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German Pages 502 Year 2014
Astrid Kusser Körper in Schieflage
Post_koloniale Medienwissenschaft | Ulrike Bergermann (Hg.) | Band 1
Astrid Kusser (Dr. phil.) ist Historikerin und freie Autorin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Sozial- und Kulturgeschichte, politischer Theorie und Medienwissenschaft.
Astrid Kusser
Körper in Schieflage Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900
Gedruckt mit Hilfe der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: Front:Serie »Cakewalk«, Fotostudio Becker & Maass, Berlin 1903; Rücken: »Humor aus dem Familienbad«, Deutsche Postkarte, verschickt 1907; beide Abbildungen aus: Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten. Digitale Sammlungen der Universität Köln, www.ub.uni-koeln.de Lektorat & Satz: Astrid Kusser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2060-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 9
Tanzen im Black Atlantic | 14 Den Strudel schreiben | 17 Historiografien des Tanzens | 23 Aufbau | 37
I. HERKUNFT 1. Tanzfieber: Wissen und Abwehr | 41 Eine alte neue Krankheit | 42 Tropenfieber und Massenkultur | 45 Interventionsfeld Tanzfläche | 51 Bühnentanz/Verwandlungsakt | 55 Leben/Sterben | 63 2. Gesellschaftstanz: Führen und Folgen | 71 Werfen, Schwingen und Springen | 72
»...if any of it stopped, for a single instant, the whole world would fall to pieces...« | 78 »Gesellschaftlicher Verkehr« um 1900 | 81 Gehen | 88 Poetik der Unterbrechung | 92 Politiken der Pose | 94 3. Arbeitsrhythmus: Anpassung und Widerstand | 105 Angriff auf Augen und Ohren | 106 Rhythmus und Arbeitstempo | 112 Ermüdung und Erfrischung | 117 Balancearbeit und Alltagswiderstand | 123 Umkämpftes Erbe | 130 4. Bewegungsfreiheit: Flucht und Migration | 139 Flucht aus der Sklaverei | 141 Great Migration | 145 Aufeinandertreffen | 152 White Slavery | 155 Color Line | 160
II. ENTSTEHUNG 1. 2. 3. 4. 5.
New York City | 167 Buenos Aires | 197 Berlin | 219 Viktoria | 249 Kapstadt | 269
III. VERWANDLUNG 1. Übersetzung | 297
»Exzentriktanz« und Groteske | 297 Rassifizierung | 303 Zweierlei Lachen | 312 2. Inkorporierung | 321 Varieté | 322 Licht/Schatten | 326 Bühne/Leinwand | 329
Postkarte/Fotografie/Karikatur | 339 Sammeln/Sampeln | 359 3. Metaphorisierung | 365 Koloniale Unordnung | 366
Zukunftsvisionen und »Momentaufnahmen« | 370 Koloniale Ambivalenz | 379 Frauenbewegung | 386 4. Regierung | 397 Disziplinierung | 398 Immunisierung | 408 Restrisiko | 426 Mobilmachung | 443 Schluss | 455
Abbildungsverzeichnis | 466 Bibliografie | 467 Quellen | 467 Literatur | 476
Dank
Ein Buch zu schreiben ist oft eine einsame Angelegenheit, doch zum Glück war ich damit selten alleine gelassen. Viele Menschen und Begegnungen haben dieses Buch möglich gemacht. Ich danke meinen Projektleiter_innen Norbert Finzsch und Margit SzöllösiJanze, die mich während der Arbeit am Sonderforschungsbereich Medien und kulturelle Kommunikation an der Universität Köln ermutigt haben, dieses Thema in Angriff zu nehmen. Ich danke Ulrike Bergermann für die Unterstützung bei der Überarbeitung des Manuskripts und der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig für die Übernahme eines Teils der Druckkosten. Ich danke für Lektüre, Kommentare, Anregung und Diskussion Gudrun Löhrer, Felix Axster, Susann Lewerenz, Heike Hartmann, Peter Scheiffele, Aurora Rodonó, Brigitta Kuster, Marcin Michalski, Minu Haschemi, Vassilis Tsianos, Serhat Karakayali, Manuela Bojadzijev, Nanna Heidenreich, Birgit zur Nieden, Maren Möhring, Inka Marter, Olaf Stieglitz, Massimo Perinelli, Barbara Manthe, Regina Mühlhäuser, Markus Stauff, Theo Röhle, Malte Meyer, Katja Garmasch, Katja Hoffmann, Tobias Nagl, Sandro Mezzadra, Catrin Dingler, Kerstin Lange, Philipp Dorestal, Stefanie Michels und Marcus Rediker. Dank gilt auch den Archivar_innen und Bibliothekar_innen, die zum Gelingen dieser Forschungsarbeit beigetragen haben, besonders dem Altonaer Museum und dem Kölner Tanzarchiv, der New York Public Library und der National Library of South Africa in Kapstadt und dem Berliner Stadtmuseum. Ein besonderer Dank geht an die privaten Sammler_innen von Postkarten, die mir Zugang zu ihren Sammlungen gewährt haben, insbesondere an Peter Weiss und seine Sammelleidenschaft. Zuletzt sei den anonymen Produzent_innen digitaler Archive gedankt, die heute unentwegt Musik, Bilder, Filmschnipsel und Zeitungsartikel digitalisieren, Informationen teilen, Listen erstellen und auch auf persönliche Anfragen reagieren. Erst die von vielen Seiten erfahrene Unterstützung und Begeisterung, auch von meiner Familie, haben dieses Projekt navigierbar gemacht.
Einleitung
Die Haltung sieht unbequem aus, aber die Tänzerinnen nehmen sie ganz lässig: Mit überstreckten Rücken beugen sie Kopf und Oberkörper nach hinten, während ihre Beine quasi vor ihnen her laufen. Die Arme sind angewinkelt und nach vorne gestreckt, als hätten sie im Verhältnis zum Kopf die Führung übernommen. Dabei scheinen die Tänzerinnen diese Umkehrung eines aufrechten Gangs zu genießen und wenden sich, während ihre Körper wie von einer fremden Macht gezogen nach vorne gehen, seitlich der Kamera zu und lächeln. (Abb. 1) Diese Tanzhaltung findet sich bereits in Bildern, die tanzende Sklav_innen auf den Plantagen der Südstaaten der USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen.1 Als der Cakewalk um 1900 rund um den Atlantik zu einem Modetanz avancierte, zirkulierte dieser Körper in Schieflage massenhaft auf Postkarten, in Karikaturen und anderen Abbildungen in Zeitungen und Zeitschriften. Er wurde zur Ikone des Cakewalks, findet sich aber auch auf einem Deckblatt von Musiknoten für einen argentinischen Tango, in Werbeanzeigen deutscher Varieté-Künstlerinnen und in Karikaturen, die internationale Beziehungen und koloniale Verhältnisse als drohendes Chaos darstellten. Während im europäischen Gesellschaftstanz traditionell der Kopf die Oberhand über die Glieder behielt, wunderte er sich nun, wo die Beine hinmarschieren. Dieses Buch geht der Herkunft und Entstehung des Cakewalks nach, des ersten schwarzen Modetanzes des 20. Jahrhunderts. Ziel ist, seine Technik, Ästhetik und 1
Vgl. die Beschreibung in Henry Bibb: Narrative of the Life and Adventures of Henry Bibb, an American Slave, New York 1850: »[The woman's] partner dances with high kicking steps, his left leg lifted high while balancing on the ball of the right foot.« Hier zitiert nach Eileen Southern/Josephine Wright: African-American Traditions in Song, Sermon, Tale, and Dance, 1600s-1920. An Annotated Bibliography of Literature, Collections, and Artworks, New York 1990, S. 55. Ich verwende in diesem Buch den Unterstrich, um auf die sprachliche Verfasstheit von Zweigeschlechtlichkeit aufmerksam zu machen. Es sind jeweils Männer und Frauen gleichermaßen benannt, zugleich wird verräumlicht, dass es dazwischen noch unsagbare andere Positionen gibt, ein Vorschlag aus dem Kontext der Queer Theory.
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Polemik im Strudel des Black Atlantic zu rekonstruieren, das heißt in Konflikten und Beziehungen, die aus der langen Geschichte von Kolonialismus, Versklavung, Arbeitszwang und dem Widerstand gegen die Reduktion von Menschen auf den Faktor Arbeitskraft erwuchsen. Um 1900 aktualisierte der Tanz einen historischen Zusammenhang, der weit voneinander entfernte Zeiträume und Gebiete umfasste. Dabei entstand ein kulturelles Repertoire, das gegen lineare und dualistische Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung polemisierte. Abbildung 1: »Serie: ›Cakewalk‹«. Fotostudio Becker & Maass, Berlin 1903
Der Cakewalk entstand auf den Plantagen der Sklaverei in den USA. Die aus Afrika verschleppten Sklav_innen eigneten sich die Promenaden und Quadrillen aus dem Herrenhaus an, imitierten und parodierten sie. Sie experimentierten mit Körpertechniken, die in der europäischen Kultur Prestige und Eleganz erzeugten. Doch sie überzeichneten und verlachten die normierte Steifheit dieser Formationstänze auch und unterbrachen sie durch Improvisationen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts reiste der Cakewalk im Gepäck fahrender Theatergruppen aus dem ländlichen Süden in den Norden und Mittleren Westen der USA und wurde im Zuge der Urbanisierung zu einem Modetanz. Zur gleich Zeit tanzten auch die Kreol_innen an der westafrikanischen Küste den Cakewalk, später griffen ihn dann die »Großstadtmenschen« in Europa auf. Auch in Argentinien und Südafrika hinterließ der Tanz seine Spuren in der Alltagskultur und war an der Entstehung lokaler Tanz- und Karnevalskulturen beteiligt. Diese Dynamik überstieg Vorstellungen von nationaler Kultur und forderte die koloniale Aufteilung der Welt heraus. Die folgenden Kapitel konzentrieren sich auf den Zeitraum zwischen den 1880er und den 1920er Jahren. Sie gehen einzelnen Herkunftslinien des Tanzens im
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Black Atlantic bis in die Frühe Neuzeit nach und verfolgen Transformationslinien bis in die 1940er Jahre. Doch der Fokus liegt auf der Zeit um 1900, als der Cakewalk unter denjenigen, die als Weiße positioniert waren, mehr und mehr Aufmerksamkeit erregte, und zwar nicht mehr nur vom Rand der Tanzfläche aus. Die Leute wollten ihn selbst tanzen. Danach kam ein schwarzer Modetanz nach dem anderen, wurde erlernt, verändert, verherrlicht oder problematisiert und standardisiert. Ziel ist, den mikropolitischen Charakter von Tanzen im 20. Jahrhundert herauszuarbeiten und die Grenzen der Selbstimagination in der Gegenwart zu erweitern. Das oben beschriebene Bild begegnete mir erstmals in einer Sammlung von Bildpostkarten, die Motive umfasst, auf denen schwarze Menschen abgebildet sind: Afrikaner, Afroamerikaner, Afroeuropäer in Fotografien, Karikaturen und Fotomontagen. Die meisten Motive waren rassistisch und rechtfertigten implizit oder explizit die herrschenden Machtverhältnisse von Kolonialismus und Imperialismus. Dazwischen stachen Porträts aus Fotostudios heraus, stolze Selbstrepräsentationen, auf denen sich schwarze Menschen als Subjekte dieser modernen und globalisierten Bildproduktion präsentierten.2 Die Bilder mit Cakewalk-Motiven fielen in doppelter Hinsicht aus diesem Rahmen. Sie sind weder Fremd- noch Selbstrepräsentationen, sondern beides zugleich, auf neue Art und Weise. Sie kommentieren die Frage nach der Color Line, die in den anderen Bildern so penetrant im Vordergrund steht.3 Es war wie eine Einladung, mit den Abgebildeten zu lachen, während sonst rassistischer Humor auf Kosten der Abgebildeten vorherrschte. Ich hatte vor der Begegnung mit diesen Bildern noch nie vom Cakewalk gehört, während er den Zeitgenossen offenbar so geläufig war, dass sich Bildbeschriftungen wie diese auf »Serie: Cakewalk« beschränken konnten. Wer sah um 1900 was im Cakewalk, seinen schiefen und schrägen Bewegungen, seinen so ausbalancierten Überdrehungen? In welche Situationen und Konstellationen intervenierte dieser Tanz? Wie war es möglich, dass er an so unterschiedlichen Orten gleichzeitig sinnvoll und überzeugend erschien? In der bürgerlichen Gesellschaft konnte damals schon das Aussprechen der Namen bestimmter Körperteile
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Diese Hamburger Privatsammlung von Peter Weiss umfasst rund 3000 Bildpostkarten und wurde im Rahmen des Projekts Koloniale Repräsentation auf Bildpostkarten im Rahmen des SFB/FK 427: Medien und kulturelle Kommunikation an der Universität Köln digitalisiert. Soweit nicht anders angegeben stammen alle Abbildungen dieses Buches aus dieser Sammlung »Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten«. Digitale Sammlungen der Universität Köln. www.ub.uni-koeln.de, zuletzt abgerufen am 15. 11. 2012. Vgl. Felix Axster: Koloniales Spektakel in 9x14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich, Bielefeld 2013; Joachim Zeller: Weiße Blicke, schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur, Erfurt 2010. Der Band zeigt größtenteils Bilder aus dieser Privatsammlung. Zum Begriff Color Line vgl. Kap. I.4.
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die Regeln des Anstands verletzen. War die Lust an diesen verdrehten und überdrehten Bewegungen von Beinen, Hüften, Armen und Köpfen ein stummer Protest gegen diese Regeln? Damals legten Frauen auch ihre Korsette ab, kürzten ihre Röcke und trugen Mode, in der man gut tanzen können sollte.4 Ermöglichten Tänze wie der Cakewalk, aus einem durchmoralisierten und überregulierten Alltag der bürgerlichen Gesellschaft auszubrechen? Eine solche Aneignung der Kultur der schwarzen Diaspora war um 1900 möglich, weil weiße Vorherrschaft politisch abgesichert war. Kein rassistisches Gesetz wurde wegen des Tanzens abgeschafft, allenfalls wurden noch mehr solcher Gesetze erlassen.5 Um 1900 hatten die Nachkommen ehemaliger Sklaven die Kämpfe um Gleichberechtigung in den Amerikas vorerst verloren. Eine weiße Subjektposition war dabei enorm aufgewertet und verallgemeinert worden und lud beispielsweise in den USA europäische Migrant_innen ein, Amerikaner_innen zu werden, indem sie am herrschenden Rassismus gegenüber Afroamerikaner_innen teilnahmen.6 Ein wichtiges Medium in der amerikanischen Populärkultur des 19. Jahrhunderts waren minstrel shows, Bühnenauftritte weißer Schauspieler, die sich schwarz anmalten, etwas auf die Bühne brachten, das sie für schwarze Kultur hielten und ihre weißen Zuschauer_innen einluden, über rassistische Witze zu lachen.7 Auch in Deutschland, so wird sich zeigen, war diese Form der Unterhaltung bekannt und beliebt. Neuere Forschung zum Cakewalk in der afroamerikanischen Geschichtsschreibung hat nun gezeigt, dass sich mit der Popularität des Cakewalks die Widerstandsbedingungen schwarzer Künstler_innen veränderten.8 Gerade in der schwarzen Mit-
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Vgl. Modern Dances as Fashion Reformers, in: Irene and Vernon Castle: Modern Dancing, New York 1914, S. 144-149. Zur Reformbewegung und den skandalisierten Verhältnissen in den Tanzhallen der amerikanischen Großstädte um 1900 vgl. Kap. I.1. Interventionsfeld Tanzfläche. Zur zunehmenden Segregation von Tanzhallen in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Burton W. Peretti: The Creation of Jazz. Music, Race, and Culture in Urban America, Urbana IL/Chicago 1992, S. 177-210. Vgl. David Roediger: The Wages of Whiteness. Race and the Making of the American Working Class, revised edition, New York/London 1999; Theodore W. Allen: Die Erfindung der Weißen Rasse, Rassistische Unterdrückung und soziale Kontrolle, Bd. 1, Berlin 1998; Noel Ignatiev: How the Irish Became White, New York 1995. Vgl. John Strausbaugh: Black Like You. Blackface, Whiteface, Insult and Imitation in American Popular Culture, New York 2007; W. T. Lhamon: Raising Cain. Blackface Performance from Jim Crow to Hip Hop, Cambridge MA/London 1998; Annemarie Bean/James V. Hatch/Brooks McNamara (Hg.): Inside the Minstrel Mask. Readings in Nineteenth-Century Blackface Minstrelsy, Middletown CT 1996; Eric Lott: Love and Theft. Blackface Minstrelsy and the American Working Class, New York 1995. David Krasner: Resistance, Parody and Double Consciousness in African American Theatre, 1895-1910, London 1997, S. 75-98; Daphne Brooks: Bodies in Dissent. Spectacular Performances of Race and Freedom, Durham NC 2006, S. 207-280; Jayna Brown:
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tel- und Oberschicht gab es Bedenken, ob man am Unterhaltungsgewerbe teilnehmen, als Schauspieler auf die Bühne gehen, oder gar als Tänzerin mit Cakewalks sein Geld verdienen soll, wo man doch wusste, dass ein weißes Publikum schwarze Menschen immer nur als Witzfigur verlachen würde. Doch viele Künstler_innen entschieden, dass sie neue Werkzeuge entwickeln mussten, um der mörderischen Normalität des Rassismus etwas entgegenzusetzen.9 Für sie kam das Interesse am Cakewalk gerade recht, sie ließen sich von seiner Dynamik treiben und reisten durch die USA, nach England, Europa, sogar nach Russland, Afrika und Australien. Der Erfolg gab ihnen Recht – die Leute wollten sie sehen und von ihnen tanzen lernen.10 Jayna Brown zeigt in Babylon Girls, wie die Prominenz afroamerikanischer Frauen in der Geschichte des Cakewalks den oft impliziten Maskulinismus der kritischen Gegengeschichtsschreibung zur »Erfindung der weißen Rasse« im 19. Jahrhundert verändern kann. Diese hatten sich auf eine Gegenlektüre der Tradition von blackface minstrel shows konzentriert, um ambivalente und subversive Momente in dieser Kultur herauszuarbeiten. Weil dabei fast ausschließlich Männer auftraten, konnten nur Männer als Modellfiguren schwarzer Kreativität erscheinen. Der Cakewalk ermöglicht, im Anschluss an diese Arbeiten den Austausch von Gesten und die Transfigurationen moderner, von Arbeit und Wissen fragmentierter Körper aus der Perspektive mobiler, afroamerikanischer Frauen zu erzählen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den transnationalen Bühnen der USA und Europas unterwegs waren.11 Daphne Brooks analysiert die Auftritte berühmter Cakewalker_innen wie Williams & Walker und Aida Overton Walker als ethnic drag und gender drag, als systematisches Verkleiden und Maskierung von Subjektpositionen. Auch auf der oben beschriebenen Postkarte trägt eine der Tänzerinnen Männerkleider. Das war im Varieté der Jahrhundertwende nicht ungewöhnlich, aber die fol-
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Babylon Girls. Black Women Performers and the Shaping of the Modern, Durham/London 2008, S. 128-155. Zum System der Segregation in den USA, das nach der Abschaffung der Sklaverei weiße Vorherrschaft aufrechterhalten sollte vgl. Norbert Finzsch/James O. Horton/Lois E. Horton: Von Benin nach Baltimore. Die Geschichte der African Americans, Hamburg 1999, S. 310-388. David Krasner: The Real Thing, in: Fitzhugh Brundage (Hg.): Beyond Blackface. African Americans and the Creation of American Popular Culture, 1890-1930, Chapel Hill, NC 2011, S.99-S.123. Vgl. Brown, Babylon Girls, S. 3. Sie bezieht sich hier kritisch auf Lhamon, Raising Cain; Roediger, Wages of Whiteness; Lott, Love and Theft. Mit den Seeleuten verweist sie implizit auch auf die Arbeit von Marcus Rediker: Between the Devil and the Deep Blue Sea. Merchant Seamen, Pirates and the Anglo-American Maritime World, 17001750, Cambridge u.a. 1987.
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genden Kapitel belegen auch, dass diese Lust an der Verwandlung auch Politiken der Pose ermöglichte.12 Wer was in Bildern und Bewegungen tanzender Körper sehen kann, ist nicht universell, sondern selbst Teil der Geschichte, die dieses Buch untersucht. Sie hat sich in die Blicke und in die Körper eingeschrieben, lenkt und beschränkt die möglichen Selbstimaginationen in der Gegenwart. Doch gerade weil diese Blicke und Körper historisch gemacht sind, können sie sich auch verändern, mit und gegen die Bilder, die sich im visuellen Archiv und in den Diskursen über das Tanzen abgelagert haben. Tanzen im Black Atlantic Während sich europäische Tänze traditionell aus vordefinierten Figuren und Schrittkombination zusammensetzten, schlugen Tänze wie der Cakewalk eine andere Richtung ein. Hier gab es keine festgelegten Tanzschritte und -figuren mehr. Im Vordergrund stand, mit Körperspannung und Gewichtsverlagerung zu experimentieren und eine neue Art des Gehens zu erfinden. Jeder Schritt und jede Bewegung waren für die Zuschauer_innen unvorhersehbar. Dem Break, einem unvermittelten Innehalten, folgten energiegeladene Impulse, die unerwartete Teile des Körpers in Bewegung versetzten oder diese in einer minimalen Geste auflösten. Verschiedene Körperteile führten unterschiedliche und gegenläufige Bewegungen aus, ein zentrales Charakteristikum afrikanischer Tanztechnik.13 Die Modetänze des 20. Jahrhunderts kombinierten diese Technik mit dem europäischen Gesellschaftstanz, dem Führen und Folgen im Paartanz. Dabei entstand ein neuartiges Repertoire von eigentümlicher Ästhetik und Polemik. Die folgenden Kapitel rekonstruieren das Nach-Tanzen und Miteinander-Tanzen auf den Color Lines der von Sklaverei und Kolonialismus geprägten Moderne. Sie analysieren die spezifischen rechtlichen, diskursiven und medialen Bedingungen, die diese Dynamik ermöglichten und zugleich begrenzten. Im Zentrum stehen die strategischen und taktischen Einsätze der beteiligten Akteure, ihre Wünsche, Projektionen und Missverständnisse. Doch auch die Produktion und Zirkulation von technischen und
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Damen- oder Männerimitationen waren um 1900 auf den Bühnen des Unterhaltungsgewerbes beliebt und nicht notwendig Ausdruck von sexueller Orientierung. Zur historischen Einordnung dieser kulturellen Form, die mit der Erfindung moderner lesbischer und schwuler Identitäten koinzidierte, ohne diese bereits vorauszusetzen, vgl. J. S. Bratton: Beating the Bounds. Gender Play and Role Reversal in the Edwardian Music Hall, in: Michael R. Booth/Joel H. Kaplan (Hg.): The Edwardian Theatre. Essays on Performance and the Stage, Cambridge 1996, S. 86-112. Vgl. Brenda Dixon Gottschild: Digging the Africanist Presence in American Performance, Dance and other Contexts, Westport CT/London 1996. Gottschild nennt diese Tanztechnik »embracing the conflict«, vgl. dies: Waltzing in the Dark. African American Vaudeville and Race Politics in the Swing Era, New York 2000, S. 12.
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massenreproduzierbaren Medien hatten entscheidenden Anteil am Geschehen. Sie veränderten die Resonanzräume, in denen Rhythmen und Körperbewegungen überhaupt wahrnehmbar werden konnten. Und sie verhandelten und verwandelten den enormen Anpassungsdruck, den Maschinen, Apparaturen und Medien von den Subjekten und den Körpern verlangten. Tanzen war ein zentrales Experimentierfeld für ein verändertes Verhältnis von Körper- und Medienbewegungen.14 Um diese Relationen erzählbar zu machen, bedarf es einer Perspektive, die Subjektpositionen wie schwarz und weiß, bürgerlich oder proletarisch, europäisch oder amerikanisch in ihrer Herkunft, Entstehung und Verwandlung untersucht und nicht als quasi stabile Referenzen voraussetzt. Dasselbe gilt für den Raum, in dem diese Dynamik stattfand. Der britische Soziologe Paul Gilroy hat diesen Perspektivwechsel mit dem heuristischen Begriff des Black Atlantic beschrieben. Parallel zur Ausbeutung und Versklavung von Menschen sei eine Kultur entstanden, die entschieden modern, jedoch nicht nur westlich sei. Sie habe ihren Ausgangspunkt in ökonomischen Beziehungen des kolonialen Dreieckshandels, ihre Konsequenzen gingen aber weit über dieses instrumentelle Verhältnis hinaus. Um die Geschichte dieser Gegenkultur erzählbar zu machen und ihrem politischen und philosophischen Charakter Rechnung zu tragen, bedürfe es jedoch einer »dezentrierten und vielleicht exzentrischen Gegen-Geschichte«.15 Die Geschichte der Sklaverei und ihrer Auswirkungen seien nicht nur das Problem von Afroamerikanern oder Afrikanern, sondern integraler Bestandteil des ethischen und intellektuellen Erbes einer geteilten Moderne.16 Die Charakterisierung des Black Atlantic als schwarz ist deshalb nicht gleichbedeutend mit afroamerikanisch oder afrikanisch.17 Die Kultur des Black Atlantic ist schwarz, weil sie im Verhältnis zur unsichtbaren Norm weißer Vorherrschaft offensiv auf Differenz setzte und sich mit den herrschenden Aufteilungen von Rollen, Räumen und Identitäten nicht zufrieden gab. Haltung meint hier sowohl Körperhal-
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Vgl. Felicia McCarren: Dancing Machines. Choreographies of the Age of Mechanical Reproduction, Stanford 2003. Paul Gilroy: Der Black Atlantic, in: Haus der Kulturen der Welt (Hg.): Der Black Atlantic, Berlin 2004, S. 12-31, hier: S. 13; ders.: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge MA 1993. Vgl. Jonathan Elmer: The Black Atlantic Archive, in: American Literary History 17(1) 2005, S. 160-170, hier: S. 165; Sibylle Fischer: Modernity Disavowed. Haiti and the Cultures of Slavery in the Age of Revolution, Durham/London 2004. Vgl. die Kritik an einer analogisierenden Verwendungsweise von Schwarz und Weiß als deskriptive Begriffe Thomas F. DeFrantz: African American Dance, A Complex History, in: ders. (Hg.): Dancing Many Drums. Excavations in African American Dance, Madison WI/London 2002, S. 3-38; allgemein vgl. Tiffany Ruby Patterson/Robin D. G. Kelley: Unfinished Migrations. Reflections on the African Diaspora and the Making of the Modern World, in: African Studies Review 2000 43 (1): S. 11-45.
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tung als auch eine politische Haltung.18 Die Tänzerin und Tanzhistorikerin Mura Dehn nannte diesen Vorgang folklore in the making. Schwarzer Tanz sei keine Verkörperung eines Nationalcharakters, »[the black American] dance is an answer and a guide to actuality«.19 Ein offensives Verhältnis zur Wirklichkeit war um 1900 alles andere als selbstverständlich. Zur gleichen Zeit schrieb W.E.B. DuBois über den amerikanischen Rassismus der Color Line, dass er ein doppeltes Bewusstsein erzeuge: Anzuerkennen, dass man zugleich schwarz und amerikanisch sei, erzeuge eine innere Spaltung, die einen die Welt wie durch einen Schleier oder mit den Augen einer gesellschaftlichen Norm sehen lasse, die Afroamerikaner_innen als »Problem« behandelte.20 Als Problem behandelt zu werden: dieser Form von Regierung sahen sich um 1900 nicht nur Afroamerikaner_innen ausgesetzt. Aber während es auf der Ebene des Alltags selten gelang, unterschiedliche Weisen von Segregation, Exklusion, Ausbeutung und Unterdrückung als geteilte Erfahrung zu artikulieren, entstanden auf Tanzflächen Polemiken und Bezugnahmen, die solche Aufteilungen auf eine neue Art und Weise sichtbar und beweglich machten, bisweilen sogar andere Subjektivitäten erprobten. So konnten Normen als Anforderungen sichtbar gemacht und zugleich eine Weigerung zum Ausdruck gebracht werden, ihnen nachzukommen und zu entsprechen. Tanzen ermöglichte so, eine eigene Haltung gerade im Verfehlen der von der herrschenden Ordnung vorgegebenen (Körper-) Haltungen und Subjektpositionen einzunehmen.21 Diesen Experimenten schlossen sich um 1900 tanzend ganz unterschiedliche Menschen an. Sie aktualisierten den Black Atlantic, einen Raum, der aus der Erfahrung der Sklaverei und dem Widerstand gegen die Reduktion von Menschen auf den Faktor Arbeitskraft entstanden war.
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Vgl. Jane C. Desmond: Embodying Difference. Issues in Dance and Cultural Studies, in: Celeste Fraser Delgado/José Esteban Muñoz (Hg.): Everynight Life: Culture and Dance in Latin/o America, Durham 1997, S. 33-64, hier: S. 58-59. Desmond plädiert hier dafür, die Cultural Studies »movement literate« zu machen. Sie schreibt im Anschluss an Homi Bhabhas Konzept kolonialer Mimikry: »The key in cases as he refers to would be to look closely at what constitutes »imperfection« or »over-perfection« in movement performance.« Box 1 Folder 2, Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library, Performing Arts Research Collections, New York City. Vgl. auch Jaqui Malone: Keep to the Rhythm and You'll Keep to Life. Meaning and Life in African American Vernacular Dance (1966), in: Gena Dagel Caponi (Hg.): Signifyin(g), Sanctifyin', & Slam Dunking. A Reader in African-American Expressive Culture, Amherst: 1999, S. 222-238. Vgl. W.E.B. Du Bois: The Souls of Black Folk, in: Three Negro Classics, introduced by John Hope Franklin, New York 1965, S. 213-215. Vgl. William D. Pierson: A Resistance too Civilized to Notice, in: Caponi (Hg.): Signifyin(g), S. 348-369.
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Den Strudel schreiben Die folgenden Kapitel untersuchen die Transformationen von Tanzen um 1900, ohne bereits etablierte Subjektpositionen wie schwarz und weiß, bürgerlich oder proletarisch, europäisch oder amerikanisch vorauszusetzen.22 Schwarz und weiß sind keine analogen oder komplementären Begriffe, sondern analytische Kategorien, die völlig unterschiedliche Genealogien haben und auf unterschiedliche politische Projekte verweisen, auch wenn sie über die Problematik des Rassismus miteinander verbunden sind. Die Erfindung der weißen Rasse hatte ihre Herkunft in der Zeit der Sklaverei, als Effekt eines Systems sozialer Kontrolle, das über den Faktor Hautfarbe das Nebeneinander von freier und unfreier Arbeit regulieren sollte.23 Schwarz wurde erst sehr viel später zu einem politischen Begriff, als die Bewegung Black Power der 1960er Jahre nach der offiziellen Abschaffung der Segregation und der Fortdauer und Verschärfung der Auseinandersetzungen um Rassismus eine neue offensive Selbstbeschreibung ins Spiel brachte. Sie setzte genau da an, wo sich die Forderung nach Gleichberechtigung in einen Imperativ der Integration verkehrt hatte, der als Aufforderung an Afro-Amerikaner_innen gerichtet wurde, sich an die Gesellschaft anzupassen.24 Ähnlich verhält es sich mit den neuen Tänzen: Sie waren nicht einfach da oder kamen als fremdes Material nach Europa, sondern sie aktualisierten und veränderten einen komplexen historischen Zusammenhang. Sie lassen sich nicht einfach in Original und Kopie, in ursprünglich subalterne Produktion und nachträgliche Rezeption in der herrschenden Mehrheitskultur aufspalten, sondern verweisen stets aufeinander. Ihre Kraft entstand, so meine These, genau in ihrer Fähigkeit, solchen Aufteilungen zu entkommen und ihre Kraft aus der Spannung zwischen ihnen zu generieren. Diese Emergenz ist das eigentliche Ereignis, nicht die vielfach aus kommerziellen Gründen mit immer neuen Namen versehenen Einzeltänze, die auf den Cakewalk folgten.25 Statt eine linear fortschreitende Zeitleiste anzulegen, auf der sich die Tänze wie Perlen auf einer Kette aufreihen, teilt sich dieses Buch in Herkunftslinien, Verdichtungsmomente und Transformationsdynamiken auf. Es geht der Geschichte des
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Vgl. auch die Kritik der Cultural Studies an Versuchen, Veränderungen in Formen populären Tanzens auf eine Funktion zu reduzieren. Dagegen wird die Ereignishaftigkeit von unvorhergesehenen Identifikationen und Begehrlichkeiten stark gemacht. Andrew H. Ward: Dancing in the Dark. Rationalism and the Neglect of Social Dance, in: Helen Thomas (Hg.): Dance, Gender and Culture, New York 1993, S. 16-33. Vgl. Allen, Erfindung der Weißen Rasse. Vgl. James Baldwin/Margaret Mead: A Rap on Race, London 1971, S. 17-18. Vgl. Manuel Delanda: A Thousand Years of Non-Linear History, New York 1997, S. 227 ff. Er analysiert Kreolisierung und Standardisierung von Sprache in der kolonialen Moderne als zwei Pole desselben historischen Prozesses.
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Tanzens im Black Atlantic aus drei Perspektiven nach und setzt dafür immer wieder neu an. Die Erzählung geht vom Cakewalk um 1900 aus, geht den Herkunftslinien der Polemik im europäischen Gesellschaftstanz aber bis in die Frühe Neuzeit nach und verfolgt einige seiner Transformationslinien bis in die 1940er Jahre. Was angeblich immer wieder als Fremdes von Außen kommt, erweist sich als Aktualisierung von Beziehungen, die in linearisierten Erzählungen bislang symptomatisch als Anomalien, Anachronismen oder Missverständnisse auftauchen. Geschichte in Form eines Strudels oder einer Spirale zu erzählen – diese Idee geht auf unterschiedliche Inspirationsquellen zurück. Im Werk Marshall McLuhans ist der Vortex eine zentrale Metapher.26 Er beschreibt die Medienwelt des 20. Jahrhunderts als Herausforderung, die ebenso bedrohlich sei wie das, was Edgar Allan Poe 1841 in seiner Novelle Descent Into the Maelström beschrieben hat: Die Gefahr des Kontrollverlusts durch den navigierenden Seemann, der erst lernen muss, die Kräfte des ihn unweigerlich nach unten ziehenden Strudels für sich zu nutzen, um seine Dynamik umzukehren und wieder an die Wasseroberfläche zurückzukehren.27 McLuhan nimmt den Strudel als Metapher für die Herausforderung des Medienzeitalters. Wie Poes Seemann müsse man sich hineinstürzen und lernen, die neuen Medien zu navigieren und so ein zweiter Odysseus zu werden. Ulrike Bergermann zeichnet diese Konzeption aus einer feministischen Perspektive nach und zeigt, dass sie ein Konstrukt von Männlichkeit aktualisiert, das für Aufklärung und europäische Moderne konstitutiv war. Bei McLuhan ist das Meer des Medialen das Übungsfeld für eine Subjektivität, die nicht mehr primär über Schrift funktioniert, sondern die das Eintauchen in einst weiblich konnotierte virtuelle Welten bewerkstelligen muss. Die Gefahr, in einer wirbelnden, kleinteiligen Flut von Bildern und Geschichten den Überblick zu verlieren, ist groß. Man könnte vom navigierenden Seemann zum hilflosen Treibgut werden. Deshalb müsse sich der Odysseus des Medienzeitalters gegen die »modebewussten Sirenenklänge« des Medialen abhärten und dürfe sich nicht verführen lassen, wolle er nicht zu einem »hilflosen Roboter« verkommen.28
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Vgl. Ulrike Bergermann: 1,5 Sex Model. Die Masculinity Studies von Marshall McLuhan, in: Derrick de Kerckhove/Martina Leeker/Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan Neu Lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S.76-94. Edgar Allan Poe: Descent into the Maelström, in: ders.: The Works of Edgar Allan Poe in Ten Volumes, Bd. 2, New York/Pittsburg PA 1903, S. 237-259. Dieses Erlebnis schreibt sich in den Körper ein – der Seemann ist um Jahre gealtert, kann Gefahren nicht mehr richtig einschätzen, hält sich für ängstlich und kehrt immer wieder an den Ort seines Traumas zurück, wenn er vom Land aus aufs Meer blickt und als Überlebender seinen Zeitgenossen von seinem Erlebnis berichtet. Bergermann, 1,5 Sex Model, hier: S. 81-84.
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An Bergermanns feministische Kritik dieser Subjektivität lässt sich eine postkoloniale anschließen. Wenn McLuhan den Bewohner_innen des globalen Dorfs eine Wiederkehr des Tribalismus prognostizierte, in der er sich selbst in einer Art Schamanen-Rolle imaginiert, aktualisiert er den Diskurs seiner avantgardistischen Vorbilder aus den 1920er Jahren, die sich selbst teils selbstreflexiv, teils affirmativ »im Spiegel des Primitiven« konstituierten.29 Im Folgenden wird es nicht zuletzt darum gehen, Rezeptionsmuster und Gebrauchsweisen des Tanzens zu rekonstruieren, die bereits damals jenseits des Primitivismus funktionierten. Denn Odysseus war und ist nicht die einzig denkbare Subjektivität, um mit den Unvorhersehbarkeiten moderner Medienwelten umzugehen. Elfriede Jelinek schreibt in ihren Texten für Ulrike Ottingers Film Prater (D/Ö 2007), dass gerade die Selbstbeherrschten wie »Stückgut« durch das Leben treiben. Sie formuliert ein anderes Verhältnis zu Technik, eine andere Subjektivität jenseits von Odysseus und anderen Fantasien der Beherrschung und geht zurück zu einer Kindheitserinnerung an die Vergnügungsmaschinen im Wiener Prater. »Da waren also Buntheit und Vielfachheit all der Pratergeräte, nur dazu da, benützt zu werden, als Geräte, dazu vorhanden, um den Benutzern etwas zu eröffnen, das die Benutzer, Menschen, Kinder, Erwachsene, immer wieder neu erscheinen lassen konnte, auch wenn sie immer wieder die Alten waren, wenn sie davon herunterstiegen oder daraus hervorkamen, aber diese Erlustigungsmaschinen, Spiegelkabinette, Geisterbahnen, Hochschaubahnen, immer das Neueste vom Neuen, das gehört zur Technik ja dazu, dass sie immer das Neueste ist und bietet, diese Maschinen und auch das kleinste Ringelspiel ist ja eine Maschine, in die man sich begibt, und wenn man dabei klein ist, kann man sich vorübergehend groß vorkommen, mit Hilfe der Technik, die einen liebevoll aufnimmt.«30
Sich diesen »Vergnügungsmaschinen« auszusetzen, sie mit dem eigenen »kleinen Körper« zu bestücken, erlaube, die Selbstbeherrschung zu verlieren und dabei etwas über Herrschaft zu lernen, das nicht auf Selbstzähmung oder Dressur ausgerichtet sei. Die Maschinen hätten wie »Kescher« funktioniert, die »einen hätte[n] herausholen können« aus dem Zwang der Selbstbeherrschung. In Ottingers Film beobachtet die Kamera nicht nur Menschen, sondern vor allem die Bewegungen von Maschinen, Puppen, Mechaniken. Die Befragten müssen 29
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Vgl. Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), München 2005. McLuhan entlehnt den Begriff des Vortex der britischen Avantgarde, die mit der Zeitschrift Blast 1914 den Vorticism begründeten. Vgl. dazu Antje Pfannkuchen: Ezra Pounds Vortex im Äther der Kunst, in: Albert KümmelSchnur/Jens Schröter (Hg.): Äther. Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2008, S. 133160. Vgl. Elfriede Jelinek: Prater-Text für Ulrike Ottinger (Auszug), http://www.ulrikeottinger.com/index.php/text.html, zuletzt abgerufen am 24. 07. 2012.
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vor der Kamera nicht so viel leisten und haben mehr Zeit, über sich selbst nachzudenken und zu lachen, das Geschehen zu beobachten, sich ihm hinzugeben und darin Geschichten zu erzählen. Die Hingabe an mechanische Bewegungen ermöglicht dem Film, über eine bereits etablierte Rationalität hinauszugehen und nach neuen Beziehungsmustern zu suchen. Die Möglichkeiten des Eintauchens (Immersion) und der Berührung (Taktilität), die sich nach McLuhan aus den medialen Ensembles der Moderne ergeben, stellen also nicht notwendigerweise Momente der Selbstaufgabe oder der Inauguration heroischer Subjektivität dar.31 Auch in den Bündnissen des Cakewalks mit Maschinen, Apparaten und Medientechniken der Jahrhundertwende gab es die Möglichkeit, sich treiben zu lassen. Potentiell ermöglichte er, den erlebten Kontrollverlust in eine prekäre Balance und ein selbstreflexives Lachen zu verwandeln, das in eine unbestimmte Zukunft wies.32 Zugleich trainierte er die Fähigkeit, Regimen der (Selbst-) Überwachung zu begegnen und darin neue Lücken und Bewegungsräume zu eröffnen. Doch an das Phänomen koppelten sich auch Diskurse, Bilder und Narrative, die seine offene Dynamik zu begrenzen versuchten und auf seinem Terrain neue Formen von Regierung installieren wollten. Bruno Latour schlägt in Wir sind nie modern gewesen die Spirale als ein alternatives Modell zum Zeitpfeil vor, der nur vorwärts oder rückwärts kenne. Geschichtlichkeit sei nicht dasselbe wie Kalenderzeit. Die Vorstellung vom »Lauf der Zeit« sei selbst das Ergebnis historischer Prozesse. Es gebe andere Modelle, die weitaus besser in der Lage seien, die Komplexität historischer Veränderung vorstellbar zu machen. In der Spirale lasse sich Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ebenfalls unterschieden, doch sie sei als Form eines sich in alle Richtungen ausweitenden Kreises denkbar. Vergangenheit sei hier nicht überholt, sondern werde aufgegriffen, umschlossen und neu kombiniert. Auch was sich auf der Linie weit voneinander entfernt befände, könne sich in den Windungen der Spirale plötzlich ganz nahe kommen und neuartige Intensitäten entwickeln. »Handlungen können endlich als polytemporell verstanden werden.«33
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Sie waren das für eine bestimmte Form von Männlichkeit, wie Bergermann überzeugend zeigt. McLuhan macht genau das in der Performance seiner Texte, »mimicking and parodying the style of the mass »pop kulch« world he was discussing.« Donald F. Theall: The Virtual Marshall McLuhan, Montreal u.a. 2001, S. 5. Stets betont Theall die poetische Dimension von McLuhans Methode. Er stellt ihn als »trickster« dar, dessen Herkunft er aber allein auf europäische Wurzeln zurückführt, die er zeitlich im Mittelalter verortet, was die Kultur des Black Atlantic ausblendet, die ihn in seiner modernen Version vor allem ausmachten. Vgl. Henry Louis Gates: The Signifying Monkey. A Theory of African American Literary Criticism, New York 1988. Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1998, S. 102.
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Auch Earl Lewis, Spezialist für afroamerikanische Geschichte, plädiert dafür, die Subjektposition Afroamerikaner_in als Ergebnis eines »vortex of history« zu begreifen, einer strudelartigen historischen Dynamik, die relational zu gewaltsamen, widerständigen, subversiven und integrativen Kräften entstanden sei und deshalb nicht als Einheit oder Identität erzählt werden sollte. Lewis schlägt vor, die Geschichte der Moderne als »overlapping diasporas« zu untersuchen und von »multipositional actors« auszugehen, deren Selbstverortungen stets relational zu anderen Subjektpositionen stattfanden. Der Prozess, in dem die verschiedenen europäischen Einwanderer zu unterschiedlichen Zeiten weiß geworden seien, gehöre deshalb zur afroamerikanischen Geschichte selbst dazu – und umgekehrt, möchte man aus der Perspektive dieses Buches hinzufügen, gehört das Tanzen im Black Atlantic zur europäischen Geschichte.34 In seiner Studie Cities of the Dead untersucht der Theaterhistoriker Joseph Roach Karnevalstraditionen und Begräbnisrituale, Theaterstücke und andere populärkulturelle Phänomene, um eine Erinnerungskultur zu rekonstruieren, die rund um den Atlantik führt. Er beschreibt einen »behavioural vortex« als historisches Archiv der Gegenwart und betont mit der Metapher des Strudels die relative Eigenlogik kultureller Prozesse der Ersetzung und Wiederholung. Vom Moment kolonialer Landnahme über die Declaration of Independance hin zum Spektakel der weißen Sklavin in der transatlantischen Theatergeschichte während der Abolitionsbewegung des 19. Jahrhunderts – Roach untersucht die Maskeraden von Beziehungen, die für die Legitimation wie die Infragestellung rassistischer Wissens- und Rechtsordnungen konstitutiv waren.35 Performanztheorien betonen seit langem die grundlegende Bedeutung von »restored behaviour« als (Re-) Produktionsweise von Gesellschaft, das heißt von Verhaltensweisen, die wiederholt, eingeübt und dabei in gewissem Rahmen verändert werden können.36 Joseph Roach untersucht im Anschluss an Jacques Le Goff performative Praktiken als »restored behaviour«, das dem Archiv schriftlicher Quellen gegenübergestellt werden müsse.37 Gesprochene Sprache, Bilder und Gesten forderten die Autorität der offiziellen Dokumente heraus. Statt eine Gegenüberstellung von schriftlichen und mündlichen Quellen vorzunehmen, sollten Modalitäten der Kommunikation untersucht werden, in denen sich beide gegenseitig bedingten.
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Earl Lewis: To Turn as on a Pivot. Writing African Americans into a History of Overlapping Diasporas, in: American Historical Review 1995 100 (3): S. 765-787, hier: S. 783. Vgl. Joseph Roach: Cities of the Dead. Circum-Atlantic Performance, New York 1996, S. 25-32. Vgl. Richard Schechner: Performance Theory, New York/London 2003. Vgl. Roach, Cities of the Dead, S.11. Er bezieht sich hier auf Jacques Le Goff: History and Memory, New York 1992.
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Neben der Möglichkeit, die komplexe Zeitlichkeit dieser historischen Prozesse und ihrer multipositionalen Akteure zu denken, ermöglicht die Metapher des Strudels auch, die Gewalt in dieser Geschichte zu betonen und den an der Oberfläche sichtbaren Phänomenen unsichtbare Unterströmungen gegenüber zu stellen. Paul Gilroy betont, dass sich in der Moderne neben der Dialektik von Herr und Knecht noch andere Subjektivitäten entwickelten, mithin ein anderes Verhältnis zum Tod.38 Die dabei entstandenen Gemeinschaften definierten sich nicht in erster Linie über Arbeit, sondern über Ästhetik und Spiritualität: »[S]ocial self-creation through labor is not the centre-piece of emancipatory hopes.«39 Auch Alan Rice betont in Radical Narratives of the Black Atlantic, dass viele der Versklavten den Tod dem Leben vorgezogen hätten. Ihre »inclination towards death and away from bondage«, die sie singend und tanzend beschwörten und in der Flucht aus der Sklaverei praktizierten, habe eine revolutionäre Eschatologie erschaffen, die den Jubel der Befreiung vorwegnahm. Kollektiv feierten Sklav_innen in den USA in Begräbnisritualen den Tod als Rückgewinnung einer Autonomie und imaginäre Rückkehr nach Afrika.40 Dieser kollektive Traum ist in vielen Interviews mit ehemaligen Sklav_innen dokumentiert, die in den Slave Narratives des Federal Writers Projects in den 1930er Jahren in den USA gesammelt wurden. Unter den Bedingungen der Sklaverei erfüllten solche Erzählungen die Funktion, den Atlantik auch als etwas anderes vorzustellen, als die einmalige Passage an Bord des Sklavenschiffes. Der Traum vom Fliegen machte zudem Flucht erzählbar: Jemand sei nach Afrika geflogen hieß es, wenn jemand plötzlich verschwunden war und sein Verbleib für die Zurückgelassenen im Unklaren bleiben musste. War die Person geflohen, gefasst oder ermordet worden? Wenn dieser Traum auch nach der Abschaffung der Sklaverei wieder aufgegriffen wurde, sei es nicht darum gegangen, die Zeit zurückdrehen, sondern die Vergangenheit berühren, »to palm the past«.41 Dieser Begriff ist mehrdeutig: Es bedeutet, etwas zu berühren, zu betasten oder zu streicheln, aber auch etwas zu klauen und zum Verschwinden zu bringen. To palm the past verweist auf die Notwendigkeit, sich die eigene Geschichte unter den Bedingungen der Enteignung und des Raubs selbst zu erfinden, sie sich wenn nötig zusammenzuklauen aus dem, was einem vorenthalten wurde.42 38 39 40 41 42
Vgl. Gilroy, Black Atlantic, S. 68; allgemein vgl. Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Berlin 2011. Gilroy, Black Atlantic, S. 40. Alan J. Rice: Radical Narratives of the Black Atlantic, London/New York 2003, S. 86. Vgl. Rice, Radical Narratives, S. 99. Rice zitiert hier Lhamon, Raising Cain, S. 218-219. Das imaginäre Afrika, das dabei entstand, beschäftigt heute auch die postkoloniale Populärkultur in vielen afrikanischen Ländern. Vgl. Louis Chude-Sokei: Post-Nationalist Geographies. Rasta, Ragga, and Reinventing Africa, in: African Arts, S. 80-96; ders.: ›Dr. Satan's Echo Chamber‹. Reggae, Technology, and the Diaspora Process, in: Emergences 1999 9 (1): S. 47-59. Chude-Sokei setzt hier auf die Metapher des Resonanz-
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Celeste Fraser Delgado und José Esteban Muños schlagen in Rebellions of Everynight Life vor, die Tänze und die Musik der schwarzen Diaspora selbst als Quellen zu verstehen, die Aufschluss über ein solches Verhältnis zu Zeit, Raum und Geschichte geben: »[W]e take the polyrhythm as a metonym for history that allows for an understanding of the simultaneous sounding of incommensurate historiographies.«43 Der Aufsatz leitet eine innovative Sammlung von Essays über Culture and Dance in Latin/o America ein.44 Die unter den Bedingungen von Sklaverei erfundenen Tanzkulturen stellen ein Gegen-Bewusstsein dar, das kulturell nicht nur auf afrikanische Wurzeln verweist, sondern auf eine Kultur, die sich unter den Bedingungen eines permanenten Belagerungszustands neu erfinden musste.45 Wenn diese Tanzkulturen heute zum »Nationalcharakter« bestimmter Länder erklärt werden, negiere das ihren strategischen und politischen Einsatz. Tanzen werde naturalisiert, ausgerechnet in einer Gegenwart, in der Vorstellungen nationalen Kultur immer fragwürdiger würden.46 Historiografien des Tanzens Die Fragestellung und Methodik dieses Buches ergibt sich nicht nur aus diesen inspirierenden Vorbildern, sondern auch aus der Notwendigkeit, herrschende Narrative über die Dynamik des Tanzens im 20. Jahrhundert aus einer postkolonialen, rassismuskritischen Perspektive zu dekonstruieren und andere Narrative zu erproben. »Wie die Wilden« – Ansteckung, Exotismus und Verfallsgeschichte In Deutschland war der Tanzforscher Helmut Günther einer der ersten, der dem Phänomen schwarzer Modetänze im 20. Jahrhundert wissenschaftlich nachging.47 Er konzentrierte sich in seinen Büchern mehr und mehr darauf, den Ursprung dieser neuen Tänze in der Tanzkultur Afrikas und der Afroamerikas zu rekonstruieren und
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raums, um die Dimension von Berührung, Veränderung und Produktion im Black Atlantic zu untersuchen. Celeste Fraser Delgado/José Esteban Muñoz: Rebellions of Everynight Life, in: dies., Everynight Life, S. 9-32, hier: S. 13. Die Autoren beziehen sich hier auf Gayatri Spivak: Time and Timing. Law and History, in: John Bender/David E. Well (Hg.): Chronotypes, Stanford CA 1991, S. 99-117. Delgado/Muñoz, Rebellions, S. 10. Delgado/Muñoz, Rebellions, S. 17. Delgado/Muñoz: Rebellions, S. 22 ff. Seine Untersuchung »Vom Schamanentanz zur Rumba« von 1959 richtete sich an praktizierende Tänzer_innen und stand in der Tradition der anthropologischen Tanzforschung vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Helmut Günther: Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Gesellschaftstanzes, Stuttgart 1959; Curt Sachs: Eine Weltgeschichte des Tanzes, Hildesheim/New York 1976, Erstausgabe 1933.
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machte sich damit auf die Suche nach den »Wurzeln« dieser Tanzkultur.48 Europa hatte in dieser Begegnung die Chance, etwas zu lernen. Die Überblicksdarstellung Wie die Wilden aus den 1980er Jahren geht diesem Nachtanzen in Deutschland nach, spricht den Zeitgenossen die Lernfähigkeit aber fast durchweg ab. Das Buch geht linear und chronologisch vor, ein Modetanz nach dem wird in seinem historischen Kontext verortet. Es bietet in sozial- und kulturgeschichtlicher Hinsicht eine Fülle an faszinierenden Quellen und Analysen, die eindrücklich gesellschaftspolitische Kontexte zu den einzelnen Tänzen in Deutschland bieten.49 Dabei wiederholen die Autoren aber ein Narrativ, das schon in der Vergangenheit die Diskursivierung des Phänomens prägte. Die Tänze »erobern« Europa und bringen den zivilisationsmüden Weißen jenen Schuss Lebendigkeit, der ihnen angeblich immer wieder abhanden kommt. Die Herkunft dieser Überwältigungsfantasie wird nicht analysiert, sondern deskriptiv und illustrativ wiederholt, als habe es sich tatsächlich um übermächtige »Naturereignisse« gehandelt, die von Außen auf Europa hereinbrachen.50 Wie die Wilden reduziert die Beziehungen rund um den Atlantik auf ein Verhältnis von Angebot und Nachfrage und beschreibt Blackness als immer schon existierende Ressource, die sich die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Bedürfnis nach warenförmigen Substituten für einen angeblich inhärenten Mangel aneignete. Obwohl es an der Oberfläche – von einem Tanz zum nächsten – um Veränderung in der Zeit geht, bleibt so im Grunde genommen alles gleich: schwarz und weiß, Europa und der Rest. Zudem wird eine Verfallsgeschichte erzählt. Wie die Wilden endet in den 1980er Jahren, der Gegenwart der Autoren: Das letzte Kapitel diskutiert das Phänomen von »Tanz-Werkstätten« in leerstehenden Fabriken und kritisiert die alternative Szene, die in Individualismus und Selbsterfahrungskursen zu zerfallen drohe. Es würde sich anbieten, die umfunktionierten Fabriken in einer veränderten post-fordistischen Ökonomie zu verorten, ins Verhältnis zur Geschichte der Migration zu setzen und zu fragen, wer diese afrikanischen Tanzworkshops denn angeboten hat. Doch unter dem Stichwort »Kultur,
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Helmut Günther: Die Tänze und Riten der Afroamerikaner. Vom Kongo bis Samba und Soul, Bonn 1982; ders.: Jazz Dance. Geschichte, Theorie, Praxis, Wilhelmshaven 1984. Astrid Eichstedt/Bernd Polster: Wie die Wilden. Tänze auf der Höhe ihrer Zeit, Berlin 1985; einen guten Überblick bietet auch der Aufsatz von Fred Ritzel: Synkopen-Tänze. Über den Import afroamerikanischer Musik aus Amerika in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 161-183. Vgl. Astrid Eichstedt/Bernd Polster: Den Zeitgeist im Leib. Eine Kulturgeschichte der Tanzwellen im 20. Jahrhundert, in: Ballett-Journal. Das Tanzarchiv. Zeitschrift für Tanzpädagogik und Ballett-Theater 1986 1986 (1): S. 68-71; (2): S. 54-60; (3): S. 84-87; (4): S. 72-76. Jeder dieser vier Teile begann mit dem immer gleichen Satz: »Sie brachen herein wie Naturereignisse, die Tanzwellen des 20. Jahrhunderts.«
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Körper, Konsum« sehen Eichstedt/Polster nur eine um sich greifende Fitness-Kultur und damit eine Wiederholung der Geschichte am Werk: »Erneut wurde der Tanz, wie schon einmal in den 1920er Jahren, von bürgerlichen Schichten als Arznei gegen Zivilisationsverkrampfungen entdeckt.«51 Doch bei den Modetänzen des 20. Jahrhunderts handelte es sich durchaus nicht um einen vorindustriellen Rohstoff, sondern um Körpertechniken, die aus der Auseinandersetzung mit modernen Arbeitsregimes entstanden. Wie die Wilden endet mit einer irritierenden Essentialisierung von »Tanzkulturen«, die zu den komplexen Entstehungsgeschichten der Modetänze, die das Buch gerade angedeutet hat, nicht passen will: »Tänze lassen sich nicht einfach aus ihren Zeiten und ihren Räumen herausreißen.« Was der Gegenwart fehle, seien Bewegungen, die »allen gemeinsam seien«.52 Diese Situation – »alle gemeinsam« – war aber in jedem der Tänze, die das Buch behandelt, höchst problematisch. Was war »gemeinsam« in einer Situation, in der Cancan-Tänzerinnen im 19. Jahrhundert ihren männlichen Zuschauern die Melone vom Kopf kickten? Was war gemeinsam im Cakewalk, wenn die tanzenden Sklav_innen von den lachenden Sklavenhalter_innen beobachtet und begutachtet wurden? Was war gemeinsam, wenn sich die europäische Oberschicht im argentinischen Tango einen proletarischen Schiebetanz aneignete, den es weniger virtuos in den eigenen Vorstädten schon jahrzehntelang gegeben hatte?53 Wie die Wilden verankert Exotismus ursprünglich im Kolonialismus und nimmt Gemeinschaft als immer schon konstituiert an – auf der einen Seite die deutschen/europäischen/weißen Nachtänzer, auf der anderen Seite ihre ursprünglichen Produzenten, von deren Tänzen eine ansteckende Macht ausging, die eine bürgerliche Ordnung in Frage stellen konnte. Bezeichnenderweise unterstellten die Autoren der eigenen Gegenwart der 1980er Jahre, gegen die Macht der Ansteckung immun geworden zu sein. Möglicherweise konnten die Autoren Mitte der 1980er Jahre nicht absehen, welche Dynamik das Tanzen angesichts von Hip Hop, Break Dance und Techno, von Tango und Salsa annehmen würde. Aber mit dem Abstand von zwanzig Jahren wird auch klar, was am Interpretationsmuster »Exotismus« und »Revitalisierung« immer schon problematisch war: Deutschland und Europa werden als Territorien adressiert, in denen scheinbar nur Weiße leben und in denen es keine Migration gibt.54 Als in den 1980er Jahren afrodeutsche Frauen ihre Geschichte erforschten, deckten sie eine kontinuierliche Präsenz von schwarzen Menschen in Deutschland auf. Die Präsenz schwarzer Kultur in 51 52 53 54
Eichstedt/Polster: Wie die Wilden, S. 135. Eichstedt/Polster: Wie die Wilden, S. 136. Diese Gleichzeitigkeit überhaupt wahrgenommen und beschrieben zu haben, ist aber auch ein großes Verdienst von Wie die Wilden. Vgl. dazu auch die Entstehungsgeschichte von Hip Hop in der Bundesrepublik der 1980er Jahre von Murat Güngör/Hannes Loh: Fear of a Kanak Planet. HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, Höfen 2002.
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Tanzmonden, Varietékultur und Film ist unmittelbar mit der deutschen Kolonialund Migrationsgeschichte verbunden.55 Der Titel Wie die Wilden bekommt aus dieser Perspektive eine andere Bedeutung, denn »wie die Wilden« zu tanzen oder zu handeln, lässt sich aus der Perspektive schwarzer Deutscher schwerlich als Akt der Selbstbefreiung oder Erneuerung deuten, sondern war in erster Linie eine rassistische Anrufung. Zudem unterschlägt diese Metapher, dass die Tänze des Black Atlantic ja gerade nicht maximal different oder exotisch waren, sondern dem europäischen Gesellschaftstanz relativ ähnlich. Ein komplexes und ambivalentes Geflecht von Selbsterfindungen und Fremdidentifikationen, von Übersetzungen und Positionswechseln wird mit einem scheinbar immer gleichen Mechanismus von Exotik, Ersatzhandlung und Ausbeutung erklärt. Historiografien des Cakewalks in Europa Nachdem Jan Nederveen Pieterse in White on Black, einem Buch über rassistische Stereotype schwarzer Menschen in der europäischen Alltagskultur den Cakewalk bereits kurz erwähnte, widmete ihm Jody Blake in ihrer kunstwissenschaftlichen Untersuchung Tumulte Noir über das Verhältnis von Populärkultur und Kunstbetrieb im Paris der Jahrhundertwende mehr Aufmerksamkeit.56 Blake dekonstruiert den Diskurs um Primitivismus, der selten zwischen afroamerikanischen und afrikanischen Einflüssen unterschied und markiert den Cakewalk als entschieden modernes Produkt.57 Rae Beth Gordon nimmt diesen Faden auf und situiert die französische Rezeption des Cakewalk in den populär-wissenschaftlichen Diskursen der Zeit, die von Nervosität über Epilepsie und die Rezeption von sozialdarwinistischer Degenerationstheorie reichten. Sie untersucht, wie Tänzerinnen den Cakewalk in ihre Auftritte in den café-concerts und music halls von Paris integrierten, wo sie bereits mit »epileptischen Tänzen« aufgetreten waren. Sie integrierten Gesten und 55
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Katharina Oguntoye/May Opitz/Dagmar Schultz (Hg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Frankfurt am Main 1992. Diese Forschungsrichtung hat sich seither kontinuierlich weiterentwickelt. Vgl. Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009; Susann Lewerenz: Die Deutsche Afrika Schau (1935-1940). Rassismus, Kolonialrevisionismus und postkoloniale Auseinandersetzungen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt am Main 2006; Peter Martin/Christine Alonzo (Hg.): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus, Hamburg/München 2004; Fatima ElTayeb: Schwarze Deutsche. Der Diskurs um Rasse und nationale Identität, 1890-1933, Frankfurt am Main 2001; Katharina Oguntoye: Eine afro-deutsche Geschichte. Zur Lebenssituation von Afrikanern und Afro-Deutschen in Deutschland, 1884-1950, Berlin 1997. Jan Nederven Pieterse: White on Black. Images of Africans and Blacks in Western Popular Culture, New Haven 1998, S. 136 ff. Jody Blake: Le Tumulte Noir. Modernist Art and Popular Entertainment in Jazz-Age Paris, 1900-1930, University Park PA 1999.
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Körperbewegungen, die mit Geisteskrankheit assoziiert waren, in ihre Tänze. Ausgerechnet diese Frauen griffen den Cakewalk zuerst auf der Bühne auf.58 In ihrem neuen Buch Dances With Darwin behandelt Gordon diese komplexen Austauschprozesse unter dem Oberbegriff »unconscious imitation«, ein Phänomen, das um 1900 selbst Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung war.59 Sie zeigt, dass die Lust an spektakulär inszenierten Abweichungen von gesellschaftlichen Normen in der französischen Populärkultur nicht erst mit der Ankunft des Cakewalks anfing, sondern dass seine Ankunft bereits bestehende polemische Relationen ausweitete und darin neue Bezüge herstellte. Gordon rekonstruiert ein primitivistisch-pathologisierendes Rezeptionsmuster im Cakewalk, aber es ist das einzige, das sie untersucht. Sie setzt es von vornherein als hegemonial. Doch fand auf den Tanzflächen dasselbe statt wie auf Bühnen, in Karikaturen und Kommentaren? Hatten die Pariser_innen wirklich Angst vor Ansteckung und Rassenmischung, oder sollten diese Diskurse nicht eher andere Beziehungen und Bezugnahmen unterbrechen und undenkbar machen? Gab es nur eine Strategie der Rassifizierung oder verschiedene?60 In einem anderen Text über den Cakewalk in Paris ist eine Karikatur abgedruckt, in der ein schwarzer Minstrel eine Gruppe Pariser Polizisten auslacht, die in Formation einen Cakewalk tanzen. 61 In Gordons Arbeit kommen solche Bilder nicht vor, sie will von den Debatten um Ansteckung auf eine »anthropology of gesture« schließen. Das Verhältnis von Europa, Afrika und Amerika erschöpft sich in Allgemeinplätzen, es hat keine Geschichte und verändert sich auch nicht. Blake und Gordon analysieren Paris als zentrale Bühne, auf der in Auseinandersetzung mit außereuropäischem Repertoire aus den Amerikas und den französischen Kolonien »die kulturelle Moderne« entstand. Dagegen setzt dieses Buch verschiedene Entstehungsgeschichten an verschiedenen Orten zueinander ins Verhältnis. Paris und London werden in Relation zu New York und Buenos Aires diskutiert, als wichtige Bezugspunkte im zeitgenössischen Metropolendiskurs, die aber ereignisgeschichtlich nur zwei von vielen Transitstationen des Cakewalks waren. Denn überall schloss der Tanz unterschiedlich an lokale Konfliktfelder und vorhandene
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Rae Beth Gordon: Natural Rhythm. La Parisienne Dances with Darwin, 1875-1910, in: Modernism/Modernity 19/4 (2003), S. 617-656; dies.: Fashion and the White Savage in the Parisian Music Hall, in: Fashion Theory 8/3 (2004), S. 267-300. Rae Beth Gordon: Dances with Darwin 1875-1910. Vernacular Modernity in France, Farnham 2009, S. 19-33. Vgl. die Kritik an Gordon in Mara Guesnet: La Folie du Cakewalk. Tanz und race in Paris um 1900, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Köln, 2011. Vgl. Davinia Caddy: Parisian Cake Walks, in: 19th-Century Music 2007 30 (3): S. 288317, hier: S. 297.
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Repertoires an, wie Aufsätze über die Rezeption von Cakewalk in London und Wien bereits belegt haben.62 Gesellschaftstanz in der Tanzwissenschaft Inge Baxmann fragt in Mythos Gemeinschaft nach dem Zusammenhang von Körperpraktiken und der politischen Verfasstheit moderner Gesellschaften. Sie untersucht die Entstehung des modernen Ausdruckstanzes in den Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und rekonstruiert von dort aus Kontinuitäten zu den politisch-ästhetischen Projekten, die sich im Deutschland der 1930er Jahre in dezidiert national-faschistischer Ausprägung durchsetzten. Tanzen wird hier als »Kristallisationspunkt« eines diskursiven Raums konzipiert, der um die Frage kreiste, was moderne Gesellschaften, die sich auf keine transzendente Begründung mehr berufen können, zusammenhalten könnte.63 Tanzen habe sich in seinem mimetischen Vermögen als Ersatz angeboten, um ein fehlendes sakrales Element von Gemeinschaft zu substituieren. Doch die Europäer_innen hätten sich nicht oder nicht genug von den Traditionen der Ekstase anstecken lassen, wie sie in schwarzen Tanztraditionen weiterentwickelt worden waren und wie sie der Moderne im Jazztanz zur Verfügung gestanden hätten. Diese Elemente seien in der westeuropäischen Zivilisation und ihrem christlich geprägten Verständnis von Gemeinschaft gebremst aufgenommen worden. Trotz der Polemisierung gegen die Unterdrückung des Körpers in der bürgerlich-westlichen Gesellschaft habe der moderne Tanz den Körper remoralisiert und das Potential von Jazztanz in den 1920er und 30er Jahren in erster Linie als bedrohliche Entgrenzung wahrgenommen. Statt einer Identifikation mit schwarzen Tänzen habe ihre Rezeption Abschließungs- und Abgrenzungsstrategien der Nationalisierung und Rassifizierung auf den Plan gerufen. Auch die radikalen Theoretikerinnen und Praktikerinnen des Ausdruckstanzes hätten damals ein Dogma vom »aufrechten Menschen« vertreten, dessen Kopf die Glieder kontrolliere.64 62
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Zum Verhältnis von ungarischer Czardas und Cakewalk um 1900 in Wien vgl. James Deaville: Cakewalk in Waltz Time? African-American Music in Jahrhundertwende Vienna, in: Susan Ingram/Markus Reisenleitner/Cornelia Szabó-Knotik (Hg.): Reverberations. Representations of Modernity, Tradition and Cultural Value in-between Central Europa and North America, Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 17-40; zu London vgl. Jeffrey P. Green: ›In Dahomey‹ in London in 1903, in: The Black Perspective in Music 1993 11 (1): S. 22-40. »Gegen die Abstraktion des Warentauschs und ein Vertragsmodell von Gesellschaft suchten die kommunitären Projekte der Moderne nach neuen Formen sozialer Einheit. Die Versuche, über eine neue Wahrnehmungs- und Sinneskultur gemeinschaftsstiftende Energien zu befreien, bündelten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Faszinationen und eröffneten ein Feld kulturanthropologischer Reflexion.« Inge Baxmann: Mythos. Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne, München 2000, S. 253. Baxmann, Mythos, S. 257.
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Baxmanns Untersuchung belegt eindrücklich, warum »dem Tanz« kein inhärent befreiendes oder emanzipatives Moment zu Eigen ist, auch nicht oder gerade dann nicht, wenn er im Namen der Freiheit praktiziert wurde. Ähnlich wie Mythos Gemeinschaft für den Bühnentanz zeigt auch Körper in Schieflage für den reformierten Gesellschaftstanz der 1920er und 30er Jahre eine Re-Moralisierung des Körpers auf. Doch gleichzeitig zeigt sich, dass das Verhältnis von schwarzen Tänzen und westeuropäischer Zivilisation komplexer war, als Baxmann annimmt. Sie setzt schwarz und afroamerikanisch ebenso synonym wie modern, europäisch und weiß. Obwohl sie nach dem Zusammenhang von moderner Tanzkultur und Faschismus fragt, spielt der Gesellschaftstanz keine Rolle, dabei gelang es noch im Nationalsozialismus nur unter Schwierigkeiten, mit der enormen Nachfrage nach Jazzmusik und dem hartnäckigen Swingen auf den Tanzflächen zu Rande zu kommen.65 Mythos Gemeinschaft erzählt die Geschichte des Ausdruckstanzes tendenziell von ihrem nationalistischen, faschistischen oder selbstzerstörerischen Ende her und fluchtet diese Dynamik auf einen angeblichen Ursprung im Christentum. Dies gelingt nicht zuletzt dadurch, dass das Buch afroamerikanische Tanzgeschichte als per se widerständig essentialisiert und in dieser Vereinnahmung aus der eigenen Fragestellung ausschließt. Dabei waren afroamerikanische Tänze wie alle kulturellen oder künstlerischen Praktiken nicht per se widerständig, sondern entfalteten ihre Effekte immer erst im Spannungsverhältnis zu den Verhältnissen, in denen sie agierten. Sie sind auch nicht das Andere einer christlichen Tradition. Vielmehr waren Gospel und Spirituals die ersten Medien einer Verbreitung von schwarzer Kultur in Europa seit dem frühen 19. Jahrhundert und belegen eindrücklich die Präsenz einer schwarzen christlichen Tradition.66 Auch in der afroamerikanischen Mittelschicht war Tanzen in Jook Joints verpönt und Tanzen in afroamerikanischen Kirchen streng reglementiert.67 Unterschiede ergeben sich deshalb nicht allein aus den afrikanischen Wurzeln dieser Tänze, sondern aus der Geschichte, in der sie entstanden, und diese Geschichte lässt sich nicht fein säuberlich von der eigenen Geschichte trennen. Mythos Gemeinschaft belegt eindrücklich, dass auch eine explizit europäisch formulierte Fragestellung zum modernen Tanz im 20. Jahrhundert implizit den
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Vgl. Kap. III.4. Mobilmachung. Linebaugh und Rediker zeigen zudem, dass ihre Aneignung der christlichen Tradition des Jubilee Teil einer transatlantischen Bewegung war, die im 18. und 19. Jahrhundert diese Form der Befreiungstheologie entwickelte, vgl. Peter Linebaugh/Marcus Rediker: The Many-Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston MA 2000, S. 290-300. Vgl. P. Sterling Stuckey: Christian Conversion and the Challenge of Dance, in: Thomas F. DeFrantz (Hg.): Dancing Many Drums. Excavations in African American Dance, Madison WI/London 2002, S. 39-58; Teresa L. Reed: The Holy Profane: Religion in Black Popular Music, Lexington KY 2003, S. 89 ff.
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transatlantischen Resonanzraum mit aufruft, dessen postkoloniale und rassismuskritische Rekonstruktion im Zentrum dieses Buches steht. FrauenKörperTanz von Gabriele Klein untersucht im Anschluss an Norbert Elias Tanzen als Spiegel gesellschaftlicher Veränderung und rekonstruiert die Transformation des Gesellschaftstanzes im 20. Jahrhundert in Relation zur langen Geschichte eines Zivilisationsprozesses.68 Sie stellt die Geschichte des Gesellschaftstanzes und die Entstehung von Tanz als Kunstform als wechselseitig verflochtenes gesellschaftliches Verhältnis dar. Ein Auf und Ab von Revolution und Restauration wird ins Verhältnis zu einem langfristigen Trend veränderter Subjektivität in der Moderne gesetzt, die zunehmend auf Selbstkontrolle und Selbstdistanzierung setzte. Tanzen drückt aus dieser Perspektive einen Wunsch nach Befreiung aus und markiert zugleich den Übergang von alten in neue Abhängigkeiten. Während die Ambivalenz des Projekts Selbstbefreiung überzeugt, bleibt die Historisierung dieses Selbst aus. Ähnlich wie bei Baxmann ist die Welt außerhalb Europas Projektionsfläche für eine als essentiell anders wahrgenommene Kultur, die lediglich Material für AntiHaltungen zur Verfügung stellte. Als Philosophie, Wissenstechnik oder Kommunikationsweise wird sie nicht als Teil der Moderne analysiert. Die neuen Gesellschaftstänze seien »schlicht das Medium [gewesen], mit dem sich die Lust auf körperliche Ekstase ausleben ließ.«69 Spontan und eruptiv hätten Umbruchstendenzen in der neuen Tanzlust ihren Ausdruck gefunden. Das würde bedeuten, dass diese Tänze in Europa nur ein Ventil für überschüssige Energie waren. Warum die Leute aber genau diese auswählten – es waren auf Jahrmärkten, in Völkerschauen und Weltausstellungen noch viel exotischere zu sehen –, lässt sich so nicht erklären. Die Dynamik wird zeitlich zudem allein in der Weimarer Republik verortet und die Geschichte des Cakewalks im Kaiserreich ausgeblendet. Ein »wahrer Tanztaumel« sei nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, eine »Parkettrevolution«, die symptomatisch für die verlorene politische Revolution gewesen sei.70 Klein interpretiert das, was die Europäer_innen nachtanzten als »in die abendländische Körpertradition gepresste Form volkstümlicher Tänze afrikanischer Herkunft«.71 Schwarze Tänze und schwarze Kultur werden so auf den Status von Volkskultur afrikanischer Herkunft reduziert. Abendländische Körpertradition formt scheinbar übermächtig afrikanische Kultur. Tänze, die in Auseinandersetzung mit Sklaverei und Rassismus, Segregation und Arbeitszwang entstanden, werden 68
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Dieses Interpretationsmuster findet sich auch in Monika Fink: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert, Innsbruck 1996, die ebenfalls mit Norbert Elias' Zivilisationstheorie argumentiert. Gabriele Klein: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, Weinheim/Berlin 1992, S. 157. Klein, FrauenKörperTanz, S. 168. Klein, FrauenKörperTanz, S. 225.
