftliches Hochdeutsch anzunehmen ist. Dies steht in Einklang mit der von LAMELI (2013, 165) ausgewiesenen „relativen thüringischen Isolation“. Die Clusterung der niederdeutschen Erhebungsorte ist im Vergleich zu LAMELI (2013) besonders interessant. Wie bereits ausgeführt, weist das SIMModell eine recht große Ähnlichkeit der niederdeutschen Subdialekte unterei217 Da die analysierten Viëtor-Materialien keine Daten zum Oberdeutschen enthalten, kann für diesen Raum kein Vergleich vorgenommen werden.

158

5 Wilhelm Viëtor „Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“

nander und damit eine späte Differenzierung des Niederdeutschen insgesamt aus. Die Viëtor-Daten zum landschaftlichen Hochdeutsch können nun ganz klar ein Cluster zeigen, in dem sich alle niederdeutschen Orte befinden (Subcluster zu Hauptcluster 1). Innerhalb dieser Clusterung nehmen Flensburg und das westliche Ostfriesland jeweils eine außenstehende Position ein, die sich durch die stärkere Bewahrung niederdeutscher Merkmale erklärt. Ausgesprochen früh erfolgt allerdings die Fusionierung der Erhebungsorte/-regionen Segeberg, Ostfriesland und Hannover. Obgleich diese (nach der Einteilung WIESINGERS 1983e) in unterschiedlichen Dialektgebieten liegen (Nordniedersächsisch und Ostfälisch) wird aufgrund der Clusteranalyse und dem deutlichen Ergebnis der Implikationsanalyse von einem gemeinsamen landschaftlichen Hochdeutsch ausgegangen. Dieser Befund lässt sich durch die späte Ausdifferenzierung des Niederdeutschen im SIM-Modell gut erklären und bestätigen. In den Dialekten des 19. Jahrhunderts deutet sich also der im landschaftlichen Hochdeutsch nachweisbare großlandschaftliche Raum bereits an. Dass sich diese Entwicklung in den modernen Regionalsprachen noch weiter in gleicher Richtung fortgesetzt hat, zeigen die Analysen zur diachronen Entwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch in Kapitel 6 dieser Arbeit. Der Vergleich der beiden Studien kann also – trotz der vergleichsweise geringen Korpusgröße der Viëtor-Daten – eine gegenseitige Bestätigung der erzielten Ergebnisse liefern. Dadurch können einige areale Grenzen des landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert nun erstmals als empirisch nachgewiesen gelten. 5.6 Zusammenfassung Abschließend sollen die Ergebnisse der umfassenden Analysen, die auf Basis von WILHELM VIËTORS „Beiträge[n] zur Statistik der Aussprache des schriftdeutschen“ (1888–1890) durchgeführt wurden, zusammengefasst werden. Zunächst ist allgemein festzuhalten, dass sich dieses Korpus zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhunderts als sehr gut geeignet erwiesen hat. Es konnten zu 13 Untersuchungsorten und -regionen aus dem mittel- und niederdeutschen Raum je eigene Sets an phonetisch-phonologischen Variationsphänomenen rekonstruiert werden, die als charakteristisch für die jeweilige landschaftliche Prestigevarietät angesehen werden können. Diese Phänomene wurden auf solider Quellenbasis validiert. Dadurch konnte überprüft werden, ob es sich bei den Angaben im Viëtor-Korpus 1. überhaupt um validierbare Phänomene handelt, 2. ob diese für den „alten“ Dialekt belegt sind oder 3. durch (überregionale) Ausgleichsprozesse bzw. Artikulationsvereinfachungen zustande gekommen sind. Es hat sich gezeigt, dass die meisten der rekonstruierten lautlichen Besonderheiten ihren Ursprung im jeweiligen Dialekt der untersuchten Region haben. Somit konnte empirisch bestätigt werden, dass das landschaftliche Hochdeutsch vorrangig durch den Dialekt beeinflusst und geprägt war. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass diese dialektale Prägung keineswegs für alle Untersu-

5.6 Zusammenfassung

159

chungsorte und -regionen gleichermaßen stark war. So konnten neben vergleichsweise konservativen, das heißt stark dialektal geprägten Regionen auch recht schriftsprachnahe Orte identifiziert werden. Neben den Phänomenen dialektalen Ursprungs ließen sich außerdem solche rekonstruieren, die sich sowohl gegen den historischen Dialekt als auch gegen die Schriftsprache im landschaftlichen Hochdeutsch etabliert haben. Als das prägnanteste, da am weitesten verbreitete Phänomen hat sich dabei die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] erwiesen. Im Anschluss an die orts- bzw. regionsgebundenen Einzeluntersuchungen wurden die dort gewonnenen Ergebnisse auf inhärente statistische Zusammenhänge überprüft. Dazu wurden zunächst mithilfe des statistischen Verfahrens der Clusteranalyse auf Basis der Untersuchungsvariablen und ihrer Verteilung Gruppen ähnlicher Untersuchungsorte/-regionen ermittelt. Anschließend wurden bei der Untersuchung kleinerer Gruppen von Orten/Regionen implikative Strukturen innerhalb der Untersuchungsvariablen aufgezeigt. Zudem wurden die Zusammenhänge zwischen den ermittelten Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch mit denen der alten Dialekte aufgezeigt und mit dem SIM-Modell nach LAMELI (2013) verglichen. Die großen Übereinstimmungen der jeweils ermittelten Raumstrukturen erlauben erstmals empirisch basierte Aussagen über die Raumstrukturen und die Reichweite des landschaftlichen Hochdeutsch. Die Auswertungen des Viëtor-Korpus konnten zudem zeigen, dass die Informanten in den Fragebögen im Wesentlichen verlässliche Angaben gemacht haben (vgl. die Ausführungen in Kapitel 5.1). Nur so lassen sich die aufgezeigten statistischen Zusammenhänge erklären. Hätten die Informanten unzuverlässige Angaben gemacht, um entweder die Besonderheiten ihrer jeweiligen sprachlichen Herkunft zu betonen oder um ihre Lesesprache überregionaler erscheinen zu lassen, müssten diese interindividuell wesentlich heterogener ausfallen. Insofern eignen sich die Daten trotz oder gerade wegen der phonetischen Kenntnisse der Informanten zur Rekonstruktion der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch in hervorragender Weise. Des Weiteren können mithilfe der in den Implikationsanalysen aufgestellten Merkmalshierarchien Prognosen über die Abbausensitivität der regionalen Varianten der untersuchten Variationsphänomene aufgestellt werden. Auf diese soll im Folgenden näher eingegangen werden.

6 DYNAMIK DIACHRONE VERÄNDERUNGEN VOM LANDSCHAFTLICHEN HOCHDEUTSCH ZUM REGIOLEKT Hauptziel dieser Arbeit ist eine empirisch basierte Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dies konnten die vorangehenden Analysen des Viëtor-Korpus (vgl. Kapitel 5) für verschiedene Räume leisten. Aufbauend auf diesen Ergebnissen soll nun die diachrone Entwicklung der rekonstruierten landschaftlichen Oralisierungsnormen in den Blick genommen werden. Wie oben ausgeführt (vgl. Kapitel 2.4), geht die Forschung davon aus, dass mit der massenmedialen Verfügbarkeit einer neuen nationalen Oralisierungsnorm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Umwertung des landschaftlichen Hochdeutsch stattgefunden hat. Das ehemals „beste“ Hochdeutsch einer Region wurde nun in seiner regionalen Begrenztheit wahrgenommen. Die damalige Prestigeaussprache wurde damit Teil einer sich neu konstituierenden Regionalsprache und ordnete sich in einem vertikal gedachten Varietätenspektrum unterhalb der nationalen Standardsprache ein. In dieser Annahme handelt es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um den historischen Vorläufer der rezenten standardnahen und -nächsten Varietäten und Sprechlagen. Dieser „mittlere“ Bereich des Varietätenspektrums wird hier – analog zur Sprachdynamiktheorie (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011) – als Regiolekt bezeichnet. In der Literatur gibt es dafür unterschiedliche Bezeichnungen wie zum Beispiel „Umgangssprache“, „Neuer Substandard“, „Regionalstandard“ oder „Gebrauchsstandard“. Die hinter den Begriffen stehenden Konzepte werden hier nicht thematisiert, da sie für die vorliegende Arbeit nicht relevant sind. Um zumindest stichprobenartig empirisch testen zu können, ob es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um den historischen Vorläufer des Regiolekts handelt, soll nun die regionalsprachliche Dynamik in den Blick genommen werden. Dafür wird überprüft, inwieweit sich die rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch noch in den Regiolekten der modernen Regionalsprachen finden lassen. Ziel einer solchen Betrachtung ist zum einen die Überprüfung der These, dass es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um den historischen Vorläufer des Regiolekts handelt. Darüber hinaus sind dadurch Aussagen über die Abbausensitivität von linguistischen Merkmalen zu erwarten. Eine Merkmalsklassifizierung anhand des Kriteriums der Abbausensitivität218 kann aufzeigen, wie die diachrone Entwicklung (von Typen) linguistischer Merkmale in den jeweils standardnahen und -nächsten Registern verläuft. Außerdem soll exemplarisch überprüft werden, inwieweit die geographische Reichweite eines landschaftlichen Hochdeutsch mit der einer korrespondierenden rezenten Regionalsprache übereinstimmt. Dafür werden Teile des niederdeutschen Sprach218 Vgl. zu dieser Art der Merkmalstypisierung auch LENZ (2003).

162

6 Dynamik

gebiets in den Blick genommen. Dies geschieht nicht nur aus forschungspraktischen Gründen (umfangreichere Datengrundlage), sondern insbesondere aufgrund der dort zu erwartenden regionalsprachlichen Dynamik. Während hier in der vorangehenden Rekonstruktion (vgl. Kapitel 5) für das landschaftliche Hochdeutsch sowohl eine recht kleinräumige Ausdifferenzierung als auch eine Dialektgrenzen überschreitende, großräumige Einheitlichkeit festgestellt werden konnte, könnte für die rezenten Sprachverhältnisse eine großräumigere Oralisierungsnorm angenommen werden219 (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 74). Daher verspricht die diachrone Betrachtung interessante Einblicke in die Reichweite der Oralisierungsnormen. Als Datengrundlage für die Analyse der diachronen Entwicklung dienen die Ergebnisse der Untersuchungen des Viëtor-Korpus (vgl. Kapitel 5). Die dort rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch werden mit diatopisch jeweils geeigneten, neueren Studienergebnissen zum Regiolekt verglichen. Das Sprachmaterial der Vergleichsstudien ist dabei unterschiedlichen Alters. Es deckt einen Zeitraum von 1961 (Pfeffer-Korpus ausgewertet in LAUF 1994) bis etwa 2010 (SiN-Erhebungen, publiziert in ELMENTALER / ROSENBERG 2015b) ab. Damit entstammen alle Sprachdaten einer Zeit, in der es kein landschaftliches Hochdeutsch mehr gegeben hat, und somit sichergestellt ist, dass ein Vergleich mit dem Regiolekt und nicht innerhalb der historischen Prestigevarietät vorgenommen wird. Bei dem Vergleich wird überprüft, welche rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch sich im Regiolekt erhalten haben, welche im Abbau begriffen sind und welche in den Vergleichsstudien nicht belegt sind. Die Zeitspanne von etwa 50 Jahren, über die sich die Datenerhebungen der Vergleichsstudien erstrecken, macht es möglich, dass auch ein potentieller Variantenabbau innerhalb dieser Zeit beobachtet werden kann. Die Untersuchung erfolgt nicht auf Basis von Frequenzen regionaler Varianten.220 Zwar liegen in den hinzugezogenen Vergleichsstudien und -korpora zum Teil Angaben zu Häufigkeitsverteilungen vor, für das rekonstruierte landschaftliche Hochdeutsch sind Angaben zu Häufigkeiten einzelner Varianten aber nicht ansatzweise möglich. Daher können quantitative Aussagen lediglich zu dem Status einer Variante im Regiolekt getroffen werden. Der Vergleich der beiden Zeitschnitte wird im Folgenden nicht für jeden Ort separat erfolgen. Vielmehr soll eine Gruppierung auf Grundlage der Ergebnisse der in Kapitel 5.5.1 dargestellten Clusteranalyse vorgenommen werden. Die hier ermittelten Cluster basieren auf der Verteilung der rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch in den Erhebungsorten und -regionen. Dadurch, dass die Clusterung der Orte auf Basis dieser phonetisch-phonologischen Phänomene erfolgt, werden also Orte mit ähnlicher Merkmalsverteilung zusammengefasst. Auf dieser Grundlage kann angenommen werden, dass alle in einem Cluster zusammengefassten Orte im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem landschaftlichen Hochdeutsch gehörten, wohingegen für Orte, die nicht in diesem 219 Dies soll im Folgenden ebenfalls ansatzweise überprüft werden. 220 Vgl. zu diesem Vorgehen beispielsweise STEINER (1994), LENZ (2003) oder LAMELI (2004).

6.1 Mülheim an der Ruhr und Remscheid

163

Cluster liegen, ein anderes landschaftliches Hochdeutsch angenommen werden muss. Darauf aufbauend werden die folgenden Untersuchungsorte/-regionen einzeln bzw. gemeinsam betrachtet: 1. Mülheim an der Ruhr und Remscheid. Diese beiden Orte bilden sehr früh ein gemeinsames Cluster. Beide liegen im niederfränkisch-ripuarischen Übergangsgebiet und damit auch an der Grenze vom niederdeutschen zum mitteldeutschen Sprachraum. Ein sehr umfangreiches Vergleichsmaterial zum Regiolekt, das auch einige eigens für die vorliegende Untersuchung erhobene Sprachaufnahmen umfasst, ermöglicht eine detaillierte Betrachtung der diachronen Entwicklung. 2. Gotha und Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz. Alle Orte liegen im Thüringischen. Wie die obigen Ausführungen zeigen (vgl. Kapitel 5.5.1 und 5.5.2.1) ist hier von einem landschaftlichen Hochdeutsch des Thüringischen auszugehen. 3. Niederdeutsche Orte und Regionen. Für den niederdeutschen Raum erfolgt zunächst eine Einzelbetrachtung und im Anschluss eine Gesamtbetrachtung. 3.1. Segeberg und Ostfriesland. Die beiden im nordniederdeutschen Dialektraum liegenden Orte/Regionen clustern bei der Betrachtung des landschaftlichen Hochdeutsch im ersten Schritt. 3.2. Hannover. Das im ostfälischen Dialektraum liegende Hannover fusioniert im zweiten Schritt mit dem Cluster Segeberg und Ostfriesland. 3.3. Flensburg. Der im äußersten Norden des nordniederdeutschen Dialektraumes gelegene Ort weist ein vergleichsweise konservatives und eigenständiges landschaftliches Hochdeutsch auf und clustert daher erst mit großer Distanz zu einem gesamtniederdeutschen Cluster. 3.4. Westliches Ostfriesland. Die westlichste Untersuchungsregion des Viëtor-Korpus zeichnet sich ebenfalls durch ein sehr konservatives landschaftliches Hochdeutsch und durch eine größere Distanz zu den übrigen niederdeutschen Orten/Regionen aus. Im Vergleich dieser Regionen sollen mögliche Veränderungen in der arealen Reichweite der Regiolekte bzw. regiolektaler Merkmale beobachtbar werden. 6.1 Mülheim an der Ruhr und Remscheid Für die beiden im niederfränkisch-ripuarischen Übergangsgebiet gelegenen Orte Mülheim an der Ruhr und Remscheid steht ein vergleichsweise großes Datenkorpus zur Verfügung, anhand dessen die für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale im Regiolekt überprüft werden können. Diese Studien und Korpora sollen kurz vorgestellt und hinsichtlich ihrer Eignung für den vorzunehmenden Vergleich besprochen werden. Zum einen handelt es sich dabei um KÖNIGS „Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen“ (1989). WERNER KÖNIG hat Mitte der 1970er Jahre in insgesamt fünf Erhebungssituationen bei jungen Hochschulabsolventen bzw. Studierenden die sprechsprachliche Standardkompetenz im Gebiet der alten Bundesrepublik (44 Orte) erhoben. Als Ziel for-

164

6 Dynamik

muliert er dabei, die „großlandschaftliche[n] Unterschiede in der Aussprache des Schriftdeutschen zu erkunden und darzustellen“ (KÖNIG 1989, Bd. 1, 8). Für seinen in zwei Bänden vorliegenden Atlas hat er das erhobene Material zur Vorlesesprache von Wortlisten, Minimalpaaren und Einzellauten ausgewertet.221 Damit liegt im Vergleich zum Viëtor-Korpus auch im Hinblick auf die Textsorte bzw. das erhobene Material ein gut vergleichbares Korpus vor. Daher wird KÖNIG (1989) sowohl hier als auch bei den niederdeutschen Orten und Regionen vergleichend hinzugezogen.222 Eine zweite wichtige Quelle, auf die bei allen hier untersuchten Orten zurückgegriffen wird, liegt mit dem Abschlussbericht zur „Datenbank regionaler Umgangssprachen des Deutschen (DRUGS)“ vor (vgl. LAUF 1994). Grundlage der DRUGS und damit der Beschreibungen regionaler Umgangssprachen sind Auswertungen umfangreicher Korpora aus der Zeit von 1961 bis 1994 wie beispielsweise des Pfeffer-Korpus oder Aufnahmen zur Umgangssprache des „Deutschen Sprachatlas“ (vgl. LAUF 1994, 6). Da sich die Orte Mülheim an der Ruhr und Remscheid in einem dialektalen Übergangsgebiet zwischen dem Niederfränkischen und dem Ripuarischen (und dem Westfälischen) befinden, werden aus LAUF (1994) alle Angaben zu diesen „regionalen Umgangssprachen“ vergleichend hinzugezogen.223 Mit SALEWSKI (1998) liegt zudem eine Studie zum Substandard im Ruhrgebiet vor, die eine gute Vergleichsbasis bietet. Hieraus werden die Daten zu Duisburg verwendet. Des Weiteren werden die Ergebnisse zu den regiolektalen Sprachlagen aus dem Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ (SiN) vergleichend hinzugezogen (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b). In dem Verbundprojekt von sechs norddeutschen Universitäten224 wird in einzelnen Teilprojekten der gesamte norddeutsche Sprachraum variationslinguistisch exakt vermessen. Dazu wurden von 2008 bis 2010 an 36 norddeutschen Orten Sprachaufnahmen mit je vier weiblichen Gewährspersonen zwischen 40 und 55 Jahren durchgeführt. Um unter anderem das gesamte variative Spektrum der Sprecherinnen erfassen zu können, wurden diese in verschiedenen Situationen aufgenommen. Diese umfassen neben anderen das Vorlesen zweier standarddeutscher Texte, ein Interview mit einem Projektmitarbeiter und ein Tischgespräch.225 Für den hier anzustellenden Vergleich wurden die variablenanalytischen Ergebnisse des SiN-Projektes für die regiolektalen Sprachla221 Die ebenfalls erhobene spontane Sprechweise sowie die Vorleseaussprache eines zusammenhängenden Textes finden keinen Eingang in diese Auswertung (vgl. KÖNIG 1989, 17– 18). 222 Lediglich zu den thüringischen Orten liegen in KÖNIG (1989) keine Daten vor, da diese zum Erhebungszeitraum als zur ehemaligen DDR gehörend nicht Teil der Erhebung waren. 223 Im von LAUF untersuchten Korpus befindet sich nur eine Aufnahme aus einem niederfränkischen Ort (Krefeld). Da dieser Ort im Grenzbereich zum Ripuarischen liegt und sprachlich vom Ripuarischen beeinflusst sei, subsummiert LAUF (vgl. 1994, 42) diese Aufnahme zum Ripuarischen und behandelt das Niederfränkische nicht gesondert. 224 Dies sind Bielefeld, Frankfurt/Oder, Hamburg, Kiel, Münster und Potsdam. 225 Vgl. hierzu sowie für weitere Informationen zu dem DFG-geförderten Forschungsprojekt die Projekt-Homepage () sowie den Überblicksartikel SCHRÖDER / ELMENTALER (2009) und ELMENTALER / ROSENBERG (2015b).

6.1 Mülheim an der Ruhr und Remscheid

165

gen hinzugezogen, wie sie in ELMENTALER / ROSENBERG (2015b) veröffentlicht sind.226 Als Vergleichsort aus dem SiN-Korpus kann hier aufgrund der räumlichen Nähe Oedt hinzugezogen werden. Außerdem wurden mit einem älteren, dialektkompetenten Sprecher227 (Jahrgang 1928) aus Mülheim an der Ruhr Sprachaufnahmen gemacht, die für die vorliegende Untersuchung im Rahmen der REDE-Neuerhebung durchgeführt wurden.228 Dafür wurde in verschiedenen Situationen die Sprachverwendung des Informanten erhoben. Es handelt sich dabei um die folgenden Erhebungskontexte: 1. lautes Vorlesen der Fabel „Nordwind und Sonne“, 2. lautes Vorlesen einer Wörterliste, die einen Ausschnitt der (umfangreichen) Wörterliste der ViëtorErhebung umfasst, 3. leitfadengesteuertes Interview zur Biographie, Sprachsozialisation und Einschätzung der eigenen Sprachkompetenz und -verwendung mit einem Explorator aus dem REDE-Projekt, 4. freies Gespräch mit bekannten Personen229, 5. Übertragung von Wenker-Sätzen in den Basisdialekt.230 Anhand der ersten beiden Vorleseaufgaben kann die Aussprache des Standarddeutschen mit einer schriftlichen Vorlage erhoben werden. Diese Situationen stellen zu den Viëtor-Erhebungen bzw. -Daten eine direkte Vergleichbarkeit her. Durch das formelle Interview mit dem Explorator soll das im freien Gespräch vom Informanten erreichbare „beste Hochdeutsch“ elizitiert werden. Das Gespräch mit Bekannten soll eine möglichst ungezwungene Sprachverwendung evozieren. Anhand der Übertragung von Wenker-Sätzen in den Dialekt wird zum einen die Dialektkompetenz kontrolliert. Zum anderen lässt sich dadurch überprüfen, ob ein gegebenenfalls in standardnäheren Registern nicht mehr vorhandenes regionalsprachliches Merkmal im Dialekt noch vorhanden ist. 226 MICHAEL ELMENTALER, der mir bereits vor der Publikation der SiN-Ergebnisse stets mit kompetenter Auskunft zu diesen hilfreich zur Seite stand, sei hiermit herzlichst gedankt. 227 Der Informant erfüllt als pensionierter Landwirt, der im Dialekt sprachlich sozialisiert wurde und von Geburt an in Mülheim an der Ruhr ansässig ist, alle Anforderungen an einen sogenannten NORM („non-mobile older rural male“, vgl. CHAMBERS / TRUDGILL 1998, 29). 228 Mein Dank gilt an dieser Stelle der REDE-Projektleitung für die Ermöglichung dieser Aufnahmen, PHILIPP SPANG für die gewissenhafte und geduldige Durchführung sowie dem Mülheimer Informanten. 229 Bei den Aufnahmen waren mehrere dem Informanten bekannte Personen anwesend. Mit diesen hat er sich im Verlauf der circa dreistündigen Aufnahme mehrfach im Dialekt unterhalten. Diese freien Gespräche werden hier unter der Bezeichnung „freies Gespräch mit bekannten Personen“ gefasst. Die Situation wurde weder bewusst initiiert noch wurden die Gespräche unter Abwesenheit des Explorators geführt, wie es für die Freundesgespräche, die im Rahmen der REDE-Erhebungen sonst aufgezeichnet werden, üblich ist (vgl. dazu beispielsweise KEHREIN 2012, 75–76). Daher soll auch die Bezeichnung „Freundesgespräch“ hier vermieden werden. 230 Aufgrund der Erweiterung der Erhebungssituationen durch das mit den Viëtor-Daten direkt vergleichbare Material und durch den angeschlagenen Gesundheitszustand des Informanten, der keinen zeitlich ausgedehnteren Termin und auch kein zweites Treffen ermöglichte, sind nicht alle üblichen Erhebungssituationen des REDE-Projektes voll abgedeckt. Da es in der vorliegenden Untersuchung in erster Linie um die Überprüfung der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale im Regiolekt geht, stellt das jedoch kein Hindernis dar.

166

6 Dynamik

Wie bereits erwähnt, wird anhand der REDE-Aufnahmen in erster Linie kontrolliert, ob die für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale noch Teil des rezenten Regiolekts sind. Dazu wurde das gesamte Tonmaterial (2 Stunden 50 Minuten) hinsichtlich der Realisierung dieser Merkmale abgehört. Zudem wurde aus jeder Erhebungssituation ein Ausschnitt von 100 bis 150 Wörtern feinphonetisch transkribiert und anschließend auf der Grundlage dieser Transkriptionen Dialektalitätsmessungen durchgeführt. Mit dieser von HERRGEN / SCHMIDT (1989) entwickelten Methode lässt sich der phonetische Abstand einer Sprachprobe zur Standardsprechsprache bestimmen.231 Die Messergebnisse (D-Werte) sind in der Reihenfolge der genannten Erhebungssituationen in der nachfolgenden Tabelle dargestellt: Erhebungssituation

D-Wert

Nordwind und Sonne

0,9

Wörterliste

0,85

Interview

0,85

Gespräch mit Bekannten

2,5

WS Dialekt

2,45

Tab. 37: Dialektalitätswerte des Mülheimer Sprechers

Die Messungen der ersten drei Erhebungssituationen, die auf das „beste Hochdeutsch“232 (in der Vorleseaussprache sowie in freier Rede im Interview) abzielen, ergeben ähnliche bis gleiche D-Werte. Diese Werte sind so zu verstehen, dass der Sprecher durchschnittlich 0,85 bis 0,9 Abweichungen von der normierten Standardsprache (gemäß DUDEN) pro Wort realisiert. Wie der Vergleich mit anderen Studien zeigt,233 kann bei D-Werten in dieser Größenordnung von einer deutlichen regionalen Prägung gesprochen werden. In den drei genannten Aufnahmen/Erhebungssituationen scheint der Regiolekt des Informanten greifbar, weshalb diese herangezogen werden, um zu überprüfen, ob die für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale im Regiolekt noch vorhanden sind. Anhand der anderen beiden Erhebungssituationen (freies Gespräch mit Bekannten und dialektale Kompetenzerhebung beim Übersetzen von WenkerSätzen) und der hierfür gemessenen D-Werte lässt sich die Selbstauskunft des Informanten über seine vorhandene Dialektkompetenz auch objektiv bestätigen. 231 Das von HERRGEN / SCHMIDT (1989) vorgeschlagene Verfahren ist in einem online verfügbaren Manuskript (HERRGEN / LAMELI / RABANUS / SCHMIDT 2001, vgl. ) beschrieben. Zudem liegt in LAMELI (2004) eine Erweiterung der Methode einschließlich detaillierter Messanleitung vor. Das gut beschriebene und im Fach etablierte Verfahren braucht an dieser Stelle nicht näher erläutert zu werden. 232 Dies ist auch die eigene Bezeichnung des Informanten. 233 Vgl. z. B. LAMELI (2004), PURSCHKE (2011) und KEHREIN (2012).

6.1 Mülheim an der Ruhr und Remscheid

167

Mit Werten um 2,5 liegt zudem eine vergleichsweise große Distanz zu den DWerten des Regiolekts vor.234 Somit erstreckt sich das variative Spektrum dieses Sprechers von seinem deutlich regional geprägten „besten Hochdeutsch“ (Regiolekt) bis zu einem „tiefen“ Dialekt. Inwieweit es sich bei diesem Dialekt um den traditionellen Basisdialekt der Region handelt, wie er beispielsweise in junggrammatischen Ortsmonographien beschrieben ist, oder inwiefern sich der Dialekt gewandelt hat, ist für die vorliegende Fragestellung nicht von Belang und wird daher nicht untersucht. Im Folgenden wird nun anhand aller oben genannten Studien und Korpora überprüft, welche für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale noch im Regiolekt wiederzufinden sind. Die Vergleichsstudien sind in Tabelle 38 chronologisch nach der Erhebung der Daten aufgeführt, um die diachrone Entwicklung abzubilden. Nach dem Namen wird zunächst das Publikationsjahr (soweit vorhanden) genannt und in der zweiten Klammer ohne Fettdruck der Zeitpunkt bzw. -raum der Erhebung. Der Aufbau von Tabelle 38 sowie der nachfolgenden vergleichbaren Tabellen ist wie folgt: In der ersten Spalte werden die rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch aufgeführt.235 Die weiteren Spalten bieten einen Überblick über den Abgleich mit den hinzugezogenen Vergleichsstudien. Ein Pluszeichen („+“) gibt dabei an, dass die regionalsprachliche Variante des Variationsphänomens in der jeweiligen Quelle als im Regiolekt vorhanden beschrieben wird. Ergänzend dazu wird die Seitenangabe der Belegstelle genannt. Ein eingeklammertes Pluszeichen („(+)“) zeigt an, dass das entsprechende Merkmal zwar im Regiolekt vorkommt, aber entweder als im Abbau begriffen beschrieben wird oder nur selten neben einer anderen Variante (zumeist der standardsprachlichen) erscheint. Die Angabe „n. g.“ steht für „nicht genannt“ und wird dann notiert, wenn in der jeweiligen Quelle das entsprechende Merkmal nicht thematisiert wird.

234 Vgl. hierzu die von KEHREIN (2012) in seiner Habilitationsschrift vermessenen regionalsprachlichen Spektren im diatopischen Vergleich. 235 Sofern ein linguistisches Merkmal nur in einem Untersuchungsort rekonstruiert werden konnte, wird das in der entsprechenden Zelle vermerkt.

168

6 Dynamik

Linguistisches Merkmal Kürze von /aː/ Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute (nur Remscheid)

Senkung von [ʊ] (nur Remscheid)

Velarisierung von [ç] (nur Mülheim)

Anlautende gSpirantisierung In- und auslautende g-Spirantisierung Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] (nur Mülheim)

r-Vokalisierung

LAUF (1994) (ab 1961)

+

(S. 47 u. 50)

(+)

(S. 40)

(+)

(S. 47, 50 u. 62)

(+)

(S. 49 u. 52)

+

(S. 48, 51 u. 62)

+

(S. 48, 51 u. 63)

(+)

KÖNIG (1989)236 (um 1975)



(S. 152)

(+)

(S. 110–111)

+

S. 110–111

(+)

(S. 248, selten)

n. g.

(+)

(Bd. 1, S. 109–110)

+

SALEWSKI (1998) (1982– 1985)

ELMENTALER / ROSENBERG (2015b) (SiN) (2008–2010)

(S. 53–55)

(S. 141–154)

+

n. g.

n. g. n. g.

+

(S. 53–55)

+

(S. 53–55)

+

(S. 40)

(S. 259)

(S. 53–55)

+

+

+

(S. 49 u. 51)

(S. 223–231)

(S. 54–55)

+ +

(S. 101–106)



(S. 169–172)

n. g.

(+)

(S. 101–106)

+

(S. 251–273)

+

(S. 291–294)

+

(Auskunft

ELMENTALER)

REDE (2009)

+ + – (+) + + + +

Tab. 38: Vorkommen der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene im Regiolekt (Mülheim an der Ruhr und Remscheid)

Der Vergleich mit den neueren Studien zeigt, dass ein Großteil der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale noch im Regiolekt stabil verankert ist. Dies trifft auf die lexemgebundene Kürze von /aː/ (z. B. bei Glas) zu, die bereits in einer frühen Untersuchung zur Umgangssprache der Region Erwähnung findet (vgl. HIMMELREICH 1943, 153). Später wird das Phänomen zum Beispiel bei SALEWSKI (1998) als frequent auftretend beschrieben. Auch in den REDE-Aufnahmen realisiert der Informant im Regiolekt die regionalsprachliche Variante. Ebenfalls stabil hält sich die in- und auslautende g-Spirantisierung (z. B. bei Berge, leugne oder Tag), wie die Studien von LAUF (1994), SALEWSKI (1998), die SiN- sowie die REDE-Erhebungen zeigen.237 Allerdings scheint die Verwendung der spirantischen Variante anstelle des standardsprachlich velaren 236 Die Seitenangaben beziehen sich auf den zweiten Band des Werkes und damit auf die Auswertungstabellen und -karten. Die dazugehörigen Kommentare aus Band 1 werden nicht zusätzlich genannt, gelten aber gleichwohl. 237 Vgl. hierzu auch die differenzierten Auswertungen in ELMENTALER (2008).