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behandelt, als gehörten sie nicht zur Geschichte von Tanzen im Zivilisationsprozess, sondern zu einer anderen Vergangenheit, die von ihrem vormodernen Ursprung zehrt. Schwarze Tänze spielen hier wieder eine ähnliche Rolle wie in Baxmanns Mythos Gemeinschaft – sie sind das Gegenüber einer eurozentristisch konzipierten Geschichte gescheiterter Selbstbefreiung. Kaspar Maase verweist in Grenzenloses Vergnügen, einer Arbeit über die Entstehung von Massenkultur im 19. und 20. Jahrhundert, auf das Phänomen schwarzer Modetänze, verhandelt es aber unter der Überschrift »Tanzfieber«, ohne diesen Diskurs der Ansteckung zu analysieren.72 Fieber und Epidemien ersetzten nach wie vor die Frage nach Akteuren und Kräften dieser Dynamik, die nationale und eurozentristische Konstruktionen des Forschungsgegenstands sprengen. Sie sind symptomatisch dafür, dass ihre Geschichte eigentlich noch nicht erzählt wurde. Tanzen in der Geschichtswissenschaft Während Tanzen in den Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zu einem prominenten Gegenstand avancierte, spielt es in der deutschen Geschichtswissenschaft eine untergeordnete Rolle. In Überblicksdarstellungen zur Geschichte des deutschen Kaiserreichs werden Veränderungen im Gesellschaftstanz als einer der vielen Anfänge moderner Massenkultur interpretiert, neben veränderten Konsum-, Verkehrs- und sonstigen Unterhaltungsmöglichkeiten, die sich den Menschen im Zuge der Industrialisierung eröffneten.73 Stadt wird hier als Integrationsmaschine gedacht, die von den pushund-pull-Faktoren der Migration angeheizt wird. Der Antagonismus verläuft in Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte zwischen Modernisierungsfähigkeit und Traditionsmacht. Erstere steht für die Durchsetzung einer bürgerlichen Gesellschaft, letztere für ihre Blockade.74 Die Tanzsäle des 19. und 20. Jahrhunderts waren sicherlich Teil solcher Prozesse der Integration, doch ihre Produktivität ging in dem von Wehler konstruierten Antagonismus nicht auf. Das Repertoire des Black Atlantic erlaubte vielmehr, einer weißen, bürgerlichen Subjektivität die Definitionsmacht über Begriffe wie Tradition und Moderne wieder streitig zu machen. Der Historiker August Nitschke, einer der Begründer der historischen Anthropologie in Deutschland, hat sich dem Tanzen ausführlicher gewidmet. In seinem Buch Körper in Bewegung fragt er, welchen Unterschied es für die Wahrnehmung der Realität macht, wie sich die Menschen im Raum bewegten. Veränderungen sei72 73 74
Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1871-1918, Frankfurt am Main 1997. Vgl. Volker Ulrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt am Main 1997. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1849-1914, München 1995, S. 1253-1257.
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en nicht nur darauf zurückzuführen, dass sich die Menschen oder die Strukturen verändert hätten, sondern auch auf veränderte Bewegungsweisen und neue Interaktionsmöglichkeiten zwischen Menschen und Dingen.75 In Der Kult der Bewegung schreibt Nitschke über die Zeit um 1900 und analysiert veränderte Körperbewegungen beim Turnen, der rhythmischen Gymnastik und schwarzen Modetänzen. Seine Analyse sticht heraus, weil er Tanz nicht nur als Spiegel gesellschaftlicher Veränderung interpretiert, sondern als Praxis, die selbst Veränderung ermöglichte und unterschiedlichen Interessen zugute kam. Sie ist als Teil gesellschaftlicher Konflikte gedacht.76 Nach Nitschke verfolgten die Verfechter oder Kritiker der einen oder anderen Praxis unterschiedliche Ordnungsvorstellungen.77 Jazztanz habe sich Zweck-Mittel-Relationen entzogen und stattdessen die Wahrnehmung von Gleichzeitigkeiten intensiviert. Dass daraus Handlungsmacht und Veränderungspotential erwuchs, zeigt auch dieses Buch. Nitschke schließt von zeitgenössischen Kommentaren eins zu eins auf die Tänze und die Subjektivität der Tänzer_innen. Die Zeitgenossen hätten die »eigentümliche Freiheit«, die im Erlernen von isolierten Körperbewegungen liegt, nicht verstanden. Der heterogene Quellenkorpus dieser Untersuchung legt dagegen eine Geschichte der Wahrnehmungen frei, die nicht nur von (immer gleichen) Irrtümern und Missverständnissen geprägt war, sondern auch von Momenten der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis. Koloniale Logiken und Wissensbestände waren nicht für alle gleich selbstverständlich, sondern zirkulierten in einem Feld, in dem auch andere Haltungen und andere Selbstimaginationen möglich waren. Möglich ist ein solcher Reduktionismus bei Nitschke auf Grund einer eingeschränkten Quellenbasis und weil er die Tänze auf afrikanische Wurzeln und ihre Herkunft in der Zeit der Sklaverei reduziert. Wieder ist die Kultur der Diaspora nur ein Medium, diesmal um afrikanische Rhythmen nach Europa zu transportieren, wo sie dann in den Ohren der europäischen Avantgarde auf fruchtbaren Boden fielen. Der Aufbruch in die Moderne, so der Untertitel des Sammelbandes, in dem der Text erschien, wäre damit wieder von dieser europäischen Avantgarde vollzogen worden und schwarze Tänze, Rhythmen und Musik lediglich das Rohmaterial, aus dem diese kulturelle Moderne geschaffen wurde.78 Damit unterläuft der Text den Anspruch
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August Nitschke: Körper in Bewegung. Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte, Stuttgart 1989. August Nitschke: Der Kult der Bewegung. Turnen, Rhythmik und neue Tänze, in: ders./Gerhard A. Ritter/Detlev Peukert/Rüder vom Bruch (Hg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, Reinbek 1990, S. 258-285. Nitschke, Der Kult der Bewegung, S. 277-278. Vgl. die Ausstellung Black Paris über die Rezeption der Kultur der Schwarzen Diaspora in Paris durch weiße, europäische Künstler_innen. Der Cakewalk ist »Vorgeschichte« und geht scheinbar gänzlich in einem exotistischen, revitalisierenden Gebrauch auf. To-
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Nitschkes selbst, wie er ihn in Körper in Bewegung formuliert, wo er andere Konzepte von Handlungsmacht für die Geschichtswissenschaft zu erschließen versucht, die Resonanzbeziehungen und komplexe Interaktionsgefüge untersuchen. In der Geschichtswissenschaft der USA finden sich bereits mehr sozialgeschichtliche Untersuchungen zur Alltagsgeschichte des Tanzens im Übergang von 19. zum 20. Jahrhundert. Linda Tomko analysiert in Dancing Class die Transformation der Tanztraditionen europäischer Einwanderer in Städten wie New York und Chicago zu einer amerikanischen und verknüpft diese mit Konzepten aus der Körper- und Geschlechtergeschichte, die das Verhältnis von Tanzen und Arbeiten, von geschlechtlicher Arbeitsteilung und ethnischer Differenzierung behandeln. Doch der Zusammenhang mit der Entstehung schwarzer Tänze bleibt relativ unbestimmt.79 Der Historiografie in den USA fiel es lange schwer, die Transformation des auf europäische Vorbilder zurückgehenden Gesellschaftstanzes und die afroamerikanische Tanzgeschichte in einer Untersuchung zu synthetisieren.80 Manche setzten die Geschichte von Jazz Dance mit dem »American vernacular« gleich und erzählten sie durchweg in Form von oral histories aus der Perspektive von Afroamerikaner_innen.81 Doch mittlerweile wächst die Aufmerksamkeit für Tanzen in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, die einen solchen Versuch unternehmen.82 Anders als in der europäischen Geschichtsschreibung geht die afroamerikanische nicht von der »Wildheit« dieser Tänze aus, sondern betont die Coolness und Lässigkeit, also das Gegenteil von einem rauschhaften und fiebrigen Zustand der Selbstverausgabung unter Aufgabe von Körpergrenzen und Normen.83 In seiner
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bias Wendl/Bettina Lintig/Kerstin Pinther (Hg.): Black Paris. Kunst und Geschichte einer schwarzen Diaspora, Wuppertal 2006. Vgl. Linda J. Tomko: Dancing Class. Gender, Ethnicity, and Social Divisions in American Dance, 1890-1920, Bloomington 1999; ein ähnliches Problem, unterschiedliche Rassismen miteinander in Beziehung zu setzen, zeigt sich auch in Kathy Peiss: Cheap Amusements. Working Women and Leisure in Turn-of-the-Century, New York/Philadelphia 1986. Systematischer versucht dies Mark Franko: The Work of Dance. Labor, Movement and Identity in the 1930s, Middletown CT 2002, allerdings nicht für den Gesellschaftstanz, sondern den Bühnentanz. Vgl. dazu jüngst Ralph G. Giordano: Social Dancing in America. A History and Reference, Westport CT/London 2007. Vgl. Marshall Stearns/Jean Stearns: Jazz Dance. The Story of American Vernacular Dance, New York 1994, Erstausgabe 1968. Vgl. Julie Malnig (Hg.): Ballroom, Boogie, Shimmy Sham, Shake. A Social and Popular Dance Reader, Urbana IL/Chicago 2009; Ned Sublette: The World That Made New Orleans. From Spanish Silver to Congo Square, Chicago IL 2008. Tanzen ist hier eine zentrale Quelle, um die Transformationen von New Orleans zwischen karibischem Archipelago und kontinental-amerikanischem Imperialismus zu bestimmen. Im Gegenteil verweist die Ästhetik der Coolness auf eine Philosophie der Balance, vgl. Robert Farris Thompson: An Aesthetic of the Cool. West African Dance (1966), in: Ge-
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Studie Race Rebels widmet sich Robin D. G. Kelley unter anderem dem Phänomen Lindy Hop und der subproletarischen Kultur der Zoot Suits der 1940er Jahre, um die Politik von Malcolm X, seine Chancen und sein Scheitern, zu verorten. Kelley betont die relative Autonomie von Orten wie dance halls gerade auch gegenüber Vorbehalten der schwarzen Kirchen gegenüber dem Tanzen oder kleinbürgerlichen Ressentiments innerhalb der schwarzen Community.84 Ähnlich argumentiert Katrina Hazzard-Gordon in Jookin, die das Tanzen einerseits in eine Kontinuität des Widerstands gegen Sklaverei, Rassismus und Ausbeutung stellt und die Praxis zugleich ins Verhältnis zur Great Migration setzt, in der eine urbane schwarze Kultur entstand, die sich von bürgerlichen Imperativen der Integration absetzte, wie sie gerade auch von afroamerikanischen Eliten formuliert wurden.85 Hazzard-Gordons rekonstruiert die institutionellen Rahmenbedingungen der neuen Tänze in Relation zur herrschenden Ökonomie. Sie zeigt, wie sie entlang mikropolitischer Konfliktlinien entstanden, die sich quer durch die Gesellschaft zogen und Konflikte innerhalb der schwarzen Community ebenso umfassten wie Widerstand gegen den hegemonialen Rassismus der Segregation. Hazzard-Gordon und Kelley betonen den subproletarischen Charakter vieler Orte, an denen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Tänze erfunden wurden, deren enorme Kommunikationsfähigkeit die Geschichte des Tanzens im Black Atlantic das 20. Jahrhunderts prägte. Anders argumentiert Brenda Dixon Gottschild, die in der Geschichte schwarzer Tanzmoden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine lineare Entwicklung ausmacht, von der erzwungenen Anpassung an europäische Muster hin zu einer zunehmenden Befreiung von diesen Restriktionen.86 Vom Cakewalk über den Charleston sieht sie eine Afrikanisierung am Werk, in der afroamerikanische Tänzerinnen und Tänzer mehr und mehr zu sich selbst gefunden hätten. Diese linearisierte Lektüre bewertet das Repertoire an Tänzen im Nachhinein an normativen Kriterien, die in jedem historischen Moment nicht gegeben, sondern höchst umstritten waren.87 Denn sie zeigt zugleich, dass die Nachfrage nach schwarzen Tänzen im Unterhaltungsgewerbe eine für alle Beteiligten ambivalente und strategisch aufgeladene Situation erzeugte.88 Sozialgeschichtliche Untersuchungen betonen außerdem, dass es beim
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na Dagel Caponi (Hg.): Signifyin(g), Sanctifyin', & Slam Dunking. A Reader in AfricanAmerican Expressive Culture, Amherst 1999, S. 72-86. Robin D. G. Kelley: Race Rebels. Culture, Politics, and the Black Working Class, New York 1996, S. 163 ff. Katrina Hazzard-Gordon: Jookin'. The Rise of Social Dance Formations in AfricanAmerican Culture, Philadelphia PA 1990. Brenda Dixon Gottschild: The Black Dancing Body. A Geography from Coon to Cool, New York 2003. Das zeigt sie auch selbst in Gottschild, Digging, S. 81 ff. Vgl. auch die Debatten um den Status von Tanz in der Harlem Renaissance in Wendy Perron: Dance in the Harlem Renaissance. Sowing the Seeds, in: Dorothea Fischer-
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Tanzen nicht darum ging, Freiheit auszudrücken, sondern darum, sich ganz konkrete Freiheiten im Alltag zu nehmen. In ihrem Buch To 'Joy My Freedom erzählt Tera W. Hunter von afroamerikanischen Dienstmädchen, die lieber die Nächte durchtanzten, auch gegen den Willen ihrer weißen Arbeitgeber oder die Vorbehalte der afroamerikanischen Mittelklasse, als sich eine nach den Maßstäben bürgerlicher Reformer_innen sinnvolle Freizeitbeschäftigung zu suchen.89 Relevante Bezugspunkte für diese Arbeit finden sich auch in den geschichtswissenschaftlichen Debatten um Methoden transnationaler Geschichtsschreibung und Ansätze einer neuen Globalgeschichte.90 In Die Geburt der modernen Welt untersucht Christopher Bayly das lange 19. Jahrhundert als Verbindung verschiedener Gesellschaften rund um den Globus, die »vermischte politische Ordnungen« hervorgebracht hätten.91 Bayly argumentiert auch kulturgeschichtlich, wenn er in der Einleitung die tendenzielle Angleichung von Körperpraktiken registriert, die er teils einem Streit um Aneignung zurechnet, teils als Effekt kolonialen Zwangs kennzeichnet. Doch die Impulse der Veränderung gehen von einem europäischen Zentrum aus und werden in den globalen Verflechtungen lediglich modifiziert und mit bereits vorhandenen Traditionen gemischt. Die Routen der Vermischung folgen den Routen der Expansion.92 Diese Vorstellung von Vermischung unterscheidet sich von dem, was in den Subaltern Studies als »entangled history« bezeichnet wurde.93 Anders als in Narrativen von Hybridisierung geht es um Konfliktlinien, die sowohl westliche wie nichtwestliche, koloniale wie metropolitane Situationen durchzogen. In Deutschland hat besonders Shalini Randeria in Geteilte Geschichte und verwobene Moderne dafür plädiert, nach Theorien zu suchen, die »relational, offen und sensibel gegenüber verflochtenen Mustern« sind. Die Fiktion von ursprünglich reinen Kulturen und der »Unreinheit« historischer Prozesse müsse aufgeben werden. Es gebe nicht eine (implizit) europäische Moderne und außereuropäische Varianten davon, sondern die
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Hornung/Alison D. Goeller (Hg.): EmBODYing Liberation. The Black Body in American Dance, Hamburg 2001, S. 23-39. Tera W. Hunter, To 'Joy My Freedom. Southern Black Women's Lives and Labors after the Civil War, Cambridge MA 1997, S. 168-186, hier: S. 179. Vgl. Angelika Epple/Angelika Schaser (Hg.): Gendering Historiography. Beyond National Canons, Frankfurt am Main 2009; Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006. Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 17801914, Frankfurt/New York 2006, S. 13. Bayly, Geburt, S. 35. Vgl. Shalini Randeria: Entangled Histories of Uneven Modernities. Civil Society, Caste Solidarities and the Post-Colonial State in India, in: Yehuda Elkana u.a. (Hg.): Unraveling Ties. From Social Cohesion to New Practices of Connectedness, Frankfurt am Main/New York 2002, S. 284-310.
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Aufgabe der Gegenwart sei es, »multilaterale historische Konfigurationen« zu untersuchen.94 Dipesh Chakrabarty betont in Provincializing Europe ebenfalls, dass nicht nur die Geschichte der Welt, sondern auch die Geschichte Europas aus einer postkolonialen Perspektive geschrieben werden muss. ›Europa‹ ist nicht der Ausgangspunkt, sondern das Ergebnis dieser Geschichte, ein hyperrealer Referenzrahmen, an dessen Herausbildung nicht nur Akteure in Europa, sondern auf der ganzen Welt mitgewirkt hätten. Gerade auch außereuropäische Intellektuelle schufen Europa als einheitlichen Referenzpunkt, um einen Ursprungsort zu markieren, auf den sie sich beziehen und von dem sie sich abgrenzen konnten. Die Rekonstruktion dieses Geschehens stellt indessen Herausforderungen an die Geschichtsschreibung, die in besonderem Maße gefordert sei, keine Geschichte der Sieger zu schreiben. Differenz, so Chakrabarty, dürfe nicht länger verzeitlicht werden, wie sie in der Rede von Anachronismen und Vorwegnahmen häufig narrativiert werde. Ebensowenig genüge ein additives Verständnis von Geschichtsschreibung, das immer nur neue Kapitel zum großen Buch der Geschichte hinzufüge und Zeit als immer schon säkular und linear denke. Statt weiter die Geschichte von Minderheiten zu schreiben, schlägt er vor, eine neue Form zu entwickeln, die es erlaube, »minoritäre Geschichten« zu 95 schreiben. Auf den ersten Blick erscheint das als unmögliches Unterfangen, schließlich ist Geschichte gerade der Gegenbegriff zum Begriff des Werdens im Werk von Gilles Deleuze und Felix Guattari, auf die sich Chakrabarty hier bezieht. Im Minoritärwerden gerät etwas auf Abwege, die Sprache, ein Körperteil, ein Gedanke. Fluchtlinien sind als abstrakte Linien der Mutation gedacht, die Entsubjektivierung ermöglichen und somit aus der retrospektiven Logik von Geschichte herausweisen. Es werde in den herrschenden Begriffen unwahrnehmbar und konstituiere gerade keine (neue) Geschichte. Chakrabarty geht dagegen von Spuren im Archiv aus, die zeigen, dass dieses Werden am historischen Prozess beteiligt war, Reaktionen hervorrief und Widerstände erzeugte. Historische Narrative entledigten sich dieser Dimension häufig, indem sie das, was nicht in eine diagnostizierte Tendenz passe, behandeln, als sei es ein Überrest der Vergangenheit, der nur noch darauf warte, vom Lauf der Zeit behoben zu werden.
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Shalini Randeria: Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn Rüsen/Hanna Leitgeb/Norbert Jegelka (Hg.): Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt am Main 1999, S. 87-96, hier: S. 87. Chakrabarty schließt hier u.a. an Deleuze/Guattaris Lektüre von Kafka an und grenzt Subaltern Studies so von Minority Histories ab, vgl. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton NJ 2000, S. 100-101.
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Wie die obigen Beispiele gezeigt haben, finden sich dieser Ausschluss bestimmter Formen, Objekte, Artikulationsweisen und Akteure aus der Geschichte des Tanzens in vielen Untersuchungen. Sie bemühen Mythen wie das Tanzfieber, sprechen von Ansteckung und Krankheit und erklären die Tänze zu einem Rohmaterial und einem Medium, als seien sie passive Einschreibflächen für die Wünsche, Ängste, Bedürfnisse und Pathologien der westlichen Welt gewesen. Die folgenden Kapitel zeigen, dass dieses Verhältnis zur Welt und zur eigenen Gegenwart mit einem erheblichem Aufwand verbunden war und alles andere als reibungslos funktionierte. Aufbau Der erste Abschnitt Herkunft rekonstruiert vier verschiedene Herkunftslinien des Tanzens im Black Atlantic: Eine erste Linie analysiert die Aktualisierung eines mittelalterlichen Diskurses über Tanzwut in der modernen Medizingeschichtsschreibung und setzt ihn als modernen, pathologisierenden Diskurs ins Verhältnis zu anderen, gleichzeitig kursierenden Fiebern. Sie verhandelten im ausgehenden 19. Jahrhundert gesellschaftspolitische Veränderungen, die von Konsumkultur und Urbanisierung geprägt waren. Eine zweite Linie untersucht anhand von Forschungsliteratur und exemplarischen Primärquellen die Herkunft des europäischen Paartanzes in der Frühen Neuzeit und geht dem dabei entstandenen Streit nach, wem die beim Tanzen erzeugten Kräfte zu Gute kommen sollten – den Tanzenden, oder der Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung. Dieser Streit aktualisierte sich in den Tanzmoden des 20. Jahrhunderts. Das Kapitel stellt den neuen Tänzen, die als stumme Politiken der Pose selbst eine Quelle darstellen, skandalisierende, moralisierende und pädagogisierende Stimmen gegenüber. Hier zeichnen sich bereits Zusammenhänge zwischen verschiedenen Tanzmoden ab wie beispielsweise zwischen Cakewalk und Tango. Eine dritte Herkunftslinie ergibt sich aus der Geschichte der Sklaverei: Das Kapitel untersucht den Blick auf den tanzenden Körper im Verhältnis zum Körper als virtuellem Reservoir von Arbeitskraft. Diese Linie führt zur Forschung über »Ermüdung« im ausgehenden 19. Jahrhundert, die unter den Bedingungen freier Lohnarbeit die Frage nach den Grenzen der Intensivierbarkeit körperlicher Tätigkeit stellte. Als vierte Herkunftslinie untersucht der Abschnitt verschiedene Migrationen, die um 1900 in urbanen Konstellationen aufeinander trafen. Von der Erinnerung an die Flucht vor der Sklaverei über die beginnende Great Migration von Afroamerikaner_innen in den USA zu den sich formierenden nationalstaatlichen Migrationsregimen des 20. Jahrhunderts, die mit dem Diskurs über White Slavery eine gespenstische Wiederauflage des Abolitionsdiskurses unter umgekehrten Vorzeichen lieferten – die Tanzmoden des 20. Jahrhunderts waren eng mit Kämpfen um Bewe-
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gungsfreiheit verbunden. Dieses Kapitel rekonstruiert ein Spannungsverhältnis von Flucht- und Integrationslinien, das den Begriff Color Line prägte. Der Cakewalk tauchte um 1900 an verschiedenen Orten rund um den Atlantik fast gleichzeitig auf Theaterbühnen, Bildpostkarten, Zeitschriften, den Deckblättern von Musiknoten oder in kolonialen Reiseberichten auf. Wer wann mit wem tanzte, war allerdings sehr verschieden. Der zweite Abschnitt Entstehung geht an fünf verschiedenen Orten rund um den Atlantik diesen Spuren nach und setzt sie ins Verhältnis zu den lokal spezifischen Konflikten um die Bedingungen des Zusammenlebens. Bei allen Unterschieden ermöglichte er, überall Fragen von Bürgerschaft und Rechten zu verhandeln, die offiziell geklärt waren, tatsächlich aber als Kämpfe um Rasse, Klasse und Geschlecht den Alltag bestimmten. Dabei werden Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen diesen Orten verdeutlicht, besonders aber wird auf ihre Vernetzung aufmerksam gemacht. Die fünf Kapitel über New York, Buenos Aires, Viktoria (Kamerun), Kapstadt und Berlin zeigen, dass der Cakewalk besonders dort erfolgreich war, wo in der Logik der Segregation etwas fehl am Platz, unerwünscht oder skandalös war. Die Orte stehen nicht exemplarisch für je ein Territorium, sondern dokumentieren Verbindungslinien – materiell über interne und externe Migration, imaginär über die Projektionsflächen eurozentristischer Vorstellungen von Zentrum und Peripherie, und politisch über den Transfer von Konzepten, Begriffen und Posen. Obwohl er lokal je spezifische und unterschiedliche Funktionen erfüllte und verschiedene Akteure involvierte, mobilisierte er überall eine eigentümliche Kraft, zunehmend naturalisierte und rassifizierte soziale Verhältnisse für Momente in polemische Relationen zu verwandeln. Das vierte Kapitel Verwandlung geht methodisch anders vor. Nach der Rekonstruktion dieser Beziehungsgeflechte und Konfliktlinien untersucht Körper in Schieflage exemplarisch Deutschland als Durchgangsstation für transatlantische Medienbewegungen und fragt nach der Art und Weise, wie die Zirkulation von Bildern, Bühnen, Texten und Körperbewegungen die Verwandlungsdynamik des Tanzens im Black Atlantic um 1900 strukturierte. Damit lässt sich medienhistorisch explizit machen, was die Genealogie von Herkunft und Entstehung noch implizit ließ: den Anteil medialer Vermittlung am Phänomen Tanzmoden. Ausgehend von der These, dass Bedeutung stets im Übergang zwischen Medien hervorgebracht wird, in Prozessen der Übersetzung und im konkreten Gebrauch eines Repertoires an Gesten, Haltungen und Bewegungsmustern in verschiedenen medialen Ensembles, zeigt dieser Teil die relative Eigenmacht der Dinge auf, die als Medienbewegungen den Strudel des Black Atlantic mit erzeugten. Der Abschnitt untersucht Rahmung, Schnitt, Bild- und Lichttechniken, Beschriftungen oder andere Nachbearbeitungen von Bildern ebenso wie die Regierungstechniken der Disziplinierung und Normalisierung in Tanzlehrbüchern, die der expansiven Eigendynamik des Phänomens regulierend und pädagogisierend beizukommen versuchten.
I. Herkunft
Tanzfieber: Wissen und Abwehr
Noch immer ist oft von Tanzfiebern die Rede, wenn es um die Rezeption schwarzer Tänze in Europa geht. Sei es, dass der Begriff heute benutzt wird, um das Revival von Paartänzen zu beschreiben, oder dass er illustrativ in der Geschichtsschreibung verwendet wird – die Rede vom Tanzfieber friert das Verhältnis von europäischen und außereuropäischen Tanzkulturen in einer ahistorischen Metapher ein.1 Als Erzählung von sich wiederholenden Abweichungen von einer als selbstverständlich vorausgesetzten Norm ordnet das Tanzfieber Innovationen und Experimente auf urbanen Tanzflächen in ein Raster von Krankheit, Ästhetik und Moral ein, das – so die Fiktion – jeweils nur vorübergehend in Frage gestellt wird. Gibt man den mythischen Moment der Ansteckung in der Erzählung von Tanzmoden auf, eröffnet sich die Möglichkeit, den Diskurs um Tanzfieber und Tanzwut beim Wort zu nehmen und nach den Akteuren zu fragen, denen die Rolle des Erregers zugeschrieben wurde. Wenn es nicht mehr die Immunschwächen weißer Körper waren, die in Krisenzeiten anfällig für unkontrollierte Tanzlust wurden, zeigt sich, welche Herkunft dieser problematisierende Blick auf den tanzenden Körper hat. Dieser Problematisierungsdiskurs der Ansteckung tauchte um 1900 erst vereinzelt auf und bestimmte in den 1920er Jahren maßgeblich die Rezeption von Jazz in Europa.2 Eine Herkunftslinie dieser Pathologisierung führt in das europäische Spätmittelalter und die frühe Neuzeit und zu Quellen, die in der Dynamik des Historismus im 19. Jahrhundert Eingang in die Medizingeschichte fanden. Im ausgehenden 19. Jahrhundert übertrugen verschiedene Krisendiskurse die Disziplinar-
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Vgl. exemplarisch den Thementag Tanzfieber, 3 Sat, 29. April 2012; Darf ich bitten? Deutschland im Tanzfieber, Spiegel TV Extra über Hausfrauen beim Dirty Dancing, Männerpaare beim Führungswechsel und kleine Mädchen beim Shakira-Po-Wackeln, 27. 04. 2006 auf VOX; Ian Driver: Tanzfieber, Von Walzer bis Hip Hop, Ein Jahrhundert in Bildern, Berlin 2001; Don McDonagh: Dance Fever. New York 1979; Abe Peck (Hg.): Dancing Madness, Garden City NY 1976. Vgl. zu den 1920er Jahren den Klassiker von André Levinson: The Negro Dance Under European Eyes, in: Theatre Arts Monthly 1927 (April): S. 282-293.
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techniken gegen Ansteckung aus der Medizin auf die Lösung sozialer Probleme in der Großstadt. Von der Medizingeschichte zum modernen Marketing, von kolonialer Wissensproduktion zur Eigenlogik von Narrativen des Verfalls in der Historiografie des 19. Jahrhunderts – das Kapitel zeigt, wie das Zusammenspiel verschiedener Wissensformationen den Gegenstand Tanzfieber um 1900 hervorbrachte und evident erscheinen ließ. Es zeigt zudem, wie die Erforschung der Affizierbarkeit von Körpern durch Rhythmen und Bewegungen, durch Bilder und Töne das Tanzen zu einem Experimentierfeld für eine intensivierte Wahrnehmung von Veränderung werden ließ, was dem Cakewalk gleichsam das Feld bereitete.
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ALTE NEUE
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Ein Eintrag im Großen Brockhaus von 1957 beschreibt »Tanzsucht« als eine »Ausartung des Tanzes auf massensuggestiver Grundlage«, ausgelöst durch gesellschaftliche Krisenmomente: »In Zeiten starker Bedrückung oder Erregung bei Seuchen, Hungerperioden, Revolutionen oder ähnlichen Anlässen des Gefühls vitaler Lebensbedrohung hat die Massenerregung oft ihren Abfluß in derartigen Erscheinungen gefunden.«3 Neben der »Tanzwut des Pariser Pöbels in der Französischen Revolution« ruft der Eintrag auch die »ansteckende Verbreitung von Ausartungen des Gesellschaftstanzes nach beiden Weltkriegen« in Erinnerung. Es handelt sich bei dem Eintrag aus den 1950er Jahren um den ersten und einzigen, der unter dem Stichwort »Tanzwut« oder »Tanzfieber« auf die moderne Version eines mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Krankheitsbildes verweist.4 Sowohl 1894 und 1929 verwiesen die Stichworte Tanzsucht, Tanzwut und Tanzfieber auf den Sammelbegriff Choreomanie: »[E]ine krankhafte Neigung zu rhythmischen Bewegungen der unteren Extremitäten, auch wohl der Arme, beruht auf einem krankhaften Erregungszustand des Nervensystems und des Geistes, der im Mittelalter zeitweise epidemisch auftrat (Johannis- und Veitstanz). Im 16. Jahrhundert erlosch diese ›Volkskranheit‹ in Deutschland.«5
Dieser Eintrag war vom Zeitalter der Nervosität geprägt, wie die Begriffe »Erregung« und »Nerven« belegen.6 Der Eintrag 1929 ersetzte sie mit dem Verweis auf
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Eintrag »Tanzsucht« in: Der Große Brockhaus, Wiesbaden 1957. Vgl. Der Große Brockhaus, Leipzig 1929. Beide Einträge verweisen als Literaturangabe auf Justus F. C. Hecker: Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, gesammelt und in erweiterter Ausgabe herausgegeben von Dr. August Hirsch, Berlin 1865. Vgl. Brockhaus Konversationslexikon, Berlin/Wien 1894. Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998 und Kap. I.3.
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Psychopathologie und Massensuggestion. In den 1970ern zog der Eintrag keine Verbindung mehr zwischen politischen Umbrüchen und dem angeblichen Ausbruch von Tanzfiebern, »Massenpsychosen« im Tanzen seien in neuerer Zeit »nur noch bei den Naturvölkern« beobachtet worden.7 Drei zeitliche Referenzpunkte lassen sich in diesen Lexikoneinträgen rekonstruieren: Die eigene Gegenwart, die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und das europäische Mittelalter als vermeintlichen Ursprung des Phänomens. Auch der Eintrag von 1957 ging von der eigenen Gegenwart aus, die von Swing, Lindy Hop, Jitterbug und dem beginnenden Rock 'n' Roll geprägt war. Mit dem Begriff der »Ausartung« schloss er an den im Nationalsozialismus so geläufigen Begriff der »Entartung« an, der in der Tradition evolutionärer Geschichtsdeutung des ausgehenden 19. Jahrhunderts stand.8 Zentrale Quelle ist in allen Einträgen Justus Heckers Untersuchung über Die Tanzwuth von 1832, die in Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters 1865 neu aufgelegt worden war. Unter dem Eindruck ethnologischer Forschung über ekstatische Tanzpraktiken außerhalb Europas warf Hecker einen neuen Blick auf die eigene Vergangenheit und rekonstruierte aus spätmittelalterlichen Chroniken die Geschichte der »Tanzwuth« als »Volkskrankheit des Mittelalters«.9 Hecker rätselte ähnlich wie die ursprünglichen Chronisten des Geschehens über die Ursachen des Phänomens, seine Zyklen und regionalen Dynamiken der Ausbreitung in Europa. Als Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts übersetzte er die alte Lesart eines »höllischen Aberglaubens« aber mit dem Begriff der Nervenkrankheit und pathologisierte das Phänomen damit im modernen Sinn. Anlass für diese Fragestellung war die »Wiederentdeckung« ekstatischer Tänze durch Ethnologen in ihren Forschungen außerhalb Europas, die Hecker an einen unbekannten, unerforschten Teil der europäischen Geschichte erinnerten. Ungefähr dreißig Jahre später gab der Arzt und Medizinhistoriker August Hirsch die Monografie in einem Band mit dem Titel Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters neu heraus, unter der Rubrik Psychopathologien.10 Er tilgte nun die Passagen über die Analogie europäischer und außereuropäischer Tanzphänomene mit dem Verweis, neuere Forschung habe ergeben, dass es sich bei letzteren gar nicht wirklich um »Tanzwuth«, sondern um »gewisse magi7 8
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Vgl. Eintrag zu »Tanzsucht« in: Der Große Brockhaus, Wiesbaden 1973. Vgl. Max Nordau: Entartung, Berlin 1892; der Begriff findet sich allerdings bereits 1874 in Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie, wo er eine Geschichtswissenschaft, die sich nicht situiert, die ihre Interessen nicht offen legt, sondern Historie wie einen Selbstzweck betreibt als »entfremdete und deshalb entartete Gewächse« bezeichnet, vgl. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 2005, S. 27. Vgl. Justus F.C. Hecker: Die Tanzwuth. Eine Volkskrankheit des Mittelalters, Berlin 1832. Hecker, Volkskrankheiten.
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sche Proceduren bei Heilung von Kranken« gehandelt habe. Dieser »fromme Betrug« habe einen reisenden Forscher jüngst zu der Erkenntnis geführt, »qu'elle n'existe pas« und damit sei der alte Reisebericht, auf den sich Hecker gestützt habe, widerlegt.11 Damit war ein sauber abgrenzbarer Gegenstand des Wissens konstruiert: die »Tanzwuth« wurde zur Pathologie des Mittelalters, abgegrenzt von religiösen Praktiken der eigenen Gegenwart. Dies gelang, indem Hirsch das europäische Phänomen im ersten Schritt nachträglich zu einer »Nervenkrankheit« erklärte und indem er zeitgenössische Praktiken als Betrug denunzierte. Die »Tanzwuth« als »Volkskrankheit« zu verwissenschaftlichen bedeutete also, es aus dem Bereich des Sakralen ebenso auszuschließen, wie die politische Dimension der Profanierung auszublenden.12 Abgetrennt von der Arena des Religiösen, pathologisiert als Nervenkrankheit des (vormodernen) Mittelalters und denunziert als Betrug nichtwestlicher Medizin stand die Tanzwut um 1900 als diskursive Wahrheit zur Verfügung. Der Reisebericht, der Hecker so beeindruckt hatte, berichtete über Äthiopien und Somalia. Wenn jemand von Traurigkeit befallen worden sei, habe die Familie Musiker ins Haus bestellt und Tag und Nacht getanzt, bis die Traurigkeit der meist weiblichen Patienten verflogen war.13 In Somalia seien Frauen in exorzierende Tänze verfallen, um den Schmerz zu bewältigen, wenn ein Ehemann eine zweite Frau heiraten wollte. Politisch ließe sich das als Vergemeinschaftung ihres Problems deuten: Die Frauen unterbrachen ihre Vereinzelung und Isolation und verließen vorübergehend den ihnen gesellschaftlich zugewiesenen Platz. Westliche Betrachter_innen waren von diesem Verhalten erschüttert und berührt, weil es ihr säkularisiertes Bemühen um Selbstregierung unterbrach, den Horror der individuellen Existenz.14 Die Abgrenzung von Religion und Tanzen hat in Europa eine lange Tradition. In einem regelrechten »Krieg gegen das Tanzen« versuchte die Kirche bereits seit dem 12. Jahrhundert, das Tanzen aus dem religiösen Leben zu verbannen. Dieses Projekt, so Barbara Ehrenreich in Dancing in the Street, nahm eine eigentümliche Eigendynamik an, weil es die Möglichkeiten der Profanierung ausweitete und eine ungeahnte Dynamik der Säkularisierung vorantrieb. War das Tanzen davor integraler Bestandteil des religiösen Lebens innerhalb und außerhalb der Kirchenhäuser gewesen, in seiner ganzen Bandbreite von Unterhaltung bis Ekstase, suchten sich diese Praktiken des kollektiven Tanzens nun neue Orte: Die Straßen entwickelten
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Hecker, Volkskrankheiten, S. 122-123. Vgl. Giorgio Agamben: Profanierungen, Frankfurt am Main 2005, S. 70-91. Barbara Ehrenreich: Dancing in the Streets. A History of Collective Joy, New York 2006, S. 77-95, hier S. 151. Ehrenreich, Dancing, S. 152. Ehrenreich verweist hier auf Nietzsches Die Geburt der Tragödie und die Genealogie der Moral von 1872.
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sich zur Bühne des Karnevals; die Irrenanstalt beherbergte jene Bewegungen, die als Geisteskrankheiten aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden; die Reformation verbot den Karneval und die Melancholiker betraten die Bühne der europäischen Kulturgeschichte.15 Ein Teil der Erlösungs- und Erneuerungsfantasien, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts an das Tanzen koppelten, erwuchs aus diesem Zusammenhang.
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Die Tanzwut interpretierte eine erklärungsbedürftige Dynamik kollektiven Tanzens als Ansteckung durch Aggression.16 Tanzfieber und Tanzepidemie riefen dagegen eher das Bild eines passiven Opfers auf, das von unsichtbaren Krankheitserregern befallen wird. Damit übertrugen Zeitgenossen neue Erkenntnisse aus der Bakteriologie auf das Feld kultureller Produktion, was nicht zuletzt deshalb möglich war, weil diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in den zeitgenössischen Medien enorm präsent waren.17 Das Fieber entwickelte sich zu einer populären Metapher für das Funktionieren oder Nicht-Funktionieren der herrschenden Produktionsweise. Sie findet sich in Polemiken und Auseinandersetzungen um Wissenschaft, Kolonialismus und die entstehende Kulturindustrie im Varieté. Ein Moment der Übertragung des Fieber-Diskurses auf das koloniale Verhältnis fand im Konzept des »Tropenfiebers« statt. Infektionskrankheiten setzten kolonialer Landnahme insbesondere in Afrika immer wieder Grenzen. Dazu kam die Erfahrung, dass europäische Akteure in den Kolonien auch psychisch »außer sich« gerieten. Johannes Fabian analysiert dies als konstitutives Moment in einem Erkenntnisprozess, der die Konfrontation mit einer radikalen Kontingenz menschlicher Kultur
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Vgl. Ehrenreich: Dancing, S. 77-95. Nach Irmgard Jungmann war die kirchliche Ablehnung des Tanzens weniger eindeutig, sondern konstituierte ein produktives Spannungsverhältnis, vgl. dies.: Tanz, Tod und Teufel. Tanzkultur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung des 15. und 16. Jahrhunderts, Kassel u.a. 2002, S. 16. Die Gefahr einer epidemischen Eskalation der Gewalt ergibt sich nach René Girard aus der Ansteckungslogik von Vergeltung und mimetischem Begehren, vgl. Dirk Setton: Die Zumutung des Opfers. Immunisierung der Gesellschaft und (Des)Infektion des Subjekts bei Girard und Lévinas, in: Mirjam Schaub/Nicola Suthor/Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 367-385. Dem soll hier nur insofern zugestimmt werden, als dass die Untersuchung von Immunisierungsstrategien für die Analyse politischer Ordnungen von Bedeutung ist. Vgl. Kap. III.4. Vgl. Nancy Tomes: Epidemic Entertainments. Disease and Popular Culture in EarlyTwentieth-Century America, in: American Literary History 2002 14 (4): S. 625-652. Vgl. auch Barbara Browning: Infectious Rhythm. Metaphors of Contagion and the Spread of African Culture, New York 1998.
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und Lebensweise zu bewältigen hatte.18 Das »Tropenfieber« erweist sich als narrative Strategie in vielen Reiseberichten, um die Abweichung vom vordefinierten Ziel einer solchen Reise zu legitimieren und an das ursprünglich instrumentelle Verhältnis zu Land und Leuten zurückzukoppeln. Seine Steigerung fand sich im Epistem »Tropenkoller« als psychischem Erregungszustand, der ursächlich tropischem Klima zugeschrieben wurde. In Deutschland setzte sich der Begriff im Kontext der zahlreichen Kolonialskandale der 1890er Jahre durch. Im Alltag oft ironisch als »sogenannter Tropenkoller« markiert und als Entlastungsstrategie denunziert, war er im Einzelfall vor Gericht durchaus erfolgreich.19 Nach Michel Foucault koppelten sich an die Bekämpfung von Fiebern neue Regierungstechniken, die zusätzlich zur disziplinären Aufteilung des Raums den Umgang des Einzelnen mit einer nicht ganz auszuschließenden Gefahr regulierte, die eingedämmt, aber nie ganz verbannt werden könne.20 Im Gegenteil musste man sich den Erregern sogar bis zu einem gewissen Grad aussetzen, um genügend Abwehrkräfte gegen sie zu entwickeln.21 In seiner Übertragung auf kulturelle Phänomene diagnostizierte das Fieber ein Leiden an der Gegenwart, das die Betroffenen zugleich entlastete: Denn Ansteckung war ein Ereignis und Kräften zuzuschreiben, die außerhalb der Kontrolle des Einzelnen lagen. Wer einer solchen Krankheit anheimfiel, war nicht verantwortlich, konnte sich passiv machen und das Geschehen als
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Vgl. Johannes Fabian: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001. Zum Fall des Truppenschutzleutnants Prinzen Prosper von Arenberg, der wegen Folter und willkürlicher Tötung während seines Einsatzes 1899 in Deutsch Südwest Afrika zunächst zum Tode verurteilt, 1904 wegen »Tropenkoller« als heilbarer Geisteskranker freigesprochen wurde, vgl. Stephan Besser: Tropenkoller, in: Alexander Honold (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart/Weimar 2004, S. 300-309; siehe auch ders.: Pathographien der Tropen. Literatur, Medizin und Kolonialismus um 1900, Würzburg 2010. Vgl. Philip Sarasin: Ausdünstungen, Viren, Resistenzen. Die Spur der Infektion im Werk Michel Foucaults, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2005, 16 (3): 88-108. Vgl. mehr dazu im Kap. III.4. Immunisierung. Zur Übertragung von Begriffen der Ansteckung auf kulturelle Phänomene um 1900 vgl. Nancy Tomes: Epidemic Entertainments, S. 625-652; Allan Conrad Christensen: Nineteenth-Century Narratives of Contagion. »Our Feverish Contact«, New York 2005; Silvia Berger u.a. (Hg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920, Frankfurt am Main 2007; im Anschluss an Deleuze/Guattari wäre der Diskurs der Ansteckung aber auch symptomatisch als Reaktion auf »widernatürliche Anteilnahme« zu lesen, ein zentraler Bestandteil von Prozessen des (Politisch-) Werdens, vgl. Michaela Ott: Widernatürliche Anteilnahme in ›Alien Resurrection‹, in: Schaub, Ansteckung, S. 309-318, hier: S. 312313.
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hoffentlich vorübergehenden Ausnahmezustand beschreiben.22 Kulturelle Phänomene als ansteckende Krankheit zu pathologisieren, erwies sich als äußerst erfolgreiche Diskursstrategie. Als das »Tanzfieber« um 1900 angeblich mit der Ankunft des Cakewalks ausbrach, war diese Diskursstrategie aber noch recht vereinzelt und nicht dominant. Erst in der Rezeption von Jazz zwanzig Jahre später wurde der Cakewalk als imaginärer Ursprung des »neuen« Phänomens zur Projektionsfläche. Dabei wechselten die Verantwortlichkeiten: Im Kaiserreich hatte die »Tanzwut« die Handlungsmacht von Frauen problematisiert.23 In den 1920er Jahren galten schwarze Rhythmen und Bewegungen als verantwortlich für Ansteckung. Dieser Positionswechsel fand nach und nach statt. In den USA war schon in den 1910er Jahren häufig von einem »dance craze« die Rede, der ähnlich wie der »Koller« die Zurechnungsfähigkeit beteiligter Akteure in Frage stellte.24 In der Vermarktung von immer neuen Tänzen griffen Kommentatoren nun auf das Bild einer Epidemie zurück, auch um den Charakter des Unausweichlichen und Vorübergehenden zu betonen und das Geschehen als Modephänomen zu qualifizieren. Schon im Vorjahr hätten sich auf den Berliner Bällen »vereinzelte Vorboten der Tanzepidemie [gezeigt], die von Frankreich und Amerika herüber droht, und die ihre Uranfänge auf den zoologischen Garten zurückführt.« 25 Craze war häufig ein anderer Begriff für Mode, ein Topos, der damals zu einem prominenten Gegenstand von Kulturkritik avancierte.26 Das Tempo, in dem sich Moden veränderten, hatte sich unter den Bedingungen einer von Warenhäusern und Bestellkatalogen geprägten Kultur des Massenkonsums im 19. Jahrhundert enorm beschleunigt. Zeitgenössische Kommentatoren waren bemüht, eine ironische Distanz zum Geschehen einzunehmen, die ihre Verpflichtung gegenüber den beschriebenen Moden zugleich nicht in Frage stellte. Exemplarisch kommt dies in der 22
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In diesem Sinn findet sich in Quellen zur Migration auch der Begriff »Auswanderungskrankheit«, vgl. Theodor von Leithold: Meine Ausflucht nach Brasilien oder Reise von Berlin nach Rio de Janeiro, Berlin 1820, S. 192 ff; allgemein zum »Auswanderungsfieber« vgl. Jürgen Moltmann (Hg.): Aufbruch nach Amerika. Die Auswanderungswelle von 1816/1817, Stuttgart 1989. Hans Ostwald: Berliner Tanzlokale. Band 4 der Berliner Großstadt-Dokumente, Berlin/Leipzig 1905, S. 3-4. Vgl. exemplarisch den Artikel The Dance Craze in Paris Creates New Types of Gowns, in: Vanity Fair 1913 1 (3): S. 59-60. Franz Wolf: Groteske Gesellschaftstänze. Pas de l'ours und turkey trot, in: Elegante Welt 1912 (12): S. 14. Vgl. Georg Simmel: Die Mode, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Frankfurt am Main 2008 [Leipzig 1911], S. 47-72. Eine erste Version des Textes erschien bereits 1895. Vgl. ders.: Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie, in: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, 5 (54) 1895, S 22-24.
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Rede von einem »Craze« zum Ausdruck, der London angeblich 1913 beherrschte, als in der Stadt Revuen »grassier[ten]«.27 Der deutsche Korrespondent von Das Organ der Variétéwelt in London deutete das Phänomen als Reaktion der Buchungsmanager und Agenten auf die zunehmenden Schwierigkeiten, Woche für Woche all die kurzen Auftritte verschiedener Künstler koordiniert zu buchen. Revuen vereinfachten die Programmgestaltung nun: »Das englische Showgeschäft hat in den letzten Monaten einen nur zu begrüßenden Modernisierungsprozeß durchgemacht, und an Stelle der vielen Sketches, Schauerdramen und Komiker bringt man jetzt die inevitable Revue.«28 Die Titel dieser Revuen verweisen unter anderem auf amerikanische und französische Vorbilder wie What Ho, Ragtime! oder Le petit Cabaret. Der Craze war damit auch etwas, das aus dem Ausland kam. Doch die Kritiken beschäftigte vor allem das massenhafte Nachahmen des Formats. So berichtete ein Korrespondent von Das Organ aus Paris: »Von einer Revue kann man dasselbe sagen wie vom Unglück: sie kommt selten allein. Es ist eine oft beobachtete Tatsache, daß, sobald ein Variété der Hauptstadt eine neue Revue ankündigt, sofort an allen Ecken und Enden, in vielen anderen Theatern und Variétés das gleiche geschieht. Die reinste Epidemie!«29
Die Rede von der Epidemie brachte zum Ausdruck, dass es sich um ein Marktgeschehen handelte, dem der Einzelne ohnmächtig gegenüberstand, das aber zugleich – so lässt die ironische Distanz der Geste vermuten – als kurzlebig interpretiert wurde. Darüber hinaus fällt auf, dass der Korrespondent aus London den Begriff Craze dort ins Spiel brachte, wo er eigentlich von Rationalisierungsprozessen im Varietégewerbe berichtete, die er auch als »Modernisierungsprozeß« wertete. Es ist interessant, dass die Revuen zum Teil die Präsenz schwarzer Rhythmen und Tänze wie im Fall von What Ho, Ragtime! bereits dokumentierten, aber keinen kausalen Zusammenhang zu einer diagnostizierten Epidemie herstellten. Die brachten Ragtime eher in Zusammenhang mit einem elektrischen Schock, der um 1900 nicht nur zur Produktion von Licht oder Bewegung, sondern auch zur Bekämpfung von Nervenkrankheiten und als Mittel zu einem »zivilisierten« Töten von Menschen eingesetzt wurde.30 Die Zeitschrift Die Musik berichtete 1901 von der Reaktion eines Musikwissenschaftlers auf den Ragtime:
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Das Organ der Variétéwelt 1913 (254): S. 6-7. Ebd. Ebd., S. 10. In der französischen Version des Artikels fehlt der Begriff Epidemie. Vgl. Ralf Bohn: Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums, Würzburg 2004; zum zivilisierten Töten in den USA vgl. Jürgen Martschukat: The Art of Killing by Electricity. The Sublime and the Electric Chair, in: Journal of American History 2002 89 (3): S. 900-921.
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»Plötzlich machte ich die Entdeckung, daß meine Beine sich in einem Zustande der höchsten Aufregung befanden. Sie zuckten wie von elektrischen Schlägen berührt, und zeigten eine gefährliche Lust, mich in die Höhe zu schnellen.«31
Der Verweis auf Elektrizität markierte synkopierte Tanzmusik aus den USA als ebenso gewaltsam und unausweichlich wie der Kontakt mit elektrischer Spannung, und ebenso unnachvollziehbar für denjenigen, der sich ihnen ausgesetzt fühlt. Die ansteckende Wirkung von Musik auf Körperbewegungen war aber eigentlich keine Neuigkeit, sondern etabliertes Alltagswissen.32 Neu war die Intensivierung dieser Wirkung durch die Synkope. Ragtime setzte sich mit Marschmusik auseinander, der im ausgehenden 19. Jahrhundert in Europa und den USA neben Walzer und Polka populärsten Musikrichtung, und stellte die Kräfte aus, die seine vorantreibende Wirkung ausgemacht hatten. Als synkopierte Musik arbeitete Ragtime europäische Rhythmusmuster um, indem er dort, wo ein Schlag erwartet wurde, eine Verzögerung einlegte und den Rhythmus auf einen Teil des Taktes verlegte, der üblicherweise ausgelassen wurde. Die Synkope spielte mit Hörgewohnheiten und erzeugte Spannung, indem sie diese Gewohnheiten unterlief: Der Zuhörer verspürt einen Impuls, eine Bewegung auszuführen, um den erwarteten aber ausbleibenden Schlag zu ersetzen. Als Kulturtechnik schärfte sie die Wahrnehmung und rüttelte an der passiven Haltung des Publikums. Sie wiederholte eine etablierte Form in aller Strenge, lockerte aber das Verhältnis von Melodie und Begleitung. Wie im Cakewalk der Kopf hinter den Beinen herlief, so schien im Ragtime die Melodie dem Beat nachzuhinken. Der Effekt ist ähnlich dem einer Marionette, die ihre Glieder schlenkern lässt: Sie wirkt ausgelassen-fröhlich, aber man kann auch deutlich sehen, dass sie von Kräften angetrieben wird, die außerhalb ihres Bewusstseins und ihrer Kontrolle liegen. Der Cakewalk kombinierte zudem die Subjektivität des partiellen Kontrollverlustes und der Hingabe, wie bereits im Walzer angelegt, mit der Vervielfachung von Bewegungsmöglichkeiten isolierter Körperteile und einer Strategie des parodistischen Überzeichnens. Er zelebrierte nicht Einheit, sondern Vielheit.33 Benedict Anderson betonte die Bedeutung von Printmedien für die Geschichte nationaler Gemeinschaftskonstitution, die es Menschen ermöglichten, eine komple31 32 33
Gustav Kühl: Rag Time, in: Die Musik 1901/02 (1): S. 1973, zitiert nach Heribert Schröder: Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918-1933, Bonn 1990, S. 255. Vgl. William H. McNeill: Keeping together in time. Dance and Drill in Human History, Cambridge MA 1997. Er passte damit perfekt in Zeitdiagnosen um 1900, vgl. die Autobiografie von Henry Adams: The Education of Henry Adams, New York 1931 [1918], S. 457: »The child born in 1900 would, then, be born into a new world which would not be a unity but a multiple.« Zur Einordnung von Adams vgl. Lawrence W. Levine: Highbrow, Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America, Cambridge MA/London 1990, S. 171 ff.
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xe Vorstellung von raumzeitlicher Simultaneität zu entwickeln. Zeitungen kombinierten auf einer Seite ganz unterschiedliche Ereignisse an unterschiedlichen Orten, Romane verknüpften komplexe Handlungsstränge mit der Geste: Während hier dies passiert, findet dort jenes statt.34 Nach Ethel Matala de Mazza begann dieser Prozess bereits gleichzeitig mit dem Versuch, nachrevolutionäre Ordnung in Form nationaler Kulturen zu stabilisieren. Sie fragt in Zerstreuung. Über Gemeinplätze der Masse, ob sich die entstehende Wissensproduktion zur »sozialen Ordnung« in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts möglicherweise deshalb so sehr für öffentliche Bälle interessierte, weil dort das Verhältnis von mobilisierter Masse und versammelter Gesellschaft sichtbar und nachvollziehbar wurde. Populärwissenschaftliche Untersuchungen wie die »Physiologien« des Ballsaals vermittelten wie alle modernen Massenmedien »zwischen Masse und Gesellschaft«, ohne sich dabei selbst auf einer der beiden Seiten zu verorten.35 Die öffentlichen Bälle in Paris und die sie begleitenden Analysen in populärwissenschaftlichen Publikationen erfüllten diese Funktion und prägten die Entstehung einer bürgerlichen Massenkultur im Europa des 19. Jahrhunderts, die sich nicht zuletzt in Form von Bällen konstituierte. Anders als Militärparaden stellten sie keine Formationen her, sondern »flüchtige Aggregatszustände«, kein erzwungenes Bündnis, sondern »ventilierende[s] Begehren«. Tanzsäle waren Laboratorien, so Matala de Mazza, in denen sich das Soziale herauspräparierte, eine »Theatergeschichte der Gesellschaft«, zugleich Posse des Ancien Régime und Erinnerung an seine Entmachtung.36 Vor diesem Hintergrund lässt sich der transnationale Erfolg des Cakewalks um 1900 in eine Geschichte des Politischen einordnen. Er wirft die Frage auf, welch besonderer »Aggregatzustand« diese Aktualisierung erzeugte. Im Verhältnis zur Entmachtung des Ancien Régime verweist er auf die Auswirkungen der französischen Revolution in der Kolonie Saint-Domingue und die haitianische Revolution von 1791. Doch die Pariser_innen tanzten den Tanz, den ehemalige Sklav_innen auf den Plantagen erfunden hatten, nicht in unmittelbarer Nähe zu den direkt miteinander verbundenen Ereignissen 1789 und 1791, sondern gut hundert Jahre später unter den Bedingungen einer offiziellen Amnesie, in der die Ereignisse in Haiti zu einer »undenkbaren« Sache geworden waren.37 Die »Beschneidung der Moderne« 34 35
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Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 1991, S. 9-36. Ethel Matala de Mazza: Zerstreuung. Über Gemeinplätze der Masse, in: Michael Gamper/Peter Schnyder (Hg.): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg/Berlin 2006, S. 75-103, hier: S. 103. Matala de Mazza, Zerstreuung, S. 81. Michel-Rolph Trouillot: Undenkbare Geschichte. Zur Bagatellisierung der haitischen Revolution, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main/New York 2002, S. 84-115.
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um ihre transatlantische und transnationale Dimension ermöglichte um 1900 die nationalen und imperialen Narrative europäischer Vorherrschaft und damit auch koloniale Landnahme und imperiale Politiken.38 Der Cakewalk war in den europäischen Metropolen nicht zuletzt durch diese Amnesie als Modeerscheinung möglich geworden, ein Wiedergänger, der zwischen Vergangenheit und Zukunft umhergeisterte. Er aktualisierte die Frage nach dem Zusammenhang von hier und dort, von Kolonie und Metropole, schwarz und weiß, von »Erziehung zur Arbeit« und Sklaverei. Doch die im »Fieber« implizierte Antwort rief gouvernementale Techniken auf den Plan, die Ansteckung zwar als unweigerlich anerkannte, jedoch den Einzelnen in die Verantwortung nahm, den Grad der Ansteckung zu verringern.39 In den urbanen Konstellationen, in denen sich das Tanzen durch Migration und Klassenkonflikte veränderte, führte dies zu Formen von innerer Kolonisierung.
I NTERVENTIONSFELD T ANZFLÄCHE Um 1900 avancierte das Tanzen in den urbanen Zentren rund um den Atlantik zu einem sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand im Umfeld von Reformbewegungen. Sie reagierten auf soziale Probleme in den Zentren von Industrialisierung, Einwanderung und Urbanisierung, setzten sich für bessere Hygiene, Bildung und Wohnverhältnisse ein und griffen Korruption, Prostitution und Alkoholismus an.40 Die Tanzhalle als Ort öffentlicher Versammlung war für viele ein willkommener Untersuchungsgegenstand, um bürgerliches Befremden über die Moral der unteren Schichten für ihr Anliegen zu mobilisieren.41 Während sozialistische Bewegungen im Konflikt mit dem herrschenden ökonomischen und politischen System agierten und ihren Aktivismus als Teil des Klassenkampfes begriffen, setzten Reformer_innen auf neue Gesetze, Regeln und Normen, die sie häufig aus bürgerlicher Perspektive formulierten. Sie adressierten drängende gesellschaftliche Probleme, die sie forschend in empirisch nachprüfbare Wissensbestände verwandelten. Dabei setzten sie sich aber auch vielfach für neue Formen von Regierung ein, die über Verwaltung und Fürsorge, Bildung und Hygiene selbst neuartige Herrschaftseffekte produzierten. 38 39
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Vgl. zu »truncations of modernity« Fischer, Modernity Disavowed, S. 1-11. Zum »Pocken-Modell der Macht« als paradigmatisch für Gouvernementalität in Abgrenzung zum »Pest-Modell« als Paradigma der Disziplinarmacht bei Foucault vgl. Sarasin, Ausdünstungen, S. 94 ff. Vgl. Pernilla Jonsson: Crossing Boundaries. Women's Organizing in Europe and the Americas, 1880s-1940s, Uppsala 2007; Mara Keire: The Vice Trust. A Reinterpretation of the White Slavery Scare in the United States, 1907-1917, in: Journal of Social History 2001 35 (1): S. 5-41; Rita Hofstetter/Bernard Schneuwly (Hg.): Passion, Fusion, Tension. New Education and Educational Sciences, Bern u.a. 2006. Vgl. Kap. II.1. und II.5.
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In der Forschung konnte in den letzten Jahren gezeigt werden, dass es um 1900 in diesem Feld nicht nur intensive internationale Austauschbeziehungen zwischen den USA und Europa gab, sondern auch mit den Kolonien und kreuz und quer über den Atlantik.42 Komplexe Transferprozesse verorten den latenten und manifesten Rassismus vieler dieser Expert_innen des Sozialen in einem imperialen Kontext. In den USA befürworteten viele von ihnen restriktive Einwanderungsgesetze, problematisierten das Wahlrecht für Afroamerikaner_innen und taten sich in der ebenfalls transnational organisierten Bewegung für Eugenik hervor. Im vermeintlichen Kampf gegen Degeneration entstanden neue Formen von Souveränität, die über Fürsorge und Vernachlässigung entscheiden sollten.43 Ein Element dieses Prozesses war die Säkularisierung christlicher Normen, die das Konzept der Heilung auf die Lösung politischer Konflikte übertrugen. 44 In den USA säkularisierte sich dabei auch die Tradition der religiös motivierten Anti-Tanz-Literatur und reicherte sich mit dem neuen Wissen über Ansteckung und Krankheitserreger an.45 Ein 1901 veröffentlichtes Pamphlet interpretierte den Impuls, zu Musik zu tanzen, als Unterwerfung unter die Herrschaft des Rhythmus. Die Menschen verwandelten sich in dressierte Tiere, die nicht mehr ihrem eigenen Willen gehorchten, sondern dem Kommando all jener, die ihnen Musik vorspielten. Die Gefahr sei ähnlich groß, wie bei der Ansteckung durch unsichtbare Bakterien.46 Der Text rückt das Tanzen in die Nähe von Ansteckung, Krankheit und Vergiftung, die durch ein unbekanntes Agens übertragen wird, so beunruhigend unsichtbar wie Bakterien und Viren. Dagegen setzt er das Bild eines sich selbst führenden Individuums, das sich nicht von äußeren Eindrücken beeinflussen lässt, sondern strikt seinen Plänen und Vorgaben folgt. Ziel sollte sein, unproblematisches von miss-
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Vgl. Alfred W. McCoy/Francisco A. Scarano (Hg.): Colonial Crucible. Empire in the Making of the Modern American State, Madison WI 2009; Ian C. Fletcher/Laura E. Nym Mayall/Philippa Levine (Hg.): Women's Suffrage in the British Empire. Citizenship, Nation and Race, London u.a. 2000; David W. Gutzke (Hg.): Britain and Transnational Progressivism, New York 2008. Vgl. Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt u.a. 1997; Jeanne D. Petit: The Men and Women We Want. Gender, Race, and the Progressive Era Literacy Test Debate, Rochester NY 2010; Mara Keire: For Business and Pleasure. Red-light Districts and the Regulation of Vice in the United States, 1890-1933, Baltimore MD 2010; Samuel Kelton: Infectious Fear. Politics, Disease, and the Health Effects of Segregation, Chapel Hill NC 2009. Vgl. Heather D. Curtis: Faith in the Great Physician. Suffering and Divine Healing in American Culture, 1860-1900, Baltimore MD 2007. Vgl. zu dieser Tradition Ann Louise Wagner: Adversaries of Dance. From the Puritans to the Present, Urbana IL/Chicago 1997. Pastor J.M. Hubbert: Dancers and Dancing. A Calm and Rational View of the Dancing Question, Nashville TN 1901, S. 27.
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bräuchlichem Tanzen unterscheiden zu können. Verantwortlich dafür, diese Grenze zu ziehen, war der Einzelne, dem zugleich Verantwortung für die Gemeinschaft übertragen wurde. Denn »indulgence in the dance« schwäche den christlichen Einfluss in der Gesellschaft und den Gebrauchswert des Einzelnen im Kampf um das Gute.47 Nicht nur die Reinheit der einzelnen Seele stehe damit auf dem Spiel, die sich einer Gefahr der »contamination« aussetze. Wenn sich in der eigenen Kongregation »Anhänger des Tanzes« befänden, werde die Kraft der ganzen Gemeinde geschwächt und ihr Gebrauchswert »for Christian usefulness« nehme ab. Das »Schwert im Kampf gegen Satan« werde stumpf und die »dancing saints« zu »Krüppeln«.48 Unmoralische Bewegungen würden unweigerlich auch den Körper zerstören. Dass Weiße und Schwarze zur gleichen Zeit gemeinsam Cakewalk tanzten, war in diesem Szenario unsagbar. Während mit dem Cakewalk in den Ballsälen zwischen New York, Chicago und Los Angeles seit den 1890er Jahren neue Bewegungen die Muster des europäischen Gesellschaftstanzes verkehrten, erzählte das Narrativ von der Ansteckung mit einer Tanzsucht eine ganz alte Geschichte von Sündenfall, Wahnsinn und Kontrollverlust. Statt der Neukonstitution von Gesellschaft Rechnung zu tragen, die im Tanzen neue Formen der Kommunikation entwickelte, blendete die Moralisierung des Geschehens aus, dass zwischen den Neuankömmlingen in den wachsenden Städten etwas Unvorhergesehenes geschehen war. Sie urbanisierten ein tänzerisches Repertoire, das gegen die atlantische Sklaverei erfunden worden war. In Analogie zum Kolonialismus riefen deshalb Pamphlete wie From the Ballroom to Hell zur Zivilisierung des urbanen Lebens auf. Das amerikanische Pamphlet aus den 1890er Jahren polemisierte gegen die Faszination der Gesellschaft für das Leben der »Wilden« am Äquator, die vor den Problemen in den eigenen Städten die Augen verschließe. Dabei sei das Schicksal einer Frau im Tanzsaal so brutal wie das Leben einer »Negress« im Urwald am Äquator. Frauen würden hier zu »Sklavin[nen]« skrupelloser Menschenhändler. Es bringe nichts, Bordelle zu verbieten, man müsse das Übel an seiner Wurzel ausrotten und die liege nun einmal vor den Türen der Tanzschulen.49 Der Diskurs um White Slavery war um 1900 ein transat-
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Hubbert, Dancers, S. 39. Hubbert, Dancers, S. 40. Vgl. T. A. Faulkner: From the Ball-Room to Hell, Chicago 1892, S. 49-54. Das Pamphlet war wie eine Predigt aufgebaut, die andere vor dem Sündenfall bewahren und selbst eine Art Buße darstellen sollte, die der Autor als ehemaliger Tanzlehrer vollziehen wollte. Augenzwinkernd wird der Titel in der Tanzgeschichtsforschung weiterverwendet, jedoch nicht analysiert oder dekonstruiert. Vgl. Elisabeth Aldrich: From the Ballroom to Hell. Grace and Folly in Nineteenth Century Dance, Evanston IL 1991.
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lantisches Phänomen, das Migration und Zwangsprostitution in Form einer bemerkenswerten Mutation des Anti-Sklaverei-Diskurses aneinanderkoppelte.50 In Kontinuität mit religiösen »Blicken auf die Tanzfrage«, dabei jedoch streng säkular, argumentierte eine 1910 begonnene und 1917 veröffentlichte Studie der Juvenile Protection Association in Chicago über Public Dance Halls.51 Die Studie versuchte, Licht ins undurchdringliche Dunkel der Tanzhalle zu bringen und schlug eine strenge Überwachung dieser unübersichtlichen Orte vor. Licht, Luft und Alkoholverbot sollten Abhilfe schaffen und dem Tanzen seine Unschuld zurückgeben. Frauen und Jugendliche, Migrant_innen und andere Nachtschwärmer, die man in den Tanzhallen antraf, beschreibt die Studie als »wilde Kinder«.52 Die tanzlustigen Besucher_innen der Tanzhallen von Chicago waren dabei implizit als Weiße adressiert. Dass in den untersuchten Tanzhallen der Shimmy getanzt wurde, Jahre bevor er Anfang der 1920er Jahre neben Charleston und Black Bottom zum transatlantischen Modetanz avancierte, wird erwähnt, als sei es selbstverständlich. Seine Herkunft wird aber nicht benannt, sondern er steht für ein Problem, das durch Tanzunterricht gelöst werden sollte. Die Untersuchung war eine Reaktion auf die Veränderung des Tanzens und der Orte, an denen getanzt wurde. Doch anders als es in den bisher diskutierten, religiös motivierten Pamphleten üblich war, griff die Juvenile Protection Agency nicht das Tanzen oder die Musik an. Sie ging davon aus, dass Tanzen an sich unschuldig und erholsam sei und dass lediglich die Orte, an denen getanzt werde, reguliert werden müssten. Die Lust am Tanzen sollte nicht mehr verteufelt, sondern gesellschaftlich sinnvollen Zwecken zugeführt werden. Doch die Rhetorik war ähnlich: Sie operierte mit Figuren der Ansteckung und Bildern von Wildheit und Unzivilisiertheit. Schwarze Rhythmen und Haltungen konnten so als Problem verhandelt werden, ohne dass Rassismus offen ausgesprochen werden musste. Afroamerikanische Akteure kommen nicht vor, weder als Subjekte noch als Objekte dieser Politik. Stattdessen wird die Handlungsmacht von (implizit weißen) Frauen betont und die Bedrohung der Gesellschaftsordnung beschworen, die aus der relativen Autonomie proletarischer Kultur oder dem dekadenten Lebenswandel der Oberschicht erwachsen würden. Die Frage, warum jene, die als Weiße positioniert waren, begannen, schwarze Tänze zu tanzen, sollte sich so erst gar nicht stellen. Auch die Rolle von afroamerikanischen Musiker_innen und Tänzer_innen, überhaupt ihre Anwesenheit oder Abwesenheit, konnte so übergangen werden. 50
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Der Diskurs um White Slavery prägte seit den 1880er Jahren im Viktorianischen England und in den USA eine transnational geführte Debatte um Prostitution, Menschenhandel und die Ausbeutung von Frauen. In Deutschland ging es um »Internationalen Mädchenhandel«, in Argentinien um »Trata de Blancas«. Vgl. mehr dazu im Kap. I.4. White Slavery. Louise de Koven Bowen: The Public Dance Halls of Chicago, Chicago 1917. Bowen, Public Dance Halls, S. 4-5.
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Indem sie den Fokus weg von der Problematisierung des Tanzens allgemein zur Verbesserung der Gesellschaft durch die richtige Form des Tanzens verschoben, reagierten Reformer_innen in den USA auf die Konfrontation mit einer Bevölkerung, die gerade andere Praktiken der Vergesellschaftung entwickelte. Sie lasteten gesellschaftliche Missstände den dabei entstandenen Institutionen wie der Tanzhalle an und erklärten Effekte zu Ursachen. Das öffentliche, massenhafte Tanzvergnügen diente als Evidenz für gesellschaftliche Veränderung und zugleich als Interventionspunkt für Überwachung und Regulierung.
B ÜHNENTANZ /V ERWANDLUNGSAKT Neben der Tanzfläche spielte in der Wissensproduktion über die transatlantischen Modetänze um 1900 auch der Bühnentanz eine wichtige Rolle. Varieté und Vaudeville, Revue und Tingeltangel, Zirkus und Kabarett waren zentrale Orte, an denen ihre Bewegungen und Haltungen einem größeren Publikum zugänglich gemacht wurden. Manche Zeitgenossen feierten das Varieté um 1900 als Produktionsstätte für ein Wissen, das in der herrschenden Rationalität keine oder zu wenig Geltung hatte. Das Vorhaben, die Welt zu ordnen, zu kategorisieren und in handhabbares Wissen zu verwandeln, stieß beständig an Grenzen oder produzierte selbst eine Dynamik der Unordnung.53 Die Besucher_innen von Varietés konnten dort die Inkommensurabilität und Idiosynkrasie ihrer Alltagserfahrungen unter kontrollierten und unterhaltsamen Bedingungen durchspielen und nachvollziehen. Weil der Cakewalk in Europa insbesondere über diese international vernetzten Bühnen vermittelt wurde, rekonstruiert der folgende Abschnitt Diskurse um Verwandlung und Aufmerksamkeit, die sich um 1900 rund um das Varieté verdichteten. Denn hier war die Produktion von etwas Neuem zum Selbstzweck erklärt worden. Verwandlungstänze waren im Varieté um 1900 äußerst beliebt. Indem sie Verwandlung als unvorhersehbare und überraschende Annäherung vor Augen führten, nahmen Verwandlungstänzer_innen an einer zunehmend kommerziell betriebenen Lust an der Täuschung des Auges durch visuelle Effekte teil, die über den bewegten Körper, Kostümierung und den Einsatz künstlichen Lichts medial umgesetzt wurde.54 Beliebt war es, Naturgewalten (Feuer, Wind, Irrlichter) oder abstrakte Formen wie Kurven darzustellen, in Travestie das Geschlecht zu wechseln und Tänze aus 53
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Vgl. H. Glenn Penny: Bastian's Museum. On the Limits of Empiricism and the Transformation of German Ethnology, in: Matti Bunzl/H. Glenn Penny (Hg.): Wordly Provincialism, German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor MI 2003, S. 86-126, hier: S. 103; Astrid Kusser: Reversible Relationen. Körper- und Medienbewegungen in der Welt als Ausstellung, in: Klaus Krüger/Leena Crasemann/Matthias Weiß (Hg.): Um/Ordnungen. Historische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion, München 2010, S. 61-80. Vgl. Kap. III.2. Varieté.