6.1 Mülheim an der Ruhr und Remscheid

169

Plosivs von Sprechern kontrolliert werden zu können. Dafür spricht die nur vereinzelt auftretende Spirans bei KÖNIG (vgl. 1989, Bd. 1, 109–110), die er mit dem Bewusstsein der Sprecher für das Merkmal und der stellenweisen Vermeidung erklärt. Auch in den REDE-Aufnahmen verwendet der Informant im Regiolekt sowohl spirantische als auch plosivische Varianten. Daneben hält sich die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] (z. B. bei Pferd) im Regiolekt. Sie kommt in allen vergleichend hinzugezogenen Studien und Aufnahmen zum Regiolekt frequent vor. Ebenfalls hochfrequent erhält sich im Regiolekt die r-Vokalisierung (z. B. Ohr oder Feuer). Das bereits bei HIMMELREICH (1943, 152) beschriebene Merkmal („die schon in der Mundart vokalisierte Aussprache des r wird in der Umgangssprache fortgesetzt […]“) ist auch in allen anderen Korpora stabil repräsentiert. Während es sich bei diesem Phänomen im ausgehenden 19. Jahrhundert noch um ein „standardabweichendes“ Merkmal handelte, entspricht es heute der (gemäßigten) Aussprachenorm. Daher ist ein Abbau im Regiolekt auch nicht erwartbar. Während für das landschaftliche Hochdeutsch von einer inkonsistenten Verwendung der e-/ä-Laute (z. B. bei Sätze) auszugehen ist, lässt sich anhand der neueren Daten von einer Hebung von [ɛː] ausgehen. Wenn man die Unsicherheiten in der Verwendung der e-/ä-Laute und die dort beschriebenen „halboffenen“ Qualitäten in einer Entwicklungslinie zum heutigen Stand sieht, hält sich also auch dieses regionalsprachliche Merkmal stabil. Als rückläufig in der Verwendung sind die regionalen Varianten der folgenden Phänomene zu beschreiben. Die Senkung von [ʊ] (z. B. bei Mutter) ist zwar bei KÖNIG (1989) und LAUF (1994) noch stellenweise belegt. SALEWSKI (vgl. 1998, 36) beschreibt die Senkung zwar als typisch für den Dialekt, beschäftigt sich in ihrer Studie zum „Substandard“ aber nicht damit. In den untersuchten REDE-Aufnahmen findet sich für den Regiolekt lediglich ein Beleg für eine tendenzielle Senkung. Insgesamt scheint das Phänomen also im Regiolekt im Abbau begriffen zu sein oder zumindest so niederfrequent vorzukommen, dass es in den angeführten Studien nicht betrachtet wird. Ebenfalls als stark rückläufig zu beschreiben ist die Velarisierung von [ç] (z. B. in Bäche oder sicher). LAUF (vgl. 1994, 52) beschreibt noch ein gelegentliches Auftreten der velarisierten Variante im Westfälischen ebenso wie im östlichen Ruhrdeutschen, was sie als „westfälische Interferenz“ deutet. KÖNIG (1989, 248) kann einige wenige Belege (circa 5 Prozent) anführen. In SALEWSKI (1998) und im SiN-Projekt wird das Merkmal nicht untersucht. In den REDE-Aufnahmen kommt die velarisierte Variante des standardsprachlich stimmlosen palatalen Frikativs im Regiolekt nur vereinzelt vor. Dementsprechend ist für den Regiolekt von einem fast vollzogenen Abbau des regionalsprachlichen Merkmals auszugehen. Ähnlich verhält es sich mit der anlautenden g-Spirantisierung (z. B. bei ganz oder Gott). Bei HIMMELREICH (vgl. 1943, 153) ist sie belegt, ebenso wie bei LAUF (1994). In SALEWSKI (1998) treten die spirantisierten Varianten des standardsprachlich velaren Plosivs im untersuchten Material anlautend auf, allerdings nur in geringer Häufigkeit, so dass SALEWSKI (1998, 53) zu dem Schluss kommt, dass die spirantisierte Variante nicht „in gleichem Maße für den Substandard charakteristisch [ist] wie die übrigen regionalen Varianten“. Im SiN-Korpus kommt die spirantisierte Variante nur

170

6 Dynamik

noch vereinzelt in der Erhebungssituation Interview sowie etwas häufiger (zwischen 5 und 20 Prozent) im hochdeutschen Tischgespräch vor. In der Vorleseaussprache tritt die regionale Variante nicht auf (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 237). In den REDE-Aufnahmen erscheint der spirantisierte Anlaut im Dialekt frequent, während er im Regiolekt nur vereinzelt auftritt. Insgesamt scheint das Merkmal im Regiolekt also im Abbau begriffen zu sein. Die nachfolgende Tabelle fasst die regionalsprachlichen Merkmale hinsichtlich ihrer Abbausensitivität im Regiolekt zusammen: Abbauresistent: - Kürze von /aː/ - In- und auslautende g-Spirantisierung - Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] - r-Vokalisierung - Hebung von [ɛː] Im Abbau begriffen: - Senkung von [ʊ] - Velarisierung von [ç] - Anlautende g-Spirantisierung Tab. 39: Abbausensitivität der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im Regiolekt (Mülheim an der Ruhr und Remscheid)

Es lässt sich also zeigen, dass die für das landschaftliche Hochdeutsch von Mülheim an der Ruhr und Remscheid (niederfränkisch-ripuarisches Übergangsgebiet) auf Basis der Viëtor-Daten rekonstruierten linguistischen Merkmale großteils noch erhalten sind. Bei den abbauresistenten Merkmalen besteht zudem im Wesentlichen Übereinstimmung mit den bei LAUF (1994, 40) als „sehr großräumliche Unterscheidungsmerkmale“ eingruppierten Variationsphänomenen, die sie als charakteristisch für die norddeutschen Regionalsprachen ansetzt.238 Die hier herausgearbeiteten abbausensitiveren Merkmale haben hingegen eine (etwas) geringere areale Ausdehnung. Hinsichtlich der oben (vgl. Kapitel 5.5.2) formulierten Prognosen zur Abbausensitivität der linguistischen Merkmale lässt sich auf Grundlage des angestellten Vergleichs Folgendes festhalten: Im Wesentlichen treffen diese Progonosen zu. So bleiben wie durch die Implikationsanalyse angedeutet die Merkmale Kürze von /aː/, in- und auslautende g-Spirantisierung und r-Vokalisierung erhalten. Außerdem werden den Vorhersagen entsprechend die Merkmale Senkung von [ʊ] sowie Velarisierung von [ç] abgebaut. Entgegen der Progonosen der Implikationsanalyse befindet sich hingegen die anlautende g-Spirantisierung im Abbau und die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] verhält sich abbauresistent. 238 LAUF (1994, 40) verwendet in der Regel die Bezeichnungen „Nord“, „Mitte“ und „Süd“, die „in sehr grober Annäherung den nieder-, mittel- und oberdeutschen Dialekten“ entsprächen.

6.2 Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz

171

Insgesamt liegt anhand der untersuchten Variablen eine Bestätigung der These nahe, dass es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um die historische Vorstufe des Regiolekts gehandelt hat. 6.2 Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz Die Ergebnisse der Clusteranalyse (vgl. Kapitel 5.5.1) weisen ein landschaftliches Hochdeutsch für die thüringischen Untersuchungsorte Gotha und Erfurt, Artern an der Unstrut sowie Nordhausen am Harz aus. Im Folgenden wird die diachrone Entwicklung der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale betrachtet. Dazu werden vergleichend Studien zum Regiolekt herangezogen. Einschlägig für diesen Vergleich sind SPANGENBERG (1998), LAUF (1994) und ROCHOLL (2015). SPANGENBERGS (1998) Arbeit zur „Umgangssprache im Freistaat Thüringen und im Südwesten des Landes Sachsen-Anhalt“ beruht auf direkten Erhebungen im gesamten thüringischen Sprachraum aus den Jahren 1967/68. Neben Befragungen zu Dialektkompetenz und -performanz hat SPANGENBERG in freien Erzählungen Daten zur gesprochenen „Umgangssprache“ erhoben. Unter dem Begriff der „Umgangssprache“ versteht er die zwischen Dialekt und Standardsprache angesiedelte Varietät, die er im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet sieht, dass sie im Gegensatz zu den anderen beiden Varietäten sehr variabel bei der „Realisierung von Merkmalsvarianten“ ist (vgl. SPANGENBERG 1998, 19). Neben der Darstellung der Umgangssprache des Thüringischen enthält die Studie zudem Angaben über Korrelationen von Sozialdaten mit Sprachverwendungsdaten, die auf einer umfangreichen Dokumentation (sprach)biographischer Daten der Informanten basieren. LAUF (1994) wird wie bei allen anderen hier angestellten Vergleichen berücksichtigt. Zudem wird mit der Dissertation von ROCHOLL (2015) eine auf neuesten Daten beruhende Analyse des Thüringischen hinzugezogen. ROCHOLL untersucht unter anderem auf Grundlage der im Projekt „Regionalsprache.de“ (REDE) durchgeführten Aufnahmen aus den Jahren 2008 bis 2012 das variative Spektrum thüringischer und obersächsischer Sprecher und geht dabei der Frage nach, ob im ostmitteldeutschen Sprachraum zwei auf den jeweiligen Dialektverbänden beruhende oder vielmehr eine großregionale Oralisierungsnorm vorhanden ist.239 Die folgende Tabelle 40 fasst das Vorkommen regionalsprachlicher Varianten zu den betrachteten Untersuchungsvariablen mit Angabe der Belegstellen zusammen:

239 Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass auf Grundlage ihrer Analysen nur von einer, sich sowohl über das Thüringische als auch das Obersächsische erstreckenden ostmitteldeutschen Oralisierungsnorm auszugehen ist. Für die Betrachtung der regionalsprachlichen Dynamik ist das ausgesprochen interessant, kann aber hier nicht weiter vertieft werden.

172

6 Dynamik

Linguistisches Merkmal a-Hebung a-Palatalisierung (nur Gotha/Erfurt)

LAUF (1994) (ab 1961)

SPANGENBERG (1998) (1967/68)

ROCHOLL (2015) (2008–2012)

(S. 81)

(S. 63)

(S. 105–108)

(S. 79–80)

(S. 107)

(S. 66 u. 83–85)

(S. 111–112)

(S. 73)

(S. 174)

(S. 75–78)

(S. 98–105)

+

n. g.

+

Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute

(S. 81)

Hebung von [ɔ]

n. g.

(Tendenzielle) Entrundung Vokal-Epenthese Phonemzusammenfall /b/ und /p/ u. Fortisierung von anlautendem [b] vor Liquid Inlautende b-Spirantisierung Phonemzusammenfall /d/ und /t/ (nur Artern u. Nordhausen)

+

(S. 81)

n. g.

+

(S. 82)

+

(S. 82)

+

(S. 82)

+

(+) + +

(+) n. g.

+

(S. 109 u. 114)

+

(S. 114–115)

+

(S. 110–111 u. 116)

+

(+) +

(+) (+) n. g.

+

(S. 143–148)

(+)

(S. 202)

+

(S. 143–148)

Lenisierung von intervokalischem [f]

n. g.

Anlautende g-Spirantisierung

n. g.

In- und auslautende g-Spirantisierung

(S. 82)

(S. 121–122)

(S. 277)

(S. 82)

(S. 112)

(S. 143)

(S. 137–138)

(S. 277)

(nur Artern)

(nur Artern)

Lenisierung von [k] Plosivische Lösung von finalem Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

r-Vokalisierung Phonemzusammenfall /s/ und /z/

+ +

n. g. n. g.

+

(+)

(S. 126)

(+)

(S. 119–120)

+ + + +

(S. 123–124)

+

(+)

(S. 277)

+

(S. 206)

+

(+) + +

(S. 277)

+

(S. 81)

(S. 141–142)

(S. 134–144)

(S. 82)

(S. 127)

(S. 277)

+

+

+

Tab. 40: Vorkommen der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene im Regiolekt (Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz)

Der angestellte Vergleich macht deutlich, dass die für das thüringische landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale zu großen Teilen im Regio-

6.2 Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz

173

lekt der modernen Regionalsprache Thüringisch240 noch vorhanden sind. Als abbauresistent erweisen sich dabei die folgenden Merkmale: Die a-Hebung bzw. „Verdumpfung“ (z. B. in Adler oder Saat) hält sich stabil, wenn auch nicht mehr unbedingt in stark gehobener Variante, wie es zum Teil für den Basisdialekt typisch ist (vgl. ROCHOLL 2015, 105–108). Die im landschaftlichen Hochdeutsch inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute (z. B. bei essen oder säen) spiegelt sich in den rezenten Belegen in einer vermehrten Senkung von [eː] wider. Die plosivische Lösung von finalem als [ŋk] (z. B. bei Ding) und die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] (z. B. bei Pferd) werden zwar in LAUF (1994) nicht genannt, sind ansonsten aber für den Regiolekt beschrieben. Die Lenisierungen von std. /p, t, k/ (z. B. bei Raupe, raten oder klein) halten sich im Regiolekt noch relativ stabil, wobei ROCHOLL (vgl. 2015, 143) für /k/ in ihren Materialien nur eingeschränkt Belege findet. Erst bei dem jüngsten von ihr untersuchten Erfurter Sprecher zeigen sich Abbautendenzen (vgl. ROCHOLL 2015, 144–145). Im Zusammenhang damit diskutiert ROCHOLL das Auftreten von Fortisierungen der Plosive /b, d, g/ und damit vermehrte Hyperkorrektionen. Die für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Schwierigkeiten bei der Phonemdifferenzierung bei /b/ vs. /p/, /d/ vs. /t/ und /g/ vs. /k/ setzen sich im Regiolekt also fort. Die inlautende b-Spirantisierung (z. B. bei aber) hält sich ebenfalls im Regiolekt.241 Außerdem stabil erhalten bleiben die in- und auslautende g-Spirantisierung (z. B. bei Siege, folgt oder Tag), die mit dem neuhochdeutschen Standard übereinstimmende r-Vokalisierung (z. B. bei Ohr) und der Phonemzusammenfall von /s/ und /z/ (z. B. bei Linse). Als im Abbau begriffen lassen sich die folgenden Merkmale beschreiben: Die palatalisierten Varianten des a-Lautes scheinen rückläufig zu sein, da sie bei ROCHOLL nur vereinzelt auftreten, bei LAUF nicht thematisiert werden und in SPANGENBERG hauptsächlich Belege für Fremdwörter genannt werden. Ebenfalls rückläufig verhalten sich Varianten mit Hebung von std. [ɔ]. Während im (alten) Dialekt die ungerundete Realisierung der standardsprachlich gerundeten Palatalvokale noch fest verankert ist, ist anhand der Viëtor-Daten für das landschaftliche Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts bereits nur eine tendenzielle, also weder artikulatorisch vollständig durchgeführte noch in allen Belegwörtern vorkommende Entrundung zu rekonstruieren. In den Vergleichsstudien (vgl. etwa ROCHOLL 2015, 98–104) bestätigt sich der fortschreitende Abbau dieses altdialektalen Merkmals insbesondere in den jüngeren Generationen. Die Lenisierung von intervokalischem [f] (z. B. bei Stiefel) wird bei LAUF nicht genannt, SPANGENBERG gibt für das Nordthüringische einige Belege (allerdings neben standardsprachlichen) an. ROCHOLL beschreibt sie für ihren ostmitteldeutschen Kernraum (Erfurt, Gera, Dresden), für den areal passenderen Vergleichsort Son240 Beziehungsweise der modernen ostmitteldeutschen Oralisierungsnorm, wie sie in ROCHOLL (2015) herausgearbeitet wurde. 241 In ROCHOLL (vgl. 2015, 202 u. 40) finden sich zwar Belege für das Merkmal, allerdings keine Diskussion dazu, da es hier nicht als regional, sondern als potentiell realisationsphonetisch bedingt betrachtet wird.

174

6 Dynamik

dershausen wird das Phänomen allerdings nicht diskutiert. Daher ist von einer Tendenz zum Abbau auszugehen. Die anlautende g-Spirantisierung (z. B. bei gut ) bleibt bei ROCHOLL in Sondershausen im Präfix ge- zwar erhalten. Bei LAUF wird sie allerdings nicht genannt und bei SPANGENBERG nur neben plosivischen Varianten. Dieser Abbau deutete sich bereits im landschaftlichen Hochdeutsch an, wie die obigen Ausführungen zeigen (vgl. Kapitel 5.3.2). Einzig ein für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruiertes Merkmal findet sich in den Studien zum Regiolekt gar nicht mehr: die Vokal-Epenthese (z. B. bei Milch). Es handelt sich bei diesem Phänomen um eines, das einerseits leicht über die Schrift kontrolliert werden kann und dessen Abbau andererseits keine tiefergehenden Veränderungen im Phonemsystem erfordert. Der Abbau dieses Merkmals lässt sich bereits beim Übergang vom alten Basisdialekt zum landschaftlichen Hochdeutsch beobachten, wo es nur noch in vereinzelten Wörtern vorkam. Im Regiolekt ist das Merkmal nicht mehr existent. Die diachrone Betrachtung konnte zeigen, dass ein Großteil der rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im Regiolekt noch stabil erhalten ist. Diese stimmen weitgehend auch mit dem gemeinsamen Kernbestand an Merkmalen des thüringischen landschaftlichen Hochdeutsch überein (vgl. Kapitel 5.5.2.1). Der Erhalt aller in Tabelle 41 unter „abbauresistent“ einsortierten linguistischen Merkmale bestätigt also die Prognosen der Implikationsanalyse (vgl. Kapitel 5.5.2.1). Darüber hinaus verhalten sich einige Merkmale deutlich abbausensitiver, wie die neueren Studien zeigen konnten. Zwar finden sich noch Belege für die entsprechenden regionalen Varianten im Regiolekt, insgesamt sind diese Variationsphänomene aber im Abbau begriffen. Von den in Tabelle 41 als „im Abbau begriffen“ klassifizierten Merkmalen wurde eine erhöhte Abbausensitivität sowohl für die a-Palatalisierung als auch für anlautende g-Spirantisierung auch durch die Implikationsanalyse prognostiziert. Lediglich für die im rezenten Regiolekt vollständig abgebaute Vokal-Epenthese wurde dieser Abbau in Kapitel 5.5.2.1. nicht vorhergesagt. Allerdings kam auch im landschaftlichen Hochdeutsch die regionale Variante (also mit Vokal-Epenthese) zum Teil nur in vereinzelten Lexemen vor und zum anderen scheinen Faktoren wie die leichte Kontrollierbarkeit des Merkmals über die Schrift zu einem verstärkten Abbau geführt zu haben. Insgesamt können diese Ergebnisse also bestätigen, dass es sich beim landschaftlichen Hochdeutsch um den historischen Vorläufer des Regiolekts gehandelt haben muss. Die nachfolgende Tabelle fasst die diskutierten Variationsphänomene des Thüringischen hinsichtlich ihrer Abbausensitivität zusammen:

6.3 Segeberg und Ostfriesland

175

Abbauresistent: - a-Hebung - Senkung von [eː] - Lenisierung /p, t, k/ bzw. Phonemzusammenfälle - Inlautende b-Spirantisierung - In- und auslautende g-Spirantisierung - Plosivische Lösung von finalem - Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] - r-Vokalisierung - Phonemzusammenfall /s/ und /z/ Im Abbau begriffen: - a-Palatalisierung - Hebung von [ɔ] - (Tendenzielle) Entrundung - Lenisierung von intervokalischem /f/ - Anlautende g-Spirantisierung Abgebaut: - Vokal-Epenthese Tab. 41: Abbausensitivität der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im diachronen Vergleich (Gotha, Erfurt, Artern an der Unstrut und Nordhausen am Harz)

6.3 Segeberg und Ostfriesland Segeberg und die Region Ostfriesland im Nordniederdeutschen bilden in der Clusteranalyse bereits auf der ersten Stufe mit einem sehr geringen Abstandsmaß ein gemeinsames Cluster. Aufgrund dessen ist hier von einem gemeinsamen landschaftlichen Hochdeutsch des 19. Jahrhunderts auszugehen und die Betrachtung der diachronen Entwicklung erfolgt zusammen. Als Vergleichsstudien bieten sich dafür die folgenden an: KÖNIGS „Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen“ (1989), LAUF (1994),242 die Ergebnisse aus dem SiN-Projekt (hier: die Orte Hinte und Warsingsfehn in Ostfriesland sowie Wankendorf im Holsteinischen; vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b) und KEHREIN (2012).243 KEHREIN (2012) hat in seiner Habilitationsschrift unter anderem den diatopisch hier vergleichbaren Ort Alt Duvenstedt variationslinguistisch betrachtet. Seine Ergebnis242 Zu den einschlägigen Studien und Korpora werden jeweils bei ihrer ersten Behandlung Erläuterungen gegeben. Um Redundanzen zu vermeiden, sei daher auf die vorangehenden Beschreibungen verwiesen. 243 Einschlägig ist auch die Untersuchung von LAMELI (2004) zu Neumünster. Diese wird in den nachfolgenden textlichen Erläuterungen an den geeigneten Stellen ebenfalls berücksichtigt. Von einer Aufnahme in die Übersichtstabelle wird allerdings abgesehen, da in LAMELI (2004) im Vergleich zu den anderen Studien eine nur geringe Anzahl an Variablen untersucht wird. Des Weiteren wird für den Vergleich stellenweise ELMENTALER / ROSENBERG (2015a) hinzugezogen, was dann gesondert ausgewiesen ist.

176

6 Dynamik

se zur „Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen“ (vgl. S. 294–297) können hier hinzugezogen werden, um zu überprüfen, ob die für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale noch im Regiolekt vorhanden sind. Tabelle 42 bietet einen Überblick über das Vorkommen dieser Merkmale im Regiolekt auf Basis der genannten Quellen: Linguistisches Merkmal a-Hebung a-Palatalisierung Kürze von /aː/ Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute Diphthongierung von /eː/ Rundung von [iː] / [ɪ] (nur Segeberg)

In- und auslautende g-Spirantisierung Plosivische Lösung von finalem

Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

r-Vokalisierung Desonorisierung von anlautendem [z] (nur Segeberg)

Bewahrung /s/ vor p und t

LAUF (1994) (ab 1961)

+

KÖNIG (1989)244 (um 1975)

(+)

KEHREIN (2012) (2004–2010)

(+)

(S. 43)

(S. 96–97, selten)

(S. 295, selten)

(S. 42)

(S. 7 u. 96–97)

(S. 295)

(S. 43)

(S. 152)

(S. 295, selten)

+ + +

(S. 42)

+

(S. 42)

+

(S. 42)

+

(S. 44)

+

(S. 44)

+

(S. 40)

+

(S. 44–45)

n. g.

+

(S. 44–45)

+ + +

(S. 111–113)

n. g.



(S. 130)

(+)

(Bd. 1, S. 109– 110)

+

(S. 233)

+

(S. 259)

+

(S. 223–231)

(–)

(S. 241)



(Bd. 1, S. 97)

+

(+) +

(S. 294)

(+)

(S. 295, selten)

(+)

(S. 295, selten)

+

(S. 296)

(+)

(S. 296–297, selten)

+

(S. 296)

+

(S. 297)

+

(S. 296)

(+)

(S. 297, selten)

ELMENTALER / ROSENBERG (2015b) (SiN) (2008–2010)

(+)

(S. 135–140)

n. g.

(+)

(S. 141–154)

+

(S. 101–106)

(+)

(S. 113–120)

(+)

(S. 155–167)

+

(S. 251–273)

(+)

(S. 357–365)

+

(S. 291–294)

+

(Auskunft

ELMENTALER)

(+)

(S. 329–334, selten)



(S. 335–338)

Tab. 42: Vorkommen der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene im Regiolekt (Segeberg und Ostfriesland)

244 Die Seitenangaben zu KÖNIG (1989) beziehen sich auf den zweiten Band des Werkes und damit auf die Auswertungstabellen und -karten. Die dazugehörigen Kommentare aus Band 1 werden nicht zusätzlich genannt, gelten aber gleichwohl.

6.3 Segeberg und Ostfriesland

177

Der Vergleich zeigt, dass fünf Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im Regiolekt stabil erhalten sind. Dies betrifft die palatale Realisierung von a-Lauten (z. B. bei an oder das). Abbauresistent ist zudem die Hebung von [ɛː] (z. B. bei säen) bzw. eine fehlende Differenzierung von /ɛː/ und /eː/. Diese äußerte sich in den Viëtor-Daten zum landschaftlichen Hochdeutsch in einer großen Unsicherheit bezüglich der Verwendung, während in den neueren Studien bis zu 100 Prozent geschlossene Varianten belegt sind (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b oder KEHREIN 2012). Die in- und auslautende g-Spirantisierung (z. B. bei leugne oder Berg) hält sich als Variationsphänomen im Regiolekt frequent.245 KÖNIG (vgl. 1989, Bd. 1, 109–110) beschreibt allerdings, dass seine Informanten die Verwendung spirantisierter Varianten in der Erhebung kontrollieren und vermeiden könnten. Abbauresistent verhält sich außerdem das Merkmal der anlautenden Deaffrizierung von [p͡f] (z. B. bei Pferd). Im SiN-Korpus erreichen die Belege mit einfacher Spirans zum Teil eine relative Häufigkeit von 100 Prozent. Höchst frequent hält sich ebenfalls die r-Vokalisierung (z. B. bei Feuer), wobei es sich hierbei im Regiolekt um ein standardkonvergentes Merkmal handelt. Bei den stabil erhaltenen Variationsphänomenen handelt es sich weitgehend um solche, die von LAUF (1994, 40) als für den „Norden“ typische, „sehr großräumliche Unterscheidungsmerkmale“ beschrieben werden.246 Ihr Erhalt entspricht außerdem den in der Implikationsanalyse aufgestellten Prognosen (vgl. Kapitel 5.5.2.3). Die übrigen für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale sind im Regiolekt im Abbau begriffen. Für die Kürze von /aː/ in Einsilblern wie zum Beispiel Glas finden sich in KEHREIN (2012) nur wenige Belege. In den SiN-Daten überwiegen zwar die standardsprachlichen Varianten mit [aː], dennoch kommen in allen Vergleichsorten noch gekürzte Varianten vor. Bei diesem Variationsphänomen scheint es sich also um eines zu handeln, das langsam abgebaut wird. Für gehobene („verdumpfte“) Realisierungen von /aː, a/ (z. B. bei Arzt oder hat) finden sich im Regiolekt nur noch vereinzelte Belege. Während um 1900 a-Hebungen noch frequent auftraten, handelt es sich heute um ein stark im Abbau begriffenes Variationsphänomen. Rückläufig ist zudem die diphthongische Realisierung von /eː/ (z. B. bei See), die sich in den neueren Studien nur vereinzelt findet (vgl. etwa KEHREIN 2012 oder ELMENTALER / ROSENBERG 2015b). Stark rückläufig sind auch die gerundeten Varianten der i-Laute, die im Regiolekt nur noch vereinzelt vorkommen.247 Dies kann auch LAMELI (2004) für den Untersuchungsort Neumünster bestätigen. Noch im Regiolekt vorhanden sind Varianten mit plosivischer Lösung von finalem als [ŋk] (z. B. bei bang oder Ding). Wie die Vergleichsstudien zeigen, ist diese Variante allerdings 245 Lediglich der Sprecher der jüngsten Generation bei KEHREIN (vgl. 2012, 296) realisiert keine Spirans bei standardsprachlichem /g/-Phonem. 246 LAUF (1994, 40) zählt zu diesen auch die Kürze von /aː/, die aufgrund des vorliegenden Vergleichs und der Einteilung in die genannten Kategorien als „auf der Grenze“ zwischen „abbauresistent“ und „im Abbau begriffen“ beschrieben werden muss. 247 Für das literarisierte Missingsch hingegen kann WILCKEN (vgl. 2015, 288) das Phänomen als stabil über einen Zeitraum von circa 150 Jahren nachweisen.

178

6 Dynamik

stets neben der standardsprachlichen ([ŋ]) und meist auch seltener als diese belegt. KEHREIN (vgl. 2012, 296–297) findet in seinem Korpus gar nur einen einzigen Beleg. ELMENTALER / ROSENBERG (2015b, 365) hingegen sprechen hier von einem „dialektal basierte[n] Merkmal, das sich in den meisten Gebieten Norddeutschlands [...] zu einem festen Bestandteil der regiolektalen Normensysteme entwickelt hat.“ Rückläufig verhalten sich die desonorisierten Varianten von anlautendem [z]. So finden sich in den hochdeutschen Tischgesprächen im Vergleichsort Wankendorf des SiN-Projekts nur geringe Anteile der regionalsprachlichen Variante. Als nahezu abgebaut kann die Bewahrung von /s/ vor p und t (z. B. bei sprechen oder stehen) beschrieben werden. Bereits im landschaftlichen Hochdeutsch kann mit dem Nebeneinander der standardsprachlichen Realisierungen [ʃt] bzw. [ʃp] und der regionalen [st] bzw. [sp] bereits Variation der traditionellen mit der allochthonen hochdeutschen Variante erkannt werden. Letztere setzt sich im Laufe der Zeit immer mehr durch. So ist die traditionelle Variante in den älteren Sprachdaten bei LAUF (1994, 44–45) zwar noch belegt, allerdings beschreibt sie das Merkmal als eines, das „auch dem naiven Sprecher sofort auffällt“. Daher trete es „bei den Sprechern, die sich um eine standardsprachliche Artikulation bemühen, nicht auf“. KÖNIG (vgl. 1989, Bd. 1, 97) beschreibt, dass dieses Merkmal (obwohl erwartet) in seinem Korpus nicht vorkam. Die SiN-Aufnahmen zeigen (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 335–338), dass das Merkmal für den gesamten niederdeutschen Sprachraum heute so gut wie abgebaut ist, was sich auch mit LAMELI (2004)248 und KEHREIN (2012) bestätigen lässt. Der Vergleich konnte zeigen, dass das landschaftliche Hochdeutsch, wie es für Segeberg und die Region Ostfriesland rekonstruiert werden konnte, als Vorläufer des Regiolekts gelten kann. So sind noch alle regionalsprachlichen Varianten der rekonstruierten Phänomene im Regiolekt mehr oder weniger erhalten geblieben, wobei die Mehrzahl (sieben von zwölf) als rückläufig beschrieben werden muss. Zudem konnte gezeigt werden, dass die frühe Clusterung von Segeberg und Ostfriesland (vgl. Kapitel 5.5.1) und die darauf aufbauende Interpretation, dass es sich hierbei um e i n landschaftliches Hochdeutsch gehandelt hat, mithilfe des rezenten Vergleichs bestätigt werden konnte. So gibt es im landschaftlichen Hochdeutsch der beiden Untersuchungsorte bzw. -regionen einen gemeinsamen Stamm an linguistischen Merkmalen, der sich im Regiolekt in den Regionen erhält. Bei den zwei ausschließlich für Segeberg rekonstruierten Merkmalen handelt es sich zudem um solche, die im Regiolekt im Abbau begriffen sind. Dies passt zu den Ergebnissen in ELMENTALER / ROSENBERG (2015a, 447), die einen „Umbau von lokalen in regionale Marker“ konstatieren. Zu den in Kapitel 5.5.2 angestellten Prognosen zur Abbausensitivität ist Folgendes anzumerken: Einige der als stabil prognostizierten Variationsphänomene zeigen sich in der diachronen Betrachtung wie erwartet abbauresistent (z. B. inund auslautende g-Spirantisierung oder anlautende Deaffrizierung von [p͡f]). An248 LAMELI (2004, 231–233) kann für Neumünster im Vergleich der beiden Zeitschnitte einen deutlichen Rückgang der traditionellen Variante feststellen.

6.4 Hannover

179

dere hingegen, wie etwa die Kürze von /aː/ oder die Bewahrung von /s/ vor p und t, sind im Abbau begriffen. Die folgende Tabelle liefert einen zusammenfassenden Überblick über die Abbausensitivität der betrachteten Variationsphänomene. Abbauresistent: - a-Palatalisierung - Phonemzusammenfall /eː/ und /ɛː/ bzw. Hebung von [ɛː] - In- und auslautende g-Spirantisierung - Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] - r-Vokalisierung Im Abbau begriffen: - a-Hebung - Kürze von /aː/ - Diphthongierung von /eː/ - Rundung von [iː] / [ɪ] - Plosivische Lösung von finalem - Desonorisierung von anlautendem [z] - Bewahrung /s/ vor p und t Tab. 43: Abbausensitivität der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im diachronen Vergleich (Segeberg und Ostfriesland)

6.4 Hannover Der im Ostfälischen gelegene Untersuchungsort Hannover fusioniert bei der Clusteranalyse (vgl. Kapitel 5.5.1) in einem zweiten Schritt mit dem Cluster Segeberg–Ostfriesland. Die Betrachtung der diachronen Entwicklung der rekonstruierten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch soll für Hannover zunächst separat erfolgen. Im Anschluss kann überprüft werden, inwieweit die regionalsprachliche Dynamik die Interpretation des Clusters Segeberg–Ostfriesland– Hannover als eines des „gemeinsamen“ landschaftlichen Hochdeutsch stützen kann. Als einschlägige Quellen für den Regiolekt werden KÖNIG (1989), LAUF (1994) sowie ELMENTALER / ROSENBERG (2015b) (hier: die SiN-Erhebungsorte im nördlichen Ostfälischen Hermannsburg und Leiferde) herangezogen. Zudem wird nach Möglichkeit der Aufsatz ELMENTALERS (2012) zum „besten Hochdeutsch“ in Hannover hinzugezogen.249 In dieser thematisch einschlägigen Publikation geht ELMENTALER dem Mythos des „besten Deutsch“ in Hannover nach, indem er Sprecher und Angaben aus verschiedenen Korpora unterschiedlicher Zeitschnitte vergleicht und damit einen zwar kursorischen, aber dennoch guten 249 Von einer Aufnahme in die Tabelle wird abgesehen, da ELMENTALER (2012) im Vergleich zu den anderen Studien deutlich weniger Variationsphänomene bespricht.

180

6 Dynamik

Einblick in die diachrone Entwicklung der standardnahen Sprachverwendung in Hannover liefert. Tabelle 44 gibt einen Überblick über das Vorkommen der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale im Regiolekt. Linguistisches Merkmal a-Palatalisierung Kürze von /aː/ Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute In- und auslautende g-Spirantisierung Plosivische Lösung von finalem Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] Bewahrung /s/ vor p und t

LAUF (1994) (ab 1961)

+

KÖNIG (1989)250 (um 1975)

+

(S. 53)

(S. 97)

(S. 53)

(S. 152)

+ +

(S. 53)

+

+ +

(S. 105, 107, 111)

(+)

ELMENTALER / ROSENBERG (2015b) (SiN) (2008–2010) n. g.