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verschiedenen kulturellen Kontexten auf die Bühne zu bringen.55 Doch Programmankündigungen beschränkten sich meist auf die Bezeichnung »Verwandlungstanz« oder »Transformationstanz«, als sprächen sie für sich selbst. Auch Annoncen vermittelten nur eine vage Vorstellung davon, um welche Verwandlungen es dabei gehen sollte. Nicht das Ergebnis der Verwandlung, sondern die Sichtbarmachung des Prozesses begeisterte offenbar das Publikum. Die junge Varieté-Tänzerin Herma Fleury trat Ende 1913 in Leipzig im VarietéTheater Trocadero auf. Eine damals in der Zeitschrift Cabaret-Theater-Revue veröffentlichte Annonce beschrieb ihr Repertoire an »Verwandlungs- und Fantasietänze[n]«: Herma Fleury führte zuerst einen englischen Tanz mit Gesang auf, trat als Irrlicht in einem Schleiertanz auf, verwandelte sich in ein »Goldfischchen« und in Frühlingsstimmen und tanzte im letzten Akt einen Cakewalk im »Bubenkostüm«. Bereits zehn Jahre früher, als der Cakewalk in Europa noch ganz neu war, fand er Eingang in das Programm der neu gegründeten Kabaretts von Berlin. Hier war die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum leicht zu überschreiten und es lag nahe, nachzuahmen, was man auf der Bühne gesehen hatte. Bei einer Aufführung im Poetenbänkel im Siebten Himmel waren »Bolero, Cake-walk, Ländler, Fandango, Walzer« zu sehen, berichtete die Zeitschrift Berliner Leben 1904.56 Der »Zupfgeigenvirtuos, Nigger-Minstrel und Maler-Karrikaturist [sic]« Ernst Griebel trat auf und Marietta de Rigardo tanzte spanisch. »Sie kann, wenn sie will, uns aber auch deutsch kommen.«57 Denn De Rigardo sei wandlungsfähig und habe mit »parodierender Grazie« einen Ländler vorgeführt. »[S]chließlich fangen alle, die sich bis dahin passiv verhalten haben, selbst zu tanzen an. Und in dies Wohlgefallen löst sich jeder Abend programmmässig auf.« Griebel war seit 1901 im Kabarett Zum Hungrigen Pegasus, einem Vorläufer des Siebten Himmels mit »Niggersongs« aufgetreten, nachdem er zuvor durch die USA gereist war. Marietta de Rigardo wurde in den 1880er Jahren in Manila auf den Philippinen als uneheliche Tochter eines Schweizer Kaufmanns und seiner indischen Frau geboren. Die Aufführungen im Pegasus fanden im Hinterzimmer eines
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Vgl. exemplarisch: »Miss B. d'Erry, int. Tanzsoubrette [und] Internationaler Verwandlungs-Tanz-Akt« im Leipziger Specialitäten-Ensemble in Rudolstadt; »Andiée Ferra, Tranformations-Soubrette und Tänzerin« im Theater Varieté im Ausstellungsgebäude in Innsbruck; »Cissie Trent, Lightning Quick-Change Danseuse« im Royal Aquarium in London, jeweils angekündigt in: Der Artist 1901 (863) vom 25. August. Berliner Leben 1904 7 (1). Nachdem ihr Vater Karl Germann Manila verlassen hatte, holte er seine Tochter später nach Europa nach und nannte sie Marion Germann. Sie war erst mit dem Gründer des Kabaretts Im Siebten Himmel verheiratet, ließ sich aber dann scheiden und heiratete den Schriftsteller Ludwig Thoma. Vgl. Richard Lemp: Ludwig Thoma. Bilder, Dokumente, Materialien zu Leben und Werk, München 1984, S. 24 ff. Vgl. auch Peter Jelavich: Berlin Cabaret, Cambridge MA/London 1993, S. 89.
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italienischen Restaurants statt, wo bis zu hundert Besucher zusammenkamen. »What attracted these people was the sense of ›absolute equality‹ and the ›indifference [Wurschtigkeit] toward all conventions‹.« Häufig seien die Besucher gebeten worden, selbst etwas auf der Bühne zu zeigen.58 In der Forschung gelten Varieté und Kabarett heute als »Schule moderner Sensibilität«.59 Ständig etwas Neues zu produzieren, war dort eine Art Selbstzweck. Formate breiteten sich rasch in dem transnational organisierten Gewerbe aus, ähnlich zur Dynamik von Mode. Verstärkt wurde dies durch die Position des Varietés am Rand der Gesellschaft und seiner Assoziation mit der »Demi-Monde«, der »Bahnbrecherin« von Mode in der bürgerlichen Gesellschaft, wie Simmel es ausdrückte. Die »eigentümlich entwurzelte Lebensform« dieser Schicht statte sie mit einer Distanz zu gesellschaftlichen Normen aus, in der sich eine Lust an ihrer Zerstörung entwickelt habe.60 Doch das entwurzelte Leben war keine Eigenschaft einer am Rand der Gesellschaft angesiedelten Minderheit mehr. So unterschiedliche Intellektuelle wie Kurt Tucholsky, Arthur Moeller-Bruck oder Filippo Marinetti schrieben vor dem Ersten Weltkrieg überschwänglich und begeistert über das Varieté. Dort werde sichtbar und verhandelbar, was Gesellschaft sonst voraussetze: die Grenze, die das Anständige vom Unanständigen, das Sichtbare vom Unsichtbaren, das Alte vom Neuen trenne. Und diese Grenze erwies sich als beweglich, begehbar, bespielbar und ausdehnbar.61 Der Autodidakt und spätere Protagonist der Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Arthur Moeller-Bruck, auch Stichwortgeber für den Nationalsozialismus, veröffentlichte 1902 eine längere Abhandlung über das Thema.62 In Das Variete versuchte er, den herrschenden Kulturpessimismus positiv zu wenden und entwickelte eine eigentümliche Programmatik: Die Menschen sollten anfangen, sich als »Durchgangsstation« zu begreifen und den dynamischen Wandel der Zeit zu ihrer Selbstverwandlung zu nutzen.63 Das könne aber nur, wer auf das richtige Pferd setze und den richtigen Gegner definiere: Im Anschluss an eine damals populäre Lektüre von Friedrich Nietzsche grenzte sich Moeller-Bruck von »Restmenschen« und »Philistern« ab und entschied: »Der Gegner, das ist die unheilvolle Gewalt der Menschen mit mangelndem Tastvermögen, die unzählige Kräfte zu Werken ver-
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Jelavich, Berlin Cabaret, S. 86. Vgl. zum Varieté als »Schule moderner Sensibilität« Baxmann, Mythos Gemeinschaft, S. 133. Sie nennt neben Gesellschaftstanz und der Begeisterung für neue Rhythmen die auf »Bewegung und Simultaneität verschiedenster Eindrücke abzielenden Inszenierungen der Variétés«. Vgl. Kap. II.3. Vgl. Kap. III.2. Varieté. Vgl. Arthur Moeller-Bruck: Das Dritte Reich, Berlin 1923. Arthur Moeller-Bruck: Das Variete, Berlin 1902, S. 14.
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schwenden lässt, die dereinst wertlos dastehen werden«.64 Das eigene Leben als Durchgangsstation zu verstehen, war demnach nicht ohne Risiko. Man könnte ja seine Kräfte auf etwas verschwenden, das keine Zukunft hat und sich statt in einer Durchgangsstation in einer Sackgasse wieder finden. Umso wichtiger erschien vor diesem Hintergrund das Varieté, um dort die Wahrnehmung für das Neue und Zukunftsträchtige zu schulen und zu intensivieren. Hier zeichne sich früher als anderswo ab, was zukunftsweisend sei, so Moeller-Bruck. Moeller-Bruck begeisterte sich für die Oberfläche, das Äußerliche, die »Profanation« im Varieté und untersuchte es als Produktionsstätte von Sinn und Subjektivität.65 Ähnlich wie später der italienische Futurist Filippo Marinetti argumentierte er bereits 1902, das Varieté sei symptomatisch für das, was in der Gegenwart neu und zukunftsweisend sei.66 Dieses Geschehen würde zwar auch »ganz von selbst passieren«, doch weil es sich dabei um einen komplexen, von Wechselwirkungen geprägten Prozess handelte, fragte Moeller-Bruck nach seiner Manipulierbarkeit: »[M]an könnte vielleicht etwas dazu thun!... man könnte vielleicht ein wenig treiben!... man könnte vielleicht öffentlich die Geißel knallen lassen, dass es Striemen und Blutmale gäbe!«67 Moeller-Bruck träumte also davon, den Verwandlungsprozess, dem er sich ausgesetzt sah, wenn nötig auch gewaltsam in bestimmte Richtungen zu lenken. So hoffte er, sich von einer Ambivalenz befreien zu können, an der er ebenso zu leiden schien, wie die von ihm verachteten Zeitgenossen, die ihre Gegenwart im Zeichen des Verfalls deuteten.68 Eine ähnlich zwischen Zerstörungswut und Technisierungslust schwankende Programmatik findet sich auch in Filippo Marinettis Manifesto of Futurist Dance von 1914, das den Cakewalk und die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller feierte. Bereits im 1909 veröffentlichten Manifesto of Futurism begrüßte Marinetti eine als fragmentiert wahrgenommene Gegenwart und bestand darauf, dass der Bruch mit 64 65 66 67 68
Moeller Bruck, Variete, S. 16. Moeller Bruck, Variete, S. 4. Moeller Bruck, Variete, S. 2-3. Moeller Bruck, Variete, S. 18. Moeller-Bruck, Variete, S. 24. »Was not thut, ist das grosse Drama, in dem das Volk, dieses brutale Beispiel seiner eigenen feineren Daseinsmöglichkeiten, dieses ringende Durcheinander und die wogende Summe all seiner Fähigkeiten und wahrscheinlichen Zukunftsformationen, sich und die Gesetze, denen es unbewusst gehorcht, mit bewusster Begeisterung wieder zu finden vermag.« Das Zitat, wie im Übrigen der ganze Text, hat eine unheimliche Resonanz in der Rückschau. Der Wunsch nach einem großen Drama erfüllte sich im Diskurs über das »Tanzfieber« ebenso wie unter umgekehrten Vorzeichen in Konzeptionen von Gemeinschaft, die der Faschismus seit den 1920er Jahren entwickelte. Die Nationalsozialisten griffen Moeller-Brucks späteres Buch Das Dritte Reich begeistert auf. Vgl. auch Claudia Kemper: Wer soll Moeller van den Bruck sein? Die kulturgeschichtliche Untrennbarkeit von Biografie und Rezeption, in: Archiv für Kulturgeschichte 2009 91 (2): S. 381-406.
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der Vergangenheit möglich sein müsse. Das Manifest dokumentiert eindrücklich Selbsthass und Selbstüberhöhung einer Generation, der die Welt so künstlich wie das Gelände eines Jahrmarkts oder einer Weltausstellung erschien. Voll orientalistischer Anspielungen und kolonialer Topoi fehlt dem Manifest bei aller Weitsicht jegliches Verständnis von Alltag oder sozialen Zusammenhängen. Sich in der Welt rasend schnell zu bewegen, am besten in einem Auto, das im Straßengraben landet, versprach die einzige Möglichkeit von Kontakt zu einem Außen. In The Variety Theatre von 1913 schrieb Marinetti dem Varieté praktischen Nutzen in der Transformation der Gegenwart zu. Hier könne man die wahren Gesetze studieren, die das Leben regierten: Komplexität und Variabilität; Lügen und Widersprüche; Geschwindigkeit und Transformation.69 Besonders aber begrüßte er die Kraft des Varietés, die nostalgische Wiederaufführung des Vergangenen herauszufordern, der er sonst im Theater begegne. Diese Tendenz sollten die Futuristen aufgreifen, beim Wort nehmen und auf die Spitze treiben. »FUTURISM WANTS TO TRANSFORM THE VARIETY THEATER INTO A THEATER OF AMAZEMENT, RECORD-SETTING AND BODY-MADNESS.«70 Der Begriff der »body-madness« (im Original »fisicofollia«) deutete den Diskurs um Tanzwahn und Tanzwut in eine maschinische Erlösungsfantasie um. Wie eine Schockkur sollte sie der Tendenz der Psychologisierung und Verinnerlichung entgegentreten, die im bürgerlichen Theater vorherrschte.71 Überraschung und Staunen, Zufall und vor allem die systematische (auch unfreiwillige und gewaltsame) Einbeziehung des Publikums in das performative Geschehen sollten komfortable Konventionen erschüttern. Vorbild war »the type of the eccentric American«.72 Der Exzentriktanz war um 1900 einer der Begriffe, mit denen auch der Cakewalk in ein europäisches Repertoire der Abweichung übersetzt wurde.73 Die Futuristen betonten den zerstörerischen Charakter der Populärkultur, Moeller-Bruck koppelte einen Wunsch nach Manipulierbarkeit und Planbarkeit des gesellschaftlichen Fortschritts daran an. Die am Varieté beteiligten Künstler_innen entwickelten dagegen ein komplexeres Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft. Sie
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Filippo Tommaso Marinetti: The Variety Theater (1913), in: R. W. Flint (Hg.): Marinetti. Selected Writings, New York 1972, S. 116-122, hier: S. 118-119. Marinetti, Variety, S. 120. Großbuchstaben im Original. Diese Kritik war im Futurismus allerdings auch von einem Anti-Feminismus begleitet, vgl. William R. Valerio: Frauenfeindliche Tendenzen im italienischen Futurismus – der Mann als Betrachter im Bild, in: Susanne Deicher (Hg.): Die weibliche und die männliche Linie. Das imaginäre Geschlecht der modernen Kunst von Klimt bis Mondrian, Berlin 1993, S. 183-200; Regina Strobel-Koop: Geschichte und Theorie des italienischen Futurismus, Saarbrücken 2008, S. 42-57. Marinetti, Variety, S. 121. Mehr zu Marinettis Blick auf den Cakewalk im IV. 2. Inkorporierung. Vgl. Kap. III.1. »Exzentriktanz« und Groteske.
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imitierten und parodierten sie, nicht um sie zu zerstören, sondern um sie zu verwandeln. Sie kämpften um die Anerkennung ihrer Kunst und der damit verbundenen Lebensweise. Das Varieté verstanden sie als Ort der Produktion, als Arbeitsplatz. Zufälle und Unvorhersehbares waren wichtige Bestandteile des Produktionsprozesses. Der Artikel Die Improvisation des Zufalls von 1903 setzte die Entstehungsgeschichte des wohl berühmtesten Verwandlungstanzes der Zeit, Loe Fullers Serpentinentanz, ins Verhältnis zu anderen Erfolgsgeschichten des Unterhaltungsgewerbes, in denen die zufällige Entdeckung einer Technik oder eines Talents Menschen aus ihrem Alltag herauskatapultierte und zu weltweit gefeierten Künstler_innen machte. Dabei betont der Artikel, wie wichtig es für die Kreation von etwas Neuem sei, seine Fähigkeiten nicht nur in einen vordefinierten Dienst zu stellen, sondern sie über einen auf der Hand liegenden Nutzen hinaus zu entwickeln und eine zweckfreie Virtuosität zu entwickeln. Nur so könne aus einem Zeitungsverkäufer ein »Pfeifvirtuose«, aus einem singenden Straßenarbeiter ein Bühnenstar werden.74 Tatsächlich hatte Loe Fuller in ihrer 1913 erschienen Autobiografie selbst den Aspekt der spontanen Kreation betont: Auf der Bühne sei in der Verbindung von Rock und Licht etwas Unvorhergesehenes entstanden, das ihr durch die spontane Reaktion des Publikums gespiegelt wurde. »It's a butterfly«, »it's an orchid« hätten die Leute begeistert gerufen und geklatscht. Sie begann, systematisch die Muster zu studieren, die der Stoff in der Verbindung von Bewegung, Licht und Reflektion erzeugte, unterstützt von Freundinnen, die ihr dabei zuschauten und sie darauf aufmerksam machten, wenn etwas Neues entstanden war. Die Erfindung des Serpentinentanzes erscheint so wie der kollaborative Effekt aus der Wiederholung und Wahrnehmung von Improvisation. Fullers Beschreibung ihres kreativen Prozesses ähnelt dem, was Bergson 1911 in einem Vortrag über Die Wahrnehmung der Veränderung beschrieb. Die Kunst habe die Aufgabe, die Wahrnehmung über das beschränkte, alltägliche Maß hinaus zu intensivieren. »In dem Maße, wie sie zu uns sprechen, erscheinen Nuancen des Fühlens und Denkens, die seit langem in uns gleichsam schlummerten und unsichtbar blieben, ähnlich wie ein photographisches Bild, das noch nicht in das Bad getaucht worden ist, in dem es sich enthüllen wird.«75
Die Kunst mache das sichtbar, was »wir« schon erahnt und wahrgenommen hätten, das im Alltag aber allzu flüchtig sei und dem dort nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt werden könne. Im künstlerischen Prozess würden diese Bilder 74 75
Die Improvisation des Zufalls, in: Das Variété 1903 1 (22). Henri Bergson: Die Wahrnehmung der Veränderung, in: ders.: Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 149-179, hier: S. 155.
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isoliert, fixiert und dadurch auf neue Weise wahrnehmbar gemacht. Von diesem Modell ausgehend plädiert Bergson dafür, die Funktion der Philosophie neu zu bestimmen, die ebenfalls an der Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit mitwirken sollte. Die Aufmerksamkeit solle dabei nicht auf die Begrenzung, sondern auf die Öffnung und Intensivierung der Wahrnehmung gerichtet werden.76 Die obigen Beispiele zeigen, dass an solchen Entstehungsprozessen unterschiedlichste Akteure beteiligt sind: Licht und Schatten, Augen und Gefühle, Publikum und Performer. Jeder Moment ermöglicht eine andere Zusammensetzung, Intensität und Form und lässt sich doch auf keine Formel oder einen Hauptagenten reduzieren. Nur die Wahrnehmungsfähigkeit lässt sich manipulieren, disziplinieren, erweitern oder begrenzen und konstituiert so ein neuartiges Feld der Intervention. Es ist kein Zufall, dass Bergson hier in Analogie zur Fotografie als Medientechnik argumentiert.77 Beide Phänomene – Fullers Experimente mit Licht und Bewegung und Bergsons Überlegungen zur Wahrnehmung – waren Teil eines Komplexes, der nicht zuletzt das moderne Kino hervorbrachte. Bereits in Zeit und Freiheit aus den 1880er Jahren geht Bergson von Musik und Tanz als Techniken zur Produktion von Intensitäten aus, die Gefühle, Empfindungen und Willensanstrengungen umfassen.78 Bergson interessiert sich für etwas, das heute als Interaktivität oder Intermedialität beschrieben werden würde. Was passiert, wenn man rhythmische Bewegungen betrachtet? Bergson verweist auf ein eigentümliches Lustgefühl beim Zuschauen, das auf der Illusion basiere, die Bewegung, die man eigentlich nur beobachte, zu beherrschen, weil man aus den vorhergehenden die nachfolgenden Bewegungen vorherzusehen glaubt. »Und wenn sie einen Augenblick innehält, ist unsere ungeduldig gewordene Hand genötigt, eine Geste zu machen, als wollte sie sie antreiben, als wollte sie sie wieder in jene Bewegung zurückversetzen, deren Rhythmus unser Gedanke und unser Wille geworden ist.«79
Bergson spricht hier sogar von »gleichsam unsichtbaren Drähte[n]«, die sich zwischen dem Tänzer und dem Publikum spannten. Von hier ist es nur noch ein Schritt zu der elektrifizierenden und ansteckenden Wirkung, die Rhythmen in der Rezeption von Ragtime zugeschrieben wurden.80 Doch Ragtime sprengte die Programmatik von Kunst, wie Bergson sie 1886 noch ausgehend von »anmutigen Bewegungen« formuliert hatte: 76 77 78 79 80
Bergson, Wahrnehmung, S. 156-157. Vgl. Henri Bergson: Einleitung (Erster Teil), in: Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 21-41, hier: S. 26. Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, Jena 1920, S. 6-16. Bergson, Zeit und Freiheit, S. 11. Kühl, Rag Time.
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»[D]er Zweck der Kunst [liegt darin], die aktiven oder vielmehr widerstrebenden Kräfte unserer Persönlichkeit einzuschläfern und uns auf solche Weise in einen Zustand vollendeter Fügsamkeit überzuführen, in dem wir die Vorstellung, die man uns suggeriert, verwirklichen und das zum Ausdruck gebrachte Gefühl mitfühlen.«81
Die Synkope schläferte widerstrebende Kräfte gerade nicht ein, sondern stellte sie aus und machte sie auf eine neuartige Art und Weise wahrnehmbar. Ein zwischen Herrschaftsfantasie und kontrollierter Hingabe schwankender Kunstgenuss geriet aus dem Gleichgewicht. Ragtime und Cakewalk bereiteten in der Geschichte des Jazz nicht nur eine Öffnung zu Off-Beat und Polyrhythmik vor, sondern auch die Zeitbegriffe der Avantgarde, ihre Polemik mit Fortschritt und Entwicklung. Um 1900 koinzidierte die Lust am Verwandlungstanz also mit einer Reformulierung des Verständnisses von Veränderung in Philosophie und Kunst. Die Möglichkeitsbedingungen intentionaler Veränderungen waren prekär geworden, weil der Glaube daran, dass sich die Welt zielgerichtet verändern oder zumindest systematisch ordnen und einteilen ließe, ständig mit Unvorhergesehenem konfrontiert war. Philosophen wie Henri Bergson, dessen Arbeiten um 1900 in Europa enorm populär waren, wandten die Krise des herrschenden Rationalismus positiv und plädierten für ein anderes Verständnis historischer Entwicklung, als es die lineare, abstrakte, verräumlichte Zeit erlaubt hatte. Veränderung entfalte sich in der Dauer, in der beständigen Beweglichkeit der Dinge, einem kontinuierlichen Fließen, das sich nur im Nachhinein linearisieren, finalisieren oder kausal erklären lasse. Ständig entstehe etwas »absolut Neues«, doch das Neue sei kaum wahrnehmbar.82 Erst wenn Wahrnehmung intensiviert, vertieft und erweitert würde, so Bergson in Wahrnehmung und Veränderung, verschaffe sie sich Zugang zu diesem Verständnis von Zeit. Der gesunde Menschenverstand sei darauf angewiesen, Veränderung in vorher und nachher aufzuteilen. Doch tatsächlich sei Veränderung ein Verwandlungsprozess, der immer erst im Nachhinein und retrospektiv finalisiert und linearisiert werde. Diese Problematisierung des wahrnehmenden Subjekts im ausgehenden 19. Jahrhunderts muss nach Jonathan Crary in der Entstehung eines Disziplinarregimes verortet werden, das Wahrnehmungsfähigkeit zu intensivieren und nutzbar zu machen versuchte. Aufmerksamkeit war in der entstehenden Industriegesellschaft ein knappes Gut. Sie war ständig durch Zerstreuung bedroht. Der Fokus auf Aufmerksamkeit in der Konstruktion von Subjektivität diente aber auch der Aufrechterhaltung einer kohärenten Vorstellung von der Wirklichkeit. Ästhetische Praktiken, die Crary unter anderem für die moderne Malerei untersucht, stellten der Indienstnahme
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Bergson, Zeit und Freiheit, S. 12. Bergson, Wahrnehmung, S. 177.
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von Wahrnehmung neue Formen zerstreuter Aufmerksamkeit entgegen.83 Am Arbeitsplatz oder im Alltag konnte es bedrohlich sein, abzuschweifen. Im Unterhaltungsgewerbe diente es der regulierten und kontrollierten Zerstreuung. Die Rhythmen und Tänze des Black Atlantic waren in diesem Aufmerksamkeitsregime in zweierlei Hinsicht anwesend: Sie forderten es punktuell heraus und dienten ihm zugleich als Material, das in sein Funktionieren eingebaut werden konnte.
L EBEN /S TERBEN Ein Teil der Transformationsdynamik, die das Tanzgeschehen um 1900 ausmachte, erwuchs auch aus dem Wissen, das historische Untersuchungen des Tanzens im Verlauf des 19. Jahrhunderts produzierten. Umfangreiche Studien verwandelten die Vielzahl an historischen und gegenwärtigen Tänzen in Europa in linearisierte Narrative nationaler Tanzkulturen.84 Detaillierte Abhandlungen zur komplexen Geschichte unzähliger verschiedener Tänze und ihrer umstrittenen Genealogien stellten dabei immer drängender die Frage, wie es denn in der Gegenwart weitergehen solle. Gemessen an der Vielfalt vergangener Tanzkulturen erschien den bürgerlichen Intellektuellen ihre eigene Tanzkultur als erstarrter Formalismus. Dies war nicht zuletzt ein Effekt historistischer Methoden mit ihren Narrativen des Übergangs.85 Tropen von Leben und Sterben, Aufstieg und Niedergang, Blüte und Verfall ordneten kulturelle Formen auf einer imaginären, linearen Zeitleiste an und interpretierten Differenz meist als Mangel. Aus dieser Perspektive war man von der Tanzlust der Griechen oder des Mittelalters unglaublich weit entfernt, und die Volkstänze hatten als sublimierte Gesellschaftstänze ihre Vitalität verloren. Wie könnte die Gegenwart es jemals mit dem Reichtum dieses Erbes aufnehmen und in seinen Innovationen vor ihm bestehen? Die Abhandlungen beschränkten sich dabei meist auf die Tänze der »cultivierten Völker«, begannen mit der griechischen und römischen Antike, streiften das
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Vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2001; ders.: Unbinding Vision. Manet and the Attentive Observer in the Late Nineteenth Century, in: Leo Charney/Vanessa R. Schwartz: Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley u.a. 1995, S. 46-71. Vgl. Albert Czerwinski: Geschichte der Tanzkunst bei den cultivierten Völkern von den ersten Anfängen bis auf die gegenwärtige Zeit, Leipzig 1862; Rudolph Voß: Der Tanz und seine Geschichte. Eine kultur-historische und choreographische Studie, Berlin 1869; Franz Böhme: Die Geschichte des Tanzes in Deutschland. Beitrag zur Deutschen Sitten-, Literatur- und Musikgeschichte, 2 Bände, Leipzig 1886. Vgl. die Kritik an Narrativen des Übergangs in Chakrabarty, Provincializing Europe, S. 30-34 und seine Kritik am Historismus, S. 237-239.
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Mittelalter und konzentrierten sich auf die nationalen Kulturen der Neuzeit.86 Außereuropäische Tänze wurden meist auf wenigen Seiten abgehandelt.87 Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich, England und den USA erschienen diese umfangreichen, oft reich mit Bildern und Goldrand ausgestatteten Historien von Bühnenund Gesellschaftstänzen.88 Die Tanzgeschichtsschreibung der Jahrhundertwende stand in dieser Tradition, zitierte aus ihren Werken und träumte in den von ihr skizzierten Übergangsphänomenen davon, dass sich der moderne Bühnentanz erneuern möge.89 Aus europäischer Perspektive war dabei aus »Amerika – wildes und civilisiertes« zu berichten.90 Auf dünner Materialbasis nannte Der Tanz von 1901 einige Tänze von Native Americans und kam dann auf den »Yankeedoodle« zu sprechen, der »›nach Niggerart‹ gehopst« werde. »Die Zahl dieser amerikanischen Gassenhauer und Tanz-Burlesken ist ins Endlose gewachsen.« Die sonst überall unterstellte kulturelle Einheit von Ländern und Nationen schienen im Fall der USA fragwürdig, zu heterogen die dortige Bevölkerung. Die Autorin Marie Luise Becker bemühte Metaphern aus Botanik und Pflanzenzucht: Den Einfluss von »Wilden und alten Kulturvölkern« müsse man sich wie ein »Samenkorn« vorstellen, das auf »künstlichen Beeten« vorgezüchtet auf den »jungfräulichen Boden des fruchtbaren, unentweihten Landes« geworfen worden sei. Amerikanische Kultur wurde so als künstliches Produkt kolonialer Landnahme und moderner Züchtungsverfahren vereinnahmt und enthistorisiert.91 Doch in der Tanzgeschichtsschreibung entstand auch die Hoffnung auf eine Erneuerung europäischer Kultur, wenn auch möglichst aus sich selbst heraus. Die Narrative vom Leben und Sterben traditioneller Formen erzeugten diesen Erwartungsdruck geradezu. Die Studie Der Tanz des Kunsthistorikers und Publizisten Oscar Bie von 1906 betont, wie notwendig die Erneuerung des Tanzes in der Gegen-
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Vgl. Karl Storck: Der Tanz, Bielefeld/Leipzig 1903 mit wenigen Seiten über »Die Anfänge des Tanzes und seine Ausbildung bei den Naturvölkern«, S. 1-6; Max von Boehn: Der Tanz, Berlin 1925 ebenfalls mit einem kurzen Abschnitt über den »Tanz der Naturvölker«; anders Sachs, Weltgeschichte. Dieses in viele Sprachen übersetzte Buch stellte dem historisch-chronologischen Teil einen systematisch-analytischen Teil voran, der transkulturell und transhistorisch aus Forschungsergebnissen der europäischen wie außereuropäischen Ethnologie schöpfte. Vgl. Voß, Der Tanz, S. 246-251. Vgl. Gaston Vuillier: La Danse, Paris 1898; The Dance, Ancient and Modern, translated from the French by Arabella E. Moore, Philadelphia PA 1900; Lilly Grove u.a.: Dancing, with musical examples, London/Bombay/Calcutta 1907 (Nachdruck der Ausgabe von 1897, erstmals erschienen 1895), darin das dritte Kapitel: »The dances of savages«. Vgl. Oscar Bie: Alte und neue Tänze, in: Über Land und Meer 1910 22: S. 546-548, Zeitungsausschnitt in der Sammlung Helmut Günther, Tanzarchiv Köln. Für den Gesellschaftstanz hielt Bie das für ausgeschlossen. Vgl. Marie Luise Becker: Der Tanz, Leipzig 1901, S. 168. Becker, Der Tanz, S. 169.
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wart sei und prognostiziert eine Entfaltung »des Tanzes« als reinem Kunstwerk durch seine Befreiung von herrschaftlichen und gesellschaftlichen Funktionen. Als könnte er alte Tänze schreibend zu neuem Leben erwecken, versuchte er mit dem Buch der Gegenwart den Schatz vergangener Tanzwelten nahe zu bringen. Doch diese Gegenwart blieb weit hinter den Erwartungen des Autors zurück. Der Versuch der amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan, an die antike Tanzkultur anzuschließen, misslinge wegen ihrer mangelnden Bildung.92 Der Cakewalk wird als Variante der Contretänze abgehandelt.93 An der »Erstarrung« der Form würden diese Experimente nichts ändern, die »Neubildungen« hätten keinen Bestand. Tanzen in der Gegenwart sei im Verfall begriffen: »Wir schreiten heute kaum noch, wir schlürfen bestenfalls, meist gehen wir, bis die allgemeine Konfusion uns auch daran hindert.«94 Ironischerweise zeichnete sich gerade in diesem Gehen etwas Neues ab, wie Bie gut fünfzehn Jahre später in einem Nachtrag für die dritte Auflage seines Buchs einräumte. 1906 sei der Tanz »beinahe eine historische Kunst« gewesen. Nun sei es umgekehrt – das Tanzen sei auf überraschende Art und Weise zu neuem Leben erwacht und sein Buch sei Geschichte geworden.95 Sein Versuch, die Tanzgeschichte aus sich selbst heraus zu erklären, habe das Neue glatt übersehen, weil es ihm nebensächlich und ungebildet erschienen war, räumte Bie ein. Doch trotz dieser selbstreflexiven Geste hielt er an seiner Methode fest. Obwohl die ersehnte »Erneuerung« vom Gesellschaftstanz ausgegangen war, wies er ihm weiter einen sekundären Status im Verhältnis zum Bühnentanz zu.96 Die Beschreibung der Veränderung des Gesellschaftstanzes zwischen 1906 und 1923 schwankte entsprechend zwischen Anerkennung und Abwehr. Er bestätigt nun den »amerikanischen Einfluß«und schreibt den »Grotesken des Cake Walk[s]« die Funktion des »Anfang[s]« zu.97 »Dann kamen die Steptänze, von denen die Mischgattung des Twostep bereits verstorben zu sein scheint, während der Onestep das Feld beherrscht, eine stilisierte Niggerei, die auf einem Marschrhythmus eine Fülle von Phantasieschritten gestattet, vom einfachsten Gehen zu Komplikationen gelehrter Tanzstunden. Die zügellose Phantasie dieser Schritttänze wirkte rückwirkend. Sie zersetzte Walzer und die Reste von Polka in ein Bostonieren, das schon vor drei Generationen Paris beschämt hatte, bis auch die letzte Spur des Walzers getilgt war, den man jetzt als »Boston« tanzt, für die meisten Tänzer ein Grund, ihn ganz und gar zu vergessen
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Oskar Bie: Der Tanz, Berlin 1906, S. 305. Bie, Der Tanz, S. 220 Bie, Der Tanz, S. 221 Bie, Der Tanz, S. 362. Bie, Der Tanz, S. 362. Ausführlicher zur Rezeption des Cakewalks als »grotesk« vgl. Kap. III.1.
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oder mit irgendwelchen faulen Bewegungen der Füße, Arme, Köpfe zu betrügen. Der Optimist konnte in diesen Phantasieschiebern und -wackeleien nur Möglichkeiten persönlicher Rhythmik aufdecken. Der Künstler beobachtete mit Staunen, wie in diesen freien Bewegungen eine dekorative Sprache des Körpers, eine Linienfreude sichtbar wurde, die die alten uniformen Tänze, zumal in ihrer pseudoklassischen Erstarrung von 1850 bis 1900, niemals erlaubt hatten. Hier war endlich der Zusammenhang mit dem neuen Bühnentanz, der uns den Genuß an persönlicher Rhythmik gebracht, ja gelehrt hat. So floß Historisches, Modisches, Kulturelles, Ästhetisches zusammen. Ein gewisser Höhepunkt dieser Entwicklung ist jetzt im Tango erreicht.«98
Die Trope vom Leben und Sterben von Tanzformen erlaubte, den Tänzen selbst Handlungsmacht zuzuschreiben. Sie sind »neu« und »zersetzen« die alten Tänze. Irreversible Veränderungen finden statt. Bie sah sich aber gezwungen, eine zentrale These seiner Untersuchung über den Prozess der Selbstfindung des Tanzes als Kunstform in seiner Befreiung vom Gesellschaftstanz und seiner Etablierung als Selbstzweck zu revidieren. Trotz des wie gewohnt herablassenden Tons gab er zu, ästhetische Produktion sei kein Privileg der Kunst mehr. Doch während er dem Bühnentanz eine glänzende Zukunft bescheinigte, prophezeite er dem Gesellschaftstanz seinen bereits sich vollziehenden Verfall. Er werde in Europa zur Kunst gemacht und gehe damit »beim Volke vorbei«.99 Wer dieses Volk eigentlich war, schien für ihn jedoch festzustehen. Er selbst gehörte nicht dazu, das Volk gehörte nicht in den Bereich der Kunst und die »Niggerei« gehörte nicht zum Volk. Trotzdem war Bie verunsichert. Aus der Geschichte hatte er gelernt, dass die Zweiertakte immer etwas »Plebejisches« hatten, die »großen Stilformen waren stets Dreiertakte.« Der Zweier verleihe erst viel Impuls, doch später sei »Ermüdung« unvermeidlich. Doch dann passierte etwas anderes: Polyrhythmik. Von Ermüdung war keine Spur. »So fühlten, dachten, schrieben wir damals. Vorbei? Unter der schwarzen Decke kocht unheimlich weiter das Tanzfieber, Foxtrott ist ein Name für viele, kaum kontrollierbar, wachsen sich ähnliche Formen und Variationen aus [sic]. Ihr Witz ist, gegen den Takt zu arbeiten. Eine apachische Revolution funkt in ihnen. Sind sie die Rhythmen des neuen Weltmenschen? Bisweilen ist der heutige versteckte Gesellschaftstanz solche Vision. Man soll nichts absprechen. Wir sind in furchtbaren Übergängen.«100
Mit konservativer Beunruhigung und Sensibilität reagierte Bie auf die möglichen politischen Konsequenzen einer als unkontrollierbar empfundenen Dynamik der 98 Bie, Der Tanz, S. 363-364. 99 Bie, Der Tanz, S. 365. 100 Bie, Der Tanz, S. 365.
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Transformation. Aus der Geschichte lernen zu wollen und Prognosen daraus abzuleiten, erwies sich als hinfällig. Dieses Neue war offensichtlich aus einer anderen Geschichte erwachsen, als die eurozentristisch-hellenistische Tradition, mit der sich Bie so lange Jahre beschäftigt hatte und so hatte er Orientierungsschwierigkeiten. Er griff auf zwei interessante Metaphern zurück, um die Konfrontation mit dem Black Atlantic zu umschreiben und zugleich abzuwehren: »die schwarze Decke des Tanzfiebers« und die »apachische Revolution«. Das Adjektiv schwarz ersetzt hier den Begriff der »Niggerei«, den er sonst für das Nachtanzen afroamerikanischer Tänze benutzte und verwies auf unsichtbare Erreger der Ansteckung. Die Wortschöpfung »apachisch« bezog sich auf ein urbanes, subproletarisches Milieu, deren Mitglieder häufig als »Apachen« bezeichnet wurden.101 Der Begriff spielte auf den eigensinnigen und relativ autonomen Lebensstil einer Bevölkerung an, die von Sexarbeit, Zuhälterei und Kleinkriminalität lebte. Die Apachen waren um 1900 ein Medien- und Modephänomen, das auf den Bühnen der Populärkultur auch durch den sogenannten Apachentanz berühmt wurde.102 Als Metapher lebt der Begriff »apachisch« auch von ihrer Ähnlichkeit zum Begriff »anarchisch«. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, weshalb Bie so sehr an einem elitären Kunstbegriff festhielt. Zumindest dort sollte gelingen, was im Alltag beständig zu scheitern drohte: »die Kunst des Herrschers Mensch«.103 In der »gereinigten Raumkunst« war der »entzivilisierte Mensch« vorstellbar und die »primitivste und raffinierteste Übereinstimmung von Mensch und Umwelt erreich[bar]«, ohne Angst vor Kontrollverlust haben zu müssen.104 Schließlich waren nur bestimmte Akteure zugelassen, die Räume abgegrenzt, und die Zielsetzungen im »Selbstkunstwerk« vordefiniert. Die Hoffnung des Ausdruckstanzes, die Praxis des Tanzens im Alltag zu verankern, sah Bie dagegen als gescheitert an.105 Den Gesellschaftstanz wollte er möglichst auf die Funktion einer Inspirationsquelle reduzieren, 101 Die Apachen von Paris waren seit den 1890er Jahren für ihre Gewalttätigkeit auf offener Straße berüchtigt, die sich gegen Bürgertum, Polizei und Arbeit richtete. Zum proletarischen Hintergrund und politischen Kontext vgl. Michelle Perrot: Les ombres de l'histoire. Crime et châtiment au XIXe siècle, Paris 2001; Jon Savage: Teenage. The Prehistory of Youth Culture, 1875-1945, New York 2007, S. 33-48; Hubert Lafont: Jugendbanden, in: Ariès (Hg.): Die Masken des Begehrens, S. 209-225. 102 Von Europa, den USA bis nach Argentinien waren Apachen um 1900 ein geläufiger Begriff in der Populärkultur. Der Apachen-Tanz, der im frühen Kino und im Varieté zu sehen war, zeigte eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen einem Mann und seiner Frau, angeblich einer Prostituierten und ihrem Zuhälter. Mehr zum Apachentanz vgl. Kap. I.2. Werfen, Schwingen und Springen. Auch eine Künstlergruppe um Maurice Ravel gab sich um 1900 diesen Namen, vgl. Steven Moore Whiting: Satie the Bohemian. From Cabaret to Concert Hall, Oxford u.a. 1999, S. 345. 103 Bie, Der Tanz, S. 377. 104 Bie, Der Tanz, S. 378. 105 Bie, Der Tanz, S. 366-371.
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ansonsten sah er in ihm den »Spiegel unserer schlechten Zeitläufte«.106 Nur so ließ sich die Konstruktion des einheitlichen Gegenstandes »Tanz« im Sinne einer narrativen historischen Synthese aufrechterhalten. Weil die Methode, die Tänze des Black Atlantic als sekundäre Abart des europäischen Gesellschaftstanzes zu integrieren seit den 1910er Jahren, spätestens aber nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr überzeugen konnte, suchten Tanzlehrbücher des »modernen Gesellschaftstanzes« im Diskurs über das Tanzfieber eine neue narrative Form, die Bie in seiner Ausgabe von 1923 aufgriff.107 Ein Teil der Evidenz, die der Cakewalk um 1900 oder besser: retrospektiv in den 1920er Jahren erzeugte, stammte also aus dem Bedürfnis nach Rekuperation einer Dynamik, die einen historistischen Erwartungshorizont gesprengt hatte. Friedrich Nietzsche hatte schon 1873 das »historische[] Fieber« seiner Zeitgenossen kritisiert.108 Der Historismus in Kunst und Wissenschaft sei dafür verantwortlich, dass »wir alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden«. Die »historischen Künstler« würden ständig ein »Fest der Weltausstellung« bereiten und die Menschen zu »genießenden und herumwandelnden Zuschauer[n]« machen. Selbst Kriege und Revolutionen vermochten daran nur für einen Augenblick etwas zu ändern.109 Tatsächlich war aus den immer schon heterogenen Quellen zur europäischen Tanzgeschichte nur mühsam eine geschlossene Synthese zu machen, zumal der Anspruch darüber hinaus war, dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft »des Tanzes« aus sich selbst heraus erklären sollten. Dieses »Selbst« war aber eine nachträgliche Erfindung, die kaum, dass sie etabliert war, schon wieder in die Krise geriet. Denn Rückwirkungen des kolonialen und revolutionären Atlantik auf die europäische Tanzkultur waren eigentlich nichts Neues.110 Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gelangten Tänze wie die mittelamerikanische Zarabanda über Spanien nach Europa und fanden als Sarabande Eingang in das Repertoire höfischer Tänze.111 Die Geschichte des Begriffs »Tango« führt im gleichen Zeitraum kreuz und quer über den Atlantik, von der Karibik nach Südamerika, in spanische Hafen106 Bie, Der Tanz, S. 362. 107 Vgl. zur Integration als »Abart« vgl. W.K. von Jolizza: Die Schule des Tanzes. Leichtfaßliche Anleitung zur Selbsterlernung moderner und alter Gesellschaftstänze, Wien/Leipzig o.J. [1906], S. 203-303. Zur Konstruktion des »modernen Gesellschaftstanzes« vgl. Kap. III.4. Disziplinierung. 108 Nietzsche, Vom Nutzen, S. 4. 109 Nietzsche, Vom Nutzen, S. 45. 110 Zur Geschichte von Moriskentänzen, die im Zusammenhang mit der Reconquista Spaniens Ende des 15. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen Europas, von Italien über Deutschland bis England populär waren, vgl. Johanna Müller-Meiningen: Die Moriskentänzer und andere Arbeiten des Erasmus Grasser für das Alte Rathaus in München, München/Zürich 1984, S. 35-39. 111 Vgl. Janheinz Jahn: Muntu. Neoafrikanische Kultur. Blues, Kulte, négritude, Poesie und Tanz, München 1995, S. 99; Sachs, Weltgeschichte, S. 235.
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städte und an die westafrikanische Küste.112 Doch im 19. Jahrhundert wurde diese transatlantische Dynamik unterbrochen: »Das neunzehnte Jahrhundert importierte in seiner bürgerlichen Prüderie keine afroamerikanischen Tänze, sondern nahm europäische Volkstänze wie die Ecossaise, den Hopser, die böhmische Polka, die polnische Mazurka und als Walzer den alpinen Ländler »in die Gesellschaft« auf.«113
Dass der Cakewalk um 1900 eine so große Wirkung erzielte, könnte also auch aus diesem Ausschluss transatlantischer Relationen erwachsen sein. Zusammen mit den aufgeladenen Zukunftserwartungen der Jahrhundertwende entwickelte der Tanz erst seine drastische Evidenz als Anfangspunkt eines modernen, neuen Phänomens. Dieses Narrativ setzte sich auch erst nach und nach in den 1920er Jahren durch, nachdem Projekte der Integration, des Ausschlusses, der Marginalisierung und Vereinnahmung gescheitert waren, und klar wurde, dass man es nicht mit einem fremden Element zu tun hatte, dem man einen ihm angemessenen Platz zuweisen konnte, sondern mit einer Haltung, die den ganzen Zusammenhang zu »zersetzen« drohte, der die Konstruktion der Gegenstände »Tanz«, »Europa« und »Zivilisation« ermöglicht hatte.114 Woher diese Kraft kam – diese Frage stellte sich in der rassistischen Logik der Ansteckung scheinbar nicht. Die Vorstellung, dass der Cakewalk der Anfangspunkt einer neuen Dynamik war, ergab sich deshalb einfach aus dem Diskurs des fin de siècle, der besagte, am Ende einer anderen Dynamik angekommen zu sein. Der Versuch, die europäische Geschichte aus sich selbst heraus zu erklären, ließ sich nicht länger aufrechterhalten. Das folgende Kapitel zeigt, dass dieses Selbst in der Geschichte des Tanzens immer schon umkämpft war, und der »apachisch«-anarchische Vorwurf der Subversion der guten Ordnung die Geschichte des Gesellschaftstanzes seit der Frühen Neuzeit begleitet hat. Die Dynamik des Gesellschaftstanzes im 20. Jahrhundert erwuchs auch aus diesem verschärften Streit um die Frage, wem die beim Tanzen erzeugten Kräfte zu Gute kommen sollten. Neben der Organisation von Geschlechterverhältnissen ging es dabei auch um die Durchsetzung von Arbeitsdisziplin.115
112 Vgl. Jörgen Torp: Alte atlantische Tangos. Rhythmische Figurationen im Wandel der Zeiten und Kulturen, Hamburg 2007; Robert Farris Thompson: Tango. The Art History of Love, New York 2005; und ausführlich das Kap. II.2. 113 Jahn, Muntu, S. 99. 114 Vgl. die obigen Zitate aus Bie, Der Tanz. 115 Vgl. Kap. I.3.
Gesellschaftstanz: Führen und Folgen
Die Tänze, die vom Cakewalk bis zum Lindy Hop in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Verbindungslinien kreuz und quer über den Atlantik zogen, waren Neuinterpretationen der eigentümlichen Technik des Paartanzes. Der Cakewalk überarbeitete Formationstänze wie die Promenade und die Quadrille und brach ihr rigides Körperschema auf. Tango, Maxixe, und Steptänze griffen Polka und Schiebetänze auf, die durch die Arbeitsmigration aus Europa in die Amerikas gekommen waren. Nach der Emanzipation und der Konfrontation mit neuen Formen von Rassismus, die Bürgerrechte faktisch entzogen, intensivierte sich diese Auseinandersetzung mit dem Repertoire des europäischen Gesellschaftstanzes. Die schwarze Diaspora tanzte sich im 19. Jahrhundert in eine Praxis hinein, die für die Konstitution einer bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Normen von Selbstführung, Kooperation und (geschlechtlicher) Arbeitsteilung grundlegend war. Sie griff damit aber auch eine Praxis auf, die aus der Perspektive von Regierung immer schon problematisch war und deshalb Überwachung, Kontrolle und Regulierung verlangte. Meist wird betont, dass Europa damals lernte, die Hüften zu schütteln und die strenge Paarformation zu einem freieren, individuellen, selbstbestimmten Tanzen hin aufzulösen. Doch der ganze Zusammenhang verwandelte sich und ermöglichte eine neue Form des Paartanzes, die diese Aufteilung von alt und neu, schwarz und weiß, europäisch und afrikanisch sprengte. Der folgende Abschnitt zeigt, dass sich um 1900 eine polemische Kraft aktualisierte, die im Paartanz seit seiner Erfindung in der Frühen Neuzeit potentiell angelegt war. Eng umschlungen in den Armen eines Partners zu tanzen, so der Anthropologe Marcel Mauss in Die Techniken des Körpers, sei alles andere als selbstverständlich, sondern »ein Produkt moderner europäischer Zivilisation«. Ähnlich wie in anderen Körpertechniken zeige sich hier, dass historischen Ursprungs sei, was viele als natürlich ansehen: »Sie stellen überdies für die ganze Welt eine Abscheulichkeit dar, außer für uns selbst.«1 Während bestimmte Körperbewegungen afrikanischer Tänze 1
Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers, in: ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 1975, S. 199-220, hier: S. 215.
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in der europäischen Rezeption oft sexualisiert gedeutet wurden, galt Berührung beim Tanz dort als unmoralisch und geschah nur für Momente.2 Dass im europäischen Paartanz der Mann führt, gilt heute vielfach als Ausdruck eines patriarchalen Geschlechterverhältnisses und Zeichen der historischen Unterdrückung von Frauen.3 Die Möglichkeit, alleine zu tanzen, erscheint in dieser Perspektive als Befreiung von einer einschränkenden Umarmung. Doch in den Auseinandersetzungen, die diese Form des Tanzens kontinuierlich begleiteten, zeigt sich, dass Frauen oft gegen Widerstand durchsetzten, so und nicht anders zu tanzen. In diesen Auseinandersetzungen ging es auch weniger um die Frage, ob alleine oder zu zweit getanzt wurde, sondern wem die beim Tanzen erzeugten Konstellationen und Affekte zu Gute kamen. Veränderungen im Tanzen spiegelten gesellschaftliche Veränderungen nicht wieder, sondern sie griffen die Regeln und Bedeutungen des Tanzens selbst an. Dabei erwies sich das Verhältnis von Führen und Geführtwerden als spannungsreich und reversibel. Es zeigt sich, dass Herrschaftseffekte beim Paartanz nicht in der Rollenaufteilung von Führen und Folgen begründet liegen, sondern in der Überwachung und Regulierung von Räumen und Dynamiken.
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Die Erfindung des Paartanzes erfolgte in der Frühen Neuzeit gleichzeitig in mehreren Teilen Europas und rief von Seiten der Geistlichkeit und der Behörden überall dieselbe Ablehnung hervor.4 Es ging um die eigenwillige Neuschöpfung, eine Tanzpartnerin herumzuwirbeln und in die Luft zu werfen, worauf Kirche und Obrigkeit mit Verboten und einem Diskurs der Problematisierung reagierten. In ihrem Buch Körperlust und Disziplin zeigt Vera Jung, dass sich in Deutschland seit den 1520er Jahren Erlasse häuften, die sich darüber beklagten, wie sich Männer und Frauen neuerdings beim Tanzen verhielten.5 Jung beschreibt diese Tänze wiederholt als »wild« im Gegensatz zu »zivilisiert«, doch in den Quellen, die sie zitiert, finden sich andere Kategorien: Die Tänzerinnen sollten demnach »keusch«, »redlich«, »anmutig« und »bescheiden« auftreten – verbreitete Attribute höfischer Tänze.6 Dazu gab es aber von Anfang an eine Alternative. In Deutschland erließen insbesondere reformierte Obrigkeiten Verordnungen gegen diese Art zu tanzen, damit das 2 3
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Vgl. Jahn: Muntu, S. 100. Vgl. Klein, FrauenKörperTanz, S. 11: »[D]ie unterschiedlichen Körperbezüge von Frauen und Männern [schlagen sich] in einer spezifischen Tanzästhetik ebenso nieder wie sich das hierarchische Geschlechterverhältnis in der Paarfiguration des Gesellschaftstanzes konkretisiert.« Vgl. Remi Hess: Der Walzer. Geschichte eines Skandals, Hamburg 1996, S. 102. Vera Jung: Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Wien 2001, S. 48 ff. Jung, Körperlust, S. 49.
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Tanzen »wie von Alters her, züchtig und ehrlich, ohne Verdrehen, Umschlingen und andere böse Geberden« ausgeführt werde.7 Doch gerade Frauen wehrten sich gegen solche Verbote. Sie weigerten sich, mit Männern zu tanzen, die sie nicht drehten und in die Luft warfen. In der Herkunft des europäischen Paartanzes zeichnet sich damit eine doppelte Bewegung ab: Es entstand eine neue Tanztechnik, die mit Berührung, Gewichtsverlagerung, Stabilisierung und Beschleunigung der eigenen Bewegung durch den Tanzpartner arbeitete und neue Formen der Kommunikation und Kooperation erprobten. Und es begann ein Diskurs der Problematisierung, der die Körperbewegungen insbesondere tanzender Frauen überwachte, regulierte und kontrollierte.8 In dem oben zitierten Erlass aus Magdeburg von 1544 findet sich als Gegenbild zu Werfen, Springen und Schwingen der tanzenden Menge die Beschreibung eines Reigentanzes, in dem die Tänzer einem Vortänzer »in so großer Einigkeit« folgten, dass dieser »bis in die zweihundert Tänzer regieren« könne. Der europäische Gesellschaftstanz war Bestandteil von Techniken der Menschenführung, die Michel Foucault als Disziplinarmacht analysiert.9 Hier sollten »gelehrige Körper« produziert werden, die nicht nur beherrschbar, sondern selbständig tätig und arbeitsam sein sollten.10 Doch der Paartanz verhielt sich nicht nur funktional zu diesen Techniken der Nutzbarmachung des Körpers. Denn anders als in choreografierten Formationstänzen, wie sie aus der höfischen Tradition in die Tanzhäuser der frühneuzeitlichen Städte Eingang fanden – die teils auswendig gelernte Schrittfolgen umfassten, teils einem laut gerufenen Kommando folgten –, waren die Tänze, gegen die Kirchen- und Stadtverordnungen zu Felde zogen, improvisiert und zielten auf eine Intensivierung körperlicher Kommunikation ab. Die Tänzer warfen nicht nur die Frauen in die Luft und wirbelten sie herum, sondern stampften mit den Füßen auf die Erde, wirbelten selbst wie Kreisel umher, warfen ihre Beine in die Luft, liefen ziellos durch den Raum, verfolgten einander und versuchten, sich gegenseitig in ihren Bewegungen zu übertreffen.11 Dass sich Frauen
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Ratserlass Magdeburg, 1544; zitiert nach Jung, Körperlust, S. 51. Interessant ist hierbei auch die Herkunft des Walzers aus der südfranzösischen Volte, die ebenfalls im 16. Jahrhundert in verschiedenen Teilen Europas populär war und Eingang in das höfische Repertoire fand, bevor sie verboten und zum Teil sogar im Zuge der Hexenverfolgung kriminalisiert wurde, vgl. Hess, Walzer, S. 49-84. Zur Schaffung von gelehrigen Körpern über Disziplinartechniken, vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 190: »Die erste Operation der Disziplin ist also die Errichtung von »lebenden Tableaus«, die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen. [...] Es geht um die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine »Ordnung« verliehen werden muß.« Foucault, Überwachen, S. 176-177. Jung, Körperlust, S. 49-50.
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plötzlich von Männern herumwirbeln lassen wollten, repräsentierte nicht etwa eine bestehende Geschlechterordnung. Im Gegenteil war das Verhältnis zwischen dem, der führte, und dem, der geführt wurde, potentiell reversibel, so dass auch die Frauen bisweilen die Männer in die Luft warfen. Eine Quelle aus dem 16. Jahrhundert betonte diese Initiative von Frauen bei den neuen Tänzen: »[Ja] die Mägde werffen un schwingen nun die Knechte selber/ wenn die Knechte je zu faul seyn wollen.«12 In Tanzerlassen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist zu lesen, dass junge Männer das Tanzen »missbrauchen« würden, um Frauen »übermäßig« herum zu schwingen und zu verdrehen. Männer mussten eine Strafe bezahlen, wenn sie die Grenzen des Erlaubten verletzten, wobei diese Überschreitung am Körper der tanzenden Frauen festgemacht wurde: an Röcken, die zu hoch flogen und an nackten Beinen, die dabei zu sehen waren. 13 Kommunikation und Kooperation waren für diese Art des Tanzens notwendige Voraussetzung. Dies erzeugte ein Spannungsverhältnis, das nicht nur soziale und geschlechtliche Platzzuweisungen, sondern auch den Sinn und Zweck des Tanzens selbst in Frage stellen konnte. Die Obrigkeit – gerade wenn sie ihre Legitimität erst noch beweisen musste – wollte das Tanzen für das Vorhaben einer zweckgerichteten Gemeinschaftsbildung nutzbar machen, in der alles an seinem ihm zugewiesenen Platz sein sollte. Die Geschichte des europäischen Paartanzes durchzieht damit seit der frühen Neuzeit eine konstitutive Konfliktlinie, die in der Frage gründet, wem das Vermögen des kollektiven Tanzens zu Gute kommen soll: einer präfigurierten gesellschaftlichen Ordnung – selbst wenn es die in der Form noch gar nicht gab, sondern sie sich in den Formationen selbst entwarf und ihre Fähigkeit zur Selbstregierung und Selbstdisziplin vor Augen führte –, oder einer tanzenden Menge, die nicht den Anspruch erhob, Gesellschaft zu repräsentieren, wenn sie den Boden unter den Füßen verlieren wollte oder sich dem Wirbel kooperativ ermöglichter Drehungen hingab. Das Verhältnis von Führen und Geführtwerden war damit in seiner Entstehung komplexer, als Gegenüberstellungen von Freiheit und Unterwerfung, Aktivität und Passivität, von Kommando und Gehorsam suggerieren. Machte sich eine Tänzerin nicht vielmehr die Kraft eines Tanzpartners zunutze und kombinierte sie mit ihrer eigenen, um der Schwerkraft und den Geschlechterrollen gleichermaßen zu trotzen, die sie auf dem Boden der Tatsachen halten wollten? Die Entstehungsgeschichte 12
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Florian Daul: Tanzteufel 1569, Neudruck München 1978, S. 37. Daul war ein Dorfpfarrer aus Oberschlesien, der vergeblich versucht hatte, seiner Gemeinde das nächtliche Tanzen auszutreiben. Wie andere evangelische Moralisten problematisierte er nur diejenigen Tanzformen, die mit Hochspringen, Hochwerfen, Stampfen, Klatschen, Umdrehen und Verdrehen verbunden waren. Tänze im geordneten Aufzug oder als Reigen hielt er für ehrbar und unproblematisch, vgl. Kurt Petermann: Nachwort, in: Daul, Tanzteufel, S. 1-45, hier S. 27-28. Vgl. Jung, Körperlust, S. 50.
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des europäischen Paartanzes ist deshalb so interessant, weil sie belegt, dass kollektive Kämpfe um Bewegungsfreiheit und Autonomie nicht immer schon auf Individualisierung im Sinne von Selbstführung und Selbstdisziplin ausgerichtet waren, sondern situativ in Konstellationen entstanden, die Fähigkeiten zur Kooperation und Kommunikation erprobten. Zugleich ist diese Geschichte durchzogen von den Effekten einer Strategie der Regulierung, die sich dieses Vermögen im Sinne einer Lebenssteigerung gesellschaftspolitisch anzueignen versuchte. Der Versuch, das Tanzen in der Neuzeit zu regulieren, war deshalb nicht nur repressiv, sondern produktiv, wie Volker Saftien in seiner Studie über den europäischen Gesellschaftstanz im Zeitalter der Renaissance zeigt.14 Die Hereinnahme dieser neuen Tanztechnik in einen regulierten, produktiven Gesellschaftstanz war jedoch riskant. Ständig drohte Grenzüberschreitung in dieser öffentlich zelebrierten körperlichen Nähe zwischen Mann und Frau. Detaillierte Verhaltensregeln zwangen deshalb all jene, die keinen Skandal riskieren wollten, zu einer beständigen Selbstüberwachung ihrer Bewegungen.15 Ein diffiziles Rollenspiel voller Vorwände, Lügen und taktischem Schweigen über tatsächliche Wünsche entstand, mit dem sich Tänzer_innen solchen Anforderungen zu entziehen versuchten, ohne Grenzen offen sichtbar zu verletzen. Ein Regime aus Scham und Peinlichkeit kolonisierte die Tanzfläche der bürgerlichen Gesellschaft.16 Diese Auseinandersetzungen mündeten auch in eine ausufernde Sexualisierung des Körpers, was ein Begehren entfachte, das im Tanzen selbst nicht erfüllbar war. Doch die so angeeigneten Tänze waren ein ambivalentes Geschenk an die bürgerliche Gesellschaft. Schließlich waren nicht alle gleichermaßen darauf bedacht, keinen Skandal zu riskieren. Im Gegenteil luden diese Grenzverhandlungen und Sublimierungsstrategien all jene, die ohnehin kein gutes Ansehen hatten, zu Parodien und Überzeichnungen ein, die den Prozess der Sexualisierung auf die Spitze trieben. Ein Beispiel ist der Cancan, ein ausgelassener französischer Gesellschaftstanz des 19. Jahrhunderts.17 Obwohl heute in erster Linie Cancan-Tänzerinnen erinnert werden, tanzten 14
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Vgl. Volker Saftien: Ars Saltandi. Der europäische Gesellschaftstanz im Zeitalter der Renaissance und des Barock, Hildesheim u.a. 1994, S. 362 ff. Allerdings kann Saftien in seinem Fokus auf höfische und bürgerliche Akteure nicht erklären, warum diese regulierten Tänze im Lauf der Zeit an Attraktivität verloren und als »steif« empfunden wurden. Er nimmt es als selbstverständlichen Lauf der Dinge an. Zur Festschreibung geschlechtsspezifischen Verhaltens durch den Tanz in der Frühen Neuzeit, vgl. Jung, Körperlust, S. 333 ff. Jung nennt hier die zum Teil bis heute durchgesetzte Regel, dass Frauen warten müssten, bis sie aufgefordert werden und eine Aufforderung nicht ablehnen dürften, damit der Mann sein Gesicht nicht verliere, vgl. Jung, Körperlust, S. 335. Zur Entstehung des Cancan in der postrevolutionären Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich vgl. Claudia Balk: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, in: dies./Brygida Ochaim: Varieté-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, Frankfurt am Main/Basel 1998, S. 7-68, hier: S. 53-54.
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ihn kontinuierlich Männer wie Frauen. Er zeichnete sich durch hohes Tempo und spektakuläre Beinwürfe aus. Ein steil nach oben gestrecktes und mit der Hand festgehaltenes Bein gab bei den Frauen den Blick auf die Unterwäsche frei. Ähnlich komplex ist das Verhältnis des Apachentanzes zur Form des europäischen Paartanzes. Es handelte sich um einen Schiebetanz, bei dem der Mann die Frau immer wieder von sich wegstößt und zu sich hinzieht, sie durch die Luft und auf den Boden schleudert. Teils wehrt sich die Tänzerin, teils lässt sie sich virtuos fallen. In seiner professionellen Bühnenform nahm der Apachentanz Elemente der Akrobatik in sich auf. Als Gesellschaftstanz stellt er eine Vorform der Würfe und Sprünge von Lindy Hop und Rock 'n' Roll dar.18 Der Apachentanz reüssierte um 1900 als Bühnenspektakel in Europa und den Amerikas und stellte das Verhältnis zwischen dem tanzenden Paar als Geschlechterkampf dar. Der Begriff geht, wie schon im vorigen Kapitel erwähnt, auf Jugendbanden in den Pariser Vorstädten zurück. Während die betroffenen Jugendlichen für ihre kleinkriminellen Aktivitäten mit schweren Haftstrafen belegt wurden, die sie zum Teil sogar in den französischen Kolonien absitzen mussten, entwickelte sich eine Apachenmode, die eine dissidente, kämpferische, hedonistische und nach eigenen moralischen Regeln agierende Haltung zum Ausdruck brachte. Der Apachentanz entstand aus dieser Situation, einer Mischung aus Solidaritätserklärung und Exotisierung einer Kultur der Vorstadt. Wie die folgenden Kapitel zeigen, wurde er immer wieder aufgegriffen, um die Dynamik des Tanzens im Black Atlantic begrifflich zu erfassen. Die transatlantische Dimension des Apachentanzes ist nicht nur durch seinen Erfolg in den USA belegt, sondern schon in seinem Namen offensichtlich – der Gleichsetzung renitenter Jugendlicher in Paris mit dem Kampf von Native Americans gegen weiße Siedler. Diese metaphorische Verbindung von Europa und Amerika assoziierte Widerstand gegen Disziplinarmechanismen und Einschließungsmilieus in den Metropolen mit anti-kolonialem Widerstand.19 Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelten sich daraus Formen oppositioneller Gegenidentifikation.20
18
19
Vgl. Vgl. Kid Foley/Sailor Lil: A Tough Dance (USA 1902), American Mutoscope and Biograph Company, http://memory.loc.gov/ammem/vshtml/vshome.html; einige Szenen mit Apachen finden sich auch in Les Vampires (F 1915), Regie: Louis Feuillade; außerdem war der Apachentanz in amerikanischen Filmen der 1920er und 30er Jahre ein beliebtes Motiv, um die Pariser Unterwelt zu portraitieren, vgl. Paris (USA 1927) mit Joan Crawford; Charlie Chan in Paris (USA 1935); viele filmische Reinszenierungen des Apachentanzes waren aber auch ironisch-komödiantisch, vgl. O-kay for Sound (USA 1937). Zur Kolonisierung von Lebenswelten durch staatliche Jugendfürsorge Detlev Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge, Köln 1986, S. 311 ff. Allerdings ist die Frage, ob die Analogie von innerer und äußerer Kolonisierung aufgeht. Sie wird bei Peukert analytisch durch Begriffe von Wildheit und Barbarei zusammengehalten, obwohl es sich dabei um Quellenbegriffe handelt. Prakti-
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Abbildung 2: »Apachentanz«. Zeitschrift Simplicissimus 1911.
Dabei näherten sich die Aneignungen und Umwendungen bürgerlicher Tanzkultur wieder an ihre polemische Herkunft an. Sie warfen erneut die Frage auf, ob die Kräfte und Fähigkeiten, die das Tanzen erzeugt, nicht auch ganz anderen Zwecken zu Gute kommen könnten als der (Selbst-) Regierung und der Reproduktion einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Diese Geschichte lässt sich deshalb nicht linear erzählen, weder als Prozess zunehmender Zivilisierung in der wellenförmigen Bewegung von Revolution und Reform, noch als Geschichte der Repression, der eine Geschichte der Befreiung des Tanzens folgte. Die Geschichte des Tanzens in der Moderne konstituierte keine Linie auf einer imaginären Zeitleiste, sondern die schwindelerregende Dynamik einer Spirale oder eines Strudels.
20
ken der Bezugnahme waren aber auch Strategien der (Ent-) Subjektivierung und setzten ein Begehren nach anderen Formen der Soziabilität um. Vgl. Barbara Manthe: Navajos und Edelweißpiraten in Köln. Zur Politisierung unangepassten Jugendverhaltens im »Dritten Reich«, in: Geschichte in Köln 2007 (54): S. 197217; Alfons Kenkmann: Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen 2002.
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»... IF
ANY OF IT STOPPED , FOR A SINGLE INSTANT , THE
WHOLE WORLD WOULD FALL TO PIECES ...« Savoy Ballroom, Harlem, New York, in den 1930er Jahren. Ein jüdischer Einwanderer, der unter dem Pseudonym Leonard Q. Ross für das Magazin New Yorker schreibt, steht am Rande der Tanzfläche. Ob er ohne Partnerin auf die Tanzfläche gehen könne, fragt er einen Mann neben sich. Wozu er denn eine Partnerin brauche, fragt der zurück. Er wolle sowieso nur zuschauen, erklärt Ross. »Jes' suit yo'self, Mister. We all does!« antwortet der erste. Ross wagt sich in die tanzende Menge und schreibt in seinem Bericht über den Abend, er habe diesen Ratschlag nie wieder vergessen.21 Etwas war anders, als er erwartet hatte. Er sollte einfach machen, worauf er Lust hat. Auf wenigen Seiten beschreibt Ross, was er erlebt hatte: »The first thing I saw, on a huge oblong of a dance floor, was some four hundred black dancers going stark mad. Men were lifting women way up, throwing them down, flinging them over their shoulders, tossing them over their heads, hurling them to arm's length, yanking them back, shaking them like wet mops.«
Und er sah Frauen in Aktion treten: »[G]irls grab men around the waist and slide to the floor like epileptic snakes. Maidens clasped hands behind men's necks, moaning with joy, while their feet dragged and their bodies wriggled to the drumbeat. I saw an Amazon in a red sweater get a standing scissors on her enchanted partner, throw her head back til it trailed near the floor, and dance with her arms.«
Ross war dem Geschehen nun so nah, dass er Angst bekam, aus Versehen von einem »flying arm or foot« getroffen zu werden. Er schlängelte sich irgendwie durch und fühlte sich »like being in the center of a particularly violent tornado.« Hier in der Mitte der Tanzfläche tanzten nicht nur Paare, sondern ganze Gruppen miteinander, verständigten sich über Zeichen, Pfiffe und Schreie und synchronisierten ihre Bewegungen. Die Gruppenkonstellation löste sich auf, »with the she-devils taking an impulsive hop, skip and jump to their swain's shoulders, gripping the men's necks with their thighs, and laying on with hands – howling all the while. I was bewildered.«22 Leonard Ross fiel auf, dass sowohl Frauen wie auch Männer aktiv waren. Im ersten Zitat beschreibt er diese Handlungen fast technisch, als seien die Frauen zu Wurf- und Schüttelobjekten geworden. Im zweiten Zitat nutzen die Frauen die Kör21 22
Leonard Q. Ross: The Strangest Places, New York 1939, S. 179-184, in: David Meltzer (Hg.): Reading Jazz, San Francisco 1993, S. 153-155. Ross, Strangest Places, S. 154.
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pergröße ihrer Tanzpartner, um ohne Boden unter den Füßen zu tanzen. In der dritten Szene beenden sie eine offene Gruppenkonstellation, indem sie wieder Paarkonstellationen herstellen. Ross nennt sie hier »she-devils«, allzu bedrohlich erscheint ihm ihre Fähigkeit, selbst auf die Schultern ihrer Partner zu springen und deren Hälse mit ihren Schenkeln zu umfassen. Er ist verwirrt. Zugleich beschreibt er das Geschehen mit zunehmender Begeisterung: »A man seized a woman with a Comanche whoop and began to twirl as if he believed in perpetual motion. A couple began to wrestle. Two coryphees went into a cakewalk. Couples joined the alarming cotillon until the floor looked like a chiropractors' brawl. One opaque Nijinsky grabbed his partner in an admirable half-Nelson and hauled her down the length of the floor (two-thirds of a block), twisting her from side to side while her heels beat a tattoo on the hardwood. It was beautiful.«23
Nun benennt Ross Figuren und historische Tänze, die ihm geläufig waren und die er in dem Durcheinander zu erkennen glaubt und spricht als wissender Aficionado. Er findet alles wunderschön, vergleicht einen Tänzer mit dem russischen Bühnentänzer Vaclav Nijinsky, verweist auf afroamerikanische und europäische Vorläufer der Figuren und verkehrt die Perspektive des Anfangs, als er »four hundred black dancers going stark mad« zu sehen glaubte. Nun erscheint ihm alles genau richtig, wie es war: »I had a premonition that if any of it stopped, for a single instant, the whole world would fall to pieces.«24 Über ängstliche Anziehung und anfängliche Verwirrung fand Ross zu einem Zustand der Begeisterung, in dem er zu verstehen glaubte, dass die Welt, so wie sie war, nur noch funktionieren konnte, wenn auf ihr genau auf diese Art und Weise getanzt wurde.25 Der Savoy Ballroom in Harlem war in den 1920ern und 30ern ein zentraler Ort der Erfindung neuer Tänze, besonders der Swingtänze wie dem Lindy Hop mit seinen spektakulären Würfen.26 Es war einer der wenigen Orte in New York, an dem alle mit allen tanzten. Denn oft waren die Nachtclubs von Harlem segregiert.27 Ross betritt das Savoy als Outsider, der nur zuschauen will. Dann taucht er in die tanzen-
23 24 25
26 27
Ross, Strangest Places, S. 155. Ross, Strangest Places, S. 155. Ross bedient sich hier einer Recherchemethode und eines narrativen Genres, das in den USA seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff slumming bekannt geworden ist, vgl. dazu Kap. II.1. Frankie Manning/Cynthia Millman: Frankie Manning. Ambassador of Lindy Hop, Philadelphia PA 2008, S. 61 ff. In manchen Klubs traten afroamerikanische Künstler_innen zwar auf der Bühne auf, waren als Publikum aber nicht zugelassen. In anderen waren afroamerikanischen Gästen bestimmte Tage vorbehalten. Zum Cotton Club und Connie's Inn, vgl. Jervis Anderson: This was Harlem. A Cultural Portrait, 1900-1950, New York 1982, S. 173-177.