(+)

(S. 141–154)

+

(S. 101–106)

+

(S. 54)

(Bd. 1, S. 109–110)

(S. 251–273)

(S. 54)

(S. 233)

(S. 357–365)

+ +

(S. 40)

+

(S. 54)

+ +

(S. 259)



(Bd. 1, S. 97)

(+) +

(S. 291–294)



(S. 335–338)

Tab. 44: Vorkommen der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene im Regiolekt (Hannover)

Der Vergleich zeigt, dass vier der sieben für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale im Regiolekt noch weitgehend stabil vorhanden sind. Dabei handelt es sich um die a-Palatalisierung (z. B. bei satt ), die frequent auftritt. Für das landschaftliche Hochdeutsch konnte eine inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute rekonstruiert werden, die sich beispielsweise in „halboffenen“ Lauten (vgl. VIËTOR 1888a, 98–99), aber auch zum Teil in Hebungen von [ɛ] oder Senkungen von [eː] zeigte. Im Regiolekt kommen sowohl Senkungen des langen /eː/ zu [ɛː] vor (vgl. LAUF 1994 und KÖNIG 1989) als auch gehobene Varianten von /ɛː/ (vgl. die Daten aus dem SiN-Projekt mit zum Teil 100 Prozent Hebungen). Die in- und auslautende g-Spirantisierung (z. B. bei folgt oder Sieg) bleibt ebenfalls recht stabil erhalten. Die SiN-Ergebnisse (im Wort- bzw. Morphemauslaut) zeigen zum Teil sehr große Anteile spirantisierter Varianten, wobei diese in der Vorleseaussprache deutlich kleiner sind als in den anderen Erhebungssituationen (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 251–273). Daneben 250 Die Seitenangaben zu KÖNIG (1989) beziehen sich auf den zweiten Band des Werkes und damit auf die Auswertungstabellen und -karten. Die dazugehörigen Kommentare aus Band 1 werden nicht zusätzlich genannt, gelten aber gleichwohl.

6.4 Hannover

181

zeigt sich auch die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] (z. B. bei Pferd) als abbauresistent im Regiolekt (vgl. z. B. 100 Prozent Varianten mit [f] in Leiferde im SiN-Korpus).251 Auf der Grenze zwischen den Kategorien „abbauresistent“ und „im Abbau begriffen“ lässt sich die plosivische Lösung von finalem (z. B. bei bang oder Ding) beschreiben. Die regionale Variante des Phänomens ist im SiNKorpus noch recht gut belegt, folgt aber insgesamt der Tendenz zum Abbau, wie auch das vorherige Kapitel zeigt (vgl. ebenso ELMENTALER 2012). Ebenfalls rückläufig ist die Kürze von /aː/ in Einsilblern wie Glas. Sie ist zwar in allen untersuchten Korpora noch vorhanden, häufiger tritt allerdings die Standardvariante auf. Stark rückläufig bzw. fast abgebaut ist die alveolare Aussprache von bzw. (also [st] bzw. [sp] in z. B. stehen oder sprechen). LAUF (1994) findet die regionale Variante nur noch bei einigen Informanten, während sie im Korpus von KÖNIG (vgl. 1989, Bd. 1, 97) nicht mehr belegt ist. In den SiN-Daten ist die regionale Variante dieses Variationsphänomens in Leiferde und Hermannsburg abgebaut.252 Insgesamt lässt sich also auch für den Raum Hannover festhalten, dass sich alle für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale noch im Regiolekt wiederfinden lassen. Wie dargestellt (vgl. auch Tabelle 45 zur Übersicht), halten sich einige der regionalsprachlichen Merkmale dabei stabil, während andere (stark) im Abbau begriffen sind. Die von ELMENTALER (2012, 109) konstatierte „Entregionalisierung“ bzw. Standardannäherung des Regiolekts lässt sich hier weiter empirisch stützen. Zudem ist festzuhalten, dass zum einen alle für Hannover rekonstruierten Merkmale auch Teil des (etwas umfangreicheren) Merkmalsets des Clusters Segeberg–Ostfriesland sind (vgl. Kapitel 5.5.1) und sich darüber hinaus auch die Beurteilung der Abbausensitivität der Variationsphänomene von Hannover mit dem genannten Cluster deckt. Insofern spricht viel dafür, das Cluster zweiter Ebene Segeberg–Ostfriesland–Hannover dahingehend zu interpretieren, dass hier von e i n e m landschaftlichen Hochdeutsch des 19. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Dieses kann als weitgehend homogen beschrieben werden, wobei in Hannover bereits früher von einem Abbau mancher regionaler Varianten ausgegangen werden kann. Dies würde auch erklären, warum ELMENTALER (2012) in einigen seiner ältesten Quellen noch Merkmale finden kann, die durch das hier untersuchte Viëtor-Korpus nicht (mehr) bestätigt werden können (vgl. hierzu auch Fußnote 155 in Kapitel 5.3.5).

251 Die beiden zuletzt aufgeführten Merkmale beschreibt auch ELMENTALER (vgl. 2012, 108– 109). 252 Vgl. auch die Ausführungen in ELMENTALER / ROSENBERG (2015a) sowie ELMENTALER (2012).

182

6 Dynamik

Abbauresistent: - a-Palatalisierung - Senkung von [eː] und/oder Hebung von [ɛː] - In- und auslautende g-Spirantisierung - Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] Im Abbau begriffen: - Kürze von /aː/ - Plosivische Lösung von finalem - Bewahrung /s/ vor [p] und [t] Tab. 45: Abbausensitivität der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im diachronen Vergleich (Hannover)

6.5 Flensburg Der VIËTOR’sche Untersuchungsort Flensburg wird in der Clusteranalyse (vgl. Kapitel 5.5.1) in ein Cluster des Niederdeutschen gefasst, fusioniert aber darüber hinaus erst auf so später Stufe mit anderen Orten, dass keine weitere Clusterzuordnung gerechtfertigt erscheint. Daher wird die Entwicklung der regionalsprachlichen Dynamik für Flensburg als Einzelort (stellvertretend für den nördlichsten Teil des Nordniederdeutschen) untersucht. Als Vergleichsstudien bzw. -korpora zum Regiolekt werden hierfür KÖNIG (1989), LAUF (1994), KEHREIN (2012) (hier der Ort Alt Duvenstedt) sowie die Ergebnisse aus dem SiN-Projekt zu den regiolektalen Sprachlagen (die Orte Langenhorn und Sörup; ELMENTALER / ROSENBERG 2015b) herangezogen. Die nachfolgende Tabelle liefert zu den rekonstruierten Variationsphänomenen eine Übersicht über das Vorkommen der regionalen Varianten in den Studien zum Regiolekt. Der angestellte Vergleich zeigt, dass acht der für das landschaftliche Hochdeutsch Flensburgs rekonstruierten Phänomene im Regiolekt noch weitgehend stabil erhalten sind. Dabei handelt es sich um die a-Palatalisierung, die in allen neueren Studien (bis auf SiN, wo es keine entsprechende Untersuchungsvariable gibt) belegt ist. Für das landschaftliche Hochdeutsch wurde neben Hebungen von [ɛː] und Senkungen von [eː] eine höchst inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute rekonstruiert. Im Regiolekt finden sich Hebungen des Langvokals [ɛː]. Diese Variante ist höchst frequent, so dass beispielsweise in den Vergleichsorten des SiN-Korpus bis zu 100 Prozent der Belege in gehobener Variante vorkommen. Daneben halten sich ebenfalls gut Varianten mit in- und auslautender g-Spirantisierung (z. B. bei leugne oder Sieg), wobei dieses Merkmal für die Sprecher kontrollierbar zu sein scheint (vgl. KÖNIG 1989, Bd. 1, 109–110 und KEHREIN 2012, 296). Außerdem bleiben die Lenisierungen von /p, t, k/ recht stabil erhalten. Wie in den anderen Untersuchungsorten zeigt sich auch in Flensburg die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] (z. B. bei Pferd) abbauresistent. Zudem kann die mit der aktuellen Aussprachenorm übereinstimmende r-Vokalisierung (z. B. in Feuer) als stabiles Phänomen eingeordnet werden.

183

6.5 Flensburg

Linguistisches Merkmal a-Hebung a-Palatalisierung Kürze von /aː/ Inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute Diphthongierung von /eː/ Senkung von [ɪ] Rundung von [ɪ] Senkung von [uː] und [ʊ] Vorverlagerung/ Hebung In- und auslautende g-Spirantisierung Lenisierung von [k] Lenisierung von [p] Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

r-Vokalisierung Desonorisierung von [z] Bewahrung /s/ vor p und t Lenisierung von [t]

LAUF (1994) (ab 1961)

+

(S. 43)

KÖNIG (1989)253 (um 1975)



KEHREIN (2012) (2004–2010)

(+)

(S. 96–97)

(S. 295, selten)

(S. 42)

(S. 7 u. 96–97, selten)

(S. 295)

(S. 43)

(S. 151–152)

(S. 295, selten)

+ + +

(S. 42)

+

(S. 42)

+

+

(+) +

(S. 112–113)

n. g.

+

+

(+) +

(S. 294)

(+)

ELMENTALER / ROSENBERG (2015b) (SiN) (2008–2010)

(+)

(S. 135–140)

n. g.

(+)

(S. 141–154)

+

(S. 101–106)

(+)

(S. 295, selten)

(S. 113–120)

(+)

(+)

(S. 42–43)

(S. 129)

(S. 294, selten)

(S. 155–167)

(S. 42)

(S. 130)

(S. 295, selten)

(S. 155–167)

(S. 43)

(S. 133)

(S. 294, selten)

(S. 169–172)

n. g.

n. g.

(S. 297)

(S. 173–178)

+ +

+

(S. 44)

n. g.

+

(S. 43)

+

(S. 40)

+

(S. 44–45)



+

(+)

(Bd. 1, S. 109–110)

(+) (+) + +

(+) (+) (+) +

(S. 296)

(S. 251–273)

(S. 289)

(S. 296)

(S. 217–226)

(S. 262 u. 264)

(S. 296)

(S. 217–226)

+ + +

(S. 259)

+

+ + +

(S. 296)

+

+ + +

(S. 291–294)

+

(Auskunft

(S. 228 u. 231)

(S. 297)

(S. 241)

(S. 296)

(S. 44–45)

(Bd. 1, S. 97)

(S. 297, selten)

(S. 335–338)

(S. 44)

(S. 283)

(S. 296)

(S. 217–226)

n. g.

+ +

– –

+

+

(+) +

ELMENTALER)

(+)

(S. 329–334)



+

Tab. 46: Vorkommen der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene im Regiolekt (Flensburg) 253 Die Seitenangaben zu KÖNIG (1989) beziehen sich auf den zweiten Band des Werkes und damit auf die Auswertungstabellen und -karten. Die dazugehörigen Kommentare aus Band 1 werden nicht zusätzlich genannt, gelten aber gleichwohl.

184

6 Dynamik

Auch für das recht konservative landschaftliche Hochdeutsch Flensburgs bleibt festzuhalten, dass viele der für das 19. Jahrhundert rekonstruierten Merkmale im Regiolekt (stark) im Abbau begriffen sind. Dies betrifft etwa die a-Hebung („Verdumpfung“), deren regionale Variante in allen Vergleichsstudien nur noch höchstens niederfrequent vorkommt. Außerdem scheint die lexemgebundene Kürze von /aː/ in Einsilblern wie Glas rückläufig. Zwar kommen im SiN-Korpus noch einige Kürzen vor, in den anderen Studien hingegen nur noch vereinzelt. Ebenfalls abbausensitiv zeigen sich die diphthongierten Varianten von /eː/ (z. B. bei See). So treten im SiN-Korpus die diphthongierten Varianten nur noch niederfrequent auf (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 115). Senkungen von [ɪ] und [uː, ʊ] müssen ebenfalls als rückläufige Phänomene beschrieben werden. LAMELI (vgl. 2004, 227–229) etwa kann die regionalen Varianten in seinem Neumünsteraner Korpus noch zum Teil ausmachen. In den SiN-Daten nehmen die gesenkten Varianten einen Anteil von je unter 10 Prozent ein. Gleiches gilt für die Rundung von [ɪ]. Desonorisierte Varianten von [z] sind nur in KEHREIN (2012) frequent belegt. Rückläufig ist zudem die Realisierung von /s/ vor p und t. So zeigen die SiN-Daten (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 335–338) kein Vorkommen der regionalen Varianten.254 Etwas unklar ist aufgrund der Quellen- und Datenlage, wie der Status des Phänomens „Vorverlagerung/Hebung “ einzuordnen ist. Da bislang nicht abschließend geklärt werden konnte (vgl. Kapitel 5.3.8), ob es sich bei diesem Phänomen um eines dialektalen Ursprungs handelt, fällt die Beurteilung der Entwicklungsrichtung schwer. Daher sei hier nur die Datenlage beschrieben und von einer Einordnung in die Kategorien der Abbausensitivität abgesehen. Bei LAUF (1994) und KÖNIG (1989) wird das Phänomen nicht thematisiert. KEHREIN (vgl. 2012, 297) findet Belege der regionalen Variante in seinem Korpus, ebenso wie LAMELI (vgl. 2004, 229–231). In den SiN-Daten sind unter 20 Prozent der Realisierungen von vorverlagert bzw. gehoben (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 173–178). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass in Flensburg die gleichen Variationsphänomene stabil erhalten bleiben wie in den übrigen bislang diskutierten niederdeutschen Orten. Darüber hinaus zeigen sich als abbauresistent zudem die Lenisierungen von /p, t, k/. Der recht konservative Stand des landschaftlichen Hochdeutsch Flensburgs ist aufgrund der Abbausensitivität der übrigen Phänomene im Regiolekt zunächst nicht mehr zu beobachten. Die folgende Tabelle fasst die vorgenommene Kategorisierung der regionalen Merkmale zusammen.

254 Vgl. auch die Ausführungen in ELMENTALER / ROSENBERG (2015a) sowie ELMENTALER (2012) oder CORDES (1954, 241). Zu den anderen Vergleichsstudien sei auf die analogen Ausführungen in den voranstehenden Kapiteln verwiesen.

6.6 Westliches Ostfriesland

185

Abbauresistent: - a-Palatalisierung - Hebung von [ɛː] - In- und auslautende g-Spirantisierung - Lenisierung von [k] - Lenisierung von [p] - Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] - r-Vokalisierung - Lenisierung von [t] Im Abbau begriffen: - a-Hebung - Kürze von /aː/ - Diphthongische Realisierung von /eː/ - Senkung von [ɪ] - Rundung von [ɪ] - Senkung von [uː] und [ʊ] - Desonorisierung von [z] - Bewahrung /s/ vor p und t Tab. 47: Abbausensitivität der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im diachronen Vergleich (Flensburg)

6.6 Westliches Ostfriesland Die VIËTOR’sche Untersuchungsregion westliches Ostfriesland wird im Folgenden hinsichtlich der Abbausensitivität der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale untersucht. Das Ergebnis der Clusteranalyse zeigt (vgl. Kapitel 5.5.1) eine sehr späte Fusionierung der Region mit den übrigen niederdeutschen Untersuchungsorten bzw. -regionen. Daher ist das westliche Ostfriesland nur dem Cluster „Niederdeutsch“ zuzuordnen. Eine darüber hinausgehende Clusterzugehörigkeit kommt aufgrund des vergleichsweise konservativen landschaftlichen Hochdeutsch nicht zustande. So ist dieses durch eine Bewahrung zahlreicher dialektaler Merkmale gekennzeichnet, was im Vergleich zu anderen landschaftlichen Oralisierungsnormen eher untypisch ist. Daher ist bei der Untersuchung der regionalsprachlichen Dynamik im westlichen Ostfriesland insbesondere interessant, ob sich der konservativere Sprachstand noch im Regiolekt widerspiegelt. Als Vergleichsstudien werden KÖNIG (1989), LAUF (1994) sowie die Ergebnisse aus dem SiN-Projekt (ELMENTALER / ROSENBERG 2015b; hier: die Orte Hinte und Warsingsfehn) hinzugezogen. In der nachfolgenden Tabelle findet sich eine Übersicht über das Vorkommen der regionalen Varianten zu den rekonstruierten Variationsphänomenen in den einschlägigen Studien zum Regiolekt.

186

6 Dynamik

Linguistisches Merkmal a-Hebung Kürze von /aː/ Tendenziell inkonsistente Distinktion der e-/ä-Laute Diphthongierung von /eː/ Entrundung von [ɔ͡ɪ] Velarisierung von [ç] Anlautende g-Spirantisierung In- und auslautende g-Spirantisierung Spirantische Lösung von Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]

r-Vokalisierung Bewahrung /s/ vor p und t Bewahrung /s/ vor weiterer Konsonanz Bewahrung /sk/ Lenisierung von [t] Reduzierung von [t͡s] zu [s]

LAUF (1994) (ab 1961)

KÖNIG (1989)255 (um 1975)

+

(+)

(S. 43)

(S. 96–97, selten)

(S. 43)

(S. 152)

+ +

(S. 42)

+

(S. 42)

n. g. n. g.

+

(S. 44)

+

+ +

(S. 111–113)

n. g.



(Bd. 1, S. 60)

+

(S. 148)

n. g.

(+)

ELMENTALER / ROSENBERG (2015b) (SiN)

(2008–2010) (+) (S. 135–140)

+

(S. 141–154)

+

(S. 101–106)

(+)

(S. 113–120)

n. g. n. g.

(+)

(S. 229–250)

+

(S. 44)

(Bd. 1, S. 109–110)

(S. 251–273)

(S. 44)

(S. 233)

(S. 357–365)



+

(S. 40)

+



+

(S. 259)

+



+

(S. 291–294)

+

(S. 44–45)

(S. 223–231)

(Auskunft ELMENTALER)

(S. 44–45)

(Bd. 1, S. 97)

(S. 335–338)

n. g.

n. g.

n. g.

n. g.

+

+

(S. 44)

+

(S. 44)



(+)

(S. 283)

n. g.

– –

(Auskunft ELMENTALER)



(Auskunft ELMENTALER)

(+)

(S. 217–226)

(+)

(S. 295–300)

Tab. 48: Vorkommen der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene im Regiolekt (westliches Ostfriesland)

Der Vergleich zeigt, dass sich vier der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Merkmale stabil im Regiolekt halten. Während im landschaftlichen Hochdeutsch vereinzelt, aber nicht systematisch Hebungen von [ɛː] vorkamen, 255 Die Seitenangaben zu KÖNIG (1989) beziehen sich auf den zweiten Band des Werkes und damit auf die Auswertungstabellen und -karten. Die dazugehörigen Kommentare aus Band 1 werden nicht zusätzlich genannt, gelten aber gleichwohl.

6.6 Westliches Ostfriesland

187

weshalb von einer tendenziell inkonsistenten Distinktion der e-/ä-Laute ausgegangen wird, zeigt der Regiolekt eine deutliche Zunahme und Systematisierung des Merkmals, wie die Anteile von bis zu 100 Prozent gehobener Varianten im SiN-Korpus zeigen (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 101–106). Ebenfalls frequent erhalten bleiben spirantisierte Varianten von in- und auslautendem /g/ (z. B. bei legal oder Tag) sowie die Varianten mit anlautender Spirans [f] anstelle der Affrikata [p͡f] (z. B. bei Pferd). Daneben erhält sich die r-Vokalisierung (z. B. bei Feuer), diese allerdings in Übereinstimmung mit dem heutigen Standard. Daneben sind zahlreiche Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im Regiolekt (stark) rückläufig. Dabei kommen Varianten geschlossener Einsilbler mit erhaltener Kürze von /aː/ (z. B. bei Glas) noch vergleichsweise häufig vor, wenn auch Varianten mit standardkonformer Vokallänge überwiegen. Stärker rückläufig sind Belege für das Phänomen der a-Hebung bzw. „Verdumpfung“ (z. B. bei Arzt) ebenso wie für die Diphthongierung von /eː/ (z. B. bei See). Bei letzterem Merkmal deutete sich der Abbau auch bereits im landschaftlichen Hochdeutsch an, wie der Kommentar von VIËTORS Informant zur Verbreitung zeigt („auf dem lande“; VIËTOR 1888a, 98). Die velarisierten Varianten von /ç/ sind in KÖNIG (vgl. 1989, 148) zum Teil noch belegt, während sie in LAUF (1994) und im SiNProjekt keinen Eingang in die Auswahl der Untersuchungsvariablen finden konnten. Daneben sind auch anlautende g-Spirantisierungen (z. B. bei gut oder gleich) rückläufig, wie beispielsweise das niederfrequente Vorkommen in den SiNDaten zeigt (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 229–250). Lenisierungen von [t] (z. B. bei Rat oder teuer) finden sich im Regiolekt noch, scheinen aber auch eher rückläufig zu sein. Die Deaffrizierung von [t͡s] (z. B. bei zwei ) ist bei LAUF (vgl. 1994, 44) noch belegt, während die Varianten mit einfacher Spirans in den Vergleichsorten des SiN-Korpus (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b, 295–300) nahezu nicht mehr vorkommen. Ebenso wie in den anderen Untersuchungsorten bzw. -regionen ist die Realisierung von [st] und [sp] anstelle von standardsprachlich [ʃt] und [ʃp] im Regiolekt des westlichen Ostfrieslands nahezu abgebaut. Bei LAUF (1994, 44–45) ist bereits die Salienz dieses Merkmals vermerkt, welches „auch dem naiven Sprecher sofort auffällt“. KÖNIG (vgl. 1989, Bd. 1, 97) findet keine entsprechenden Belege in seinem Korpus. Auch die SiN-Daten zeigen, dass dieses regionale Phänomen fast vollständig abgebaut ist. Neben den mehr oder weniger heute noch vorhandenen Merkmalen des landschaftlichen Hochdeutsch sind einige allerdings auch im Regiolekt der Region komplett abgebaut. Dies trifft auf die Entrundung von standardsprachlich [ɔ͡ɪ] (z. B. bei Freude) zu, für die KÖNIG (vgl. 1989, Bd. 1, 60) nicht einen Beleg finden konnte. Ebenso für Varianten mit spirantischer Lösung von als [ŋx] (z. B. bei bang oder Ding). Zwar kommen Varianten mit plosivischer Lösung noch im Regiolekt vor, die spirantische Form des „alten“ Dialektes und auch noch des landschaftlichen Hochdeutsch ist allerdings im Regiolekt abgebaut. Ebenfalls vollständig abgebaut sind im Regiolekt die Bewahrung von /s/ vor wei-

188

6 Dynamik

terer Konsonanz (m, n, l und v)256 sowie die Bewahrung von /sk/ (z. B. bei schön oder Fisch). Für diese Phänomene wurden in den SiN-Daten nach persönlicher Auskunft von MICHAEL ELMENTALER keine Belege gefunden. Somit bleibt nach diesem Vergleich festzuhalten, dass die für das landschaftliche Hochdeutsch des westlichen Ostfrieslands charakteristischen konservativen Merkmale im Regiolekt weitgehend abgebaut sind. Stabil erhalten bleiben die gleichen Variationsphänomene wie in den anderen niederdeutschen Untersuchungsorten bzw. -regionen. Die nachfolgende Tabelle fasst die betrachteten Phänomene hinsichtlich ihrer Abbausensitivität zusammen. Abbauresistent: - Hebung von [ɛː] - In- und auslautende g-Spirantisierung - Anlautende Deaffrizierung von [p͡f] - r-Vokalisierung Im Abbau begriffen: - Kürze von /aː/ - a-Hebung - Diphthongische Realisierung von /eː/ - Velarisierung von [ç] - Anlautende g-Spirantisierung - Bewahrung /s/ vor p und t - Lenisierung von [t] - Reduzierung von [t͡s] zu [s] Abgebaut: - Entrundung von [ɔ͡ɪ] - Spirantische Lösung von finalem - Bewahrung /s/ vor weiterer Konsonanz - Bewahrung /sk/ Tab. 49: Abbausensitivität der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch im diachronen Vergleich (westliches Ostfriesland)

6.7 Zusammenfassung und Fazit Die diachrone Betrachtung der für das landschaftliche Hochdeutsch rekonstruierten Variationsphänomene konnte für alle Untersuchungsorte und -regionen zeigen, dass die meisten Merkmale ihren Niederschlag im Regiolekt finden. Das typische Auftretensmuster zeigt dabei einige stabil erhaltene Variationsphänomene neben weiteren nicht (mehr) frequenten Regionalismen. Wenige Merkmale 256 WILCKEN (vgl. 2015, 290–292) kann für das literarisierte Missingsch ebenfalls zeigen, dass es sich bei diesem Merkmal um ein instabiles handelt, das im von ihr untersuchten Korpus nicht mehr nach den 1920er Jahren nachweisbar ist.

6.7 Zusammenfassung und Fazit

189

(beim konservativen westlichen Ostfriesland etwas mehr) sind im Regiolekt vollständig abgebaut. Somit kann der diachrone Vergleich die These bestätigen, dass es sich bei der historischen Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch um den Vorläufer des Regiolekts handelt. Des Weiteren lassen sich aus der Untersuchung der regionalsprachlichen Dynamik Erkenntnisse über die Abbausensitivität von Variationsphänomenen gewinnen. Es zeigt sich dabei, dass sich Merkmale mit kleiner arealer Verbreitung schneller abbauen als solche mit größerer bis großer Verbreitung. Außerdem gibt es vier Phänomene, die sich in allen betrachteten Regionen im Regiolekt halten. Dies sind die in- und auslautende g-Spirantisierung, die anlautende Deaffrizierung von [p͡f], die r-Vokalisierung257 sowie Varianten bei der Realisierung der langen e-/ä-Laute (Phonemzusammenfall, Hebungen und Senkungen). Anhand dieses gemeinsamen Sets an Phänomenen können (zumindest) in der Tendenz die Ergebnisse anderer Studien bestätigt werden, die eine größere Abbausensitivität bei vokalischen Phänomenen belegen (vgl. etwa LENZ 2003 oder LAMELI 2004). Zudem werden Merkmale, die sich über die Schriftsprache gut kontrollieren lassen, wie etwa die Vokal-Epenthese, schneller abgebaut. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor auf den Erhalt bzw. den Abbau eines linguistischen Merkmals ist zudem seine Salienz. Bereits im Viëtor-Korpus finden sich Hinweise auf die erhöhte Abbausensitivität von Merkmalen, die etwa im Kontakt mit NichtEinheimischen auffallen (z. B. die Vokal-Epenthese, vgl. VIËTOR 1888b, 226). Der diachrone Vergleich zeigt zudem, dass saliente Merkmale wie etwa die Kürze von /aː/ oder die Bewahrung von /s/ vor p und t (vgl. hierzu die Ergebnisse in KIESEWALTER i. V.) eine erhöhte Abbausensitivität aufweisen. Phänomene wie etwa die anlautende Deaffrizierung von [p͡f] hingegen, die heute kaum bis nicht salient sind (vgl. KIESEWALTER i. V.), bleiben im Regiolekt allerdings erhalten. Hier lässt sich auch ein Prozess erkennen, der mit „Salienzverschiebung“ benannt werden könnte. So ist anzunehmen, dass die Deaffrizierung zum Ende des 19. Jahrhunderts noch deutlich salienter war, da sie im Viëtor-Korpus gehäuft auftritt bzw. von den Informanten oft genannt wird. Zudem lassen sich auf Basis der diachronen Betrachtung interessante Ergebnisse über den niederdeutschen Sprachraum ableiten. Die Rekonstruktionen auf Grundlage der Viëtor-Daten sowie die damit durchgeführten quantitativen Analysen (vgl. Kapitel 5.5.1 und 5.5.2.3) haben eine Unterteilung des niederdeutschen Sprachraumes in voneinander abgrenzbare Räume des landschaftlichen Hochdeutsch ergeben. Zwar haben diese einen gemeinsamen Kernbestand an linguistischen Merkmalen, die sie charakterisieren (vgl. Tabelle 34). Darüber hinaus zeigt sich für jedes landschaftliche Hochdeutsch aber eine eigene Merkmalsverteilung, die etwa die Region westliches Ostfriesland sowie Flensburg als deutlich konservativer ausgewiesen hat als das landschaftliche Hochdeutsch in Segeberg–Ostfriesland–Hannover. Die Betrachtung der Dynamik dieser alten land257 Dieses für das landschaftliche Hochdeutsch noch als von der „Norm“ abweichendes, heute hingegen standardkonformes Merkmal wird lediglich für Hannover nicht untersucht, da es im entsprechenden VIËTOR’schen Fragebogen nicht vermerkt ist.

190

6 Dynamik

schaftlichen Oralisierungsnormen bzw. der dazugehörigen linguistischen Merkmale zeigt Folgendes: Im Wesentlichen erweist sich für alle niederdeutschen Untersuchungsorte und -regionen ein Set an Merkmalen als abbauresistent. Dies sind die anlautende Deaffrizierung von [p͡f], die in- und auslautende g-Spirantisierung, die Hebung von [ɛː], die mit dem Standard übereinstimmende r-Vokalisierung sowie außer im westlichen Ostfriesland die a-Palatalisierung.258 Diese stabil erhaltenen Variationsphänomene decken sich im Wesentlichen auch mit dem Kernbestand der Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch. Insofern lässt sich für diese Merkmale die oben aufgestellte Prognose bestätigen (vgl. Kapitel 5.5.2), dass sich diese Merkmale im diachronen Vergleich am stabilsten erhalten. Ein zu diesem Kernbestand gehörendes Merkmal hat allerdings eine vollkommen andere Entwicklung genommen. Realisierungen von [sp] und [st] (anstelle von std. [ʃp] und [ʃt]) sind in allen Untersuchungsorten bzw. -regionen fast vollständig abgebaut. Ein für das landschaftliche Hochdeutsch des Niederdeutschen also noch charakteristisches Merkmal ist im Regiolekt nicht mehr präsent. Eine detailliertere Betrachtung der Merkmalsverteilung im SiN-Korpus (vgl. ELMENTALER / ROSENBERG 2015b) zeigt zudem, dass es sich bei dem gerade benannten Set an gemeinsamen Merkmalen auch um die hochfrequenten Variationsphänomene des regiolektalen Niederdeutschen handelt. Das heißt zum Beispiel für die Deaffrizierung von [p͡f], dass über alle SiN-Untersuchungsgebiete hinweg zwischen 70 und 100 Prozent Varianten mit einfacher Spirans belegt sind, was ganz ähnlich auch für die g-Spirantisierung (hier im Wort- bzw. Morphemauslaut) gilt. Die gehobenen Varianten von /ɛː/ zeigen bis auf den Süden und Südosten des SiN-Erhebungsgebietes eine Auftretenshäufigkeit von 90 bis 100 Prozent. Gleichzeitig sind dies (neben einer weiteren nicht phonetischphonologischen) die Untersuchungsvariablen mit der höchsten Frequenz regionaler Varianten im gesamten SiN-Korpus. Zudem handelt es sich bei diesen drei Merkmalen um diejenigen, die WILCKEN (vgl. 2015, 292) für das literarisierte Missingsch in ihrem Korpus erst in Texten nach 1930 nachweisen kann. Vorher galten diese Merkmale, so WILCKENS Erklärung, als selbstverständlich und wurden daher in den Texten nicht markiert. Den Gegenpol dazu bilden Phänomene wie die Bewahrung von /s/ vor [p] und [t], die Senkungen von /ɪ/ und /ʊ/, die Reduzierung von [t͡s] zu [s] oder das apikale /r/. Die entsprechenden regionalsprachlichen Varianten dazu sind über alle SiN-Untersuchungsregionen hinweg im Regiolekt (fast) nicht mehr vorhanden. Auf Basis der hier betrachteten Variationsphänomene sowie für die untersuchten Regionen bleibt also festzuhalten,259 dass der dort gesprochene niederdeutsche Regiolekt als homogener angesehen werden kann als die landschaftli258 In Flensburg zeigen sich zudem die Lenisierungen der standardsprachlich stimmlosen Plosive als abbauresistent. 259 Daneben sind verschiedene Phänomene für unterschiedliche niederdeutsche Regionen im Regiolekt charakteristisch, die in der vorliegenden Untersuchung nicht zur Anschauung kommen. So fungieren etwa die unverschobenen dat, wat, et im Ruhrgebiet als regionale Marker, die auch eine Untergliederung des niederdeutschen Regiolekts bewirken.

6.7 Zusammenfassung und Fazit

191

chen Oralisierungsnormen des 19. Jahrhunderts. Während für die historische Prestigevarietät noch zum Teil kleinere Geltungsräume rekonstruiert wurden, hat der Variantenabbau dazu geführt, dass im heutigen Regiolekt Variationsphänomene mit großlandschaftlicher Verbreitung dominieren.

7 SCHRIFTSPRACHORIENTIERTE FEHLSCHREIBUNGEN SEKUNDÄRANALYSE DES „SPRACHATLAS DES DEUTSCHEN REICHS“ (1888–1923) Zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert bietet sich, wie in Kapitel 4.2.2 erläutert, eine weitere umfangreiche Quelle an, deren Analyse nun folgt. Bei dieser handelt es sich um den „Sprachatlas des Deutschen Reichs“260 von GEORG WENKER, der in den Jahren 1888 bis 1923 entstanden ist. Nach Einschätzung von SCHMIDT / HERRGEN (2011, 108– 111 u. 236–240) lassen zahlreiche Karten dieses Dialektatlasses in mehr oder weniger großem Umfang Aussagen über das landschaftliche Hochdeutsch zu. Inwieweit ein Atlas mit der Zielvarietät Dialekt als Rekonstruktionsgrundlage für die Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch dienen kann, wird hier diskutiert. Dazu wird zunächst kurz auf die Datengrundlage, also den Atlas an sich eingegangen (vgl. Kapitel 7.1). Die Schilderung der Intention des Atlasses, der Entstehungsgeschichte und der Werkbeschreibung dient zum einen dazu, die Quelle zu beschreiben. Zum anderen sind diese Informationen zur Identifikation der analysierbaren Phänomene sowie für das Verständnis der folgenden Analyse wichtig. Diese beruht auf schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf den Wenker-Karten, die durch eine partielle Übereinstimmung der Varietäten Dialekt und landschaftliches Hochdeutsch entstanden sind. Sie werden im Anschluss einer näheren Betrachtung unterzogen (vgl. Kapitel 7.2). Dabei werden die Ursachen für diese Fehlschreibungen beleuchtet und ihre zeitgenössische Interpretation betrachtet. Danach folgen Ausführungen zum Umfang des Analysepotentials dieser Quelle (vgl. Kapitel 7.3). Anschließend (vgl. Kapitel 7.4) wird näher auf Dialektverschriftungen insbesondere durch Laien eingegangen und die sich daraus ergebenden Besonderheiten für die Analyse werden diskutiert. Außerdem wird das Konzept der regionalen Schreibtraditionen im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung kritisch reflektiert. Das nächste Kapitel widmet sich der Methodik der nachfolgenden Analyse (vgl. Kapitel 7.5). Neben dem Hauptaspekt, der linguistischen Analyse, wird dabei auch auf die technische Umsetzung der Kartierung eingegangen, da auf Grundlage dieser Arbeit Zeichen- und Analysefunktionen des Sprachgeographischen Informationssystems REDE (REDE SprachGIS, vgl. ) maßgeblich entwickelt wurden. Es folgen drei Beispielanalysen (vgl. Kapitel 7.6.1–7.6.3) schriftsprachorientierter Fehlschreibungen, die die areale Verbreitung linguistischer Phänomene im landschaftlichen Hochdeutsch aufzeigen. Der Teil schließt mit einem Fazit über 260 Die Benennungen „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ und „Wenker-Atlas“ werden im Folgenden synonym verwendet. Bei ersterer handelt es sich um den offiziellen Namen des Atlasses, letztere stellt die in der Forschungslandschaft weit verbreitete Kurzbezeichnung dar.

194

7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

die Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Sekundäranalyse von Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“. 7.1 GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ Mit GEORG WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ liegt ein Dialektatlas für das gesamte ehemalige Deutsche Reich261 vor. Auf 1.668 handgezeichneten Kartenblättern werden insgesamt 339 Lemmata dargestellt. Zur Datenerhebung des Atlasses hat der Marburger Bibliothekar GEORG WENKER einen Fragebogen mit 40 hochdeutschen Sätzen konstruiert, die neben einigen grammatischen Phänomenen insbesondere lautliche Merkmale der Dialekte abdeckten bzw. erheben sollten.262 Diesen Fragebogen mit den sogenannten Wenker-Sätzen verschickte er an alle Volksschulen des ehemaligen Deutschen Reichs. Die damit verbundene Bitte an die angeschriebenen Volksschullehrer lautete, die Sätze durch einen geeigneten Schüler in den ortsüblichen Dialekt übertragen zu lassen. Nur wenn der Lehrer die betreffende Mundart beherrsche, könne er diese Aufgabe auch selber übernehmen. Diese Übersetzung geschah zum größten Teil mithilfe des normalen lateinischen Alphabets. Lediglich für einige Fälle, in denen die schriftsprachlichen Grapheme keine adäquate Übertragung der Dialektlautung gewährleisten konnten, bot WENKER einige ergänzende Diakritika an. Insgesamt 44.241 ausgefüllte Fragebogen (sog. Wenker-Bogen) aus 40.736 Schulorten lagen nach Abschluss der Erhebungen 1887 vor. Wie aus den Eintragungen auf der Rückseite der Bogen ersichtlich wird, wurde die Übertragung in den Dialekt teils von Schülern, teils vom Lehrer und stellenweise auch von beiden zusammen vorgenommen. Gemeinsam ist allen Bogen, dass sie von einem Lehrer ausgefüllt wurden. Also auch in den Fällen, in denen der eigentliche Informant ein Schüler war, fungierte der jeweilige Lehrer als eine Art „Zwischenexplorator“ (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 100), indem er die Niederschrift der Dialektangaben vorgenommen hat. Für die folgende Sekundäranalyse der Daten ist diese Rolle der Lehrer bei der Datenerhebung von Bedeutung, weshalb sie hier explizit hervorgehoben wird. Die Wenker-Bogen stellen die Datengrundlage des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ dar. Auf ihrer Basis wurden von GEORG WENKER,263 FERDINAND WREDE und EMIL MAURMANN in den Jahren 1889 bis 1923 insgesamt 1.668 handgezeichnete Kartenblätter erstellt. Als Kartierungsprinzipien sind hierbei die 261 Später durchgeführte Nacherhebungen erweiterten das Erhebungsgebiet noch um Österreich, die deutschsprachige Schweiz, Luxemburg sowie deutsche Sprachinseln. 262 Auf eine sehr detaillierte Nachzeichnung der Entstehungsgeschichte des Wenker-Atlasses kann hier verzichtet werden, da diese bereits an mehreren Stellen vorgenommen wurde. Für ausführlichere Informationen sei beispielsweise auf die Ausführungen in HERRGEN (2001), LAMELI (2010), SCHMIDT / HERRGEN (2011) und LAMELI (2014) verwiesen. 263 GEORG WENKER starb im Jahre 1911 und hat somit den Abschluss seines Lebenswerkes nicht mehr erlebt.

7.1 Georg Wenkers „Sprachatlas des Deutschen Reichs“

195

folgenden zu erkennen:264 Pro thematischer Karte wird ein Lemma mit Bezug auf seinen Abfragesatz dargestellt (Einzellemmakartierung). Dabei werden ganze Wörter oder Morpheme (z. B. Präfixe) kartiert (Vollformenkartierung). Dadurch wird auch bei Karten, die beispielsweise die Kartierung eines Einzellautes zum Thema haben, nicht nur das einzelne Segment präsentiert, sondern immer auch seine Einbettung in den lautlichen Kontext. Belege, die die Kartographen aufgrund ihrer linguistischen Kategorisierung zu Typen zusammengefasst haben, werden auf den Karten als Leitformen präsentiert (Leitformenkartierung). Durch farbige Isoglossen werden dabei Flächen umgrenzt und mit der angesetzten Leitform beschriftet. Der auf diese Weise visualisierte Geltungsraum eines Typs gilt dann für alle Ortspunkte innerhalb des Gebietes. Ausnahmen hierzu, also Orte in dem Gebiet, die eine abweichende Form haben, werden mit einem gesonderten Symbol am Ortspunkt hervorgehoben.265 Als letztes Prinzip der Kartierung ist die geographische Exaktheit der Karten zu nennen, die für ihre Entstehungszeit ungewöhnlich ist. Sowohl die original Wenker-Bogen als auch die Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ sind online frei verfügbar. Sie wurden am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas (Marburg) im Rahmen des DFG-Projekts „Digitaler Wenker-Atlas“ (DiWA) digital erschlossen und damit erstmalig publiziert.266 Dem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ hat GEORG WENKER eine handschriftliche Einleitung sowie zahlreiche Kommentare zu den einzelnen Karten zur Seite gestellt. Von der Existenz dieser Schriften hatte die Forschung lange Zeit keine Kenntnis. Sie wurden erst im 21. Jahrhundert (wieder) entdeckt und erschienen jüngst in einer Edition von ALFRED LAMELI (vgl. WENKER 2013 [1889–1911] und LAMELI 2014). Diese Erläuterungen sowie WENKERS zeitgenössisch veröffentlichte Druckschriften und FERDINAND WREDES Kommentare bieten wichtige Hinweise für die Arbeit mit dem Wenker-Atlas. Sie werden daher an den entsprechenden Stellen für die Interpretation und Analyse hinzugezogen. Die Zielvarietät der Erhebung und damit zugleich der Gegenstand des Atlasses ist also die dialektale Kompetenz der deutschen Volksschüler und ihrer Lehrer im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Erhebung erfolgte, wie bereits erwähnt, auf indirekte Weise mittels Fragebogen. Wie im Folgenden noch ausführlich besprochen wird, stellt dies einerseits einen der größten Kritikpunkte am gesamten Atlasunternehmen dar. Andererseits beruht darauf, also auf der Wiedergabe medial mündlicher Dialektformen mithilfe des Schriftsystems der Standardspra264 Die Erläuterungen der Kartierungsprinzipien beziehen sich auf die Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 103–106). 265 Die Ansetzung von Leitformen stellte immer wieder Anlass zur Kritik dar, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird. 266 Die Internetpräsenz des Projekts ist unter zu erreichen; vgl. zur technischen Umsetzung auch RABANUS / KEHREIN / LAMELI (2010). Für das Akademiegeförderte Langzeitprojekt „Regionalsprache.de“ (REDE) (vgl. Fußnote 312) stellen die Karten und Materialien des Wenker-Atlasses ebenfalls eine wichtige Datengrundlage dar und sind daher auch im REDE SprachGIS abrufbar (vgl. ).

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

che und den damit verbundenen Schwierigkeiten, der für die vorliegende Arbeit interessante Mehrwert des Wenker-Atlasses. Die im Folgenden analysierten schriftsprachorientierten Fehlschreibungen resultieren genau aus diesem Spannungsfeld. Somit ergibt sich aus der indirekten Erhebungsmethode die Möglichkeit, den Wenker-Atlas zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch nutzen zu können. Wie dies gelingt, wird im nächsten Kapitel besprochen. Ausgangspunkt der Analyse und der Phänomenidentifizierung bildet dabei die zeitgenössische Kritik am Sprachatlas. 7.2 Die zeitgenössische Rezeption als Mittel zur Rekonstruktion Bald nach Fertigstellung der ersten Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ sah sich das Atlasprojekt starker Kritik ausgesetzt. 1895 erschien eine vernichtende und stellenweise polemische Bewertung von OTTO BREMER in Buchform. Die Kritik diene – so der Autor – dem Ziel, Fehlerquellen zu identifizieren, die zu falschen Ergebnissen auf den Sprachatlas-Karten geführt hätten (vgl. BREMER 1895, VIII).267 Dazu hat BREMER die zu diesem Zeitpunkt fertigen elf Karten268 nach genauerer Betrachtung eingehend besprochen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass große Teile der Karten fehlerhaft seien, was sich auf verschiedene Ursachen zurückführen lasse. Die großen Altersunterschiede in der Informantenschaft (Lehrer, Schüler und zum Teil nicht näher charakterisierte Gewährspersonen) hätten dazu geführt, dass verschiedene Stadien von Lautwandelprozessen auf einer Karte zur Darstellung kämen. Wenn also beispielsweise ein Lehrer eine ältere Variante angegeben habe und ein Schüler im Nachbarort eine jüngere, dann stünden diese unkommentiert nebeneinander und führten zu „im Zickzack hin- und hergehen[den]“ Linien (BREMER 1895, 8). Der Grenzverlauf der Isoglossen sei damit bedingt durch die Generationsunterschiede der Informanten willkürlich. Daneben kritisiert BREMER ein generelles Kartierungsprinzip des WenkerAtlasses: die Leitformenkartierung. Prinzipiell sei das Ansetzen einer Grenzlinie irreführend, wenn eigentlich ein Übergangs- oder Grenzgebiet die sprachliche Realität adäquater abbilde. Daneben seien einige Isoglossen an der falschen Stel267 Entgegen seinem formulierten Vorsatz keine einzelnen Fehler besprechen zu wollen (vgl. BREMER 1895, VIII), verliert sich BREMER oft in seitenlangen Aufzählungen von vermeintlich falschen Belegen. Zu seinen Bewertungen über die Korrektheit einer Form gelangt er dabei nur zum Teil mittels nachvollziehbarer Quellen. Sein Argumentationsverlauf stützt sich nicht selten auf nicht nachprüfbare oder näher beschriebene Quellen (vgl. z. B. „dafür kann ich das Zeugnis eines Braunschweigers anrufen“, BREMER 1895, 119), was die Glaubwürdigkeit bzw. Zuverlässigkeit der BREMER’schen Kritik schmälert. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 4.2.2. 268 Es handelt sich dabei um die Karten zu den Lemmata Eis, Gänse, Hund, ich, Kind, Pfund, Salz, sechs, was, Wasser und Wein. Außerdem habe er die Karte zu bald betrachtet, welche er allerdings als „völlig misslungen“ beschreibt, da „die schriftdeutsche Form überall eindringt“ (BREMER 1895, VII).

7.2 Die zeitgenössische Rezeption als Mittel zur Rekonstruktion

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le gezeichnet und müssten aufgrund der vielen Ausnahmen dies- oder jenseits der Linie richtigerweise einen anderen Verlauf nehmen (vgl. BREMER 1895, 10– 12 u. a.). Der Hauptkritikpunkt BREMERS am „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ ist hingegen ein sehr interessanter und für die Forschung produktiver. Als die größte Schwäche des Atlasses bzw. seiner Erhebung benennt er nämlich die „Unzulänglichkeit der Orthographie“ (BREMER 1895, 116). Diese äußere sich darin, dass eine „Reihe wichtiger Lautunterschiede […] mittels [der neuhochdeutschen] Orthographie überhaupt nicht ausgedrückt werden“ könnten (BREMER 1895, 117). Zudem verbänden die Menschen aus unterschiedlichen Regionen des Landes mit einem Buchstaben verschiedene Lautwerte, so dass sich BREMER veranlasst sieht, die Existenz einer einheitlichen Orthographie im Sprachgebiet zu negieren und vielmehr von regional unterschiedlichen Orthographien ausgeht (vgl. BREMER 1895, 130–132). Diese seien darüber hinaus auch traditionell uneinheitlich entstanden und in der Laut-Buchstaben-Zuordnung unterschiedlich besetzt (vgl. BREMER 1895, 133–134).269 Sein für die vorliegende Analyse interessantestes Argument soll im Wortlaut wiedergegeben werden (BREMER 1895, 120)270: Der schriftdeutsche Buchstabe wird naiverweise überall da geschrieben, wo er in der allgemeinen Umgangssprache ebenso ausgesprochen wird wie in der echten Mundart.271

Hier formuliert er explizit den hinter den im Folgenden durchgeführten Analysen schriftsprachorientierter Fehlschreibungen liegenden Gedanken: Bei einer (lautlichen) Übereinstimmung zwischen den Varietäten Dialekt und landschaftliches Hochdeutsch notierten die Informanten des Wenker-Atlasses die orthographisch korrekte Form. BREMER (1895, 121; Kursivierungen im Original, B. G.) führt dazu weiter aus: Die Buchstaben ü und ö bedeuten für Nordwestdeutschland denselben Lautwert wie in unserer Bühnensprache. Im übrigen Deutschland werden sie meist i und e ausgesprochen, und zwar auch in dem gebildeten Hochdeutsch. Wer nicht über seine Mundart reflektiert, wird daher sein mundartliches i und e naturgemäss durch die Buchstaben ü und ö wiedergeben, wenn er die betreffenden Wörter in der Schule mit ü und ö zu schreiben gelernt hat; liest er doch das mit ü und ö gedruckte Wort nicht anders.

269 BREMER spricht hiermit das Konzept der regionalen Schreibtraditionen an, wie es in der vorliegenden Arbeit in Kapitel 7.4.2 diskutiert wird. 270 Unter dem Begriff der „Umgangssprache“ versteht BREMER (1895, 8) die hier als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnete Varietät, wie aus dem folgenden Zitat zu entnehmen ist: „[D]iese [die Umgangssprache, B. G.] ist mit unserer Schriftsprache keineswegs identisch, sondern in jeder grösseren Landschaft verschieden; es giebt zB eine thüringischobersächsische, eine brandenburgische […].“ 271 Diese vermeintlich klar voneinander abgrenzbaren Ursachen für Fehler auf den WenkerKarten (1. Regionale Schreibtraditionen und 2. Wahl der schriftdeutschen Form bei Übereinstimmung von Dialekt und landschaftlichem Hochdeutsch) stehen vermutlich in direktem Zusammenhang zueinander (vgl. Kapitel 7.4.2). Dementsprechend lassen sich BREMERS Argumentationen gegen diese vermeintlichen zwei Fehlerquellen oft nicht klar voneinander trennen. Sie gehen vielmehr ineinander über bzw. bedingen sich gegenseitig.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

Zusammenfassend konstatiert BREMER, dass die Linien des Sprachatlasses bedauerlicherweise keine Aussagen über die Aussprache ermöglichen, sondern orthographischer Natur seien (vgl. BREMER 1895, z. B. 129). Ungeachtet BREMERS Polemik und den wissenschaftlichen Maßstäben nicht genügenden Belegführungen kommt den genannten Punkten eine für die vorliegende Arbeit große Bedeutung zu. BREMER beschreibt hier – als (vermutlich nicht intendiertes) Nebenprodukt zur Sprachatlaskritik – in Ansätzen das landschaftliche Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert. Zwar sind seine Ausführungen keinesfalls umfassend, dennoch liefern sie (in Anbetracht der Quellenlage) für die Rekonstruktion dieser historischen Varietät eine Fülle an zeitgenössischen Belegen. Daher soll BREMERS Kritik zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch genutzt werden. Zuvor wird allerdings noch etwas näher auf seinen Gegenpart in der Debatte um die Qualität des Wenker-Atlasses sowie die erläuternden, zeitgenössischen Beschreibungen und Interpretationen zum Sprachatlas eingegangen, insofern sie für das hier verfolgte Ziel der Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch von Belang sind. WENKER setzt sich noch im Erscheinungsjahr von BREMERS Kritik am Sprachatlas in einer Replik mit dieser auseinander (vgl. WENKER 1895). Dabei weist er seinem Kontrahenten zahlreiche Ungenauigkeiten in der Arbeitsweise nach. So seien zahlreiche vermeintliche „Fehler“ auf den Karten überhaupt nicht vorhanden. BREMERS Kritik fuße mithin in weiten Teilen auf oberflächlicher Betrachtung der Karten und sei nicht haltbar. Auf BREMERS Hauptkritikpunkt, die „Unzulänglichkeit der Orthographie“ und die sich daraus ergebende Darstellung orthographischer Aspekte auf den Karten, erwidert WENKER (1895, 24; Sperrung im Original, B. G.): [Der] Sprachatlas [hat] die Aufgabe […], das in den Formularen G e sch r iebene zur Darstellung zu bringen, nicht aber irgend welche phonetischen Schlüsse, die wir aus diesem Geschriebenen mit oder ohne Hülfe der Litteratur hätten ziehen können. Br[emer] verkennt wieder ganz den Zweck unserer Karten, dass sie nämlich zunächst nichts sein wollen als eine geographisch geordnete Reproduction des in den Formularen überlieferten schriftlichen Tatbestandes. Alles Weitere bleibt Sache zukünftiger Verarbeitung der Karten.

Darüber hinaus verweist WENKER (2013 [1889], 13–14) auf seine Einleitung zum Sprachatlas, in der genau diese Problematik bereits angesprochen wurde: Es liegt zunächst nahe, zu erwarten, daß der Sprachatlas eine phonetisch genaue Wiedergabe des gesprochenen Wortes bringen würde. Allein ist dies ganz unmöglich. Das Material des Atlas besteht nur in schriftlichen Aufzeichnungen, und wenn auch aus den verschiedenen Schreibungen der Formulare sich sehr oft der Lautwerth einer Form mit überraschender Deutlichkeit und voller Bestimmtheit ergibt, so ist doch eben so oft ein sicherer Schluß auf den genauen Laut durchaus gewagt. […] Der Natur der ihm zu Grunde gelegten Sammlung nach kann und darf der Atlas in phonetischen Fragen nicht abschließen. […] Hier ist der Einzelforschung im Anschluß an den Atlas ein weites und reiches Arbeitsfeld vorbehalten, und es würde ein methodischer Fehler sein, wenn der Atlas durch übereiltes Entscheidenwollen die Thatsachen meistern wollte.

Die gleiche Argumentation verfolgt auch FERDINAND WREDE (vgl. 1895, 37 oder später: 1926–1932, 8–9).

7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses

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Thema der vorliegenden Arbeit ist nicht die Klärung dieses wissenschaftlichen Disputs. Vielmehr soll dieser dazu genutzt werden, die Karten zu identifizieren, auf denen sich schriftsprachorientierte Fehlschreibungen finden lassen. Diese werden dann exemplarisch untersucht, wodurch eine Rekonstruktion von Phänomenen des landschaftlichen Hochdeutsch in ihrer geographischen Verbreitung ermöglicht wird. Wie eine solche Analyse gestaltet sein kann und welche Phänomene bzw. Karten dafür geeignet sind, wird im Folgenden diskutiert. 7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses Die von BREMER kritisierten „Fehler“ auf den Wenker-Karten ermöglichen einen Einblick in das landschaftliche Hochdeutsch und damit das sprechsprachliche Gesamtsystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wie oben dargelegt, verwendeten WENKERS Informanten häufig genau dann die schriftsprachliche Form, wenn eine lautliche Variante ihres Dialektes mit der ihres landschaftlichen Hochdeutsch übereinstimmte. Oder wie WREDE (1926–1932, 9) es formuliert: „Dialektlaute und -formen, die auch beim Schriftdeutschsprechen bewahrt werden, finden in der Regel in den Übersetzungen keine eigene Bezeichnung.“ Sprach also ein Lehrer im Dialekt beispielsweise im Wort müde keinen gerundeten Palatalvokal, sondern einen gespreizten (etwa [miːdǝ]) und behielt diesen auch in seinem landschaftlichen Hochdeutsch bei, konnte das dazu führen, dass dieser Lehrer beim Übersetzen der Wenker-Sätze die orthographisch korrekte Schreibung des Wortes (also: ) verwendete. Die Schreibung mit der Graphie vermag dabei weder die phonetische Form des Dialektes noch die des landschaftlichen Hochdeutsch angemessen zu repräsentieren. Wenn der Lehrer aber in den Phonemsystemen seiner beiden gesprochenen Varietäten keine gerundeten Palatalvokale und damit keine Rundungsopposition hatte, dann erschien ihm die Graphie in der schriftsprachlichen Form müde als richtige Verschriftung seiner dialektalen Variante. Ging er doch wahrscheinlich davon aus, dass sein Hochdeutsch (das einzige, das er schließlich hatte) der (korrekten) Aussprache des Schriftdeutschen entspricht. Und auch wenn er diese Annahme nicht gehegt haben sollte, so fehlten ihm aufgrund der noch nicht vorhandenen Orthoepie des Deutschen sprachliche Vorbilder, die ihm einen Unterschied zwischen seinem landschaftlichen Hochdeutsch und einer „richtigen“ Aussprache des Schriftdeutschen hätten vermitteln können. Demnach war für den Lehrer eine Schreibung von müde mit phonologisch durchaus korrekt. Seiner dialektalen Lautung entsprach sie allerdings nicht. In Bezug auf die korrekte Dokumentation des Dialektes (das war ja das intendierte Ziel des Wenker-Atlasses), muss eine Schreibung mit für eine Dialektform mit [iː] also als falsch angesehen werden.272 272 Vgl. hierzu die programmatischen Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 110–111 u. 236–240) zum Nutzen dieser Daten und der dadurch möglichen Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch für die Variationslinguistik und moderne Regionalsprachenfor-

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Die Belege dieser Art werden in der vorliegenden Arbeit als „schriftsprachorientierte Fehlschreibungen“ bezeichnet. Die Bezeichnung impliziert, dass ein Wenker-Beleg aufgrund einer (partiellen) Übereinstimmung der Varietäten Dialekt und landschaftliches Hochdeutsch in der orthographisch korrekten Schreibung erscheint, in Bezug auf die richtige lautliche Wiedergabe der dialektalen Form (ebenso wie der des landschaftlichen Hochdeutsch) aber fehlerhaft ist. Die Bezeichnung dieser Belege als „Fehler“ soll hier vermieden werden, da durch sie nicht ausreichend berücksichtigt wird, dass in den Augen der Lehrer hier keineswegs ein Fehler vorliegt bzw. vorlag. Die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen können zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch nur dann genutzt werden, wenn die entsprechende dialektale Variante bekannt ist. Durch die fast flächendeckende Beschreibung der deutschen Dialekte durch junggrammatische Ortsmonographien, Landschaftsgrammatiken und dialektale Tonaufnahmen ist die Ermittlung der entsprechenden dialektalen Varianten jedoch in der Regel gut möglich.273 Bevor genauer auf die Methodik einer soeben beispielhaft skizzierten Analyse zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch eingegangen wird, werden zunächst potentiell auswertbare Phänomene identifiziert. Dazu können die sich mit dieser Thematik beschäftigenden zeitgenössischen Quellen genutzt werden.274 Im Einzelnen handelt sich dabei um OTTO BREMERS Kritik am „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (BREMER 1895), FERDINAND WREDES publizierten Vortrag „[Ü]ber [die] richtige Interpretation der Sprachatlaskarten (WREDE 1895), WREDES Berichte über die Karten des Wenker-Atlasses, die regelmäßig im „Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur“ erschienen sind (WREDE 1963),275 WENKERS Kartenkommentare (2013 [1889–1911]), WREDES Einleitungsschriften zum „Deutschen Sprachatlas“ (DSA) (WREDE 1926–1932) sowie deren Fortsetzungen durch WALTHER MITZKA und BERNHARD MARTIN (MITZKA / MARTIN 1934–1956).276 Die aus diesen Quellen entnommenen Anga-

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schung sowie die dort skizzierte Beispielanalyse an einem Ausschnitt der Wenker-Karte bösen. Eine genauere Beschreibung der Vorgehensweise und der verwendeten Quellen erfolgt bei der Beschreibung der Methodik (vgl. Kapitel 7.5) bzw. bei den jeweiligen Einzelanalysen (vgl. Kapitel 7.6). Im Handbuch zum „Deutschen Sprachatlas“ von MITZKA (1952) werden ebenfalls Überlegungen zu dieser Problematik angestellt. Da die dort genannten Phänomene aber im Wesentlichen mit denen der übrigen herangezogenen Quellen übereinstimmen und zudem oft nur kursorisch behandelt werden, wird darauf verzichtet, näher auf sie einzugehen. Um eine Überfrachtung der bibliographischen Angaben zu vermeiden und eine Quellenzuordnung nicht zu erschweren, wird hier einheitlich aus dem Wiederabdruck dieser Berichte in der Sammlung von WREDES „Kleine[n] Schriften“ (1963) zitiert. Sofern das genaue Erscheinungsjahr eines Berichtes für die Argumentation von Belang ist, wird auf den entsprechenden Erstabdruck verwiesen. Die Einleitungsschriften zum „Deutschen Sprachatlas“, also zu der reduzierten und dadurch publizierbaren Version des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, sind insofern interessant (und daher auch nicht redundant zu WREDES Berichten über die Wenker-Karten), als dass

7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses

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ben werden durch eigene Beobachtungen und Materialsondierungen ergänzt und erweitert. Der Aufbau hierbei ist wie folgt: Zunächst werden Phänomene behandelt, bei denen schriftsprachorientierte Fehlschreibungen auf den Wenker-Karten zu erwarten sind und die damit für eine Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch nutzbar gemacht werden können. Im Anschluss erfolgt eine kursorische Auflistung von Phänomenen, bei denen schriftsprachorientierte Fehlschreibungen entweder nicht zu erwarten sind oder (wider Erwarten) nicht auftreten. Keine der Übersichten erhebt dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit, weder was die Nennung der Phänomene betrifft, noch hinsichtlich der stellenweise genannten Verbreitungsgebiete. Auch kann hier nicht im Detail darauf eingegangen werden, welche Aspekte und Besonderheiten bei jeder einzelnen Analyse berücksichtigt werden müssten. Für die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommenen Analysen wird dies ausführlich an entsprechender Stelle diskutiert (vgl. Kapitel 7.6.1–7.6.3). Vielmehr sollen die Übersichten zeigen, dass die Wenker-Karten ein deutlich größeres Analysepotential bergen, als in der vorliegenden Arbeit untersucht werden kann. Bevor die aus dem Wenker-Atlas rekonstruierbaren, möglichen Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch näher beschrieben werden, ist es wichtig, sich noch Folgendes zu vergegenwärtigen: Auf allen nachfolgend genannten Karten finden sich schriftsprachorientierte Fehlschreibungen, die Aussagen über das landschaftliche Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert ermöglichen. Es ist aber keineswegs so, dass diese Fehlschreibungen im gesamten Erhebungsgebiet vorkommen und somit Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch flächendeckend für das gesamte deutschsprachige Gebiet rekonstruiert werden können. Vielmehr haben die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen eine je eigene Verbreitung auf den Karten, die an verschiedene Faktoren gekoppelt ist. So hängt das Auftreten von Fehlschreibungen unmittelbar von der Verbreitung des jeweiligen linguistischen Merkmals in den Dialekten ab. Daneben sind weitere wichtige Einflussfaktoren das Phonemsystem eines Dialektes sowie der sprachliche Einfluss benachbarter Dialekte. Beide Aspekte bestimmen maßgeblich, ob ein Lehrer auf einen lautlichen Unterschied aufmerksam wurde oder (potentiell) eine schriftsprachorientierte Fehlschreibung produzierte. Durch diese Faktoren bedingt, muss also zum einen die geographische Verteilung der Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch eine je eigene sein277 und zum anderen auch der Niederschlag dieser Phänomene in schriftsprachorientierten Fehlschreibungen. Daraus ergibt sich für jede der nachfolgend genannten Karten hinsichtlich der geographischen Ausdehnung ein unterschiedlich großes Analysepotential. Phänomene wie beispielsweise die Entrundung können dabei auf einer vergleichsweise großen Fläche betrachtet werden (vgl. Kapitel 7.6.1 und 7.6.2), während zum Beispiel für die (niederdeutsche) Diphthongierung von /eː/ (nur) ein wesentlich kleineres (niederdeutsches) Gebiet in Frage kommt. WREDE dort zum Teil zu neueren Erkenntnissen gelangt ist und seine vorhergehenden Interpretationen stellenweise korrigiert. 277 Wobei es auch Phänomene mit (annähernd) gleicher Verbreitung geben kann.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

7.3.1 Analysierbare Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch auf Basis des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ Im Folgenden werden unter Rückgriff auf die genannten Quellen Variationsphänomene besprochen, die in Form von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf den Wenker-Karten sichtbar werden und dadurch Rückschlüsse über ihre Verbreitung im landschaftlichen Hochdeutsch ermöglichen.

a-Hebung:

In vielen deutschen Dialekten erscheint /aː/ (< mhd. â) in einer gehobenen („verdumpften“) Variante (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 212). Für das kurze /a/ ist diese Hebung ebenfalls belegt, wenn auch nach SCHIRMUNSKI (vgl. 1962, 240) in weniger ausgedehnter Verbreitung. Im Vergleich zum neuhochdeutschen Standard findet eine artikulatorische Hebung bzw. Rückverlagerung von [aː] bzw. [a] statt, was in IPA-Notation etwa [ɑ(ː)] oder [ɔ(ː)] entspricht.278 In seinem einleitenden Text zum DSA notiert WREDE (vgl. 1926–1932, 42) zur Karte machen, dass die Schreibungen der Wenker-Lehrer über den Lautwert des Stammvokals kaum richtigen Aufschluss geben. Zwar werde die „Trübung“ häufig durch Schreibungen wie oder wiedergegeben. Daneben fänden sich aber auch zahlreiche einfache -Graphien, die keinesfalls alle für eine ungetrübte Lautqualität stünden. Gleiches gelte beispielsweise für die Karte Wasser (vgl. WREDE 1963, 46). BREMER (vgl. 1895, 131) kritisiert zunächst pauschal, dass jedes a durch verschriftet werde und zwar unabhängig von dem dahinterstehenden Lautwert. Im Verlauf seiner Argumentation differenziert er dann etwas feiner, bezweifelt aber gleichwohl die Richtigkeit bzw. Konsequenz der - und -Schreibungen (vgl. seine Ausführungen zur Karte Salz auf S. 148–153 und zur Karte Wasser auf S. 153–158). Bei der a-Hebung handelt es sich nach diesen zeitgenössischen Ausführungen also um ein Merkmal, das auf Wenker-Karten in Form von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen seinen Niederschlag findet. Dass dieses Phänomen im landschaftlichen Hochdeutsch vorkommt, stützen auch die Ergebnisse der Analyse von VIËTORS „Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen“ (vgl. Kapitel 5). Hier konnte das Merkmal sowohl für die thüringischen als auch die nordniederdeutschen Erhebungsorte rekonstruiert werden. Eine Analyse der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf den genannten Karten279 ver278 Der genaue Lautwert bzw. die artikulatorische Modifikation kann dabei je nach Dialekt variieren. 279 Darüber hinaus können auch weitere Wenker-Karten mit /aː, a/ im Stammvokal des abgefragten Lemmas in Frage kommen bzw. für die Analyse miteinander kombiniert werden. So ist auf der Karte schlafen beispielsweise ein großes ostfälisch-nordniederdeutsch-mecklenburgisch-vorpommersches Gebiet mit eingetragener Leitform eingezeichnet. Vereinzelte diagonale und vertikale rote Strichsymbole verweisen auf Schreibungen mit oder und damit auf die gehobenen („verdumpften“) Varianten. Eine knappe vergleichende Betrachtung der Belegschreibungen findet sich auch in WENKER (2013 [1890], 85).