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de Menge ein und beginnt zu verstehen, was hier vor sich geht: Ein ganzes Repertoire der Tanzgeschichte steht den Leuten zur Verfügung, um für sich selbst, zu zweit oder in Gruppen Situationen zu schaffen, die ihnen passen. In dem Film Hellzapoppin' von 1941 treten in einer berühmten Tanzszene die Whitey's Lindy Hoppers auf.28 Die Gruppe wurde von einem ehemaligen Boxer und Türsteher des Savoy aus den besten Tänzerinnen und Tänzern des Clubs zusammengestellt und trat professionell in Filmen und Shows auf. Der Tanz in Hellzapoppin' wurde für ein Publikum choreografiert, das ihm nicht notwendig wohlgesonnen war. Die Tänzer_innen stellen vor allem Tempo und Akrobatik aus, was den Tanz glatt und unangreifbar macht. Die spielerische Kommunikation zwischen den Paaren, der spontane Wechsel von Dynamiken und Initiative verschwindet dabei, der Inszenierungsgrad verleiht der Szene eine merkwürdige Künstlichkeit. Die Würfe und Sprünge, denen sich die Tänzerinnen aussetzen, erscheinen fast brutal – man hat den Eindruck, einer Art Geschlechterkrieg beizuwohnen. Eine Sequenz überhöht diesen Aspekt selbstironisch: Eine der Tänzerinnen nutzt einen Moment, in dem ihr Partner ihr den Rücken zukehrt, um ihm einen spielerischen Tritt in den Hintern zu geben, der ihn zu Boden wirft. Die Szene ist zudem narrativ gerahmt: Die Tänzer_innen tragen die Uniformen von Küchenpersonal und Dienstmädchen. Wie in einem spontanen Ausbruch von Tanzlust unterbrechen sie ihre Arbeit und beginnen zu tanzen. Sie wähnen sich unbeobachtet, doch am Ende schneidet der Film auf eine Gruppe weißer Gesichter, die ihnen die ganze Zeit hinter einem Vorhang versteckt zugeschaut haben. Die Tänzer_innen springen wie ertappt auf und laufen davon, um wieder die Position der Arbeiter_innen einzunehmen. Dieser Schnitt erfüllt eine doppelte Funktion: Er spiegelt weißen Zuschauer_innen, wie sie das Geschehen aufzunehmen haben – positiv, gönnerhaft, spaßhaft – und unterbricht zugleich die Fantasie der Bewegungsfreiheit, die der Tanz selbst erzeugt, indem er eine überwachende Instanz einführt: Sie bemerkt das Unterbrechen der Arbeit und toleriert es nur deshalb, weil es einem weißen Publikum unverhofften Unterhaltungswert verspricht. Retrospektiv ist es dieser gelenkte Blick, der einen spezifischen Rassismus dokumentiert. Diese historischen Schlaglichter – das Werfen und Springen in der frühen Neuzeit, Cancan, Cakewalk und Apachentanz um 1900 und die Szenarien aus dem Savoy Ballroom in den 1930er Jahren – zeigen, dass Herrschaftseffekte im Paartanz eher über einen überwachenden Blick und die Aufteilung von Räumen umgesetzt wurden, als dass sie per se in der Rollenaufteilung von Führen und Geführtwerden begründet lägen. Im Gegenteil fallen Spannung und Reversibilität in diesem Verhältnis auf. Frauen waren aktiv an dieser Art und Weise zu tanzen beteiligt. Ob der Paartanz Herrschaftsverhältnisse widerspiegelte, erscheint aus dieser Perspektive 28
Universal Pictures verfilmte mit Hellzapoppin (USA 1941), Regie: Henry C. Potter ein gleichnamiges Musical, das von 1938 bis 1941 am Broadway gezeigt wurde.
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fragwürdig. Vielmehr gab er sie der tänzerischen Aushandlung preis, machte sie sichtbar, angreifbar, auslachbar und sogar umkehrbar. Der nächste Abschnitt zeigt, dass die Techniken, die beim Tanzen geschlechts- und klassenspezifisches Verhalten einüben sollten, gerade nicht im Tanzen selbst begründet lagen, sondern in den Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs.
»G ESELLSCHAFTLICHER V ERKEHR « UM 1900 In ihrem Artikel über The Politics and Poetics of Dance blickt die Anthropologin Susan A. Reed auf gut zwanzig Jahre neuerer Forschung zum Verhältnis von Tanzen und Gesellschaft zurück.29 Statt ein eurozentristisches Narrativ von Entwicklung oder Zivilisierung anzunehmen, setzt die Autorin unterschiedliche Forschungsergebnisse zu verschiedenen Epochen, Regionen und Disziplinen miteinander in Beziehung. Tanzen, so argumentiert Reed, bringe kulturelle Werte zugleich zum Ausdruck und fordere sie heraus. Dieses scheinbare Paradox habe mit dem Vermögen des Körpers zu tun, die Trennung von Subjekt und Objekt zu unterlaufen. Körper sollen deshalb nicht wie gegebene Entitäten vorgestellt, sondern stets in Relation zu historisch spezifischen, körperlichen Aktivitäten und Regimen von Körperlichkeit untersucht werden.30 Diese Perspektive ist auch für den Gesellschaftstanz aufschlussreich. In seiner empirischen Untersuchung über die Art und Weise, wie Männer und Frauen im Braunschweiger Arbeitermilieu des 19. Jahrhunderts ihre Ehepartner suchten, zeigt Stefan Bajohr, dass Tanzen dabei eine zentrale Rolle spielte.31 Anders als unter bäuerlichen Bedingungen war die Wahl eines Ehepartners nicht mehr in erster Linie davon bestimmt, ob jemand Grund und Boden hatte, sondern die Eltern ermutigten ihre Kinder dazu, jemanden zu finden, der zu ihnen passte. Und viele trafen ihre Entscheidung beim Tanzen. Solche Veränderungen in der Populärkultur reagierten nicht nur auf die Industrialisierung, sondern nahmen sie zum Teil vorweg, so Michael Phayer.32 Die zunehmende Individualisierung beim Tanzen – von der Gruppe zum Paar – wäre aus dieser Perspektive eine Flucht vor der kommunalen Vereinnahmung und Überwachung von Erotik und Sexualität, in der es nichts Privates geben sollte. Im modernen Walzer war das Tanzpaar dagegen auf sich selbst bezogen und drehte sich buchstäblich um sich selbst, während es die Tanzfläche umrundete. Remi Hess betont die doppelte Bewegung
29 30 31 32
Susan A. Reed: The Politics and Poetics of Dance, in: Annual Review of Anthropology 1998 27: S. 503-532. Reed, Politics, S. 520-521. Stefan Bajohr: PartnerInnenwahl im Braunschweiger Arbeitermilieu 1900-1933, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2003 (3): S. 83-98. Vgl. J. Michael Phayer: Industrialization and Popular Culture, in: Harold T. Parker (Hg.): Problems in European History, Durham NC 1979, S. 112-123, hier: S. 115-121.
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im Walzer, die das Paar nicht nur individualisierte, sondern viele Paare gleichzeitig auf die Tanzfläche brachte, die durch gegenseitige Achtsamkeit einen gemeinsamen Schwung erzeugen sollte.33 Während sich die bürgerliche Gesellschaft im Verlauf des 19. Jahrhundert aus den öffentlichen Tanzhäusern zunehmend zurückzog und private Veranstaltungen organisierte, erkämpften sich die Arbeiter_innen in den Städten nach und nach das Recht, auch in der Öffentlichkeit so viele Tanzveranstaltungen abhalten zu dürfen, wie sie wollten.34 Michael Zimmermann zeigt für die Stadt Essen um 1900, dass die Versuche, die Tanzlust polizeilich unter Kontrolle zu bringen, im Kaiserreich beständig scheiterten. Gegen die strengen Konzessionsregeln nutzten Veranstalter_innen das Vereinsrecht, so dass praktisch wöchentlich Tanzveranstaltungen für Mitglieder und ihre Gäste stattfanden.35 Im Folgenden soll die Rolle des Tanzens in der Reproduktion patriarchaler Verhältnisse genauer in den Blick genommen werden, um eine geschlechtsspezifische Dimension dieser Konflikte zu rekonstruieren. Es zeigt sich, dass der Gesellschaftstanz um 1900 Frauen besonders rigoros in diese Verhältnisse einspannte. Sie waren aufgerufen, an der Aufrechterhaltung bestimmter Normen aktiv mitzuwirken und Verantwortung für deren Einhaltung zu übernehmen. 1906 veröffentlichten zwei Wiener Aristokratinnen unter dem Pseudonym W.K. Jolizza Die Schule des Tanzes. Die Publikation beschrieb neue und alte Tänze und lieferte Handlungsanweisungen für das korrekte Benehmen im Ballsaal. Darüber hinaus vermittelte das Buch einen historischen Überblick über die Geschichte des Tanzens. Die Autorinnen integrierten den Cakewalk als »neuen Tanz« in die lange Liste europäischer Tanzformen, vereinnahmten ihn als »Promenade« und reduzierten ihn auf exakt sieben Figuren. Improvisation war nicht mehr vorgesehen, Spaß zu haben aber gleichsam verordnet: Die Jugend solle sich beim Tanzen »ausleben«, das gelinge aber nur, wenn bestimmte Regeln des »gesellschaftlichen Verkehr[s]« eingehalten würden. Das Buch sollte diese Regeln vermitteln und Anleitungen zum »Frohsinn« geben. Besonders für Frauen galten komplexe Konversationsregeln: »Stets liebenswürdig mit allen, Verstand und Humor in richtiger Weise entfaltend, dabei nicht allzu vorlaut ihre Meinung vordrängend, ohne jedoch in nichtssagendes Schweigen zu verfallen, oder sich durch zweideutige Antworten herabzusetzen, vermag die Dame durch stetes Beobachten einer gewissen Reserve und heiteren Ruhe jeder Zudringlichkeit und gefährlichen
33 34 35
Vgl. Hess, Walzer, S. 127. Vgl. Phayer, Industrialization, S. 118-119. Vgl. Michael Zimmermann: Schieber, Shimmy, Swing. Populärer Tanz zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: ders./Oliver Scheytt/Patricia Stöckemann (Hg.): Tanz-Lese. Eine Geschichte des Tanzes in Essen, Essen 2000, S. 166-190, hier: S. 167174.
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Intimität vorzubeugen, ohne deshalb langweilig und prüde zu erscheinen. Ein leichter Flirt erhöht selbstverständlich den Reiz der Unterhaltung.«36
Diese Anleitung betonte das Vermögen einer Frau, eine Situation zu meistern, nahm sie dadurch aber zugleich in die Verantwortung, ein zuviel an Zudringlichkeit oder Intimität zu verhindern. Sie forderte Frauen auf, zu flirten und die Sexualisierung der Gesprächssituation anzureizen, die dabei erzeugte Energie aber sorgfältig zu verwalten. Das »junge Mädchen« sollte weder als Ballkönigin triumphieren und damit zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, noch in »herzloser Koketterie« mit einem Mann spielen: »Ihre ganze Haltung trage den Stempel natürlicher Bescheidenheit und Anmut, gepaart mit ruhiger Sicherheit des Benehmens, welchem auch der jugendliche Frohsinn nicht fehlen darf. Doch hüte sie sich, im Eifer der Unterhaltung durch übermäßiges Lachen, zu lautes Sprechen und lebhaftes Gestikulieren die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken.«37
Es ging darum, auf eine gezügelte Art und Weise natürlich zu sein: Fröhlichkeit war das Kapital der jungen Frau, sie durfte es aber nicht (nur) zu ihrem eigenen Zweck nutzen, sondern es sollte dem »gesellschaftlichen Verkehr« dienen und seinen Regeln gehorchen.38 Das Training dafür begann früh und versprach nach Ansicht der Autorinnen Belohnung: Von jüngster Kindheit an lerne die Jugend in den Schulen heute bereits aufrechte Haltung und »natürliches Gehen«. »Linkischer Unbeholfenheit« werde so vorgebeugt.39 Der Eintritt in das gesellschaftliche Leben sei damit für die meisten kein Problem, und so werde »das junge Mädchen [bald] von einem Kreise galanter Herren umringt sein, welche sie um die Gunst eines Tanzes bitten.«40 Doch an diesen Erfolg waren sofort wieder Bedingungen geknüpft: Wer besonders erfolgreich sei, müsse die Reihe der versprochenen Tänze genau im Gedächtnis behalten, um »fatalen Zwischenfällen« vorzubeugen. Und wer nicht so erfolgreich sei, müsse tapfer sein und solle sich seine Kränkung nicht anmerken lassen. Die Autorinnen schlugen vor, Zurücksetzung mit Gleichmut zu ertragen, sich unter andere nicht tanzende Damen zu mischen und »dieses kleine Mißgeschick möglichst schnell zu vergessen!«41
36 37 38 39 40 41
Jolizza, Schule des Tanzes, S. 167. Jolizza, Die Schule, S. 169. »Gesellschaftlicher Verkehr« meint das geregelte Tanzen im Ballsaal, vgl. Jolizza, Die Schule, S. 163. Jolizza, Die Schule, S. 169 Jolizza, Die Schule, S. 171. Jolizza, Die Schule, S. 172.
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Sich natürlich, ungezwungen und gleichmütig zu verhalten, war damit alles andere als selbstverständlich, sondern bedurfte expliziter Aufforderung und Übung. Denn die Regeln des Ballsaals erzeugten offenbar Frustration und Verweigerung: »Wenn [das junge Mädchen] bescheiden und liebenswürdig gegen jedermann, in ihrem Auftreten nicht zu anspruchsvoll ist und den jungen Herren ohne Affektation und Prüderie, als flotte Tänzerin und lustige Gesellschafterin entgegentritt, mit dem unbefangenen Bestreben, sich und andere gut zu unterhalten, so wird ihr das Leben in der Gesellschaft gewiß mehr Rosen als Dornen bringen!«42
Frauen, die affektiert oder prüde agierten, störten die Produktion von Frohsinn. Die Anleitung zum Tanzvergnügen adressierte Frauen als vernunftbegabte Wesen, die kompetent genug seien, die komplexen Konstellationen eines Ballsaals zu verwalten, ohne die Norm weiblicher Zurückhaltung in der Öffentlichkeit in Frage zu stellen. Sie sollten fröhlich, liebenswürdig und bescheiden sein und damit die Energie erzeugen, die den »Verkehr« am Laufen halte. Auch »der junge Herr« musste sich im Ballsaal einer Gemengelage von Regeln unterwerfen – doch wie es scheint, wollte dies noch weniger gelingen als bei den Frauen. Männer sollten in Gesellschaft vor allem nicht »linkisch« oder unsicher sein, so die Schule des Tanzes. Der junge Mann müsse das richtige Maß an höflicher Aufmerksamkeit für Frauen finden und vor allem seine Fähigkeiten als guter Tänzer unter Beweis stellen. »Unwissenheit und Unsicherheit bringt allgemeine Verwirrung und Unordnung hervor und verzeiht man auch einem unerfahrenen, jungen Mädchen gerne solche unliebsame Störung, so wird der Tänzer hingegen unbarmherzig verurteilt.«43
Die Aussicht, unbarmherzig verurteilt zu werden, den ganzen Abend zu stehen, denn die wenigen Stühle waren den Damen vorbehalten, jeden Anflug von Unsicherheit zu verstecken – der bürgerliche Tanzsaal erschien nicht gerade wie ein Ort für junge Männer, um sich »auszuleben«. Die Autorinnen beklagten dementsprechend »nonchalantes, blasiertes, oder allzu freies Benehmen, sowie Rücksichtslosigkeit gegen Respektspersonen, ja sogar gegen Damen«.44 Junge Männer seien wohl heute nur damit beschäftigt, »sich vollständig gehen zu lassen«. Es war Männern möglich, sich eine »schlechte Haltung« zuzulegen, wie die Autorinnen betonen, weil die Anforderungen an sie eindeutig waren und ebenso eindeutig missachtet werden konnten: Sie sollten in erster Linie ihr Können und ihre Stärke zum Aus42 43 44
Jolizza, Die Schule, S. 173. Jolizza, Die Schule, S. 179. Jolizza, Die Schule, S. 174.
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druck bringen. Der ganze Bereich der sexualisierten Kommunikation und ihres Managements lag dagegen im Verantwortungsbereich der Frauen, die unter Einsatz ihres gesamten affektiven Vermögens – Stimme, Haut, Gesten, Augen, schimmernde Kleidung, Andeutungen, Ausweich- und Rückzugsmanöver – die Regulierung des Gefühlshaushalts einer solchen Veranstaltung übernehmen mussten. Die Schule des Tanzes vermittelte Normen, die im Deutschen Kaiserreich um 1900 notfalls auch gerichtlich durchgesetzt wurden. Ein Fall, der 1913 bayerische Gerichte beschäftigte und für den sich auch der Berliner Polizeipräsident interessierte, belegt dies exemplarisch. Nach einem Kurkonzert im Juli 1912 gab es in einem Brauhaus im Kurort Bad Tölz eine Tanzveranstaltung. Emil Gerstle, ein lediger Kaufmann aus Berlin, lernte hier Marta Prostowitz kennen, die teils als »Gesellschafterin«, teils als »Dienstmädchen« von Rosa Blaustein in den Akten geführt wird. Als ein Two-Step gespielt wurde, forderte Gerstle Marta Prostowitz auf und tanzte mit ihr einen »Wackeltanz«. Die anwesenden Gäste ärgerten sich über die »beischlafähnlichen Bewegungen« der beiden und der Kapellmeister forderte Gerstle auf, diese Art des Tanzens zu unterlassen. Schließlich »packten ihn einige und verbrachten ihn aus dem Saale«. Es folgte eine Anklage wegen »öffentlichen Ärgernisses«.45 Was genau die beiden tanzten, lässt sich aus den Akten nicht rekonstruieren. »Wackeln« und »beischlafähnliche[ ] Bewegungen« deuten darauf hin, dass die schon im Cakewalk aktiven Hüften auch hier im Einsatz waren. Mit »Wackeltänzen« waren um 1910 neue Tänze wie der Turkey Trot gemeint. Ähnlich wie der Grizzly Bear oder der Bunny Hug imitierte der Tanz Tierbewegungen, was bisweilen zu ausladenden Armen, rollenden Schultern, Hüpffiguren am Platz und tiefen Kniebeugen führte.46 Die Zeitschrift Elegante Welt berichtete 1912, diese neuen Tänze verlangten viel Aufmerksamkeit für Partner und Musik. Eigentlich wackle man gar nicht, sondern bewege sich, nach beiden Seiten schwankend, zur Musik, während durch die Glieder ein »vibrierender, ungeheurer Rhythmus« gehe. 47 Das Schöffengericht in Bad Tölz, besetzt unter anderem mit einem Schreinermeister und einem Bauern aus der Region, sprach die beiden Angeklagten einige Monate nach ihrem Besuch der Tanzveranstaltung frei. Es sei nicht nachweisbar, dass das Tanzpaar etwas »Geschlechtliches« zum Ausdruck bringen wollte oder die 45
46 47
Abschrift des Protokoll[s] geführt in der öffentlichen Sitzung des Schöffengerichts bei dem Königlichen Amtsgericht Tölz am 25.02.1913, Aussage des Zeugen Eugen Golsong. Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze, 19131926, Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep 030-05 Th 1512. In den Akten findet sich auch eine Artikel aus einer Berliner Tageszeitung: Berliner ›Wackeltänze‹ in Bayern unter Anklage gestellt, in: Berliner Lokal Anzeiger vom 27. 9. 1912. Vgl. Eichstedt/Polster, Wie die Wilden, S. 20-24. K. O. Ebner,: Von der Quadrille zum »Turkey Trot«. Eine Tanzstudie, in: Elegante Welt 1912 (8): S. 14-16.
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Bewegungen überhaupt »beischlafähnlich« gewesen seien. Darüber hinaus seien die »Tanzsitten in den verschiedenen Gegenden verschieden und je nach der Sitte der Bewohner in der einen Gegend auch derber und sinnlicher als in der anderen.«48 Das Landgericht München kassierte das Urteil aber wenige Monate später und verwarf die Berufung der beiden Angeklagten vor dem Obersten Landgericht als »unbegründet«. Aus der Perspektive der Landeshauptstadt hatten sie sich wegen »groben Unfugs« schuldig gemacht. Weil sie trotz Maßregelung weitertanzten, verursachten sie »Aufruhr«. Der Tanz habe eine »unbestimmte Anzahl von Personen in ungebührlicher Weise« belästigt und den »äußeren Bestand der öffentlichen Ordnung gefährdet, wie er sich damals im Tanzsaal verkörperte.«49 Diese Perspektive auf den Tanzsaal fehlte in dem Urteil aus Bad Tölz: Die Zeugen der Verteidigung kamen aus Stettin, Wiesbaden, Mainz und Berlin und das Tölzer Gericht erwartete nicht, dass die von überall her kommenden Kurgäste ähnlich tanzen würden. Doch in München wehrte man sich dagegen, dass durch den Freispruch die Kosten des Verfahrens auf die Staatskasse »überbürdet« würden und sprach Recht im Namen der öffentlichen Ordnung, die sich im Tanzsaal verkörpern sollte. Das Gericht legte den Angeklagten zur Last, die »Maßregelung« durch die lokale Öffentlichkeit ignoriert zu haben. »Dies ist insbesondere für das strafrechtliche Verschulden der Marta Prostowitz von Bedeutung, weil von ihr die Zeugen den Eindruck hatten, daß sie sich mehr passiv verhielt. Denn mindestens in dem Zeitpunkte, als sie von der Entrüstung des Publikums Kenntnis erhielt, hätte sie das weitere Tanzen unterlassen müssen, wodurch dann auch das Gebaren von Emil Gerstle sein Ende gefunden haben würde. – «50
Das Münchner Urteil deutet auf Abgrenzung gegenüber Berliner Sitten hin. Allerdings beobachtete der Berliner Polizeipräsident diese Fälle im Reich genau und wartete selbst nur auf den richtigen Augenblick, ein Verbot auszusprechen. Nachdrücklich bat er deshalb stets um Aktenabschrift. Ende Mai 1913 war es schließlich
48
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Abschrift des Protokolls der öffentlichen Sitzung des Schöffengerichts, Königliches Amtsgericht Tölz am 25.02.1913, Urteil. Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze, 1913-1926, Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep 030-05 Th 1512. Zum Paragrafen »Grober Unfug« im Kaiserreich vgl. Ralph Jessen: Polizei im Industrierevier. Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet, 1848-1914, Göttingen 1991, S. 223-227; zum Verhältnis von Polizei und öffentlicher Ordnung vgl. Thomas Lindenberger: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin, 1900-1914, Bonn 1995. Abschrift der Sitzung der II. Strafkammer des Königlichen Landgerichts München II am 26. April 1913, Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze, 1913-1926, Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep 030-05 Th 1512.
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so weit: Er wies alle Berliner Polizeischutzmannschaften in einem Rundbrief an, ein besonderes Augenmerk auf die Schiebe- und Wackeltänze zu richten, Strafanzeige gegen uneinsichtige Tänzer_innen zu erstatten und den Veranstaltern den Entzug ihrer Lizenzen anzudrohen.51 Die Urteilsfindung in München erinnert an die Art und Weise, wie die Schule des Tanzes Frauen in die Verantwortung nahm, sich zugleich führen zu lassen und doch die Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Hielt sich der Führende nicht an die Regeln der öffentlichen Ordnung, sollte auch die Geführte in die Pflicht genommen werden. Die Angeklagten verteidigten sich im Berufungsverfahren mit dem Argument, sie hätten den Schiebetanz lediglich so getanzt, wie dies üblich sei und hätten dabei kein polizeiliches Verbot übertreten, da im Bezirk Tölz kein Verbot des Schiebetanzes bestehe. Das Argument sei sachlich falsch, allein die Tatsache, dass dadurch »grober Unfug« entstanden sei, zähle. Die Angeklagten verteidigten sich, indem sie auf ihre Expertise verwiesen, was den »noch ganz neuen Tanz« betrifft. Dass sie ihn richtig tanzten, hatten bereits Bad Tölzer Zeugen bestätigt, ein lokaler Buchhalter und der Sohn eines Zinngießermeisters. Beide werden im gleichen Wortlaut zitiert: »Ich kannte den Tanz; ich hatte ihn schon einmal in München gesehen.«52 Es ist interessant, dass das Gesetz in diesem Fall in der Provinz liberaler gehandhabt wurde als in der bayerischen Landeshauptstadt. Bad Tölz hatte kein Interesse daran, über Differenzen unter seinen Kurgästen eine normative Entscheidung zu fällen. Aus der Münchner Perspektive stand dagegen etwas anderes auf dem Spiel. Das Urteil der II. Strafkammer war konservativ und nahm die Situation im Tanzsaal sehr viel ernster: Dort verkörpere sich eine gesellschaftliche Ordnung, deren Veränderung trotz zunehmender Migration, Urbanisierung und neuen Formen der Kommunikation nicht vorgesehen war. Der Fall belegt, dass Tanzen um 1900 deshalb ein erhebliches Potential besaß, im gesellschaftlichen Alltag Ärger zu verursachen. Dass sich die Angeklagten trotz Tanzmaître und bürgerlichem Publikum getraut hatten, auf der Tanzfläche zu »schieben« und zu »wackeln« und dies auch mit Verweis auf »neue Tänze« zu verteidigen wussten, belegt ein neues Selbstbewusstsein, das den jeweils gesetzten Rahmen des Gesellschaftstanzes in Frage stellte. Die Skandalisierung von »beischlafähnlichen Bewegungen« verweist auf flexible Hüften und damit das Repertoire des Black Atlantic. Denn Schiebetänze waren in den Arbeitervierteln von
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Vgl. Abschrift der Anweisung des Polizeipräsidenten vom 31. Mai 1913, Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze, 1913-1926. Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep. 030-05 Th 1512. Protokoll der öffentlichen Sitzung des Schöffengerichts am Königlichen Amtsgericht Tölz, 25. Februar 1913, Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze, 1913-1926, Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep 030-05 Th 1512.
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Wien und Berlin schon seit den 1870er Jahren getanzt worden. Die Tanzrichtung ging nicht mehr im Kreis, sondern »[k]reuz und quer/ hin und her«, wie es in einem Lied über den Tanz Rixdorfer hieß und wie es auch die Kurgäste in Bad Tölz 1913 kritisiert hatten.53 Figuren waren eher eckig als rund und das Tanzpaar rückte eng zusammen. Die Körper lehnten sich dabei aneinander an, wer führte, »schob« seine Partnerin übers Parkett. Der Tanz nahm Elemente der neuen amerikanischen Tänze »vorweg«, schreiben Eichstedt und Polster.54 Aus der Perspektive des Black Atlantic war diese Art zu Tanzen aber kein Anachronismus, sondern eine Technik, die Austausch ermöglichte. Wie der folgende Abschnitt zeigt, ersetzte in den neuen Tänzen einfaches Gehen komplexe Schrittfolgen und mit dem break entschieden die Tanzenden im Einklang mit Musik und Partnerin selbst, wann sie Richtungswechsel oder improvisierte Figuren in ihren Tanz einbauten, anstatt sich den Ansagen des Tanzmeisters zu beugen.
G EHEN Der Cakewalk trägt es bereits im Namen: Der Tanz experimentierte mit dem Gehen als Grundelement des europäischen Gesellschaftstanzes. In Formationstänzen bewegten sich die Tänzer_innen durch den gesamten Ballsaal. Die Promenade als Spaziergang, der keinem anderen Zweck dient, als die Bewegung zu genießen und Körper und Kleidung zur Schau zu stellen, war ein fester Bestandteil dieser Tänze. Sie wurde paarweise ausgeführt, der Tänzer hielt seine Partnerin an der auf Schulterhöhe erhobenen Hand. Tanzmeister führten die Tanzpaare und sagten Figuren an. Der Cakewalk griff diese Form auf und veränderte sie. Die Tänzer_innen eigneten sich eine elegante und herrschaftliche Haltung an und zerlegten sie zugleich in ihre Bestandteile. Alles stand zur Disposition: die Bewegung von Armen, Beinen, Händen, Knien, Hüften, Ellbogen und sogar des Kopfes. Der Tanz schien zu fragen, ob es nicht eigentlich anstrengend sei, die ganze Zeit mit stolzgeschwellter Brust auf Zehenspitzen mit durchgedrückten Knien zu laufen. Was würde passieren, wenn man den Oberkörper nicht streng aufrichtet, sondern nach hinten verlagert? Macht man das mit Kraft, wird es noch anstrengender. Schiebt man aber die Hüfte nach vorn, kippt der Oberkörper wie von selbst nach hinten. Die russisch-amerikanische Tanzhistorikerin Mura Dehn, die in den 1950er Jahren in New York die Entstehungsgeschichte des »black vernacular
53 Zum Genre Berliner Lieder vgl. Kap. II.3. 54 »Damit wurde etwas vorweggenommen, was dem Bürgertum, das mit den Anzüglichkeiten des Proletariats Ende des 19. Jahrhunderts natürlich nichts zu tun haben wollte, erst Jahre später ultramodern erschien: Körper an Körper und in gradliniger Richtung zu tanzen, das entdeckten bourgeoise Nachtschwärmer erst für sich, als es (unter anderem Namen) aus den USA herüberkam.« Eichstedt/Polster, Wie die Wilden, S. 20.
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dance« erforschte, erinnerte sich an ihre Mutter, die den Cakewalk bereits im zaristischen Russland um 1900 gelernt hatte. Sie war nicht begeistert von dem, was ihre Tochter dreißig Jahre später in Paris vermittelt bekam: »You don't bend backwards, you push your pelvis forward, let the body lag behind, lazy like.«55 Um diese Gewichtsverlagerung auszugleichen, wanderten die in der Promenade seitlich ausgestreckten Arme nach vorne und die durchgedrückten Knie knickten ein. Letzteres schaffte Raum für unverhoffte Beweglichkeit, ersteres erzeugte eine Art schlafwandlerischer Pose. Die Schiebe- und Wackeltänze der 1910er Jahre sahen auf den ersten Blick anders aus, gingen aber ähnlich vor. Sie behielten die enge Umarmung des Paares, wie sie aus Walzer und Polka bekannt war, bei und ersetzten die ewig sich wiederholenden Drehungen durch ein entschiedenes Vorwärtsgehen, das von improvisierten, unvorhersehbaren Stops und Drehungen unterbrochen wurde. Dieser Prozess vollzog sich an verschiedenen Orten rund um den Atlantik, die über Migrationsbewegungen miteinander verbunden waren, wie im folgenden Abschnitt Herkunft gezeigt wird. Was die lange Reihe von Modetänzen, die auf den Cakewalk folgten, miteinander verbindet, ist der Fokus auf das Gehen.56 Im Palais de Danse tanze man ein »Konglomerat von Boston, Walzer und Two Step«, schreibt der Berliner Autor F. W. Koebner 1912, aber all die Namen lenkten vom Wesentlichen ab: Das ganze Konzept Tanzen habe sich in den letzten Jahren verändert. »Der Amerikaner nennt es ›Turkey Trot‹, der Engländer ›one step‹, der Berliner ›Schieber‹. Der Pariser bezeichnet nicht das Schema, sondern die Melodie, Mariette, Tango argentino oder Mysterious Rag.«57 Die Bewegungen seien nun genau der Musik angepasst, was Wackeltanz genannt werde, sei eigentlich kein Wackeln, sondern ein rhythmisches Schwanken im Takt der Musik: »Gewandte Tänzer kippen hintenüber, drehen, tanzen offen, gehen – in spanischer Manier – einige Schritte auseinander, dann wieder zusammen.«58 Man tanze »individuell« und genau auf die Musik abgestimmt. Der Leser solle sich vorstellen, die Musik würde plötzlich abbrechen: Die »fidelen Rundtänzer« der Vergangenheit würden einfach weiterdrehen, in einem sich ewig wiederholenden Schema. Doch die »modernen Tänzer« würden »fassungslos auf einem Fleck« stehen bleiben. Sie hätten ein ganz anderes Verhältnis zur Musik, auf die sie flexibel und aufmerksam reagierten. Vom Mann forderten die Tänze, zu jeder Musik, mit jeder Frau, auf engstem Raum tanzen zu können. Von der Frau wiederum, sich von jedem Mann führen zu lassen: »Sie muß fühlen, was
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Box 3 Folder 64. Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, Jerome Robbins Dance Collection, New York Public Library, New York City. Ritzel, Synkopen-Tänze, S. 165. F. W. Koebner: Die Bälle der Behrenstraße. Metropol Palais de Danse, in: Elegante Welt 1912 (8): S. 10-12. Ebner, Von der Quadrille zum »Turkey Trot«, S. 14-16.
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der Partner will.« Dafür trage dieser jedoch eine neuartige Verantwortung für das Gesamtergebnis und müsse sein individuelles Bedürfnis nach Selbstdarstellung zurücknehmen: »Er muß in erster Linie auf das Aussehen der Frau achten, die er ja doch beim Tanz als willenloses Geschöpf in seinem Arm hat, das auch dem kleinsten Drucke sofort nachgibt.« Wer diese neuen Techniken beherrsche, könne »auch die exzentrischen Tänze tanzen.«59 Koebner sprach hier aus der Perspektive von jemandem, der mit dieser neuen Intensität des Tanzens vertraut war. Er war aber auch ein genauer und neugieriger Beobachter dessen, was auf den Tanzflächen der Stadt vor sich ging und begegnete dabei Frauen, die eher das Gegenteil von willenlosen Geschöpfen waren. »Dort drüben tanzen zwei Frauen zusammen. [...] Die Schultern hochgezogen, so daß man die Gesichter kaum erkennen kann, die Arme eng an den Körper gepreßt, Glied auf Glied, Kopf and Kopf, gehen sie über das Parkett, knicken sie plötzlich in die Knie, schwanken sie unmerklich nach beiden Seiten, kippen sie abwechselnd weit hintenüber, bis die Federn der Pelztoques den Boden streifen. Jede Bewegung verkörpert den rhythmischen Takt der Musik.«60
Die Führung war hier als sensibles und aufmerksames Reaktionsschema vorhanden, jedoch nicht in aktive und passive Rollen festgeschrieben. Vielmehr, so scheint es, wechselten sich die beiden Frauen ab, wer jeweils welche Funktion übernahm. Koebner unterstellte ihnen nicht, wie sonst oft üblich, dass sie nur aus Mangel an einem männlichen Tanzpartner miteinander tanzten. Ihn interessierte dieses neue Konzept des Tanzens, wie getanzt wurde, nicht wer mit wem tanzte. Das galt auch, wenn eine Frau alleine und für sich tanzte, ein Phänomen, das in der Form für Männer nicht dokumentiert ist. Die neue Tanztechnik galt vielen als »anstößig«. In den Akten des Berliner Polizeipräsidenten findet sich folgende Beschreibung des Tanzstils eines Berliners: »[Der Angeklagte] tanzte, während die Musik Polka spielte, mit einer den vornehmen Ständen angehörigen Dame in der Weise, dass er die Dame mit einer Hand weit unten an ihrem Gesäss festhielt, dass er die Dame fest an sich drückte, dass er seine Knie zwischen die Knie der Dame schob und dass er mit vorgestreckten Unterleib die Dame vor sich herschob.«61
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Ebner, Von der Quadrille zum »Turkey Trot«, S. 14-16. Koebner, Behrenstraße, S. 10-12. Abschrift 01. April 1913, Königliches Amtsgericht München, in: Akten des PolizeiPräsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze, 1913-1926. Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep. 030-05 Th 1512. Mehr zum Fall Joachim Friedenthal in diesem Kapitel im Abschnitt Politiken der Pose.
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Die nach vorn gestreckte Hüfte erinnert an die Gewichtsverlagerung im Cakewalk. In der engen Paarhaltung führte dies nun dazu, dass sich die Partnerin an ihren Tanzpartner anlehnte und so leichter seiner Führung folgen konnte. Wie Eichstedt/Polster betonen, begann das »Schieben« auf den europäischen Tanzflächen bereits in den 1870er Jahren als ein Produkt des Verstädterungsprozesses.62 Auf kleinem Raum zu tanzen, auf dicht gefüllten Tanzflächen an kleinen, engen und dunklen Orten – diese Situation unterschied sich vom ländlichen Tanzboden, der unter freiem Himmel erhöht und für alle einsichtig gebaut worden war. Das Tanzpaar tanzte in den Schiebetänzen nicht mehr rundherum, sondern hin und her. Diese Richtungswechsel, Unterbrechungen und Improvisationen der Tanzpartnerin zu vermitteln, die dem Tänzer nun ja frontal im Weg stand, verlangte intensive Kommunikation. Nicht nur die leicht berührten Hände wie in den promenierenden Formationstänzen, sondern der ganze Körper – oder besser: die verschiedenen Körperteile wie Arme, Brust, Hüften, Beine und Füße – vollführten diese Verständigung. Nicht die Nähe an sich – die hatte auch der Walzer hergestellt – sondern die unvorhersehbaren Bewegungen in dieser Nähe machten ihre innovative Spannung aus. Die neuen Tänze schafften Schrittmuster und Figurenabfolgen ab, wie sie in der Folklore oder in Tanzschulen vermittelt worden waren. Das vereinfachte das Geschehen auf der Tanzfläche – jeder konnte mit jedem tanzen. Es verkomplizierte es aber auch, weil damit ein enormer Zuwachs an Freiheit und Verantwortung einherging. Sogar die Tanzlehrer der 1920er Jahre, die darauf mit standardisierten Bewegungen antworteten, erkannten dieses Grundelement der neuen Tänze an: Der OneStep sei »brutal einfach, [...] wie Spazierengehen«, schrieb Eduard Huppert in Der moderne Tanz (1926). Dabei werde aber auch deutlich, auf wie viele verschieden Arten und Weisen man gehen könne. 63 Auch Kurt Tucholsky schrieb 1921 nach dem Besuch eines Jazz-Konzertes: »Zwischendurch tanzt der Mann mit den abstehenden Ohren. Das ist kaum Tanz zu nennen. Er exekutiert einen Shimmy, nein: er tanzt überhaupt nicht – das ist seine Art sich fortzubewegen, er geht so durch sein Leben hin: [...] ganz unbeteiligt und unsäglich vergnügt...«64
Tucholsky sah sich genötigt, das Verhältnis von Tanzen und Gehen, von Tanzfläche und Straße, Alltag und Theatralität zu reformulieren. Die Grenzen zwischen diesen sozialen Institutionen gerieten ins Wanken. Dieses Tanzen war natürlicher, als das,
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Vgl. Eichstedt/Polster, Wie die Wilden, S. 17 ff. Vgl. Christian Schär: Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der 1920er Jahre. Sozialgeschichtliche Aspekte zum Wandel in der Musik- und Tanzkultur während der Weimarer Republik, Zürich 1991, S. 82-85. Peter Panter [alias Kurt Tucholsky]: Die neuen Troubadoure, in: Die Weltbühne 1921 17 (12): S. 343-343, hier: S. 343.
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was auf einer Bühne zu erwarten war; und es war expressiver, als das übliche Alltagsverhalten. Es versprach eine andere Seinsweise.
P OETIK
DER
U NTERBRECHUNG
Breaks beschreiben einen Moment des Innehaltens in diesem vergnügten Gehen. Das Tanzpaar hält inne, und die Energie aus dem Bewegungsfluss steht plötzlich für etwas Anderes – Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares – zur Verfügung. Oft löst sie sich in einer improvisierten Bewegung auf. Mura Dehn analysiert diese Form des Innehaltens als eine zentrale Technik von Jazz Dance, aber sie lässt sich auch im Tango finden, wo sie corte und quebrada heißt: »The pause is a choked movement, thoroughly felt by the dancers, but executed so to say, under the skin. It manifests itself in a pressure of muscles, a hesitation, or a stop. The jazz pause is never an empty waiting for time. It is a withheld rhythmic energy. It produces anticipation, a kynetic excitement. There is a reserve which implies more than it shows.«65
Ähnlich wie in der Synkope erzeugte das Auslassen von etwas, das im rhythmischen Fluss erwartet wurde, eine mitreißende Spannung. Wie würde es weitergehen? Dies mobilisierte Zuschauer_innen auch, eine Bewegung vor dem inneren Auge selbst zu Ende zu führen. Aus dieser Spannung erwuchsen Improvisationen, jener »reckless abandon«, der nach Dehn zuerst mit dem Cakewalk Eingang in den europäischen Paartanz fand.66 Beim Tanzen plötzlich stehen zu bleiben, war in den kontinuierlich fortschreitenden, drehenden und Figuren ausführenden europäischen Gesellschaftstänzen unüblich, mit einer Ausnahme: der Polka. In seiner Untersuchung über den Tango zeigt der Kunsthistoriker Robert Farris Thompson, dass sich Afroargentinier_innen in der Polka, die dort im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der europäischen Migration nach Lateinamerika populär geworden war, wiedergefunden hätten, weil es dort ebenfalls breaks gab: Eine Zeichnung, die 1899 in der Zeitschrift Caras y Caretas in Buenos Aires veröffentlich wurde, zeigt ein Fest, das auf einer Ranch am Rande der Stadt gefeiert wurde. In den Figuren der Tanzenden erkennt Thompson »cortes«, ein plötzliches Innehalten im Tanz. Eine zweifache Dimension von Wiedererkennen und Wettbewerb kommt hier zum Ausdruck, die zu einem tänzerischen Dialog führte. Die Tänzer_innen der Neuen Welt wurden Übersetzer_innen:
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Box 1 Folder 1. Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library. Performing Arts Research Collections, New York City. Box 3 Folder 64. Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library. Performing Arts Research Collections, New York City.
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»In [...] these instances, African solo dancing is absorbed in the two-person embrace. But certain foot patterns continue right on, regardless of the new contexts of ballroom and salon. Dancers become translators, reconciling styles from two different worlds. The situation is fluid and changing. European ballroom impacting Kongo, Kongo distilling expressions from Russian Jewish Dance.«67
Zur gleichen Zeit kam es auch in Städten wie New York zu solchen Experimenten, als auf den Tanzflächen Manhattans afroamerikanische und europäische Migrant_innen aufeinandertrafen. Der Pianist James P. Johnson berichtet über ein Engagement in einer Tanzhalle in Manhattan 1912: »These Charleston people and the other southerners had come to New York. They were country people and they felt homesick. When they got tired of two-steps and schottisches (which they danced with a lot of spieling), they'd yell: »Let's go back home!« ... »Let's do a set!« ... or »Now, put us in the alley!« I did my Mule Walk or Gut Stomp for the country dances.«68
Johnson wundert sich in dem Gespräch, dass diese Leute die Nächte durchtanzten, nachdem sie den ganzen Tag über gearbeitet hatten. Zugleich beschreibt er eine Form von Produktion, die neue Beziehungen zwischen zeitlichen, geografischen und kulturellen Kontexten herstellte. Diese Beziehungen waren ganz und gar auf die Gegenwart bezogen. Differenz löste sich dabei nicht auf, sondern ermöglichte veränderte Bewegungen, die tanzend zwischen unterschiedlichen Räumen und Zeiten hin- und herwandern konnten. Sie erzeugten Gefühle, die ein Überleben des Alltags und der Heimweh ermöglichten. Wild und komisch seien diese Bewegungen gewesen, erinnert sich Johnson, »the more pose and the more breaks, the better.« Doch in diesem wilden Durcheinander gab es immer ein rhythmisches System. Mura Dehn zitiert ein Gespräch mit Al Leagins aus dem Savoy Ballroom in New York, wo in den 1930er Jahren der Lindy Hop erfunden wurde. Er erklärt die Breaks so: »It is like a crossword puzzle, you can arrive at it any way, but the answer is always the same.«69 Es gibt eine logische Präzision in diesen Improvisationen, die einen enormen Zuwachs an Komplexität erzeugten. Sie setzten keinen neuen Rhythmus gegen den alten, sich ewig wiederholenden Takt, sondern zeigten, dass es in ihnen immer schon Freiräume für andere Rhythmen gab. Wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, intervenierte diese Ästhetik der Unterbrechung, des Richtungswechsels und der Rhythmusvariation in Ökonomien, die auf die Taktung,
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Thompson, Tango, S. 136. Tom Davin: Conversation with James P. Johnson, in: Jazz Review, Juli 1959, S. 10-13, hier: S. 11-12. The ABC of Jazz Dance, Folder 1 Box 1, Mura Dehn Papers, New York Public Library for the Performing Arts, Jerome Robbins Dance Collection.
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Planbarkeit und Wiederholbarkeit von Arbeitsleistung setzten. In diesem Zusammenhang wurde der Break zu einem transatlantischen Kommunikationsmittel – bis in die Gegenwart von Break Danc.
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Im Folgenden geht es um die Frage, aus welchen Konflikten um Geschlechterverhältnisse dieser durch Breaks, Posen und Improvisationen angereicherte Paartanz erwuchs. Das Beispiel Tango zeigt, dass sich das Tanzen gerade in Kontexten und Situationen auf diese Art und Weise veränderte, in denen Männer und Frauen nicht in der Lage waren (oder es als ihre Aufgabe ansahen), den Anforderungen einer bürgerlichen Familienökonomie zu entsprechen. Es handelte sich um kulturelle Praktiken, die im Zuge von Migration, Urbanisierung und Proletarisierung entstanden und gouvernementale Anrufungen von Selbstführung und Selbstverantwortung unterliefen. Im Tango geht die Folgende rückwärts durch den Raum, sie kann auch die Augen schließen, weil sie sich ohnehin auf jemand anderes Sehsinn verlassen muss. Sie gibt Kontrolle ab, was in der feministischen Rezeption der Gegenwart bisweilen kritisch interpretiert wird.70 Doch gemessen an der Art und Weise, wie Frauen in der Schule des Tanzes um 1900 aufgerufen waren, die Kontrolle über das Geschehen zu behalten, um die schmale Grenze zwischen erwünschter und unerwünschter Sexualisierung zu verwalten, könnte es entlastend gewesen sein, sich führen zu lassen. Statt die Perspektive der Überwachung von außen zu übernehmen, konzentriert sich die Tangotänzerin auf die Kommunikation mit ihrem Partner, und genießt die Intensität gegenseitiger Aufmerksamkeit. Nähe und Distanz sind dabei nicht von gesellschaftlichen Konventionen vorherbestimmt. In von außen nicht sichtbarer Weise bestimmt die Geführte in der Umarmung den Abstand zum Partner.71 Nähe zum Tanzpartner erleichtert dabei die Kommunikation und ermöglicht die nötige Spannung, um Impuls und Aktion kooperativ durchzuführen. Eine minimale Verzögerung zwischen diesen beiden Momenten zeichnet die Ästhetik des Tanzes aus. Die Geführte folgt nicht etwa eifrig, sondern leicht verzögert und übersetzt den Impuls ihres Partners in eine eigene Bewegung. Diese Verzögerung ist kein unbestimmtes Zögern, sondern intensivierte Spannung. Der Tango funktioniert wie eine Kur zur Ambivalenz, ein Training gegen das Sowohl-Als-Auch, das Irgendwie-Ja, Irgendwie-Nein des Alltags. Jede Bewegung ist in all ihrer Verspieltheit direkt und eindeutig. 70
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»Wenn Subjekthaftigkeit volle Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit beinhaltet, dann ist die Frau im Tango kein volles Subjekt«, vgl. Paula Irene Villa (Hg.): Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Bochum 1998, S. 254. Villa, Sexy Bodies, S. 252.
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Die Position der folgenden Frau gilt dennoch vielen als Spiegelbild eines patriarchalen Verhältnisses und als Ausdruck der Unterwerfung der Frau. Magali Saikin untersucht vor diesem Hintergrund die gegenwärtige Semantik des Tangos auf seine Geschlechterrollen.72 Danach tanze eine Frau gut, wenn sie dem Mann »wie ein Schatten« folge. Saikin zitiert Beschreibungen von Tänzerinnen, die sich »wie ein Schilfrohr« biegen, von unsichtbaren Fäden gezogen oder von mechanischen Federn angetrieben würden.73 Dieser Diskurs männlicher Dominanz habe sich zuerst in Liedtexten aus den 1930er Jahren entwickelt, die eine tanzende Frau häufig als Instrument in den Händen eines Mannes beschrieben, auf dem er virtuos zu spielen verstehe. Diese Texte müssten jedoch quellenkritisch als Selbstimaginationen und Selbstreflexionen von Männern über ihre Rolle im Tango interpretiert werden, so Saikin. Im gegenwärtigen Diskurs über den Tango dienten sie einer Geschichtsschreibung, die den Tango aus bestimmten politischen, nationalistischen, vergeschlechtlichten Positionen tradieren und in eine (konservative) Pädagogik verwandeln wolle. Eine korrespondierende Version der Frauen, die an der Entstehung des Tangos beteiligt waren, stehe in der Form nirgendwo aufgeschrieben. Dieses Schweigen geht einerseits auf den relativen Ausschluss von Frauen aus dem Musikgewerbe zurück, andererseits – und darum geht es mir an der Stelle – ging es Frauen, die an der Hervorbringung von Tango beteiligt waren, vielleicht nicht darum, in dieser Geschichte gerecht repräsentiert zu sein, sondern in erster Linie darum, auf diese Art und Weise tanzen zu können. Das Schweigen über ihre Version der Geschichte ließe sich damit auch anders interpretieren: als Camouflage. Dieter Reichardt vermutet, dass das machistische Erscheinungsbild eine Rollenzuweisung war, die auch von Frauen inszeniert wurde. Sie schufen dadurch eine Oberfläche, unter der sich ihre tatsächliche »Dominanz« über die Situation verstecken konnte. »Die geheime Regie der Frauen über die Direktiven des Mannes stellt nicht den Machismo als soziales Verhaltensmuster in Frage.« Reichardt spricht von einer Inkongruenz von Erscheinungsbild und tatsächlicher Situation im Tanz, der ohne die Mitwirkung der Geführten nicht möglich wäre, eine »unsichtbare Dominanz« von Frauen.74 Damit widerspricht Reichard verbreiteten Schlussfolgerungen vom Tanz auf soziale Strukturen. Schließlich trete in den meisten Rund- oder Paartänzen der Mann nicht als »Dompteur der Frau« in Erscheinung, obwohl sie patriarchalen Gesellschaften entstammten. Ebenso wenig lasse sich der ausgestellte Machismo im Tango auf den Versuch der »Kompensation« eines Männlichkeitsdefizits reduzieren. Vielmehr vermutet Reichardt, ohne dies
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Magali Saikin: Tango und Gender. Identitäten und Geschlechterrollen im Argentinischen Tango, Stuttgart 2004. Vgl. Saikin, Tango, S. 36-37. Dieter Reichardt: Tango. Verweigerung und Trauer. Kontexte und Texte, Frankfurt am Main 1984, S. 69.
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weiter auszuführen, »daß bei der Genese der Tangochoreografie die Frau eine entscheidendere Rolle gespielt hat, als ihr gemeinhin zugestanden wird.«75 Damit wäre dem intensivierten Führen und Folgen im Tango ein strategisches oder taktisches Moment zu Eigen, das Frauen die Möglichkeit gab, ihre Handlungsmacht zu maskieren.76 Das Problem an Reichardts interessanter Überlegung ist die Tatsache, dass sie einem dialektischen Modell verhaftet bleibt. Die scheinbare Dominanz des Mannes wird durch die unsichtbare Dominanz der Frau ersetzt. Nur an einer Stelle scheint eine andere Möglichkeit auf, eine funktionale Partnergleichheit, die unter der Maskerade einer ins Theatralische hochstilisierten Geschlechterdifferenz existiere.77 Damit hätte der Machismo die Handlungsmacht von Frauen im Tango maskiert und so vor aller Augen den Genuss von Kommunikation und Kooperation ermöglicht, ohne dass es nötig gewesen wäre, die Machtfrage zu stellen. Der Tango nahm die patriarchale Handlungsmacht beim Wort und denaturalisierte sie als eine Haltung, die erst mühsam eingeübt werden musste Denn zu führen ist alles andere als einfach. Zwar vereinfacht der Tango das Tanzen, insofern keine festgelegten Schrittfolgen mehr gelernt werden müssen. Im Tango können alle mit allen tanzen und wer führt, kann in jedem Moment in jede Richtung gehen. Doch wer führt, muss auch wissen, wo er hin will, vorausschauend handeln, Verantwortung für die Situation übernehmen, eindeutig kommunizieren, eine nicht nur erstrebenswerte Position. Feministische Theorien zur Performativität betonen, dass im re-enactment stets eine Möglichkeit für Veränderung liegt.78 Es stellt Ereignisse, Konstellationen oder Konflikte auf eine besonders intensive Art und Weise und in einem anderen Kontext nach, beispielsweise nicht unsichtbar zu Hause, sondern öffentlich auf der Tanzfläche, und eröffnet im Kontextwechsel neue Handlungsmöglichkeiten.79 Im Tango war jeder Automatismus in Gesprächen, Konflikten oder im Alltag außer Kraft gesetzt. Das Tanzpaar schuf eine künstliche Situation mit einfachen Regeln, doch wer folgte, stellte sich dem Gegenüber auch in den Weg und zwang ihn, Aus-
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Reichardt, Tango, S. 67. Vgl. auch den 1929 erschienen Aufsatz von Joan Riviere: Weiblichkeit als Maskerade, in: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt am Main 1994, S. 34-47. Reichardt, Tango, S. 69. Vgl. Judith Butler: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York/London 1993, S. 93-119, hier: S. 95: »I would suggest that performativity cannot be understood outside of a process of iterability, a regularized and constrained repetition of norms.« In Form von ritualisierten Wiederholungen werde das Subjekt erst hervorgebracht, unter eingeschränkten, zum Teil gewaltsam kontrollierten Bedingungen, die dennoch nicht gänzlich vorherbestimmt seien. Vgl. auch Andrew Parker/Eve Kosofsky Sedgwick: Introduction, in: dies. (Hg.) Performance and Performativity, New York/London 1995, S. 1-18.
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wege aus Blockaden zu finden und das noch möglichst elegant, virtuos und lässig, als sei es ganz einfach. Es ging darum, andere Wege zu gehen, die in der Form noch nicht erprobt oder gesehen waren. Dass sich Geschlechteridentitäten dabei nicht auflösten, wie heute häufig bemängelt wird, war möglicherweise gar nicht der Wunsch der Beteiligten.80 Im Gegenteil scheint der Tango gegen eine Verinnerlichung von sozialen und gesellschaftlichen Konflikten und Zwängen angearbeitet zu haben, die nicht aufgelöst, sondern ausgestellt werden sollten. Im Tango ging es darum, Schwierigkeiten beim Namen zu nennen und Verlust zu betrauern, anstatt diese in Sentimentalität aufzulösen.81 Stellte das Tanzen eine Art Therapie dar, eine spezifisch künstliche Gesprächssituation, die einem ermöglichte, mit Distanz auf sich selbst im Verhältnis zu einem Gegenüber zu blicken? Eine Therapie, die anders vorging als die gleichzeitig entstehende Psychoanalyse? Oder waren es weniger die Methoden, die sie unterschieden, als die Zielrichtung? Im einen Fall sollte alles an seinen Platz zurückkehren, nachdem ein ursprüngliches Szenario aufgedeckt und verarbeitet war. Im anderen Fall ging es um Bewegung, Platzwechsel, Gewichtsverlagerung und die Suche nach einer neuen Balance in einer Ordnung, deren Schieflage nicht ausgeglichen oder sublimiert, sondern ausgestellt werden sollte. Die neuen Tänze bildeten eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung nicht ab, noch nahmen sie ihr erwünschtes Gelingen vorweg, sondern sie stellten die Verrenkungen aus, derer es bedurfte, um ihre Funktionsweise zu überleben. Solches Tanzen ermöglichte Szenen, die ein gewisses Konfrontationspotential hatten. Wer dabei aber was sehen konnte, hing von der Position des Subjekts im gesellschaftlichen Zusammenhang ab.82 Denn eine Fantasie ist nicht einfach die Fantasie eines Subjekts, sondern eine Szene, an der das Subjekt auf eine Art und Weise beteiligt ist, die es aber nicht vollständig beherrscht oder kontrolliert. Sie vervielfältigt Identifikationen und besitzt ein prekäres Potential für Veränderung. Zugleich bleiben Fantasien an bestimmte Produktionsverhältnisse und damit an Repräsentation gebunden.83 Quellen über das Tanzen stellen zum Großteil Repräsentationen dar, nachträgliche Reflektionen über das Erlebte, die oft die Grenzen des Sichtbaren und des Sagbaren verhandeln.
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So bedauert Villa, dass nur in seltenen Momenten im Tango die Geschlechterdifferenz verwische, vgl. Villa, Sexy Bodies, S. 257. Vgl. Reichardt, Tango, S. 173. Vgl. Teresa de Lauretis: Das Subjekt/Sujet der Phantasie, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 98-124. »Die ZuschauerIn ist an eine bestimmte Anordnung des gesellschaftlichen Feldes gebunden. Ihre Wahrnehmung verbindet den individuellen Anteil der Subjektivität mit gesellschaftlicher Subjektivierung, und Phantasie mit Repräsentation.« de Lauretis, Subjekt/Sujet, S. 121.
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Dies gilt in besonderer Weise für den Cakewalk und seiner Technik des Nachahmens, Verkleidens, Überzeichnens und Maskierens. Nach Roger L. Taylor war der Erfolg des Cakewalks typisch für einen Mechanismus, den er als konstitutiv für amerikanische Kultur bezeichnet.84 Sie habe ihre Herkunft in einer Kultur der »Ausschweifung« in der Zeit der Sklaverei und erkläre, weshalb schwarze Performance unter bestimmten Bedingungen für jene attraktiv werden konnte, die sich als weiße Amerikaner verstanden. Sie benutzten sie, um ihr Verhältnis zu Europa zu klären: »Europe is a fantasy, and in the fantasy Europe is ›debased‹ and this is central to being American.«85 In dieser Technik sollten sich schwarze Menschen wie Weiße verhalten und dabei im richtigen Maß ausstellen, dass sie es nicht waren: »revealing blackness through the white pose«. Diese doppelte Inszenierung habe weißen Amerikaner_innen ermöglicht, blackness für sich auszubeuten: »If there is an awareness of this duplicity there is a tendency for whites to connive at it, because the desired object blackness is not simply shades of Africa and savagery, but the send up of uptight whiteness (this seems to me is a contagious cultural influence.)«86
Der besondere Wert afroamerikanischer Kulturproduktion läge damit aus einer nationalen Perspektive in der Möglichkeit, sich in einem Akt rassistischer Nachahmung zugleich als weiße Amerikaner zu positionieren und von europäischer Kultur als »uptight whiteness« abzugrenzen. In diesem Sinn wäre auch nachvollziehbar, wie der Cakewalk innerhalb weniger Jahre, nachdem er seinen Siegeszug rund um den Atlantik angetreten war, zum amerikanischen »Nationaltanz« erklärt werden konnte.87 Taylor verortet Cakewalk und die Entstehung von Jazz in einer Kultur der Doppelzüngigkeit, die aus der Zeit der Sklaverei stamme. Arbeitsgesänge und der Blues konstituierten ein mehrdeutiges kulturelles Material, das stets zwei Bedeutungen transportiert habe, eine, die für den Aufseher akzeptabel erschien, und eine, die dem Sänger gefiel. Daraus sei eine spezifische Haltung erwachsen:
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Vgl. Roger L. Taylor: Art. An Enemy of the People, Hassocks 1978. Ich zitiere im Folgenden aus dem Auszug Roger L. Taylor: Art. An Enemy of the People, in: David Meltzer (Hg.): Reading Jazz, San Francisco: 1993, S. 123-137, hier: S. 132. Taylor, Art, S. 132-133. Vgl. G. Martaine: Original Dances of All Nations. For Piano or Organ Vol. 1, [New York?] 1909, Jerome Robbins Dance Collection, New York Public Library. Es handelt sich um eine Sammlung von Klaviernoten, in denen je ein Tanz für eine Nation steht. Der Cakewalk repräsentiert die USA.
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»It is that of not meaning what you say, and living to say what you don't mean, while at the same time implying what you mean and living to imply meaning. Success as a negro amongst negroes is measured by your success at dissembling.«88
Taylor schreibt in seinem Buch gegen die Ästhetisierung von Jazz als Kunst an, die übersehe, dass es nicht erst den originalen Jazz gegeben habe und dann seine Kommerzialisierung, sondern dass beide immer schon intrinsisch miteinander verbunden waren. Es sei nachvollziehbar, warum sich Jazz seit den 1950er Jahren zur »Kunst« entwickelt habe, diese Entwicklung hätte aber auch anders verlaufen können. Jazz sei in der Gegenwart in eine Sackgasse geraten, weil die Wut über die Verhältnisse nur noch als Pose im Kulturbetrieb eingenommen worden sei. »Art is a value the masses should resist, not just ignore.«89 Taylors Kritik betont die konservative Dimension von Politiken der Pose, die Qualität der Wiederholung und Affirmation gegenüber dem Potential von Veränderung. Er liefert eine überzeugende Erklärung für die Effektivität des Cakewalks in der Produktion von amerikanischer Identität. Während Taylors Kritik an der Kulturalisierung von Konflikten nachvollziehbar ist, wird sie perspektivlos, wenn sie ein vermeintlich prä-existierendes Subjekt der Massen anruft, das (für) sich selbst sprechen soll. Die Geschichte dieser ambivalenten kulturellen Formen auf ihren vermeintlichen »Ursprung« in der Sklaverei zu fluchten, unterschlägt die eigenwillige Linie der Veränderung, die sie nach ihrer Abschaffung eingeschlagen haben. Er erzählt die Geschichte von ihrem Ende her – dem »Verfall« des Jazz als entpolitisierter Kunst um ihrer selbst willen. Doch der Rassismus der Gegenwart ist nicht derselbe wie der Rassismus um 1900 oder der Rassismus der Sklaverei. Dass er sich verändert hat, liegt auch an minoritären Politiken des »dissembling«, die sich aber nicht als Heldengeschichte der Massen erzählen lassen. Im Anschluss an Rancière wäre der »contagious cultural influence« schwarzer Kulturproduktion immer wieder die Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung einer politischen Situation gewesen.90 Taylors Konzeption einer »culture of dissemblance« nimmt Elemente von Homi Bhabas Analyse kolonialer Mimikry vorweg. Er analysiert einen funktionalen Zusammenhang zwischen Imitation und Unterwerfung im Kontext des europäischen 88 89 90
Taylor, Art, S. 133. Taylor, Art, S. 137. Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 34: »Die Künste leihen den Unternehmungen der Herrschaft oder der Emanzipation immer nur das, was sie ihnen leihen können, also das, was sie mit ihnen gemeinsam haben: Positionen und Bewegungen von Körpern, Funktionen des Worts, Verteilungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Die Autonomie, derer sich die Künste erfreuen, und die Subversion, die sie sich zuschreiben können, beruhen auf derselben Basis.«
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Kolonialismus im 19. Jahrhundert.91 Die Kolonisierten sollten sich den Kolonisatoren angleichen, aber nicht zu sehr. Sie sollten zugleich Ähnlichkeit und Differenz verkörpern. Diese koloniale Mimikry ist von Anfang an ambivalent: Sie produziert ein Bild reformierter Differenz, die sich an einem als europäisch imaginierten Modell orientiert; und sie markiert den potentiell exzessiven oder aufsässigen Abstand zu diesem Modell. Der dabei produzierte epistemologische Rassismus der Identifizierung und Differenzierung war inhärenter Teil kolonialer Gewalt. Doch die Masken kolonialer Mimikry hatten auch das Potential, dieses Verhältnis zu unterbrechen und die diesem Modell zugrundeliegende Vorstellung von Subjektivität in Frage zu stellen. Sie produzierten eine verzerrte, überdrehte, aus Einzelteilen neu zusammengesetzte Kultur der Vermarktung, des Wettbewerbs und der gegenseitigen Übervorteilung und setzten dem forschenden Zugriff auf die Seele, die Gefühle, die Identität der Kolonisierten eine Grenze.92 Der argentinische Psychiater, Kriminologe und Soziologe José Ingenieros untersuchte die Pose zu Beginn des 20. Jahrhunderts und erklärte sie zu einer Pathologie.93 Kriminelle simulierten vor Gericht Wahnsinn, Spekulanten gaben vor, ehrliche Geschäfte zu machen, Homosexuelle simulierten Weiblichkeit und schlaue Ehefrauen spielten Hysterie vor – überall sah Ingenieros dieses neue Phänomen, das er »pathomimicry« nannte. Als Strategie der Simulation breite sie sich angesichts eines wachsenden gesellschaftlichen Anpassungsdrucks immer mehr aus. Ingenieros betonte die Effektivität der Pose und erklärte sie funktional als »betrügerisches Mittel im Überlebenskampf«. Er pathologisierte sie aber auch, denn ihre unkontrollierte Ausbreitung drohte, die Unterscheidung einer wahren von einer simulierten Identität unmöglich zu machen.94 Um zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Pose im 19. Jahrhundert eigentlich als solche erkannt und pathologisiert wurde, setzt Sylvia Molloy sie ins Verhältnis zur gleichzeitigen Faszination mit dem Medium Ausstellung.95 Es sei nicht nur das Jahrhundert der Begeisterung für Ausstellungen als Medien der Wis-
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Homi Bhaba: Of Mimicry and Man. The Ambivalence of Colonial Discourse, in: Laura Ann Stoler (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley/Los Angeles/London 1997, S. 152-160. Vgl. Kap. II. Entstehung. José Ingenieros: La simulación en la lucha por la vida, Buenos Aires 1985. Es handelt sich um seine Doktorarbeit von 1899. Vgl. auch Sylvia Molloy: The Politics of Posing, in: dies/Robert McKee Irwin (Hg.): Hispanisms and Homosexualities, Durham/London 1998, S. 141-160, hier: S.151 ff. Ingenieros Prinzipien der biologischen Psychologie wurden in den 1920er Jahren auch auf Deutsch übersetzt und veröffentlicht. Vgl. auch Kap. II.2. über Buenos Aires. Im spanischen Original: »un medio fraudulento de lucha por la vida«. Zum »exhibitionary complex« vgl. Tony Bennett: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London/New York 1995, S. 59-88.
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sensproduktion gewesen, sondern auch der Moment, in dem die Pathologie des »Exhibitionismus« erfunden worden sei. Die Lust zu schauen traf auf eine Lust, sich selbst zur Schau zu stellen, was die Machtverhältnisse von schauendem Subjekt und betrachtetem Objekt durcheinanderbrachte. Dabei entstanden neue Interpretationsmöglichkeiten einer Szene, so wie die Auseinandersetzungen um Oscar Wilde eine bestimmte Lesart der Performance von Weiblichkeit als Zeichen für Homosexualität etablierten. Sie erzeugten aber zugleich eine »comedy of mannerisms«, die mit Übertreibungen und Abweichungen arbeitete, eine Form der Selbstvermarktung, die »visible self-fashioning« betrieb. Anders als das sich oft wissenschaftlich gebende Medium Ausstellung zielte die Pose nicht auf Vollständigkeit ab.96 Sie arbeitete selbstreflexiv mit Auslassungen und setzte auf die Fantasie der Betrachter_in, die sich den Rest selbst denken sollte. Das hatte einen entscheidenden Vorteil: Die Pose konnte dadurch ein Begehren zum Ausdruck bringen, ohne ihm in der bestehenden Ordnung einen Namen zu geben. »Posing invites new formulations of desire at once disturbing and attractive. That is why – in order to defuse its transgressive and, at the very least, homoerotic charge – it is usually reduced through caricature or dismissed as ›mere imitation‹.«97
Um diese Politiken der Pose analysieren zu können, dürfe man jedoch nicht isolierte Gesten registrieren, sondern müsse Dynamiken des Posierens untersuchen. Der politische Gehalt der Pose werde erst da deutlich, wo sie als Sequenz, als Lebensweise oder Schreibweise analysiert werde.98 Tanzen im Black Atlantic stellte um 1900 eine solche Dynamik des Posierens dar. Posen verwandelten sich in Sequenzen und konnten an verschiedene Kontexte anschließen. Umgekehrt verwandelte sich diese Dynamik wieder in eine Karikatur, in ein Abziehbild der Krise, des Verfalls oder der Unsitte, wenn sie aus diesen Kontexten herausgelöst und als gesellschaftliches Sinnbild behandelt wurde. Der Berliner Schriftsteller Joachim Friedenthal veröffentlichte 1911 ein Theaterstück mit dem Titel Maskerade der Seele.99 Das Stück handelt von dem Bühnenautor Ademar, der seine Rolle als erfolgreicher, souveräner und liebenswürdiger Mann von Welt plötzlich nicht mehr aufrechterhalten kann. Es sei alles Lüge gewesen. Die Figur Ademar verzweifelt an ihrer Pose, weil sie nicht als Politik erkannt, sondern als Lüge verstanden wird, die den Zugang zu einer (irgendwo anders erhofften) Wahrheit versperrt. Das Stück steht in der Tradition der Verfalls- und De-
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Zum produktiven Scheitern dieses Projekts der Vollständigkeit vgl. Volker Barth: Mensch versus Welt. Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt 2007. Molloy, Politics of Posing, S. 147. Molloy, Politics of Posing, S. 148. Joachim Friedenthal: Maskerade der Seele. Tragische Komödie, Berlin 1911.
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kadenzfantasien des fin de siècle und behandelt eine gesellschaftlich funktionale Pose. Das moderne Subjekt der europäischen Metropole verzweifelt an ihr, weil es weiter an ein Innerstes, Heiligstes, eine wahre Seele glauben will. Der Autor von Maskerade der Seele war Korrespondent des Berliner Tageblatts und, wie die Akten des Berliner Polizeipräsidenten belegen, auch ein Anhänger der neuen Tänze. Ähnlich wie Marta Prostowitz und Emil Gerstle in Bad Tölz war Friedenthal auf einem Presseball in München im April 1913 mit dem Tanzmaître aneinander geraten, hatte sich aber lautstark zur Wehr gesetzt und war daraufhin verhaftet worden. Der Berliner Lokal Anzeiger berichtete über den »Schriftsteller F.«, er habe den Tanzmaître, der ihn höflich »auf das Unstatthafte dieses Tanzes auf einem Ball der besten Gesellschaft aufmerksam gemacht« habe, brüsk zur Rede gestellt, wobei es fast zu Handgreiflichkeiten kam.100 Friedenthal wollte sich weder erklären noch verteidigen und wehrte sich vergeblich gegen die Interpretation seiner Körperbewegungen vor Gericht als unsittlich und unschicklich. Wie um sich diesem Streit um die Pose als Politik zu entziehen, entstanden um 1900 Körperpraktiken, die »natürliche« Posen herstellen wollten und dabei auf Vollständigkeit, Perfektion und Identität setzten. So ging es in der europäischen Nacktkultur, die Maren Möhring in Marmorleiber untersucht, um die Pose als Lebensweise – und zwar völlig ernsthaft und allenfalls ungewollt komisch.101 Die Nacktkörperbewegung entwickelte um 1900 ein Programm körperlicher Bewegung, das es den Individuen ermöglichen sollte, sich in Abgrenzung zum gesellschaftlichen Körper, der von bürgerlichen Normen und Konventionen eingeschränkt wurde, einen »natürlichen Körper« zu erarbeiten.102 Ihre Mitglieder richteten ihr Ideal an griechischen Vorbildern aus und verständigten sich in Vereinen, Zeitschriften und Publikationen über ein Training, das ein Muskelkorsett erschaffen und das (Fischbein-) Korsett des 19. Jahrhunderts ersetzen sollte. Selbstdisziplin und Selbstüberwachung entwickelten sich dabei zu zentralen Machttechniken. Im Anschluss an naturwissenschaftliche Diskurse vertrat die Gymnastikbewegung unter anderem eine Vorstellung vom Körper als thermodynamischer Maschine, die beständig Gefahr lief, sich zu sehr zu verausgaben. Man verordnete sich deshalb eine genau austarierte Diät von Licht, Luft und Muskeltraining, um eine gewisse Stabilität zu erreichen. Die Nacktkörperbewegung individualisierte, ökonomisierte und moralisierte damit den Körper, der durch seine ausgestellte Nacktheit überwachbar, typisierbar, vergleichbar und entsexualisierbar wurde.103 Der organisierte Tanzsport, 100 Berliner Lokal Anzeiger vom 2.4.1913, in: Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze, 1913-1926. Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep. 030-05 Th 1512. 101 Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur, 18901930, Köln 2004. 102 Möhring, Marmorleiber, S. 55 ff. 103 Möhring, Marmorleiber, S. 261 ff.
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der sich seit den 1920er Jahren entwickelte, ging ähnlich normalisierend vor, indem er das Repertoire an Tänzen standardisierte und für Wettbewerbe vergleichbar machte, das Verhältnis zwischen den Tanzpartnern entsexualisierte und das Tanzen zum Sport erklärte.104 Gegenüber dem geschwätzigen Diskurs über das Tanzen und den unzähligen Regeln und Normen, die das Tanzen in Tanzschulen, Tanzbrevieren und Anleitungen zum Selbsterlernen bändigen sollten, waren die Politiken der Pose schweigsam. Manche stellten sich spektakulär zur Schau, andere waren kaum wahrnehmbar. In der Schule des Tanzes war Reden ein integraler Bestandteil eines gelungenen Balls, Konversation zu betreiben eine wichtige Aufgabe von Frauen. Auf der Tanzfläche sollte es aber nichts zu besprechen geben, wehrte sich der Berliner Schriftsteller Friedenthal gegen das Reglement des Tanzmaître und die gerichtliche Interpretation seiner Tanztechnik. Tatsächlich entwickelten sich damals neue Formen der Kommunikation, die ohne Worte auskamen. Aufforderung und Einverständnis zum Tanz wurde über Blicke vermittelt.105 Während es Frauen davor nicht möglich war, einen Tanz abzulehnen, ohne dass es zu einem Gesichtsverlust für alle Beteiligten gekommen wäre, konnten sie jetzt einfach den Blick abwenden oder selbst den Blick von jemandem suchen und für Dritte kaum merklich Tanzlust signalisieren. Diese Kommunikation vereinfachte und verkomplizierte das Geschehen zugleich, ganz ähnlich der Kommunikation im Tango. Sie führte aber auf jeden Fall zu einer anderen Regelung der Kommunikation. Dass Frauen dabei die ihnen traditionell zugewiesenen Positionen zu verlassen versuchten, belegen auch Berichte aus New York von 1913. Frauen der Mittel- und Oberschicht begannen dort nachmittags sogenannte Tanztees zu besuchen. Die meist unbegleiteten Frauen nahmen das, was dort geschah, wohl für manche zu sehr selbst in die Hand. Ein »Sittenkodex des Tanzlokals« verkündete nun, es sei Frauen »strengstens verboten, einen Mann anzusprechen«. Kellner dürften keine Nachrichten übermitteln, und Frauen dürften nur noch in Begleitung ein Tanzlokal besuchen.106
104 Vgl. Kap. III.4. Disziplinierung. 105 Vgl. Villa, Sexy Bodies, S. 259: In den Tanzsalons von Buenos Aires entwickelte sich ein komplexes System wortloser Kommunikation, das Aufforderung, Zustimmung oder Ablehnung für andere fast unsichtbar machte. Konflikte sollten so vermieden werden. Auch diese Kommunikation war von Regeln und Normen geprägt. 106 Sittenkodex des Tanzlokals, in: Cabaret-Tanz-Revue, 1913 3 (59): S. 14.