7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses

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spricht somit Aufschlüsse über die Verbreitung der a-Hebung im landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Senkung von [iː] / [ɪ]: Große Teile des mitteldeutschen Raumes weisen in den Dialekten eine Senkung von [iː] bzw. [ɪ] zu e-Lauten auf. Auf niederdeutschem Gebiet lässt sich dieses dialektale Merkmal ebenfalls finden. WREDE (vgl. 1963, 35) beschreibt in seinem Bericht über die Karte Kind vielfältig variierende - und Schreibungen am Niederrhein südlich der Gutturalisierungsgrenze. Weiter führt er an, dass am linken Rheinufer von Rheinberg-Geldern aus nördlich ausschließlich geschrieben werde. Diese Beobachtung stehe im Kontrast zur Karte Winter, bei der durchweg erscheine. Ein Blick in die Karte zeigt abweichend von seiner Beschreibung durchaus -Schreibungen. WREDE gibt für dieses Phänomen keine erläuternden Interpretationen, es ist aber davon auszugehen, dass die -Schreibungen auf den Einfluss der Schriftsprache beim Ausfüllen der Wenker-Bogen zurückführt werden können. Allerdings erscheinen die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen für diese Senkung in nur geringem Umfang auf den entsprechenden Karten. Eine Rekonstruktion als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch könnte mit der hier vorgestellten Methode also erfolgen, allerdings nur in kleineren Räumen. Fehlende Rundungsopposition bzw. Umlautentrundung: Bei der Beschreibung der Karte müde treten nach WREDE (vgl. 1895, 44) auch in Gebieten, die dialektal keinen gerundeten Palatalvokal in dem Wort haben, zahlreiche -Schreibungen auf. Als Beispiel nennt er die Region östlich des Elsass und des Rheins, wo die Schreibungen mit und „wild durcheinander“ gehen. WREDE schreibt hier auch explizit, dass sowohl die Variante des Dialektes als auch die des landschaftlichen Hochdeutsch einen ungerundeten Stammvokal hätten.280 Die folgende Textstelle aus BREMERS Kritik soll hier noch einmal ausführlich zitiert werden, da sie die Übereinstimmung zwischen den Varietäten Dialekt und landschaftliches Hochdeutsch hinsichtlich der Rundungsoppositionen auf den Wenker-Karten zwar etwas pauschalisierend aber dennoch treffend beschreibt: Die Buchstaben ü und ö bedeuten für Norddeutschland denselben Lautwert wie in unserer Bühnensprache. Im übrigen Deutschland werden sie meist i und e ausgesprochen, und zwar auch in dem gebildeten Hochdeutsch. Wer nicht über seine Mundart reflektiert, wird daher sein mundartliches i und e naturgemäss durch die Buchstaben ü und ö wiedergeben, wenn er die betreffenden Wörter in der Schule mit ü und ö zu schreiben gelernt hat; liest er doch das mit ü und ö gedruckte Wort nicht anders. Es ist daher von vorn herein anzunehmen, dass sämtliche Karten des Sprachatlas, welche uns über die Grenzen der sogenannten Entlabialisierung Aufschluss geben sollen, in dieser Hinsicht nicht geglückt sind, weil in den entlabialisierten Gebieten überall ü und ö neben i und e zu erwarten ist. Es kann dabei rein 280 Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Kommentaren und Interpretationen der Wenker-Belege findet im Rahmen der Analysen in den Kapiteln 7.6.1 und 7.6.2 statt.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen orthographische Gründe haben, wenn etwa in der einen Landschaft diese, in der andern jene Schreibung vorwiegt. (BREMER 1895, 121; Kursivierungen im Original, B. G.)

Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen sind auf Karten zu Wörtern mit gerundetem, palatalen Stammvokal in der Standardsprache also gehäuft zu erwarten. Aus diesem Grund widmen sich auch zwei der Detailanalysen den Karten bösen und müde (vgl. Kapitel 7.6.1 und 7.6.2). Diphthong-/Monophthongvarianz: WREDE thematisiert in seinem Bericht über die Karte Bruder die Schreibung des Stammvokals. So finden sich beispielsweise in der Gegend um Stuttgart einige Schreibungen mit , welche aus „schriftsprachlicher Gewohnheit“ entstanden seien (vgl. WREDE 1926–1932, 50). Weiter verweist er explizit darauf, dass die Informanten auch in ihrem landschaftlichen Hochdeutsch den dialektalen Diphthong beibehielten, da sie sich des „Unterschiedes von Aussprache und Schrift“ nicht bewusst seien. Der Blick auf die Karte Bruder zeigt schnell, dass sich diese schriftsprachorientierten Fehlschreibungen nicht nur in der von WREDE genannten Region befinden, vielmehr sind sie deutlich weiter verbreitet und stellen zum Beispiel in Oberbayern die dominierende Variante dar. Ein ähnliches Bild ergibt die Karte Kuchen, die sich auch für Vergleiche mit Bruder eignen könnte. BREMERS (vgl. 1895, 222–226) Kritik geht in die gleiche Richtung wie WREDES Bericht, wenn er die orthographisch richtigen, dialektal aber nicht zutreffenden Monophthonge auf den Karten Pfund, Hund und Kind beschreibt. Als weiteres Beispiel kann die Verschriftung des Diphthongs im Wort Schnee im Niederdeutschen gelten. Wie oben gezeigt wurde (vgl. Kapitel 5), konnte die Diphthongierung von /eː/ als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch mit Ursprung im Dialekt im Nordniederdeutschen rekonstruiert werden. Auf der Wenker-Karte Schnee müssten, um die korrekte dialektale Lautung wiederzugeben, zahlreiche Diphthongschreibungen erscheinen. Diese sind allerdings im Vergleich zur -Graphie der Schriftsprache deutlich seltener. Dementsprechend lässt sich auch hier von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen ausgehen, die die Diphthongierung von /eː/ (im Lemma Schnee) als Phänomen des landschaftlichen Hochdeutsch zeigen können. Phonetische Entsprechungen von in der unbetonten Nebensilbe: Auf allen Karten, die Lemmata mit der schriftsprachlichen Endung abbilden (z. B. Häuser, Kleider, Tochter) finden sich laut WREDE (vgl. 1926–1932, 54) schriftsprachorientierte Fehlschreibungen. Auch bei dieser Besprechung verweist er wieder explizit auf das nicht vorhandene Bewusstsein der Sprecher dafür, dass ihr Dialekt von der Schriftsprache abweicht. Aus diesem Grund sei die schriftdeutsche Endung „massenhaft“ eingetragen worden. BREMER (vgl. 1895, 168–171) kommt bei seiner Kritik der Karte Wasser zu einem ähnlichen Ergebnis und beurteilt die kartierten Endungen aufgrund ihrer Schriftorientierung als durchgängig falsch. Eine Sichtung der genannten Karten zeigt, dass die Kritik beider durchaus berechtigt ist, allerdings nicht in dem formulierten Ausmaß. So

7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses

205

finden sich auf allen vier Karten (Häuser, Kleider, Tochter und Wasser) Belege, die von der orthographisch korrekten Schreibung abweichen. Im bairischen Sprachraum beispielsweise treten die entsprechenden Symbole in solcher Häufung auf, dass die angesetzte Leitform -er nur verwundern kann. Die Anzahl der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf diesen Karten ist gleichwohl so groß, dass eine Analyse möglich wäre. Allerdings müsste diese sehr differenziert ausgestaltet werden. Sollte eine möglichst exakte Rekonstruktion der phonetischen Formen erfolgen, so müsste je nach zugrundeliegender dialektaler Variante eine eigene Auswertung stattfinden. Daneben ließe sich auch die Verbreitung von vokalisierten Varianten untersuchen. Mehr als problematisch dürfte es allerdings sein, eine flächendeckende Darstellung der dialektalen Situation Ende des 19. Jahrhunderts zu erstellen. Wie bereits oben erläutert (vgl. Kapitel 5.3.1) ist die Dokumentation der r-Vokalisierung und die damit verbundenen phonetischen Realisierungsformen in den einschlägigen Dialektgrammatiken nur sehr lückenhaft erfolgt. Eine mögliche Analyse der phonetischen Entsprechungen von in unbetonten Nebensilben in der Varietät des landschaftlichen Hochdeutsch ist anhand der Wenker-Karten also recht problematisch und unter Umständen nicht sehr erfolgversprechend.

b-Spirantisierung:

Ein weiteres sowohl bei WREDE als auch bei BREMER genanntes Phänomen des landschaftlichen Hochdeutsch, das sich auf den Wenker-Karten in Form von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen zeigt, ist die spirantische Realisierung von /b/. Anhand der Karte [ich] glaube beschreibt WREDE (vgl. 1963, 180) zum Beispiel ein großes Gebiet westlich der Werra und von Hedemünden an nordwärts, für welches von spirantischen Varianten auszugehen sei. Dennoch mischten sich dort einige -Schreibungen unter, die durch Orientierung an der Schriftsprache entstanden seien. Bei Betrachtung der Karte lässt sich feststellen, dass das beschriebene Gebiet von Varianten mit der Graphie dominiert wird. Ebenso lassen sich noch weitere Regionen ausmachen, für die das Gleiche gilt. BREMER (1895, 122) stellt fest: „Der Mitteldeutsche schreibt denselben Laut in dem Worte ‘Löwe’ mit w, in dem Worte ‘lebe’ mit b.“ Abgesehen von der sicher nicht auf alle Informanten zutreffenden Verallgemeinerung kann aus BREMERS Kommentar ein geographisch grob verorteter Hinweis auf das Vorkommen des Phänomens entnommen werden.

g-Spirantisierung:

Sowohl WENKER (2013 [1889–1911]) als auch WREDE (1963) schreiben in ihren Erläuterungen und Kommentaren zum Wenker-Atlas bei fast jeder Karte mit schriftdeutscher -Schreibung, dass die -Graphien der Lehrer äußerst kritisch betrachtet werden müssen. WENKER enthält sich zudem oft weiterer Erläuterungen und stellt die Besprechung zunächst hintenan. WREDE ist etwas weniger zurückhaltend und wagt einige Interpretationen der folgenden Art (vgl. WREDE 1895, 41–42): So erläutert er, dass es Wenker-Bogen gebe, auf denen schriftsprachliches /g/ in allen Stellungen mit verschriftet wurde. Für man-

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

che dieser Bogen würde das darauf hindeuten, dass das Phonem in allen Positionen gleich ausgesprochen werde. Also entweder einheitlich als Plosiv oder einheitlich als Frikativ.281 Daher hätten die Lehrer für die das zutrifft, kein Unterscheidungsbedürfnis in der Schreibung gehabt. Umgekehrt ließe sich aus gehäuften - oder -Schreibungen ein solches diakritisches Bestreben der Lehrer erkennen, da ein Unterschied zwischen spirantischer und plosivischer Aussprache je nach Stellung vorhanden sei. Weiter führt er aus, dass das Präfix ge- überwiegend mit der Graphie umgesetzt werde, obwohl die Aussprache landschaftlich sehr verschieden sei. Zwar werde am Niederrhein der spirantische Guttural gelegentlich mit verschriftet, diese Belege stellten jedoch die Ausnahme dar. Interessant wären aber die -Schreibungen in der Pfälzer Kolonie südlich von Cleve. Diese stünden nicht für eine Fortisierung, sondern seien aus dem diakritischen Bestreben entstanden, sich von dem umgebenden niederrheinischen Frikativ abzugrenzen. So kommt WREDE (vgl. 1895, 41– 42) zu dem Schluss, dass die entsprechenden Karten des Atlasses als nahezu ergebnislos bezeichnet werden müssten. Auch in der Einleitung zum DSA argumentiert WREDE (vgl. 1926–1932, 129–131) noch in die gleiche Richtung:282 Bei der Karte ge(brochen) beispielsweise sei in der Regel eingetragen. Diese Schreibungen seien alle entweder durch eine schriftsprachliche Orientierung entstanden oder durch eine regionale Schreibtradition zu erklären, in der für beispielsweise [j] geschrieben werde.283 Neu und wichtig für die hier durchzuführende Analyse ist allerdings die folgende Anmerkung: Die Ausnahmen innerhalb dieser g-Schreibungen seien die wichtigen Hinweisgeber auf die zugrundeliegende phonetische Form. In Schlesien beispielsweise fehlten -Schreibungen komplett. Während WREDE die Belege mit in der Regel mit dem diakritischen Streben nach Abgrenzung einer plosivischen Variante von umliegenden spirantischen interpretiert, ist das Fehlen von in Schlesien seiner Meinung nach darauf zurückzuführen, dass hier im Anlaut ein phonetischer Unterschied zwischen stimmhaftem und stimmlosem velaren Plosiv bestehe. BREMER (vgl. 1895, 131) kritisiert in seiner Auseinandersetzung mit dem Wenker-Atlas ebenfalls die Schreibungen mit . Diese „Fehler“ führt er hauptsächlich auf regionale Schreibtraditionen zurück (vgl. Kapitel 7.4.2). Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit den Karten des Wenker-Atlasses, die Lemmata mit schriftsprachlicher -Schreibung abbilden, zeigt zum einen, dass es sich bei dem Phänomen der g-Spirantisierung um eines handelt, das auf den Karten in Form von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen gehäuft zum Ausdruck kommt. Weiter lässt sich aus diesen metasprachlichen Kom281 Für einige Informanten mag diese Feststellung sicher zutreffen. Daneben gibt es aber noch andere „Typen“ von Schreibern, wie zum Beispiel den, der zwar durchweg die Graphie wählt, wobei der Dialekt in in- und auslautender Position Spirans, im Anlaut hingegen Plosiv hat. 282 Anders als bei der fehlenden Rundungsopposition/Umlautentrundung hat er von 1895 zu 1931 also keine neuen Erkenntnisse bzw. Interpretationen entwickelt (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 7.6.1). 283 Vgl. zu regionalen Schreibtraditionen die Ausführungen in Kapitel 7.4.2.

7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses

207

mentaren bereits erkennen, dass das Phänomen der g-Spirantisierung im landschaftlichen Hochdeutsch frequent vorzukommen scheint, weshalb eine Rekonstruktion als besonders lohnenswert erscheinen muss.284 Daneben wird aber auch deutlich, dass eine solche Analyse keinesfalls unproblematisch sein wird und sich mit den zeitgenössisch bereits diskutierten Problemfeldern auseinandersetzen muss. Anlautende Deaffrizierung von [p͡f]: In seinem Vortrag über die „richtige Interpretation der Sprachatlaskarten“ setzt sich WREDE (vgl. 1895, 39–40) mit dem Anlaut auf den Karten Pfeffer, Pferd und Pfund im Thüringischen und Obersächsischen auseinander. Er beschreibt, dass der Dialekt in den genannten Räumen keine anlautende Affrikate in den genannten Wörtern hat. WENKERS Informanten würden zwischen ihrem Dialekt und ihrem besten Hochdeutsch allerdings keinen Unterschied erkennen und hätten daher meistens der Standardorthographie entsprechend geschrieben. Daneben fänden sich aber auch einige Belege mit , die laut WREDE manchen Informanten dazu gedient hätten, die lautliche Identität mit Wörtern wie Feld oder fünf darzustellen. Durch dieses Nebeneinander der Formen gehe das Kartenbild „wild durcheinander“. WREDE vermutet darüber hinaus, dass die -Schreibungen das Kartenbild noch wesentlich deutlicher dominieren würden, wenn es keine Wörter gäbe, bei denen der Schreibung die Aussprache [f] entspräche. Nach der Interpretation WREDES stehen die Schreibungen also für solche Belege, bei denen der Lehrer keinen Unterschied zwischen den Varietäten Dialekt und landschaftliches Hochdeutsch erkannt hat. Die -Schreibungen lassen die Lehrer erkennen, die ein Bewusstsein für die identische lautliche Entsprechung von und im Anlaut in ihrem Dialekt hatten, die also die Schreibungen für Allographe mit der lautlichen Entsprechung [f] halten.285 Letztere lassen über das landschaftliche Hochdeutsch dieser Lehrer (also der -Schreibenden) zunächst keine Aussage zu. Allerdings schreibt WREDE (vgl. 1895, 40) zudem, dass das landschaftliche Hochdeutsch im Thüringischen und Obersächsischen komplett die einfache Spirans [f] habe.286 In seinen Berichten zum Wenker-Atlas behandelt WREDE (1963, 28; Kursivierungen im Original, B. G.) das Phänomen für die Karte Pfund zwar nur sehr knapp, aber in bestätigender Weise: „zwischen pf- und f- ist scharfe grenzziehung natürlich nicht möglich, da viele schreiber der f-gegend doch der schriftsprache gefolgt sein werden; immerhin lässt die relative häufigkeit des f- in den 284 Dies können auch die Rekonstruktionen auf Basis des Viëtor-Korpus bestätigen (vgl. Kapitel 5). 285 Zum Verhältnis von Allographen und lautlicher Entsprechung im Spannungsfeld Dialekt vs. landschaftliches Hochdeutsch vgl. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 237). 286 Die Betrachtung der Karte Pfund bestätigt das von WREDE beschriebene Kartenbild für das Thüringische, insbesondere auch für das Übergangsgebiet vom Thüringischen zum Obersächsischen, für das Obersächsische und zudem für das Nordobersächsische und das Schlesische.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

verschiedenen gegenden ein urteil zu.“ BREMER (vgl. 1895, 38–39) hält seine Kritik sehr vage, so dass hier nicht näher darauf eingegangen werden muss. Die zeitgenössische Auseinandersetzung verspricht also eine vielversprechende Rekonstruktion des Phänomens im landschaftlichen Hochdeutsch des Ostmitteldeutschen, was durch die Ergebnisse der Viëtor-Analyse (vgl. Kapitel 5) gestützt werden kann.

s-Palatalisierung:

Mit der Palatalisierung von s beschreibt WREDE (vgl. 1926–1932, 104) ein weiteres Phänomen des landschaftlichen Hochdeutsch, das auf den Wenker-Karten in Form von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen zum Ausdruck kommt. Er erläutert anhand der Karten fest, hast und bist die bei Elsässern, Badensern und Württembergern auch beim Hochdeutschsprechen beibehaltene Aussprache von als [ʃt]. Da die Lehrer aus diesen Gegenden also in den Lemmata fest, hast und bist ebenso aussprächen wie in Wörtern wie Stein oder Stock, würden sie keine von der schriftsprachlichen Form abweichende Schreibvariante wählen. Die Betrachtung der Karten fest, hast und bist kann WREDES Beschreibung bestätigen. Zwar sind in den genannten Gebieten Leitformen wie bisch(t), hosch(t) oder fescht angesetzt, doch zeigen zahlreiche Ortsbelege die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen mit . Bewahrung /sk/: WREDES Nachfolger, WALTHER MITZKA und BERNHARD MARTIN, sind mit Hinweisen zum landschaftlichen Hochdeutsch bzw. Erläuterungen zu schriftsprachorientierten Fehlschreibungen in der Einleitung zum DSA wesentlich zurückhaltender als zuvor WREDE. Für das Phänomen der Bewahrung von wgm. sk geben sie anhand der Karte schöne aber einen Hinweis darauf (vgl. MITZKA / MARTIN 1934–1956, 217). So beschreiben sie für das Westniederdeutsche und insbesondere das Westfälische das Nebeneinander von verschiedenen Schreibvarianten, die die Bewahrung zeigen (sie nennen: , , , , , ) und solchen, die eindeutig an der Schriftsprache orientiert sind (). Anhand der VIËTOR’schen Daten konnte das Merkmal als eines des landschaftlichen Hochdeutsch für die Region westliches Ostfriesland rekonstruiert werden (vgl. Kapitel 5.3.10). Eine Analyse der hier thematisierten Wenker-Karte könnte zudem Aussagen über eine größere Verbreitung des Phänomens ermöglichen. Stimmhaftigkeitsopposition bei /b, p/ und /d, t/: WREDE (vgl. 1895, 40) beschreibt in seinem Vortrag über die „richtige Interpretation der Sprachatlaskarten“, dass schriftsprachliches im ganzen Land unterschiedlich ausgesprochen werde. Es sei im Norden stimmhaft und im Süden des Landes stimmlos. Die Schreibung der Wenker-Lehrer sei aber fast überall gleich. Lediglich in Grenzregionen (er nennt zum Beispiel das Thüringische an der Grenze zum Niederdeutschen) seien Ansätze „diakritischen Bestrebens“ vorhanden. So hätten hier einige Lehrer

im Anlaut von beißen geschrieben,

7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses

209

weil sie durch den sprachlichen Kontakt zu ihren Nachbarn darauf aufmerksam geworden seien, dass es einen Unterschied zwischen deren und der eigenen Artikulationsweise gebe. MITZKA / MARTIN (vgl. 1934–1956, 235) beschreiben für die Karte trink(en) ein Nebeneinander von Schreibungen mit und solchen mit in einigen Gebieten. Eine phonetische Aussage lässt sich ihrer Meinung nach aus diesen Schreibungen nicht ableiten. BREMER (vgl. 1895, 124– 127) kritisiert am Thüringisch-Obersächsischen (er spricht hier von einem gemeinsamen Dialekt), dass die Schreibungen des anlautenden Plosivs auf der Karte tot im Wesentlichen an der Schriftsprache orientiert seien. Die vielen Belege mit seien demnach falsch, lediglich die -Schreibungen repräsentierten die Aussprache korrekt. Nach weiteren Ausführungen zum Ostfränkischen konstatiert BREMER zusammenfassend (1895, 127): „Wir wussten es längst, dass ausser Schlesien das ganze t-Gebiet des Sprachatlas d und t hat zusammenfallen lassen.“ Die Auflistung gibt einen Einblick in das Analysepotential des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ zur Rekonstruktion von Merkmalen des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert anhand schriftsprachorientierter Fehlschreibungen. Es handelt sich hierbei weder um eine exhaustive Zusammenstellung aller möglichen Phänomene noch aller Karten, die für eine Analyse genutzt werden können. Auch ist nicht davon auszugehen – dies soll noch einmal ausdrücklich betont werden – dass auf den genannten Karten im gesamten Erhebungsgebiet schriftsprachorientierte Fehlschreibungen vorkommen. Vielmehr werden entsprechende Analysen nur in Teilen des Erhebungsgebietes bzw. in einzelnen (Dialekt-)Regionen möglich sein. Die geographische Ausdehnung bemisst sich dabei an verschiedenen bereits angesprochenen Faktoren. In erster Linie ist die dialektale Ausbreitung eines Phänomens ausschlaggebend für seine Ausprägung im landschaftlichen Hochdeutsch und damit auch für den Niederschlag auf den Karten in Form von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen. Weiterhin konnte die voranstehende Auflistung zeigen, welche Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch von zeitgenössischen Interpreten und Kritikern des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ benannt wurden. Damit liegt also auch erstmals eine Auseinandersetzung und Bewertung dieser Quellen hinsichtlich ihrer Aussagen zum landschaftlichen Hochdeutsch vor. Bevor sich das nächste Kapitel solchen lautlichen Phänomenen des landschaftlichen Hochdeutsch widmet, die sich nicht auf den Wenker-Karten zeigen lassen, sollen exemplarisch noch zwei Beispiele genannt werden, die sehr gut verdeutlichen, wie groß die Orientierung an der Schriftsprache beim Ausfüllen der Wenker-Bogen stellenweise war. Sie zeigen sehr deutlich, dass die Informanten zum Teil die orthographisch korrekte Schreibweise verwendeten, ohne die Aussprache dabei zu reflektieren. Als erstes Beispiel lässt sich hierfür die Auslautverhärtung nennen. Auf den Karten Pfund, Hund und Kind beispielsweise kommt diese in der Schreibung der Belege nicht zum Tragen, wie auch BREMER (vgl. 1895, 226) kritisiert. Zumindest vereinzelte -Belege wären bei einem

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

entsprechenden Bewusstsein der Lehrer für die phonetische Umsetzung der Auslautverhärtung zu erwarten gewesen. Als weiteres Beispiel kann die Schreibung des Wortes sprechen gelten. Während für weite Teile des Niederdeutschen das wortinitiale Konsonantencluster phonetisch als [sp] realisiert wird, ist das für die übrigen Dialekte des Deutschen nicht der Fall. Entsprechend der dortigen Realisierung als [ʃp] müssten sich auf den einschlägigen Wenker-Karten auch -Schreibungen finden lassen, was aber überhaupt nicht der Fall ist. Demnach müssten also alle Belege auf hochdeutschem Gebiet als phonetisch nicht korrekt betrachtet werden. Würde darauf nun die in dieser Arbeit vorgeführte Methodik zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch angewandt werden, käme diese zu dem Ergebnis, dass die hochdeutschen Lehrer den Anlaut des Wortes sprechen auch in ihrem landschaftlichen Hochdeutsch als [ʃp] realisiert haben müssten. Das Ergebnis einer solchen „Analyse“ wäre banal. Was sollte auch die hochdeutschen Lehrer in diesem Fall dazu veranlassen, eine von der Schriftsprache und ihrem Dialekt abweichende Aussprache im landschaftlichen Hochdeutsch zu realisieren. Als Indiz für die Schriftfixierung der Lehrer und ihre nicht in allen Fällen phonetisch korrekte Angabe der Belege kann dieses Beispiel aber sehr gut dienen.

7.3.2 Nicht-analysierbare Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch auf Basis des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ In den vorangehenden Ausführungen wurden elf lautliche Phänomene besprochen, die auf Wenker-Karten in Form von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen ihren Niederschlag finden. Es wurde in Anlehnung an zeitgenössische Erörterungen argumentiert, dass einige Übereinstimmungen zwischen den Varietäten Dialekt und landschaftlichem Hochdeutsch zur Wahl einer orthographisch korrekten Schreibung bei WENKERS Informanten geführt haben, die allerdings die dialektale Form (phonetisch) nicht angemessen zu repräsentieren scheinen. Diese schriftsprachorientierten Fehlschreibungen werden in der vorliegenden Arbeit als Hinweisgeber für die Varianten des landschaftlichen Hochdeutsch gewertet. Es ist davon auszugehen,287 dass es neben solchen, anhand der WenkerKarten rekonstruierbaren Phänomenen des landschaftlichen Hochdeutsch zudem einige andere Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch gab, für die sich keine Hinweise im Atlas finden lassen. Diese können zum Teil identisch mit dialektalen Merkmalen sein, die ebenfalls keinen Niederschlag auf den Karten finden. Die Gründe dafür sind unterschiedlicher Natur. Der erste Grund liegt in der indirekten Erhebungsmethode des Atlasses und der Schreibung durch Laien. Durch die nicht-phonetische Übertragung der Erhebungssätze mithilfe des lateinischen Alphabets konnten einige Phänomene lautlich nicht „korrekt“ angegeben werden,

287 Dies zeigen die Analysen des Viëtor-Korpus in Kapitel 5.

7.3 Analysepotential des Wenker-Atlasses

211

weil das lateinische Alphabet kein passendes Zeichen dafür enthält.288 Als Beispiel hierfür kann etwa die Velarisierung von [ç] gelten, welche als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutsch mit dialektalem Ursprung für Mülheim an der Ruhr und das westliche Ostfriesland rekonstruiert werden konnte (vgl. Kapitel 5.3.13 und 5.3.10). Da das lateinische Alphabet nur ein Schriftzeichen für [x] und [ç] zur Verfügung stellt, kann ein Phänomen wie die Velarisierung des stimmlosen palatalen Frikativs durch die Laienschreibungen nicht erfasst werden. Ohne phonetische Umschrift stand den Lehrern für beide Realisierungsvarianten nur die Graphie zur Verfügung.289 Ein ähnlich gelagerter Fall liegt bei der Darstellung von Stimmhaftigkeitsoppositionen bzw. einem Phonemzusammenfall von /s/ und /z/ vor. Hier stellt das Alphabet zwar grundsätzlich mehrere Zeichen bzw. Zeichenkombinationen zur Verfügung (, , bzw. zur fraglichen Zeit noch vielfach ), doch kann die lautliche Zuordnung stellenweise ambig sein. Zur Verdeutlichung kann die Wenker-Karte Wiese hinzugezogen werden. Bei der Übertragung des Lemmas haben einige Lehrer die Schreibung verwendet, die im Atlas dann als umgesetzt ist. Grundsätzlich kann Eszett bzw. die Ligatur aus kurzem und langem s sowohl dafür verwendet werden, um Kürze des vorangehenden Vokals anzuzeigen, als auch zur Symbolisierung eines stimmlosen s. Das Gleiche gilt allerdings auch für die Doppelschreibung , die ebenfalls auf der Karte Wiese erscheint. Eine Interpretation dieser Schreibungen kann folglich nicht zweifelsfrei erfolgen. Bei Teilen der Wenker-Erhebung wurde auf der Rückseite des Fragebogens zwar die Stimmbeteiligung bei s abgefragt, eine Kartierung ist allerdings nicht erfolgt. Wieder andere Phänomene werden im Wenker-Atlas nicht erfasst, da keine geeigneten Lemmata erhoben wurden. Ein Beispiel stellt die plosivische Lösung von finalem dar, wie sie anhand der Viëtor-Daten für das landschaftliche Hochdeutsch einiger nordniederdeutscher und thüringischer Erhebungsorte rekonstruiert werden konnte. Das einzige passende Abfragewort (jung) wurde lediglich in Süddeutschland erhoben und liegt somit nur auf dem Südwestblatt des Atlasses kartiert vor. Außerdem gibt es noch die Phänomene, die mittels der indirekten Erhebungsmethode weitgehend adäquat erfasst und damit auch der dialektalen Lautung entsprechend korrekt kartiert werden konnten. Als ein Beispiel von vielen kann die Bewahrung von /s/ vor [n] genannt werden. Die Realisierung des Anlauts im Wort schneien ist für manche niederdeutschen Dialekte [sn], während im Hochdeutschen [ʃn] erscheint. Die Betrachtung der entsprechenden WenkerKarte zeigt, dass sich die Lehrer im niederdeutschen Raum ihrer von der Schrift288 Ob die Phänomene phonetisch korrekt durch die Lehrer wiedergegeben worden wären, wenn ihnen das Alphabet ein entsprechendes Zeichen dafür zur Verfügung gestellt hätte, soll und kann hier nicht diskutiert werden. 289 Ob das zu beschreibende Phonemsystem dabei ein Phonem mit den zwei Allophonen [x] und [ç] umfasst oder ob die palatale Variante in der jeweiligen Varietät komplett fehlt, ist hier nicht von Belang.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

sprache abweichenden Variante weitgehend bewusst waren. Dies in Kombination mit dem Repertoire der Schriftzeichen des Alphabets konnte dann zu den lautlich korrekten Schreibungen führen. Dieser kurze Überblick290 soll zeigen, dass generell nur solche Phänomene auf den Sprachatlaskarten zur Darstellung gelangen können, die durch Laienschreibungen erfasst werden können. Allen genannten Phänomenen gemein ist, dass eine Analyse der hier vorgestellten Art zur Rekonstruktion ihres Vorkommens im landschaftlichen Hochdeutsch nicht möglich ist, da sie aus den verschiedenen genannten Gründen auf den Wenker-Karten nicht abgebildet werden. Eine umfassende Darstellung dieser Art von Phänomenen kann und soll nicht Ziel dieser Arbeit sein. Vielmehr sollen in Ergänzung zu den in Kapitel 7.3.1 vorgestellten Merkmalen die Möglichkeiten aber auch die Grenzen des Analysepotentials dieser Quelle zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im ausgehenden 19. Jahrhundert umrissen werden.

7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen Sprachhistorische Arbeiten zur gesprochenen Sprache stehen in der Regel vor der Herausforderung, keine Tonaufnahmen als Quellen zur Verfügung zu haben, sondern anhand von schriftlichen Daten eine plausible Rekonstruktion der Oralität vornehmen zu müssen. Die Analyse der Wenker-Karten bzw. der Schreibungen von WENKERS Informanten zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch bewegt sich ebenfalls in diesem Spannungsfeld. Wie die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen genutzt werden können, um (die Verbreitung von) Phänomene(n) des landschaftlichen Hochdeutsch identifizieren zu können, wurde oben erläutert (vgl. Kapitel 7.2). Nachdem das dahingehende Analysepotential des Atlasses nun umrissen wurde (vgl. Kapitel 7.3), soll zunächst noch auf zwei Themenkomplexe eingegangen werden, die bei der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen (Dialekt-)Quellen berücksichtigt werden müssen.291 Im Anschluss daran können die Darlegung der angewandten Methodik und die Präsentation der Analysen erfolgen. Der erste Aspekt betrifft die Verschriftung von Dialekt, also einer Varietät, für die es keine Schreibnormierung gibt, im Allgemeinen. Es soll kursorisch betrachtet werden, welche Verschriftungsstrategien Schreiber anwenden, wenn sie diese genuin orale Varietät mittels Graphien fixieren wollen. Neben den generellen Strategien, die auch von professionellen Dialektschreibern bzw. -dichtern 290 Die Auflistung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Aus Gründen der Vergleichbarkeit orientiert sie sich an den Merkmalen, die anhand des Viëtor-Korpus rekonstruiert werden konnten (vgl. Kapitel 5). 291 Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache anhand schriftlicher Quellen vgl. etwa auch RABANUS (2008), ELSPASS (2005) oder JORDAN (2000).

7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen 213

angewandt werden, wird insbesondere auch die Dialektschreibung von Laien, um die es sich in dieser Hinsicht bei den Informanten des Wenker-Atlasses ja handelt, in den Blick genommen. Anschließend wird auf regionale Schreibtraditionen eingegangen. Dabei wird hauptsächlich die Vereinbarkeit der Annahme regionaler Schriftlichkeit und ihrer je eigenen Laut-Graphie-Korrespondenzen mit der hier vorgenommenen Analyse, schriftsprachorientierte Fehlschreibungen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch zu nutzen, diskutiert.

7.4.1 Dialektverschriftung und Laienschreibungen Die Varietät des Dialektes ist eine genuin mündliche, das heißt, ihr Anwendungsbereich liegt fast ausschließlich in der mündlichen Kommunikation. Eine kodifizierte Norm für die Verschriftung dieser Varietät, wie sie beispielsweise mit der Orthographienorm der neuhochdeutschen Standardsprache vorliegt, gibt es nicht. Daher kann auf eine solche auch nicht zurückgegriffen werden, wenn eine Verschriftung des Dialektes vorgenommen werden soll. Somit stehen Dialektschreiber vor der Herausforderung, die dialektalen Charakteristika adäquat zur Darstellung zu bringen. Diese Problematik existiert insbesondere bei der Umsetzung phonetisch-phonologischer Merkmale.292 Als wesentlicher Bestandteil des Dialektes sollen diese bei der Dialektverschriftung in der Regel dargestellt werden. Für eine exakte Umsetzung wäre eigentlich eine phonetische Umschrift nötig, die Dialektschreibern293 allerdings in der Regel nicht vertraut ist. Also können sie nur auf das bekannte lateinische Alphabet und die (soweit vorhandenen) Orthographienormen zurückgreifen. Zu genau dieser Art der Übertragung fordert WENKER seine Informanten auch auf, weshalb auf diese Thematik hier näher eingegangen werden soll. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass große Teile der Wenker-Daten zeitlich vor der Kodifizierung einer verbindlichen Orthographienorm erhoben wurden. Zwar herrschte bereits vor der Kodifizierung der Rechtschreibung (diese war im Jahr 1901) eine relativ große Einheitlichkeit in der Schriftsprache vor, dennoch muss zumindest teilweise von unterschiedlichen Normvorstellungen der Schreiber ausgegangen werden.294 Generell muss sich jede Analyse von Dialektverschriftungen mit (mindestens) drei Aspekten auseinandersetzen: Für die Schreiber stellt sich bei einer möglichst lautnahen Verschriftung mithilfe des normalen Alphabets das Problem der adäquaten Laut-Graphie-Zuordnungen. Da es keine Eins-zu-Eins-Entspre292 Auf die Verschriftung lexikalischer, syntaktischer und morphologischer Besonderheiten kann hier nicht weiter eingegangen werden. 293 Unter den hier verwendeten Begriff des Dialektschreibers werden sowohl (professionelle) Dialektdichter und Schreiber von Dialektprosa gefasst, als auch Laien, die in der Regel keine (regelmäßige) Verschriftung des Dialektes vornehmen. 294 Der Weg hin zu einer Rechtschreibnormierung wird beispielsweise in BRAMANN (1987) detailliert nachgezeichnet. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

chung von Buchstaben des lateinischen Alphabets zu den Lauten einer mündlichen deutschen Varietät gibt, müssen Dialektschreiber Strategien entwickeln, um eine lautliche Repräsentation des Dialektes zu erstellen. Das heißt, sie müssen aus dem Repertoire der zur Verfügung stehenden Schriftzeichen ein – ihrer Meinung nach – passendes auswählen und mit anderen kombinieren, um eine „korrekte“ Verschriftung vorzunehmen. Daraus ergibt sich der zweite relevante Aspekt: die Wahl eines als passend angesehenen Buchstabens impliziert, dass diesem ein Lautwert zugeordnet wird. Diese Vorstellungen der Laut-Graphie-Zuordnungen können durch verschiedene Faktoren bedingt interpersonell unterschiedlich ausfallen. Insbesondere ist für den hier untersuchten Zeitraum aber die jeweilige Aussprache des Schriftdeutschen, also des in dieser Arbeit untersuchten landschaftlichen Hochdeutsch, relevant. Darüber hinaus können drittens auch nur die Merkmale des Dialektes verschriftet werden, deren sich die Schreiber bewusst sind. Wenn also zwischen dem Dialekt und dem landschaftlichen Hochdeutsch partiell keine Differenz besteht, weil ein Merkmal (für diesen Schreiber) entweder nicht salient ist oder er keinen Grund dafür sieht, es zu verschriften, wird es in einer Dialektverschriftung nicht umgesetzt werden. Mit der Problematik von Dialektverschriftungen durch Laien und (professionelle) Dialektschreiber und dem Erkenntnispotential solcher Quellen haben sich verschiedene Arbeiten bereits mehr oder weniger ausführlich auseinandergesetzt. AUER (1990) beispielsweise betrachtet Dialektverschriftungen hauptsächlich hinsichtlich des Bewusstheitsgrads lautlicher Phänomene bei Dialektschreibern. Dafür untersucht er Texte von drei im Wesentlichen nicht naiven Schreibern (zwei Mundartdichter und ein Journalist). Grundsätzlich kann AUER (1990, 194–195) zwei Strategien für die schriftliche Wiedergabe von Dialekt ausmachen. Bei Verfolgung der ersten, von ihm als „Verschriftung“ bezeichneten Strategie wird eine möglichst exakte, „phonetische“ Wiedergabe des Dialektes mit den Graphemen der Standardorthographie zu erreichen versucht. Im Gegensatz dazu wird bei der „Gegenschrift“ die Standardorthographie im Wesentlichen beibehalten und nur Abweichungen des Dialektes werden markiert. Beiden (kombiniert anwendbaren) Strategien gemeinsam ist dabei, dass es maßgeblich darauf ankommt, welche dialektalen Merkmale ein Schreiber wahrnimmt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Merkmale, die graphisch umgesetzt werden, im Bewusstsein der Schreiber präsent sind und als charakteristisch für den Dialekt angesehen werden. Umgekehrt kann bei der Gegenschrift-Strategie, wie AUER (1990, 199) zeigt, aber nicht davon ausgegangen werden, dass alle wahrgenommenen Merkmale auch umgesetzt werden. Somit ist bei Schreibern dieser Strategie nur schwer einzuschätzen, welche Merkmale bewusst weggelassen oder nicht wahrgenommen werden.295

295 Auf Salienz als generelles Konzept oder auf die Salienz von Einzelphänomenen kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Dazu sei auf einschlägige Arbeiten wie PURSCHKE (2011), KIESEWALTER (2011; i. V.), LENZ (2010) und HERRGEN / SCHMIDT (1985) verwiesen.

7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen 215

Mit den verschiedenen Strategien zur Dialektverschriftung am Beispiel von Dialektdichtern setzt sich auch LÖTSCHER (1989) auseinander. Er entwickelt dabei eine Art Typologie der Dialektschreibung auf Basis von schweizerdeutschen Texten. Aufgrund ihrer Datengrundlage unmittelbar vergleichbar zur vorliegenden Arbeit ist eine Analyse aus LENZ (2007). Sie untersucht in einem moselfränkischen Teilgebiet die Laienschreibungen der Lehrer des Wenker-Atlasses. Anhand der Karte genug betrachtet sie das Verhältnis der Graphien und (in der zweiten Silbe des Wortes). Nach einem Vergleich mit anderen einschlägigen Quellen wie zum Beispiel zeitgenössischen Ortsgrammatiken kommt LENZ zu dem Ergebnis, dass die -Graphien der moselfränkischen Lehrer nicht als Verschriftungen plosivischer Lautungen zu interpretieren, sondern vielmehr als Entsprechungen für Spiranten zu lesen sind. Die umfassendste Arbeit zum Themengebiet der Dialektverschriftungen durch Laien liegt mit der Dissertation von KLEINER (2006) vor. In dieser Studie vergleicht er aus dem Datenmaterial des „Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben“ (SBS) indirekt erhobene Dialektschreibungen der Gewährspersonen des Regionalatlasses mit den dazu direkt erhobenen, phonetisch transkribierten lautlichen Entsprechungen. Durch den Vergleich der beiden Korpora werden Erkenntnisse über Laut-Graphie-Zuordnungen der Gewährspersonen möglich. Zudem kann KLEINER verschiedene Graphietypen identifizieren, die bei der Dialektverschriftung sichtbar werden. Die für die vorliegende Analyse besonders interessanten Typen sind dabei die großflächige Standardgraphie sowie die Markierungsgraphie.296 Erstere definiert KLEINER (2006, 16)wie folgt: Die großflächige, nur sporadisch von anderen Graphien unterbrochene Standardgraphie. Sie weist meist auf ein Gebiet hin, das, zumindest im Bewusstsein der Sprecher, bei der jeweils betrachteten lautlichen Erscheinung konform zur S[tandardsprache] geht, wo sich also die s[tandardsprachliche] Lautung (oder das, was die GPs [= Gewährspersonen; B. G.] als s[tandardsprachliche] Lautung ansehen) nach Meinung der GPs mit der Dialektlautung deckt […].

Unter diesen Verschriftungstyp zählt KLEINER (vgl. 2006, 22) unter anderem die sogenannten schriftlichen Echoformen. Diese liegen vor, wenn die Gewährspersonen eine im Wesentlichen durch die standardsprachliche Orthographie beeinflusste Schreibvariante angeben, die keine Entsprechung im Dialekt findet. Der zweite in diesem Zusammenhang interessierende Typus ist die Markierungsgraphie, die laut KLEINER (2006, 17) dann vorliegt, wenn eine Gewährsperson […] zum schriftlichen Ausdruck eines dialektalen Lauts auf eine von der Standardgraphie […] des jeweiligen Belegworts, also von der schriftsprachlichen Vorgabe (dem Stimulus) abweichende Schreibung zurückgreift. Dies geschieht im Regelfall wohl mit der Intention, die Lautung ausdrücklich als abweichend vom Standard zu markieren.

In einem zweiten Schritt stellt KLEINER einen Vergleich einzelner Karten des Wenker-Atlasses mit den Laienverschriftungen aus dem SBS-Material an und 296 Zu den anderen von ihm herausgearbeiteten Typen sei auf seine Ausführungen verwiesen.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

bringt dabei seine zuvor herausgearbeiteten Verschriftungstypen zur Anwendung. Auffällige Besonderheiten der Verschriftung interpretiert er dabei unter anderem auch in Bezug auf den „regionalen Ausspracheusus der Standardsprache“ (KLEINER 2006, 271) zur Zeit der Wenker-Erhebung. Da diese Aussprachegewohnheiten, die dem landschaftlichen Hochdeutsch in der hier verwendeten Terminologie entsprechen, nicht Thema der Untersuchung KLEINERS sind, kann er dazu nur Vermutungen anstellen. Zur Bewertung des von ihm angestellten Vergleichs hält er sehr prägnant fest (2006, 271): „Alles bestimmend ist das Verhältnis Orthographie vs. regionaler Ausspracheusus der Standardsprache (wobei über dessen Details für die Zeit der Wenker-Erhebungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur Spekulationen angestellt werden können).“ Für die hier anzustellende Analyse ergibt sich daraus Folgendes: Bei den Dialektübersetzungen der Gewährspersonen des Wenker-Atlasses handelt es sich um Laienschreibungen. Die Lehrer dürften in der Regel nicht als professionelle Dialektschreiber/-dichter agiert haben. Demnach kann angenommen werden, dass sie zumindest vergleichbare Strategien der Markierung angewendet haben, wie sie KLEINER (2006) bei den von ihm untersuchten Informanten herausgearbeitet hat. Ob sich einzelne Lehrer einer Gegenschrift-Strategie bedient haben, wie sie beispielsweise in AUER (1990) beschrieben ist, müsste eine detaillierte Durchsicht aller Wenker-Bogen zeigen, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht geleistet werden kann. Die Arbeit mit zahlreichen Bogen sowie die bisherigen Auseinandersetzungen mit diesem Datenmaterial deuten allerdings darauf hin, dass diese Art der Verschriftung in der Regel nicht angewendet worden ist.297 Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Informanten versucht hat, die ihnen bewussten (phonetisch-phonologischen) Merkmale ihres Dialektes durch eine Markierungsgraphie darzustellen. Demnach ist also anzunehmen, dass immer dann eine von der schriftdeutschen Vorlage abweichende Graphie gewählt wurde, wenn ein Merkmal des Dialektes als von der Schriftsprache abweichend dargestellt werden sollte. Was bedeutet das für die hier anzustellende Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch? Da diese historische Varietät bislang empirisch nahezu unerforscht ist, ist weder bekannt, welche Merkmale in den einzelnen Regionen bzw. bei den einzelnen Sprechern salient waren, noch sind bislang Aussagen darüber möglich, welcher Lautwert welchen Graphien (diatopisch divergent) zugeordnet wurde. Was die Karten des Wenker-Atlasses allerdings zeigen, sind die von Laienschreibern gewählten Graphien bei der Verschriftung ihres Dialektes. Durch die Anlage des Atlasses und seine Kartierung bedingt, liegen diese ortspunktgenau für die gesamte Erhebungsfläche vor (vgl. Kapitel 7.1). Zudem ist durch junggrammatische Ortsmonographien und Landschaftsgrammatiken die dialektale Situation des hier im Fokus stehenden Untersuchungszeitraums (Ende des 19. Jahrhunderts) gut dokumentiert. Somit ist im Wesentlichen klar, welche 297 Für die Erstellung der Karten hat WENKER (vgl. 2013 [1889], 9) einige Bogen als zu schriftnah umgesetzt aussortiert. In diesen könnte zum Teil eine Anwendung der GegenschriftStrategie vorgenommen worden sein, was aber noch zu überprüfen wäre.

7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen 217

Merkmale die Dialekte zu dieser Zeit aufwiesen und damit also auch, welche in einer Dialektverschriftung zu erwarten wären. Wenn nun ein Lehrer bei seiner Übersetzungsaufgabe eine Graphie gewählt hat, deren Zuordnung zur dialektalen Lautung problematisch erscheint (weil beispielsweise die orthographisch korrekte Variante gewählt wurde, obwohl der Dialekt in diesem Fall von der Aussprache des Schriftdeutschen abwich), dann zeigen diese Laut-Graphie-Zuordnungen Folgendes: 1. werden auf diese Weise Aussagen über die diesen Graphien zugeordneten Lautwerte möglich und 2. lassen diese Graphien im Umkehrschluss erkennen, welche Merkmale den Schreibern bewusst waren und zudem verschriftet werden sollten, so dass für sie eine (von der Standardorthographie abweichende) Markierung vorgenommen wurde. Somit lassen also die Laienschreibungen Rekonstruktionen des landschaftlichen Hochdeutsch möglich werden, die mit dem Material des Wenker-Atlasses im Falle einer direkten Erhebung nicht durchführbar gewesen wären. Da die hier anzustellende Analyse in einer möglichst großen arealen Ausdehnung erfolgen soll, kann ein weiterer, im Zusammenhang mit der Untersuchung von Laienschreibungen aufschlussreicher Aspekt leider nur in Ansätzen untersucht werden: Interessant in diesem Zusammenhang ist die Betrachtung der Systematik innerhalb der Verschriftung einzelner Schreiber. Dafür muss der komplette Wenker-Bogen daraufhin überprüft werden, ob der ausfüllende Lehrer stets die gleiche Graphie bei der Verschriftung eines Lautes verwendet hat. Ein umfangreicher Vergleich von Bogen unter dieser Fragestellung würde dann Aussagen sowohl über Verschriftungsstrategien im Bezug auf das Gesamtkorpus als auch für einzelne (Dialekt-)Regionen ermöglichen. Diese, auch bereits von KLEINER (vgl. 2006, 274) angeregte Untersuchung wird hier im Kleinen für die Analyse von -Graphien durchgeführt (vgl. Kapitel 7.6.3). In großem Umfang muss sie allerdings späteren Arbeiten vorbehalten bleiben.

7.4.2 Regionale Schreibtraditionen Bei der Auseinandersetzung mit dem Themenbereich Dialektverschriftung im weiteren Sinne sowie speziell im Rahmen der indirekten Erhebungen des Wenker-Atlasses wird bei der Deutung der verwendeten Graphien beinahe kanonisch auf die Existenz regionaler Schreibtraditionen298 und ihren Niederschlag in den Verschriftungen hingewiesen (vgl. beispielsweise BREMER 1895, WREDE 1895, MITZKA 1952, KLEINER 2006). Diese Verweise folgen in der Regel dem folgenden Muster: Traditionell wird in einer Region X ein Laut a mit der Graphie b verschriftet. Aufgrund der Kenntnis dieser traditionellen Laut-Graphie-Zuordnung verwenden Schreiber die Graphie b, um Laut a darzustellen, und zwar unabhängig von (bzw. teilweise auch konträr zu) den Phonem-Graphem-Korrespon298 Die dafür verwendeten Bezeichnungen variieren – so schreibt MITZKA (1952, 42–45) beispielsweise von „landschaftlichen Schreibsitten“ –, das dahinterstehende Konzept ist aber in der Regel ähnlich.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

denzen der Standardsprache. So werde beispielsweise die Graphie als Umsetzung eines geschlossenen e-Lautes in einigen Schreibtraditionen verwendet (vgl. BREMER 1895, 141). Da die hier anzustellende Analyse unmittelbar auf der Interpretation der dialektalen Laienschreibungen der Wenker-Lehrer fußt, soll sich mit dem Konzept der regionalen Schreibtraditionen auseinandergesetzt werden. Dazu wird zunächst dargestellt, was unter diesen verstanden wird, wo ihre Ursprünge liegen (sollen) und wie die einschlägige Forschung dieses Konzept behandelt. Anschließend wird diskutiert, inwieweit bei der hier vorgelegten Analyse das Konzept regionaler Schreibtraditionen berücksichtigt werden muss. Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache bzw. ihr Weg hin zu einer genormten Orthographie wird in der neueren Forschung als ein Ausgleichsprozess zwischen verschiedenen Schreibsystemen gesehen.299 Dabei wird für den Beginn des 16. Jahrhunderts zunächst noch von mehreren deutlich unterscheidbaren Sprachlandschaften ausgegangen (vgl. etwa BESCH 1983, 980). Mehr oder weniger einheitliche, für größere Regionen geltende Schreibsprachen werden von BESCH (1983) nur für den Norden, mit der Sprache der Hanse, und den Südosten, mit dem Gemeinen Deutsch, hervorgehoben. Zu dieser Zeit (15./16. Jahrhundert) wird für die einzelnen, (auch) kleineren Sprachlandschaften der Einfluss einer Regionalmaxime auf die geschriebene Sprache angenommen.300 Diese Maxime gibt als Richtlinie vor: „Wähle Variante X, weil sie einheimisch ist (weil man bei uns so schreibt).“ (HAAS 2003, 1) bzw. anders formuliert: „Schreib entsprechend einheimischem Brauch!“ (GLASER 2003, 72). Ihren Niederschlag zeigen die Orientierungen der Schreiber an dieser Maxime dann in historisch gewachsenen Schreibtraditionen, die innerhalb einer Region eine gewisse Geltung beansprucht haben (sollen). Eine Einschätzung über die systematische Einheitlichkeit dieser regionalen Schreibtraditionen und die zeitgenössische Orientierung der Schreiber einer Region an diesen (mehr oder weniger festen) Konventionen ermöglichen Studien zu den Schreibungen dieser Zeit. Dass es hierbei regional große Unterschiede geben kann, zeigen die Beiträge in BERTHELE / CHRISTEN / GERMANN / HOVE (2003). Eine umfassende Betrachtung und Einschätzung führt über den Anwendungsbereich der vorliegenden Arbeit weit hinaus und kann daher nicht angestrebt sein. Zwei Beispiele sollen zum besseren Verständnis aber skizziert werden. Ein Vergleich der Eintragungen zweier Schreiber in eine Augsburger Handschrift aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts beispielsweise kann zum Teil deutliche Unterschiede bei der Verfolgung der Regionalmaxime zeigen. So beschreibt GLASER (vgl. 2003, 69–76) für die Augsburger Lohnschreiberin CLARA HÄTZLERIN zum Beispiel die Vermeidung der graphischen Umsetzung von dia-

299 Vgl. z. B. die Beiträge in BERTHELE / CHRISTEN / GERMANN / HOVE (2003) oder BESCH (1979). 300 Vgl. hierzu auch den gesammelten Forschungsüberblick in BERTHELE / CHRISTEN / GERMANN / HOVE (2003).

7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen 219

lektalen Merkmalen wie der Entrundung.301 Obwohl der Dialekt also keine gerundeten Palatalvokale kannte, verwendete die Schreiberin die Graphien und , so dass angenommen werden kann, dass sie dabei einer regionalen Schreibtradition folgte, die die Rundungsgraphien auch bei lautlich ungerundeten bzw. gespreizten Entsprechungen vorsah. Der Vergleich mit dem Gelegenheitsschreiber SEBASTIAN ILSUNG (ebenfalls Augsburger Provenienz) zeigt allerdings, dass dieser konsequent Graphien zur Darstellung der Entrundung verwendete. Ein solches Ergebnis wirft die Frage auf, wie gefestigt diese (Augsburger) Schreibtradition gewesen sein kann. Wenn in derselben Handschrift ein Schreiber ein Merkmal konsequent umsetzt und ein zweiter Schreiber dieses ebenso konsequent nicht umsetzt, kann für diesen Fall zumindest keine irgendwie verbindliche Konvention angenommen werden. Laut GLASER (2003, 75) ist vielmehr davon auszugehen, dass eine solche Schreibtradition nur von professionellen Schreibern verfolgt wurde, so dass sie dementsprechend von einer „diastratisch differenziert[en] Schreibsprache“ ausgeht. Die diesbezügliche Unterschiedlichkeit der einzelnen Regionen kann ein Verweis auf eine weitere Studie zeigen. Für das Ostmitteldeutsche des 16. Jahrhunderts kann KETTMANN (2003) am Beispiel von Stadtschreibern der Wittenberger Stadtkanzlei einen sich abzeichnenden Trend erkennen, der zur Aufgabe ostmitteldeutsch markierter Varianten führte. Diesen deutet er in globalerem Zusammenhang als „einen spürbaren Beitrag zur Annäherung regionaler Schreibsprachen aneinander“ (KETTMANN 2003, 257). Dabei betraf die Vermeidung der graphischen Umsetzung dialektaler Merkmale nicht nur die Schriftlichkeit professioneller Schreiber, wie sie GLASER (2003) beschreiben konnte. Auch die private Schriftlichkeit einheimischer Bürger (Wittenbergs) war bereits im 16. Jahrhundert durch eine weitreichende Vermeidung regionaler Varianten geprägt. Über diesen Trend hinaus wurden bei beiden Schreibergruppen regionale Schreibvarianten aber nicht vollständig aufgegeben (vgl. KETTMANN 2003, 261– 262). Der hier für das Ostmitteldeutsche bereits im 16. Jahrhundert beschriebene Trend wird (in der Folge) auch auf andere Regionen übertragbar. Auf dem Weg zu einer Orthographie der deutschen Schriftsprache beschreibt beispielsweise BESCH (1983) die folgenden Jahrhunderte als geprägt durch den Abbau regionaler Varianten und bestimmt von einem fortschreitenden Vereinheitlichungsprozess, in dessen Rahmen immer wieder die Vorbildfunktion einzelner Regionen oder Einzelautoritäten diskutiert wurde (vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit). Inwieweit zu welcher Zeit und für welche Region von regionalen Schreibtraditionen ausgegangen werden kann und wie viele Schreiber einer solchen Tradition folgten, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Festzuhalten bleibt 301 Andere dialektale Phänomene, wie etwa die für das Schwäbische typische Diphthongierung von /aː/, werden von der gleichen Schreiberin jedoch umgesetzt. Es kann also nicht von einer generellen Vermeidung der graphischen Umsetzung regionaler Merkmale gesprochen werden.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

aber, dass trotz der zahlreichen Verweise auf landschaftliche „Schreibsitten“ und den darauf beruhenden Erklärungen historischer Graphien das Konzept dieser Schreibtraditionen nicht uneingeschränkt haltbar zu sein scheint. So betrachtet beispielsweise auch MIHM (vgl. 2004, 342) die Annahme von Konventionalität bei historischen Schreibsprachen eher kritisch. Dies begründet er mit der häufig nicht vorhandenen empirischen Grundlage der dazu publizierten Ergebnisse. Gegen diese zum Teil rein deduktiv arbeitenden Erklärungen spreche zudem die große Variabilität der historischen Orthographien. Nach der Betrachtung der historischen Grundlage regionaler Schreibtraditionen stellt sich die Frage, inwieweit für den hier untersuchten Zeitraum (Ende des 19. Jahrhunderts) ein Einfluss regionaler Schreibtraditionen auf Dialektschreiber angenommen werden kann. Inwieweit hat beispielsweise BREMER (vgl. 1895, 145) Recht, wenn er etwa für Bayern die Graphie als traditionellen Repräsentanten der Lautung [eː] deutet und damit die Schreibungen der Wenker-Lehrer erklärt? Oder wie plausibel ist MITZKAS (vgl. 1952, 42–45) Erklärung, wenn er im Hinblick auf den Dialekt einer Region nicht adäquate Belege des WenkerAtlasses auf landschaftliche Schreibsitten zurückführt, die von den Informanten adaptiert worden seien? Nach der Klärung der Existenz solcher gefestigter Schreibtraditionen wäre dann im nächsten Schritt die Frage zu stellen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine große Anzahl von Lehrern, deren tägliche Arbeit darin bestand, ihren Schülern die richtige Schreibung beizubringen, stark durch regionale Schreibtraditionen beeinflusst war. Als ein Argument gegen die Wirksamkeit regionaler Schreibtraditionen zur Untersuchungszeit lässt sich anführen, dass die Schreibsprachenforschung davon ausgeht, dass mit der Einführung fester Schreibkonventionen für Wörter unter anderem die Möglichkeit der lautnahen Schreibung weitgehend abgeschlossen war.302 Die zeitliche Datierung dieses Prozesses ist aufgrund mangelnder Forschungen nicht sehr eindeutig. Zumindest für das 17. Jahrhundert scheint er noch nicht abgeschlossen zu sein (vgl. ELMENTALER 2003, 15). Zur Zeit der WenkerErhebung ist er allerdings in weiten Teilen zumindest deutlich fortgeschritten. Eine tiefergehende Betrachtung solcher (vermeintlich) auf Schreibtraditionen beruhenden Graphien im Wenker-Atlas nimmt KLEINER (vgl. 2006, 240–256) in der Region Bayerisch-Schwaben vor. Dabei diskutiert er unter Hinzuziehung verschiedener Quellen die Ursachen für die Verwendung von -Graphien für die lautliche Entsprechung eines dialektalen e-Lautes.303 Während seine quellengestützte Argumentation zunächst zwei verschiedene und sich vermeintlich ausschließende Interpretationen nahelegt, kommt er zu dem Ergebnis, dass „die Wahrheit […] hier irgendwo in der Mitte [liegt]“ (KLEINER 2006, 255). Denn 302 Vgl. zu diesem Prozess der „Morphologisierung“ der Schreibung und der graphematischen Lexemkonstanz beispielsweise ELMENTALER (2003) oder MIHM (2007 [2001]). 303 Es kann hier nicht im Detail auf alle Argumente eingegangen werden – dazu sei auf seine Ausführungen verwiesen. Da seine regionsspezifische Untersuchung aber eine ausführliche Auseinandersetzung mit -Graphien (auch) auf Wenker-Karten darstellt, kann sie exemplarisch für die Diskussion der Wirkung regionaler Schreibtraditionen hinzugezogen werden.

7.4 Besonderheiten der Rekonstruktion gesprochener Sprache aus schriftlichen Quellen 221

zum einen könnten die Schreibungen auf landschaftliche Schreibtraditionen, die den offenen vom geschlossenen e-Laut graphisch zu unterscheiden versuchen, zurückgeführt werden. Zum anderen könnten die -Schreibungen aber auch als phonetische Direktanzeigen angesehen werden. So kann KLEINER nämlich zeigen, dass e von den Gewährspersonen des SBS leicht gerundet und/oder zentralisiert ausgesprochen wurde. Diese Aussprache führte sowohl bei seinen Gewährspersonen als auch bei den Wenker-Lehrern zu -Graphien in den dialektalen Entsprechungen für beispielsweise böse oder auch Bett. In allen Fällen sei das phonetische Korrelat ein geschlossener Palatalvokal mit tendenzieller Rundung und/oder Zentralisierung.304 Demnach argumentiert KLEINER insgesamt zwar nicht gegen das Wirken regionaler Schreibtraditionen. Jedoch ließen sich Graphien in dem hier diskutierten Beispiel nur dann auf solche Traditionen zurückführen, wenn als entsprechende dialektale Variante ein gespreizter Stammvokal angesetzt werden könne. Die von KLEINER ermittelte Rundungs- und/oder Zentralisierungstendenz hingegen lässt die Schreibungen auch ohne Rückgriff auf Schreibsitten plausibel erscheinen. Für die hier anzustellende Untersuchung ergibt sich auf der Grundlage der soeben erfolgten Diskussion Folgendes: Die Existenz regionaler Schreibtraditionen und die (mehr oder weniger bewusste) Orientierung der Wenker-Lehrer an diesen kann momentan weder klar bestätigt noch verneint werden. Aufgrund der Erhebungszeit des Wenker-Atlasses wäre nach den oben dargelegten Ausführungen jedoch kein sehr starker Einfluss solcher Schreibtraditionen anzunehmen. Die Ergebnisse von KLEINER (2006) zeigen zudem exemplarisch auch andere plausible Erklärungen auf. In der hier anzustellenden Analyse wird davon ausgegangen, dass die Wahl einiger orthographisch korrekter Graphien und die daraus resultierende scheinbar inadäquate dialektale Lautrepräsentation auf eine partielle lautliche Übereinstimmung zwischen den Varietäten Dialekt und landschaftliches Hochdeutsch zurückgeführt werden kann. Da ein Lehrer in einem solchen Fall keinen Unterschied zwischen seiner dialektalen Variante und seiner gesprochenen Schriftsprache (= landschaftliches Hochdeutsch) wahrnahm, wählte er die orthographisch korrekte Graphie als passend erscheinenden Repräsentanten aus. Eine Erklärung solcher inadäquat erscheinender Graphien durch regionale Schreibtraditionen würde implizieren, dass sich zahlreiche Lehrer für regionale Schreibvarianten entschieden hätten, auch auf die Gefahr hin, dass diese von den Auswertern ihrer Übersetzungen nicht richtig verstanden/interpretiert werden würden. Dies muss als unwahrscheinlich angenommen werden. Es stellt sich vielmehr die Frage, inwieweit die hier vorgestellte Hypothese nicht auch das Konzept der regionalen Schreibtraditionen erklären kann.

304 KLEINER (vgl. 2006, 240–256) kann in seiner Quellensichtung zur Klärung der Graphien sowohl Hinweise auf eine leicht gerundete als auch auf eine zentralisierte Artikulation ermitteln. Da nicht abschließend geklärt wird, ob beide Artikulationsmodifikationen zusammen beim geschlossenen e auftreten, werden von ihm beide (mit „und/oder“) genannt, was hier ebenso übernommen wird.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

Die sich in einem Raum etablierende Schreibung muss in unmittelbarem Zusammenhang mit der dort vorherrschenden Aussprache gesehen werden. Wenn nun beispielsweise in einer Region über lange Zeit die den Schreibern bekannte Graphie verwendet wird, obwohl in der Aussprache an dieser Stelle kein Plosiv, sondern ein Frikativ realisiert wird, dann könnte angenommen werden, dass diese Schreiber mit einen spirantischen Lautwert, etwa [ç], verbinden. Das hieße also, die Schreiber wählten nicht bewusst eine Graphie, weil in der Region an dieser Stelle immer so geschrieben wurde, sondern sie wählten vielmehr eine in ihren Augen (oder besser: Ohren) geeignete Graphie, weil sie mit dieser einen bestimmten Lautwert verbanden.305 Somit stellt sich die Frage, ob die aus heutiger Sicht lautlich inadäquat erscheinenden Schreibungen statt durch die (bewusste) Anwendung regionaler Schreibtraditionen nicht vielmehr durch die jeweilige Aussprache, die Salienz bestimmter regionaler Merkmale und die regional bedingten Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln erklärt werden können. Dies unterstützend kann noch einmal BREMER (1895) hinzugezogen werden, der zum einen bei seiner Kritik des Wenker-Atlasses immer wieder große Schwierigkeiten dabei hat, vermeintliche Fehler klar auf eine Ursache – „Unzulänglichkeit der Orthographie“ oder regionale Schreibtradition – zurückzuführen. Zudem führt er auch explizit aus, dass die regionalen Schreibtraditionen in engstem Zusammenhang zur „früheren Aussprache des Hochdeutschen“ stünden (vgl. BREMER 1895, 134). In der nachfolgenden Sekundäranalyse soll daher auch dem hier vorgeschlagenen Erklärungsansatz regionaler Schreibtraditionen nachgegangen werden. Nachdem nun sowohl die Quelle der nachfolgenden Analyse ausreichend beschrieben sowie ihr Analysepotential aufgezeigt wurde als auch bei der Analyse zu berücksichtigende Faktoren diskutiert wurden, kann jetzt die angewandte Methodik erläutert werden. 7.5 Methodik Nach der ausführlichen Quellenbeschreibung und der Diskussion spezifischer, quelleninhärenter Besonderheiten kann nun näher auf die methodische Vorgehensweise zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch anhand von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen im „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ eingegangen werden. Dazu werden zunächst die inhaltlich-linguistischen Auswertungsschritte beschrieben. Zudem werden die dazugehörigen Kartierungen näher erläutert (vgl. Kapitel 7.5.1). Für diese Sekundäranalyse des WenkerAtlasses wurden nicht nur die Kartierung, sondern auch Teile der Auswertung in dem Sprachgeographischen Informationssystem REDE (REDE SprachGIS) durchgeführt. Da im Rahmen dieser Arbeit an der Konzeption und Entwicklung des Systems intensiv (mit)gearbeitet wurde, werden die in diesem Rahmen entstan305 So wurde auch in einigen Ortsgrammatiken das Schriftzeichen verwendet, um die dialektale Spirans zu notieren (vgl. z. B. WEISE (1889, 30) „[...] die Spirans g [...]“).

7.5 Methodik

223

denen Kartierungs- und Auswertungsmöglichkeiten sowie -werkzeuge hier exemplarisch vorgestellt (vgl. Kapitel 7.5.2).