Arbeitsrhythmus: Anpassung und Widerstand
Das folgende Kapitel fragt nach der Herkunft der Tanzmoden des 20. Jahrhunderts im Verhältnis zur Organisation von Arbeit. Es soll gezeigt werden, dass die Tanzmoden des 20. Jahrhunderts ihre Herkunft auch in einer Kultur des Widerstands hatten, die sich gegen die Reduktion von Menschen auf den Faktor Arbeitskraft wehrte. Sie unterscheiden sich darin von den exotistischen Kommodifizierungen kultureller Formen, wie Adel und Bürgertum sie seit dem 17. Jahrhundert in Europa praktiziert hatten.1 Die Dynamik der Rezeption von Tänzen aus den Amerikas war im Zuge der Nationalisierung europäischer Kulturen im 19. Jahrhundert unterbrochen worden.2 Der Cakewalk aktualisierte die alte Verbindung, jedoch nicht, weil er besonders exotisch im Sinn von fremdartig war, sondern im Gegenteil, weil er dem europäischen Paartanz relativ ähnlich war und eine Berührung mit der Geschichte der Sklaverei ermöglichte.3 Das folgende Kapitel verortet den Cakewalk im Kontext der Sklaverei und untersucht, wie sich das Verhältnis von Tanzen und Arbeiten im Übergang von unfreier und freier Arbeit im Black Atlantic veränderte. Debatten um »Rhythmus und Arbeit« aktualisierten um 1900 ein altes Wissen um die Nutzbarmachung eines gemeinsamen (Arbeits-) Rhythmus unter den Bedingungen freier Lohnarbeit, wenn sie die Gefahr der Ermüdung diskutierten und über die Affizierbarkeit des Körpers nachdachten. Doch Tanzen entwickelte sich gleichzeitig auch zu einem gesellschaftlichen Konfliktfeld und zu einer Metapher für unkontrollierte Veränderungen. Der Traum vom Arbeiten als Selbstverwirklichung, so leicht und berauschend wie ein Tanz, ist eine Ikone der Moderne, die beständig von einem Alptraum heimgesucht wurde, in dem der Körper zur Maschine wird und einen völlig fremdbestimm-
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Vgl. Marta E. Savigliano: Tango and the Political Economy of Passion, Boulder CA 1995, S. 83 ff; John Charles Chasteen: The Prehistory of Samba. Carnival Dancing in Rio de Janeiro, 1840-1917, in: Journal of Latin American Studies 1996 (1): S. 29-47, hier: S. 33-34, die allerdings eine Kontinuität unterstellen. Vgl. Jahn, Muntu, S. 99. Stearns, Jazz Dance, S. 11.
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ten Tanz aufführt.4 Der Cakewalk und seine Nachfolger wiesen dagegen aus diesem zweipoligen Schema hinaus.
A NGRIFF
AUF
A UGEN
UND
O HREN
Reiseberichte aus Nord- und Südamerika aus dem 18. und 19. Jahrhundert berichten häufig davon, dass die Sklav_innen bei der Arbeit gesungen oder sogar getanzt hätten. Rhythmische Bewegung und expressives Verhalten begleiteten den Alltag der Zwangsarbeit im System der Sklaverei. Es handelte sich dabei um eine Produktion von Sichtbarem und Hörbarem, die über das, was verlangt war, hinausging und unkontrollierbare Effekte hervorzubringen drohte. Koloniale Wissensproduktion betrieb einigen Aufwand, um diesen Überschuss aufzufangen, doch häufig blieb ein Gefühl von Unruhe, Unverständnis oder Abwehr, das sich als Reaktion auf die Produktion von Affekten deuten lässt, die den Gefühlshaushalt einer Sklavenhaltergesellschaft herausforderten. Der Reisebericht einer Frau aus England, die sich bei einem Besuch 1764 in Salvador von Sklaven in einer Sänfte durch die Stadt tragen ließ, erzählt davon, wie diese durch rhythmisches Stöhnen ihre Bewegungen koordinierten. Sie interpretiert es als Protest gegen die erzwungene Arbeit und bringt Mitleid und Verachtung für Sklavenarbeit zum Ausdruck.5 Tatsächlich unterbrachen die Träger die Selbstverständlichkeit , mit der ihre Arbeitsleistung erwartet wurde und machten ihre Anstrengung hörbar. Doch dieses Stöhnen war auch funktional, weil der Rhythmus die gemeinsamen Bewegungen in der Gruppe koordinierte. Reiseberichte beschreiben oft en detail, was von der Sklaverei zu sehen und zu hören war, und verarbeiteten so die Konfrontation mit einer Praxis, deren Legitimität stets implizit verhandelt werden musste. Neben Mitleid und Verachtung findet sich häufig Rassismus, um mit dieser Konfrontation umzugehen. Ein englischer Chirurg berichtete 1828 aus Rio de Janeiro, die Straßen seien von Sklaven »verseucht« und die Ohren eines jeden Besuchers würden von den monotonen Rufen der Arbeiter »angegriffen«.6 Manche dieser Arbeitslieder wurden auf Portugiesisch gesungen, doch wer unter schlechten Bedingungen arbeitete, brachte dies in seiner eigenen Sprache zum Ausdruck. Die Herrschenden verstanden diese Botschaft zwar, doch in der fremden Sprache ging sie einem direkten Konflikt aus dem Weg. Anderen Besuchern waren solche Gesänge unheimlich: »I really could have imagi-
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Vgl. Inge Baxmann: Arbeit und Rhythmus: Die Moderne und der Traum von der glücklichen Arbeit, in: dies./u.a. (Hg.): Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, München 2009, S. 15-35. Peter Fryer: Rhythms of Resistance. African Musical Heritage in Brazil, Hanover NH 2000, S. 40. Fryer, Rhythms of Resistance, S. 41.
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ned myself present at some mysterious ceremony, or some rite of infernal worship,« berichtete ein französischer Arzt 1844 über den Alltag auf den Straßen in Rio de Janeiro, wo sich die Lasten tragenden Sklaven beständig mit einem monotonen Gesang begleiteten.7 Weil ihre Bewegungen langsam und gesetzt waren, interpretierte ein Reisender sie als »dead march«, als Marsch der Toten. Einer behauptete sogar, der Geisteszustand weißer Beobachter sei von den lasziven Bewegungen der Versklavten bedroht.8 Andere reagierten nüchterner und fragten sich in erster Linie, woher die Sklav_innen bei den Lasten, die sie schleppen mussten, noch die Luft hatten, um zu singen, während wieder andere aus dem Anblick tanzender Sklav_innen schlossen, dass es ihnen so schlecht nicht gehen konnte.9 Tanzen war in der kritischen Geschichtsschreibung der Sklaverei lange nur eine Marginalie gewesen. John Hope Franklin argumentiert für die Geschichte der Sklaverei in den USA, dass man wohl kaum annehmen könne, dass die versklavten Menschen ausgelassen gefeiert hätten. Der Arbeitstag sei so lang gewesen, dass kaum Zeit für etwas anderes geblieben wäre, als sich auszuruhen: »Even if there was no work and even if an opportunity for diversion presented itself, the slave could never escape the fact that he was a slave and that his movements as well as his other activities were almost always under the most careful surveillance.«10
Franklin schreibt implizit gegen paternalistische Verklärungen des Plantagenlebens an, die das Bild lachender, singender und tanzender Sklav_innen benutzt hatten, um zu belegen, dass es ihnen eigentlich ganz gut gegangen sei. Die jüngere Geschichtsschreibung schreibt weniger gegen dieses Bild an, sondern wechselt die Perspektive: Sie untersucht das Phänomen des Tanzens in der Sklaverei aus der Perspektive der Tänzer_innen, weniger der Zuschauer_innen. Sterling Stuckey argumentiert in Slave Culture, dass die Tänze belegten, wie sehr die Menschen gegen den erklärten Willen der Sklavenhalter an afrikanischen Kulturtraditionen festgehalten hätten.11 In diesem Sinn wird die Kultur der Sklaverei – das heißt jene kulturellen Praktiken, die trotz des Imperativs der weitestgehenden Reduktion von Menschen auf den Faktor Arbeitskraft entwickelt wurden – als Kultur des Widerstands interpretiert.12
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Fryer, Rhythms of Resistance, S. 43. Chasteen, Prehistory of Samba, S. 34. Fryer, Rhythms of Resistance, S. 43-47. John Hope Franklin: From Slavery to Freedom. A History of Negro Americans, New York 1975, S. 149 Vgl. Sterling Stuckey: Slave Culture. Nationalist Theory and the Foundations of Black America, New York 1987, S. 64 ff. Vgl. Hazzard-Gordon, Jookin'; Fryer, Rhythms of Resistance; Barbara Browning: Samba. Resistance in Motion, Bloomington IN 1995.
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Hier zeigen sich zwei unterschiedlichen Perspektiven auf das Tanzen. Im einen Fall gibt das Tanzen ein Bild ab, das von den Verteidigern der Sklaverei missbraucht und instrumentalisiert wurde; im anderen Fall geht es um das Tanzen als Praxis und die Frage, was das Tanzen selbst produzierte: Wissen, Tradition und Kultur. In diesem Sinne argumentierte bereits der afroamerikanische Abolitionist Frederick Douglass, der betonte, man habe nicht nur getanzt, um Gefühle auszudrücken, sondern um Gefühle zu produzieren, sich glücklich zu machen.13 Dieser Aspekt der Produktion von Gefühlen überschreitet Zweck-Mittel-Relation, die Arbeitsgesänge lediglich als Arbeitserleichterung interpretieren. Vielmehr setzten die Gesänge das Primat der Arbeit potentiell außer Kraft und stellten sie in einen größeren Zusammenhang der Produktion von Sinn.14 Obwohl Sklavenarbeit in unterschiedlichen kolonialen Kontexten und Zeiträumen sehr unterschiedlich organisiert war, gibt es frappierende Ähnlichkeiten zwischen amerikanischen, englischen, spanischen und portugiesischen Quellen, die auf unterschiedliche Art und Weise von der Schwierigkeit berichten, funktionales von widerständigem Tanzen abzugrenzen und diese Grenze zu überwachen. Singen und Tanzen ermöglichte Formen von Kommunikation, die ständig über das erforderte Mindestmaß hinauszugehen drohte. Auch in spanischen und portugiesischen Kontexten war nicht immer schon ausgemacht gewesen, dass die Sklaven hier mehr kulturelle Freiheit haben würden. An afrikanischen Traditionen festzuhalten, sie in ein gemeinsames, über ethnische Grenzen hinweg sinnvolles Repertoire zu verwandeln und dieses während und nach der Abschaffung der Sklaverei mehr oder weniger öffentlich zu praktizieren, war auch hier von rassistischer Gewalt und polizeilicher Überwachung und Unterdrückung begleitet, auch wenn die Widerstandsbedingungen unterschiedlich waren. Welchen Stellenwert das Tanzen in den Verhandlungen um Arbeitsbedingungen auf den Plantagen einnahm, belegt der Verlauf einer Revolte in Bahia 1789: Die Aufständischen brachten ihre Aufseher um, beschlagnahmten Werkzeug und flohen in den Wald, um dort eine Siedlung zu gründen. Sie handelten später mit den Sklavenhaltern einen Friedensvertrag aus, in dem die Bedingungen festgelegt wurden, unter denen sie bereit wären, auf die Plantage zurückzukehren. »We shall be able to play, relax and sing any time we wish without your hindrance, nor will permission be needed.«15 Solche Kämpfe führten dazu, dass sich Sklavenhalter weniger darauf versteiften, das Tanzen zu verbieten, als es zu regulieren. Sie versuchten zu 13 14 15
Vgl. Jahn, Muntu, S.234. Vgl. Jahn, Muntu, S. 235. Die Forderungen revoltierender Sklaven in Bahia betrafen außerdem die konkrete Organisation des Arbeitsalltags. Sie verlangten in erster Linie mehr Autonomie und Selbstbestimmung, sowie eine Verringerung des Arbeitspensums. Forderungen abgedruckt in Stuart B. Schwartz: Slaves, Peasants, and Rebels. Reconsidering Brazilian Slavery, Urbana IL 1992, S. 62.
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bestimmen, wer sich wann mit wem zum Tanz versammeln durfte. Gerade neu entstehende Tänze, die kulturübergreifend von den verschiedenen afrikanischen »Nationen« getanzt wurden, galten als problematisch.16 Besonders eindrücklich sind in dieser Hinsicht auch Schilderungen aus dem kolonialen Buenos Aires des 18. Jahrhunderts. Während sich die königliche Administration für die Regulierung der Tänze nicht besonders interessierte, wurde die städtische Verwaltung in den 1780er Jahren zunehmend nervös. Sie schickte mehrere Berichte an den Vizekönig, in denen sich bereits viele der späteren Argumente gegen das Tanzen finden. Die lasziven Bewegungen würden unschuldige Beobachter korrumpieren. Und auch die Tänzer_innen seien danach aufgewühlt und unruhig. Die Stadtverwaltung hatte Angst vor einem Aufstand.17 Tatsächlich trafen sich in den 1780er Jahren regelmäßig bis zu 2000 Menschen zum Tanzen. Bei solchen öffentlichen Versammlungen sei es zum Teil zu Unruhen und Gewalt gegen die Autoritäten gekommen. Als ein Polizist 1791 zufällig auf einen Tanz stieß, bei dem sich 200 Gäste bei einem freien Schwarzen zu Hause versammelt hatten, wurde er von den Anwesenden verjagt, nachdem er versucht hatte, den Tanz aufzulösen.18 Aus der Geschichte der Sklaverei in den USA ist bekannt, dass Sklav_innen jede Möglichkeit nutzten, um sich nachts zum Tanzen zu treffen.19 Arbeitsgesänge dienten dazu, sich heimlich für solche Ausflüge zu verabreden. Reisende berichteten, dass die Texte dieser Lieder völlig unverständlich gewesen seien. Tatsächlich
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Fryer, Rhythms of Resistance, S. 96; vgl. auch die Beschreibung sonntäglicher Treffen auf dem Campo de Sant' Anna in Rio de Janeiro in den 1830er Jahren, wo sich »masses of the negro population« trafen und aufgeteilt nach Nationen auf einer großen Grasfläche tanzten, »a sort of common«, in: John Parish Robertson: Letters on Paraguay, Bd. 1, London 1839, S. 164 ff. »Since the number of Blacks in the City is so very great, much attention and care is required in watching over them, guarding their conduct, never losing them from sight, and never pardoning their slightest excesses; since they are by character inclined and disposed toward every evil, one must treat them with the greatest watchfulness.« Zitiert nach George Reid Andrews: The Afro-Argentines of Buenos Aires, 1800-1900, Madison WI/London 1980, S. 157-158. Selbst die argentinischen Revolutionäre beeilten sich in den 1820er Jahren, öffentliche Tänze zu verbieten. Vgl. Andrews, The Afro-Argentines, S. 158. 1810 hatten sich die in Argentinien geborenen kolonialen Siedler unter dem Eindruck der Französischen Revolution unabhängig von Spanien erklärt, was zu einem landesweiten Bürgerkrieg und schließlich 1816 zur formalen Unabhängigkeit führte. Die Revolutionäre hatten eigentlich den Sklaven Freiheit versprochen, wenn sie sich an den anti-kolonialen Kämpfen gegen Spanien beteiligten, dann aber ihre Erwartungen enttäuscht, als sie die Sklaverei beibehielten. Vgl. Eugene Genovese: Roll, Jordan, Roll. The World the Slaves Made, London 1974, S. 566-573.
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waren viele codiert, weil sie von Flucht und einem besseren Leben in der Ferne handelten.20 »›We didn't know whether the overseers were enjoying the singing or not,‹ my grandfather recalled, ›but they seemed to have the idea in their heads that when everybody was singing the work was being well done, which it was. Of course, we were happy thinking of the good time ahead.‹«21
Tom Fletcher, ein afroamerikanischer Artist, der seit den 1880er Jahren im Unterhaltungsgewerbe arbeitete, gibt hier Erzählungen seiner Großeltern wieder. Aber auch in den Slave Narratives finden sich solche Hinweise: Statt sich auszuruhen, tanzten die Jüngeren die Nächte durch und wanderten zum Teil meilenweit auf benachbarte Plantagen, um sich dort mit Gleichgesinnten zu treffen. Strafen nahmen sie in Kauf: »Might whip us de nex' day, but we done had our dance.«22 Einmal sei der Besitzer von Fletchers Großeltern zufällig mit einem Gast auf so eine Zusammenkunft gestoßen. Offenbar hatte er schon eine Weile zugeschaut. Die Tänzer_innen hätten Angst vor Sanktionen gehabt, aber er habe seinem Besucher nur gesagt: »Why should we have to go to town to see the shows when here is as good if not better singing and dancing, and it's all original.«23 Sklavenhalter versuchten also, diese kulturelle Produktion auf ein Spektakel zu reduzieren und es als reine Unterhaltung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Manche ließen ihre unfreien Arbeiter_innen im Garten des Herrenhauses tanzen, während sie mit ihren Gästen auf der Veranda saßen und zuschauten. C.L.R. James beschreibt in Schwarze Jakobiner, dass sich auf den riesigen Plantagen Saint-Domingues im 18. Jahrhundert ein Kult des Widerstands entwickelt habe, der in Tänzen und Gesängen davon handelte, die Weißen und alles, was sie besitzen, zu vernichten. Die Plantagen der damals französischen Kolonie schufen nach James einen Prototyp des Proletariats. Die Versklavten planten ihren Aufstand wie Bauern, »aber weil sie in Gruppen von Hunderten zusammen arbeiteten und lebten, hatten sie viel mit dem modernen Proletariat gemein. So war der Aufstand von 1791 gründlich vorbereitet, eine
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Leroi Jones: Blues People. Schwarze und ihre Musik im Weißen Amerika, Wiesbaden o.J, S. 108-109. Tom Fletcher: 100 Years of the Negro in Show Business New York 1984 [1954], S. 1516. Genovese zitiert hier aus den Slave Narratives von Charles Grandy aus Virginia, vgl. Genovese, Roll Jordan, S. 571. Fletcher, 100 Years, S. 18. Show vs. Originalität verweist auf die Kultur von Blackface in Minstrel Shows.
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gut organisierte Massenbewegung. Bittere Erfahrungen hatten gezeigt, daß isolierte Anstrengungen zum Scheitern verurteilt waren.«24
Voodoo sei ihr geistiges Medium der Verschwörung gewesen und trotz aller Verbote seien die Sklav_innen Meilen gewandert, um zu singen und zu tanzen, Riten und Gespräche zu pflegen, und seit dem Ausbruch der Revolution in Frankreich auch, um politische Neuigkeiten zu erfahren und Pläne zu schmieden. Doch nicht alle huldigten diesem Kult. Manche hatten auch unter den Bedingungen der Sklaverei bessere Arbeitsbedingungen, wenn sie als Kutscher, Köch_innen, Butler oder Hausdiener_innen in engem Kontakt mit Weißen standen. »Diese gehobenen Sklaven waren von den Lastern ihrer Herren und Herrinnen angesteckt, taten sich wichtig und verachteten die Sklaven auf den Feldern. Sie trugen abgelegte Kleidung aus Silber und Brokat und veranstalteten Bälle, wobei sie wie abgerichtete Affen Menuett und Quadrillen tanzten und nach der Mode von Versailles knicksten und sich verbeugten.«
James verachtet diese Anpassung an die Kultur der Herrschenden und betont zugleich, dass einige wenige von eben diesen privilegierten Sklaven zu den späteren Anführern der Haitianischen Revolution wurden. Sie hätten von den kulturellen Vorzügen des Systems profitiert und es damit umso effektiver bekämpfen können.25 Der Übergang eines funktional eingebundenen Tanzens in ein eigensinniges und potentiell widerständiges Tanzen war unvorhersehbar und vollzog sich oft unmerklich. Überwachende Blicke versuchten diese Grenze zu ziehen, wie die eingangs zitierten Reiseberichte aus unterschiedlichen kolonialen Kontexten belegen. Stets verhandelten sie die Frage von Handlungsmacht, die sich im Tanzen von einer Zweck-Mittel-Relation der Zwangsarbeit loszureißen drohte. Und obwohl sie offiziell nicht mittanzten, waren überwachende Instanzen aktiv an diesem Geschehen beteiligt, sie intervenierten und interpretierten. Die Grenze blieb jedoch unsicher, weil sie potentiell immer eine Bühne eröffnete, um in teils stummen Gesten, häufig auch laut hörbaren Gesängen und Rhythmen, die Reduktion von Menschen auf den Status von Arbeits- und Lasttieren herausforderten. Während Beobachter_innen, die der Sklaverei kritisch gegenüberstanden, daran Affekte von Mitleid anschlossen oder ihre Faszination für schwarze Kultur zum Ausdruck brachten, werteten andere solche Momente bereits im 18. Jahrhundert im Sinne einer drohenden Ansteckung oder Pathologie. Ein Reisender aus den USA sah in Brasilien an einem Feiertag Sklav_innen auf der Straße tanzen und hielt seinen Wagen an, um sie zu beobachten. Er beschreibt 24 25
C.L.R. James: Schwarze Jakobiner. Toussaint L'Ouverture und die Unabhängigkeitsrevolution in Haiti, Köln 1984, S. 100. James, Schwarze Jakobiner, S. 26.
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ihren Aufzug als »most wild and grotesque«, als wollten sie als Teufel auftreten, obwohl sie doch, wie er mit Schrecken an den Kreuzen und Amuletten um den Hals merkte, getaufte Christen seien: »Exhibitions of this kind are far from being limited here to extraordinary holidays, or to the seclusion of by-places. I have seen them in open daylight, in the most public corners of the city, while young females even, of apparent respectability and modesty, hung over the surrounding balconies as spectators.«26
Der Reisende reagierte mit Abscheu auf die Szene und er zeigte sich besonders besorgt, wie sich solche Szenen auf junge Frauen der besseren Gesellschaft auswirkten. Weil Sklaven die Straßen zur Bühne machten, saßen diese Frauen zu Hause an ihren Fenstern wie im Theater im ersten Rang. Der spätere Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmsted, der 1861 im Auftrag einer New Yorker Zeitung den amerikanischen Süden besuchte, beschreibt in seinem Reisebericht einen Gottesdienst in New Orleans. Die Musik und die Bewegungen der Gläubigen hatten eine körperliche Wirkung auf ihn: »I was once surprised to find my own muscles all stretched, as if ready for a struggle – my face glowing and my feet stamping, having been infected unconsciously, as men often are, with instinctive bodily sympathy with the excitement of the crowd.«27 Schon seit der ersten protestantischen Erweckungsbewegung, dem Great Awakening im 18. Jahrhundert, waren in den USA Befürchtungen laut geworden, dass die Begegnung schwarzer und weißer Gläubiger die religiösen Praktiken aller verändern würden. Viele Afroamerikaner_innen bestanden darauf, auch das Christentum tanzend zu erleben. Verbote fruchteten wenig: Die Leute würden eher weggehen, als sich ohne »ring shouts« bekehren zu lassen, entgegnete ein junger Prediger einem Bischof der American Methodist Episcopal Church, der in den 1870ern den amerikanischen Süden bereiste.28
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UND
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Tanzen entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem prominenten Topos, um das Verhältnis von Maschine und Körper, von industrieller Produktion und körperlicher Bewegung zu verhandeln. Im Unterschied zu den beunruhigenden Phä-
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C. S. Stewart, Brazil and La Plata, NY 1856, S. 293-294, zitiert in Fryer, Rhythms of Resistance, S. 91. Frederick Law Olmstead: Cotton Kingdom: A Traveller's Observations on Cotton and Slavery in the American Slave States, Bd. 1, New York 1862, S. 310. Albert J. Raboteau: Slave Religion. The Invisible Institution in the Antebellum South, Oxford u.a. 2004, S. 68-69.
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nomenen der Ermüdung und des Arbeitswahns, der vielen Bewohner_innen der modernen Metropolen um 1900 zu schaffen machte, versprach das Tanzen einen Ausweg aus der deprimierenden Spirale von Arbeitsdisziplin, dem Aufschub von Bedürfnissen und dem Gefühl von Langeweile nach der Arbeit.29 Die prominente Rolle, die afroamerikanische Tanztraditionen in diesen Verhandlungen spielten, war, wie im Folgenden gezeigt werden soll, nicht zufällig entstanden. Sie hatte sich gegen ein Regime des Arbeitszwangs entwickelt, das um 1900 offiziell zwar abgeschafft, aber in der Organisation von Arbeit und der sie begleitenden Subjektivität auf gespenstische Art und Weise weiterhin präsent war. Wenn sich die Bewohner_innen der westlichen Metropolen um 1900 für ein Repertoire interessierten, in dem die Technik des break ein zentraler Einsatz war, wandten sie an eine Kultur, die sich schon länger mit einem modernen Regime des Arbeitszwangs auseinandergesetzt und dabei die Grenzen des Machbaren im Zugriff auf den Körper als virtuellem Reservoir von Arbeitskraft verhandelt hatte. In dieser Situation, unter den Bedingungen freier Lohnarbeit, veränderte sich der Blick auf das Tanzen. Es war nicht mehr etwas, das auf ein Mindestmaß reduziert und streng überwacht, sondern aktiviert, angereizt und regulierend kanalisiert werden sollte. Ein Musikwissenschaftler berichtete in den 1930er Jahren in den USA von einem Gottesdienst in einer afroamerikanischen Gemeinde. Sie habe sich »in strange syncopation« bewegt und ein ganz eigener Rhythmus sei unabhängig von dem des Predigers entstanden: »I was gripped with the feeling of a massintelligence, a self-conscious entity, gradually informing the crowd and taking possession of every mind there, including my own.«30 Der Bericht beschreibt den Rhythmus als »deep undercurrent«. Diese Unterströmung sei stärker gewesen als der Wille jedes einzelnen. Zusammengesetzt aus improvisierten Harmonien und Rhythmen steigerten sie die Intensität gemeinschaftlichen Handelns. »I felt as if some conscious plan or purpose were carrying us along, call it mob-mind, communal composition, or what you will.«31 Die Wirkungsmacht dieser Rhythmen wird hier nicht mehr als körperliche Reaktion interpretiert oder als Ansteckung problematisiert, sondern erscheint als Potential, um die koordinierte Selbsttätigkeit einer
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Vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, aus dem Amerikanischen von Erik Michael Vogt, Wien 2001; Radkau, Zeitalter der Nervosität; zum Diskurs über Neurasthenie als »paradox of the white man's body« um 1900 vgl. Gail Bederman: Manliness and Civilization. A Cultural History of Race and Gender in the United States, 1880-1917, Chicago/London 1995, S. 84 ff.; neue Formen von Arbeitszwang entstanden paradoxerweise auch aus der offiziellen Abschaffung der kolonialen Sklaverei, vgl. Wilfried E. Lamparter: Erziehung zur Arbeit. Zum britischen und deutschen Kolonialismus im südlichen Afrika, Marburg 1998. Clifton Joseph Furness: Communal Music among Arabians and Negroes, Musical Quarterly 1930 (16): S. 49-51, zitiert in Levine, Black Culture, S. 27. Lawrence Levine: Black Culture and Black Consciousness, New York 1977, S. 27.
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großen Menschenmenge zu ermöglichen. Die hier verhandelte Grenze verlief zwischen »mass-intelligence« und »mob-mind«, Taylorismus und Massenstreik. In ähnliche Richtung geht auch ein Artikel über Ragtime von 1919, der von der Reaktion eines deutschen Chorleiters auf den Chor des Hampton Institutes berichtete. Er habe gefragt, »who drills them as a choir?« Niemand, sei die Antwort gewesen, die Gruppe werde von einer »quick contagion of musical sympathy« zusammengehalten. Und sogleich nimmt der Artikel das Vermögen von Rhythmus in Dienst und funktionalisiert es: Ragtime sei »poetic justice« gegenüber dem Ausschluss von Afroamerikaner_innen aus der Musikindustrie. »[Ragtime] it is whose rhythms impel our marching feet in a ›war for democracy‹«.32 Die Tänzerin und Tanzhistorikerin Mura Dehn schreibt in ihren Notizen zu dem Film The Spirit Moves, schwarze Tänze hätten um 1900 diese Anziehung entfaltet, »because the key word at the beginning of the century was ›rhythm‹.«33 In den Zeitraum fällt auch die erste Ausgabe von Arbeit und Rhythmus (1896) des deutschen Nationalökonomen Karl Bücher, der das Verhältnis von Arbeiten und Tanzen analysiert. Bücher situiert die Frage nach der Organisation von »Massenarbeit« im entstehenden Fabriksystem in einer transkulturellen und transhistorischen Materialsammlung verschiedener Formen kollektiver Arbeit. Er zieht eine Verbindungslinie zwischen dem, was er in späteren Ausgaben als Taylorisierung der Arbeit kritisierte, und der Ideologie der Erziehung zur Arbeit im Kolonialismus. Bücher widersprach dem Mythos von der natürlichen Faulheit des Menschen. Wogegen sich »die Naturvölker« wehrten, sei eine bestimmte Form der Organisation von Arbeit, »angespannte, regelmäßige Arbeit«, deren Dauer, Intensität und Rhythmus sie nicht selbst kontrollieren könnten. Die Bewohner_innen der Kolonien hätten bald erkannt, dass diese Organisationsweise ihr »Wohlbefinden« nicht verbessern, sondern verschlechtern würde. Diese Form der Arbeitsdisziplin sei unfrei. 34 Arbeit und Rhythmus untersucht demgegenüber historische und kulturelle Modelle der Organisation von Kooperation, die andere Formen von Arbeitsdisziplin hervorbrachten. Die Rhythmisierung von Bewegung habe dabei eine zentrale Rolle gespielt:
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Natalie Curtis-Burlin: Black Singers and Players, in: Musical Quarterly 1919 5 (4): S. 499-504. Dehn verweist auf Emil Jaques-Dalcroze, einen in Wien aufgewachsenen Schweizer Komponisten und Musikpädagogen, der um 1900 ein System der rhythmischen Gymnastik entwickelte. Vgl. Bildungsanstalt Jaques Dalcroze (Hg.): Der Rhythmus. Ein Jahrbuch, Jena 1911. Karl Bücher: Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1924 (sechste, verbesserte und erweiterte Auflage); vgl. auch die empirische Studie von Margaret Keiver Smith: Rhythmus und Arbeit, Leipzig 1900.
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»Überall, wo eine große Zahl von Menschen zu gleichem Tun sich zusammenfindet, macht sich das Bedürfnis eines geordneten, gleichmäßigen Vorgehens unabweisbar geltend, auch wenn jeder Einzelne für sich imstande wäre, das Ziel, das er sich gesteckt hat, zu erreichen.«35
Mit Hilfe von rhythmischen Gesängen entstehe eine ordnende Macht, in die man sich gerne einfüge.36 Der Takt ermuntere und erfrische und »der ungeordnete Haufen wird damit von selbst zu einem einheitlich handelnden Körper.« Die überwachte Zwangsarbeit hätte damit, genealogisch gesprochen, ihre Herkunft in der koordinierten Selbsttätigkeit einer Menge: »Anfangs bloß ein Mittel der Selbstzucht, durch das freiwillige Arbeiterscharen sich zusammenhalten und ermuntern, wird der Arbeitsgesang oder an seiner Stelle rhythmisch wirkende Musik später zu einem Behelf herrschaftlicher Disziplin, den der afrikanische Häuptling anwendet wie der chinesische Mandarin und der baltische Grundherr.«37
Während die Bittarbeiter, die sich gegenseitig und zu gleichen Teilen bei der Feldarbeit helfen, in ihren Arbeitsgesängen die Freude über eine gemeinsame Ernte zum Ausdruck brachten, sangen die Fronarbeiter vom bitteren Hass gegen ihre Unterdrücker. Arbeitsgesänge und rhythmische Tätigkeit erleichterten freiwillig geleistete kollektive Arbeit ebenso wie die Überwachung erzwungener Arbeit. Zwangsarbeit musste überwacht werden, und synchronisierte Bewegung war leichter zu überwachen. Wer in einer synchron agierenden Gruppe aus der Reihe tanzte, fiel sofort auf. Andererseits ermöglichte der Gesang bei der Arbeit eine kollektive Aushandlung des Arbeitstempos und ersetzte bis zu einem gewissen Grad den Rhythmus der Peitsche. Rhythmische Bewegung fördert die Arbeitsleistung und verhindert die aus einer immer gleich bleibenden Konzentration erwachsende Ermüdung, so Bücher. Statt monotoner Anstrengung ermögliche sie ein Wechselspiel von Anspannung und Entspannung. Bücher interveniert um 1900 in die Debatte um Arbeitsorganisation in der Industriegesellschaft. Einige Belege für seine These findet er in den Arbeitsgesängen der (ehemaligen) Sklav_innen in den Amerikas. Er beschreibt das »Heraustanzen« von Kakaobohnen aus den Früchten in Trinidad und betont die Kontinuität von Arbeitsgesängen in den Tabakfabriken der USA, die während der Sklaverei entstanden. Unternehmer erlaubten ihren Arbeitern nicht nur, während der Arbeit zu singen, sondern experimentierten mit dem Einsatz von Musikkapellen, mechanischen Klavieren oder ganzen Orchestern, womit sie die Arbeitsleistung um bis zu 40 Prozent
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Bücher, Arbeit und Rhythmus, S. 266. Vgl. McNeill, Keeping together. Bücher, Arbeit und Rhythmus, S. 329.
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steigerten. So griffen sie auf Formen der Organisation von Arbeit zurück, die aus der Zeit der Sklaverei stammten, um ihre Produktivität zu steigern.38 Doch meist herrsche in der Fabrik der Rhythmus von Maschinen. Die Arbeitenden seien dem Tempo der Maschinen unterworfen, ganz wie früher die Versklavten oder Leibeigenen ihren Herren. Die Werkzeuge würden den Gebrauch des menschlichen Körpers zunehmend ersetzen, der nur noch mit wenigen Handgriffen automatisierte Prozesse am Laufen halten müsse. Dadurch sei die Möglichkeit verloren gegangen, die Arbeit in ein Spiel zu verwandeln. Denn diese Tätigkeit lasse sich nicht rhythmisieren, sie sei dem nervtötenden Lärm der Maschine ausgesetzt und verlange beständig und kontinuierlich Aufmerksamkeit, was enorm ermüdend sei.39 Diese Form der Arbeit sei unfrei, argumentiert Bücher. Tempo und Intensität der Arbeit waren in der Fabrik keineswegs von der Maschine vorherbestimmt, sondern von ihren Betreibern. Zudem herrschten andere Widerstandsbedingungen, als im System der Sklaverei. Doch die Effekte der Auseinandersetzungen um die Organisation von Arbeit im 19. Jahrhundert waren ambivalent. Es gelang nicht, den Rhythmus über das Arbeitstempo zu erobern. Stattdessen veränderte sich im Zuge der Industrialisierung der ganze Lebensrhythmus.40 Dass hierbei zunehmend zwischen Arbeitszeit und Freizeit unterschieden wurde, war nicht in erster Linie eine Forderung der Arbeiter_innen gewesen, die eher die Organisation des Arbeitsalltags in Frage stellten. Vielmehr zeichnete sich in dieser Unterscheidung ein Kompromiss ab. Sie ermöglichte dem Management, Arbeit besser von dem abzugrenzen, was nicht als Arbeit anerkannt war, um Arbeitsleistung zu intensivieren und vorhersehbar zu machen.41 Aus der Perspektive von Arbeiter_innen ermöglichte sie das Fliehen aus der Fabrik.42 Nachdem kürzere Arbeitszeiten durchgesetzt waren, schafften gerade jüngere Arbeiter_innen die anfangs ausgedehnten Pausen ab, die einen Arbeitstag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erträglich gemacht hatten. Sie arbeiteten die Stunden lieber am Stück ab, um 38 39
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Bücher, Arbeit und Rhythmus, S. 164; S. 264-265. »Das Tempo und die Dauer seiner Arbeit sind seinem Willen entzogen; er ist an den toten und doch so lebendigen Mechanismus gefesselt. Darin liegt das Aufreibende und das Niederdrückende der Fabrikarbeit: der Mensch ist ein Knecht des nie rastenden, nie ermüdenden Arbeitsmittels geworden.« Bücher, Arbeit und Rhythmus, S. 460. Vgl. Sebastian Göschel: Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet. Arbeit zwischen Horror Laboris und Macht der Gewohnheit, in: Baxmann u.a. (Hg): Arbeit und Rhythmus, S. 79-99. Alf Lüdtke: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, 85 ff. Alf Lüdtke: »Deutsche Qualitätsarbeit«, »Spielereien« am Arbeitsplatz und »Fliehen« aus der Fabrik. Industrielle Arbeitsprozesse und Arbeiterverhalten in den 1920er Jahren – Aspekte eines offenen Forschungsfeldes, in: Friedhelm Boll (Hg.): Arbeiterkulturen zwischen Alltag und Politik. Beiträge zum europäischen Vergleich in der Zwischenkriegszeit, Wien/München/Zürich 1986, S. 155-197, hier: S. 187-188.
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die Fabrik so schnell wie möglich verlassen zu können. Während für einen Großteil der Frauen nach der Lohnarbeit die Arbeit in der Familie begann, verbrachten diejenigen, die es sich leisten konnten, den ausgehandelten Kompromiss der Freizeit unter anderem mit neuen Formen des urbanen Vergnügens.43
E RMÜDUNG
UND
E RFRISCHUNG
Die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit war ideologisch und im Alltag widersprüchlich. Eine Untersuchung von 1905 über Tanzlokale in Berlin argumentiert, dass »der Berliner« deshalb nachts so viel tanze, weil er tagsüber so viel arbeite.44 Er sei sogar deshalb am nächsten Morgen besonders »frisch«, weil er sich nachts so vollständig verausgabe: »[B]eim Berliner hat alles seine geregelten Stunden. Er hat seine festgelegte Arbeitszeit – und kennt dann nichts als Arbeit. Er arbeitet bis zur Erschöpfung. Dann aber wird plötzlich aus dem erschöpften, blassen, verärgerten und mißmutigen Geschöpf ein anderer Mensch. Er geht nach Hause und zieht mit dem Arbeitskittel den Arbeiter aus, wird frisch, heiter, fiebert vor Erwartung – und ist fähig, den ganzen Abend und fast die ganze Nacht munter und mobil zu sein. Ist er dann erschöpft, abgespannt vom Vergnügen, so kann er wieder frisch in die Arbeit eintreten.«45
Gerade dieser Wechsel ermögliche die besondere »Spannkraft« des Berliners. Die Tanzlokale seien die »notwendige Ergänzung« zum Arbeitsleben. Doch die funktionale Gleichung von Anspannung und Abspannung wollte nicht so leicht aufgehen. Denn auch an den Orten des Vergnügens wurde gearbeitet. Das galt nicht nur für das angestellte Personal, sondern auch für unbegleitete Frauen, die dort als Besucherinnen waren. Dass der Bericht »den Berliner« vorstellte, der nach der Arbeit zum Tanzen ging, war deshalb kein Zufall. Aus den Tanzsälen seien Märkte geworden, beklagt der Bericht, »auf denen sich Ladnerinnen, Erzieherinnen, Nähmädchen und allerlei andere junge, lebenslüsterne Geschöpfe für ein warmes Abendbrot oder ein wenig Liebe anbieten.« Dazu komme noch jene »Mädchengruppe«, die ebenfalls unbegleitet zum Tanzen ging. »Die junge Berlinerin ist eben fast immer von einer großen Tanzwut besessen.«46 Auf seinen nächtlichen Streifzügen durch die Berliner Tanzlokale hatte Ostwald Mühe, jeweils einzuordnen, mit welcher Art Geschehen er es zu tun hatte. Ständig drohte die muntere Mobilität, von der er
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Alf Lüdtke (Hg.): Mein Arbeitstag – Mein Wochenende. Arbeiterinnen berichten von ihrem Alltag, Hamburg 1991; Maase, Grenzenloses Vergnügen. Ostwald, Berliner Tanzlokale. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 5-6. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 3-4.
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schwärmte, sich in gesellschaftliche und ökonomische Zwänge zu verkehren. Frauen wollten den Konventionen entsprechend eingeladen werden und er musste erst einmal herauszufinden, ob es sich um eine Animierdame handelte, die auf Kommission arbeitete, um eine Prostituierte oder um eine flirtende Frau auf der Suche nach einem Partner. In allen Fällen ging es potentiell um Geld, Handel und Ökonomie. Ostwald begegnete deshalb allen Frauen, die er nicht eindeutig einem Mann zuordnen konnte, misstrauisch und stellte sie unter den Generalverdacht der Prostitution. Sie bedrohten nicht nur den Austausch wahrer Gefühle, sondern auch seine Position als teilnehmender Beobachter, wenn sie ihn ansprachen und zum Tanzen aufforderten. Dieses Nachtleben war vom Arbeitsleben nicht so einfach zu unterscheiden, und die paradoxe Figur des nimmermüden Arbeiters, der sich beim Tanzen erfrischt, läuft Gefahr zu überhitzen. Ostwald beschreibt Männer als anfällig für Ansteckung: Sie »fieberten« dem Tanz entgegen, und ließen sich am Wochenende durch den Trubel auf der Straße treiben, der »ein gewisses Fieber« erzeugte, so dass sie sich fern vom Arbeitsleben fühlten.47 Obwohl Ostwald von der Möglichkeit eines Ausgleichs zur Arbeit durch die Freizeit ausgeht, registriert er auch ihr Scheitern: »Den niedrigen Hut hat er in das Gesicht gedrückt, in das der greisenhafte Zug jener jungen Leute geätzt ist, die nur für Fabrik und Tanzboden leben.«48 Tanzen als Selbstzweck näherte sich damit wieder gefährlich der Verausgabung des Körpers in der entfremdeten Arbeit der Fabrik an. Der Autor dieser populärwissenschaftlichen Untersuchung über Berliner Tanzlokale war als junger Mann selbst vor der Arbeit geflohen: Er hatte eine Lehre als Goldschmied gemacht und war danach auf die Walz gegangen. Anstatt in seinem Beruf zu arbeiten, schloss er sich aber Vagabunden an. Zurück in Berlin schrieb er ein Buch über seine Erlebnisse, das sich gut verkaufte. Er machte weiter mit dieser Form der Volkskunde, erforschte das »dunkle Berlin« und veröffentlichte zusammen mit anderen »Proto-Stadtsoziologen« die Reihe Berliner GroßstadtDokumente.49 Die populären Broschüren kombinierten ethnografische Feldforschung mit exotisierend-moralisierenden Kommentaren. Kritiker dieser autoethnografischen Methode warfen den Autoren der Großstadt-Dokumente deshalb auch
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Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 5 und S. 79. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 89. Vgl. Dietmar Jazbinsek/Ralph Thies: Embleme der Moderne. Berlin und Chicago in Stadttexten der Jahrhundertwende, Discussion Paper FS-II 99-501, Berlin 1999, S. 24. URL: http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/1999/ii99-501.pdf (zuletzt abgerufen 13. 03. 2010) Sie betonen hier den Einfluss der Berliner Großstadt-Dokumente auf die Chicago School of Sociology.
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häufig vor, hinter ihrem vorgeschobenen wissenschaftlichen Interesse nur den Voyeurismus ihres Publikums bedienen zu wollen. 50 Die Problematik, dass die Zeitgenossen etwas anderes sein könnten, als sie vorgeben, zieht sich wie ein roter Faden durch die Berliner Großstadt-Dokumente selbst. Es wurde sogar ein »Gesetz der Mimikry« darin aufgestellt, das im sozialen Leben der modernen Menschen herrsche. Betrug, Schwindel und Hochstapelei seien in Großstädten schwer zu verfolgen. Doch auch die ganz normalen Angestellten lebten in den Augen dieser Autoren nach dem Gesetz der Mimikry, weil sie sich bei der Arbeit notgedrungen verstellen müssten und nach der Arbeit ganz andere Menschen seien. Man könne einfach dem äußeren Anschein nicht mehr trauen.51 Als Experten des modernen urbanen Lebens interpretierten diese Forscher die Dynamiken der Imitation und Verwandlung als Strategien der Tarnung, die aus ökonomischen und sozialen Konflikten erwuchsen. Diese aufzudecken war dabei ihr erklärtes Ziel. Ostwald war deshalb auch nicht verwundert, dass Frauen, die er in den Tanzlokalen der Prostitution verdächtigte, bisweilen den Cakewalk tanzten, die Imitation einer Imitation einer Imitation.52 Er interpretiert ihn als Teil eines hausgemachten Problems und pathologisiert ihn nicht wie später im Diskurs um das Tanzfieber. Ostwald erklärt den fiebernden Berliner und die tanzwütige Berlinerin eher aus dem Arbeitsleben und dem Alltag im »dunklen« Berlin. Der Kompromiss, sich für die Reduktion von Arbeitszeit auf eine Intensivierung von Arbeitsleistung einzulassen, war prekär und beständig von einem Schreckgespenst bedroht, das schließlich auch Ostwald selbst heimsuchte: der Ermüdung.53 Ostwald schloss sich damals einer Gruppe von Reformern an, die außerhalb Berlins eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft gründeten. Er schloss sich diesem anarchistisch und sozialistisch geprägten Kollektiv entgegen seiner kleinbürgerlichen Her-
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Vgl. Dietmar Jazbinsek/Ralf Thies: Großstadt-Dokumente. Metropolenforschung im Berlin der Jahrhundertwende, Schriftenreihe der Forschungsgruppe Metropolenforschung des Forschungsschwerpunkts Technik-Arbeit-Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Bd. 98, Berlin 1996, S. 45. Bis auf Band 26 von Ella Mensch über die Berliner Frauenbewegung waren alle Großstadt-Dokumente von Männern verfasst. Vgl. Jazbinsek/Thies, Großstadt-Dokumente, S. 46. Das Gesetz der Mimikry erinnert an die gleichzeitig in Buenos Aires von José Ingenieros aufgestellte These von der »Pathomimikry« seiner Zeitgenossen. Vgl. zu Ingenieros Kap. I.2. Politiken der Pose und Kap. II.2. Vgl. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 75 und S. 87 und ausführlich Kap. II.3. Nach Rabinbach war die Ermüdung die Kehrseite der »Entdeckung der Arbeitskraft« als quantifizierbarer Größe, die von jedem Kontext gelöst als Ausbeute nur der Abstraktion unterworfen sein sollte. Rabinbach, Motor Mensch, S. 14-15. Das Buch untersucht die Literatur über die Arbeit, die am Ende des 19. Jahrhunderts erschien und die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer wissenschaftlichen Annäherung an den arbeitenden Körper fortsetzte.
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kunft an, in dem grenzenlosen Fleiß, mit dem er sich in seine neue Aufgabe stürzte, blieb er dieser Herkunft aber zugleich verbunden. Entgegen seiner kleinbürgerlichen Herkunft schloss er sich diesem anarchistisch und sozialistisch geprägten Kollektiv an. Aber in dem grenzenlosen Fleiß, mit dem er sich in seine neue Aufgabe stürzte, blieb er dieser Herkunft zugleich verbunden. 1907 erlitt Ostwald einen Nervenzusammenbruch. Er zog sich aus dem Kollektiv zurück, reiste nach Italien, heiratete und begann ein bürgerliches Leben. Einzig das Schreiben als Arbeit, Schreiben um Geld zu verdienen, behielt er bei. Als Autor der Berliner Sittengeschichte reflektierte er in den 1910er Jahren das enorme Wachstum der Stadt und beschäftigte sich weiterhin mit der sozialen Frage, auf die er jedoch zunehmend konservative oder besser: regierungstechnische Antworten vorschlug. Er gründete den Verein für soziale Kolonisation, eine private Initiative, die Arbeitslosen im ländlichen Umland Berlin ein bäuerliches Leben ermöglichen sollte.54 Was heute häufig als burn out-Syndrom verhandelt wird, wurde bereits um 1900 unter dem Stichwort »Fatigue« mit veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen in Zusammenhang gebracht. Seit den 1880er Jahren untersuchten Psychologen und Arbeitswissenschaftler die Grenze der Belastbarkeit des Körpers. Der Forschungszweig war von einem intensiven transatlantischen Austausch geprägt.55 Forschungsergebnisse wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und populärwissenschaftlich in Zeitschriften und Magazinen aufbereitet. Beliebt waren um 1900 Experimente mit sogenannten »Ergographen«, die repetitive Muskelbewegungen für eine gewisse Dauer auf Papier sichtbar und Arbeitskraft dadurch messbar machen sollten.56 Solche Artikel verwiesen häufig auf das Gefühl von Ermüdung, das jeder aus dem Alltag kenne, diskutierten dann die wissenschaftlichen Ergebnisse und kamen schließlich von der Ermüdung von Muskelkraft auf die Ermüdung von Nerven bei geistiger Tätigkeit zu sprechen. Diese Form der Ermüdung war weniger einfach zu messen und erzeugte ein verwirrendes Sammelsurium an Symptomen. Der Ergograf als »scientific self-registering machine« war hier nur insofern nützlich, als dass er nachweisen konnte, dass geistige Tätigkeit auch die Muskelkraft des Probanden beeinträchtigte. Die einfache Rechnung, dass Kopfarbeiter sich in der Freizeit durch sportliche Betätigung Ausgleich verschaffen könnten, sahen Forscher_innen dadurch in Frage gestellt. Immerwährende Betätigung drohte die Symptome der Ermüdung zu verschlimmern. Denn anders als Muskeln regeneriere sich »nervous energy« nicht automatisch. Die Forscher_innen warnten vor einem »Energieleck«, 54 55
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Vgl. Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die »GroßstadtDokumente« (1904-1908), Köln/Weimar/Wien 2006. Vgl. die Doktorarbeit von Margaret Keiver Smith: Rhythmus und Arbeit, Leipzig 1900. Zum intensiven Austausch zwischen den USA und Deutschland vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 49 ff. John Adams: Fatigue Curve and Rest Periods, in: Practical Teacher 1902 22 (11): S. 556-558.
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das den Organismus dauerhaft schädige. Weil man in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Arbeit schaffen wolle, entstehe eine Art »Überdruck«. Anders als im Fall der Muskeln merke man diese Ermüdung aber nicht sofort, sondern erst, wenn der als Maschine missbrauchte Körper Schaden genommen habe. »Is it not of importance that the laws of wear and tear which regulate the movements of our human machines should be sought as carefully and respected as religiously as those which govern the motions of our monster master-servants of steel and iron?«57
Geist und Körper stehen einander in diesen Texten antagonistisch gegenüber. Der Wille gefährdet Muskelkraft wie Nervenkostüm. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Muskeln Ruhephasen benötigen, um Milchsäure abzubauen, ist von »autointoxication« und »waste products« im Körper die Rede. Erst vor diesem Hintergrund einer Verschmutzung des Körpers werden Arbeitspausen als sinnvoll dargestellt. Die Wissenschaftler_innen bedauerten aber die »Fesseln« des Körpers, die den Wunsch, »frei« über sein Vermögen zu verfügen, behinderten und begrenzten. Sie verstanden den Körper als Werkzeug und Mittel zum Zweck und nahmen Müdigkeit als »oppressor« wahr, von dem man sich befreien wolle: »Fatigue is the cry of the builders for more material when the supply has given out by reason of excess of effort due to rivalry or the driving of a relentless foreman – the brain.«58 Das Gehirn nahm dabei die Funktion des Aufsehers oder Vorarbeiters ein. Müdigkeit war ein Ruf nach Nachschub von Energie. Diese Vorstellung gipfelte in einer Utopie der Immunisierung, so dass ein Autor beglückt auf die Ergebnisse eines deutschen Forscher verwies, der angeblich einen Impfstoff gegen Müdigkeit entwickelt hatte.59 Anders als in Büchers Rhythmus und Arbeit spielt Arbeitsunlust oder Einfluss auf den Arbeitsrhythmus in diesem Modell keine Rolle. Obwohl manche Beiträge zum Thema Ermüdung bedächtiger vorgehen und zwischen guter und schlechter Ermüdung abzuwägen scheinen, bestätigen alle implizit den Wunsch nach grenzenloser Tätigkeit. Die gebrauchten Metaphern entsprechen durchweg einem Herr-Knecht-Schema, wie es die politische Theorie in der Tradition Hegels im 19. Jahrhundert entwickelt hatte.60 Der Körper wird als
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Vgl. Margaret Drummond: Fatigue, in: Strand Magazine 29 (170) 1905, S. 217-221, hier: S. 221. F. W. Eastman: An Antitoxin for Fatigue, in: Harper's Monthly Magazine 1909 (714): S. 897-902, 897. Diese Suche war, wie sich bald herausstellte, aussichtslos. Dass sie den Zeitgenossen aber überhaupt wünschenswert erschien, macht nach Rabinbach die eigentlich bemerkenswerte Tatsache aus. Rabinbach, Motor Mensch, S. 17. Die Herr-Knecht-Dialektik verweist nicht nur auf die Möglichkeitsbedingungen der Befreiung aus feudalen Verhältnissen oder auf Hegels Lektüre antiker Philosophen, son-
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»Unterdrücker« adressiert, seine Müdigkeit »raubt« die Lust am Leben.61 Wille, Intelligenz oder das Gehirn haben die Rolle des Sklaventreibers übernommen. Wie im obigen Zitat über die »monster master-servants of steel and iron« angedeutet, verhandelten sie dabei das Verhältnis von Mensch und Maschine. Ausgehend von einem dichotomen Körper-Geist-Schema konzipierte der Diskurs um Ermüdung das Verhältnis von Wollen und Können als Konflikt. Ähnlich beschreibt Joachim Radkau den »Hochdruckmenschen« im Zeitalter der Nervosität um 1900, der analog zum neu erfundenen Motor seinen »Wirkungsgrad« steigern wollte. Die Entdeckung von Nerven, insbesondere des vegetativen Nervensystems, markierten hier gemessen an der im 18. Jahrhundert affirmierten Einheit des Menschen einen Kontrollverlust: »Mehr und mehr wirkte das Nervensystem wie ein labiles Staatswesen, an dessen Peripherie lauter autonome oder halbautonome Regionen Unruhe stifteten.«62 Diese Dynamik sei mit der Säkularisierung von Moral einhergegangen, so dass im Diskurs um Nerven, Nervosität, Ermüdung und Erschöpfung ganz unterschiedliche Dinge verhandelt werden konnten, von Psychosen über Sexualität hin zu subjektiver Verweigerung. Doch Radkau betont, dass es sich dabei nicht nur um eine Strategie der Tarnung handelte, sondern um einen Diskurs, der die Grenzen der Autonomie bestimmen sollte.63 Radkau diagnostiziert dem Zeitalter der Nervosität ein Leiden an ambivalenten Gefühlen. Die Menschen hätten sich nach starken Leidenschaften gesehnt, die ihre Energie in eine Richtung bündelten. Statt konkreter Furcht hätten vage Ängste zugenommen. Vor diesem Hintergrund erst sei verständlich zu machen, weshalb die Aussicht auf Krieg kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs manchen ein Gefühl der Erleichterung verschaffte. Tatsächlich brachte der Psychologe Eugen Bleuler den Begriff der Ambivalenz kurz vor dem Ersten Weltkrieg ins Spiel, als untrennbare Verknüpfung gegensätzlicher Wertungen, wie sie beispielsweise in der »Hassliebe« zum Ausdruck kommt.64 Bleuer konstatierte ein Kontinuum von der alltäglichen Ambivalenz der Affekte, mit der erwachsene und gesunde Menschen umzugehen verstünden, hin zu jener krankhaften Ambivalenz, die zu unlösbaren Konflikten führe, wie er sie für die Schizophrenie diagnostizierte. Die »Hassliebe« eines Ehemannes zu seiner Frau wertete er dagegen als normal. Gesellschaftlich problematisch oder psychiatrisch relevant interpretierte er die Ambivalenz dort, wo sie die Handlungsmächtigkeit des Betroffenen blockierte, seine Möglichkeit, gegensätzliche Affekte zu gewichten, um Entscheidungen zu treffen und entsprechend in Taten
61 62 63 64
dern auf seine Auseinandersetzung mit der Revolution in Haiti, vgl. Buck-Morss, Hegel und Haiti. Drummond, Fatigue, S. 217. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 30. Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 33. Eugen Bleuler: Die Ambivalenz, in: Festgabe zur Einweihung der Neubauten der Universität Zürich 18. April 1914, Zürich 1914, S. 95-106.
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umzusetzen. Handlungsmächtigkeit erscheint hier als ein Wert an sich, gebunden an die Fähigkeit, Spannungen als Gegensätze und Widersprüche auszuhalten. Doch Verdrängung oder Psychose waren nicht der einzig mögliche Umgang mit Ambivalenz. Dass Zeitgenossen Tanzmoden häufig als »Tanzwut« oder »Fieber« interpretierten, verweist auf Praktiken, die Konflikte nicht verinnerlichten, sondern öffentlich ausagierten. Wie im vorherigen Kapitel über den Gesellschaftstanz dargestellt, handelte es sich um Techniken, die Ambivalenz auf ein anderes Terrain verschoben und sie in Politiken der Pose hypersichtbar machten. Tanzen ermöglichte um 1900 eine Bühne, auf der die räumlichen und zeitlichen Aufteilungen des modernen Lebens zwischen Arbeit und Freizeit, Vernunft und Wahnsinn, Liebe und Sexarbeit, bezahlter und unbezahlter Arbeit wiederaufgeführt und in Frage gestellt werden konnten. Neben Fantasien grenzenloser Steigerung körperlichen Vermögens traten dabei auch Ängste vor Versklavung, Ausbeutung und Krankheit zutage, woran sich der Wunsch mancher Experten des urbanen Lebens koppelte, das Tanzen aus dem Zusammenhang geschlechtlicher Arbeitsteilung im urbanen Kontext herauszulösen und die Tanzfläche zu einem Ort reiner Erholung zu erklären.65
B ALANCEARBEIT
UND
A LLTAGSWIDERSTAND
Der afroamerikanische Tänzer Pepsi Bethel, der den Cakewalk in den 1950er Jahren für Mura Dehns Film The Spirit Moves nachtanzte, erzählt in einem Gespräch mit der Filmemacherin: »The relaxation in Cakewalk even though the body is arched, that is the trick you have to find.« Nachdem er diese Entspannung trotz der Rückbeugung des Körpers gefunden hatte, fühlte er sich elegant und stolz. »I may make some comical movements, but it is still elegant. Sometimes you have the feeling of lifting the shoulders because of the anxiety of emotion and style. When you lift your shoulders you are on the balls of your feet because you are as elegant and as high as you can be. You're walking on clouds. It's a kind of triumph.«66
Gemischte Gefühle nicht auszublenden oder zu verinnerlichen, sondern eine dritte Position zu suchen, weder beherrscht noch unbeherrscht, erzeugt im Cakewalk ein Gefühl von Triumph: »walking on clouds«. Bethel beschreibt die Produktivität des Tanzes aus der Perspektive eines Tänzers, der in einer unbequemen Ausgangssituation die richtige Haltung sucht und eine Balance findet, in der neue Gefühle entstehen können. Bethel nennt es »a quality of my own.« 65 66
Vgl. Kap. III.4. Disziplinierung. Mura Dehn Papers, Box 3 Folder 64. Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library. Performing Arts Research Collections, New York City.
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Das folgende Kapitel geht von Quellen afroamerikanischer Selbstreflexion über das Tanzen aus und analysiert ihre philosophische und politische Dimension. Nach Alexander Kluge ist das Politische potentiell überall und überall gleichermaßen eingeschränkt wirksam. Politik finde bei der Arbeit und am Arbeitsplatz ebenso statt wie in der Familie und in den Beziehungen. Sie mache sich gerade dort bemerkbar, wo sie – als unbezahlte Arbeit – häufig übersehen wird. Um Beziehungen überhaupt aufrechtzuerhalten, bedürfe es überall der Balancearbeit, die äußerlich häufig passiv wirke, tatsächlich aber auf eine höchst aktive Innenausstattung an Gefühlen verweise.67 Kluge definiert das Politische deshalb als Intensität: Politik werde fälschlicherweise als »Sachgebiet« behandelt, »[w]ährend [das Politische] doch ein besonderer Intensitätsgrad von allem und jedem ist, jedem alltäglichen Gefühl, jeder Praxis.«68 War der Cakewalk eine Form von Balancearbeit? Der Tanz stellte den Aufwand aus, dessen es bedurfte, um das System der Sklaverei zu überleben, ohne darüber wahnsinnig zu werden. Der dabei produzierte affektive Mehrwert war jedoch problemlos ins System integrierbar. Erst mit signifikanter Verzögerung wurde sein politischer Gehalt wirksam.69 Seine Bewegungen konnten das Verhältnis, gegen das sie antraten, weder verhindern noch abschaffen. Eine Generation nach der Abschaffung der Sklaverei entwickelte sich der Cakewalk zu einem Modetanz und intervenierte in Konflikte um Bürgerschaft und Nation.70 Weiße tanzten ihn im segregierten Süden auch damals nicht oder erlaubten ihn allenfalls als Spiel für Kinder.71 Der Cakewalk war nie die Antwort auf die Frage nach Widerstand, sondern eine Technik, um neue Fragen aufzuwerfen. Eine war die Frage nach dem Zusammenhang von Emanzipation und Selbstführung, der Notwendigkeit, im Widerstand eine bestimmte Disziplin abzulehnen und eine andere Disziplin zu entwickeln. Welche Geschichte in der Frage nach der Herkunft von Tanzmoden erzählt wird, hängt zentral von der Konzeption des Politischen ab. Wenn Tanzen nicht nur funktional als Ausdruck von oder Ausgleich zu bestehenden Verhältnissen interpretiert wird, sondern als produktive Praxis, fordert das auch die Kategorie des Widerstands heraus. An der Grenze von Sozial- und Kulturgeschichte finden sich im Begriff des Alltags und des Eigensinns relevante Bezugspunkte in der Historiografie, 67 68 69 70 71
Alexander Kluge: Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle, in: Freibeuter 1979 (1): S. 56-62, hier: S. 60. Kluge, Das Politische, S. 61. Kluge, Das Politische, S. 61 Vgl. Kap. II.1. »In spite of the international success, Cakewalk never was accepted by the white society in the South. Only white children were allowed to dance it at their parties.« Mura Dehn Papers Box 3 Folder 64. New York Public Library. Performing Arts Research Collections. Eine solche Anleitung für ein Kinderfest findet sich noch 1923 in Harriette Wilbur: Darky Dandies. A Black-face Drill, Dayton OH 1923.
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um die Dynamik von Tanzmoden um 1900 auf eine nicht-funktionalistische und nicht-lineare Art und Weise zu rekonstruieren. Politische Theorien lassen sich auf das Tanzen anwenden, ermöglichen aber auch, die ihnen zugrunde liegenden Kategorien und Unterscheidungen zu überdenken. Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle steht nach Kluge vor der Herausforderung, das Bedürfnis nach Unmittelbarkeit und die Abhängigkeit vom Nahsinn mit der Notwendigkeit von Abstraktion und Überblicksdenken in Beziehung zu setzen. Glücklich mache das, was unmittelbar sei: Kindheitswünsche, Umarmungen. Um die Struktur eines gewaltsamen Zusammenhangs zu begreifen und in diesen einzugreifen, brauche es aber »Kopfarbeit« und die Fähigkeit zur Abstraktion. Man könne die Geschichte nicht »sägen oder in ihr Bohrlöcher anlegen«, man könne sie nur anders erzählen und das sei immer abstrakt.72 Doch ist nicht auch der (tanzende) Körper zur Abstraktion fähig? Stellt Tanzen nicht eine andere Form des Geschichte-Erzählens dar? Und wie steht diese Form zur unsichtbaren Balancearbeit, die Beziehungen in der Nähe zusammenhält? Kluge glaubt, dass die Balancearbeit Menschen regierbar macht. Aber gilt das auch, wenn sie sich in eine Performance verwandelt und sich mit Ambivalenzen auflädt, die Balancearbeit also nicht länger verinnerlicht wird, sondern sich nach außen richtet? Tanzend kann sie sich dem traurigen Automatismus entziehen, die Verhältnisse lediglich zu reproduzieren. James Berry, ein afroamerikanischer Tänzer, der ebenfalls mit Mura Dehn an The Spirit Moves gearbeitet hat, beschreibt in diesem Sinn afroamerikanische Humorstrategien, die in den »comic movements« des Cakewalks am Werk waren. Eine Trennung von »Kopfarbeit« und Körperbewegung, wie sie bei Kluge als selbstverständlich angenommen wird, gibt es hier nicht. Humor dient der Wissensvermittlung und ist immer schon körperliche Bewegung. »Mostly the comedians use facial expressions and gestures. They make sure to put their point over and they let it sink until you absorb.« Berry grenzt diese Technik afroamerikanischen Humors aber von dem stets aktiven, herumlaufenden und stolpernden europäischen Clown ab. »Their speech is slow, they don't jump around. They act lazy-like.« Sie seien stets Charaktere, deren Komik sich aus einer Situation ergebe, in der sie sich ihrem Charakter entsprechend, den gesellschaftlichen Erwartungen jedoch entgegengesetzt verhalten: »They like to philosophize, they want to show their wit. They don't mind their brains working, but not their bodies. They make motions, but they don't move.« Kopf und Körper, Denken und Handeln sind hier keine Gegensätze, sondern werden – über Humorstrategien vermittelt – in Posen und Haltungen übersetzt, die gegen ein Regime der Aufteilung polemisieren, das den einen das Denken, den anderen
72
Vgl. Kluge, Das Politische, S. 58-59.
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die körperliche Arbeit zusprechen wollte. Die Lösung: Man macht Bewegungen, ohne sich zu fortzubewegen.73 Kulturelle Praktiken der schwarzen Diaspora, die aus eurozentristischer Perspektive als irrational, vormodern oder politisch irrelevant interpretiert wurden, ermöglichten Philosophien und Haltungen, die jenseits der Dialektik von Anerkennung und Überwindung funktionierten. Davon lässt sich aber nicht in herkömmlichen Begriffen und historiografischen Formen erzählen. Die Sprache des tanzenden Körpers ist nicht einfach in Worte zu fassen, sondern führt eine Form des Widerstands auf, die sich einem zielgerichteten Verständnis von Handlungsmacht entzieht. Davon ausgehend muss auch die Kategorie des Kampfes überdacht oder reformuliert werden.74 In diesem Sinn analysiert der afroamerikanische Historiker Robin D. G. Kelley in Race Rebels Orte der Auseinandersetzung um Segregation und Rassismus, die außerhalb des Arbeitsplatzes lagen. Im Kampf gegen die Gesetze der Segregation verwandelten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Süden der Vereinigten Staaten Busse in »moving theatres« und der öffentliche Nahverkehr in »small war zones«, wodurch das System der Segregation kostspielig und unregierbar wurde.75 Es sei nicht darum gegangen, dass Afroamerikaner_innen neben Weißen sitzen wollten, sondern darum, mehr Raum in Anspruch zu nehmen und Respekt und Würde einzufordern. Dies stand zwar auch oder zuallererst am Arbeitsplatz auf dem Spiel, doch Kelley argumentiert, dass die Räume außerhalb der Arbeit weniger leicht zu überwachen waren. Auf der Straße sei der Bürgerrechtsbewegung die Macht der Anonymität zu Gute gekommen, »the sheer number of the crowd«. Zwar gingen die Aktivist_innen das Risiko ein, verhaftet oder verprügelt zu werden, die Auseinandersetzungen fanden unter repressiven und gewaltsamen Bedingungen statt, aber doch unter anderen als am Arbeitsplatz.76 Kulturelle Praktiken nahmen dabei neue Bedeutung an: »In a world where clothes constituted signifiers of identity and status, ›dressing up‹ was a way of escaping the degradation of work and collapsing status distinctions between themselves and their oppressors.«77 Tanzhallen entwickelten sich zu Orten, an denen die Menschen – auch gegen den Widerstand der Kirchen und gegen bürgerliche Ressentiments – mit ihren Körpern das gemacht hätten, worauf sie Lust hatten. Tanzen an und für sich, so Kelley, sei nicht widerständig. Es könne aber als soziale Handlung im Verhältnis zur herrschenden Arbeitsethik widerständig werden.78 73
74 75 76 77 78
Mura Dehn, Interview mit James Berry, Box 1 Folder 19, Mura Dehn Papers on AfroAmerican Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library. Performing Arts Research Collections, New York City. Delgado/Muñoz: Rebellions, S. 18. Kelley, Race Rebels, S. 62 ff. Kelley, Race Rebels, S. 75. Kelley, Race Rebels, S. 169. Kelley, Race Rebels, S. 171.
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Kelleys Perspektive in Race Rebels ähnelt in dieser Hinsicht Alf Lüdtkes Konzeption »eigensinniger« Praktiken in der Alltagsgeschichte, die er für das Zeitalter der Industrialisierung in Deutschland untersucht.79 Akkordarbeit und Arbeitsteams erzwangen Kooperation, so dass Fabrikarbeiter_innen ein gemeinsames Arbeitstempo aushandeln mussten, weil sonst bei Übererfüllung die Quote für alle erhöht wurde. Eigensinnig waren Handlungen, die sich von dieser erzwungenen Arbeitergemeinschaft abwandten und Handlungsräume erzeugten, die sich der dort herrschenden Rationalität entzogen. Lüdtke beschreibt teils absurde, teils gewalttätige Spiele und Rituale am Arbeitsplatz, die jenseits der Arbeitsleistung Situationen gegenseitiger Anerkennung und Wahrnehmung schufen. Das allein sei zwar kein Widerstand, erzeuge aber Distanz und öffne ein Feld von Möglichkeiten, das zwischen individueller und kollektiver Aktion oszilliere. Häufig gehe es darum, Respekt einzufordern und deutlich zu machen, dass es nicht nur eine einzige Zeit gibt, ein Tempo oder ein Ziel, sondern verschiedene. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass um 1900 auch der organisierte Widerstand gegen das Fabrikregime die Zeit synchronisiert habe, wenn im Sinne einer Dreiteilung des Tages der Achtstundentag gefordert oder der »Massentritt« bei Demonstrationen eingeübt wurde, zeichneten sich in eigensinnigen Handlungen Formen von Handlungsmacht ab, die sich totalisierenden Konzeptionen von Veränderung widersetzten. Sie konstituierten minoritäre Politiken, die für eine Geschichtsschreibung von Bedeutung sein sollten, die nicht eine Geschichte der Sieger schreiben wollte. Eigensinnige Handlungen rückten stets Intensität und Dauer der Arbeit in den Vordergrund, den ganz konkreten Modus der Unterwerfung und Ausbeutung im Verhältnis zum Körper.80 Im Anschluss an Foucault betont Lüdtke die Möglichkeit, dass in der Wahrnehmung des Körpers und im Respekt vor dem Körper Möglichkeiten der Selbstaffirmation gegeben seien.81 Die so genannte große und kleine Politik operierten dabei auf demselben Kräftefeld, das Handlungsmöglichkeiten eröffne und begrenze. Geschichte könne deshalb nur ausgehend von Theorien der Vielheit geschrieben werden, »or more precisely, the polymorphous diversity of synchrony«.82 In eine ähnliche Richtung geht die Arbeit von Jacques Rancière. Sein Buch La Nuit des Prolétaires von 1981 stellt eine historiografische Vorarbeit zu seinen aktuellen Überlegungen über Das Unvernehmen und Die Aufteilung des Sinnlichen 79
80
81 82
Alf Lüdtke: Polymorphous Synchrony: German Industrial Workers and the Politics of Everyday Life, in: International Review of Social History 1993 38 (Supplement): S. 3984. Vgl. Alf Lüdtke: Macht der Emotionen – Gefühle als Produktivkraft. Bemerkungen zu einer schwierigen Geschichte, in: Árpád von Klimo (Hg.): Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt/New York 2006, S. 44-55. Lüdtke, Polymorphous Synchrony, S. 68 Lüdtke, Polymorphous Synchrony, S. 83.
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dar.83 Der Titel des Buches ist keine Metapher: Es geht wirklich um das, was französische Arbeiter des frühen 19. Jahrhunderts nachts gemacht haben, wenn sie eigentlich schlafen sollten, um die Kräfte ihrer »dienstbaren Maschine« zu regenerieren. Stattdessen begannen einige von ihnen, sich zu treffen, zu philosophieren, zu schreiben und Zeitungen herauszugeben. Die Geschichte dieser Nächte, die sie der normalen Abfolge von Arbeits- und Ruhezeit entrissen, erzählt von unwahrnehmbaren Unterbrechungen, die den normalen Gang der Dinge nicht in Frage stellten, aber nach Rancière das »Unmögliche« vorbereiteten: die Aufhebung der alten Hierarchie, die jene, die zur Arbeit mit den Händen bestimmt sind, unter diejenigen unterwirft, die das Privileg zum Denken erhalten haben. Die Fragen, wen diese Leute und ihre obskuren Texte repräsentierten und welchen Ausschlag ihre Tätigkeit angesichts der Handlungen der »Massen« gegeben hätte, weist Rancière zurück, indem er auf den Verlauf der Geschichte selbst und das Scheitern von Projekten der (Selbst-) Repräsentation verweist: »Aber vielleicht haben diese angerufenen Massen ihre Antwort längst gegeben.«84 Warum sonst hätten die Teilnehmer_innen von Streiks und Revolten oft solche als ihre Sprecher gewählt, die nicht ihrem unmittelbaren Arbeitsalltag entstammten. Das Verlangen wohlmeinender Intellektueller, die Arbeiter sollten für sich selbst sprechen, sei beharrlich enttäuscht worden. Vielmehr hätten sie eine bürgerliche Sprechweise imitiert, wenn sie mit dem Bürgertum etwas zu verhandeln hatten. Nicht nur, weil sie dadurch hofften, verstanden zu werden, sondern weil sie gerade das repräsentieren wollten, was sie in ihren »verrückten Nächten« bereits bewiesen hatten: »dass die Proletarier wie Wesen zu behandeln sind, denen mehrere Leben zustehen.«85 Damit die Bewegung der Arbeiter eine Stimme und ein Gesicht bekam, bedurfte es jener, die bereits andere (geworden) waren. Den »Liebhabern der Massen«, den Intellektuellen und Fürsprechern der Sache der Arbeiter, sei dies Verhalten suspekt gewesen. Statt einer kollektiven Stimme begegneten sie einer Geschichte der Verdoppelungen und der Simulakren von Arbeitern, die keine Arbeiter mehr sein wollten. Die Nacht der Proletarier setzt genau da an und hinterfragt diese eifersüchtige Sorge um die Reinheit des Proletarischen.86 Während sich die Proletarier in einer »Spirale der Veränderung« befanden, wollten »die Wahrsager« aus dieser Spirale eine gerade Linie machen, um den »Morgen der neuen Arbeit« auszurufen und ihre Getreuen in der Identität des Soldaten einer mili83 84 85 86
Jacques Rancière: La Nuit des Prolétaires, Paris 1981. Rancière, La Nuit, S. 9: »Mais peut-être les ›masses‹ invoquées ont-elles déjà donné leur réponse.« Rancière, La Nuit, S. 9: »que les prolétaires doivent être traités comme des êtres à qui plusieurs vies seraient dues.« »L'histoire de ces nuits prolétaires voudrait justement susciter une interrogation sur ce souci jaloux de préserver la pureté populaire, plébéienne ou prolétarienne.« Rancière, La Nuit, S. 10.
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tanten Armee und als Prototypen des neuen Arbeiters zu fixieren. Doch die Arbeiter seien nicht so leicht davon zu überzeugen gewesen, für »ihre eigene Sache« zu arbeiten.87 Denn was sollte »ihr eigenes« auch sein? Viele wollten sich nicht auf ewig auf die Position des Arbeiters festschreiben lassen. Wenn sie Poesie verfassten, sei es ihnen nicht darum gegangen, dass nun diese Tätigkeit als Arbeit anerkannt werde, sondern darum, ganz praktisch die Welt der Lohnarbeit zu verlassen. Während die Alltags- und Mikrogeschichte der 1980er Jahre die Welt der Arbeiter immer detaillierter rekonstruierte und überall Widerstand entdeckte, warnt Rancière davor, Handlungen in erster Linie in »ihrem« sozialen Kontext zu verorten. Der Diskurs der Arbeiter »spiegle« nicht ihre Lebenswelt wieder, sondern war Bestandteil von Auseinandersetzungen, die den Rahmen ihrer Lebenswelt und der Begriffe, in denen sie im Diskurs denkbar war, in Frage stellten.88 Genau in diesem Sinn ist eine Geschichte des Cakewalks nicht einfach »ihrem« sozialen Kontext zuzuordnen. Als Polemik um Bewegungsfreiheit und Arbeitszwang muss sie den Mutationen gesellschaftlicher Arbeitsteilung nachgehen und ihr Vermögen analysieren, den Zusammenhang zwischen Kontexten auf eine Weise herzustellen, die nicht funktional in ihren Grenzen und Logiken aufgeht. Statt Lebenswelt zu rekonstruieren, schlägt Rancière vor, Strategien der »EntIdentifizierung« zu untersuchen.89 Rancière betont, dass Momente des Politischwerdens von den Herrschenden häufig als Lärm, Unsinn oder Fehler wahrgenommen werden.90 Sie brechen mit einem ästhetischen Regime, das in der Aufteilung des Sichtbaren und Sagbaren, der Unterteilung von Zeiten und Räumen, der Unterscheidung von Rede und Lärm begründet ist und das den Modalitäten der Stimmverteilung und Subjektvergabe zugrunde liegt. »Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen, und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.«91
Dieser Begriff des Politischen ist aber nicht synonym mit den Machtverhältnissen, die nach Foucault überall sind. Damit etwas politisch wird, braucht es eine Begegnung zwischen einer polizeilichen und einer gleichheitlichen Logik.92 Diesen Pro87 88 89 90 91 92
Rancière, La Nuit, S. 11. Vgl. Donald Reid: The Night of the Proletarians. Deconstruction and Social History, in: Radical History Review 1984 (28-30): S. 445-463. Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt am Main 2002, S. 48. Rancière, Unvernehmen, S. 55ff. Rancière, Aufteilung des Sinnlichen, S. 26-27. Vgl. Rancière, Unvernehmen, S. 39 ff. Diese selbst etwas polemische Unterscheidung Rancières betont, das dem, was üblicherweise als Politik verstanden wird – die Form der
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zess des Politischwerdens umschreibt Rancière mit dem Bild der Bühne, die durch Handlungen neu entsteht: Menschen nehmen sich das Recht auf eine bestimmte Art zu schreiben, zu sprechen, zu tanzen, die in der herrschenden Aufteilung des Sinnlichen nicht vorgesehen ist. Sie betreten entweder eine Bühne, zu der sie keinen Zugang hatten, oder sie errichten eine neue Bühne. Dies geschieht nicht zuletzt, indem sie Formen oder Sprechweisen imitieren, die in der bestehenden Ordnung der Dinge nicht zu ihrer gesellschaftlichen Position passen. Politische Subjektivierung ist dadurch immer auch eine Form der Ent-Subjektivierung, weil sie einen zugewiesenen Platz herausfordert und eine Subjektivität ins Spiel bringt, zu der sich potentiell alle zählen können. Was Rancière als Unvernehmen analysiert, ist deshalb kein einmaliges Ereignis, kein Moment, in dem ein souveränes Subjekt das Wort ergreift und die Aufteilung des Sinnlichen unterbricht, sondern ein Prozess, der seine Kraft auch daraus erhält, dass die in Momenten des Unvernehmens produzierten Begriffe, Gesten und Haltungen wieder aufgegriffen werden können.
U MKÄMPFTES E RBE Die Dynamik von Tanzmoden führte im ausgehenden 19. Jahrhunderts vor Augen, dass sich die auf den Status ungelernter Arbeiter_innen reduzierte zweite Generation von Afroamerikaner_innen nach der Abschaffung der Sklaverei zunehmend weigerte, ihr Vermögen auf die Erfüllung ihrer Funktion als Feldarbeiter und Dienstleute zu beschränken oder der Ideologie des »Uplift« zu folgen. Katrina Hazzard-Gordon spricht von »growing class delineations« innerhalb der afroamerikanischen Community um 1900. Die urbane Elite im Norden habe sich zwar in Wohlfahrtsorganisationen für die Migrant_innen aus den Südstaaten engagiert, im sozialen Leben jedoch deutlich Grenzen gezogen, oft entlang der Kategorie Hautfarbe. »The public dances of the black elite were modeled on white upper- and middleclass balls, and the prominent dances on these occasions were the waltz and the polka. Occasionally a subdued cakewalk might be performed.«93 Tanzen war zuallererst ein Medium der Kommunikation innerhalb der schwarzen Community in den USA, zwischen sozialen Klassen und zwischen den Generationen. Ging es mir in den vorigen Abschnitten darum, in der Geschichte des Tanzens im Black Atlantic einen Begriff von Handlungsmacht jenseits von Anpassung
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Regierung, ihr alltägliches Handeln – etwas vorausgeht, was sie als selbstverständlich annimmt: Die Logik der Zählung und wer überhaupt eine Stimme hat. »Polizei« weist unter den herrschenden Bedingungen jedem den Anteil zu, der ihm zukommt; »Politik« meint dagegen einen Prozess des Politischwerdens in Form eines Streits, der den Anteil der Anteillosen reklamiert, indem er die Voraussetzungen inszeniert, die der herrschenden Ordnung zugrunde liegen. »Nichts ist also an sich politisch, aber alles kann es werden.« Ebd., S. 44. Hazzard-Gordon: Jookin', S. 75.
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und Widerstand zu entwickeln, steht im Folgenden die Bedeutung von nachträglichen Handlungen im Zentrum, eine Art retrospektiver Selbstreflexion, die auch tanzend stattfand. Erzählungen über die Herkunft des Cakewalks in Sklaverei waren Teil von Erinnerungspolitiken: »When I was a child, my grandparents told me about it, but when I asked them when it started they didn't have the answer,« schreibt Tom Fletcher.94 Er beschreibt den Cakewalk als einen Prozess, der aus einem rigiden Regime der Überwachung und Ausbeutung entstand. »The cake walk, in that section and at that time, was known as the chalk line walk. There was no prancing, just a straight walk on a path made by turns and so forth, along which the dancers made their way with a pail of water on their heads. The couple that was the most erect and spilled the least water or no water at all was the winner.«95
Fletchers Großeltern waren so ein Tanzpaar, das von Plantage zu Plantage fuhr und in diesen Wettbewerben auftrat. Sein Großvater erinnerte den jungen VarietéArtisten daran, dass die Kultur der Gegenwart eine spezifische Herkunft hatte: »The plantation is where shows like yours first started, son.« Tom Fletcher trat um 1900 selbst als Cakewalk-Tänzer auf.96 Seine Großeltern unterscheiden den Cakewalk vom »chalk line walk« als rigidem und disziplinären Arrangement der Sklavenhalter. Sinn des Spiels war, auf einer mit Kreide gezogenen Linie zu balancieren. Erst nachträglich wurden die spielerischen und improvisierten Elemente des »prancing« eingefügt, einer Form des parodierenden Herumstolzierens, die den polemischen Einsatz gegenüber dieser Vorlage markieren. Es ist auffällig, dass die Interpretation des Cakewalks als Parodie besonders in Quellen dokumentiert ist, die im ausgehenden 19. Jahrhundert aus einem Gespräch zwischen den Generationen resultierten. »›Us slaves watched white folks' parties,‹ she added, ›where the guests danced a minuet and then paraded in a grand march, with the ladies and gentlemen going different ways and then meeting again, arm in arm, and marching down the centre together. Then we'd do it, too, but we used to mock 'em, every step. Sometimes the white folks noticed it, but they seemed to like it; I guess they thought we couldn't dance any better.‹«97
Hier wird eine Szene beschrieben, in der Weiße und Schwarze, Sklaven und Sklavenhalter zusammen lachten, aber das Lachen der einen Seite unterschied sich von dem der anderen. Die »white folks« lachten über die Aneignung ihrer Kultur, die sie
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Fletcher, 100 Years, S. 107-108. Fletcher, 100 Years, S. 18. Fletcher, 100 Years, S. 19. Stearns, Jazz Dance, S. 22.
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in ihrer Differenz als unvollständig und gescheitert wahrnehmen konnten. Die Sklav_innen lachten über eine gelungene Persiflage, mit der sie sich mimetisch in eine symbolische Ordnung einschrieben, aus der sie kategorisch ausgeschlossen waren, ohne die Regeln und die Ästhetik einfach zu bestätigen, die ihr zugrundelagen. Das Gespräch dokumentiert die ambivalente Position des Cakewalks in der Zeit der Sklaverei, der zwischen subversiver und herrschaftskonformer Aneignung unfreier Arbeit oszillierte. Es sollte die Generation der modernen Cakewalker daran erinnern, dass diese kulturelle Form weder harmlos noch einfach Ausdruck der Versklavung war. Das Zitat gibt ein Gespräch wieder, das der afroamerikanische Schauspieler Leigh Whipper 1901 mit seiner damals achtzigjährigen Amme geführt hatte. Er begegnete ihr als Überlebender der Zwangsarbeit, indem er bemerkt, sie gehe immer noch »straight as an arrow«, die Feldarbeit habe ihren Rücken nicht brechen können. Sie antwortet: »I was a strutgirl.« Ihre Besitzer hatten sie und ihren Partner auf andere Plantagen gebracht, um dort in Wettbewerben gegen andere Versklavte anzutreten.98 Tom Fletchers Geschichte von Afroamerikaner_innen im Showbusiness, die teils autobiografisch ist, teils auf Gesprächen mit anderen Künstler_innen beruht, datiert den Beginn der Cakewalk-Mode in den USA mit den Hundertjahrfeiern zur amerikanischen Unabhängigkeit 1876 in Philadelphia. Unter anderem sei dort ein Stück gezeigt worden »with a great many ex-slaves, and free-born Colored people singing Spirituals, work songs, and other original songs. The added attraction was the ›cake walk‹.«99 Während weiße Vorherrschaft in den Südstaaten die Paraden zum Emancipation Day immer mehr einschränkte, wuchs auf nationaler Ebene das Interesse an Massenspektakeln, die performativ nachvollziehbar machen sollten, was im Bürgerkrieg passiert war.100 Shows wie »The South before the War« oder »Black America«, aber auch die zahlreichen Aufführungen von »Uncle Tom's Cabin« brachten hunderte von Afroamerikaner_innen auf die Bühnen des Nordens, wo sie singen und tanzen sollten. Tänze waren besonders beliebt, neben dem Cakewalk auch der virtuose Bühnentanz Buck and Wing, ein athletischer Vorläufer des modernen Stepptanzes.101
98 Stearns, Jazz Dance, S. 22. 99 Fletcher, 100 Years, S. 103. 100 Vgl. Barbara L. Webb: Authentic Possibilities. Plantation Performance of the 1890s, in: Theatre Journal 2004 (56): S. 63-82; Thavolia Glymph: Liberty Dearly Bought. The Making of Civil War Memory in Afro-American Communities in the South, in: Charles M. Payne/Adam Green: Time Longer Than Rope. A Century of African American Activism, 1850-1950, New York 2003, S. 63-92. 101 Vgl. Webb, Authentic Possibilities, S. 66; zum Buck and Wing um 1900 vgl. Constance Vallis Hill: Tap Dancing America, A Cultural History, Oxford/New York 2010, S. 2044.
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Der Erfolg des Cakewalks war in der schwarzen Community umstritten. Als 1892 ein »Grand Cake Walk« im Madison Square Garden in New York City, dem größten kommerziellen Unterhaltungskomplex der Stadt aufgeführt wurde, reagierten lokale afroamerikanische Communities gespalten, ob man an solchen Spektakeln überhaupt teilnehmen sollte.102 Kommentatoren debattierten, ob der Erfolg des Tanzes in der amerikanischen Gesellschaft wünschenswert sei. »No white-man ever looked at the cakewalk unless he thought of its origin. Our unfortunate ancestors amused their masters in the hated ante-bellum days with the cakewalk. [...] What we want to do is to put down everything that was ever connected to slavery. We want to forget those days.«103
Der afroamerikanische Journalist J. C. Reid machte diese Bemerkung 1898 in einer Kritik des Great Cuba Pageant, einer monumentalen Geschichtsperformance, die eine Verbindung zwischen dem Kampf von Afroamerikanern für Emanzipation, dem anti-kolonialen Kampf in Kuba und den verschiedenen Kämpfen um nationale Befreiung in Europa zog, die jeweils über typische Lieder und Tänze repräsentiert wurden.104 Nicht nur die ambivalente Performance des Amüsements missfiel ihm, sondern überhaupt die Erinnerung an die Zeit der Sklaverei.105 Diese defensive Haltung ist verständlich, denn die Erzählungen über die Herkunft des Tanzes aus der Sklaverei und sein strategischer Einsatz als doppelbödige Parodie hatten nicht die Definitionsmacht über den Cakewalk. Zur Zeit seiner Transformation in einen Modetanz zirkulierten auch rassistische Karikaturen, die ihn zur angeblich so fröhlichen Natur der »American Negroes« erklärte. Auf den Sammelkarten einer Kaffeefirma aus den USA war ein cakewalkendes Tanzpaar zu sehen, mit der Beschriftung »the American Negro is a child of nature, and one of the most entertaining, interesting and happy of beings«.106 Gerade in Karikaturen
102 Vgl. Lynn Abbott/Doug Seroff: Out of Sight. The Rise of African American Popular Music 1889-1895, Jackson MS 2002, S. 205-211. 103 Zitiert nach James V. Hatch/Errol G. Hill: A History of African American Theatre, Cambridge MA 2004, S. 200-201. 104 Vgl. Hatch/Hill, A History, S. 199 ff.; Lisa Brock/Digna Castaneda Fuertes (Hg.): Between Race and Empire. African-Americans and Cubans before the Cuban Revolution, Philadelphia PA 1998. 105 Vgl. auch die Debatte über den Cakewalk 1899 im Indianapolis Freeman mit ähnlichen Argumenten und Vorbehalten, analysiert in Camille Forbes: Introducing Bert Williams. Burnt Cork, Broadway, and the Story of America's First Black Star, New York 2008, S. 67-68; Krasner, Resistance, S. 82 f.; Webb: Authentic Possibilities, S. 70-74. 106 Brooke Baldwin: The Cakewalk. A Study in Stereotype and Reality, in: Journal of Social History 1981 15 (2): S. 205-218.
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lässt sich der Versuch beobachten, den Cakewalk in ein rassistisches Stereotyp zu verwandeln. Intellektuelle wie Reid lehnten den Cakewalk wegen der Möglichkeit einer rassistischen Rezeption ab. Schwarze Künstler_innen, die mit dem Alltag der Segregation im Kulturbetrieb konfrontiert waren, entschieden sich aber für eine andere Strategie. Sie nahmen an den ambivalenten Spektakeln teil und forderten weiße Minstrels in Blackface zu einem Wettbewerb auf. Einst diente der Wettbewerb im Cakewalk unter den besten Tänzer_innen den Sklavenhaltern, die daraus ein Geschäft machten. Doch nach der Abschaffung der Sklaverei war Wettbewerb etwas, das aus der Perspektive weißer Vorherrschaft verhindert werden sollte. Gewaltsam setzte sich ein System der Segregation durch, das den Arbeitsmarkt im Sinne einer rassistischen Arbeitsteilung organisierte, obwohl in der Verfassung gleiche Rechte garantiert waren. Schlechtbezahlte, körperlich anstrengende, sozial wenig angesehene und schmutzige Arbeit sollte dauerhaft schwarzen Arbeiter_innen vorbehalten sein. Die amerikanische Arbeiterbewegung, die im 19. Jahrhundert teils populistische, teils radikale Positionen erprobt hatte, spaltete sich entlang einer rassistisch aufgeladenen Color Line, die soziale Konflikte rassifizierte und sexualisierte.107 Segregation sollte nicht zuletzt Konkurrenz zwischen weißen und schwarzen Arbeiter_innen verhindern, eine Situation, die um 1900 zunehmend auch das Unterhaltungsgewerbe prägte.108 Die Polemik des Cakewalk als Gesellschaftstanz, bei dem die besten Tanzpaare um einen Preis kämpfen, erwuchs auch aus diesen Konflikten. Die schwarze Mittelschicht setzte auf Integration in die bürgerliche Gesellschaft und lehnte den Cakewalk aus moralischen Gründen ab. Schwarze Künstler_innen agierten eher strategisch.109 Die Moral der Mittelschicht war für sie ohnehin problematisch, weil sie Arbeit im Unterhaltungsgewerbe wenig wertschätzte. Die Polemik des Cakewalks war deshalb auch eine Möglichkeit, aus der Moralisierung von Politik auszusteigen. Besonders deutlich wird dies in den schwarzen Musicals der Jahrhundertwende, die als Wegbereiter des Jazz gelten.110 Sie wurden von einer Generation afroamerikanischer Musiker mit klassischer Ausbildung komponiert und von Dichtern geschrieben, die später in der Harlem Renaissance als Schriftsteller
107 Vgl. Roediger, Wages of Whiteness; Glenda Elizabeth Gilmore: Gender and Jim Crow. Women and the Politics of White Supremacy in North Carolina, 1896-1920, Chapel Hill NC/London 1996. 108 Zur 1900 gegründeten Artistengewerkschaft White Rats in den USA, die Frauen und Afroamerikaner ausschlossen vgl. M. Alison Kibler: Rank Ladies. Gender and Cultural Hierarchy in American Vaudeville, Chapel Hill NC/London 1999, S. 171-198. 109 Vgl. Kap. II.1. 110 Thomas L. Riis: Just Before Jazz. Black Musical Theater in New York, 1890-1915, Washington DC/London 1989.
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bekannt wurden.111 Sie verbanden die proletarischen Gesten und den Humor der Minstrel Show mit den musikalischen und dichterischen Kenntnissen einer schwarzen Mittelklasse, die in einer segregierten Gesellschaft keine ihrer Ausbildung adäquate Positionen vorfand. Erstmals gelang es schwarzen Kulturproduzent_innen damit, ein weißes und schwarzes Publikum gleichermaßen anzusprechen. Der Komponist Will Marion Cook erzählt von den Bedenken seiner Mutter, als er nach einigen Enttäuschungen am National Conservatory of Music in New York in das Genre populärer Coon Songs wechselte. »My mother was a graduate of Oberlin in the class of 1865 and thought that a Negro composer should write just like a white man.«112 Cook und Dunbar erprobten nun, wie es wohl wäre, anders zu schreiben und zu komponieren und dabei auch den Rassismus zu thematisieren, der ihnen das Leben schwer machte – ohne diesen Begriff bereits zur Verfügung zu haben. Sie grenzten das zwanghafte Weißmachen von einem Prozess des Schwarzwerdens ab. In einer Szene versucht der Quacksalber einer medicine show ein Mittel zu verkaufen, das verspricht, weiß zu machen. Er zeigt auf jemanden, bei dem die Behandlung jedoch nur zur Hälfte angeschlagen hat: die eine Hälfte des Gesichts ist weiß geschminkt, die andere schwarz.113 In einem Song heißt es »white fo'ks awatchin' an' seein' what you do, white fo'ks jealous when you'se walkin' two by two, so swing along chillun, swing along ...Wif' pride an gladness beamin from yo eye...«114 Swing along, der Schwung einer gemeinsamen Bewegung wird so zur Antwort auf einen Blick, der alles misstrauisch beäugt und eifersüchtig begutachtet, was vor sich geht.115 Es gibt in dem Stück keine Figuren, die sich als Weiße identifizieren. Es sind aber auch nicht mehr wie in der Minstrel Show alle Figuren in Blackface. Die Schauspieler sehen in erster Linie unterschiedlich aus, was die Dialoge auch verhandeln. Die Konflikte setzen den Kampf um ein besseres Leben ins Verhältnis zu der Gefahr, dabei selbst Ausbeuter oder Kolonisatoren zu werden. Anders als das 111 An In Dahomey waren beispielsweise Will Marion Cook und Paul Laurence Dunbar beteiligt. Cook hatte in Washington, Berlin und New York klassische Musik und Komposition studiert. Dunbar wurde in der Harlem Renaissance der 1920er und 1930er Jahre als Dichter berühmt. 112 Will Marion Cook: Clorindy. The Origin of the Cakewalk, in: Theatre Arts 1947 (September): S. 61-65, hier: S. 61-62. 113 Vgl. eine Fotografie dieser Szene im Folder In Dahomey, Schomburg Center for Black Culture, Rare Books and Manuscripts: »Act I. Medicine man showing his preparation to turn colored folks white«. 114 Zitiert nach Krasner, Resistance, S. 69. 115 Zu den ambivalenten Effekten eines segregierten Markts des Konsums und der Proliferation von möglichen Schauplätzen des Konflikts, die eine beständige Überwachung weißer Vorherrschaft im Alltag erforderten vgl. Grace Elizabeth Hale: Making Whiteness. The Culture of Segregation in the South, 1890-1940, New York 1998, S. 120-197.
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Zitat von Reid schlägt der Song Swing Along vor, sich nicht mit den Augen der weißen Norm zu sehen, sondern sich in einem gemeinsamen Schwung auf und davon zu machen. Das Territorium, in dem sich diese Fluchtbewegung situierte, ist aber nicht die amerikanische Nation, sondern ihre Verflechtung mit einem größeren imperialen Zusammenhang. Doch die Kritik bezieht sich auch auf die Debatte um Remigration nach Afrika und die Kolonisierung Liberias. Während sich Intelektuelle wie J. C. Reid Heldengeschichten nationaler Befreiung wünschten, die auch von der Erinnerung an die Sklaverei gesäubert sein sollten, analysierte In Dahomey den paradoxen Zusammenhang von nationaler Befreiung und kolonialer Unterdrückung.116 Der afroamerikanische Philosoph W.E.B. Du Bois beschrieb die koloniale Lage der Jahrhundertwende kurz nach dem Ersten Weltkrieg als »anarchy of empire«. In The Making of American Culture nutzt Amy Kaplan den Begriff, um den Blick auf die amerikanische Kulturgeschichte zu verschieben und die unvorhergesehenen und widersprüchlichen Effekte von Expansion und Nationalstaatsbildung zu untersuchen.117 Kaplan konzentriert sich dabei auf klassische Texte der Literaturgeschichte. Musicals wie In Dahomey belegen eine populärkulturelle Dimension dieser zeitgenössischen Selbstreflexion, die Du Bois Analyse noch vorausgingen. Um 1900 Cakewalk zu tanzen, war deshalb nicht einfach die Wiederholung einer alten Kultur der Scheinheiligkeit, wie Roger L. Taylor es in seiner Kritik formulierte, sondern es warf die Frage nach dem Gemeinsamen erneut unter anderen Bedingungen auf. Suggerierten solche Aufführungen früher eine Gemeinschaft von Sklavenhaltern mit »ihren« Sklaven, fanden Cakewalks nach der Abschaffung der Sklaverei unter den Bedingungen eines veränderten Rassismus statt, weil es nun gesellschaftlich verschiedene Optionen gab: gleiche Rechte für alle; zurück nach Afrika; Segregation und Vernachlässigung. Anhänger dieser letzten Option waren häufig Wissenschaftler, die ihre Thesen empirisch zu belegen suchten, indem sie die Zahl schwarzer Bürger in den Südstaaten systematisch nach unten korrigierten, um damit beweisen zu können, dass die ehemaligen Sklav_innen in Freiheit von selbst aussterben würden.118 Sichtbar in Erscheinung zu treten, einen Tanz ins Spiel zu
116 Helen Armstead-Johnson: Themes and Values in Afro-American Librettos and Book musicals, 1898-1930, in: Glenn Looney (Hg): Musical Theatre in America. Papers and Proceedings of the Conference on Musical Theatre in America, Westport CT 1984, S. 133-142. 117 Vgl. Amy Kaplan: The Anarchy of Empire in the Making of US Culture, Cambridge MA 2002. 118 Nachdem in den USA im 19. Jahrhundert lange übertriebene Prognosen über das Bevölkerungswachstum unter Afroamerikaner_innen geherrscht hatten, wurden diese in den 1890er Jahren nach unten korrigiert und zugleich rassistisch interpretiert: Würde man nichts weiter unternehmen, würde sich das »Negro Problem« von selbst erledigen. Überproportionale Sterberaten seien nicht sozialen Lebensumständen, sondern den »race
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bringen, der ansteckend, energiegeladen und lebendig erschien, Gemeinschaft beim Tanzen als verhandel- und verwandelbares Regelsystem kenntlich zu machen, die Aufteilung von Räumen und Bühnen anzugreifen, sich in diese Geschichte einzuschreiben, die unter den Bedingungen der Segregation von den Siegern und ihrer »separate-but-equal«-Doktrin geschrieben wurde – all das waren nicht dieselben Vorgänge, wie unter den Bedingungen der Sklaverei doppelbödige Performances zu entwickeln. Nun ermöglichte die Teilnahme an den »transactions of fascination«, eine potentiell anti-rassistische Haltung einzunehmen, auch gegen den Imperativ der Integration, den Teile der afroamerikanischen Mittelschicht artikulierten.119 Die Effekte dieser Haltung waren ambivalent. Manche Akteure bewerteten ihren Erfolg im Nachhinein kritisch.120 Andere kehrten dem Unterhaltungsgeschäft bald wieder den Rücken zu.121 Manche behielten ihre Maske bis zuletzt bei und nahmen sie mit ins Grab.122 Doch wie die folgenden Kapitel zeigen, war sie an verschiedenste Situationen rund um den Atlantik anschlussfähig. Das Kapitel diskutierte den Cakewalk im Verhältnis zur Sklaverei, dem Widerstand dagegen und die Erinnerung an diesen Teil der Geschichte der Moderne. Es erzählte von Momenten der Verwandlung von stummen Lastenträger_innen in provokative Tänzer_innen und diskutierte die Funktion rhythmischer Bewegung und rhythmischen Gesangs bei der Arbeit. Der Versuch einer scharfen Trennung von Tanzen und Arbeiten unter den Bedingungen freier Lohnarbeit, die immer strikter zwischen Arbeitszeit und Freizeit entschied, erwies sich aus dieser Perspektive als Versuch, den beständigen Einbruch von Eigensinn am Arbeitsplatz einzudämmen. Expertendiskurse über Ermüdung sprachen dem Tanzen unter diesen Bedingungen eine Funktion zu, die auf gespenstische Art und Weise Diskurse der Sklaverei mobilisierte und aktualisierte. Doch nun war die Instanz des Aufsehers verinnerlicht und das arbeitsame Subjekt exekutierte ein Programm der Selbstüberwachung. Phantasmen von Kontrollverlust und Hingabe, wie sie im Diskurs um das Tanzfieber
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traits and tendencies« der Gruppe zuzuschreiben. Vgl. Frederick L. Hoffman: Race Traits and Tendencies of the American Negro, in: Publications of the American Economic Association 1896 9 (1-3), hier: S. 95. Zur Politik des »Weißmachens« und dem damit verbundenen Diskurs um ehemalige Sklaven als »aussterbende Rasse« in Argentinien in den 1890er Jahren vgl. Kap. II.2. Vgl. Lhamon, Raising Cain, S. 156. Zu Ernest Hogan und seinem Song All Coons Look Alike to Me, in dessen Rezeption ein rassistisches Lachen überwog vgl. Krasner, Resistance, S. 7-8. Paul Laurence Dunbar beendete nach In Dahomey seine Kooperation mit Will Marion Cook. Vgl. Thomas Riis (Hg.): The Music and Scripts of In Dahomey, Madison WI 1996, S. xxii. Vgl. Louis Chude Sokei: The Last Darky. Bert Williams, Black-on-Black-Minstrelsy, and the African Diaspora, Durham NC 2006.
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zum Ausdruck kamen, zogen ihre Evidenz und Überzeugungskraft auch aus diesem Selbstverhältnis. Dagegen wies der Spannungsbogen des Cakewalks aus dem dialektischen Verhältnis von Herrschaft und Befreiung potentiell hinaus und ermöglichte einigen, das Erbe dieser Geschichte des Überlebens offensiv anzutreten.
Bewegungsfreiheit: Flucht und Migration
Tanzmoden waren auch Effekte von Migrationen: Vom Land in die Stadt, von armen Gebieten in Regionen mit besseren Verdienstmöglichkeiten, von den Plantagen der Sklaverei in die Wälder der Maroons1, aus den gesellschaftlichen Zwängen des Alltags in die entstehende Freizeitkultur des Tourismus. Tänze wie der Cakewalk machten auch deshalb für mehr und mehr Menschen rund um den Atlantik Sinn, weil sie nicht da lebten, wo sie oder ihre Eltern geboren waren. Sie lebten mit Menschen zusammen, die nicht über dasselbe kulturelle Repertoire an Tänzen verfügten. Doch die Tänze des Black Atlantic waren nicht nur eine Antwort auf einen Mangel, oder ein Effekt veränderter Lebensumstände, im Gegenteil: Sie kombinierten das, was schon da war, auf neue Art und Weise und erteilten den Imperativen von Zivilisierung und sukzessiver Integration in eine bürgerliche Gesellschaft eine Absage. Statt Aufschub von Bedürfnissen stand die Lust am Tanzen für die Erfüllung von Bedürfnissen in der Gegenwart.2 Dies erzeugte Bewegungen, die auch an anderen Orten aufgegriffen werden konnten. Der Strudel des Black Atlantic nahm Geschwindigkeit auf. Herkunftslinien dieser Dynamik führen in die Geschichte der Flucht aus der Sklaverei, zu den Kulturen afroamerikanischer Wanderarbeiter_innen im Süden und
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Maroons waren entflohene Sklaven, die sich in Wälder, Sümpfe oder unwegsame Berge zurückzogen und dort zusammen mit anderen Flüchtigen oder auch mit Native Americans Dorfgemeinschaften mit Subsistenzwirtschaft gründeten. Solche Gemeinschaften des Widerstands hatten sich auf den karibischen Inseln seit dem 16. Jahrhundert gegründet. Vgl. Michael Zeuske: Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavereikultur und Emanzipation, Zürich 2004, S. 80 ff. Zeuske betont die transnationalen und transkulturellen Verbindungen dieser Gemeinschaften geflohener Sklaven zu benachbarten Regionen, zu Piraten und den jeweiligen europäischen Gegnern der Kolonisatoren vor Ort. Alarmiert meldeten investigative Journalist_innen und Stadtforscher_innen um 1900 in New York, migrantische Dienstmädchen und Arbeiter_innen würden ihr hart verdientes Geld lieber in Vergnügen verwandeln und mehrmals wöchentlich die Tanzhallen aufsuchen, anstatt es sparsam und gewinnbringend anzulegen. Vgl. die folgenden Abschnitte über White Slavery und Kap. II.1.
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Westen der USA und schließlich zur der Great Migration in den urbanen Norden und Westen der USA. Afroamerikaner_innen trafen dort auf andere Migrant_innen aus Europa, Asien, Mexiko oder der Karibik. Alle zusammen sahen sich im 20. Jahrhundert mit Bevölkerungspolitiken konfrontiert, die Migrationsdynamiken steuern und regulieren wollten, als handle es sich dabei um technische, nicht soziale und gesellschaftliche Prozesse.3 Viele der Quellen, die dieses Aufeinandertreffen dokumentieren, problematisierten den Alltag, der dabei entstand. Deshalb geht es im Folgenden neben Migrationsrouten auch um Kontrollpolitiken, neben Migration als Suche nach einem besseren Leben auch um das Gespenst der »weißen Sklavin«, die um 1900 besonders in den Tanzhallen herumspukte. Mobilitäten und Migrationen führten dazu, dass sich verschiedene Fluchtlinien überkreuzten und verdichteten. Zwar hatte die Reiselust der oberen Zehntausend nichts mit den Motiven und Bedingungen sub/proletarischer Migration gemeinsam, doch man musste nicht dieselben Motive haben, um sich für denselben Tanz zu begeistern. Ausschlaggebend war ein abstraktes Begehren nach Veränderung.4 Koloniale und nationale Projekte prägten lange Zeit die Historiografie moderner Migrationen. Gründungsmythen handelten von schicksalhafter Bestimmung im Fall kolonialer Siedlergesellschaften oder harmonischer Verschmelzung im Fall proletarischer Einwanderung.5 Mythen ersetzten die ambivalenten Ereignisse der Migration, die als soziale Prozesse den Rahmen, innerhalb dessen sie stattfanden, stets überschritten, herausforderten und veränderten. Subjektive Faktoren stehen im Zentrum dieser Geschichte, die sich aber nicht als Geschichte migrantischer Subjekte erzählen lässt. Die häufig missverstandene Formulierung von der »relativen Autonomie der Migration« bezieht sich nicht auf die Autonomie von Subjekten, sondern
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Vgl. allgemein zur transatlantischen Migration im 19. Jahrhundert Walter Nugent: Crossings. The Great Transatlantic Migrations, 1870-1914, Bloomington IN 1992; zur gleichzeitig sich ausweitenden Binnenmigration in den USA vgl. Farah Jasmine Griffin: »Who Set You Flowin'?«. The African American Migration Narrative, New York/Oxford 1995; James Jaspers: Restless Nation. Starting Over in America, Chicago/London 2000; zur Restriktion der Einwanderung von Chinesen vgl. Sucheng Chan: Chinese American Transnationalism. The Flow of People, Resources, and Ideas between China and America during the Exclusion Era, Philadelphia PA 2006. »Aus der Sicht der Mikropolitik wird eine Gesellschaft durch ihre Fluchtlinien definiert [...]. Immer fließt oder flüchtet etwas, das den binären Organisationen entflieht, dem Resonanzapparat, der Übercordierungsmaschine entgeht – was man mit einem »Sittenwandel« erklärt, Jugendliche, Frauen, Verrückte etc.« Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 2002, S. 294-295. Zum Übergang der USA von einer Gesellschaft, die auf dem Bruch mit Traditionen aufbaute hin zur Erfindung ihrer eigenen mythischen Traditionen vgl. Michael Kammen: Mystic Chords of Memory. The Transformation of Tradition in American Culture, New York 1991. Vgl. Auch Kap. II.2.
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auf Kräfteverhältnisse und Fluchtlinien, auf Routen und Grenzräume, auf Träume und Wünsche.6 In welchem Verhältnis standen Sklaverei und Migration zueinander? Üblicherweise wird eine lineare Entwicklungsgeschichte erzählt, von der Abschaffung der Sklaverei zur mehr oder weniger freien Lohnarbeit. Yann Moulier Boutang erzählt in De l'esclavage au salariat eine Gegengeschichte dazu.7 Sklaverei ist hier nicht mehr eine vormoderne Anomalie, sondern Teil der Konflikte um Vertragsbindung, die über das Recht auf Flucht ausgeführt wurden. Freie Lohnarbeit entstand als Kompromiss aus der Flucht vor unfreien Vertragsbindungen. Sie institutionalisierte das Recht auf Flucht. Nach der Abschaffung der Sklaverei entstanden aber neue Formen unfreier Arbeit: im amerikanischen Süden eine Form von Schuldknechtschaft, im amerikanischen Westen und in vielen europäischen Kolonien ein System der Coolie- und Kontraktarbeit insbesondere chinesischer und indischer Arbeiter_innen, in Argentinien Formen der Vernachlässigung und des Weißmachens der Nation, in den europäischen Kolonien vielfältige Formen von Zwangsarbeit. Aus der Perspektive der Subalternen gab es historisch keinen linearen Fortschritt von unfreier zu freier Arbeit, sondern nur veränderte Bedingungen des Widerstands. Boutang plädiert deshalb dafür, diese Geschichte von unten zu erzählen, als »Arbeit in Bewegung«.8 Im Folgenden geht es um die Frage, inwiefern die Spuren, die das Tanzen im Black Atlantic hinterlassen hat, historische Quellen einer solchen Geschichte darstellen.
F LUCHT
AUS DER
S KLAVEREI
Menschen als Handelsware zu behandeln war ein Konstrukt, das nur gewaltsam durchzusetzen und von Widerständen begleitet war. In abgelegenen Wäldern und Sümpfen gründeten entlaufene Sklaven autonome Siedlungen, die sie zum Teil über Jahrzehnte hinweg militärisch zu verteidigen wussten. Andere arrangierten sich mit dem System und erkauften ihre Freiheit, indem sie sich verpflichteten, weitere ent-
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Vgl. Manuela Bojadžijev/Serhat Karakayali: Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode, in: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007, S. 203-209; Yann Moulier-Boutang: Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik, in: Marianne Pieper u.a. (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt am Main 2007, S. 169-178. Vgl. auch Manuela Bojadžijev: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008. Yann Moulier-Boutang: De l'esclavage au salariat. Economie historique du salariat bridé, Paris 1998. Boutang, Esclavage, S. 15.
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flohene Sklaven einzufangen.9 In den USA entstand die underground railroad, ein geheimes Netzwerk von Informant_innen, Reisebegleiter_innen und Herbergen, das vielen die Flucht aus der Sklaverei im Süden in den Norden und später bis nach Kanada ermöglichte.10 Im tiefen Süden flohen viele auch über die Grenze in die spanische Kolonie Florida. Dort verorten manche Erzählungen den »Ursprung« des Cakewalks: Sie zirkulierten um 1900 in den USA und in Europa und behaupteten, der Cakewalk stamme »eigentlich« von den »Indianern« in Florida.11 Auch in der deutschsprachigen Rezeption des Cakewalks findet sich dieser Mythos: »Noch immer zerbrechen sich die Kulturhistoriker den Kopf über die Entstehung des Cake Walk«, berichtete die Zeitschrift Das Variété 1903. Sie zitiert einen Artikel aus der Londoner Wochenschrift »Sketch« mit folgender Entstehungsgeschichte: »Der Cake Walk ist bereits über 40 Jahre alt und er stammt nicht von den Negern, sondern von einem nordamerikanischen Indianerstamm, den Seminolen.« Während ein Großteil von diesen 1839 in das »Indianergebiet abgeschafft« worden sei, »erhielten« sich einige inmitten der großen Negerbevölkerung auf den Plantagen Floridas. »Neger« und »Indianer« benützten gern jeden freien Augenblick zum Tanze; ohne eigene Tanztradition (!) hätten die Sklaven von den Indianern ihren uralten Kriegstanz gelernt, »und daraus ward der Cake Walk.« Die weißen Pflanzer hätten dabei gerne zugesehen, langsam habe sich der Tanz modernisiert und trete nun seinen »Eroberungszug« an: »Über Georgia, die beiden Carolina und Virginia drang er nach Newyork und Boston vor, zog über den Ozean nach England und hat jetzt Paris im Sturm eingenommen. Freilich, der Hauptsitz seines Kultus ist und bleibt vorläufig Newyork. Dort haben sie eigene Klubs für die Pflege des Tanzes gebildet. Haufen von Banknoten für die Männer, schwere Perlencolliers für die Frauen sind an die Stelle der Bonbonschachteln und der Kuchen getreten, um die einst die Negertänzer von Florida gekämpft.«12
Wie die meisten Mythen ist diese Ursprungserzählung falsch und verhandelt zugleich einen wahren Kern. Sie blendet die komplexe Geschichte der Entstehung des Tanzes als Polemik im Verhältnis zur Kultur der Sklaverei aus und projiziert sie auf 9 10 11
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Vgl. Mavis Christine Campbell: The Maroons of Jamaica, 1655-1796. A History of Resistance, Collaboration & Betrayal, Trentin NJ 1990. Mary Ellen Snodgrass: The Underground Railroad. An Encyclopedia of People, Places, and Operations, Bd. 1, Armonk NY 2008. Vgl. Leslie F. Clendenen: Cake Walks. Plainly described. St. Louis o. J.: S. 1: »Over 50 years ago the Negroes of Florida became interested in the war dances of the Seminole Indians (now one of our nearly extinct Indian tribes). They borrowed and enlarged upon the solemn style of the Indians' walking movements...« Siehe auch Ethel L. Urlin: Dancing Ancient and Modern, New York 1912. Die Entstehung des Cake Walk, in: Das Variete 1903 1 (19).
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einen vermeintlichen Ursprung bei »den Seminolen«, ohne zu fragen, wer die Seminolen eigentlich waren oder welche Kräfte den »Sturm« des Cakewalks ausgelöst hatten. Bevor die spanische Kolonie Florida überhaupt Teil der USA wurde, waren seit dem 18. Jahrhundert von den Plantagen Georgias mehr und mehr Sklaven dorthin geflohen und hatten sich mit den Seminolen verbündet, die sich schon früher vor den expandierenden amerikanischen Siedlern dorthin zurückgezogen hatten. Viele Seminolen haben deshalb afroamerikanische Vorfahren.13 Ist es denkbar, dass entflohene Sklaven in ihren selbstorganisierten Siedlungen, weitab von dem Zusammenhang, aus dem sie geflohen waren, ausgerechnet ihre Version europäischer Gesellschaftstänze weiter praktizierten? Die afroamerikanische Tanzwissenschaftlerin und Choreografin Katherine Dunham reiste 1935 nach Jamaica, um weit weg von der Hauptstadt Kingston in Accompong, einer im 18. Jahrhundert gegründeten und später von den Briten anerkannten Gemeinschaft entflohener Sklaven, den traditionellen Kriegstanz der Koromantee zu studieren. Die Koromantee waren eine westafrikanische Geheimgesellschaft, die an vielen der legendären Sklavenaufstände Jamaicas beteiligt war.14 Dunham hatte britische Berichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert gelesen und wollte den Tanz nun mit eigenen Augen sehen. Schon wenige Tage nach ihrer Ankunft fand eine Tanzveranstaltung statt. Ein Geigenspieler war angereist, es gab Rum und set dances waren angekündigt: »I had no idea what the set dances were like, and was all anticipation, in spite of my disappointment that this dance had nothing to do with Koromantee war dances.«15 Stattdessen tanzten die Bewohner_innen von Accompong einen populären europäischen Tanz des 18. Jahrhunderts, »a Maroon version of the quadrille.«16 Dunham beobachtete »backbends« und »elaborate turns«, und je länger die Tänze andauerten, umso mehr wurden sie zu »Creole improvisation«. Sie bemerkte in ihrem Reisebericht augenzwinkernd, dass auch die Maroons Teil jener sinnlichen Kultur der Karibik seien, deren spanische, indianische und afrikanische Vorfahren noch etwas anderes im Sinn gehabt haben müssen, als Kriege zu führen. Doch in der ihr typischen Geste der Selbstreflexion hinterfragte sie diese Interpretation sogleich, denn es könnte sich dabei auch um ihre eigene Projektion handeln: »The unveiled hip movements of the shay-shay [...] may have done things to me which I
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Vgl. Kevin Mulroy: The Seminole Freedmen. A History, Norman OK 2007, S. 28-29; darüber hinaus betont Mulroy die Ähnlichkeit von »maroon cultures« im karibischen Raum, von Kuba und den Bahamas über Jamaika und Haiti, ebd. S. xxiv. Trotzdem fand sich in den Quellen und der Forschungsliteratur bislang keine direkte Verbindung zwischen Cakewalk und den Seminolen. Vgl. Linebaugh/Rediker: Many Headed Hydra, S. 194f.; Werner Zips: Schwarze Rebellen. Maroon-Widerstand in Jamaica, Münster 2008. Katherine Dunham: Journey to Accompong, New York 1946, S. 22. Dunham, Journey, S. 24.
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project into the innocent Maroons.«17 Denn immer noch waren es die älteren Frauen, die zu den beliebtesten Tanzpartnerinnen gehörten. Anders als »we Americans« oder die jungen Leute in Kingston würden die Maroons »purely egoistically« tanzen, »not [...] for the sex thrill«.18 Erst am Ende ihres Aufenthalts bekam Katherine Dunham fast gegen den Widerstand der Gemeinschaft die Möglichkeit, den Tanz zu beobachten, wegen dem sie nach Jamaika gereist war.19 Sie war gekommen, um nach den Überresten einer Kultur des Widerstands zu suchen, die sie in den Kriegstänzen vermutete. Doch zuerst zeigten ihr die Bewohner_innen von Accompong diese Kultur in ganz anderer Gestalt – weitab der Metropolen kultivierten sie ihre Version der streng formalisierten europäischen set dances aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die von eben jenen Sklavenhaltern getanzt worden waren, vor denen ihre Vorfahren hunderte von Meilen in den Wald geflohen waren. Dunhams Bericht belegt ihre Forschungsthese – afrikanische Traditionen waren lebendiger als in der Forschung bis dahin angenommen; sie fand aber auch heraus, dass die Bewohner_innen von Accompong beim Tanzen auch daran erinnerten, wovor sie nicht geflohen waren. Die Gewalt, derer es bedurfte, um die Flucht zu organisieren und zu verteidigen, machte die Maroons in den Augen der Europäer zu Wilden, die fernab der Zivilisation in den Wäldern lebten. Die set dances erinnerten vielleicht auch daran, dass sie nicht vor westlicher Kultur, sondern vor der Sklaverei geflohen waren. Tänze wie der Cakewalk ermöglichten, eine Beziehung auszuagieren, die zugleich Verbindung und Trennung, Nähe und Distanz herstellte. Die rassistische Ursprungserzählung über den Cakewalk bei den Seminolen funktionierte gerade umgekehrt. Nachahmung ist hier Mangel: Afroamerikaner_innen imitierten die Seminolen, weil sie keine eigene Tanztradition hatten. Dieses absurde Narrativ lenkte von der jüngeren Geschichte der Migration ab und ermöglichte, schwarze Amerikaner_innen weiterhin allein im Süden der USA zu verorten. Dabei folgte der »Eroberungszug« des Cakewalks als Modetanz den Routen ihrer Migrationen. Die Assoziation mit Native Americans war um 1900 auch möglich, weil sie in der Populärkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts besonders sichtbar waren. Sie traten in den USA wie in Europa in Wild West Shows auf, wurden in Liedern be-
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Der Shay-Shay war ein jamaikanischer Paartanz, den Dunham bei ihrem Aufenthalt in Kingston filmte. Die Ähnlichkeiten zum Lindy Hop, insbesondere zur zentralen Figur des Breakaway ist frappierend. Es gibt Momente, in denen sich die Paare wie in europäischen Tänzen im Arm halten und Passagen, in denen sie getrennt tanzen. Der mit 1936 datierte Film ist zu sehen auf http://vimeo.com/10725227 (abgerufen am 17. 05. 2010). Dunham, Journey, S. 26. Dunham, Journey, S. 135f. Frauen und Männer tanzten zusammen, um die Krieger auf den bevorstehenden Kampf einzustimmen.
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sungen und Portraits ihrer politischen Führer zirkulierten als Bildpostkarten.20 In den Quellen über den Cakewalk bei den Seminolen überkreuzen sich Rassismen von Plantagenökonomie und Siedlerimperialismus, die ihrerseits auf die Widerstände gegen diese Politiken reagierten.21 Die Tragik dieser Ereignisse lag um 1900 nicht lange zurück: In den 1890er Jahren verbreitete sich unter vielen Native American die spirituelle Praxis des Ghost Dance.22 Die Armee reagierte auf den dadurch stattfindenden Austausch unter den verstreuten und besiegten Gruppen äußerst misstrauisch. Wahrscheinlich trug ihre Paranoia auch zum Massaker von Wounded Knee 1890 bei, als sich die Lakota Sioux in Süddakota weigerten, ihre Waffen abzugeben. Gleichzeitig mit diesen Ereignissen wuchs das populärkulturelle Interesse an Native Americans im Ausstellungsgewerbe. In eigens zum Thema »Wild West« zusammengestellten Spektakeln traten viele Native Americans auf und gingen international auf Tournee – auch mit dem Ghost Dance.23
G REAT M IGRATION Migration in den USA war bis ins 20. Jahrhundert von transatlantischen und transpazifischen Routen geprägt. Sie verschoben sich aber nach und nach zu einem transkontinentalen Migrationsregime, das von restriktiven Einwanderungsgesetzen geprägt war und mehr auf die Rekrutierung von Arbeitskräften im eigenen Territorium und an seinen Rändern setzte. Beginnend mit den Chinese Exclusion Acts in den 1880er Jahren hin zur Restriktion der Einwanderung aus Europa in den 1910er und 20er Jahren, rekrutierten die USA Arbeitsmigrant_innen zunehmend aus dem eigenen Land sowie aus Kanada und Mexiko. Möglich wurde dies durch die im 19. Jahrhundert gebauten Eisenbahnlinien, die wie Donna Gabaccia betont nicht nur 20
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Vgl. Alan Trachtenberg: Shades of Hiawatha. Staging Indians, Making Americans, 1880-1930, New York 2005; H. Glenn Penny: Elusive Authenticity. The Quest for the Authentic Indian in German Public Culture, in: Comparative Studies in Society and History, New York 2006 48: S. 798-819; Pamela Kort/Max Hollein (Hg.): I like America. Fiktionen des Wilden Westens, München 2006; Robert W. Rydell/Rob Kroes: Buffalo Bill in Bologna. The Americanization of the World, 1869-1922, Chicago IL 2005; Katinka Kocks: Indianer im Kaiserreich. Völkerschauen und Wild West Shows zwischen 1880 und 1914, Gerolzhofen 2004. Zum Konzept des Siedlerimperialismus als Form aggressiver kolonialer Landnahme, die indigene Bevölkerungen vertrieb und eng mit einer modernen Konzeption von Volkssouveränität (für weiße Männer) verkoppelt war vgl. Norbert Finzsch: Konsolidierung und Dissens. Nordamerika von 1800-1865, Münster 2005, S. 159 ff. Vgl. Jacqueline Shea Murphy: The People Have Never Stopped Dancing. Native American Modern Dance Histories, Minneapolis MN/London 2007; Alfred Wallon: Geistertanz. Wounded Knee 1890, Wismar 2008. Sam A. Maddra: Hostiles? The Lakota Ghost Dance and Buffalo Bill's Wild West, Norman OK 2006.
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von Ost nach West, sondern auch zwischen Nord und Süd verliefen. Gerade solche gigantischen Bauvorhaben an den Grenzen zu Mexiko und Kanada hatten an diesen Orten zudem eine mobile Arbeiterschaft erzeugt, die auch später zu den ersten gehörte, die über diese Wege in die USA einwanderten.24 Dass Anfang des 20. Jahrhunderts hunderttausende Afroamerikaner_innen den Süden der USA verließen und in die Städte des Nordens und Westens zogen, wurde lange Zeit mit Push- und Pull-Faktoren erklärt und auf den Auslöser des Ersten Weltkriegs fokussiert: Die schlechten ökonomischen und sozialen Bedingungen im Süden trafen mit der Nachfrage nach Arbeitskräften im Norden zusammen, der während des Ersten Weltkriegs vom Zustrom der Migration aus Europa abgeschnitten war. Die Migrant_innen selbst kamen in diesen Untersuchungen in erster Linie als Zahlen vor. Neuere Forschung hat nun gezeigt, dass viele der Annahmen über Zeitpunkt, Ursachen und Dynamik des Massenexodus unzutreffend sind.25 Seine Protagonist_innen kamen meist nicht direkt vom Land, sondern aus den Städten des amerikanischen Südens.26 Sie oder ihre Eltern waren schon einmal weggegangen und kannten das Stadtleben und die Lohnarbeit.27 Die Migration war das Ergebnis eines kollektiven Prozesses, der auf bereits etablierten Routen und Kommunikationswegen basierte. Viele waren schon seit den 1880er Jahren in den Norden und Westen gezogen, wo sie ihre ökonomischen und politischen Ziele besser verfolgen konnten, unter ihnen Journalist_innen, Unternehmer_innen, Musiker_innen und Künstler_innen.28
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Donna Gabaccia: Constructing North America. Railroad Building and the Rise of Continental Migrations, 1850-1914, in: Marc S. Rodriguez (Hg.): Repositioning North American Migration History. New Directions in Modern Continental Migration, Citizenship, and Community, Rochester NY 2004, S. 27-53. Vgl. zu einem Forschungsüberblick die Einleitung in Steven A. Reich: Encyclopedia of the Great Migration, Vol. 1, Westport T/London 2006, S. xxxv-xlviii. Nicht nur Afroamerikaner_innen verließen damals den Süden, auch viele verarmte Weiße machten sich auf den Weg. Sie wurde aber kaum öffentlich wahrgenommen und fand häufig in Form von Pendelmigration statt. Vgl. James N. Gregory: The Southern Diaspora. How the Great Migrations of Black and White Southerners Transformed America, Chapel Hill NC 2005. Vgl. Carol Marks: Farewell – We're good and gone. The Great Black Migration, Bloomington IN 1989. Vgl. die klassische soziologische Studie von 1945 St. Clair Drake/Horace R. Clayton: Black Metropolis. A Study of Negro Life in a Northern City, New York 1962 und Roi Ottley: A New World A-Coming. Inside Black America, Boston 1943. Hier sei insbesondere auch auf afroamerikanische Frauen wie die Journalistin und Bürgerrechtlerin Ida B. Wells verwiesen. Eine andere herausragende Figur dieser Generation ist Madame C. J. Walker, die erste Frau, die mit ihrem Unternehmen zur Millionärin wurde.
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Der Chicago Defender wurde 1905 von einem Migranten aus Georgia gegründet.29 Innerhalb weniger Jahre avancierte der Defender zur meistgelesenen schwarzen Tageszeitung der Stadt. Die Zeitung war sensationalistisch und brachte häufig Geschichten über Sex und Verbrechen. Im Kampf gegen Rassismus bezog sie offensiv Stellung und berichtete unzensiert über Lynchjustiz und Rassismus, weshalb lokale Behörden in den Südstaaten versuchten, ihren Verkauf und Vertrieb zu unterbinden. Denn nicht nur in Chicago, sondern auch im Rest des Landes war der Chicago Defender zu kaufen. Die Zeitung wandte sich sogar besonders an die dortige Bevölkerung, rekrutierte lokale Vertriebsagenten und nutzte darüber hinaus die Position Chicagos als Eisenbahn-Drehkreuz, von wo aus die meist schwarzen Eisenbahnschaffner die Zeitung ins ganze Land bringen konnten. Bis 1916 hatte sich ihr Herausgeber bei aller Kritik am Süden dafür ausgesprochen, dass Afroamerikaner_innen im Süden bleiben und dort für ihre Rechte kämpfen sollten. Als sich im Norden aber unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs neue Arbeitsmöglichkeiten eröffneten, änderte er seine Meinung und erklärte den Norden zum »land of hope«.30 Die Option des Exodus aus dem Süden war unter Afroamerikaner_innen ein lange politisiertes Thema.31 Neben politischen Einwänden hatten auch praktische Gründe und die herrschenden Gewaltverhältnisse Migration verhindert. Traditionellerweise hatten weiße Arbeitgeber, die Polizei und der Mob im Süden versucht, Einzelne am Abreisen zu hindern, sei es durch Einschüchterung, Manipulation oder nackte Gewalt.32 Anderen fehlten die finanziellen Mittel und Kontakte. Nun jedoch stimmten innerhalb weniger Monate hunderttausende mit den Füßen ab. Zwar brach 29
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Abbotts Familiengeschichte ist selbst eine transatlantische Beziehungsgeschichte: Sein Stiefvater hatte bereits in Georgia eine Zeitung gegründet. Als Sohn eines deutschen Einwanderers und einer freigekauften Sklavin war dieser in Deutschland aufgewachsen. Vgl. den Eintrag zu Robert S. Abbott, in: Stephen L. Vaughn: Encyclopdia of American Journalism, New York 2008, S. 477-478. Vgl. Alan D. DeSantis: Selling the American Dream Myth to Black Southerners. The Chicago Defender and the Great Migration of 1915-1919, in: Western Journal of Communication 1998 62 (4): S. 474-511. Vgl. Steven Hahn: A Nation Under Our Feet. Black Political Struggles in the Rural South from Slavery to the Great Migration, Cambridge MA 2003. Bereits in den 1870er Jahren waren die Exodusters aus dem Süden nach Westen in Richtung Kansas ausgewandert. Das ganze 19. Jahrhundert über war die Frage der »Rückkehr« nach Afrika diskutiert worden, auch in kritischer Auseinandersetzung mit der American Colonization Society seit 1816 und den Ereignissen in Liberia. Eric Burin: Slavery and the Peculiar Solution. A History of the American Colonization Society, Gainesville FL 2008; Bryan M. Jack: The St. Louis African American Community and the Exodusters, Columbia MO 2007. Eindrücklich in dieser Hinsicht sind die letzten Kapitel der Autobiografie von Richard Wright: Black Boy. A Record of Childhood and Youth, New York 1945, S.244-285, hier besonders: S. 252 ff.
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nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in den USA eine Welle rassistischer Gewalt gegen afroamerikanische Migrant_innen und heimkehrende schwarze Soldaten aus. Mit dem Red Summer von 1919 endete die Hoffnung auf ein Leben im Norden ohne Rassismus, und der Chicago Defender stellte umgehend seine Kampagne ein. Doch die Migration war nicht mehr zu stoppen. Kontinuierlich – und in einer zweiten Konjunktur während des Zweiten Weltkriegs – wanderten schließlich Millionen von schwarzen Bewohner_innen der amerikanischen Südstaaten in den Norden und Westen aus. Die kulturellen Formen, die dabei entstanden, erwuchsen aus Konflikten, die gerade auch innerhalb der entstehenden und sich verändernden schwarzen Communities ausgetragen wurden. Der Komiker Bert Williams, der mit seinem Partner George Walker um 1900 mit dem Cakewalk im Programm durch die USA reiste, war in den 1880er Jahren als Kind mit seiner Familie aus Antigua in der Karibik nach New York ausgewandert. Er wuchs in einer Mittelschichtsfamilie auf und musste später Dialekt und Stereotype erst mühsam erlernen, die ein weißes Publikum von ihm erwartete. Die schwarze Mittelschicht stand der Entscheidung schwarzer Künstler_innen, ihre Talente im kommerziellen Unterhaltungsgewerbe zu verkaufen, wiederum kritisch gegenüber, weil sie dadurch fast zwangsläufig rassistische Stereotypen bedienen mussten. Ein Grund für diese Ablehung war auch die Assoziation von Musik und Theater mit Sexarbeit. Ein Klavierspieler wie Willie the Lion Smith bekam in den 1910er Jahren trotz seines Teenageralters seine ersten Engagements in den Bars und Saloons von Newark, die von Sexarbeit lebten. Pianisten waren bei Prostituierten beliebt, nicht zuletzt, weil sie Musik spielten, zu der sie tanzen konnten.33 Modische Männer trugen an diesen Orten Diamanten an Krawatten, Revers und sogar auf den Zähnen, »some real, some phony«.34 Diese Mode prägte auch den Cakewalk und verhandelte verschiedene urbane Codes, die sich in Kleidung und Accessoires ausdrücken ließen. Sie schwankte zwischen Anpassung und Eigensinn, zwischen der Aneignung bürgerlicher Repertoires und Anleihen aus der unauflöslich mit ihr verbundenen Schattenökonomie von Sexarbeit und Zuhälterei.35 Bewegungsfreiheit erwuchs deshalb nicht nur in einem räumlichen Sinn aus der Migration, sondern rund um Musik, Tanzen und Sexarbeit in der Verdichtung urbaner Unterhaltungskultur.
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Vgl. Davin, Johnson, S. 10. Willie the Lion Smith/George Hoefer: Music on my Mind. The Memoir of an American Pianist, New York 1975, S. 49. Vgl. mehr dazu im Folgenden die Kapitel über New York und Berlin.
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In einem Interview mit der Tanzhistorikerin Mura Dehn betonte der afroamerikanische Tänzer James Berry, »[t]he Cakewalk era is high class dancing.«36 Alles sei bei dem Tanz besonders elegant ausgeführt worden. Der 1914 geborene Berry lernte ihn von seinem Vater, »a great cakewalker, and he taught us the old-time, prancing Strut.« Strutting bezeichnete die Art des Gehens im Cakewalk, weit ausschreitend und mit stolzgeschwellter Brust. Die Berry Familie war in den 1910er Jahren von New Orleans nach Kalifornien ausgewandert. Erst nachdem er das besondere Talent seiner Söhne erkannte, habe sein Vater die Vorbehalte gegen das »show business« aufgegeben.37 Berry beschreibt nun für Dehn den Cakewalk: »Digty is the main word.« Dehn kannte das Wort nicht, in den Notizen, die sie von dem Gespräch machte, ist es durchgestrichen und noch mal neu geschrieben. Sie fragte vielleicht nach der Schreibweise. Kam digty von dignity und reklamierte eine Würde, die einem im Alltag verwehrt war? Das Jive Dictionary des Jazz-Musikers Cab Calloway aus den 1930er Jahren definierte »dicty« als »high-class, nifty, and smart«.38 In Dehns Notizen folgt auf James Berrys Beschreibung des Cakewalks seine Erinnerung an den Bühnentänzer Diamond Rhinestone aus den 1920er Jahren: »He was a fashion-plate. He patterned himself after certain people. Everything he wore had rhinestones. Socks, shoes, hankerchiefs, spats. He had about fifty five suits. All colors – rhinestones on lapels, cuffs, round the pockets, gloves, ties. He glittered.«
Auf dieses Bild von Glamour folgt ein kurzer Abschnitt über Berrys Kindheit. Sein Vater habe im Schlachthof im Kühlhaus gearbeitet. Er erkrankte an einer Lungenentzündung und wäre fast gestorben. Danach arbeitete er als Holzarbeiter in einer Sägemühle. »He got his fingers cut off. He was splitting the log through the giant saw mill and there he saw his two fingers coming off. He laughed because he did not feel his fingers were off. When the thing came around again, he saw his fingers there. Then he saw all the blood.«39
Viele Künstler_innen der Zeit berichten in ihren Autobiografien ausführlich von den Arbeitsbedingungen der Generation ihrer Eltern und erklärten dadurch auch ih-
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Interview with James Berry (1960) on The Cakewalk and Strut. Mura Dehn Papers. Box 1, Folder 17. Vgl. Stearns, Jazz, S. 277. Vgl. http://www.cabcalloway.cc/jive_dictionary.htm, zuletzt abgerufen am 15.11.2012. Interview with James Berry (1960) on The Cakewalk and Strut. Mura Dehn Papers. Box 1, Folder 17.
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re spätere Berufswahl.40 In ihrer Erinnerung waren ihre oft übertrieben mit Zeichen des Wohlstands ausgestatteten Bühnenkörper noch eng mit den vernachlässigten Arbeitskörpern ihrer Eltern verbunden, von denen sie sich wegbewegt hatten. Doch auch das Arbeitsleben von Berufsmusiker_innen oder Tänzer_innen war prekär und Krankheit führte schnell zu Armut.41 Für afroamerikanische Frauen bot das Unterhaltungsgewerbe eine der wenigen Möglichkeiten, der Arbeit in weißen Haushalten zu entkommen. Doch Frauen waren besonders von der wachsenden Stigmatisierung des Unterhaltungsgewerbes betroffen, die sich aus den Kampagnen gegen Prostitution und »urban vice« im ausgehenden 19. Jahrhundert ergaben. Hazel Carby spricht in diesem Zusammenhang von »policing the black woman's body«.42 Dabei fand eine eigentümliche Verschiebung des Problems statt. Nicht die sozialen Verhältnisse, nicht die Märkte und Ausbeutungsmechanismen, sondern die Frauen und ihre Körper galten als gefährlich und sollten in Heimen, Schulen und durch »Missionare« überwacht werden.43 Dieses »Problem« von »Colored Girls in the North« war schon um 1900 ausbuchstabiert, lange bevor die große Masse der Migrant_innen ankam. Dies koinzidierte mit der zunehmenden Problematisierung von Tanzhallen als Orten der Begegnung und des Austauschs, an denen Kommunikation und Kooperation zwischen Schwarzen und Weißen in den Augen von Reformer_innen in die falsche Richtung gingen, »a voluntary return to the jungle«.44 Die Geschichte der Harlem Renaissance, als kultureller Höhepunkt der Great Migration in den 1920er Jahren, müsse vor diesem
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Vgl. Smith, Music, S. 6-13: Smiths Mutter war Wäscherin, sein Vater ein Playboy, den die Mutter bald verließ; sein trinkender Stiefvater arbeitete im Schlachthaus. »I couldn't stand to see what I saw at the slaughterhouse,« erinnert er sich. Die Tänzerin Ida Forsyne berichtet in einem Interview von ihrer Mutter, die meinte, Tanzen sei allemal besser als Wäsche zu waschen. Vgl. Aufnahmen von einem Interview mit der Tänzerin Ida Forsyne Hubbard von 1972, Privatsammlung Hatch Billops, New York City. Dagegen entstanden im Artistengewerbe des 19. Jahrhunderts Vereine und Genossenschaften zur gegenseitigen Unterstützung. Vgl. zur Gewerkschaft White Rats Kibler, Rank Ladies, 171-198; zum Artistenverein Die lustigen Ritter vgl. Kap. III.2. Varieté. Hazel V. Carby: Policing the Black Woman's Body in an Urban Context, in: Critical Inquiry 1992 18 (4): S. 738-755. Vgl. die Programmatik von Frances A. Kellor, Southern Colored Girls in the North. The Problem of Their Protection, in: Charities, 18. März 1905, S. 584-585, ausführlich analysiert in Carby, Policing, S. 740-741. Carby zitiert hier die afroamerikanische Sozialarbeiterin Jane Edna Hunter, die um 1900 von South Carolina nach Ohio auswanderte, um sich familiären Restriktionen zu entziehen. Ihren eigenen Kampf um Unabhängigkeit und die damit verbundenen Ängste projizierte sie allerdings auf andere Frauen, denen sie oft auch gegen ihren Willen ihre »Hilfe« angedeihen ließ. Vgl. Carby, Policing, S. 741ff; zu den Tanzhallen insbesondere S. 745 f.
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Hintergrund auch als Konflikt zwischen schwarzer Mittel- und Arbeiterklasse im Kontext einer von Migration geprägten Metropole analysiert werden.45 »Many of the New York City colored folks, including quite a few of the musicians, did not go for the blues music. Among those who disliked this form of entertainment the most were the Negroes who had recently come up from the South to seek a better life. They wanted to forget all about the things for which the southern Negro was noted. They also hated the way people were portrayed in the theatre.«46
Migration forderte Gewohnheiten und Konventionen heraus, führte zu Auseinandersetzungen und ermöglichte im Rahmen der Populärkultur, sich selbst anders zu sehen und wahrzunehmen. Musik und Tanzen waren relativ leicht veränderbar, weil sie beständig an Wiederaufführung gebunden waren und weil sie an Orten stattfanden, die schwieriger zu überwachen waren. Unterschiedliche Erfahrungen und Wünsche trafen hier aufeinander und inspirierten sich gegenseitig: »Our soft, four-o'clock-in-the-morning music got to those folks from the South. They danced cakewalks and cotillons; by this time we had learned to play the natural twelve-bar blues that evolved from the spirituals. The Gullahs would start out early in the evening dancing twosteps, waltzes, schottisches; but as the night wore on and the liquor began to work, they would start improvising their own steps and that was when they wanted us to get-in-the-alley, real lowdown. Those big Charleston, South Caroline bruisers would grab a girl form the bar and stomp-it-down as the piano player swung into the gut-bucketiest music he could. [...] There were many variations danced at the Casino and this usually caused the piano player to make up his own musical variation to fit the dancing.«47
Was diese Erinnerung eines Pianisten der Ragtime-Ära auszeichnet, ist die Rolle, die er dem Tanzen in der Veränderung von Musik zusprach. Die Kommunikation ging in beide Richtungen: Beide Seiten lernten voneinander und passten sich aneinander an. Die Arbeiter_innen aus dem Süden setzten sich mit den urbanen Gesellschaftstänzen auseinander, die in der Einwanderungsstadt New York populär waren. Die New Yorker erkannten in ihren Tänzen Bewegungen, die sie schon seit den 1870er Jahren im Cakewalk kennen gelernt hatten. Musiker wie Smith oder James
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Carby, Policing, S. 754. Smith, Music, S. 95. Smith, Music, S. 66. Gullah bezieht sich auf Dialekt und Kultur der afroamerikanischen Landbevölkerung in der Küstenregion von South Carolina und Georgia.
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P. Johnson fanden in den neuartigen Schritten und Bewegungen Inspiration für musikalische Improvisation.48
A UFEINANDERTREFFEN Die Migration von Afroamerikaner_innen traf in Städten wie New York und Chicago um 1900 auf die wachsende Mobilität weißer Amerikaner_innen und die New Migration aus Süd- und Südosteuropa. Eine Untersuchung über die Motivationen von Frauen, deren Eltern aus Europa in den ländlichen Mittleren Westen der USA eingewandert waren, ihrerseits in den 1910er Jahren in die Städte der Umgebung zu ziehen, belegt, dass sie ihre Entscheidung zu migrieren häufig mit dem Verweis auf die Möglichkeit begründeten, dass sie nach Lust und Laune Tanzen gehen wollten.49 Gegen die Regulierung des Tanzens in der bestehenden Gesellschaftsordnung, die ihm eine bestimmte Funktion in ihrer Reproduktion zuwies und definierte, wer wann und mit wem tanzen sollte, bestanden diese Frauen darauf, dass Tanzen in ihrem Leben einen eigenen Sinn hatte, für den sie auch bereit waren, in eine fremde Stadt zu ziehen und soziale Grenzen zu überschreiten. Im Verhältnis zur bestehenden Aufteilung von Räumen (einer männlich dominierten Salonkultur und der im Klassenrassismus segregierten Arbeitswelt) kam es um 1900 zunehmend zu Übertretungen. Junge Frauen gingen dorthin, wo Musik gespielt und getanzt wurde, selbst wenn es sich dabei um Orte handelte, in denen sie nur als Prostituierte vorgesehen waren.50 Die Schauspielerin Mae West wuchs in den 1890er Jahren in Brooklyn auf. West avancierte in den 1930er Jahren in Hollywood zu einer der bestbezahlten Schauspielerinnen. Ihr spezifischer Humor ist Politik der Pose, die innerhalb der Codes dessen, was auf der Leinwand gezeigt werden konnte, eine neuartige Sexualisierung herbeiführte, die zugleich ihre Position als Frau, ihre Klassenposition und die Frage nach ihrer Rassenzugehörigkeit verhandelte. Weil sie weiß war, konnte sie es sich leisten, schwarz zu spielen. Minutenlang zeigt der Film I'm No Angel (1933) Mae West in ihrer Rolle als glamourösen Varietéstar mit ihren vier afroamerikanischen Dienstmädchen im heimischen Schlafzimmer im entspannten, slanggefärbten Gespräch wie unter Schwestern. Wests Mutter war eine aus Bayern eingewanderte Jüdin, die in Brooklyn den Sohn eines ehemaligen Seemanns und einer
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Dieser Zusammenhang in der Entwicklung von Jazz ist auch für die 1920er und 1930er Jahre belegt, vgl. Brian Harker: Louis Armstrong, Eccentric Dance, and the Evolution of Jazz on the Eve of the Swing Era, in: Journal of the American Musicological Society 2008 61 (1): S. 67-121. Joan M. Jensen: »I'd Rather Be Dancing«: Wisconsin Women Moving On, in: Frontiers. A Journal of Women Studies 2001 22 (1): S. 1-20. Jensen, I'd Rather, S. 13.
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irischen Migrantin heiratete. Dieser Großvater väterlicherseits ist in jüngeren Biografien über West Anlass für Spekulationen über die Frage, ob er Afroamerikaner gewesen sein könnte, seine Herkunft aber verschwiegen hatte.51 Das Begehren, an schwarzen Bewegungen teilzuhaben, wie es in Mae Wests Geschichte deutlich wird, ließe sich so als Versuch erklären, in Kontakt mit einer Geschichte zu kommen, die es offiziell nicht gab, die Tabu war. In ihrer Autobiografie betont West mit einer geradezu ausgestellten Selbstverständlichkeit die Bedeutung afroamerikanischer Tänze und Musik in ihrer Karriere.52 Sie nennt den Cakewalk, um die »gay nineties« ihrer Kindheit zu charakterisieren, bei ihrem ersten Auftritt in den 1910er Jahren tanzte sie bei einem AmateurWettbewerb den Grizzly Bear. 1914 organisiert sie ihre eigene Jazz-Band. Darüber hinaus rühmt sie sich, den Shimmy in die »respectable circles« eingeführt zu haben.53 Implizit waren damit weiße »circles« gemeint. Sie habe den Tanz in einem schwarzen Nachtclub erstmals gesehen. Er habe vor allem am Platz stattgefunden und aus Schüttelbewegungen von Schultern, Brust, Hüften und Beinen bestanden. »We thought it was funny and were terribly amused by it. But there was a naked, aching sensual agony about it too.«54 Lachend wehrte sie ab, was sie berührte. Darin bestand Mae Wests primäre Funktion auf der Leinwand: Sie sexualisierte eine Situation und wehrte das dadurch erzeugte Begehren ab. Rassismus thematisiert West in ihrem Buch nicht. Ihr Verhältnis zu schwarzer Kultur war ambivalent. Sie verortete die Quelle ihrer Inspirationen stets in der schwarzen Community, was in ihrer Lebenszeit nicht selbstverständlich war.55
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Vgl. Jill Watts: Mae West. An Icon in Black and White, Oxford/New York 2001, S. 3-6; Watts geht von Gerüchten aus, die West bis zu ihrem Tod begleiteten, kann sie aber nur mit dem Fehlen von Dokumenten begründen. Simon Louvish: Mae West. It Ain't No Sin, New York 2006, S. 18 findet das eine »hazardous form of inquiry«. Allerdings konfrontiert Watts das Problem des Archivs offensiv und situiert Wests Großvater in der komplexen (und eben nicht per se weißen) Lebenswelt, in der er als Seemann und in der New Yorker Bowery gelebt hat. Vgl. zum Thema passing auch den unter Pseudonym veröffentlichte Roman von James Weldon Johnson: The Autobiography of an ExColored Man, Boston 1912, der die Geschichte eines bürgerlichen passings erzählt. Ein Medium, das den »Ex-Colored Man« an die afroamerikanische Community bindet oder durch das er zwischen schwarz und weiß vermittelt, teils ausbeuterisch, teils befreiend, ist Ragtime. Mae West: Goodness Had Nothing To Do With It, New York 1959. West, Goodness, S. 60. West, Goodness, S. 60. Ein prominenter Kommentator der Harlem Renaissance beschrieb dies treffend: Irgendwann sei in der Geschichte von Modetänzen immer der Punkt gekommen, an dem der Direktor einer Broadway Revue entschieden habe, dass ein Tanz für das weiße Publikum reif sei, »introducing it frequently with the announcement that he has invented it.« Carl Van Vechten: The Dance Writings of Carl Van Vechten, New York 1974, S. 39.