7.5.1 Datenauswertung und Kartierung 1) Zunächst erfolgte die Wahl eines lautlichen Phänomens, dessen Verbreitung für das landschaftliche Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts rekonstruiert werden soll. Die Identifizierung potentiell analysierbarer Phänomene ist in Kapitel 7.3.1 erfolgt. Somit konnte bei der Wahl auf die dort aufgestellte Liste zurückgegriffen werden. Um eine exakte Analyse zu gewährleisten, wurde das Merkmal hinsichtlich verschiedener Parameter genauer spezifiziert. Dies wären beispielsweise für eine Auswertung des Phänomens der g-Spirantisierung die Festlegung auf die inlautende Position nach Palatalvokal im Wort fliegen (vgl. Kapitel 7.6.3). Die Konstanthaltung der Lautumgebung, des historischen Bezugslauts und idealerweise des Wortes garantieren eine exakte Vergleichbarkeit und damit die Reliabilität der Analyse. Nach der Wahl des Phänomens wurden die Realisierungsvarianten für dieses bestimmt. Für das Beispiel der g-Spirantisierung wären das etwa Varianten mit inlautendem Plosiv (etwa [fliːgǝn]), mit inlautender Spirans (etwa [fliːjǝn] oder [fliːçǝn]) oder mit Ausfall des Konsonanten (etwa [fliːǝn]). Anschließend wurde die areale Verbreitung dieser Realisierungsvarianten für die historischen Dialekte der Untersuchungszeit herausgearbeitet. Diese stellt die Grundlage der Analyse dar. Denn nur dort – um im Beispiel zu bleiben – wo der Dialekt eine spirantische Variante aufwies, können nach der hier zu testenden Hypothese schriftsprachorientierte Fehlschreibungen auftreten (in diesem Fall -Schreibungen), die dann wiederum zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch herangezogen werden können. Um eine möglichst exakte areale Darstellung der Verbreitung der dialektalen Varianten des ausgewählten Phänomens zu erreichen, erfolgte die Quellenauswertung auf breiter Basis. Hierzu wurden insbesondere Dialektgrammatiken hinzugezogen und zwar solche, die im Laufe des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts306 publiziert wurden. Bei diesen handelt es sich hauptsächlich um junggrammatische Ortsmonographien, die phonetisch exakte Beschreibungen einzelner Ortsdialekte liefern.307 Die präzisen Lautlehren der Grammatiken sind gut geeignet, um für jeden einzelnen beschriebenen Ort die jeweilige dialektale Variante eines Phänomens zu ermitteln. Zudem wurden Landschaftsgrammatiken308 aus dem Untersuchungszeitraum sowie einzelne weniger umfassende Dialektbe306 Um die dialektale Verbreitung eines Phänomens vor der massenmedialen Verbreitung der Standardsprache darstellen zu können, wurde als spätestes Publikationsjahr 1930 angesetzt. Vgl. hierzu die Ausführungen in den Kapiteln 2.4 und 5.2. Eine Auflistung aller verwendeten Dialektgrammatiken findet sich im Anhang dieser Arbeit. 307 Vgl. die Beschreibung dieser Datenklasse sowie Hinweise zu ihrer Nutzung in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 90–97). 308 Auch zum Typus und zum Nutzen dieser Datenquelle sei auf SCHMIDT / HERRGEN (vgl. 2011, 112–115) verwiesen.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

schreibungen etwa aus Heimatbüchern des 19. Jahrhunderts untersucht, so dass auf der Basis von insgesamt circa 170 Dialektbeschreibungen die areale Verbreitung dialektaler, lautlicher Merkmale ermittelt werden konnte. Das Ergebnis dieser systematischen Auswertung war zunächst eine tabellarische Übersicht der jeweiligen dialektalen Variante des untersuchten Phänomens pro Ort. Für jedes Phänomen liegen so circa 500 bis 600 Ortsbelege vor.309 Dies stellt zwar eine solide Grundlage dar, kann allerdings für eine umfassende Dokumentation der Verbreitung eines Phänomens als nicht ausreichend angesehen werden. Dies liegt einerseits im Verhältnis der Anzahl der Belege zu der Größe des Bearbeitungsgebiets begründet (Wie repräsentativ sind 600 Belege/Ortspunkte für eine Fläche der heutigen Bundesrepublik Deutschland?) und andererseits in der ungleichmäßigen geographischen Verteilung der Quellen. So sind manche Regionen bzw. Dialektgebiete sehr gut durch Dialektgrammatiken erschlossen (zum Beispiel das Rheinfränkische), während es für andere nur sehr vereinzelte Quellen dieser Art gibt (zum Beispiel das Brandenburgische). Außerdem umfassen die ausgewerteten Landschaftsgrammatiken zum Teil bis zu 100 Ortspunkte, was zu sehr großen Unterschieden bei der Ortsnetzdichte führt. Daher wurde die Auswertung auf andere geeignete Datenquellen ausgeweitet. Hierzu wurden zunächst ältere Tonaufnahmen der deutschen Dialekte untersucht. Eingebunden ins REDE SprachGIS liegen Tonaufnahmen verschiedener Korpora in gut aufbereiteter Form und zudem geographisch verortet vor, so dass sowohl eine passende Auswahl als auch eine komfortable Nutzung gewährleistet sind. Weiter wurden Sprachatlanten sowie wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten, die Ergebnisse zu Dialekten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bieten, ausgewertet. Daneben wurden auch Überblicksdarstellungen wie SCHIRMUNSKI (1962), WIESINGER (1983e) oder RUSS (1990) ergänzend hinzugezogen. Die Auswertung der Dialektgrammatiken sowie der Tonaufnahmen und weiteren Quellen wurde im REDE SprachGIS geographisch exakt und nach Realisierungsvariante des betrachteten Phänomens farblich differenziert kartiert. Einzelne Vektorkarten für die unterschiedlichen Datenklassen ermöglichen dabei stets eine genaue Zuordnung von Einzelbeleg zu Quelle bzw. Quellentyp. Zugleich ermöglicht die Überblendung der einzelnen Karten einen quellenbasierten Raumüberblick. Aus diesem wurde im nächsten Schritt eine arrondierte Flächendarstellung der Verteilung der Realisierungsvarianten des betrachteten Phänomens im Raum erstellt. Das heißt, die größtenteils ortspunktbezogenen Belege wurden zu Flächen zusammengefasst.310 Diese wurden auf einer neuen Vektorkarte nach Realisierungsvarianten farblich differenziert als Polygone eingezeichnet. Um im Beispiel zu bleiben: so wurden etwa alle Gebiete mit plosivischer

309 Die unterschiedlich große Anzahl an Ortsbelegen ergibt sich zum Beispiel dadurch, dass in einigen Grammatiken nur der Vokalismus eines Dialektes beschrieben wird (vgl. z. B. ENGELMANN 1915), so dass diese etwa für die g-Spirantisierung keine Informationen liefern. 310 Zur Umwandlung einer punktbasierten zu einer flächenbasierten Karte vgl. ORMELING (2010, 25–26).

7.5 Methodik

225

Realisierung in fliegen als blaue, alle mit spirantischer als grüne und alle ohne inlautenden Konsonant als gelbe Polygone kartiert. Auf Basis des genannten, umfangreichen Quellenmaterials konnte also die dialektale Verbreitung der Realisierungsvarianten der hier analysierten Phänomene ausreichend beschrieben und kartiert werden. Das Ergebnis stellt eine arrondierte und farblich differenzierte Vektorkarte dar. Diese ermöglicht eine komfortable Betrachtung der Verteilung des untersuchten Phänomens im historischen Dialekt und stellt die Grundlage für die weitere Analyse dar. Während die arrondierte Karte also einen Gesamtüberblick bietet, wurden in den nachfolgenden Schritten nur noch die Gebiete betrachtet, die mithilfe der angewandten Analysemethode Schlüsse über das landschaftliche Hochdeutsch ermöglichen. Für das Beispiel der g-Spirantisierung sind dies also die Gebiete, in denen der historische Dialekt eine spirantische Variante aufwies. Die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen (hier: -Graphien) können dort als Indiz für die partielle Übereinstimmung von Dialekt und landschaftlichem Hochdeutsch dienen. Zur Erinnerung sei hierzu noch einmal WREDE (1895, 38–39; Hervorhebungen im Original, B. G.) zitiert: Es liegt auf der Hand, dass die Übersetzer vom Schriftdeutschen und seiner Orthographie, der einzigen, die ihnen geläufig war, oft und stark beeinflusst sind. Nun wird aber bekanntlich dieses äußerlich einheitliche Schriftdeutsch tatsächlich sehr verschieden ausgesprochen, specielle Dialekteigentümlichkeiten werden beibehalten, selbst wenn der Redner sich Mühe giebt reines über der Mundart stehendes Schriftdeutsch anzuwenden, z. B. in den Gebieten des spirantischen g kann man diese Spiranz auch auf Kanzel und Katheder hören [...]. Daher konnte es kommen, dass die Schreiber unserer Atlasformulare in der besten Absicht genau zu sein die schriftdeutsche Form eintrugen, weil ja ihre Dialektform mit der Schriftform, wie sie wenigstens dort am Ort ausgesprochen zu werden pflegt, identisch war.

Es ist also eine Aussage dergestalt möglich: Überall dort, wo im Dialekt das betrachtete Phänomen vorkam und schriftsprachorientierte Fehlschreibungen vorliegen, ist davon auszugehen, dass das landschaftliche Hochdeutsch ebenfalls dieses Phänomen aufwies. In den Räumen hingegen, in denen das Phänomen im Dialekt vorkam, aber lautlich adäquat verschriftet wurde (also keine Fehlschreibungen vorkamen), haben die Lehrer die Lauttypendifferenz offensichtlich bemerkt. Dies war nach SCHMIDT / HERRGEN (2011, 109) immer dann der Fall, „wenn 1. der örtlichen Sprechergemeinschaft Differenzen zu den Dialekten in der näheren Umgebung bekannt waren oder wenn 2. sie selbst in Ausübung ihrer beruflichen Hauptaufgabe Differenzen zwischen dem Dialekt und dem jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch feststellten“. Demnach kann für diese Räume nicht davon ausgegangen werden, dass die Form des landschaftlichen Hochdeutsch mit der des Dialektes übereinstimmte. Für die Räume, in denen der Dialekt das untersuchte Phänomen nicht aufwies, sondern eine andere Variante hatte, können mit der hier vorgestellten Methode keine Rekonstruktionen des landschaftlichen Hochdeutsch erfolgen. Das wären im genannten Beispiel also etwa die Regionen, in denen der inlautende Konsonant in fliegen im Dialekt als Plosiv realisiert wurde.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

2) Im nächsten Schritt wurden auf der jeweils passenden Karte aus dem WenkerAtlas (im obigen Beispiel also die Karte fliegen, Nr. 5) die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen identifiziert. Für die nachfolgenden Analysen 1 und 2 wurden die Belege dabei direkt von den Wenker-Karten übernommen. Für Analyse 3 wurden die Einzelortbelege aus den entsprechenden Wenker-Bogen entnommen. Beide Varianten haben Vor- und Nachteile. Die Arbeit mit den „Rohdaten“, also den Wenker-Bogen, hat den Vorteil, dass bei der Kartierung etwaig entstandene Fehler nicht in die Analyse einfließen. Allerdings bedeutet der Blick in jeden einzelnen Wenker-Bogen einen immensen Mehraufwand im Vergleich zur Arbeit mit den Karten. Wie ein Vergleich zeigt, sind letztere größtenteils sehr präzise und korrekt gezeichnet. Für die Analysen 1 und 2, die geographisch sehr ausgedehnte Gebiete umfassen, ist die Arbeit mit den Wenker-Bogen vom Zeitaufwand her nicht bewältigbar und aufgrund der guten Kartierung auch nicht nötig. Für Analyse 3 hingegen, in der zwei kleinere Gebiete untersucht wurden, wurde auf die Rohdaten zurückgegriffen. Dies allerdings nur, weil hier auch die Rückseiten der Wenker-Bogen in die Betrachtung mit einbezogen wurden und daher sowieso jeder Bogen im REDE SprachGIS betrachtet wurde.311 Durch Überblendung der entsprechenden Wenker-Karte mit der in Arbeitsschritt 1 erstellten arrondierten Verteilungskarte sind die Gebiete, in denen schriftsprachorientierte Fehlschreibungen vorkommen können, direkt sichtbar. Diese Fehlschreibungen mussten nun identifiziert und kartiert werden. Die eindeutigen schriftsprachorientierten Fehlschreibungen stellten dabei kein Problem dar. Für das genannte Beispiel wären das also alle -Graphien in Gebieten, die dialektal eine Variante mit inlautender Spirans für fliegen hatten. Daneben gibt es allerdings auch Graphien, die nicht gleichermaßen eindeutig als schriftsprachorientierte Fehlschreibungen ausgemacht werden konnten. Diese mussten jeweils unter Rückbezug auf das zugrundeliegende Dialektgebiet, für das sie kartiert wurden, betrachtet und bewertet werden. Ihre Diskussion erfolgt bei den jeweiligen Einzelanalysen (vgl. Kapitel 7.6.1–7.6.3). Die Kartierung der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen erfolgte als farbige Punktmarkierung pro Einzelbeleg auf einer eigenen Vektorkarte. Das Ergebnis dieses Kartierungsschrittes ist also eine Karte, auf der ortspunktgenau alle schriftsprachorientierten Fehlschreibungen der analysierten Wenker-Karte durch ein Kreissymbol dargestellt sind. Damit liegt zugleich eine kartographische Darstellung der absoluten Häufigkeit dieser Fehlschreibungen auf der jeweiligen Wenker-Karte vor. Keine Markierung erfuhren die Belege, bei denen die Graphien den dahinterstehenden dialektalen Lautwert korrekt widerspiegeln (um im Beispiel zu bleiben, wären das etwa -Graphien im Beleg für fliegen in Orten mit g-Spirantisierung im historischen Dialekt). Außerdem nicht kartiert wurden diejenigen Orte bzw. Belege, für die entweder ein Synonym des abgefragten Wenker-Lemmas ange-

311 Der Zugriff auf Scans der originalen Wenker-Bogen ist im REDE SprachGIS komfortabel möglich. Neben dem „Wenkerbogen-Katalog“ mit seiner großen Auswahl an Such-Möglichkeiten lassen sich die Bogen auch ortspunktgenau direkt aus einer Karte heraus aufrufen.

7.5 Methodik

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geben wurde oder für die kein Beleg vorliegt (der Lehrer also keine Angabe gemacht hat). Diese wurden in Arbeitsschritt 3 berücksichtigt. 3) Anschließend mussten in den jeweils interessierenden Gebieten der Wenker-Karte alle Orte identifiziert werden, für die entweder ein Synonym zum abgefragten Lemma angegeben und kartiert wurde oder überhaupt kein Beleg vorliegt. Ein fehlender Beleg ist auf den Wenker-Karten stets durch ein schwarzes waagerechtes Strichsymbol dargestellt. Da für diese Orte keine Aussage über das untersuchte Phänomen möglich ist, sie aber bei einer größeren Anzahl das Ergebnis der Analyse verfälschen würden, mussten sie bei der nachfolgenden Berechnung (Arbeitsschritt 4) subtrahiert werden. Die auf der analysierten Wenker-Karte eingetragenen fehlenden Belege sowie die im Original kartierten Synonyme des abgefragten Lemmas wurden ortspunktgenau auf einer eigenen Vektorkarte eingetragen. 4) Im nächsten und letzten Schritt wurde der Anteil der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen pro Planquadrat berechnet. Da die Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ in Planquadrate unterteilt sind, bieten sich diese für die Berechnung an. Zudem beinhalten sie keine politischen, linguistischen oder sonstigen Informationen, wie es bei vielen anderen Unterteilungseinheiten der Fall wäre. Dafür wurden zunächst alle Planquadrate für die interessierende Fläche in eine Karte geladen und anschließend mit dem Polygon dieser Fläche geschnitten. Auf diese Weise wird von einem Planquadrat, das zum Teil innerhalb und zum Teil außerhalb der Fläche liegt, nur der innenliegende Teil berücksichtigt. Danach wurde die Anzahl aller Wenker-Orte pro Planquadrat bestimmt. Da alle Wenker-Bogen georeferenziert vorliegen und damit nicht nur ihre geographischen Koordinaten tragen, sondern auch eindeutig einem Planquadrat zugeordnet werden können, kann im REDE SprachGIS komfortabel eine Zählung der einem Planquadrat zugeordneten Wenker-Orte vorgenommen werden. Von dieser Anzahl wurden anschließend pro Planquadrat die im vorherigen Schritt ermittelten Orte mit Synonymen und fehlenden Belegen subtrahiert, so dass nur die Orte in der Berechnung berücksichtigt wurden, für die das zu untersuchende Lemma belegt ist. Die Anzahl dieser stellte die Grundgesamtheit dar, aus der sich der Anteil der „richtigen“ Belege (im obigen Beispiel also etwa Graphien für dialektal spirantisiertes /g/ in fliegen) im Verhältnis zu den schriftsprachorientierten Fehlschreibungen ermitteln ließ. Der prozentuale Anteil Letzterer wurde dann in der nachfolgenden Interpretation der Analyse verwendet, um zu beurteilen, welche Variante (also etwa Plosiv oder Spirans in fliegen) die des landschaftlichen Hochdeutsch war. Hierbei stellte sich die Frage, welchen Schwellenwert der Anteil schriftsprachorientierter Fehlschreibungen überschreiten muss, damit die entsprechende Variante sicher als die des landschaftlichen Hochdeutsch angesehen werden kann. Die Ansetzung eines fixen Schwellenwertes musste problematisch erscheinen, zumal dieser aufgrund mangelnder Vorarbeiten zu dem Thema zunächst willkürlich erscheinen muss. Gleichwohl war es aber nötig, eine Berechnung des Anteils in der hier vorgenommenen Weise vorzunehmen, und eine Interpretation nicht (allein) auf der absoluten Anzahl an Fehlschreibungen aufzubauen (vgl.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

Arbeitsschritt 2). Eine pure Betrachtung der absoluten Belege wäre deshalb problematisch, weil die Verteilung der Wenker-Orte im Raum (bzw. über die Planquadrate) höchst ungleichmäßig ist. Hier schwankt die Ortsnetzdichte erheblich. Mit dem REDE SprachGIS durchgeführte stichprobenartige Zählungen von 13 willkürlich über die Erhebungsfläche verteilten Polygonen in der Größe von vier Planquadraten haben Werte zwischen Null und 55 Wenker-Orten in den definierten Flächen ergeben. Aufgrund dieser erheblichen Schwankungen erscheint etwa ein Planquadrat mit drei Fehlschreibungen bei insgesamt fünf Wenker-Orten als wesentlich „unauffälliger“ als etwa ein Planquadrat mit 15 Fehlschreibungen bei 50 Orten. Die Berechnung des Anteils der Fehlschreibungen ergibt für Ersteres allerdings 60 Prozent und für Letzteres nur 30 Prozent. Zudem stellt dieser Schritt den Übergang von Ortsinformationen zu Flächeninformationen dar. Die Kartierung der relativen Häufigkeiten der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen erfolgte in Form eines Felderkartogramms. Zur Feldereinteilung wurden die Wenker-Planquadrate verwendet. Diese wurden auf Grundlage der errechneten relativen Häufigkeiten der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen mithilfe einer Farbskala eingefärbt. Das Ergebnis liegt in Form einer Vektorkarte vor.

7.5.2 Konzeptionell-technische Entwicklung des Sprachgeographischen Informationssystems REDE (REDE SprachGIS) Die hier vorgestellte Analyse wurde zum größten Teil mit dem Sprachgeographischen Informationssystem REDE durchgeführt. Dieses speziell auf die Anforderungen sprachwissenschaftlicher und dabei insbesondere variationslinguistischer sowie dialektologischer Forschung ausgerichtete GIS wird im Rahmen des Langzeitprojektes „Regionalsprache.de“ (REDE)312 am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas (Marburg) entwickelt. Das Analyse- und Kartierungsprogramm steht neben der Forschung auch interessierten Laien kostenfrei im Internet zur Verfügung. Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wurde mir die Möglichkeit eingeräumt, gemeinsam mit der Systementwicklung des REDE-Projektes an der Konzeption und Entwicklung des REDE-SprachGIS maßgeblich mitzuarbeiten.313 Da dadurch zum einen der Anwendungsbereich und die Funktionalität des Programms gestaltet wurden und andererseits das in dieser Arbeit benötigte Instrumentarium entwickelt wurde, soll hier auf einige Aspekte davon eingegangen 312 Das Forschungsprojekt (Leitung: JÜRGEN ERICH SCHMIDT, JOACHIM HERRGEN und ROLAND KEHREIN) wird seit 1. Januar 2008 für einen Zeitraum von 19 Jahren von Bund und Ländern durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz gefördert. Vgl. zum Projekt auch GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI (2015). 313 Besonderer Dank gilt an dieser Stelle DENNIS BOCK und SLAWOMIR MESSNER für unzählige konstruktive Gespräche und die unermüdliche Bereitschaft, die im Rahmen dieser Arbeit entstandenen Anforderungen im REDE SprachGIS umzusetzen und zu implementieren. Ebenso möchte ich der Projektleitung für den nötigen Freiraum danken, den diese konzeptionell-kreative Arbeit erfordert hat.

7.5 Methodik

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werden. Dazu werden exemplarisch sowohl Funktionalitäten als auch Werkzeuge des Systems beschrieben und in ihrem Nutzen für die vorliegende Arbeit dargestellt.314 Manche dieser Möglichkeiten finden in den hier durchgeführten Analysen sowie der Kartierung direkte Anwendung, andere wiederum wurden zur Entwicklung der in dieser Arbeit angewendeten Methodik selbst eingesetzt und stehen nun für weitere Analysen im REDE SprachGIS zur Verfügung. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, eine detaillierte Beschreibung aller entwickelten Werkzeuge und Funktionen zu liefern, vielmehr sollen kursorisch Schlaglichter gesetzt werden, um diesen konzeptionellen Arbeitsschritt bzw. -prozess zu verdeutlichen.315 Ebenfalls nicht an dieser Stelle soll und kann eine Nutzungsanleitung des REDE SprachGIS oder eine Beschreibung der einzelnen Werkzeuge erfolgen. Diese können online im System (vgl. ) aufgerufen werden. Einer der größten und wichtigsten Funktionskomplexe, der im Rahmen dieser Arbeit mit konzipiert wurde, betrifft die Möglichkeiten des Zeichnens und Stylens von Kartenelementen. Diese Visualisierungsfunktionen stellen für ein geographisches Informationssystem eine der wichtigsten Grundlagen zum Zeichnen eigener Karten dar und sind somit elementar. Für das REDE SprachGIS wurden verschiedene miteinander kombinierbare Zeichen- und Stylemöglichkeiten entwickelt. Dadurch ist es dem Nutzer möglich, sich verschiedene geometrische Formen (Punkte, Linien, Polygone) georeferenziert selbst zu erstellen und im nächsten Schritt zu bearbeiten. Diese Bearbeitung (Stylen) kann beispielsweise die Größe eines Elements, seine Farbe, sein Muster (zum Beispiel Schraffur) betreffen, aber auch die Benennung von Elementen (Label) und deren graphische Gestaltung. Es brauchen hier keine Einzelfunktionen benannt oder beschrieben werden. Vielmehr soll der Hinweis genügen, dass die aus der vorliegenden Arbeit entstandenen Anforderungen wesentlich dazu beigetragen haben, die Zeichenfunktionen des REDE SprachGIS zu etablieren und erweitern. Ein weiterer Themenkomplex umfasst die (vereinfachte) Erstellung von Ortsnetzen. Dies betrifft einerseits die Möglichkeit, aus im System vorhandenen, georeferenzierten Datenklassen eigene Ortsnetze anzufertigen. So kann im REDE SprachGIS nun beispielsweise auf Grundlage der verknüpften Wenker-Bogen ein Ortsnetz (etwa für eine Region) erstellt werden. Auf geographischer Basis dieser Ortspunkte könnten dann zum Beispiel systematische Auswertungen und Kartierungen von Wenker-Bogen erfolgen. Damit ist auch die Möglichkeit geschaffen, bislang nicht kartierte Angaben aus den Bogen erstmals komfortabel zu kartieren. Natürlich können aber auch andere (etwa neu erhobene) Daten auf Grundlage des erstellten Ortsnetzes graphisch umgesetzt werden. Die zweite in diesen 314 Da das REDE SprachGIS kontinuierlich weiterentwickelt wird, ist die Beschreibung eines aktuellen Status Quo (der Werkzeuge) hier weder machbar noch sinnvoll. 315 Da meine Arbeit als Leitung der Arbeitsgruppe „Datenintegration Karten“ im REDE-Projekt (2010 bis 2014) auch die konzeptionelle Mitarbeit am REDE SprachGIS umfasste, ist eine klare Trennung von den im Rahmen dieser Dissertation erfolgten Entwicklungen nicht immer möglich (und darüber hinaus auch nicht sinnvoll). Wesentlich aus der Projektarbeit entstandene Neuerungen werden hier gleichwohl nicht thematisiert.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

Funktionsbereich fallende Neuerung betrifft die nutzerfreundliche Erweiterung zur Erstellung eigener Ortsnetze auf Grundlage der im System integrierten Ortsdatenbank.316 Durch Mausklick auf eine Karte werden dem Nutzer die im Umkreis seines angeklickten Punktes liegenden Orte angezeigt und er kann diese wiederum durch einfachen Mausklick in sein angelegtes Ortsnetz integrieren. Insbesondere bei einer sehr großen Ortsnetzdichte trägt diese Funktion zu einer wesentlichen Arbeitserleichterung und -beschleunigung bei. Durch die Erfordernisse der vorliegenden Arbeit wurde des Weiteren die Möglichkeit zum Importieren eigener Daten in das REDE SprachGIS geschaffen. So können beispielsweise eigene Datenauswertungen bequem durch den Import einer CSV-Datei ins System integriert und zugleich kartiert werden. Das bietet Nutzern die Option, schnell einen Überblick über die räumliche Verteilung der eigenen Daten zu erlangen. Zugleich kann die Funktion auch zur komfortablen Kartierung genutzt werden. Neben der Etablierung dieser Importfunktion wurde auch an den Exportoptionen mitgearbeitet. Das Exportieren eigener Kartierungen bzw. Zusammenstellungen von Karten in hochauflösender Druckqualität sichert die Verwendbarkeit der gewonnenen Ergebnisse etwa in Publikationen oder Präsentationen und stellt neben der Kartierung und Analyse eine der zentralen Funktionen eines geographischen Informationssystems dar. In den Bereich der Datenanalyse fallen die nächsten drei im Rahmen dieser Arbeit etablierten Funktionen. Es wurde die Möglichkeit geschaffen, innerhalb importierter Datensätze Kategorisierungen vorzunehmen. So können etwa bei fein spezifizierten Auswertungen Daten hinsichtlich frei wählbarer Parameter aggregiert werden.317 Auf Grundlage der neu definierten Kategorien kann dann weitergearbeitet werden, ohne a) einen Datenverlust zu erleiden oder b) die Datenmatrix erneut (nach den neuen Kategorien) erstellen zu müssen. Damit können Auswertungen und Analysen also direkt im System flexibel gestaltet werden. Des Weiteren wurden Funktionen für raumstatistische Auswertungen entwickelt. Dadurch können beispielsweise die relativen Häufigkeiten von Attributausprägungen für definierte Flächen berechnet werden. Anschließend kann auf Grundlage der ermittelten Quantitäten die Verteilung des betrachteten Attributs in der Fläche in Form eines Kartogramms dargestellt werden. Dabei lassen sich die unterschiedlichen Verteilungsdichten durch die Zuweisung verschiedener Farben (Auswahl aus Farbskala) graphisch voneinander abgrenzen. 316 Diese Funktion steht in engem thematischen Zusammenhang zu der bereits angesprochenen Entwicklungsarbeit im Rahmen des Moduls „Datenintegration Daten“ des REDE-Projektes. 317 Zur Erläuterung sei ein Anwendungsbeispiel dieser Arbeit genannt: Die Auswertungen der Dialektgrammatiken zur Verteilung der Varianten eines Phänomens in den Dialekten (vgl. Kapitel 7.5.1) wurde (soweit es die Quelle erlaubte) hinsichtlich verschiedener Artikulationsparameter genau spezifiziert (zum Beispiel: „stimmloser velarer Frikativ“), um keinen Datenverlust zu evozieren und damit die Daten auch für andere Analysen nutzbar zu halten. Als Grundlage der hier angestellten Analyse war hingegen nur die Artikulationsart (Plosiv vs. Frikativ) von Interesse, so dass etwa die Angaben zur Stimmbeteiligung vernachlässigt werden konnten und eine Aggregierung der Datensätze in die zwei benötigten Kategorien „Plosiv“ und „Frikativ“ vorgenommen werden konnte.

7.6 Beispielanalysen

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Die letzte hier exemplarisch vorgestellte Funktion betrifft die Berechnung und Kartierung von Differenzen zwischen verschiedenen Datensätzen. Nach Integration zweier Datensätze ins REDE SprachGIS können diese vergleichend analysiert werden. So wird beispielsweise die kartographische Auswertung von Realtime-Analysen ortspunktgenau und zudem in großer geographischer Ausdehnung möglich. Die Kartierung zeigt dann, wo es zwischen den beiden Datensätzen Übereinstimmung bzw. Differenz gibt, was einen guten Überblick in der Fläche ermöglicht. Dieser Überblick mag genügen, um exemplarisch zu verdeutlichen, wie im Rahmen der vorliegenden Arbeit Kartierungs- und Analysefunktionen des REDE SprachGIS konzeptionell entwickelt wurden. Die Kartierungen in der vorliegenden Arbeit bauen auf diesen Funktionalitäten auf. 7.6 Beispielanalysen Mit der soeben beschriebenen Methodik werden im Rahmen dieser Arbeit Analysen zu drei Variationsphänomenen durchgeführt, die im Weiteren näher ausgeführt werden sollen. Diese Sekundäranalysen des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ erlauben eine phänomenspezifische Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch in großer geographischer Ausdehnung. Im Vergleich zu den kleinräumigen, zahlreiche Phänomene umfassenden Rekonstruktionen auf Basis der Viëtor-Daten (vgl. Kapitel 5) liegt hier also der Fokus auf der Rekonstruktion eines Merkmals in der Fläche bzw. in maximaler Ausdehnung. Die hierzu gewählten Beispiele umfassen ein Phänomen des Vokalismus in zwei Ausprägungen sowie ein konsonantisches Phänomen. Allen gemein ist dabei, dass diese Phänomene bzw. die Karten, auf denen sie abgebildet sind, fortwährend von der Forschung als „problematische“ Fälle im Wenker-Atlas beschrieben wurden (vgl. Kapitel 7.2 sowie die nachfolgenden Erläuterungen bei den jeweiligen Beispielen). Diese „Problematik“ basiert zu großen Teilen auf den Graphien, die hier als schriftsprachorientierte Fehlschreibungen bezeichnet werden. Das birgt einerseits ein großes Potential dieser Sekundäranalysen zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch, andererseits aber auch einen erhöhten Erklärungsbedarf in der Auseinandersetzung sowohl mit den Informanten-Graphien als auch mit den bislang erfolgten Interpretationen anderer Arbeiten. Beides soll als Chance gesehen werden, potentiell weit verbreitete Phänomene des landschaftlichen Hochdeutsch kritisch reflektierend zu rekonstruieren. Die gewählten Beispiele umfassen die Rundung bzw. Nicht-Rundung der Stammvokale in den Lexemen müde und böse sowie die plosivische bzw. spirantisierte Qualität des inlautenden /g/ im Lexem fliegen.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

7.6.1 Analyse 1: Entrundung in müde Ein in der Auseinandersetzung mit dem Wenker-Atlas und dem Einfluss der Schriftsprache auf die Lehrerbelege stets thematisiertes Phänomen betrifft die lautliche Entsprechung des Stammvokals von Wörtern mit schriftsprachlichem . So treten etwa nach WREDE (vgl. 1895, 44) auf den entsprechenden Wenker-Karten auch in den Gebieten, in denen das kartierte Lemma im Dialekt keinen gerundeten Palatalvokal hat, gehäuft ü-Schreibungen auf. BREMER (vgl. 1895, 121; vgl. Zitat oben in Kapitel 7.2) verwirft aufgrund dessen gar pauschal alle Karten als unbrauchbar, auf denen die dialektale Entsprechung von schriftsprachlichem dargestellt werde. Mithin erscheinen diese Karten als potentiell geeignet, um die hier vorgestellte Analyse durchzuführen. Dementsprechend widmet sich die erste Sekundäranalyse des Wenker-Atlasses anhand von schriftsprachorientierten Fehlschreibungen der Karte müde (Nr. 335). Hierbei wird der Stammvokal des Lemmas hinsichtlich des Artikulationsparameters der Lippenrundung betrachtet. Konkret geht es dabei um die Gebiete, in denen die dialektale Variante zum Wort müde 318 einen gespreizten Palatalvokal (also etwa [miːdə]) und keinen gerundeten hat. 7.6.1.1 Beschreibung des Phänomenbereichs In der historischen Sprachwissenschaft wird davon ausgegangen, dass etwa ab dem 8. Jahrhundert die gerundeten Palatalvokale und -diphthonge des Deutschen durch i-Umlaut entstanden sind. Bei diesem Prozess wurden die velaren Vokale und Diphthonge der betonten Silben unter Einfluss eines nachfolgenden i oder j in der Nebensilbe verändert. Dabei passten sie sich dem nachfolgenden i oder j artikulatorisch an (regressive Assimilation), was zu einer Vorverlagerung (Palatalisierung) bzw. Hebung der Zunge bei der Artikulation führte. Daneben seien einige Umlaute auch durch Analogiebildungen entstanden (vgl. z. B. METTKE 2000, 62). Da Umlautgraphien zum Teil nur sehr inkonsequent und zudem areal höchst unterschiedlich umgesetzt wurden,319 wirft die Rekonstruktion dieses sprachhistorischen Prozesses hinsichtlich der Datierung und der sprachgeographischen Ausbreitung manche Fragen auf, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann.320 In der Forschung herrscht aber weitgehender Konsens darüber, dass bereits im 12. Jahrhundert, also in mittelhochdeutscher Zeit, in oberdeutschen Quellen Belege für eine Umlautentrundung zu finden sind.321 Bei dieser Entrundung wer318 Mhd. müede, ahd. muodi, as. mōᵭi, aus wg. *mōdja. 319 Vgl. hierzu etwa die Übersicht der Umlautbezeichnungen beim Plural in WEGERA (1987, 220–241) oder die Ausführungen in GRUBMÜLLER (1998, 303). 320 Vgl. für eine Diskussion z. B. die Arbeit von SCHULZE (2010). 321 Vgl. z. B. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 236–240) oder GLASER (2003, 69–76). Erste Belege dafür, dass im Alemannischen durch „die offene Aussprache von ü [...] ein unechtes i [ent-

7.6 Beispielanalysen

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den /ʏ/, /yː/, /œ/ und /øː/ zu /ɪ/, /iː/ und /e, ɛ/, /eː/; es findet also ein Zusammenfall der palatalen gerundeten mit den ungerundeten Vokalen statt.322 Gleichfalls habe die Entrundung bei den gerundeten Diphthongen stattgefunden. Die Umlautentrundung (auch Delabialisierung genannt) habe in der Folge weite Verbreitung gefunden und sich dabei nicht nur in den Dialekten durchgesetzt.323 Auch in den entstehenden Oralisierungen des Schriftdeutschen bzw. im landschaftlichen Hochdeutsch seien die ungerundeten Varianten gängig gewesen. So schreibt etwa SCHIRMUNSKI (1962, 205): „Im 18. Jh. herrschten die entrundeten Vokale auf hochdeutschem Gebiete auch in der höheren Umgangssprache, wovon die im 16. bis 18. Jh. ausgebildete und in den Reimen Goethes und Schillers gefestigte Reimtradition zeugt.“324 Während in den Dialekten und standardnäheren Registern des Niederdeutschen325 die gerundeten Palatalvokale größtenteils vorhanden waren und noch heute sind, fehlen diese runden Vokale in weiten Gebieten des Hochdeutschen sowohl in den historischen Varietäten als auch noch heute.326 Ausnahmen bilden das Hochalemannische, die Zimbrischen Sprachinseln im Südbairischen, ein großes Gebiet im Ostfränkisch-Hennebergisch-Osthessischen, der Norden des Moselfränkischen, das Ripuarische, zwei kleinere Gebiete des Nordhessisch-Thüringischen an der Grenze vom Hochdeutschen zum Niederdeutschen sowie einige mitteldeutsche Sprachinseln (vgl. WIESINGER 1983b, 1102–1103). Für die Gebiete, in denen der Dialekt Entrundung aufweist, soll nun empirisch überprüft werden, welche Realisierungsvarianten bei müde in welcher arealen Verbreitung im landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts auftraten.