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»Throughout her career, in her performances and in her interviews, she would act out an ambivalence over racial identity, pivoting between embracing and rejecting whiteness. Was Mae West passing? It is hard to determine. But it is clear that the character she would create, her fictionalized persona, certainly was.«56
Mae West ist ein außergewöhnliches aber doch treffendes Beispiel für die Komplexität der Color Line in der amerikanischen Kulturgeschichte. Sie wuchs in einer Stadt auf, in der unterschiedliche Migrationen aufeinander trafen. Besonders Tanzhallen und die »Amateur Nights« nachbarschaftlicher Vaudevillebühnen, auf denen Mae West schon als Kind auftrat, brachten Kommunikation und Neuerfindung, aber auch Rassismus und Abgrenzung hervor.57 In den riesigen, oft tausende von Besucher_innen fassenden Tanzpalästen der 1910er Jahre mischten sich die alte und neue Arbeiterklasse; in Ausstattung und Dekor lehnten sie sich an großbürgerliche Etablissements an. Obwohl oft Ragtime gespielt wurde, war die afroamerikanische Community aber fast durchgehend ausgeschlossen. Weiße Musiker_innen, Tänzer_innen und Unternehmer_innen vermarkteten schwarze Musik und ermöglichten die Aneignung von Rhythmus, Schwung, Lebensfreude und sogar ihrer Polemik. Doch im Alltag sollte kein direkter Kontakt zustande kommen.58 Es gab in Städten wie New York oder Chicago zwar Orte, an denen schwarze und weiße Bewohner_innen der Stadt zusammen tanzten und feierten. Doch im Verlauf der 1910er und 1920er Jahre wurde dies immer weiter problematisiert.59 Damals wurde auch die »Taxi-Dance Hall« erfunden, die ausschließlich von Männern besucht werden durften. Gegen Bezahlung konnten sie jede der dort arbeitenden Frauen zu einem Tanz verpflichten. Afroamerikanern war der Besuch verboten und die Präsenz filipinischer Migranten war Gegenstand
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Watts, Mae West, S. 15. Möglicherweise lernte West die Kunst des »signifying«, die ihre Art zu sprechen und sich zu bewegen ausmachte, von Bert Williams. Der um 1900 berühmteste Blackface comedian in den USA, der zusammen mit George Walker seine Karriere mit dem Cakewalk begann, war für seine Wortspiele und sein langsames Sprechen berühmt. Williams war angeblich mit Wests Vater bekannt und sogar bei ihnen zu Hause beim Essen. Wenn das stimmt, hielten schon Wests Eltern die Color Line nicht ein. West gab in vielen Interviews Williams als wichtigsten Einfluss auf ihre Arbeit an. Vgl. Watts, Mae West, S. 12-16. Vgl. Peiss, Cheap Amusements. Giordano, Social Dancing, S. 30. Offiziell ging die Reformbewegung der Progressive Era in den USA gegen Prostitution und andere Formen von »vice« vor. Doch ob die Besitzer von Lokalen erlaubten, dass schwarze und weiße Besucher_innen miteinander tanzten wurde mehr und mehr zu einem Kriterium dafür, ob sie als respektabler Ort durchgingen. Vgl. Kevin J. Mumford: Interzones. Black/White Sex Districts in Chicago and New York in the Early Twentieth Century, New York 1997, S. 53 ff.
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rassistischer Problematisierung.60 Eine soziologische Studie von 1932 berichtet jedoch davon, dass die Frauen ihrerseits Tanzhallen besuchten, in denen auch schwarze Männer waren.61 Der Bericht beschreibt die enorme Mobilität der TaxiTänzerinnen: »These young taxi-dancers, with their good incomes, the relative ease with which they can quickly secure employment in taxi-dance halls in other cities, have become a mobile group of a new variety. They have gained a freedom of movement and a ready source for a legitimate income beyond the conception of any previous generation of girls.«62
Die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte im teils legalen, teils illegalen Unterhaltungsgewerbe einen Teil der Fluchttendenzen aus dem zunehmend nach rationalen Kriterien organisierten Arbeitsalltag ausgelagert. Dies führte nun zu unvorhergesehenen Rückwirkungen. Tanzen erzeugte Kommunikationskanäle zwischen den verschiedenen urbanen Situationen und stellte die Aufteilung in legale und illegale Ökonomien langfristig in Frage. Der Druck auf öffentlich sichtbare Sexarbeit in den 1910er Jahren war argumentativ eng mit der Problematisierung eines »dance craze« verbunden. Wie die folgenden Kapitel zeigen, weitete staatliches Handeln dabei seinen Aktionsradius merklich aus und erklärte die Regulierung auch dieser Bereiche des alltäglichen Lebens zum Aufgabenbereich öffentlicher Fürsorge. »The future of this new type of feminine migration is uncertain,« resümierte der Bericht über die Taxi-Tänzerinnen.
W HITE S LAVERY Reformbewegungen der Jahrhundertwende griffen Sexarbeit als unmoralische Kehrseite der herrschenden Ökonomie an und verlangten mehr Regulierung und Überwachung.63 Polizeiliche Maßnahmen führten dazu, dass Prostituierte die Flucht ergriffen und woanders ihre Arbeit wieder aufnahmen. Sie wechselten die Stadtviertel und, wo das nicht ausreichte, Territorien und Kontinente. Die Kriminalisierung von Sexarbeit erhöhte ihre Abhängigkeit von kriminellen Netzwerken, die europäische Migrations- und Transitregionen wie das Deutsche Kaiserreich und England mit New York und Buenos Aires und dem boomenden Südafrika verbanden.64 Wie 60 61 62 63 64
Vgl. Paul G. Cressey: The Taxi-Dance Hall. A Sociological Study in Commercialized Recreation and City Life, Chicago IL 1932, S. 12. Cressey, Taxi-Dance Hall, 31 ff. Cressey, Taxi-Dance Hall, 106. Vgl. Kap. I.1. Interventionsfeld Tanzfläche. Vgl. eindrücklich Charles van Onselen: Studies in the Social and Economic History of the Witwatersrand 1886-194, Vol. 1: New Babylon, Harlow/New York 1982; ders.: The Fox and the Flies. The World of Joseph Silver, Racketeer and Psychopath, London 2007.
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eine Parallelstruktur zum offiziellen Migrationsregime reisten ihre Akteure unter ausbeuterischen Bedingungen rund um den Atlantik. Reformer_innen in den Amerikas und Europa griffen den Begriff White Slavery auf, um Fälle zu skandalisieren, in denen Frauen Opfer von Zwangsprostitution geworden waren.65 Der folgende Abschnitt diskutiert die Rationalität dieser Politik und ihrer Herrschaftseffekte im Kontext von Rassismus und Viktimisierung. Der Diskurs um White Slavery hat eine heterogene Herkunft. Er speiste sich aus orientalistischen Fantasien, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in Malerei und Literatur aufgeladene Bilder gefangener europäischer Frauen in orientalischen Harems produzierten. Tatsächlich hatte es im Mittelmeer einen modernen Sklavenhandel gegeben.66 Doch im 19. Jahrhundert waren es europäische Reisende, Forscher und Kolonisatoren, die ins osmanische Reich eindrangen und dort eine gewisse Obsession entwickelten, einen Blick auf das Innere eines Harems zu erhaschen, wo sie stets auch weiße Sklavinnen vermuteten.67 Desweiteren speiste sich der Diskurs um White Slavery aus der Legitimität, die der Kampf gegen die Sklaverei in den Amerikas erzeugt hatte. Dies führte dazu, dass der Begriff »Sklaverei« sich in einen moralisch aufgeladenen Signifikanten verwandelte, der in ganz unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen wurde. In den 1830er Jahren sprach die Arbeiterbewegung in den USA und in England von weißer Sklaverei, um ihre Arbeitsverhältnisse anzugreifen.68 Ähnliche Polemiken finden sich in der Rhetorik bürgerlicher Frauenbewegungen, die ihren Kampf um Rechte bisweilen metaphorisch als Kampf gegen ihre »Versklavung« als (Ehe-) Frauen darstellten.69 In beiden Fällen ermöglichte der Verweis auf Sklaverei, Ausbeutungsverhältnisse und Herrschaftsstrukturen anzugreifen und in Frage zu stellen, dass unfreie Arbeit mit der offiziellen Abschaffung der Sklaverei beendet sei. Doch häufig diente er auch als Geste der Abgrenzung, die implizit oder explizit argumentierte, dass eine solche Position für Weiße/Europäer_innen unwürdig sei.70 65 66 67
68 69
70
Vgl. Esther Sabelus: Die weiße Sklavin. Mediale Inszenierungen von Sexualität und Großstadt um 1900, Berlin 2009. Vgl. Robert C. Davis: Christian Slaves, Muslim Masters. White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast, and Italy, 1500-1800, New York 2004. Vgl. zum Harem und Sklavenmarkt als beliebten Motiven in der orientalistischen Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts Linda Nochlin: The Imaginary Orient, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Exotische Welten, Europäische Phantasien, Stuttgart 1987, S. 172-179. Vgl. die Genealogie von White Slavery in Keire, Vice Trust, S. 7-9. Vgl. Karen Sánchez-Eppler: Bodily Bonds. The Intersecting Rhetorics of Feminism and Abolition, in: dies.: Touching Liberty. Abolition, Feminism, and the Politics of the Body, Berkeley 1993, S. 14-49. Vgl. Roediger, Wages, S. 68: »[I]t should be obvious that for all but a handful of abolitionists/labor reformers, use of a term like white slavery was not an act of solidarity with the slave, but rather a call to arms to end the inappropriate oppression of whites.«
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Keire zeigt in The Vice Trust, dass der Kampf gegen White Slavery zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer konservativen Kritik an Kapitalismus einherging, der als Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung dargestellt wurde. In Analogie zur Problematisierung von Kartellen und Konzernen vermuteten in den USA mehr und mehr besorgte Bürger_innen hinter den Fassaden von Bordellen und Rotlichtvierteln »vice trusts«, unsichtbare Mächte, die alles, auch die Körper unschuldiger Frauen in Waren verwandeln würden. Sie sollten ans Licht der Öffentlichkeit gezogen werden: »Once anti-vice reformers had shifted responsibility for white slavery from the state to private enterprise, American authors began to evoke the most common stereotype of the evil capitalist: the Jew.«71 Besonders jüdische Einwanderer aus Osteuropa, aber auch als verweichlicht dargestellte französische Zuhälter galten in den USA aber auch in Argentinien und Südafrika als verantwortlich für diese Form des Mädchenhandels. Frauen wurden als passive Opfer dargestellt – verkindlicht, entsexualisiert und naiv. Die Verhältnisse, die Frauen angreifbar und verletzbar machten, waren dagegen selten Gegenstand der Problematisierung. Im Gegenteil: Der Diskurs um White Slavery beförderte eine Dynamik der Illegalisierung und stärkte die im Grunde als legitim erachtete Gewalt von Männern über Frauen.72 Sexarbeit wurde tendentiell mit White Slavery gleichgesetzt. Investigative Journalist_innen und Frauenrechtlerinnen begannen damals in den USA Interviews mit Prostitutierten zu führen und fragten sie nach ihrem Lebensweg. Jane Adams versuchte so beispielsweise den Nexus von Sexarbeit und Migration herauszuarbeiten. Sie führte Interviews mit europäischen Migrantinnen und Amerikanerinnen, die vom Land nach Chicago gezogen waren. Sie nennt die Umstände beim Namen, die Frauen in Abhängigkeitsverhältnissen festhielten, neben der Familie auch Einwanderungsbestimmungen und die Diskriminierung im Arbeitsmarkt.73 Doch Sexarbeit ist bei ihr gleichbedeutend mit White Slavery, als handle es sich um einen analytischen Begriff. Von Afroamerikanerinnen ist nicht die Rede. Immer wieder nennt sie die Tanzhalle als problematische Gefahrenzone und die Art, wie dort getanzt wurde, als gefährliches Treiben.74 Ähnlich ambivalent ist das Buch What Eight Million Women Want von 1910. Reta Child Dorr fordert hier einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, der die Rechte und Souveränität von Frauen stärken sollte.75 Doch zugleich reichert die Frauenrechtlerin und Journalistin ihre Schilderungen mit dem urbanen Mythos White Sla71 72
73 74 75
Keire, Anti-Vice, S. 8. Vgl. Kap. II.2 und II.5. Zur Problematik der Viktimisierung von Migrantinnen im gegenwärtigen Trafficking-Diskurs vgl. Serhat Karakayali: Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008, S. 227-250. Vgl. Jane Adams: A New Conscience and an Ancient Evil, New York 1914, S. 34-35. Vgl. Adams, A New Conscience, S. 150 ff. Reta Childe Dorr: What Eight Million Women Want, New York 1971 [1910], S. 190.
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very an. Ohne konkrete Belege zu liefern, legitimierte das Bild von Frauen als naive, wehrlose Opfer ihre Programmatik sozialpolitischer Disziplinierung.76 Sie portraitiert den weiblichen »dance hall habitué«. Diese Frauen ließen sich beim Tanzen herumwirbeln, was nicht nur »temporary recklessness« erzeuge, sondern auch die Lust auf Alkohol verstärke, dessen Konsum vor Ort ohnehin obligatorisch sei. Ohne es zu merken, gingen viele Frauen so »weißen Sklavenfängern« ins Netz: »[I]n the dance halls, the white slaver plies his trade, and the destroyer of womanliness lays his nets.«77 Die Tanzfläche erscheint hier wie ein Meer, in dem Frauen wie Fische zur Beute werden. Sexarbeit wird als Beifang des Tanzvergnügens dargestellt, in dem sich selbstvergessene Frauen tummelten, die gar nicht verständen, worum es eigentlich gehe. Wenn um 1900 Tanzen recht pauschal mit Sexarbeit in Verbindung gebracht wurde, handelte es sich dabei einerseits um eine Unterstellung, die ordnungspolitische Projekte legitimieren sollte. Andererseits reagierten diese Politiken auf eine Realität, die etwas mit den Transformationen zu tun hatte, die von bestimmten Formen der Migration selbst erzeugt wurde. Ein ganzer Bereich des Lebens, der in patriarchalen Gesellschaften der Familienökonomie unterstellt war, musste unter den Bedingungen von Migration und Urbanisierung neu organisiert und anders verrechnet werden. Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Sexualität, der ganze Bereich der Soziabilität jenseits der Arbeit war unter denjenigen, die vor allem als Arbeiter_innen vorgesehen waren, unterversorgt und erzeugte einen Markt. Sexarbeit war im ausgehenden 19. Jahrhundert auch eine Begleiterscheinung der massenhaften Arbeitsmigration. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Routen dieses »Frauenhandels« rund um den Atlantik den Routen der Ausbreitung von Tanzmoden ähneln. Es handelte sich schlicht um die zentralen Verkehrswege der atlantischen Ökonomie um 1900. Tanzhallen stellten zudem eine immer wichtiger werdende Institution der Begegnung von Männern und Frauen im urbanen Kontext dar. Nicht nur in der Entstehungsgeschichte des Tangos spielte Sexarbeit dabei die Rolle eines Katalysators. Doch der Diskurs White Slavery ist auch symptomatisch für die Viktimisierung von weißen Frauen und die Unsichtbarmachung von schwarzen Frauen in diesem Prozess. Die »weiße Sklavin«, wie sie auch im deutschsprachigen Diskurs genannt wurde, der meist vom »internationalen Mädchenhandel« sprach, musste auch deshalb 76
77
Dorr wandte sich zwar gegen die Stigmatisierung von Prostituierten und griff den »double standard« einer Gesellschaft an, die Sexarbeit zugleich nachfragte und kriminalisierte. Doch ihr Vorschlag, das Problem von den Gerichten weg in die Hände von Expertinnen zu legen, die in Besserungsanstalten eine »economy of effort« entwickeln sollten, um die Widerstandskräfte ihrer »fallen sisters« gegenüber den Verführungen des Alltags zu stärken, war ebenfalls autoritär. Vgl. Dorr, Eight Million, S. 190. Dorr, Eight Million, S. 208.
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als unschuldiges Opfer dargestellt werden, um das gesellschaftliche Stigma der Sexarbeit abzulegen und gesellschaftliche Fürsorge zu rechtfertigen. Selten fanden sich Belege für die angeblich groß angelegte Organisation dieses »Sklavenhandels«. Eher gab es zahllose Beispiele für Ausbeutung, Übervorteilung, Manipulation und Gewalt, die allerdings auch in anderen Arbeitsverhältnissen vorkamen. Der Diskurs um White Slavery verhandelte deshalb auch ein Krisenszenario des freien Marktes. Was passiert, wenn das Vertrauen missbraucht wird, das dieser Vorstellung eines freien Marktes zugrundeliegt? So konnten unterschiedliche Ängste und Erfahrungen auf weiße Frauen als Opfer projiziert werden. Sie sollten lernen, dass sie Männern nicht vertrauen können und dass hinter jedem Stellenvermittler, Theateragenten, Tanz- oder Sprachlehrer ein potentieller Menschenhändler stecken kann. Plakate und Pamphlete, Filme und Flugblätter erzählten davon – White Slavery war auch das Ergebnis moderner Kampagnen-Führung.78 Der Diskurs eignete sich zudem, um die Color Line zu bestätigen, ohne die Popularität schwarzer Tänze oder auch nur die Existenz von Nicht-Weißen Menschen in der eigenen Stadt zu thematisieren. Reta Childe Dorr sprach von »swaying and contorting of the hips« in den von ihr besuchten Tanzhallen New Yorks, was auf Tänze mit viel Hüftbewegung verweist. Dorr beschreibt diese Tänze als »indecent« und »primitive«, verschweigt aber ihre Herkunft aus der afroamerikanischen Kultur. Stattdessen mobilisiert sie antisemitische und anti-migrantische Ressentiments, wenn sie behauptete, Annie Dowell habe gelernt »to spiel«. Mit »spieling« war in New York eine »loose parody of the fast waltz« gemeint. Das Tanzpaar drehte sich dabei so schnell wie möglich um sich selbst, was Schwindel, Kontrollverlust und »physical excitement« erzeugte.79 Dorr betont, solche Tänze gingen auf heidnische Gebräuche zurück. »You may see traces of it in certain crude peasant dances in the out-of-the-way corners of Europe.«80 Diese Tänze würden nun den »immigrant girls« in New York beigebracht, unter dem Vorwand, es handle sich um »the American fashion of waltzing«. Doch wenn diese Tänze aus Europa kamen, warum mussten die Frauen, die genau aus solchen »out-of-the-way corners of Europe« kamen, sie dann erst lernen? Verschiedene Rassismen überkreuzen sich in diesem Text, der New York als weiße Stadt imaginiert, die gegenüber den »new immigrants« Strategien der Integration entwickeln muss, um zu verhindern, dass sie einen falschen Eindruck davon bekommen, was »American fashion« sei. Doch tatsächlich lösten die Bewegungen der »new immigrants« und der »Great Migration« ähnliche Ängste bei bürgerlichen Betrachter_innen aus, umso mehr wenn sie aufeinander Bezug nahmen und sich in etwas Neues verwandelten.
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Vgl. Sabelus, Weiße Sklavin, S. 23 ff; Dietmar Jazbinsek: Der internationale Mädchenhandel. Biographie eines sozialen Problems, Berlin 2002, S. 17. Vgl. Peiss, Cheap Amusements, S. 100-101. Dorr, Eight Million, S. 209.
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Darin lag eine der spezifischen Leistungen dieser Problematisierungsstrategie: Implizit affirmierte sie die Color Line und suggerierte, dass Aufklärung und Überwachung, polizeiliche Maßnahmen und Selbstorganisierung eine phantasmatische Reinheit und Unschuld der »weißen Rasse« retten könnte, verkörpert über die Opferfigur einer weißen Frau. Afroamerikanische Frauen, die ebenfalls in steigendem Maße an der urbanen Sexarbeit beteiligt waren und dabei auf ähnliche Probleme stießen, wie ihre Kolleginnen, waren weder diskursiv noch institutionell in diesen Rettungsplan eingeschlossen. Sie kamen einfach gar nicht vor.81
C OLOR L INE Das Skandalon eines gemeinsamen Tanzens erwuchs um 1900 deshalb aus einer spezifischen rassistischen Formation – der Color Line, die einen nach »Rasse« getrennten Alltag ermöglichen sollte. Aus dem Kampf gegen die Sklaverei war im 19. Jahrhundert ein Kampf für die Durchsetzung von gleichen Rechten geworden, der von Gewalt, Diskriminierung und staatlicher Vernachlässigung begleitet war. In den USA hebelte ihn die 1896 verfassungsrechtlich abgesegnete Kompromissformel »separate but equal« schließlich völlig aus. Das Versprechen auf Integration und Gleichberechtigung war angesichts von lynchings und Wahlrechtsentzug, von institutionellem und alltäglichem Rassismus ad absurdum geführt worden. Das nächste Kapitel zeigt, dass die Erfolge des Cakewalks rund um den Atlantik auch aus den Konfliktfeldern um die Color Lines entstanden. Denn nicht nur in den USA, auch in Ländern wie Argentinien oder den europäischen Siedlungskolonien lässt sie sich nachweisen. Sie folgte lokal je unterschiedlichen Regeln und Konventionen, entstammte durch ihren Bezug auf die Kategorie der weißen Rasse aber einem gemeinsamen Kontext, der in den Konflikten um gesellschaftliche Arbeitsteilung neue Formen von Solidarität unter Weißen ermöglichen sollte.82 Um 1900 entwickelte sich der Begriff der Color Line aber auch zu einer kritischen Analysekategorie, um Rassismus anzugreifen. Der afroamerikanische Philosoph und Soziologe W.E.B. Du Bois schreibt 1900: »The problem of the 20th century is the problem of the color-line, the question as to how far differences of race – which show themselves chiefly in the color of the skin and the texture of
81
82
Vgl. Mumford, Interzones, S. 15. Cheryl D. Hicks: »Bright and Good Looking Colored Girl«. Black Women's Sexuality and »Harmful Intimacy« in Early-Twentieth-Century New York, in: Journal of the History of Sexuality 2009 18 (3): S. 418-456. Marilyn Lake/Henry Reynolds: Drawing the Global Color Line. White Men's Countries and the International Challenge of Racial Equality, New York 2008.
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the hair – will hereafter be made the basis of denying to over half of the world the right of sharing to their utmost ability the opportunities and privileges of modern civilization.«83
Der Begriff der Color Line ermöglichte Du Bois, verschiedene Rassismen an verschiedenen Orten aufeinander zu beziehen.84 Du Bois beobachtete nicht allein in den Südstaaten, sondern auch im Norden, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und den europäischen Kolonien ähnliche Formen von Diskriminierung.85 Die Color Line beschrieb nicht nur eine hierarchisch gedachte Differenz, sondern eine umkämpfte Zone, in der es eigentlich um Bürgerschaft, Rechte, Zugänge zu Institutionen und gesellschaftlichem Reichtum Von der Color Line zu sprechen, ermöglichte Du Bois, das was üblicherweise als »Negro problem« behandelt wurde, auf ein anderes Terrain zu verschieben. Nicht die afroamerikanische Bevölkerung war das Problem, sondern eine Rationalität, die einem bestimmten Teil der Menschheit glauben machte, ihm gehöre die Welt. So entwickelte sich der Begriff zu einer kritischen Kategorie, auch weil der Begriff Rassismus nicht zur Verfügung stand. In den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete Du Bois immer deutlicher die Paradoxien des Imperialismus heraus, die imaginäre Gemeinschaften von bislang ungekannter Inklusion erfanden und nach innen, in ihren Territorien, immer exklusiver und diskriminierender agierten. Paradigmatisch dafür, so Du Bois erstmals 1910 in The Souls of White Folk, war die »sudden emotional conversion«, mit der weiße Siedler_innen rund um den Globus ihren Herrschaftsanspruch im Namen der weißen Rasse zu legitimieren versuchten. Neu daran sei das damit verbundene Verständnis von persönlichem Besitzanspruch: »Whiteness is the ownership of the earth forever and ever, Amen.« 86 Diese Haltung war auch ein Ergebnis von sich verschärfenden Interessenkonflikten zwischen europäischen Siedler_innen und metropolitanen Kolonialregierungen. Die Vorstellung einer »global color line« ermöglichte dagegen eine transnationale Form der Identifikation, die den Ruf nach 83
84 85 86
W.E.B. Du Bois: To the Nations of the World, in: ders.: An ABC of Color. Selections from over a Half Century of the Writings of W.E.B. Du Bois, Berlin 1963, S. 19-23, hier: S. 20. Angesichts der Shoah revidierte Du Bois später diese Position. Wie groß die Probleme des 20. Jahrhunderts tatsächlich werden würden, überstieg sein Vorstellungsvermögen ebenso wie das der meisten Zeitgenossen. Michael Rothberg: W.E.B. DuBois in Warsaw. Holocaust Memory and the Color Line, 1949-1952, in: The Yale Journal of Criticism 2001 14 (1): S. 169-189. Vgl. Zhang Juguo: W.E.B.Du Bois. The Quest for the Abolition of the Color Line, New York 2001. Der Text von 1910 war die Vorlage für das Kapitel aus Darkwater (1920), abgedruckt in: David Roediger (Hg.): Black on White. Black Writers on What It Means to Be White, New York 1998, S. 184-199, hier: S. 185; vgl. auch Reiland Rabaka: The Souls of White Folk. W.E.B. Du Bois's Critique of White Supremacy and Contributions to Critical White Studies, in: Journal of African American Studies 2007 11 (1): S. 1-15.
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Solidarität zwischen den USA, Australien, Südafrika und anderen europäischen Kolonien nahe legte. Die Utopie von unter sich gleichen, sich selbst demokratisch regierenden »white men's countries« sollte die Komplexität einer globalisierten Gegenwart ersetzen.87 Die sich dabei abzeichnende Color Line legte aber auch Bündnisse zwischen denjenigen nahe, die sich über den Globus verstreut gegen Politiken der Benachteiligung und des Ausschlusses wehrten, denn diese betrafen mehr und mehr auch lokale Eliten. Als sich 1900 zum ersten Mal Delegierte aus den USA, der Karibik und Westafrika in London zum Panafrikanischen Kongress trafen, schrieb Du Bois als Vorsitzender des Resolutions-Komitees den oben bereits zitierten Aufruf To the Nations of the World, der gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der Entstehung einer modernen, globalen Zivilisation einforderte.88 Die »moderne Welt« solle nicht vergessen, dass allein schon die große Anzahl nicht-weißer Menschen im atlantischen Raum, ganz zu schweigen vom Rest der Welt, für ihren wachsenden Einfluss sorgen werde. »But if, by reason of carelessness, prejudice, greed and injustice, the black world is to be exploited and ravished and degraded, the results must be deplorable, if not fatal, not simply to them, but to the high ideals of justice, freedom and culture which thousand years of Christian civilization have held before Europe.«89
Der Aufruf nahm die hohen Ideale des Westens beim Wort und maß sie an seiner Kolonialpolitik. In dieser klassischen Geste der Kritik verwies er aber zugleich auf eine alternative Geschichte der Moderne, die parallel zur imperialen Expansion entstanden war: Die Erfahrung radikaler Brüche und Kehrtwenden, das unvollendete Erbe von Revolutionen und Abolitionsbewegungen. Die Politik imperialer Expansion müsse sich diesen Idealen verpflichtet fühlen, der Hebung des Gemeinwohls aller Bewohner_innen eines Territoriums und nicht nur des eigenen Profits. Afroamerikanische Intellektuelle wie Du Bois entwickelten um 1900 ein komplexes Verständnis von nationalen und imperialen Zusammenhängen. Du Bois war überzeugt, dass es nicht ausreichen würde, die Legitimität von Imperialismus in Frage zu stellen. Schließlich war die Welt längst und unhintergehbar globalisiert. Vielmehr erkannte er, dass in den transnationalen Dynamiken des Imperialismus Spannungen entstanden waren, die eine Überwindung nationaler Unterdrückungsmechanismen befördern könnten. Aus den Verbindungen und Verwicklungen zwischen weit voneinander entfernt lebenden Menschen und Territorien ergab sich in
87 88 89
Vgl. Lake/Reynolds, Drawing, S. 2. Zur Konzeption des »Negro Problem« aus der Sicht weißer Suprematie vgl. ebd., S. 49 ff. Du Bois, ABC, S. 20. Du Bois, ABC, S. 21.
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seinen Augen auch ein utopisches Potential für eine andere Form des Zusammenlebens, Gegenutopien zu den »white men's countries«. Indem er die Color Line zur Angriffsfläche erklärte, hielt er stets an der Möglichkeit fest, diese Dynamik in andere, befreiende und nicht ausbeutende Bahnen zu lenken. Ohnehin hätten die westlichen Mächte längst die Kontrolle über diesen Prozess verloren: »From the anarchy of empire [Du Bois] envisioned the rise of new forms of collectivity that overflow [national] borders. Imperialism in 1898, according to Du Bois, invited African Americans in Washington DC to reimagine their future in relation to other nonwhite subjects of the American empire world-wide.«90
Für Du Bois war dies nicht nur ein Traum, sondern eine politische Praxis, die er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs weiterführte, als er zum Zweiten Panafrikanischen Kongress in London einlud. Diese Haltung zur Color Line war offensiv, während die Vetreter_innen von »white men's countries« aus der Defensive agierten. Sie reagierten auf eine befürchtete, sich abzeichnende Verschiebung von Kräfteverhältnissen, wie sie besonders durch Kontraktarbeit- und Coolie-Systeme, unkontrollierte Migration und Landflucht drohten. Passverordnungen und Einwanderungsgesetze sollten verhindern, dass sich die Zusammensetzung der Bevölkerung auf eine Art und Weise veränderte, die weiße Vorherrschaft in Frage stellen würde. Dennoch zeichnete sich bereits im 19. Jahrhundert ab, dass sich die Frage der Bürgerschaft immer drängender stellen würde. Die Color Line machte die schon viel länger praktizierte Gewalt eines kolonialen Zusammenhangs aber auch auf eine spezifische Art und Weise sichtbar und angreifbar.91 Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, reagierte diese Politik auf einen Alltag, der längst nach anderen Rationalitäten funktionierte. Rund um den Atlantik gab es dementsprechend auch nicht ein und dieselbe Color Line. Dass sie sich zu einer Chiffre für Rassismus entwickelte und zunehmend aus einer kritischen Perspektive den diskriminierenden, ausbeuterischen und gewaltsamen Zusammenhang von Politiken der Segregation kennzeichnete, war das Ergebnis von Widerstand und politischer Organisierung. Du Bois erkannte selbstkritisch, dass diese Politik von der Color Line zugleich ermöglicht und eingeschränkt werde. »In a world where it means so much to take a man by the hand and sit beside him, to look frankly into his eyes and feel his heart beating with red blood; in a world where a social cigar or a cup of tea together means more than legislative halls and magazine articles and speeches,
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Kaplan, Anarchy of Empire, S. 178. 1902 begann Mahatma Ghandi eine Kampagne des passiven Widerstands gegen die Diskriminierung indischer Migrant_innen im britisch regierten Südafrika.
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— one can imagine the consequences of the almost utter absence of such social amenities between estranged races, whose separation extends even to parks and streetcars.«92
Du Bois verweist hier auf die Soziabilität bürgerlicher Männer als Grundlage demokratischer Politik. Mit dem gemeinsamen Konsum von Tabak und Tee, der Präsenz des Herzschlags und der Berührung der Haut deutet er zudem eine körperliche Ebene an, die diese Politik ermöglicht. Medial vermittelte Kommunikation könne das nicht ersetzen und so sei echte Kooperation unter den Bedingungen der Color Line von vornherein ausgeschlossen. Anders in den Unterschichten – in den Saloons, Spielhallen und Bordellen finde die Color Line weniger Beachtung und verschwinde sogar.93 Tanzhallen kommen in dieser polemischen Aufzählung nicht vor. Du Bois nahm zum Tanzen und zum Cakewalk eine differenzierte Haltung ein, die implizit auch die Skandalisierung des Cakewalks in Teilen der bürgerlichen schwarzen Presse kommentierte. In seiner soziologischen Studie The Philadelphia Negro beschrieb er den Cakewalk 1899 als das im Vergleich zum Glücksspiel unschuldigere Unterhaltungsprogramm der unteren Schichten. Die Wettbewerbe würden zwar von viel Alkohol begleitet und an den Orten des Geschehens fänden sich schwarze und weiße Prostituierte, doch mit dem Tanzen selbst habe das nichts zu tun: »The cake-walk is a rhythmic promenade or slow dance, and when well done is pretty and quite innocent.«94 Die Charakterisierung als »innocent« sollte der Sexualisierung des Geschehens entgegenwirken. Du Bois unterschied das Tanzen von den Bedingungen, unter denen es zum Teil stattfand und markierte es als ästhetische Produktion.95 Wie die folgenden Kapitel zeigen, wechselten die Tänze um 1900 schneller denn je Milieus, Territorien und Kontinente. Es zeigt sich, dass gerade der Anspruch von Regierung, alles und jedem seinen Platz zuzuweisen, diese Gesellschaften anfällig für die Schieflage des Cakewalks machte.
92 93 94 95
Du Bois, Souls, S. 334. Du Bois, Souls, S. 335. Vgl. W.E.B. Du Bois: The Philadelphia Negro, New York 2007, S. 320. Vgl. Eric Sundquist: To Wake the Nations. Race and the Making of American Literature, Cambridge, MA 1993, S. 271-538, besonders S. 455 ff.
II. Entstehung
New York City
Die Tänzerin hat den Kopf leicht in den Nacken gelegt und blickt ein bisschen von oben herab in die Kamera. Sie lächelt nicht, aber ihr Gesicht ist offen und aufmerksam. Eine kaum merkliche Spannung liegt in ihrem Ausdruck und zieht sich über den Hals hin zu den leicht nach hinten gezogenen Schultern und der geöffneten Brust. Auf ihrem Kopf balanciert ein mit Straußenfedern geschmückter Hut. Seine überdimensionierte Größe nimmt das gesamte obere Drittel der Bildpostkarte ein. Sie trägt ein glitzerndes Kleid und ein glänzendes Perlencollier. Das Portrait ist elegant und glamourös. Aufgenommen von Cavendish Morton in London, einem Vaudeville-Künstler und Fotografen aus den USA, dokumentiert das Bild den Erfolg von In Dahomey, dem bereits erwähnten ersten schwarzen Musical, das 1903 auf dem Broadway in New York reüssierte und danach in England auf Tournee ging.1 Das Portrait zirkulierte als Bildpostkarte mit der Unterschrift: »The Queen of Cakewalk. Miss Aida Overton Walker.«2 (Abb. 3) Aida Overton Walker choreografierte und tanzte den Cakewalk für das Stück.3
1 2
3
Green, ›In Dahomey‹; Hatch/Hill: African American Theatre, S. 168-169; Krasner, Resistance, S. 66-74; Riis, Just before Jazz, S. 91-104. Dieses enorm populäre Portrait zirkulierte in verschiedenen Versionen auf verschiedenen Serien von Postkarten. Diese war Teil einer von Tucks & Son herausgegebenen Serie mit dem Titel »Coon Studies«. Sie wurde 1904 in Deutschland verschickt. Aida Overton Walker wurde 1880 in Virginia geboren und zog mit ihren Eltern als Kind nach New York City. Sie besuchte in Midtown eine Tanzschule und trat 1897 erstmals mit der Show Black Patti's Troubadours auf. Vgl. Eric Ledell Smith: Aida Overton Walker. Pioneer Dancer and Choreographer, in: Sage 1994 8 (2), S. 36-40; Walker gilt in der Geschichte des amerikanischen Theaters als erste Frau, die offiziell als Choreografin in Erscheinung trat. Vgl. den Eintrag in Barbara Naomi Cohen-Stratyner: Bibliographic Dictionary of Dance, New York/London 1982. Walker zeichnete für die Choreografien in den Musicals Sons of Ham 1900, In Dahomey 1903, Abyssinia 1906, The Red Moon 1907, Bandana Land 1908 verantwortlich.
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| E NTSTEHUNG Abbildung 3: »Aida Overton Walker. Queen of Cakewalk«
Als die Truppe nach ihrer erfolgreichen Tournee nach New York zurückkehrte, warb sie mit der Nachricht, man habe vor dem Englischen Königshaus ein Gastspiel gegeben und sogar dem König von England das Cakewalken beigebracht.4 Die »Königin des Cakewalks« war damit nicht nur auf der Postkarte geadelt, sondern auch durch ihre Assoziation mit dem englischen Königshaus. Die neureiche Gesellschaft New Yorks fragte Aida Overton Walker nun als Tanzlehrerin an. Nachdem der Tanz vom britischen Königshaus prämiert worden war, schien ihr der Cakewalk ein ernsthafteres Studium wert.5 4
5
Vgl. Krasner, Resistance, S. 75-98. Das Ensemble von In Dahomey war tatsächlich zur Geburtstagsparty des Königssohns in den Windsor Palace eingeladen worden. Vgl. Special Cable to the New York American, 23.06.1903, in Henry T. Sampson: The Ghost Walks. A Chronological History of Blacks in Show Business 1865-1910, Metuchen NJ 1988, S. 297-298. Vgl. Jacqui Malone: Steppin' on the Blues. The Visible Rhythms of African American Dance, Urbana IL 1996, S. 72-73: In Dahomey »lifted the cakewalk to the status of an international dance craze after the show's smashing London run of 1903.« Noch über Jahrzehnte berichteten afroamerikanische Zeitungen fast formelhaft über diese erste Generation schwarzer Tänzer, sie hätten vor den »crowned kings of Europe« getanzt. Billy McClain, Friend of Kings, Retires, in: Chicago Defender, 18. März 1933. Appeared be-
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Mit dem Cakewalk wandte sich die New Yorker Oberschicht kulturell einer Bevölkerungsgruppe zu, der sie im Alltag am ehesten über den Dienstboteneingang Zutritt zu ihrem Leben erlaubte. Dieses auf den ersten Blick paradoxe Ereignis war das Ergebnis eines komplexen Prozesses der Verhandlung um die Frage, was amerikanisch sei. In New York City kam es im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer dramatischen Neuzusammensetzung der Klassen. New York war nicht der Hafen europäischer Einwanderung, sondern auch vermehrt Ziel der Binnenmigration. Doch nicht nur die Arbeiter, auch die Gesellschaft der Reichen veränderte sich, weil neureiche Fabrikanten und Industrielle Zugang zu den Zirkeln des alten Geldadels von Bankern und Händlern verlangten.6 1892 lebten fast ein Drittel der Millionäre der USA in New York. Viele hatten ihr Geld geerbt, zum Teil schon von ihren Großeltern, doch zugleich wurde das Feld, auf dem große Geschäfte zu machen waren, dynamischer und unübersichtlicher als je zuvor. Nicht nur investierten viele dieser Geldadeligen nun im Westen oder in neuen Industriezweigen wie der Ölwirtschaft, sondern immer mehr Reiche zogen nach New York, angezogen von dem dort versammelten Expertenwissen und den vielfältigen Geschäftskontakten, was wiederum den Bedarf nach Anwälten, Architekten, Ingenieuren, aber auch Musikern und Journalisten erhöhte. Ohnehin fühlte sich ein Teil von ihnen vom kulturellen Leben der Stadt angezogen, und selbst wer nicht hier wohnte, trat den New Yorker Clubs bei.7 Das kulturelle Leben dieser Oberschicht beeinflusste die Populärkultur der Zeit, die nach einem Roman von Mark Twain als »Gilded Age« in die amerikanische Kulturgeschichte einging. Der Begriff verweist auf Glanz und Glamour und betont zugleich, dass nicht alles Gold war, was damals glänzte. Es war nicht nur eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, sondern auch von ökonomischen Krisen, die den Beteiligten ein enormes Maß an Anpassungsfähigkeit und Energie im Umgang mit Unvorhersehbarem abverlangte.8 Sowohl in Abgrenzung zum »Alten Europa« wie zur »New Migration« suchte die amerikanische Oberschicht nach einer Haltung, die sie als amerikanisch ausweisen würde. »Whites sought new ways of positioning themselves as a group, as they were eager to attain some sense of cultural identity.«9 Die im Cakewalk ermöglichte Haltung war selbst-reflexiv, weil sie ein europäisches Vorbild aufrief, es als Fanta-
6
7 8 9
fore King and Queen, in: Chicago Defender, 17. Mai 1930. Newspaper Clippings »Dance«. General Research. Schomburg Center for Black Culture. New York Public Library. Vgl. zur »culture of capital« des ausgehenden 19. Jahrhunderts Sven Beckert: Monied Metropolis. New York City and the Consolidation of the American Bourgeoisie, 18501896, Cambridge UK u.a. 1993, S. 237-272. Beckert, Monied Metropolis, S. 239. Vgl. Jackson Lears: Rebirth of a Nation. The Making of Modern America, 1877-1920, New York 2009. Krasner, Resistance, S. 90.
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sie markierte und sich lachend darüber hinwegsetzte.10 Angesichts von Debatten über Nationale Schulen, wie sie insbesondere in der Musik geführt wurden, sahen sich Vertreter der Hochkultur in den USA immer wieder mit dem Anspruch konfrontiert, dass sie etwas »Eigenes«, typisch Amerikanisches produzieren sollten.11 1892 übernahm Antonin Dvoák die Leitung des National Conservatory of Music in New York. Dvoák ging als Vertreter der nationalen Schule wie selbstverständlich davon aus, dass die Musik von Afroamerikanern und Native Americans genau das sei, worauf sich eine nationale Schule in den USA beziehen müsse und was sie von europäischen unterscheide. In seine Symphonie Aus der Neuen Welt baute er die Synkope als zentrales Element ein.12 Zur gleichen Zeit kehrte Will Marion Cook New York enttäuscht den Rücken und ging in seine Heimatstadt Washington, D.C. zurück. Ungeachtet seiner Ausbildung sah er für sich in der klassischen Musik keine Zukunft.13 Cook war Dvoák zwar begegnet, doch eine Zusammenarbeit kam nicht zustande. Stattdessen begann er mit dem Autor Paul Laurence Dunbar populäre Songs und Librettos für Musicals zu schreiben. Wenige Jahre später kehrte Cook mit Clorindy, The Origin of the Cakewalk nach New York zurück und schrieb kurz darauf auch die Musik für In Dahomey.14 Während die New Yorker Oberschicht begann, Cakewalk und Ragtime in ihr ansonsten streng segregiertes nächtliches Unterhaltungsprogramm aufzunehmen, unterstützte sie Kampagnen, die gegen jene Orte vorgingen, an denen schwarze Kultur in der Stadt schon länger präsent gewesen war.15 Im Gilded Age ist auch der Beginn der Progressive Era zu verorten, die mit Reformbewegungen gegen Alkohol, Sexarbeit und andere »Laster« der Gesellschaft im Namen des Fortschritts bür-
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Vgl. Kap. I.2. Politiken der Pose. Vgl. Nicholas E. Tawa: Mainstream Music of Early Twentieth Century. The Composers, their Times, and their Works, Westport CT/London 1992, S. 5. Zum kulturellen Nationalismus in der Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den USA und Dvoáks Einfluss vgl. Judith Tick (Hg.): Music in the USA. A Documentary Companion, Oxford UK 2008, S. 308-315; zu klassischer Musik im Transatlantik vgl. Jessica C. E. Gienow-Hecht: Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations, 1850-1920, Chicago/London 2009. In einem autobiografischen Text gibt Cook an, er habe sich nicht besonders gut mit Dvoák verstanden und zudem mit steifen Fingern gekämpft, was seine Einsatzfähigkeit als Violonist im Orchester eingeschränkt habe. Vgl. Cook, Clorindy, S. 61. Vgl. Marva Griffin Carter: Swing Along. The Musical Life of Will Marion Cook, New York 2010. Grand Cake Walk for Charity, in: New York Times, 25. März 1895, S. 3. Die »Monte Relief Society«, die das Wohltätigkeitsfest veranstaltete, war eine jüdische Organisation. Zu den ersten Cakewalk-Wettbewerben 1892 im Madison Square, die massenhaft von weißen New Yorker_innen besucht wurden und sofort im ganzen Land nachgeahmt wurden vgl. Abbott, Out of Sight, S. 205-211.
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gerliche Normen und Werte verordnen wollte.16 Diese Kampagnen führten zu jenen Orten, an denen der Cakewalk schon länger getanzt worden war: dem subproletarischen Milieu der Bowery in der Lower East Side von Manhattan. Fast zwanzig Jahre bevor der Cakewalk zum Modetanz der High Society avancierte, war er bereits in den berüchtigten »dives« der Lower East Side präsent gewesen. 1883 berichtete die New York Times von einem »Grand Scarlet Ball« in McGlory's Armory Hall, an dem mehr als 2000 Männer und Frauen teilnahmen. »The programme embraced a grand cake-walk, which was participated in by 50 colored men and women.«17 McGlory's Armory Hall war eine der größten Tanzhallen der Stadt und galt als ein Treffpunkt von Gangs, Dieben und Prostituierten der Stadtviertel Five Points und Bowery.18 Der Bericht über den Ball schwankt zwischen Faszination und Abscheu: »The waiters were attired in military uniforms, the band was gorgeous with bright buttons and color, every dancer wore a flaming costume, and the electric lights added brilliancy to the revel, which continued with unabated riot until the late hours of the morning.«19
Unter den Zuschauern sei eine Reihe junger Männer aus der besseren Gesellschaft gewesen, die in der »motley throng« etwas deplaziert gewesen seien. Doch alles sei ruhig geblieben, weniger wegen der anwesenden Polizisten, sondern auf Grund der uneingeschränkten Autorität des Gastgebers, dem Verbindungen zur Welt des organisierten Verbrechens nachgesagt wurden. Nach Mitternacht sei eine Gruppe von Prostituierten angekommen: »Decency was thrown to the winds and the most disorderly carnival was enacted.«20 McGlory unterbrach diesen Ball für ein nächtliches Souper im eleganten New Brunswick Hotel mit fünfzig seiner Gäste. Als »queer, drunken procession, headed by a brass band« verursachten sie dort einen Skandal, nicht zuletzt weil unter ihnen Prostituierte und Männer in Frauenkleidern waren.21 McGlory inszenierte mit dem
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Mitglieder der New Yorker Oberschicht finanzierten Organisationen wie Anthony Comstocks Society for Suppression of Vice, die sich für die Zensur von »obszönem Material« einsetzte, vgl. Beckert, Monied Metropolis, S. 263. Revelry Wild and Shameless, in: New York Times, 16. März 1883. Herbert Asbury: Gangs of New York, New York 1928, S. 170-171. Das Buch war die literarische Vorlage zu Martin Scorseses gleichnamigem Spielfilm von 2003. Revelry Wild and Shameless, in: New York Times, 16. März 1883. Ebd. The Famous Banquet at a Swell New York Hotel Given by Bill M'Glory, New York Police Gazette, 11. Januar 1902, S. 3. McGlory hatte schon seit den 1870er Jahren Männer in Frauenkleidern, »fairies«, zur Unterhaltung seiner Gäste engagiert, vgl. George Chauncey: Gay New York. The Making of the Gay Male World, 1890-1940, London 1995, S. 37.
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Besuch in Uptown eine Art »reverse slumming«.22 Der Unternehmer von der Bowery, dem die Polizei angesichts des wachsenden Drucks der bürgerlichen Gesellschaft gegen das Rotlichtmilieu der Stadt immer mehr zusetzte, machte sich damit über den Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft lustig, die Stadt in verschiedene Zonen aufzuteilen und ihre Grenzen polizeilich kontrollieren zu lassen.23 Zugleich brachte er seine Tanzhalle mit solchen Aktionen ins Gespräch, die bald zum Standardprogramm von »slumming expeditions« neugieriger Bürger_innen der besseren Gesellschaft zählte. Slumming war ein kulturelles Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mit dem sich die bürgerliche Oberschicht ein Bild über die Verhältnisse in den ärmeren Vierteln zu machen versuchte. Sie fand dort eine Ökonomie der Unterhaltung vor, die Reformer_innen als Schattenseite der bürgerlichen Doppelmoral angriffen.24 Das verhinderte jedoch nicht, dass immer mehr Menschen diese Orte besuchten. Unter ihnen waren nun auch Jugendliche und Frauen, die kommerziell betriebene, jeden Abend geöffnete Tanzhallen aufsuchten. Auch das Vaudeville öffnete sein Programm für diese Klientel. Für die Jahrhundertwende diagnostizierte die Kulturgeschichte eine »heterosocialization of urban leisure«.25 An immer mehr Orten waren sowohl Frauen wie auch Männer anwesend, um sich unterhalten zu lassen, und nicht mehr wie in der Kultur des Saloons ausschließlich Männer und Prostituierte. »By the turn of the century, the resulting dance halls, nickelodeons, and other sexually integrated amusements had come to rival and, on occasion, even remake the predominantly male atmosphere of the traditional nineteenth-century concert hall and saloon.«26
Die National Police Gazette schrieb 1899, die Bowery sei mittlerweile »simply a resort for people of both sexes – a sort of meeting place.«27 Die soziale Umgebung 22
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Vgl. Chad Heap: Slumming. Sexual and Racial Encounters in American Nightlife, 18851940, Chicago/London 2009, S. 141; allgemein zum Begriff der Zone und zum slumming im Verhältnis zu »black/white sex districts« Mumford, Interzones, S. 133-156. Möglicherweise inszenierte McGlory ein Jahr später sogar seine eigene Verhaftung, indem er zwei Leute als Kläger zur Polizei schickte, die seine Tanzhalle als Ort der Prostitution denunzieren sollten. Bei einer samstäglichen Razzia war diese aber fast leer, nur McGlory und einige Gäste waren anwesend, die vor den Richter geführt wurden, wo die angeblichen Kläger aber nur noch aussagten, dass bei McGlory getanzt werde. Vgl. McGlory Warned of His Arrest, New York Times 28. Januar 1884, S. 8. Vgl. Kap. I.1. Interventionsfeld Tanzfläche. Zu Tanzhallen als Experimentierfelder für neue Frauenrollen um 1900 vgl. Kathy Peiss: Commercial Leisure and the »Woman Question«, in: Richard Butsch (Hg.): For Fun and Profit. The Transformation of Leisure into Consumtion, Philadelphia PA 1990, S. 105117, hier: S. 113. Heap, Slumming, S. 28. Zitiert nach Heap, Slumming, S. 28.
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zu verlassen und dort auszugehen, wo einen niemand kannte, erschien gerade jungen Paaren aus dem Bürgertum attraktiv, so dass slumming zu einem Bestandteil von Ritualen des »datings« wurde.28 Dabei war slumming als Taktik der Camouflage entstanden, in der sich bürgerliche Reformer_innen im Gewand von Vergnügungssüchtigen unter die »revelry wild and shameless« gemischt hatten, um jenes Wissen zu produzieren, das in den folgenden Jahrzehnten zur Schließung der alten Rotlichtviertel in den USA beitragen sollte. Die Praxis produzierte in ihren moralischen Kampagnen gegen »vice« aber jene Texte und Bilder, die nicht nur »armchair slumming« ermöglichten, sondern immer mehr die Lust anreizte, solche Orte mit eigenen Augen zu sehen. Um 1910 waren der forschende und der Vergnügen suchende Slummer nicht mehr voneinander zu unterscheiden.29 In beiden Fällen ermöglichte slumming eine neuartige Praxis, sich in Beziehung zur veränderten Geografie des urbanen Raums zu setzen. Die Reichen waren in neu erschlossene Viertel im Norden Manhattans gezogen, und auch die Arbeiterfamilien folgten oft den Fabriken in die Vorstädte. Zurück blieben die Armen und die Neuankömmlinge, »motley crews of urban ›failures‹«.30 Der schlechte Zustand bestimmter Viertel war zum Teil das Ergebnis von Stadtplanung. Investitionen in neue Geschäftsviertel erzeugten Zonen der Vernachlässigung, weil die Besitzer die Instandhaltung ihrer Häuser hinauszögerten und auf kommende Entscheidungen spekulierten. In der Zwischenzeit versuchten sie, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viele vorübergehende Mieter für die alten Häuser zu finden. New York City war um 1900 ein zentraler Ankunftsort für europäische Migrant_innen. Während diese in einem gewissen Rahmen für integrierbar gehalten wurden, gingen die neuen Experten der Urbanistik von Anfang an davon aus, dass dies bei den erst vereinzelt aus dem Umland zuziehenden Afroamerikaner_innen nicht der Fall sein würde. Schon in den 1890er Jahren begann die Columbia University Forschungsprojekte, die das Scheitern dieses Zuzugs »voraussagten«.31 Die Trennung der Lebenswelten sollte deshalb Wohngebiete ermöglichen, die man als »rassisch homogen« imaginieren konnte. Während viele Neuankömmlinge tatsächlich die Nähe zu ihren alten Landsleuten suchten und sich ethnische Ökonomien der Migration entwickelten, gab es in den Stadtvierteln doch nirgendwo eine solche Homogenität. Segregation entwickelte sich nicht natürlich, sondern erst gewaltsam durch Diskriminierung. 32
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Vgl. Heap, Slumming, S. 111. Heap, Slumming, S. 105 ff. Heap, Slumming, S. 20. Vgl. Marcy S. Sacks: Before Harlem. The Black Experience in New York City Before World War I, Philadelphia 2006, S. 23; S. 58. Vgl. Sacks, Before Harlem, S. 72 ff. Hier sei insbesondere an die Markierung bestimmter »Zonen« für bestimmte Bevölkerungsgruppen erinnert.
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Obwohl es seit Jahrhunderten schwarze Menschen in New York gegeben hatte, verhandelten viele Texte ihre Präsenz wie ein neu hinzugekommenes Phänomen und interpretierten Migration als drohende Kolonisierung der Stadt. Ein Stadtführer für New York riet seinen Lesern, unbedingt die »foreign colonies« der Stadt zu besuchen, neben »Little Germany« auch »Little Africa«. Der Führer behandelte Afroamerikaner_innen in New York wie Migrant_innen aus dem Ausland: Beide Gruppen bewohnten eine Region so fremd wie die »terra incognita« im Inneren Afrikas, behauptete er.33 Die selbsternannten Expert_innen New Yorks beschrieben damit die eigene Stadt in Begriffen einer rassischen Ideologie, die ihre Begriffe den kolonialen Projekten des ausgehenden 19. Jahrhundert entlehnten. Das Bild der »foreign colony« war zwar ironisch gemeint, doch dieser Humor war zugleich aggressiv, denn er zeichnete ein Bedrohungsszenario. Kolonisierung bedeutet, ein Gebiet zum eigenen Vorteil auszubeuten und möglicherweise auch, es den eigenen kulturellen Maßstäben gemäß zu verändern. Wessen Kolonie New York werden würde, war also umkämpft.34 Was die Geschichte des Cakewalk im Transitbereich von New York City so interessant macht, ist die Tatsache, dass die daran beteiligten Akteure den Zusammenhang kolonialer Wissensbestände und nationaler Rassismen reflektierten. Das Musical In Dahomey entstand auf sich überkreuzenden Reiserouten, die über Chicago nach San Francisco und von dort nach Dahomey in Westafrika führten. 1894 sollten auf der Mid-Winter Fair in San Francisco afrikanische Tänzer von der Westküste Afrikas in Dahomey auftreten. Ihre Ankunft verspätete sich jedoch – die Truppe war davor auf der Weltausstellung von 1893 in Chicago aufgetreten und so mussten die Veranstalter in San Francisco in letzter Minute Ersatz suchen. Jemand kam auf eine Idee: Warum nicht einfach Afroamerikaner einstellen und diese als Afrikaner verkleiden? Eine Truppe Vaudeville-Performer wurde angeheuert, unter ihnen Bert Williams und George Walker, der spätere Mann von Aida Overton Walker. Die Truppe versuchte, so primitiv und wild wie möglich zu tanzen. Als die echten Dahomianer eintrafen, wurden die afroamerikanischen Tänzer sofort entlassen, bekamen aber freien Zutritt zu der Ausstellung und damit auch zu den Auftritten der 35 afrikanischen Tänzer. Er sei einer ihrer besten Zuschauer geworden, so Williams. Auch George Walker sah hier einen wichtigen Bezugspunkt für seine spätere Ar33 34
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Heap, Slumming, S. 117. Nach Heap ging es in den Kampagnen gegen Prostitution auch darum, die politische Macht über die Stadt zurückzugewinnen. Die Besitzer dieser Etablissements waren politisch aktiv und hatten enormen politischen Einfluss wegen ihrer guten Kontakte zu Einwanderern, die sie zur Registrierung als Wähler ermunterten. Vgl. Heap, Slumming, S. 47; allg. Richard F. Welch: King of the Bowery. Big Tim Sullivan, Tammany Hall, and New York City. From the Gilded Age to the Progressive Era, Madison NJ 2008. Arthur Todd: Negro American Theatre Dance, 1840-1900, in: Dance Magazine, November 1950, S. 20-21, 33-34.
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beit. Er habe sich vorgenommen, »[to] delineate and feature native African characters as far as we could, and still remain American, and make our acting interesting and entertaining to American audiences.«36 Das Musical In Dahomey verarbeitete diese eigentümliche Begegnung Jahre später. George Walker trat als verkleideter Afrikaner auf, geschmückt mit Halsketten aus Muscheln und Tierzähnen, bewaffnet mit Schild und Speer.37 Der Plot erzählt eine verwickelte Geschichte, die von Florida über New York nach Westafrika führt. Ein Unternehmen verspricht der ahnungslosen Bevölkerung einer ländlichen Kleinstadt Gewinne, wenn sie in die Kolonisierung Dahomeys investiert. Tatsächlich sind es aber nur Gauner, die ihnen das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Die Mission scheitert und am Ende kehren alle nach Florida zurück, die Möglichkeit einer »Rückkehr« nach Afrika wird als unmöglicher Versuch dargestellt, die Geschichte zurückdrehen zu wollen.38 Europäischer Kolonialismus in Afrika, die ambivalenten Erfahrungen der American Colonization Society in Liberia, der wachsende Widerstand der Kolonisierten, wie er insbesondere in der Schlacht von Adua 1896 virulent geworden war, als äthiopische Truppen Italien besiegten – implizit rief das Musical all diese Themen auf, die in der afroamerikanischen Presse im ausgehenden 19. Jahrhundert ausführlich diskutiert wurden. Wer damit nichts zu tun haben wollte, konnte das Geschehen aber auch als exotisch-absurdes Spektakel wahrnehmen. Sensibleren Beobachter_innen konnte das hier inszenierte dystopische Verhältnis zu Afrika allerdings nicht verborgen bleiben. »Behind the curtain of drag in In Dahomey there lies a stunning critique of the romantically essentialized notion of the »dark continent« which perpetuated and enabled imperialist ideology in the late nineteenth and early twentieth centuries.«39
Das Stück zielte nicht auf die Repräsentation von »Afrika« ab, wie dies in Völkerschauen der Fall war, sondern kommentierte und überzeichnete das Begehren, Afrika im Prozess der Erforschung und Eroberung zu identifizieren und mit Authentizität auszustatten.40 Die eigene Erfahrung, sich als Afroamerikaner plötzlich in der Verkleidung eines Afrikaners wiederzufinden, wurde so offensiv in eine selbstreflexive Aufführung übersetzt. Während afroamerikanische Musiker_innen um 1900 erstmals den Broadway eroberten, wurde ihre Position in den alltäglichen Auseinandersetzungen um Ras36 37 38 39 40
George Walker: The Real Coon on the American Stage, in: Theatre Journal 1906 6 (65): S. 224-226. Vgl. Clipping File In Dahomey, Schomburg Center for Black Culture, New York Public Library. Vgl. Riis (Hg.), Music and Scripts. Brooks, Bodies in Dissent, S. 263. Brooks, Bodies in Dissent, S. 267.
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sismus zunehmend prekär. Einerseits versuchten Mitglieder der schwarzen Mittelschicht, der Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt etwas entgegen zu setzen und in bessere Viertel zu ziehen, wie die Tenderloin nördlich von Little Africa. Doch als dort 1900 ein kürzlich aus Virginia via Washington und Jersey City nach New York gezogener alter Afroamerikaner einen weißen Polizisten in Gegenwehr erstach, begann drei Tage nach dem Vorfall ein »race riot«. Weiße New Yorker griffen ihre schwarzen Nachbarn an; diese wehrten sich, sofern sie Zeit gehabt hatten, sich zu bewaffnen. An den Angriffen waren zum Teil Polizisten selbst beteiligt, viele schauten teilnahmslos weg oder verprügelten und verhafteten die Angegriffenen, die sich wenig später vor Gericht wieder fanden.41 Auch George Walker, der Bühnen- und Ehepartner von Aida Overton Walker wurde attackiert und entkam nur knapp dem mordenden Mob.42 Der afroamerikanische Schriftsteller und Zeitgenosse des Geschehens James Weldon Johnson erinnerte sich 1930 in seinem Buch Black Manhattan, der Mob habe es speziell auf die neuen Stars der Populärkultur abgesehen gehabt: »the cry went out to ›get Ernest Hogan and Williams and Walker and Cole and Johnson‹.«43 Mit den Angriffen auf schwarze Bürger_innen waren die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen in New York an einem Tiefpunkt angelangt. Ein solches Maß an rassistischer Gewalt dort war seit dem Bürgerkrieg nicht mehr beobachtet worden. Es wird häufig damit erklärt, dass immer mehr Afroamerikaner_innen in ›weiße‹ Wohnviertel ziehen wollten. Doch erst die Verbindung von Alltagsrassismus mit strukturellem und institutionellem Rassismus im Wohnungsmarkt und bei der Polizei führte dazu, dass sie so angreifbar wurden. Vorher hatte die Selbstbehauptung schwarzer Bürger_innen im Alltag zu anderen Formen von Auseinandersetzung geführt. Die Cakewalk-Wettbewerbe der 1870er und 1880er Jahre, auf die ich im Folgenden eingehen werde, belegen dies eindrücklich. Die New York Times verfolgte diesen Prozess halb interessiert, halb herablassend und ironisch. Sie hatte nicht nur die schwarzen Cakewalker genauestens im Blick, sondern beobachtete auch das wachsende Interesse ihrer Nachbarn an diesen Zusammenkünften. Der Blick war ironisch distanziert. »They were all rather brown as to complexion, and nearly all rather light as to dress. The first lady to enter the arena was Miss Gray, a young American lady of African descent, magnificently attired in a dress of white satin [...].«44 41 42 43 44
Vgl. Sacks, Before Harlem, S. 40-41. Vgl. New York Journal, 9. Januar 1900, abgedruckt in Sampson, Ghost Walks, S. 221. Vgl. James Weldon Johnson: Black Manhattan, New York 1930, S. 127. Walking For The Cake, in: New York Times 23. 12. 1877. Der Cakewalk fand im »Hippodrome, alias Gilmore's Garden, alias the Great London Circus« statt. 1875 hatte der Irisch-Amerikanische Musiker Patrick Gilmore P.T. Barnum's Hippodrome gemietet und in Gilmore's Garden umbenannt, vgl. Tick, Music, S. 266.
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Ebenso aufmerksam dokumentierte der Artikel in der New York Times die Handlungen der Zuschauer_innen. Ein Paar wurde als »Mr. George Anderson and lady« vorgestellt, woraufhin die Menge rief: »Name, name! What's her name?« Als die Tänzerin ihren Namen nannte, reagierte die Menge mit »yells, cheers, and cat-calls, and the couple were [sic] greeted with shouts of laughter.« Das Publikum hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, die Teilnehmer zu verunsichern, die ihrerseits versuchten, durch nichts ihre stolze und unnahbare Haltung zu verlieren. »It was said that Miss Brown could hold her head higher and carry a more disdainful expression than any of the others, but this was contested by several of her competitors.« Den Preis sollte das Paar bekommen, »showing the greatest elasticity of limb, combined with the greatest sense of motion.« Miss Brown und ihr Partner zeigten den »latest approved style«, der das Publikum begeisterte: »The bones and muscles of the walking couple seemed to fit admirably into the grooves and notches of this Moody and Sankey tune, and they made excellent time.«45 Am Ende der Veranstaltung, als die drei Preise – eine Silberuhr, ein Spazierstock mit einem Goldknauf und ein Kuchen – vergeben wurden, verlangte das Publikum nach einer Rede: »Mr. Ray [der erste Preisträger] accordingly stepped forward and made an excellent address of about 15 seconds' [sic] duration,« in der er geschafft habe, nicht auf den Krieg in der Türkei oder die Remonetisierung von Silber zu sprechen zu kommen.46 Leider sei die Rede so leise gewesen, dass sie jenseits der Arena gar nicht gehört werden konnte, sie sei deshalb »lost to posteriority«.47 Trotz der herablassend-ironischen Gesten war der Artikel voll Details und Aufmerksamkeit für das »ole Virginny Entertainment«, das in der Stadt noch recht neu erschien.48 Er belegt, dass zwischen Zuschauerraum und Bühne eine intensive Kommunikation herrschte, nicht nur durch Tanz, sondern auch Zwischenrufe, Pfiffe und gar Reden. In der darauf folgenden Woche gab die New York Times ein angeblich mitgehörtes Gespräch zwischen zwei Teilnehmern wieder. Sie hätten versucht, möglichst eloquent miteinander zu sprechen, ihr Vokabular aber nicht richtig beherrscht. Ihre elegante Haltung wird als Farce vorgeführt. Die manierierte Ausdrucksweise des Textes imitiert diese Übertreibung. Als der Gewinner der letzten Woche stolz seinen Spazierstock mit Goldknauf vorführte, macht sich der Artikel darüber lustig: »[H]is tread was that of an Emperor – an Emperor of Barbary«. Am
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Dwight Moody war ein Prediger und hatte zusammen mit Ira Sankey in den 1870er Jahren eine populäre Sammlung mit weißen Gospelliedern herausgegeben. Der Artikel verweist hier auf den Krieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich 1877-1878 und die Debatten um Geldpolitik, die angesichts ökonomischer Krisen die Tagespolitik beschäftigten. Walking For The Cake, in: New York Times, 23. 12. 1877. »Ole Virginny« bezieht sich auf den Bundesstaat Virginia. Vgl. Walking For The Cake, in: New York Times, 23. 12. 1877, S. 2.
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Ende des Textes kamen die Cakewalker selbst zu Wort. Ein neugieriger Besucher fragte einen Tänzer, warum er sich das antue, »walking here for cakes just to be laughed at?« Die Antwort sei kurz und knapp ausgefallen: »Two dollars a night.«49 Der Artikel mobilisiert Klassenrassismus und führt die Teilnehmer_innen des Cakewalks als lächerliche Nachahmer einer Kultur der Oberschicht vor. Cakewalks waren auch beliebte Einlagen in Wohltätigkeitsveranstaltungen. In einer afroamerikanischen Sonntagsschule in Harlem tanzten ihn die Besucher_innen eines solchen Festes 1886: »[A]s many white persons as colored ones took deep interest in it.«50 Damit waren aber wahrscheinlich nur die Zuschauer_innen gemeint. Ein Artikel wenige Monate zuvor in der New York Times belegte, dass solches Mittanzen nicht unproblematisch war. Wieder waren die Zuschauerränge voll, diesmal explizit mit »white spectators«. Wieder ließen sich die Teilnehmer_innen in der ersten Parade durch die Pfiffe und Rufe des Publikums nicht aus der Ruhe bringen. Doch dann passierte etwas Ungewöhnliches: ein Gerücht machte die Runde, dass einer der Teilnehmer »Maurice Jacobs, the poultry dealer of Barclay Street« sei. Er habe sich seine »dusky complexion« zunutze gemacht und sich unerkannt unter die Cakewalker gemischt. Die anderen protestierten: »it was bad enough to have a white band; it was bad enough to have all the Irish of the Ninth Ward crowded in the galleries, but it was too much to have a white man try to win the cake.« Jacobs lenkte ein, als ein Tumult losbrach, der sogar die Musik übertönte. Zur Versöhnung bot er eine Runde Freibier an, was die Gemüter beruhigte. Am Ende hielt einer der Preisträger, »the Jersey champion«, bei der Preisverleihung eine Rede: »Butchers, bakers, and produce men, I shall always have a vacant spot in my heart for you.« Die Menge habe das als Kompliment verstanden, ihm zugejubelt und weiterge51 tanzt. Die Geschichte dokumentiert, dass eine an Körpermerkmalen festgemachte Color Line im urbanen Alltag einer Stadt wie New York eine Fiktion war. Rein äußerlich waren viele Amerikaner_innen europäischer Herkunft nicht von Afroamerikaner_innen zu unterscheiden. Die hier erzählte Geschichte des passings for black verkehrte das in den Gewaltverhältnissen der Segregation tatsächlich nahegelegte passing for white. Diese Möglichkeit, als Weiße zu leben war an die Bedingung geknüpft, die eigene Herkunft zu verschweigen und den Kontakt zu Familie und Community abzubrechen. Während die Kinder und Enkel von Sklaven ihre Bürgerrechte vierzig Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei mehr und mehr beschnitten sahen, sahen sich
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Miscellaneous City News. High Steppers in Competition, in: New York Times, 30. 12. 1877, S. 7. Walking For a Cake, New York Times, 23. Juli 1886, S. 2. Intruding at a Cake Walk, New York Times, 26. Februar 1886, S. 2.
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europäische Migranten eingeladen, möglichst schnell weiß zu werden.52 Die Berichte über den Cakewalk zeigen jedoch, dass es Räume und Situationen gab, in denen sich diese Neuankömmlinge in der Stadt aufeinander bezogen haben, in einer Mischung aus Neugierde, Begehren, Rassismus und Gewalt. Aus bürgerlicher Perspektive war der Cakewalk deshalb lange mit Unordnung und Aufruhr assoziiert. Die Verhältnisse waren angespannt, aber umkämpft, offen und reversibel. Erst in Verbindung mit institutionellem Rassismus und staatlicher Macht gerieten sie in jene Sackgasse urbaner Segregation, die das 20. Jahrhundert kennzeichnete. George Chauncey zeigt in Gay New York für das ausgehende 19. Jahrhundert, dass die proletarischen Viertel Manhattans gegenüber Außenseitern relativ tolerant waren, was nicht heißt, dass sie dort respektiert worden wären. Aber sie waren Teil eines konfliktreichen Alltags und niemand fühlte sich verantwortlich, sie im Namen der Gesellschaft umzuerziehen oder unsichtbar zu machen.53 Der Cakewalk war Teil dieser Auseinandersetzungen in einer zutiefst opportunistischen und materialistischen Welt. Dass sich Afroamerikaner_innen so extravagant anzogen und in virtuos choreografiertem Einherschreiten demonstrierten, dass sie ebenso elegant und weltmännisch auftreten konnten, wie die Mitglieder der Oberschicht, interessierte und provozierte ihre proletarischen Nachbarn. Die Galerie eines Tanzsaales sei so voll mit weißen Zuschauern gewesen, dass sie förmlich überquoll. Ihr einziges Interesse sei jedoch gewesen, »to break up the whole cake walk, and this intention is frustrated only by the superior numbers of the African race and their promptness with the lethal razor.«54 Um solche Fälle zu verhindern, regelten andere Veranstaltungen den Zugang, wie die New York Times von einem Cakewalk in den Germania Assembly Rooms berichtete. In den ebenfalls in der Bowery angesiedelten Räumlichkeiten fand bis Mitternacht ein Ball statt, den ausschließlich »representatives of the colored race« besuchten, der dann aber zu einem »old-fashioned cake walk in all its gravity« für alle Besucher geöffnet wurde, die bis zum Morgen tanzten.55 Fragmentarisch dokumentieren diese Artikel aus den 1880er Jahren den urbanen Entstehungskontext des Modetanzes. Das Spannungsverhältnis von Rassismus und Widerstand, das den Cakewalk seit seiner Entstehung im Kontext der Sklaverei gekennzeichnete hatte, aktualisierte sich im Prozess der Migration und wurde auf neue Art und Weise sichtbar und hörbar. Dass es im Cakewalk nicht nur um Komik und Übertreibung, sondern auch um Haltung und Eleganz ging, wollten viele der weißen Zuschauer nicht anerkennen. Unterscheidungen von »old-fashioned« Cakewalks und anderen, neueren Entwicklungen bildeten sich heraus. Es gab Auseinanderset-
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David Roediger: Working Towards Whiteness. How America's Immigrants Became White, New York 2005. Chauncey, Gay New York, S. 58. The Cake Walk, in: New York Times, 18. Februar 1892. Walkin' fo' de cake, in: New York Times, 11. Januar 1883.