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standen sei]“ sieht WEINHOLD (1863, 25) im 13. Jahrhundert und beschreibt gleichfalls für das 19. Jahrhundert die gespreizte Variante für den Dialekt. Vgl. etwa WIESINGER (1983b, 1102) oder BEHAGHEL (1916, 155). Ob wirklich für jeden betroffenen Dialekt von einem Prozess der Entrundung ausgegangen werden kann oder ob es in manchen Räumen die gerundeten vorderen Vokale nie gegeben hat, wäre ein interessantes Feld für weitere Forschungen. Dem kann in der vorliegenden Arbeit leider nicht nachgegangen werden. Es sei an dieser Stelle aber JÜRGEN ERICH SCHMIDT für den Hinweis darauf und die konstruktiven Diskussionen darüber gedankt. Beispiele für solche Reime sind etwa Blick : Glück und König : wenig. Daneben zeugen laut SCHIRMUNSKI (1962, 205–206) fehlerhafte Schreibungen in GOETHES Handschriften wie leichten statt leuchten oder zeigt statt zeugt davon, „daß diese Reime der Aussprache des Dichters, seiner Frankfurter Abstammung gemäß, vollkommen entsprachen“. Ausnahmen im Niederdeutschen stellen ein Gebiet im Ostfälischen (um Goslar und zwischen Braunschweig und Celle), ein Gebiet an der unteren Weser, das östliche Pommersche sowie das südliche Brandenburgische dar (vgl. WIESINGER 1983b, 1102–1103). Vgl. zur Verbreitung etwa auch SÜTTERLIN (1924, 167–169) oder KÖNIG (2011, 148).

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

7.6.1.2 Analyse 1. Ermittlung der Verbreitung im Dialekt Der oben beschriebenen Methodik entsprechend (vgl. Kapitel 7.5.1) wurde zunächst auf breiter Quellenbasis überprüft, wie die verschiedenen Realisierungsvarianten von müde im Dialekt des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts im hochdeutschen Raum verteilt waren. Der Fokus der Auswertung der Orts- und Landschaftsgrammatiken, Tonaufnahmen, Übersichtsdarstellungen und sonstigen Dialektbeschreibungen lag dabei auf der Realisierung des Stammvokals bzw. -diphthongs in den dialektalen Entsprechungen für müde. Hierbei interessierte, ob die jeweilige dialektale Variante einen palatalen gerundeten Stammvokal, also ü (oder ö ), hatte oder nicht. Das Ergebnis dieser Auswertungen ist in Karte 15 zu sehen. Die farbige Fläche erstreckt sich über die Gebiete im hochdeutschen Raum, in denen der Dialekt kein ü (oder ö ) in müde hatte. Sie umfasst dabei Realisierungen wie zum Beispiel [miːd], [meːd], [miːǝd], [miːɐd], [me͡ɪd] oder [mo͡ɪd], also sowohl Gebiete mit gespreiztem Stammvokal als auch mit Diphthong und erstreckt sich über weite Teile des Mittel- und Oberdeutschen. Die Form des im Folgenden weiter zu betrachtenden Areals ist dadurch gekennzeichnet, dass große Teile des Ostfränkischen, ein Teil des Osthessischen sowie der Norden des Moselfränkischen, das Ripuarische, das Niederfränkische und das Hochalemannische ausgespart bleiben. Hier hatten die dialektalen Entsprechungen für müde einen gerundeten Stammvokal bzw. -diphthong (dies waren Realisierungen wie etwa [myːd] oder [møːd]). Außerdem nicht in die Betrachtung fällt der gesamte niederdeutsche Sprachraum. Zwar gab es auch hier Gebiete mit diphthongischen (und dabei zum Teil entrundeten) Varianten in müde (etwa [ma͡ɪ] oder [me͡ur]) oder kleinere Gebiete mit ungerundeten Varianten. Diese sind in der vorliegenden Analyse aber nicht von Interesse, da hier nicht die Diphthongentwicklung im Niederdeutschen, sondern die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen im „Entrundungsgebiet“327, also im hochdeutschen Sprachraum, hier in den bundesdeutschen Grenzen, in den Blick genommen werden. Die weitergehende Untersuchung konzentriert sich also auf die in Karte 15 farbig eingezeichnete Fläche. Da die dialektalen Realisierungen von müde dort kein ü (oder ö ) enthielten, können hier potentiell schriftsprachorientierte Fehlschreibungen auftreten.

327 Im Folgenden wird auf das relevante Gebiet mit „Entrundungsgebiet“ referiert. Vgl. zu den Grenzen der Entrundung auch die Karte „Geografie von müde-e im ehemaligen deutschen Sprachgebiet“ in KÖNIG (2011, 148).

7.6 Beispielanalysen

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Karte 15: Arrondierte Verbreitung von dialektal ungerundetem Stammvokal in müde; erstellt mit

2. Identifizierung der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen Im nächsten Schritt wurden auf der Karte müde (Nr. 335) des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen identifiziert. Beim ersten Blick auf die Karte könnte man meinen, dass fast im gesamten (heutigen) bundesdeutschen Gebiet – also auch in dem hier interessierenden Entrundungsgebiet – die dialektalen Entsprechungen von müde einen runden Stammvokal oder -diphthong hatten. So wird die Karte auffällig dominiert von Leitformen wie , , , oder . Daneben nehmen Gebiete mit den Leitformen , , , ,

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

oder deutlich weniger Raum ein. Letztere finden sich etwa im Südthüringischen, im Übergangsgebiet zum Osthessischen, im Südwestfälischen, im Nordosten des Ostfränkischen, im Osten des Moselfränkischen und im südlichen Übergangsgebiet zum Zentralhessischen sowie im südlichen Moselfränkischen und im Übergang zum Rheinfränkischen.328 Dies deutet also bereits darauf hin, dass sich die Zeichner der Karte mit so vielen -Schreibungen bzw. ähnlichen Varianten im Material (i. e. die Wenker-Bogen) konfrontiert sahen, dass sie großen Teilen des Erhebungsgebietes eine entsprechende Leitform zugewiesen haben. Dementsprechend ist anzunehmen, dass sich zahlreiche schriftsprachorientierte Fehlschreibungen auf der Karte befinden. Diese mussten nun identifiziert werden. Für alle -Graphien im relevanten Entrundungsgebiet konnte dies unproblematisch geschehen. Daneben treten allerdings zahlreiche Graphievarianten auf, die nicht gleichsam unproblematisch als schriftsprachorientierte Fehlschreibung identifiziert werden konnten. Bei diesen musste unter Rückgriff auf den jeweiligen Dialekt bzw. seine Variante von müde der hinter der Graphie vermutlich stehende Lautwert erschlossen werden. Wenn also zum Beispiel im Mittelbairischen die dialektale Entsprechung von müde etwa [miːǝd] oder [miːɐd] lautete, dann wurden beispielsweise - und -Graphien als schriftsprachorientierte Fehlschreibungen bewertet. Graphien wie , , oder hingegen repräsentieren die dialektale Lautung (zumindest für den Parameter Lippenrundung) korrekt und stellen daher keine schriftsprachorientierten Fehlschreibungen dar. Auf diese Weise wurde jede Graphievariante dahingehend bewertet, ob sie am Platz ihres Vorkommens als geeigneter Repräsentant der dialektalen Lautung angesehen werden kann oder als schriftsprachorientierte Fehlschreibung beurteilt werden muss. Auf Karte 16 ist das Ergebnis dieses Analyseschrittes zu sehen. Jeder Punkt stellt hier eine schriftsprachorientierte Fehlschreibung auf der Wenker-Karte müde (Nr. 335) dar. Somit liegt mit Karte 16 eine Darstellung der absoluten Häufigkeit der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf der genannten Wenker-Karte vor.

328 Auf einen Abdruck der Wenker-Karte wird hier verzichtet. Die durch den Satzspiegel erforderliche Verkleinerung führt dazu, dass die eingezeichneten Leitformen nicht mehr lesbar sind. Der interessierte Leser sei daher auf die komfortable Betrachtungsmöglichkeit im REDE SprachGIS () verwiesen, wo problemlos in die Karte reinund rausgezoomt werden kann.

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Karte 16: Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen im hochdeutschen Raum auf der WenkerKarte müde (Nr. 335), absolute Häufigkeit; erstellt mit

3. Fehlende Belege und Synonyme Anschließend wurden in dem hier interessierenden Gebiet auf der Wenker-Karte müde alle Orte herausgesucht, an denen es entweder keinen Beleg für müde gibt oder ein Lehrer statt der dialektalen Variante für müde ein Synonym des Wortes angegeben hat. Diese Orte wurden auf einer separaten Vektorkarte eingezeichnet. Im Fall von müde handelt es sich hierbei lediglich um 56 Orte, für die es keinen Beleg gibt. Diese liegen ziemlich gleichmäßig über das Gebiet verteilt. Synonyme kommen im relevanten Gebiet nicht vor. Aufgrund der geringen An-

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

zahl, die auch auf die nachfolgende Analyse keinen großen Einfluss nimmt,329 wird auf den Abdruck der entsprechenden Karte verzichtet. 4. Berechnung des Anteils schriftsprachorientierter Fehlschreibungen pro Planquadrat Wie in Kapitel 7.5.1 erläutert, wurde dann die Anzahl der Wenker-Orte pro Planquadrat bestimmt, die für die nachfolgende Berechnung die Grundgesamtheit darstellt. Dazu wurden zunächst die Planquadrate im hier interessierenden Entrundungsgebiet geladen, diese dann mit dem Polygon dieses Gebietes geschnitten, damit nur die innenliegenden Flächen Berücksichtigung fanden. Anschließend wurde für jedes Planquadrat die Anzahl der in ihm liegenden Orte bestimmt und von dieser dann die Orte ohne Beleg abgezogen. Diese Grundgesamtheit an Orten wurde verwendet, um den Anteil schriftsprachorientierter Fehlschreibungen pro Planquadrat zu errechnen. Das Ergebnis dieser Berechnung liegt als Karte vor. In jedem Planquadrat der Karte ist die Information über den jeweiligen Anteil schriftsprachorientierter Fehlschreibungen abgespeichert. Während also Karte 16 die absolute Anzahl der Fehlschreibungen und ihre Verteilung im Raum zeigt, gibt Karte 17 darüber Auskunft, wie viele Lehrer im Verhältnis zu allen Lehrern schriftsprachorientierte Fehlschreibungen produziert haben. Da für die nachfolgende Interpretation der Karte die Ergebnisse der Analyse auch in Bezug auf Dialektverbände diskutiert werden, ist die Dialekteinteilung nach WIESINGER (1983e) zur besseren Orientierung eingefügt. Im REDE SprachGIS wurden die Planquadrate nach dem jeweiligen Anteil der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf der Wenker-Karte müde eingefärbt und dadurch die folgende Choroplethenkarte (Flächenkartogramm) erstellt. Da es, wie bereits oben angedeutet, keine mit der hier durchgeführten Analyse vergleichbaren Untersuchungen gibt, kann sich die hier vorgenommene Klasseneinteilung nicht auf Vergleichswerte beziehen. Es stellt sich demnach die Frage, wie hoch der Anteil schriftsprachorientierter Fehlschreibungen sein muss, dass davon auf die Variante des landschaftlichen Hochdeutsch geschlossen werden kann. Eine kleinschrittige Klasseneinteilung (etwa in 10-Prozent-Bereiche) erscheint aus Mangel an festen Schwellenwerten nicht sinnvoll und verspricht keinen Mehrwert. Eine sehr grobe Einteilung in nur zwei Klassen hingegen würde nicht zu einer adäquaten Kartierung führen, da hier eine zu große Zusammenfassung der Ausprägungen vorgenommen würde. Aus diesem Grund wurde sich dafür entschieden, vier gleich große Klassen zu bilden. Zumindest ab einem Anteil schriftsprachorientierter Fehlschreibungen von über 50 Prozent lässt sich mit der hier vorgestellten Methodik auf die Variante des landschaftlichen Hochdeutsch schließen. Darüber hinaus erscheint es aber auch interessant, jeweils eine Abstufung zwischen Null und 50 sowie 50 und 100 Prozent zu erkennen. Die auf dieser Klasseneinteilung basierende Einfärbung ist wie folgt: Rot eingefärbte Flächen stehen für 75 bis 100 Prozent schriftsprachorientierter Fehlschreibungen, 329 Vgl. hierzu die nachfolgende Analyse zu bösen, bei der deutlich mehr fehlende Belege und Synonyme erscheinen.

7.6 Beispielanalysen

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Flächen in Rosé für 50 bis 75 Prozent, Flächen mit grüner Farbe für 25 bis 50 Prozent und gelb eingefärbte Gebiete für Null bis 25 Prozent.

Karte 17: Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen im hochdeutschen Raum auf der WenkerKarte müde (Nr. 335), relative Häufigkeit; überblendet mit WIESINGER (1983e); erstellt mit

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7.6.1.3 Interpretation Die überblicksartige Betrachtung von Karte 17 zeigt im Oberdeutschen große Flächen mit einem hohen Anteil an schriftsprachorientierten Fehlschreibungen. Diese finden sich insbesondere im Schwäbischen, daneben im südlichen Ostfränkischen und im Nordbairischen, ebenso wie im Mittelbairischen. Außerdem finden sich im Obersächsischen und im Rheinfränkischen rote Flächen. Im Thüringischen und Nordhessischen sowie im Moselfränkischen und Teilen des Rheinfränkischen hingegen dominieren Gelb- und Grüntöne. Hier ist der Anteil an Fehlschreibungen also deutlich geringer. Gehen wir nun mehr ins Detail und betrachten kleinere Gebiete sowie Zusammenhänge auf der Karte, um das hier präsentierte Bild verstehen zu können. Besonders auffällig tritt ein Gebiet im Schwäbischen hervor. Hier dominieren rote Planquadrate, die von roséfarbenen Flächen umlagert sind. Der Anteil schriftsprachorientierter Fehlschreibungen liegt im Kern dieses Gebietes also über 75 Prozent und in den Außenbereichen durchweg über 50 Prozent. Der Großteil der WENKER’schen Lehrer orientierte sich hier bei der Schreibung von müde also an der Schriftsprache und hat keine Graphie wie etwa verwendet, die die dialektale Form [miǝd] bzw. [miːd] lautlich korrekt dargestellt hätte. Für das genannte Gebiet ist also davon auszugehen, dass das landschaftliche Hochdeutsch hier partiell mit dem Dialekt übereinstimmte und daher auch in der Prestigevarietät das Wort müde entrundet, also mit gespreiztem Stammvokal ausgesprochen wurde. Die hier beschriebene, auffällige Häufung an Fehlschreibungen im Vergleich zu der übrigen betrachteten Fläche scheint, wie die Karte zeigt, „Ausläufer“ in alle Himmelsrichtungen zu bilden, also Flächen mit ebenfalls recht hohem, wenn auch im Vergleich etwas geringerem Anteil schriftsprachorientierter Fehlschreibungen. Demnach kann bei diesem Gebiet im Schwäbischen von einer Art „Entrundungszentrum“ gesprochen werden. Diese Bezeichnung erscheint nicht nur aufgrund des Schwerpunktes in der Mitte und der Ausstrahlungswirkung berechtigt, sondern auch aufgrund seiner zentralen Lage im Entrundungsgebiet.330 Die soeben erwähnten „Ausläufer“ des Entrundungszentrums finden sich unter anderem im Mittel- und Nordbairischen. Auch hier gibt es Flächen mit einem Anteil von deutlich über 50 Prozent Fehlschreibungen. Daneben gibt es aber auch einige Planquadrate mit weniger als 50 Prozent. Dennoch kann aufgrund der Dichte der Fehlschreibungen auch hier für das landschaftliche Hochdeutsch angenommen werden, dass müde – äquivalent zur dialektalen Variante – nicht mit gerundetem Palatalvokal realisiert wurde. Dies lässt sich auch durch SCHMELLER (vgl. 1821, 76) bestätigen. In seiner Darstellung der bairischen Mundarten trifft

330 Weiter südlich sowie südöstlich setzt sich die dialektale Entrundung fort. Da dieses Gebiet aber über die bundesdeutsche Grenze hinausgeht, findet es hier keine Betrachtung.

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er auch einige Aussagen zu der Vorlesesprache der Gebildeten und gibt dort an, dass wie [i] gesprochen werde.331 Auffällig in diesem Bereich ist noch die Häufung von gelben Planquadraten im Süden des Mittelbairischen bzw. im Übergangsgebiet zum Südbairischen. In diesem alpinen Gebiet liegen kaum Erhebungsorte, so dass sich in einigen Planquadraten kein oder nur ein Ort befindet. Wenn es an diesem einen Ort nicht zu einer Fehlschreibung kam, liegt der Anteil bei Null Prozent. Dieser Anteil von Null Prozent ist aber inhaltlich nicht vergleichbar mit einem Planquadrat, in dem etwa 20 Orte liegen und in keinem dieser Orte eine Fehlschreibung vorkommt. Die genannte gelbe Fläche bleibt also quasi frei. Weiter setzen sich die rötlichen Flächen nach Nordosten fort ins Obersächsische und noch etwas weiter ins Nordobersächsische und Südmärkische. Auffällig ist hier, dass die roten Planquadrate, also diejenigen mit einem Anteil über 75 Prozent Fehlschreibungen, hier nur noch vereinzelt vorkommen. Roséfarbene Planquadrate halten sich hier aber in etwa die Waage mit grünen. Der historische Dialekt hatte hier vollständige Entrundung ([miːdǝ]). Im Gegensatz zu zuvor beschriebenen Gebieten produzierten die Wenker-Lehrer hier zwar weniger schriftsprachorientierte Fehlschreibungen. Durch die größeren roséfarbenen Flächen bedingt, ist aber anzunehmen, dass es hier im landschaftlichen Hochdeutsch ebenfalls eine entrundete Variante für müde gab. Daneben zeigen aber die vielen grünen Planquadrate, in denen die Lehrer also eine lautlich die dialektale Variante korrekt repräsentierende -Graphie gewählt haben, dass hier viele Informanten einen Unterschied zwischen der dialektal entrundeten und der schriftsprachlich gerundeten Form erkannt haben. Dadurch, dass ihnen dieser Unterschied bewusst war, kann angenommen werden, dass diese Lehrer im landschaftlichen Hochdeutsch einen gerundeten Stammvokal in müde realisiert haben. Daher kann für das Obersächsische und zum Teil für das NordobersächsischeSüdmärkische angenommen werden, dass es hier zwei Varianten im landschaftlichen Hochdeutsch gab: eine gerundete und eine entrundete. Sprachhistorisch betrachtet lässt sich das Nebeneinander der zwei Varianten damit erklären, dass es sich hier um ehemaliges Siedlungsgebiet handelt, in dem verschiedene Varianten aufeinander trafen. Zudem spielte dieser Raum eine wichtige Rolle für die Entstehung der Schriftsprache (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.3), so dass hier eine gewisse „Sensibilisierung“ für und sowie damit verbundene Lautwerte nicht unplausibel erscheint. Dies zeigt sich auch an der großen Schriftnähe des historischen Dialekts, die LAMELI (2013, 234) zeigen konnte. Weiter westlich nehmen die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen deutlich ab, wie die kaum mit rötlichen Planquadraten durchsetzten grünen und gel331 ELSPASS (2005, 453) kann in der „nähesprachlichen Schriftlichkeit des 19. Jahrhunderts“, also in Briefen „einfacher“ Leute, Belege für die Entrundung im geschriebenen Alltagsdeutsch zum Beispiel bei Schreibern aus dem Schwäbischen oder dem Mittelbairischen finden. Er führt dazu aus (S. 452): „Die Unsicherheit zwischen gesprochensprachlich entrundeten und (nur) schriftsprachlich gerundeten Formen führte bei den Schreibenden [...] auf der einen Seite zu Schreibungen nach der Aussprache, auf der anderen Seite jedoch zu hyperkorrekten Formen.“

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ben Gebiete zeigen. Im Thüringischen, Nordhessischen und im Norden des Osthessischen geben die Wenker-Lehrer also die dialektale Entrundung durch ihre Graphiewahl mehrheitlich korrekt wieder. Für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch bedeutet das also, dass hier wohl noch die entrundete Variante vorkam, viele Sprecher aber wahrscheinlich in der Prestigevarietät die schriftsprachkonforme Rundung realisierten.332 Dies ist aufgrund der Lage des Raumes zwischen dem (erweiterten) ostfränkischen Gebiet mit erhaltener Rundung und dem Niederdeutschen mit ebenfalls vorhandener Rundung nicht verwunderlich. Da die Umgebungsdialekte durchweg erhaltene Rundung aufwiesen, wurden die meisten Informanten im Thüringischen und Nordhessischen wohl auf diesen Unterschied aufmerksam.333 Zudem gab es im Nordhessischen neben Variationen von [miːdǝ] (etwa mit e-Apokope) auch die dialektale Variante [meːdǝ], also mit gesenktem Stammvokal (vgl. WEIERSHAUSEN 1929, 35). Diese lautliche Qualitätsveränderung334 kann ebenfalls dazu geführt haben, dass die Lehrer für die Differenz der Lauttypen sensibilisiert waren. Weiter südwestlich grenzt dann mit dem Zentralhessischen ein durchweg gelber Raum an das Nordhessische an. Wie der Blick auf die absolute Häufigkeit in Karte 16 zeigt, kommen hier nur ganz vereinzelt schriftsprachorientierte Fehlschreibungen vor. Die dialektale Variante hat hier einen o͡ɪ-Diphthong. Die Differenz zu schriftsprachlich monophthongischem ist daher so groß, dass Fehlschreibungen der hier interessierenden Art nicht vorkommen. Zumal an das zentralhessische Gebiet mit dem Norden des Moselfränkischen und dem Ostfränkischen auch Rundungsdialekte angrenzen (vgl. vorheriger Absatz). Für das landschaftliche Hochdeutsch bedeutet das also, dass hier vermutlich die schriftsprachkonforme Rundung realisiert wurde. Für den hier betrachteten südlicheren Teil des Moselfränkischen ist für das landschaftliche Hochdeutsch ebenfalls keine Übereinstimmung mit der dialektalen [miːd]- bzw. [meːd]-Variante anzunehmen, wie die dort dominierenden gelben Flächen zeigen. Dies können auch die Auswertungen zum Untersuchungsort Bad Ems des Viëtor-Korpus (vgl. Kapitel 5.3.11 der vorliegenden Arbeit) bestätigen. Hier konnten für das landschaftliche Hochdeutsch zwar vereinzelte entrundete Formen rekonstruiert werden, die gerundete Variante muss für die Prestigevarietät allerdings als dominierend beschrieben werden. Im südöstlich angrenzenden Rheinfränkischen hingegen, also mit zunehmender Nähe zum zuvor benannten Entrundungszentrum, nehmen die schriftsprachorientierten Fehlschreibungen wieder zu. Dies setzt sich weiter fort im hier betrachteten Gebiet des Nieder- und Mittelalemannischen sowie im westlichen Teil des Schwäbischen. Für diesen Raum ist also analog zu den bisherigen Ausfüh332 Der Vergleich mit den Auswertungen des Viëtor-Korpus (Kapitel 5.3.1–5.3.4 der vorliegenden Arbeit) kann dies für das Thüringische bestätigen. Die Ergebnisse zeigen, dass das Merkmal Entrundung zwar noch vorkam, aber zum Teil nur mit unvollständiger Lippenspreizung oder nur in manchen Wörtern. 333 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in SCHMIDT / HERRGEN (2011, 238). 334 Bei der Entrundung von [yː] zu [iː] wird lediglich der Artikulationsparameter Lippenrundung verändert, wohingegen zu [eː] noch eine Senkung erfolgen muss.

7.6 Beispielanalysen

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rungen anzunehmen, dass in der Prestigevarietät des landschaftlichen Hochdeutsch die dialektale Entrundung in müde beibehalten wurde. Für dieses Gebiet sind auch die Kommentare WREDES sehr interessant, weshalb auf diese kurz eingegangen werden soll: WREDE korrigiert 1895 seine vorherige Interpretation der Karte müde (vgl. WREDE 1963, 55–57). Zuvor hatte er aufgrund der durchgängigen -Graphien im Elsass335 die Umlautentrundung dort als komplett abgeschlossen beschrieben, während sich östlich des Rheins dieser Prozess noch im Gange befinde (Nebeneinander von und ) (vgl. WREDE 1963, 44). Als Grund für seine nunmehr erfolgte Korrektur nennt er das Erscheinen der Karte Haus. Diese zeige, dass im Elsass der Diphthong als langes ü auftrete, während im Osten des Gebietes langes u erscheine. Das diakritische Bestreben der elsässischen Lehrer habe aus diesem Grund zu vermehrten -Schreibungen geführt. Östlich des Rheins habe es dafür keinen Anlass gegeben. Das heißt also in der Interpretation: Die Formen links und rechts des Rheins sind lautlich gleich und zwar entrundet, aber nur auf der linken Seite (Elsass) haben die Lehrer kein geschrieben, weil sie dieses aus ihrem Dialekt kannten. Für sie bestand also die Notwendigkeit, durch die Schreibung die beiden Laute voneinander abzugrenzen, weshalb sie die -Graphie verwendeten. Für die rechtsrheinischen Lehrer ergab sich diese Notwendigkeit nicht, da ihr Dialekt keinen geschlossenen, palatalen Rundungsvokal enthielt. Für das landschaftliche Hochdeutsch und die vorliegende Analyse bedeutet das also, dass sie hier keinen Unterschied zwischen ihrem Dialekt und der Schriftsprache erkannten und daher in ihrem landschaftlichen Hochdeutsch müde ebenso wie im Dialekt mit ungerundetem Stammvokal aussprachen. Mit der hier vorgeführten Analyse lässt sich also raumstatistisch belegen, in welchen Gebieten die dialektale Entrundung auch im landschaftlichen Hochdeutsch beibehalten wurde. Damit liegt eine phänomenbasierte, großflächige Rekonstruktion der historischen Prestigevarietät vor. Neben diesem Ergebnis kann Karte 17 aber auch darüber Aufschluss geben, wie vertraut die WenkerLehrer mit den vorderen gerundeten Vokalen ü und ö bzw. ihrem Lautwert sowie ihrer graphematischen Umsetzung waren. Im Entrundungszentrum, also im Kern des Entrundungsgebiets, scheint diese Vertrautheit äußerst gering ausgeprägt gewesen zu sein, wie die Dominanz der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen hier zeigt. An den Rändern des hier betrachteten Entrundungsgebietes hingegen muss diese Vertrautheit deutlich ausgeprägter gewesen sein. Zusammenfassend bleibt daher mit den Worten von SCHMIDT / HERRGEN (2011, 239) festzuhalten: Wir wissen jetzt genau, an welchen Orten und in welchen Räumen die phonologische Gesamtkompetenz der bivarietären Schreiber keine Rundungsopposition umfasste. Das gilt für

335 Da dieser Raum nicht innerhalb der bundesdeutschen Grenzen liegt, findet er in der vorliegenden Analyse keine Berücksichtigung. Der interessierte Leser sei auf die Wenker-Karte müde im REDE SprachGIS verwiesen ().

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen beide sprechsprachlichen Varietäten des 19. Jahrhunderts, den Dialekt und das landschaftliche Hochdeutsch.336

7.6.2 Analyse 2: Entrundung in böse Wie bereits in der vorangehenden Analyse gezeigt sowie in Kapitel 7.3.1 beschrieben wurde, eignen sich die Karten des Wenker-Atlasses mit schriftsprachlichem oder in der Stammsilbe gut, um an ihnen eine Sekundäranalyse der hier vorgestellten Art vorzunehmen. Daher widmet sich die nun folgende Analyse der Karte bösen (Nr. 184)337 des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“.338 Hier soll wieder anhand der schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf der Karte untersucht werden, in welchen Räumen die dialektale Entrundung des Stammvokals im Wort böse 339 auch im landschaftlichen Hochdeutsch beibehalten wurde. Vieles bereits in der Sekundäranalyse zu müde Gesagtes lässt sich auf die nun folgende Analyse direkt übertragen. Um Redundanzen zu vermeiden, wird daher des Öfteren auf die vorangehenden Ausführungen verwiesen und nur die hier relevanten Besonderheiten werden näher beschrieben.

336 Nicht von unmittelbarem Interesse für die hier durchgeführte Analyse, aber dennoch sehr interessant für die Auseinandersetzung mit der Wenker-Karte müde ist übrigens, dass bei der Erstellung des „Deutschen Sprachatlas“ (DSA), also der für den Druck in seiner kartographischen Komplexität reduzierten Version des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, die Karte müde umgezeichnet wurde. Dabei wurden in großen Gebieten (Rheinfränkisch und seine angrenzenden Übergangsgebiete, Thüringisch, Obersächsisch, Nordobersächsisch, Schlesisch sowie Nordhessisch) die ursprünglichen Leitformen mit ersetzt durch solche mit einer -Graphie. Hierzu schreiben MITZKA / MARTIN (1934–1956, 325; Kursivierungen im Original, B. G.) in der Einleitung des DSA: „In den Entrundungsgebieten ist gegen die Originalkarten die entrundete Form (mied- usw.) als Leitform eingetragen worden, obwohl müd- u. ä. oft häufiger geschrieben ist.“ Obwohl durch WENKER, WREDE und Co. immer wieder betont wurde, dass der Wenker-Atlas keinen phonetischen Wert haben könne, wurde hier also bewusst eingegriffen. Die durch die zahlreichen schriftsprachorientierten Fehlschreibungen hervorgerufenen Leitformen im Original wurden also korrigiert, um den „lautlichen Wert“ der Karte zu erhöhen. 337 Da in Wenker-Satz 14 („Mein liebes Kind, bleib hier unten stehn, die bösen Gänse beißen dich todt.“) böse dekliniert ist, heißen auch die entsprechenden Karten (Nr. 184 und 185) „bösen“. Im Folgenden wird gleichwohl auf böse in seiner undeklinierten Form verwiesen, da die Endung hier nicht von Interesse ist. 338 Einen Teilausschnitt dieser Karte betrachten bereits SCHMIDT / HERRGEN (vgl. 2011, 236– 240) in ihrer programmatischen Beispielanalyse. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit 339 Mhd. bœse, bōse, ahd. bōsi, aus vd. *bausja-.

7.6 Beispielanalysen

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7.6.2.1 Beschreibung des Phänomenbereichs Für die Analyse der Realisierungsvarianten von böse im landschaftlichen Hochdeutsch sei auf die obigen Ausführungen in Kapitel 7.6.1.1 zur Beschreibung des Phänomenbereichs verwiesen. Die dort beschriebenen sprachhistorischen Prozesse des Umlauts bzw. der Entrundung gelten für die nun folgende Analyse analog. 7.6.2.2 Analyse 1. Ermittlung der Verbreitung im Dialekt Zunächst wurde anhand der in Kapitel 7.5.1 beschriebenen Quellen ermittelt, welche Realisierungsvarianten von böse im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in den Dialekten des heutigen bundesdeutschen Gebietes in welcher Verteilung vorkamen. Dabei lag der Fokus des Interesses wieder auf dem Stammvokal des Lemmas. Es wurde ermittelt, in welchen Räumen in der dialektalen Entsprechung von böse kein gerundeter Palatalvokal (also ö oder ü ) vorkam. Auf Grundlage dieser Quellenerschließung wurde anschließend Karte 18 erstellt. Die farbige Fläche umfasst also die Räume, in denen kein ö oder ü in der dialektalen Variante vorkommt (also etwa [beːs], [biː(ǝ)s], [be͡ɪs], [bɛːs] oder [bɐ͡ɪs]) und die daher für die weitere Analyse relevant ist. Das Gebiet der farbigen Fläche wird fortan auch als „Entrundungsgebiet“ bezeichnet. Es umfasst weite Teile des mittel- und oberdeutschen Raumes. Nicht zum Entrundungsgebiet gehören ein großer Teil des Ostfränkischen, das Osthessische, der auf bundesdeutschem Gebiet liegende Teil des Hochalemannischen sowie der Norden des Moselfränkischen, das Ripuarische und das Niederfränkische. Mit Varianten wie zum Beispiel [bøːs(ǝ)] oder [byː(ǝ)s] ist hier die Rundung des Stammvokals in der dialektalen Variante von böse erhalten.

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7 Schriftsprachorientierte Fehlschreibungen

Karte 18: Arrondierte Verbreitung von dialektal ungerundetem Stammvokal in böse; erstellt mit