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zungen, die teils verbal, teils körperlich ausgetragen wurden. Manche Veranstalter afroamerikanischer Cakewalks regelten sie durch je spezifische und zeitlich begrenzte Zugangsbeschränkungen, damit die intervenierende Schaulust ihrer neugierigen Nachbarn nicht die ganze Veranstaltung bestimmte. Doch sie schlossen diese nicht kategorisch aus und die Räume, in denen in den 1890er Jahren Cakewalks getanzt wurden, waren – anders als die Theater auf dem Broadway, wo wenig später In Dahomey reüssierte – nicht formal segregiert.56 1895 trugen die Gewinner lokaler Cakewalk Wettbewerbe im ganzen Land ein »National Championship« im Madison Square Garden in New York aus, ein Ereignis, das 5000 Zuschauer »of all grades and conditions in society« besuchten. Doch immer noch galt: »Only colored folks participated in the entertainment«, das heißt nur schwarze Tänzer_innen traten an.57 Schließlich veröffentlichte die New York Times wenige Wochen später einen Artikel über einen Cakewalk auf einem weißen Wohltätigkeitsfest.58 Die Tänzer hätten ihre Gesichter und Hände geschwärzt, »befitting the characters they assumed.«59 Sie legten sich falsche Namen zu und traten als Bewohner_innen von »Little Africa« auf. Sie betrieben also einigen Aufwand, um in dieser sich urbanisierenden Form der Unterhaltung die Position zu wechseln und selbst zu Cakewalker_innen zu werden. Die stereotypen Masken, die sie dabei auflegten, sollten die Distanz sicherstellen, die sie in den Körperbewegungen zugleich in Frage stellten. Bald stellten sich neue Fragen. Wäre es möglich, im selben Wettbewerb gegeneinander anzutreten?60 Schließlich sollte die Logik der Segregation den Wettbewerb zwischen Schwarzen und Weißen gerade verhindern. Gleichzeitig mit dem Tanzen entwickelte sich um 1900 das Boxen zu einer spektakulären Bühne, auf der Männlichkeit als sozialdarwinistisch aufgeladene »Rassenfrage« behandelt wurde.61
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Vgl. zur Aufteilung von Zuschauerräumen am Broadway in Zonen entlang der Color Line um 1900 vgl. Krasner, Resistance, S. 43-74, zu Aufführung von In Dahomey besonders S. 68. The Farrels Took The Cake, in: New York Times, 3. März 1895. Die Monté Relief Society, die das Fest veranstaltet hatte, unterstützte unter anderem Arme in der Lower East Side, vgl. Saved from Starvation, in: New York Times, 24. April 1895, S.16. Grand Cake Walk for Charity, in: New York Times, 29. März 1895. Im Cakewalk wurden häufig »challenges« ausgesprochen, denen selbstverständlich Satisfaktion geboten werden musste, wollte der Herausgeforderte nicht das Gesicht verlieren, vgl. Hammerstein Testimonial, New York Times, 20. Juni 1898; Georg Walker nahm den Mechanismus beim Wort und forderte im selben Jahr den Multimillionär William K. Vanderbilt heraus, nach Krasner ein »publicity stunt«, der ihm zwar keine Antwort von Vanderbilt, jedoch mediale Aufmerksamkeit bescherte. Krasner, Resistance, S. 79. Vgl. Thomas R. Hietala: The Fight of the Century. Jack Johnson, Joe Louis, and the Struggle for Racial Equality, Armonk NY 2002; Geoffrey Ward: Unforgivable
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Im Februar 1897 gab es einen Wettbewerb in Wendel's Assembly Rooms auf der West 44th Street in der Tenderloin, wo drei Jahre später der riot ausbrechen sollte. »Colored people are not the only ones interested in the stately manoeuvres of the cakewalk,« bemerkte die New York Times.62 Über tausend Begeisterte hätten sich zusammengefunden, und zwei Drittel seien Weiße gewesen. »And they cheered as loudly and protested as strongly over the decision of the judges as those who have come to regard the cakewalk as their peculiar pastime.«63 Doch das eigentümliche Freizeitvergnügen war im Begriff, zu einer gemeinsamen Sache zu werden: »All eyes [...] were centred on the second couple. They were Hugh Starr and lady, the only white couple in the walk.« Sie hätten kürzlich einen Wettbewerb gewonnen, »at an affair of the kind given by white people« und wollten sich jetzt mit den wahren Liebhabern des Tanzes messen. Ihr Kostüm zeichne sie dafür schon einmal aus, so der Artikel ironisch und beschreibt einen eher clownesken Aufzug des Tänzers, der die häufig extravagante Farbauswahl schwarzer Cakewalker übertreiben wollte. Diese Tendenz der Übertreibung setzte sich auch auf der Tanzfläche fort. »[The white couple] threw out their chests, had their heads well back, looked up, and stepped high – things to be remembered in fancy cake walking.« Die anderen hätten sich davon aber nicht beeindrucken lassen und behielten Recht, denn das Tanzpaar wurde disqualifiziert. »[N]othing but straight walking, or square heel-and-toe, was to be considered.«64 Wie es scheint, hatte das Tanzpaar etwas missverstanden. Es ging nicht darum, möglichst verrückt zu tanzen oder den Clown zu geben, sondern der Cakewalk hatte System. In einer feierlichen Prozession absolvierten die drei verbliebenen Paare im Finale ihren letzten Tanz. Die Artikel in der New York Times belegen die Entstehung des Cakewalks aus dem spannungsgeladenen Alltag des urbanen Zusammenlebens. Die Wettbewerbe affirmierten und intensivierten die Auseinandersetzungen um Sichtbarkeit, Respekt und Konkurrenz und verschoben sie zugleich auf ein anderes Terrain, auf dem eigene Regeln und Gesetze galten. Kritische Beobachter_innen in der afroamerikanischen Community standen der Dynamik jedoch skeptisch gegenüber.65 Und tatsächlich scheinen sich viele deshalb vom Cakewalk angesprochen gefühlt zu haben, weil sie damit aus der Rolle fallen konnten. Sie konnten oder wollten die Spannung
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Blackness. The Rise and Fall of Jack Johnson, New York 2004; John Bloom/Michael Nevin Willard: Out of Bounds and between the Lines. Race in Twentieth-Century American Sport, in: dies. (Hg.): Sport Matters. Race, Recreation and Culture, New York 2002, S. 1-10. Walking for a Cake, in: New York Times, 7. Februar 1897, S. 2. Mit »the Souths peculiar institution« war im 19. Jahrhundert euphemistisch und apologetisch die Sklaverei gemeint. Hier lässt sich also auch eine implizite Referenz auf die Zeit der Sklaverei oder die aus ihr erwachsenen »Eigentümlichkeiten« vermuten. Walking for a Cake, in: New York Times, 7. Februar 1897, S. 2. Vgl. Kap. I.3. Umkämpftes Erbe.
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von Eleganz und Ausgelassenheit, die Balance in der Schieflage nicht halten. Doch für afroamerikanische Künstler_innen wie Aida Overton Walker eröffnete sich in der Nachfrage nach dem Cakewalk und dem Streit um die Frage, wie er denn richtig zu tanzen sei, ein strategisches Potential für Intervention und Selbstartikulation. Walker lehnte den »fancy cakewalk« als Clownerie ab, zog sich aber nicht auf die Position zurück, ein »Original« zu vermitteln, sondern entwickelte den Tanz weiter. »[The] present cakewalk has been developed by the younger generation. It has less of the oldtime dignity and stiffness and more of grace and suppleness. It is devoid of the extravagant features of the earlier period. Good form no longer permits a woman to place her foot on her partner's knee to have her shoe tied. The flourishing of handkerchiefs and that kind of coquetry is no longer popular with those who have developed the modern cakewalk.«66
Als Paartanz überzeichnete der Cakewalk nicht nur die Haltungen und Steifheit des europäischen Gesellschaftstanzes, sondern auch ein kokettierendes Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Wie bereits angedeutet, war seine Popularität aus der Sicht der afroamerikanischen Mittelschicht alles andere als unproblematisch, nicht nur wegen seiner Herkunft aus der Sklaverei, sondern auch wegen der Sichtbarkeit von Frauen. Während Minstrel Shows fast ausschließlich von männlichen Schauspielern vorgeführt worden waren, brachten die Revuen der 1890er Jahre mehr und mehr schwarze Frauen auf die Bühne. Viele Kommentatoren assoziierten die Theaterbühne in der Tradition des Bürgertums im 19. Jahrhundert mit Prostitution. Aida Overton Walker intervenierte in diesen Auseinandersetzungen und kämpfte um ihre Position als Schauspielerin und Tänzerin. Eine schwarze Frau auf der Bühne werde vom weißen Publikum ohnehin als anzügliche Witzfigur behandelt, argumentierte sie. Die moralischen Bedenken gegenüber dem Theater bestätigten diesen Ausschluss, anstatt ihn in Frage zu stellen.67 Walker griff diesen Ausschluss nicht nur verbal an, sondern nutzte den Cakewalk ganz praktisch, um ihn zu durchbrechen. Aus den widersprüchlichen Anforderungen und Projektionen, denen sie sich auf der Bühne ausgesetzt sah, kreierte sie als Choreografin einen modernen Cakewalk, der
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Clipping file »Williams and Walker«, Billy Rose Theatre Collection, New York Public Library for the Performing Arts. Weil diese Sammlung von unidentifizierten Zeitungsartikeln zwischen meinen Fingern zerfiel, zitiere ich im Folgenden aus Krasner, Resistance, der sie offenbar in noch lesbarem Zustand vorgefunden hat. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. Aida Overton Walker: Colored Men and Women on the Stage, in: Colored American Magazine 1905 (Oktober): S. 571-575. Der Artikel wurde aus dem afroamerikanischen Indianapolis Freeman nachgedruckt, wo der Erfolg des Cakewalks kritisch verfolgt wurde und Walker sich selbst zu Wort meldete, vgl. Sampson, Ghost Walks, S. 371-372.
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auf Subtilität setzte: »The step of the Cakewalk is light and elastic, after it has been learned, fancy steps may be practiced.«68 Mit dem Durchbruch des Cakewalks in der New Yorker high society ging also zugleich seine Veränderung einher. Walker schaffte die Flirtrituale zwischen Mann und Frau ab, die sie als Frau auf der Bühne behinderten. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Schüler_innen die richtige Art zu gehen beizubringen und den eigenen Schwung zu finden. Die Rekontextualisierung der Bewegungen bot ein Gefühl von Sicherheit, um die im Cakewalking nötige Spontaneität und lustvolle Improvisation zum Ausdruck bringen zu können. Statt Schritte nachzuahmen und Schritte zu erfinden, sollten die Tänzer_innen ihren eigenen Stil als Mischung aus Leichtigkeit und Elastizität finden. Walker setzte das im Cakewalking verkörperte Wissen selbstreflexiv ein, als Möglichkeit, in und gegen die gesellschaftlichen Schranken und Begrenzungen etwas Neues zu entwickeln. Diese Dimension des Unbestimmten und die Logik der Selbsterfindung waren für urbane KulturkonsumentInnen äußerst attraktiv. Der Cakewalk wurde so für einen Augenblick zum Angebot einer gemeinsamen Sprache.69 Damit ist nicht gemeint, dass sich die Menschen in dieser Sprache gut verstanden hätten, sondern dass sie ihnen Handlungsräume eröffnete: Die Oberschicht eignete sich Formen der Unterhaltung an, die sie als elegant, aristokratisch und althergebracht verstand und mit denen sie sich zugleich einem europäischen Vorbild gegenüber als distinkt amerikanisch positionieren konnte. Afroamerikanische Tänzer_innen hingegen kamen über lokale Cakewalk-Wettbewerbe zu fahrenden Varieté-Truppen und auf diesem Weg nach Chicago, New York und nach Europa. Während Aida und George Walker nach ihrem Auftritt in England bald in die USA zurückkehrten, wo sie sich bereits einen Namen gemacht hatten, blieben viele der weniger bekannten Künstler in Europa und gingen dort oft jahrelang auf Tournee. In den USA wiederum führte der auch international beachtete Erfolg schwarzer Künstler_innen zu einer wachsenden Akzeptanz des Theatergewerbes in der eigenen Gesellschaft.70 Zwar musste sich Walker mit Sylvester Russell, einem der ersten Theaterkritiker für eine schwarze Zeitung, darüber streiten, ob ihre Popularität an den Verhältnissen wirklich etwas verändern würde.71 Doch Russell selbst profitierte von der Prominenz schwarzer Entertainer, die ihm als Journalisten die Politisierung des 68 69
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Vgl. das Interview mit Aida Overton Walker von Constance Beerbohm, in: The London Tatler, 1. Juli 1903, S. 13, zitiert in: Brown, Babylon Girls, S. 133. Vgl. auch David Krasner: Rewriting the Body. Aida Overton Walker and the Social Formation of Cakewalking, in: Theatre Survey 1996 37 (2): S. 66-92; ders.: A Beautiful Pageant. African American Theatre, Drama and Performance in the Harlem Renaissance, 1910-1927, New York 2002, S. 63 ff; zu Aida Overton Walkers späteren Erfolgen als Salome vgl. Brooks, Bodies in Dissent, S. 326 ff; Brown, Babylon Girls, S. 180ff. Vgl.Walker, Colored Men. Vgl. Krasner, Resistance, S. 85.
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Feldes ermöglichten. Er begann in seinen Artikeln die Verwendung von Begriffen wie »Coon« und »Nigger« in der Populärkultur anzugreifen.72 Während für manche der Cakewalk eine Ausweitung ihres Handlungsspielraums und Aktionsradius bedeutete, nutzten ihn andere, um rassistische Stereotype festzuschreiben. Wie Brooke Baldwin betont, zirkulierten um 1900 eine Unmenge an Karikaturen, die Afroamerikaner_innen bei ihrer angeblichen »favourite pastime« zeigten und den Cakewalk mit Sklaverei und kindisch-unzurechnungsfähigem Verhalten assoziierten. Die Balance von Eleganz und Parodie, von Aneignung und Eigensinn wurde systematisch zugunsten von häßlichen und plumpen Figuren aufgelöst. 73 Doch in den Wettbewerben vor Ort schuf der Cakewalk Situationen, in denen die Color Line für Momente ins Rutschen geriet. Vor dem Hintergrund der sich ausschließenden Kategorien von schwarz und weiß, von bürgerlich und proletarisch entwickelte er eine Haltung, die gesellschaftliche Anforderungen als widersprüchlich und ambivalent kennzeichnete. Sie kam bald nicht nur irischen und deutschen Einwander_innen in der Lower East Side, sondern auch den Bewohner_innen der Upper West Side amerikanisch und modern vor. Die Teilnehmer_innen an Cakewalks setzten sich in diesen Wettbewerben den kritischen Augen eines Publikums aus, das ihnen häufig nicht gewogen war. Die Stimmung war zwar sicher nicht immer so aufgeladen, wie in den 1870er und 1880er Jahren, als weiße Zuschauer_innen die schwarzen Tänzer_innen systematisch verunsichern wollten. Doch die Fähigkeit, das Lachen der anderen zu ertragen und trotzdem über sich selbst zu lachen, verlangte der Cakewalk allemal, gerade auch von den ersten weißen Nachtänzer_innen vor schwarzem Publikum.74 Diese Fähigkeit konnte um 1900 auch in anderen Institutionen der Massenunterhaltung eingeübt werden. In den technisch immer ausgefallener werdenden Fahrund Belustigungsgeschäften auf Jahrmärkten, die wie Coney Island das ganze Jahr über geöffnet waren, ging es häufig darum, sich vor den Augen anderer Besucher_innen in Situationen zu bringen, die im Alltag peinlich oder beschämend gewesen wären. Mehrstöckige Aufbauten, die zwischen Spiegelkabinett und Geisterbahn schwankten, forderten die Orientierungs- und Balancefähigkeit der Teilnehmer_innen nicht nur heraus, sondern setzten sie auch den Blicken der draußen verbliebenen Besucher_innen aus. Gebläse wirbelten Röcke in die Luft, unsichtbare Laufbänder sprangen plötzlich an. Die Attraktion bestand nicht zuletzt darin, Verantwortung abzugeben und das chaotische, offensichtlich ungerechte Geschehen über sich ergehen zu lassen, dabei auch unverhofft und ungefährlich in die Arme wildfremder Menschen zu fallen und Momente der Intimität zu erleben, die ohne
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Vgl. Sampson, Ghost, S. 282-283. Vgl. Baldwin, Cakewalk. Vgl. Kap. III.
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moralische Konsequenzen blieben.75 Eines dieser Belustigungsgeschäfte trug den Namen Cakewalk.76 Der Cakewalk stellte um 1900 eine Verbindungslinie von subproletarischem Milieu, den Auseinandersetzungen um Migration entlang der Color Line und der entstehenden Unterhaltungsindustrie rund um den Broadway her. Auch im weiteren Verlauf der Dynamik von Modetänzen spielte New York eine Rolle als Schnittstelle von Tanzflächen und Theaterbühnen. Tanzen war Anfang des 20. Jahrhunderts in Städten wie New York die meistbesuchte Form proletarischer Unterhaltung. Tanzhallen hatten damals mehr Besucher_innen als Kinos, Theater oder Varietés.77 Ihre Zahl wuchs zwischen 1890 und 1905 um die Hälfte. Viele waren jeden Abend geöffnet und finanzierten sich in erster Linie über den Verkauf von Alkohol. Die meisten lagen rund um die Mietskasernen der Einwanderer auf der Lower East und der Lower West Side von Manhattan. Daneben gab es Hochzeitsbälle, »Bohemian Peasant Balls« oder Bälle deutscher »landsmanschaft[en]«.78 Auch Afroamerikaner_innen aus dem Süden tanzten nicht nur bei Cakewalk-Wettbewerben, sondern auch in Tanzhallen wie dem Jungles Casino, »some kind of rathskeller«, wie es der afroamerikanische Pianist James P. Johnson nannte, der dort im Winter 1912/13 Klavier spielte.79 Offiziell war der Ort eine Tanzschule, weil es für Afroamerikaner schwer war, eine Lizenz für eine Tanzhalle zu bekommen. »There were dancing classes all right, but there were no teachers. The »pupils« danced sets, two-steps, waltzes, schottisches, and »The Metropolitan Glide«, a new step. I played for the regulation dances, but instead of playing straight, I'd break into a rag in certain places. The older ones didn't care too much for this, but the younger ones would scream when I got good to them with a bit of rag in the dance music now and then.«80
Johnson nennt hier drei verschiedene Dynamiken: das Nebeneinander europäischer Paartänze mit afroamerikanischen Solotänzen; die älteren Leute, die nichts von synkopierter Musik hielten; und die jüngeren Besucher_innen, die ihn begeistert anfeuerten, wenn er seine rhythmischen Improvisationen anbot. Sie hätten »sets, cotil75
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Vgl. die Analyse von Steeplechase Park, einem 1897 auf Coney Island eingerichteten Amusement Park in Judith A. Adams: The American Amusement Park Industry. A History of Technology and Thrills, Boston MA 1991, S. 40-45. Vgl. auch Kap. III.2. Nye, Saturday Night, S. 15; vgl. allgemein auch Lewis A. Erenberg: Steppin' Out. New York Nightlife and the Transformation of American Culture, 1890-1930, Westport CT/London 1981. Peiss, Cheap Amusements, S. 90. Davin, Johnson, S. 11-12. Davin, Johnson, S. 11-12.
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lions and cakewalks« getanzt, um ihre besten Tanzschritte vorführen zu können.81 Sie brachten sich neue und alte Gesellschaftstänze bei, tanzten sie aber, wie im ersten Zitat belegt, »wild and comical«. Der »Schottische« war eine Art langsame Polka aus Böhmen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern und in den USA populär war. Johnson verweist in seinem Gebrauch deutscher Begriffe implizit auf die Nähe zur deutschsprachigen Community von Migrant_innen in New York.82 Die wiederum nahmen in ihren deutschsprachigen Komödien ihrerseits Cakewalk, Ragtime und Coon Songs als amerikanische Elemente auf und kombinierten sie mit Tänzen aus der »Heimat«.83 Die Tänzer_innen im Jungles Casino fügten breaks und Posen in die europäischen Vorlagen ein, die ihnen die Möglichkeit für Improvisation gaben. Johnson beobachtete auch das »spieling«, das in den von Migrant_innen besuchten Tanzhallen beliebt war.84 Doch während der Walzer ein genaues Austarieren der Balance und viel Selbstkontrolle verlangte, ging es beim »spieling« darum, Schwindel zu erzeugen. »The spieling dance [...] was performed not with self-control, but as a dance out of control, its centrifugal tendencies unchecked by proper dance training or internalized restraint.«85 Wie es scheint, war die Haltung weniger aufrecht als beim Walzer und der Schwerpunkt nicht nach hinten, sondern nach vorne verlagert. Der Mann habe seinen Rücken gekrümmt, um sein Kinn auf die Schulter seiner Partnerin zu legen, berichtete ein Besucher eines Tanzhauses auf Coney Island.86 Neben »spieling« gab es in den proletarischen Tanzhallen auch das »tough dancing«, das nach 1905 populär wurde. Dieser Tanzstil kombinierte Elemente afroamerikanischer Tänze, insbesondere die Bewegung der Hüften aber auch der Schultern, Arme und Hände, die flexiblen Knie und Ellbogen, mit einer immer enger werdenden Paarhaltung.87
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Davin, Johnson, S. 12. Sie machte 1880 mit 370 000 Einwohnern rund ein Drittel der Bevölkerung der Stadt aus und wuchs bis 1900 durch Eingemeindung auf knapp 750 000 an, was im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nun aber etwas weniger als ein Drittel ausmachte. Vgl. Standley Nadel, Germans, in: Kenneth T. Jackson (Hg.): The Encyclopedia of New York City, New Haven/London 1995, S. 463-464; S. 923. Vgl. John Koegel: Adolf Philipp and Ethnic Musical Comedy in New York's Little Germany, in: American Music 2006 24 (3): S. 267-319. Dabei drehte sich ein Paar eng umschlungen schnell in kleinen Kreisen um sich selbst und um die Tanzfläche. Es handelte sich um eine »loose parody of the fast waltz«, wie sie unter jugendlichen Arbeiter_innen besonders beliebt war. Vgl. Peiss, Cheap Amuseuments, S. 100-101. Diese Haltung findet sich auch in den Schiebetänzen und später im Tango. Vgl. die Fotoserie »High-class, low-class, no-class« in Edward Scott: Dancing as an Art and Pastime, London 1892, abgedruckt in Savigliano, Tango, S. 101. Vgl. Peiss, Cheap Amuseuments, S. 100-101.
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Auch im Vorprogramm von Cakewalk-Wettbewerben wurden europäische Paartänze getanzt. »Previous to [the cakewalk contest], white and colored people had touched elbows in the polka or twostep.«88 Der Artikel belegt, dass der tänzerische Austausch um 1900 keine Einbahnstraße war. Weiße und schwarze Besucher_innen dieser Veranstaltung vergnügten sich mit Paartänzen, die sich durch einfache Schrittfolgen und eine geschlossene Paarhaltung auszeichneten. Beides war für die nachfolgenden Modetänze konstitutiv.89 Indem er aber betonte, dass sich nur die Ellbogen berührten, versicherte er implizit, dass Schwarze und Weiße nicht miteinander tanzten. Offiziell waren Orte, an denen weiße und schwarze New Yorker miteinander tanzten, eher die Ausnahme.90 Wo dies wie im Marshall Hotel, einem der wenigen schwarzen Mittelklassehotels in Downtown Manhattan doch stattfand, versuchte die Stadt auf Vorschlag des Anti-Vice Committees den Veranstaltern die Alkohollizenz zu entziehen.91 Ähnlich wie im Cakewalk hatten sich die Weißen auf den Weg ins Marshall gemacht, um schwarze Tänze zu beobachten und zu lernen. Afroamerikaner_innen waren durch ihre Arbeit in weißen Restaurants, Hotels und Haushalten ohnehin ständig mit dem kulturellen Repertoire der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert. Insgesamt überschritten eher diejenigen Tänze die Color Line,
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Die Polka war im Verlauf der 19. Jahrhunderts überall in Europa und auch in den USA äußerst populär geworden. Sie war ein Ergebnis der Migration ebenso wie der wachsenden transatlantischen Mobilität von Musikorchestern. Vgl. Victor Greene: A Passion for Polka. Old-Time Ethnic Music in America, Berkeley 1992; Charles Keil/Angeliki V. Keil: Polka Happiness, Philadelphia 1992. Der Two-Step ist ähnlich wie die Polka durch einen Wechselschritt gekennzeichnet. Dies war nun kein neuer Vorgang, sondern hatte in den Südstaaten schon viel früher stattgefunden, unterbrochen und verkompliziert durch Ereignisse wie Sklavenaufstände oder den Bürgerkrieg. Vgl. Stearns, Jazz, S. 20 ff. New York um 1900 stellte eine Verdichtung dar, deren Strahlkraft und Transformationsdynamik weder nur lokal noch national begründet war, sondern wie die folgenden Kapitel zeigen werden, auch aus ihrer Funktion als transnationalem Raum erwuchs. Die Forschung verweist hier meist auf »black and tan clubs«, wo weiße und schwarze Besucher_innen zusammen an der Bar und auf der Tanzfläche zu sehen waren. Seit den 1880er Jahren hatte die Polizei Anweisung, sie besonders zu überwachen. vgl. Sacks, Before Harlem, S. 63-64. Diese Clubs waren um 1900 häufig in jüdischen und italienischen Vierteln zu finden, wo sie nicht nur von Afroamerikaner_innen, sondern auch von Italienern betrieben wurden, die »persons of both sexes and all colors« als ihre Gäste willkommen hießen, wie ein Bericht alarmiert feststellte. Vgl. Heap, Slumming, S. 124125. Sacks, Before Harlem, S. 65. W.E.B. Du Bois fragte nach, was denn der Grund sei und ganz offen gab das Kommittee zu, »[the Marshall] has unfortunate mixing of the races which when the individuals are of the ordinary class, always means danger.« Die Intervention der NAACP verhinderte 1910, dass dem Marshall die Lizenz entzogen wurde. Die Stadt wusste, dass sie eine Klage vor einem Bundesgericht des Staates New York nicht gewinnen würde.
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die ein experimentelles und parodistisches Verhältnis zu gesellschaftlichen Normen erlaubten, also »tough dancing«, »spieling« und nicht der Wiener Walzer; der Cakewalk und nicht der Buck and Wing. Eine Mischung aus Virtuosität und Übertreibung kennzeichnete auch das Verhalten von weißen Frauen in den Tanzhallen.92 »Everybody's overdoing it,« beklagte sich ein Zeitgenosse und spielte auf einen bekannten Songtitel an, »Everybody's doing it«.93 Tänzer_innen machten mit den neuen Tänzen nicht nur schwarze und weiße Tänze ununterscheidbar, sondern auch ihre Position in der herrschenden Geschlechterordnung. Peiss zeigt, dass die Art und Weise, wie Männer und Frauen an diesen Orten interagierten, es männlichen Besuchern, die eine Prostituierte suchten, immer schwieriger machte, diese von »respektablen« Frauen zu unterscheiden. Sie sahen einander zu ähnlich und legten auch ähnlich flirtende Verhaltensweisen an den Tag.94 Überhaupt war »picking-up« kein männliches Privileg mehr. Vielmehr würden Frauen in Tanzhallen gehen »and deliberately look for men to dance with«.95 Und was sie suchten war oft mehr als ein Tanz: Sie wollten jemanden kennenlernen, der sie aufmerksam behandelte, einlud und mit dem sie möglicherweise auch Sex haben konnten. Selbstverständlich agierten diese »charity girls«, wie die besorgten Berichte von Investigatoren in Tanzhallen sie nannten, unter ungleichen und oft ausbeuterischen Bedingungen männlicher Vorherrschaft. Das Werben um die Aufmerksamkeit von Männern, die Notwendigkeit, von ihnen unterhalten zu werden, um im Tanzsaal Ansehen zu genießen, führte auch zu zwanghaftem Verhalten. Doch die Frauen wussten sich offenbar auch zu helfen: Einerseits entwickelten sie in Sachen Mode eine »outrageous expressiveness« und einen »eye-catching style«, der in anderen Bereichen ihres Lebens, insbesondere am Arbeitsplatz, nicht möglich war.96 Sie suchten die Anonymität großer Tanzhallen und hatten kein Problem damit, sich unter Prostituierte zu mischen. »In La Kuenstler Klause, a restau92
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Vgl. Julie Malnig: Apaches, Tangos, and Other Indecencies. Women, Dance, and New York Nightlife of the 1910s, in: dies. (Hg.), Ballroom, S. 72-90; dies.: Athena Meets Venus. Visions of Women in Social Dance in the Teens and Early 1920s, in: Dance Research Journal 1999 31 (2): S. 34-62. Zitiert in Peiss, Cheap Amusements, S. 102-103. Allerdings kam es gleichzeitig mit der wachsenden Überwachung und Regulierung von Tanzhallen auch zu einer zunehmenden Kriminalisierung von Prostitution, vgl. die Bundesgesetze zu Einwanderung von 1903 und 1907, die den »Import« von Prostituierten verboten und den Mann Act von 1910, der den »Transport« von Frauen über Bundesstaatsgrenzen untersagte. Schon davor hatten die »vice crusades« seit den 1890er Jahren die Sichtbarkeit und Alltäglichkeit der Sexarbeit in den Arbeitervierteln angegriffen und mittels Stadtverordnungen untersagt, vgl. Timothy J. Gilfoyle: Prostitution, in: Kenneth T. Jackson (Hg.): The Encyclopedia of New York City, New Haven/London 1995, S. 947-948. Peiss, Cheap Amusements, S. 106. Peiss, Cheap Amusements, S. 107.
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rant with music and dancing, a waiter confided to the investigator, ›girls could be gotten here, but they don't go with men for money, only for [a] good time.‹«97 Zudem waren sie zumeist paarweise unterwegs, aber nicht mit einem Mann, sondern mit einer Freundin. Zu zweit war es leichter, unerwünschte Annäherungsversuche abzuwehren. Diese Freundschaften waren »for pleasure and protection«, verhinderten aber nicht, dass man erwünschte Bekanntschaft mit einem Mann machte.98 In diesen kommerziellen Räumen des urbanen Vergnügens setzten nun auch die Arbeiter_innen ihr Recht durch, so oft, so lang und so »tough« zu tanzen, wie sie wollten.99 Vergleicht man die Beschreibungen verschiedener Tanzhallen, fällt auf, dass an Orten wie dem Jungles Casino mehr getanzt wurde. In vielen Tanzhallen war nach drei bis fünf Minuten Tanz immer zehn bis 15 Minuten Pause, damit die Besucher_innen Alkohol konsumierten. Andere begrenzten die Zahl von Tänzen, die jeder Besucher mit dem Eintritt ausführen durfte und verlangte danach pro Tanz zusätzlich Geld. Uniformierte Aufseher standen an den mit Samtseilen abgesperrten Tanzflächen und kontrollierten die Zugänge.100 Im Jungles Casino gab es davon nichts. »The dances ran from fifteen to thirty minutes, but they kept up all night long or until their shoes wore out – most of them after a heavy day's work on the docks.«101 Teils belustigt, teils alarmiert, stellten Kommentator_innen des Geschehens fest, dass sich New York zwar zur Kulturmetropole entwickle, aber in den Tanzmoden nachmache, was weit entfernt im ›Wilden Westen‹ entstanden sei. Das Rotlichtviertel von San Francisco hieß im ausgehenden 19. Jahrhundert »Barbary Coast«. Es entlehnte seinen Namen von der Berberküste in Nordafrika, wo in der Frühen Neuzeit und bis ins 19. Jahrhundert Piraten die europäische Schifffahrt bedroht hatten. Der Begriff spielte auf den ähnlich klingenden Begriff der Barbarei als Gegenbegriff zur Zivilisation an. Die Behauptung, dass viele der neuen Tänze Anfang des 19. Jahrhunderts dort entstanden seien, verarbeitete die Erfahrung, dass aus den Investitionen in die infrastrukturelle Erschließung und Ausbeutung des Westens nicht nur Einnahmen zurück nach New York gekommen waren, sondern auch eine veränderte Alltagskultur. Neben der Afrikanisierung von afroamerikanischer Kultur exotisierte dieser Diskurs damit auch Prozesse innerer Kolonisierung. Eine interessante Quelle in diesem Zusammenhang ist ein Artikel aus dem Anaconda Standard aus Montana von 1912. Nach dem Erdbeben in San Francisco 1906 sei das Geld aus den Versicherungen auch in den Aufbau neuer Tanzhallen geflos97 98 99 100
Peiss, Cheap Amusements, S. 111. Peiss, Cheap Amusements, S. 113. Vgl. Tomko, Dancing Class. Vgl. Russel B. Nye: Saturday Night at the Paradise Ballroom, or, Dance Halls in the Twenties, in: Journal of Popular Culture 7 (1973) Nr. 1, S. 14-22, hier: S. 17. Nye bezieht sich hier auf Tanzpaläste in den 1910er Jahren. 101 Davin, Johnson, S. 13.
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sen. Dort seien Sänger als »coon-shouters« engagiert worden. Es seien »Ethiopians or lighter« gewesen, schreibt der Artikel und nutzt die Maske von Blackface um einer eindeutigen Identifizierung der Akteure zu entgehen. Sie seien bei ihren Aufführungen zwischen den Tischen hin und her gegangen und hätten Schultern, Kopf und Arme zur synkopierten Musik bewegt. »They lo[o]ked as much as anything else like cake walkers without partners.« Es habe in ihren Bewegungen nicht systematisches gegeben, ganz individuell seien sie gewesen, »keeping perfect time to the piano and the drums.« Doch eines Nachts sei etwas Neues passiert: »[A] girl excited by champagne, started up facing the singer and imitated him, keeping a distance from him but performing rock for rock, sway for sway every one of his motions. Her name is lost to fame, but she was the first turkey trotter of the female sex. The next night she did it again, but this time clasping arms with the singer. They danced pretty well apart (as the turkey trot should be danced), his right arm under her left so as to force her shoulder upward and induce the dragging of feet that is necessary to a precise rendition.«102
Diese Entstehungsgeschichte betont die spontane Kreation namenloser Akteure. Die proletarischen Schiebetänze erlaubten neue Techniken der Kommunikation zwischen den Tanzpaaren und arbeiteten mit dem Repertoire polyrhythmischer und polyzentrischer Bewegungen aus der afroamerikanischen Tanzkultur. Der Artikel betont zudem, dass die Initiative für diesen Tanz von einer Frau ausging. In New York passierte gleichzeitig etwas Ähnliches, doch hier grenzten sich weiße Profitänzer_innen von der »Barbary Coast« ab. Die New Yorker Tänzerin und Tanzlehrerin Irene Castle gab in einem Interview an: »We get our new dances from the Barbary Coast. Of course, they reach New York in a very primitive condition, and have to be considerably toned down before they can be used in the drawing room. There is one just arrived now – it is called »Shaking the Shimmy«. It's a nigger dance, of course, and it appears to be a slow walk with a frequent twitching of the shoulders. The teachers may try and make something out of it.«103
Wer bei dem Ehepaar Irene und Vernon Castle oder anderen Tanzlehrern lernte, so die Botschaft, konnte sich zu neuen Rhythmen bewegen, ohne mit der »Barbary Coast« in Verbindung gebracht zu werden. Die Verwendung von rassistischen Begriffen stellte sicher, dass sie ihre Position als Weiße nicht in Frage stellen mussten.
102 Anaconda Standard, 11. Februar 1912, zitiert in Mark Knowles: The Wicked Waltz and Other Scandalous Dances. Outrage at Couple Dancing in the 19th and 20th Century, Jefferson NC 2009, S. 63. 103 Interview mit Irene Castle in Dancing Times, ca. 1918, zitiert nach Erenberg, Everybody, S. 163.
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Tanzschulen versprachen Kontakt mit dieser Welt ohne Ansteckungsgefahr. Dies gelang durch den Rückgriff auf Zivilisierungsdiskurse und Rassebegriffe und durch die Problematisierung bestimmter Körperbewegungen. »[S]huffles, twists, wriggles, jumps are no longer words to be used in connection with dancing.«104 Die Castles hatten ihre Karriere in Europa begonnen: 1912 führten sie in Paris afroamerikanische Tänze wie Turkey Trot und Grizzly Bear auf. Auf der Welle ihres dortigen Erfolgs reüssierten sie auch in New York, traten am Broadway auf und veröffentlichten Lehrbücher, Lehrfilme, Zeitungsartikel und eröffneten sogar eine Tanzschule: Castle House.105 Ihr Markenzeichen: »We were clean-cut; we were married and when we danced there was nothing suggestive about it.«106 Entlastung durch Entsexualisierung war auch eine Strategie Aida Overton Walkers gewesen – und allgemein einer Generation von Frauen, die sich gegen spätviktorianische Doppelmoral zur Wehr setzten. Tanzen sei ein »natural and contagious outlet for a hilarious and youthful spirit«, schrieb Irene Castle in Modern Dancing, eine Möglichkeit, den Körper zu trainieren, sich frei zu bewegen, ein Gegenmittel gegen die Müdigkeit und Nervosität der älteren Generation.107 Die moderne Frau als »youthful gamin« zeichnet sich hier ab, jene »paradoxical identity« emanzipierter Frauen, die sich jugendliche, junge- oder mädchenhafte Posen zulegten. »While the women of her generation differentiated themselves from their mothers, they were not to synthesize passion with womanhood,« so der Historiker Ehrenberg.108 Die Tänze, die Vernon und Irene Castle in ihrem Unterricht vermittelten, sollten die komplexen Verwicklungen von Geschlecht und Rasse, von Klasse und Sexualität für ihre Schüler_innen regulieren. Sie selbst setzten sich dieser angeblichen Gefahr aber aus. Ihr Erfolg hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sie eng mit afroamerikanischen Künstlern kooperierten.109 Sie freundeten sich 1913 mit dem Musiker, Komponisten und Bandleader James Reese Europe und seiner Band an und engagierten sie für ihre Auftritte. Europe war ein Star der New Yorker Musikszene, dem es gelungen war, die enorme Nachfrage nach Ragtime endlich zu einem kom-
104 Castle, Modern Dancing, S. 38-39. 105 A Little Journey to Castle House. The Most Talked of House in New York. By a NonTangoing Country Gentleman, in: Vanity Fair 1914 2 (1): S. 27. 106 Erenberg, Everybody, S. 164. 107 Castle, Modern Dancing, S. 146. 108 Zitiert nach Erenberg, Everybody, S. 166. 109 Vgl. die Kooperation mit dem afroamerikanischen Tanzpaar Johnny Peters und Ethel Williams, die aus San Francisco nach New York gekommen waren, Irene Vernon einige Tanzschritt beibrachten und 1913 im Musical Darktown Follies im Lafayette Theatre in Harlem auftraten. Der »Import« von der »Barbary Coast« war also an Personen gebunden, die Irene Castle nicht namentlich als Kolleg_innen nannte. Vgl. Knowles, Wicked Waltz, S. 65; 203.
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merziellen und politischen Erfolg für afroamerikanische Musiker zu machen.110 Der Blueskomponist und Trompeter W. C. Handy erzählte, dass Europe in den Pausen zwischen den Proben immer wieder seinen Memphis Blues auf dem Klavier gespielt habe. Der Rhythmus habe den Castles gefallen und so schlug Europe vor, sie sollten doch einen langsamen Tanz dazu entwickeln. So sei der Foxtrott entstanden, was auch Irene Castle selbst bestätigte: »It was Jim Europe [...] who suggested the Foxtrott to us, and for all I know he invented it.«111 Sicherlich handelt es sich hierbei – wie zumeist – um eine von vielen »Ursprungserzählungen« eines Tanzes.112 Relevant erscheint in diesem Kontext die von beiden Seiten getragene Narration einer prekären Kooperation. Vernon Castle war fasziniert von dem rhythmischen Universum, das er über Europe und seine Musiker kennenlernte. Er bat Buddy Bolden, den Schlagzeuger in Europes Orchester, ihm Unterricht zu geben. Die Castles wurden Vermittler, Mediatoren der komplexen Austauschbeziehungen, die sich im Spannungsverhältnis zwischen dem Begehren nach Bewegungsfreiheit, Rassismus und Sexismus auftaten. Angeblich praktizierten die Castles unter ihren Mitarbeiter_innen und Kolleg_innen eine Form von AntiRassismus. Doch nach außen verhielten sie sich genau so, wie es von ihnen als Weiße erwartet wurde – herablassend, instrumentalisierend, kontrollierend. Sie stellten Regeln auf, welche Tanzbewegungen überhaupt denkbar sein sollten. Dies gelang auch, weil sie mit schwarzen Musikern, nicht jedoch mit schwarzen Tänzer_innen zusammen arbeiteten. Die Castles lernten von afroamerikanischer Kultur, übernahmen sie aber nur partiell. Sie grenzten aus, was mit Sexualität in Verbindung gebracht werden konnte. Viele Bewegungen, die sie von der Tanzfläche verbannten, waren konstitutiv für die Ästhetik und Polyrhythmik afroamerikanischer Tänze. So tanzten die Füße der Castles rhythmisch virtuos, die Oberkörper waren aber meist steif und unbeweglich.113 Sie legitimierten und begründeten ihre Entscheidung damit, alles andere sei 110 Vgl. Eve Golden: Vernon and Irene Castle's Ragtime Revolution, Lexington KT 2007, S. 68-72; Reid Badger: A Life in Ragtime. A Biography of James Reese Europe, New York 1995. 111 Stearns, Jazz Dance, S. 98. Tragischerweise beendete der Erste Weltkrieg diese prekäre Kooperation. Der Brite Vernon Castle meldete sich als Flieger zur britischen Armee und James Reese Europa, der als Soldat in der amerikanischen Armee die legendäre Militärband der »Harlem Hellfighters« dirigiert hatte, wurde kurz nach dem Krieg von einem Mitglied seines Ensembles erstochen. Täter wie Opfer waren vom Krieg traumatisiert, vgl. Badger: Life in Ragtime. 112 Eichstedt/Polster verweisen auf eine Publikation aus den USA von 1875: »Clog Dance Made Easy (Danced to Fox-Trot Music).« Er sei aus den »ausgefeilten Steppschritten des ›Negro Jig‹« entstanden. Vgl. Eichstedt/Polster, Wie die Wilden, S. 46. 113 Whirl of Life, USA 1915, ein Film, in dem Irene und Vernon Castle ein Tanzpaar spielen. Die Geschichte ist lose an ihre Biografie angelehnt. Vgl. auch America Dances! A Collector's Edition of Social Dance in Film, 1897-1948, USA [DVD 2003].
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unnötig, unwürdig, hässlich oder unpassend. Die Presse reagierte positiv und buchstabierte den Zusammenhang von Säuberungsfantasien, Rassismus und der Disziplinierung neuer Tänze aus: »[Turkey trot] smacked strongly of the DahomeyBowery-Barbary Coast form of revelry, but since then it has been trimmed, expurgated and spruced up until now it is quite a different thing.«114 In der über Bindestriche hergestellten Assoziation von Afrika und Afroamerika mit den Rotlichtvierteln der Ost- und Westküsten, denen ein gemeinsamer »Geruch« unterstellt wird, spielte der Artikel auf die im Tanzen hergestellte körperliche Nähe an. Wie Kolonialwaren sollten die Tänze kultiviert werden, um dann zurechtgestutzt, gereinigt und verfeinert den Platz zu wechseln.115 Die Technik der Castles war eine Antwort auf die ambivalente Erfahrung einer sich immer unabhängiger und eigensinniger entwickelnden Tanzkultur in der Stadt. Die Tanzhallen erschienen Beobachter_innen wie der Frauenrechtlerin Reta Childe Dorr 1910 als Orte unheimlicher Veränderung, die sich außerhalb des Lichtkegels einer bürgerlichen Gesellschaft befanden: »[A]ll we know of the unclassed is that they exist apparently in ever-increasing masses.«116 Dorr interviewte für ihr Buch What Eight Million Women Want straffällig gewordene Frauen der Unterschicht, um herauszufinden, warum sie so gerne in Tanzhallen gegangen waren, obwohl sie dort doch Gefahr liefen, mit Sexarbeit in Verbindung gebracht zu werden. Manche sagten, ihnen sei langweilig gewesen, andere agierten offensiv als Sexarbeiterinnen und behaupteten, Prostitution sei besser, als in der Fabrik zu arbeiten. Andere wurden von der Dynamik der Kriminalisierung erfasst und trauten sich deshalb nicht mehr zurück in ihr altes Leben. Die herrschenden Moralvorstellungen, schlussfolgerte die Frauenrechtlerin Dorr, treibe die Frauen dazu, sich von der Klasse, in die sie hineingeboren wurden, abzuwenden.117 Auf die Frage, warum sie so viel tanzen gehen, fragten viele Frauen zurück, ob sie denn nur zu Hause herumsitzen und Däumchen drehen sollten. Ob sie nicht etwas lesen wollten, hakte Dorr nach. Man könne auch nicht immer lesen, meinten sie. »In other words, there is no intellectual impulse, but instead an instinct for action.«118 Dorr interpretierte das als Lebenslust, der die Gesellschaft Raum geben müsse, indem sie Orte zur Verfügung stelle, an denen getanzt werden könne, die nicht in Verbindung mit der »underworld« ständen.119 Sie schlug vor, in Kirchen 114 New York Times vom 4. Januar 1914, zitiert nach Erenberg, Everybody, S. 166. 115 Vgl. zum Prozess von »erasing race« in den Tanzmoden der 1910er Jahre auch Nadine George-Graves: »Just like Being at the Zoo«. Primitivity and Ragtime Dance, in: Julie Malnig (Hg.), Ballroom, Boogie, Shimmy Sham, Shake. A Social and Popular Dance Reader, Urbana IL/Chicago 2009, S. 55-71, hier: S. 67. 116 Dorr, Eight Million, S. 210. 117 Dorr, Eight Million, S. 202; 222; 225; 209. 118 Dorr, Eight Million, S. 227. 119 Dorr, Eight Million, S. 232.
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und Gemeindezentren Tänze zu organisieren: »The joy of life is to be fed with proper food instead of poison.«120 Doch Dorr wollte nicht nur alternative Orte schaffen, sondern die bestehenden polizeilich überwachen und unter Kontrolle bringen. Die Stadt sollte Lizenzen für das Tanzen vergeben und jenen, die »tough dancing« oder die Präsenz von »white slavers« erlaubten, diese Lizenz wieder entziehen.121 Verstreut finden sich in dem Text Hinweise darauf, dass die Frauen, denen Dorr begegnete, durchaus andere Pläne verfolgten. »The amount of money spent by working girls for dance-hall admissions is considerable. A girl receiving six or seven dollars a week in wages thinks nothing of reserving fifty cents to a dollar for dancing.«122
Statt für die Zukunft zu planen, finanzierten die Arbeiterinnen von ihrem Lohn Orte, an denen ein technisch intensivierter Moment des Gegenwärtigen gefeiert wurde. »During part of a waltz the dancers are bathed in rose-colored lights, which change suddenly to purple, a blue, or a green. Some weird effects are made, the lights being so manipulated that the dancers' shadows are thrown, greatly magnified, on walls and floor.«123
In den Tanzpausen regnete es buntes Konfetti von der Decke. »The scene becomes baccanalian. Color, light, music, confetti, the dance, together combine to produce an intense and voluptuous intoxication which the revelers deepen with drink.«124 Dorr stand diesem Experimentieren, das ein Begehren nach Unterbrechung und Intensivierung des Augenblicks zu erfüllen suchte, skeptisch gegenüber. In ihren Augen vergifteten diese Affekte den Gesellschaftskörper. Sie wollte das Begehren nach »action« für andere Zwecke nutzbar machen und erklärte deshalb das Tanzen zum Selbstzweck. Es sollte aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen herausgelöst werden, diesem engen Kontakt von Körpern und Medien, Licht und Schweiß, Begeisterung und Rausch. Sie plädierte zwar für eine Entmoralisierung der sozialen Frage, wenn sie die Motivationen und Entscheidungen von Frauen als rational und subjektiv nachvollziehbar beschrieb. Doch sie verfolgte auch ein Projekt der Moralisierung von Körpern und Bewegungen, die die Bewegungsfreiheit für Frauen wieder einschränkte, weil sie gemessen an der Freiheit, die sich Frauen damals bereits genommen hatten, neue Normen installierte: Gesundheit, Hygiene, Sauberkeit, ver120 121 122 123 124
Dorr, Eight Million, S. 240. Dorr, Eight Million, S. 245-248. Dorr, Eight Million, S. 213. Dorr, Eight Million, S. 221. Ebd. Zwischen »innocent relaxation« und »unnatural forms of excitement« zu unterscheiden, war eine zentrale Argumentationsstrategie von Reformerinnen, vgl. Malnig, Apaches, S. 78.
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eint im Phantasma Tanzen als Selbstzweck. Dies galt besonders im Verhältnis zu schwarzen Tänzen. Wie bereits im vorigen Kapitel im Abschnitt White Slavery gezeigt, vermieden es Expertinnen wie Dorr, die Präsenz schwarzer Tänze in den von ihnen untersuchten Tanzhallen anzuerkennen. Es handele sich vielmehr um Migrant_innen, die noch nicht richtig verstanden hätten, was amerikanisch sei, behauptete sie. Tänzer_innen wie Vernon und Irene Castle professionalisierten diese Haltung. Zur gleichen Zeit erließ die Stadt New York, ähnlich wie andere Städte in den USA, immer strengere Verordnungen, die die Orte des öffentlichen Tanzens regulieren sollten. Viele Lokale mussten schließen, weil sie keine Lizenz mehr bekamen.125 Die Behörden reagierten auf die enorme Ausweitung des Angebots an Räumen, Rhythmen und Bewegungen, die den Bewohner_innen New Yorks zur Verfügung standen.126 Aber die Veränderungen waren nicht mehr zurückzunehmen. »Uptown and downtown« tanzten die New Yorker Elite und die Arbeiterklasse dieselben Tanzschritte zu derselben Musik.127 Anders als in den 1880er Jahren im Cakewalk waren die neu entstehenden, kommerziellen Tanzräume segregiert. Es war zu einer Hereinnahme von Rhythmen und Bewegungen des Black Atlantic bei gleichzeitigem Ausschluss von Afroamerikaner_innen als Produzent_innen gekommen. Die gelang auch durch die Mobilisierung von Primitivismen, die neu entstehende Kommunikationsbeziehungen mit Stereotypen aus kolonial-imperialen Kontexten ersetzten.128 Die Tanzkultur New Yorks befand sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in einem dynamischen Veränderungsprozess. In Cakewalk-Wettbewerben stellten Afroamerikaner_innen das bürgerliche Monopol in Frage, durch Tanztechniken und Etikette die Gesellschaft abzubilden und zu »verbessern«.129 Dass ihre proletarischen
125 Nye, Saturday Night, S. 15. 126 1911 eröffnete in New York der Grand Central Palace, einer der ersten »dancing palaces«, die mehrere tausend Besucher_innen fassten. Vgl. Giordano, Social Dance, S. 2730; zu einer Typologie von Tanzhallen in New York in den 1920er Jahren vgl. Le Roy E. Bowman/Maria Ward Lambin: Evidences of Social Relations as seen in Types of New York City Dance Halls, in: Journal of Social Forces 1925 3 (2): S. 286-291, hier: S. 288. 127 Vgl. den Abschnitt über Tanzhallen in David Nasaw: Going Out. The Rise and Fall of Public Amusements, New York 1993, S. 105-119, hier: S.108. 128 Auch neuere Untersuchungen zur Dynamik von Modetänzen analysieren diesen Zusammenhang nicht, sondern wiederholen die bereits im Untersuchungszeitraum etablierten Problematisierungsformeln des Skandals und der Primitivität, vgl. die sonst informative und quellenreiche Studie von Knowles, Wicked Waltz, besonders das Kapitel über Animal Dances, S. 61 ff. 129 Die Prominenz des Cakewalks koinzidierte mit einer wachsenden Aufmerksamkeit der bürgerlichen Gesellschaft für das Tanzen, vgl. Allen Dodworth: Dancing, and Its Relation to Education and Social Life, New York 1885. Der wachsende Einfluss afroamerikanischer und proletarischer Tänze verkomplizierte diese Nutzbarmachung, vgl. Marc Fer-
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Nachbar_innen dabei teils fasziniert und teils belustigt zuschauten, sich von den Bewegungen begeistern ließen oder die Selbstpositionierung als stolze und lässige, moderne und selbstironische Großstadtbewohner_innen rassistisch angriffen, belegt die provokative und kommunikative Kraft dieser öffentlichen Wettbewerbe. Mehr und mehr Arbeiter_innen durchtanzten die Nächte, statt sich für die Arbeit auszuruhen; Frauen übernahmen Mode und Verhaltensweisen von Prostituierten und ließen sich für Flirten und Tanzen mit »charity« entschädigen; andere Frauen versuchten, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, wenn sie die sich verändernde Tanzkultur beschrieben und sie als Evidenz für den Reformbedarf der Gesellschaft in Dienst nahmen; überall lässt sich eine wachsende Faszination für das Tanzen ausmachen, »an instinct for action«. Gleichzeitig entwickelte sich New York im ausgehenden 19. Jahrhundert zum institutionellen Zentrum einer kommerziellen Unterhaltungsindustrie, die das ganze Land mit Musicals, Varietéprogrammen und Musiknoten versorgte. Diese Industrie stand vor der Herausforderung, möglichst viele unterschiedliche Menschen mit demselben Programm zu unterhalten. Sie griff auf Formen wie den Cakewalk zurück, die in migrantischen Vierteln New Yorks bereits erprobt waren. Zugleich versuchte sie, die Polemik dieses Repertoires zu bändigen und die Color Line neu zu ziehen. Anders in Revuen wie In Dahomey, wo sich auch selbstreflexive Referenzen finden, die Rassismus in den USA ins Verhältnis zu Rassismus im imperialen Kolonialismus setzten. In beiden Fällen hatte das Tanzen auf der Color Line unvorhergesehene Effekte. Die Beziehungen über den Atlantik waren intim und persönlich, verrückt und widersprüchlich und die koloniale Begegnung fand immer schon zu Hause statt.
ris: Dance Halls and Discotheques, in: Kenneth T. Jackson (Hg.): The Encyclopedia of New York City, New Haven/London 1995, S. 315-316, hier: S. 315.
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Die Karikatur zeigt fünf Männer, die nachts einen Bürgersteig entlang tanzen. Der erste umarmt eine Straßenlaterne, als wolle er mit ihr tanzen. Der zweite breitet die Arme aus und schwenkt überschwänglich seinen Hut. Der dritte nimmt eine Cakewalkpose ein. Sein Oberkörper ist nach hinten verlagert, die Arme sind parallel zum Boden nach vorne gestreckt und die Hände hängen nach unten. Wie von Fäden gezogen laufen die Knie vor dem Rest des Körpers her und geben den Takt vor. Die Karikatur erschien 1909 auf dem Titelblatt von Noche de Garufa von Eduardo Arolas, in einer Ausgabe von Musiknoten für Klavier. Der Tango, der Arolas berühmt machte, handelte von einer durchzechten Nacht in Buenos Aires.1 (Abb. 4) Doch wie kam eine Cakewalkpose auf das Titelblatt eines Tangos? Um den Zusammenhang zwischen den beiden Tänzen zu verstehen, rekonstruiert dieses Kapitel die komplexe Entstehungsgeschichte des Tangos im Black Atlantic und analysiert den Moment des Aufeinandertreffens mit dem Cakewalk um 1900. Beide waren Teil eines (oft rassistisch geführten) Streits um Bürgerschaft und verhandelten die Grenzen der imaginären Gemeinschaft der argentinischen Nation. Der Tango ist ein Produkt der argentinischen Migrationsgeschichte des 19. Jahrhunderts und steht zugleich in einer längeren, atlantischen Tradition von Sklavenhandel und Widerstand. Die meisten Geschichten des Tangos verweisen auf die afrikanischen Wurzeln des Begriffs, der in der Kolonialzeit die Tänze afrikanischer Sklaven bezeichnete.2 1
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Der Titel von Arolas Tango inspirierte auch den argentinischen Filmemacher José Ferreyra zu dem argentinischen Film Noche de Garufa von 1915, vgl. Jorge Finkielman: The Film Industry in Argentina. An Illustrated Cultural History, Jefferson NC 2004, S. 79. Vgl. Vicente Rossi: Cosas de Negros, Buenos Aires 1926; Reichardt, Tango, S. 32 ff; einen Schwerpunkt auf die Migration legen Arne Birkenstock/Helena Rüegg: Tango. Geschichte und Geschichten, München 1999; zu einer feministischen Kritik der »offiziellen Tangogeschichte« vgl. Saikin, Tango und Gender, S. 22 ff; zu einer detaillierten Rekonstruktion der afrikanischen Wurzeln des Tanzes vgl. Thompson, Tango; für eine postkoloniale Kritik siehe Savigliano, Tango.
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| E NTSTEHUNG Abbildung 4: »Una Noche de Garufa. Tango para Piano. Eduardo Arolas«
Doch in welchem Verhältnis standen die »alten Tangos« zum »modernen Tango« der Jahrhundertwende? In der Forschung ist von einer »kuriosen Koinzidenz« die Rede, weil der moderne Tango genau in dem Moment entstand, als die Nachfahren argentinischer Sklaven durch die Migration aus Europa zu einer verschwindend kleinen Minderheit geworden waren.3 Das folgende Kapitel rekonstruiert die prekären und polemischen Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen, Kreolen und Neuankömmlingen, Reichen und Armen in Buenos Aires um 1900 und zeigt, dass der Tango ähnlichen Unruheherden entsprang wie der Cakewalk – den Auseinandersetzungen um Bürgerschaft und
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Carmen Bernand: La Población Negra de Buenos Aires, 1777-1862, in: dies./Mónica Quijada/Arnd Schneider (Hg.): Homogeneidad y Nación. Argentina Siglos XIX y XX, Madrid 2000, S. 93-140, hier: S. 138; vgl. auch Nestor Ortiz Oderigo: Aspectos de la Cultura Africana en el Rio de la Plata, Buenos Aires 1974, S. 50 ff.
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politische Repräsentation nach der Abschaffung der Sklaverei. Hier wie dort entwickelte sich eine Kultur des Spotts, der Maskierung und Nachahmung, die teils rassistische, teils subversive Effekte hatte. Um 1900 überkreuzten und beeinflussten sie sich gegenseitig.4 Die Entstehung des Tangos entsprach nicht den technokratischen Plänen imperialer Meisterdenker, die Argentinien als weiße Nation imaginiert hatten und Migration als Mittel zum Zweck verstanden. Sie stellte eine Abweichung dar und wurde dennoch – oder gerade deshalb – später zu einem Inbegriff nationaler Folklore erklärt. Es kann aber auch gezeigt werden, dass die Haltungen und Posen, die Techniken und Polemiken des Tangos stets weg vom Territorium der Nation in die Untiefen des Black Atlantic führten.5 Das Wort Tango hat historisch eine weite Wortbedeutung. Um 1800 bezeichneten die spanischen Kolonisator_innen in Argentinien damit die von Trommeln begleiteten Tanzveranstaltungen der Sklaven. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderte das Wort seine Bedeutung und beschrieb allgemein »Ort[e] des Wirrwarrs und des Durcheinanders«.6 Dies galt insbesondere für die Vorstädte, wo die neu in die Stadt Zugezogenen wohnten, Migrant_innen vom Umland und aus Übersee. Im ausgehenden 19. Jahrhundert bezeichnete der Begriff eine Kultur des Nachahmens schwarzer Kultur durch Weiße, »[a]ny mocking musical impersonation of blackness.«7 Um 1900 finden sich in den Archiven von Polizei und Verwaltung alarmierte Berichte über veränderte Tanzweisen auf den gutbürgerlichen Faschingsbällen der Stadt, wo nun nicht mehr nur europäische Gesellschaftstänze, sondern auch Cakewalk und Tango getanzt wurden. 1904 sprach sich die Revista de Policia in Buenos Aires während des Karnevals gegen diese Tänze aus, weil sie Unruhe stiften würden: Tango und Cakewalk machten aus den Theatern heute das, was früher der Cancan in den Theatern von Paris angerichtet habe. Die Polizei verlangte »ein effektives Eingreifen der Obrigkeit«.8 Denn Tanzwettbewerbe, wie sie den Cakewalk auszeichneten, endeten angeblich in Messerstechereien: 4
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John Storm Roberts betont mit Gilbert Chase, dass der Rhythmus der Habanera ein »ritmo de tango« war, der dem Rhythmus des Cakewalks ähnlich gewesen sei, vgl. John Storm Roberts: The Latin Tinge. The Impact of Latin American Music on the United States, New York/Oxford 1979, S. 30. Skeptisch zur Frage afroamerikanischer Rhythmen im Tango vgl. Torp, Alte Atlantische Tangos, S. 137-157. Vgl. John Charles Chasteen: National Rhythms, African Roots. The Deep History of Latin American Popular Dance, Albuquerque NM 2004. Vgl. Reichardt, Tango, S. 35. Vgl. John Charles Chasteen: Black Kings, Blackface Carnival, and Nineteenth-Century Origins of the Tango, in: William H. Beezley (Hg.), Latin American Popular Culture. An Introduction, Wilmington 2000, S. 45, 50-51. Meine Übersetzung. Im Original: »eficaz intervención de la autoridad«. Revista de Policia vom 01. März 1904, zitiert in: Jose Gobello: Cronica General del Tango, Buenos Aires 1980, S. 23.
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»Dieser baile criollo ist ein wenig erbauliches Spektakel, vor allem wegen seiner Verrenkungen und seiner unanständigen Gebärden, in letzter Zeit hat sich auch herausgestellt, dass die Wettbewerbe, zu denen er unter den Elementen, die ihn tanzen, Anlaß bietet, schließlich mit dem Messer entschieden werden.«9
Die Polizei von Buenos Aires setzte um 1900 den Cakewalk mit dem Tango gleich und verglich ihn zudem mit dem Cancan als Sinnbild des ausschweifenden Pariser Nachtlebens. In diesem Strudel aus vergangenen und gegenwärtigen, europäischen und amerikanischen, schwarzen und weißen Bezugspunkten drohte nun die Kultur der guten Gesellschaft von Buenos Aires mitgerissen zu werden. Bemerkenswert ist die Bezeichnung »baile criollo«, wobei aus dem Bericht nicht eindeutig hervorgeht, ob sich das nun auf den Tango oder auf den Cakewalk oder auf beide bezieht. »Criollo« betont jedenfalls eine amerikanische Herkunft in Abgrenzung zu europäischen Vorbildern. In der Kolonialzeit bezeichnete der Begriff »criollo« diejenigen Bewohner_innen Argentiniens, die dort geboren waren. Die Unabhängigkeitsbewegung sollte ihre Benachteiligung durch die spanische Kolonialregierung beenden, kreolisch galt nun als die Grundlage der argentinischen Nation. Offiziell waren damit alle dort geborenen Menschen gemeint. Doch im Streit um die Zukunft und Entwicklung der Nation war auch dieser Begriff zunehmend umkämpft. Für die liberalen Modernisierer stand er bald für eine überkommene Vergangenheit, die sie mit »Barbarei« identifizierten. Migrant_innen aus Europa sollten »Zivilisation« bringen.10 In diesem Spannungsfeld ist auch die Problematisierung eines »baile criollo« in den gutbürgerlichen Theatern von Buenos Aires während des Karnevals zu verorten. Um 1900 war der Begriff »criollo« widersprüchlich besetzt. Anti-liberale Kräfte nutzten ihn, um eine nostalgisch verklärte Vergangenheit zu beschwören. Denn die Gegenwart gestaltete sich ganz anders als es die Pläne der »Transplantation« europäischer Arbeitsethik nach Südamerika vorgesehen hatten. Die zunehmend auf Export ausgerichtete und von Migration geprägte Wirtschaft Argentiniens führte gegen
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Meine Übersetzung. Im Original: »Sobre que ese baile criollo es un espectáculo nada edificante por las contorsiones y ademanes indecorosos de sus figuras, se ha recordado últimamente que las competencias a que da margen entre el elemento que lo cultiva concluyen por ser dirimidas por el cuchillo.« Ebd. Vgl. Domingo Sarmiento: Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga, Frankfurt am Main 2007 [1845]. Sarmiento war 1868-74 Präsident von Argentinien, bewunderte die Rassenpolitik der USA, glaubte an die Vererbbarkeit von Intelligenz und gilt als »Vater des argentinischen Bildungswesens«. Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 103; zur Genealogie von »criollo« vgl. Arnd Schneider: Discourses of Ethnic Distinction in Contemporary Argentina, in: Francisco Domínguez (Hg.): Identity and Discursive Practices. Spain and Latin America, Bern u.a. 2000, S. 135-155, hier: S. 142 ff.
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den erklärten Willen der Politik eher zum rasanten Wachstum von Buenos Aires, als dass dadurch die Besiedlung weit entfernter Landstriche befördert wurde. Die Dynamik von Urbanisierung und Proletarisierung empfanden viele als unkontrollierbar und bedrohlich. Lieder und Theaterstücke verklärten den Alltag der »gauchos«, der Landarbeiter in der Viehwirtschaft.11 Hierbei fand bereits in den 1890er Jahren der »Tango« Eingang in das Repertoire argentinischer Identitätskonstruktion.12 Er verhandelte das Aufeinandertreffen der alten und neuen Arbeiterklasse, von weißen und schwarzen Kreol_innen mit europäischen Migrant_innen. Der Tango, so die dort vermittelte Ideologie, verkörperte nationale Identität und machte sichtbar, was es heißt argentinisch zu sein. Zugleich war »Tango« aus der Sicht der Polizei ein ordnungspolitisches Problem.13 Dies aktualisierte die Bedeutung von »Tango« in der langen Tradition des Black Altantic. In Spanien war der Begriff Tango schon im frühen 19. Jahrhundert für Tänze aus den Amerikas gebräuchlich, die in Hafenstädten wie Cadiz oder Sevilla nachgetanzt wurden. Dort unterschied man »verfeinerte« Tangos von »tangos de negros« oder »tangos americanos«.14 Auch in New Orleans und Kuba findet sich der Begriff in der afroamerikanischen Tanzkultur.15 Relevant ist auch der Begriff »tangomão«, der im portugiesischen Sklavenhandel jene Europäer bezeichnete, die dauerhaft vor Ort an der afrikanischen Küste blieben, Afrikanerinnen heirateten und die lokalen Bräuche übernahmen. Sie spielten eine wichtige Rolle als Vermittler im Handel zwischen Afrikanern und Europäern und erhielten die Bezeichnung »tangomão« von der lokalen Bevölkerung.16 Schon in der Begriffsgeschichte des Wortes Tango hat sich also ein transatlantischer Zusammenhang niedergeschlagen, eine geteilte Erfahrung, die sowohl Gemeinsamkeit wie Differenz markierte. Der Tango war das, was über den funktionalen Zusammenhang hinausging, die Kommunikation, die nötig war, um ihn überhaupt herzustellen. Das Wort Tango hat schließlich seine Wurzel in der zentralafrikanischen Sprache Ki-Kongo und bezeichnet neben 11 12
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Vgl. Torp, Alte atlantische Tangos, S. 316. Die Hauptfiguren in Theaterstücken wie »Justicia Criolla« oder »Ensalada Criolla« waren Männer der Unterschicht, die ihre Männlichkeit im Kampf um (weiße) Frauen unter Beweis stellen mussten. Neben Messerstecherei gelang dies in erster Linie tanzend. Interessanterweise erkannten die Stücke dabei die Überlegenheit der Afroargentinier auf diesem Gebiet an. Vgl. Savigliano, Tango, S. 37-40. Vgl. auch José C. Moya: Cousins and Strangers. Spanish Immigrants in Buenos Aires, 1850-1930, Berkeley/Los Angeles CA 1998, S. 374 ff. Torp, Alte atlantische Tangos, S. 33; eine Beschreibung aus den 1890er Jahren des »tango andaluz« betont Hüftbewegungen und nennt ihn lasziv und erotisch. Offenbar wurde er nicht in der engen Umarmung getanzt, die den modernen Tango argentino auszeichnete: »Se baila individualmente y en parejas, pero sin cópula.« Rafael Salillas: Hampa, Madrid 1898, S. 100, zitiert in: Gobello, Cronica, S. 27. Andrews, Afro-Argentines, S. 165-166. Torp, Alte atlantische Tangos, S. 39.
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einem Tanz auch das dazugehörige Fest oder den Platz, an dem getanzt wird. Daneben – und das ist für die Relation zum Cakewalk interessant – bezeichnete es »to walk in various ways«.17 Der Kunsthistoriker Robert Farris Thompson widmet in Tango. The Art History of Love dem Entziffern der »getanzten Hieroglyphen« des Tangos eine detaillierte und materialreiche Untersuchung, die in erster Linie das Ziel verfolgt, die Präsenz zentralafrikanischer Elemente im Tango nachzuweisen. Hier findet sich eine interessante Lektüre des nach hinten gebogenen Oberkörpers, jener Ikone des Cakewalks, die auch auf dem Titelbild von Noche de Garufa zu sehen ist. »In Kongo, one interesting meaning of leaning far back and far forward is social defiance: ›We are palm trees, bent forward, bent back, but we never break.‹«18 Die Herkunft dieser Körperhaltung aus zentralafrikanischen Tänzen erklärt damit nicht nur, weshalb sie in den verschiedensten Tänzen der schwarzen Diaspora auftaucht, sondern auch die Dimension von Widerstand und Spott, wie sie dem Cakewalk eigen war.19 Nach Andrews war diese Bewegung auch im Candombe präsent. Der Candombe war ein afroargentinischer Tanz der Sklaven, aus welcher Region in Afrika auch immer sie stammten. Getanzt zu den Rhythmen afrikanischer Trommeln ermöglichte er Kommunikation zwischen den unfreien Arbeiter_innen, die von den Sklavenhaltern sonst in »Nationen« aufgeteilt waren. Im Candombe standen Männer und Frauen einander gegenüber und tanzten aufeinander zu und voneinander weg. In einer zweiten Phase bildete sich ein Kreis und jeweils ein Paar tanzte in der Mitte. »In the third stage, men and women make a ring together and dance a sort of cakewalk step, bodies alternately thrown back and forward, the wheel moving to the beat of the drums.«20 In der vierten Phase löste sich der Kreis auf und alle Tänzer_innen improvisieren eigene Figuren, Schritte und Konstellationen, während der Rhythmus immer schneller wurde und nach etwa einer halben Stunde plötzlich abbrach. Der moderne Tango übersetzte Figuren und Bewegungen aus afroamerikanischen Gruppen- und Solotänzen wie dem Candombe in die enge Umarmung des europäischen Paartanzes.21 Thompson betont eine kontinuierliche Präsenz afrikanischer Wurzeln im Tango, während andere Autoren Brüche und Veränderungen in den Vordergrund rücken. John Charles Chasteen schreibt in einem Aufsatz über die Herkunft des Tangos in 17 18 19 20 21
Thompson, Tango, S. 81. Thompson, Tango, S. 88. Thompson, Tango, S. 89. Andrews, Afro-Argentines, S. 163. Nach Chasteen fand dies im ausgehenden 19. Jahrhundert fast gleichzeitig in Brasilien, Argentinien und Kuba statt, mit der Maxixe, dem Tango und Danzón. Diese Tanzhaltung wurde in der Oberschicht erst vehement abgelehnt, bevor sie später nationalisiert und normalisiert wurde. Vgl. zum »transgressive close embrace« Chasteen, National Roots, S. 17 ff.
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Buenos Aires, dass der Tanz in erster Linie die Überreste einer rassistischen Stereotypisierung konserviert habe, die mit ihren übertriebenen Gesten und ihrer ausgestellten Affektiertheit im Karneval von Buenos Aires begonnen hätten. In den 1870er Jahren malten sich weiße Karnevalsgruppen ihre Gesichter schwarz an und imitierten afroargentinische Kultur, besonders den Candombe, der durch afroargentinische Karnevalstruppen zuvor Eingang in den Straßenkarneval gefunden hatte.22 Anders als in den USA, wo Blackface zuerst eine Sache der Unterschichten gewesen war, begannen in Buenos Aires die jugendlichen Nachkommen der wohlhabenden Familien mit dieser Persiflage. Sie kannten Blackface aus lokalen Theatern und Varietés, wo amerikanische Komiker in Minstrel Shows auftraten. Auf diesem Weg kam auch der Cakewalk in die Stadt. Die Fotografie einer Karnevalstruppe um 1900 zeigt weiße Tänzer in Blackface, die den Cakewalk tanzen. Die bekannteste dieser Truppen nannte sich »Los Negros«.23 In den Liedern dieser Karnevalstruppen wurde das Schicksal der Afroargentinier_innen, die angesichts der massiven Einwanderung aus Europa »aussterben« würden, ironisch beklagt. In anderen wurde der wachsende Konkurrenzdruck unter den Arbeiter_innen thematisiert. Den Widerstand der schwarzen Community gegen konkrete Diskriminierung im Alltag verlachten die Lieder aber als einen historisch bereits verlorenen Kampf. Sie setzten damit auf ein rassistisches und paternalistisches Lachen bei ihren Zuschauer_innen und wiesen Afroargentinier_innen den Status von Witzfiguren zu. Die schwarze Presse von Buenos Aires reagierte gespalten auf den wachsenden Erfolg dieser Persiflagen im Karneval: Manche lehnten die Teilnahme an den Umzügen deshalb ganz ab, während andere darin die Möglichkeit sahen, gerade im Vergleich zu diesen Persiflagen den wahren Wert schwarzer Kulturproduktion vorzuführen. Dafür sei es aber nötig, dass die Jugendlichen endlich aufhörten, auf selbst gebauten Trommeln zu musizieren und stattdessen ordentliche Instrumente lernten, womit die Zeitung europäische Instrumente wie Flöten und Violinen meinte.24 Die Dynamik des Karnevals erzeugte aber auch eine eigene Antwort auf die Herausforderung durch Karnevalstruppen wie »Los Negros«: Bald schon traten afroargentinische Truppen ebenfalls mit bemalten Gesichtern auf. Sie waren teils weiß, teils schwarz geschminkt und machten sich über die Programmatiken der Anpassung und Integration auf beiden Seiten lustig, der weißen wie der schwarzen Bürger_innen der Stadt.
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Vgl. Astrid Windus: Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts, Leipzig 2005, S. 187-197. Es ist umstritten, ob der Karneval von Anfang an eine afroargentinische Angelegenheit war, wie Andrews behauptet, oder erst nach und nach durch ihre Beteiligung verändert wurde. Andrews, Afro-Argentines, S. 158. Vgl. Windus, Afroargentinier, S. 194-195.
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»›Afrikanische‹ und ›europäische‹ Elemente wurden vermischt, aber keineswegs in dem Sinne, dass afrikanische Kultur ungebrochen weitergegeben wurde. Vielmehr war es ein Spiel mit karnevalesken Versatzstücken, die das Groteske mit einem gewissen Frohsinn satirisch in Szene setzte.«25
Weil die weißen Karnevalstruppen auf den Paraden die afroargentinische Candombe nachtanzten und umgekehrt europäische Gesellschaftstänze unter Afroargentinier_innen an Bedeutung gewannen, kam es zu einem geteilten tänzerischen Repertoire. Zwar ließen die weißen Narren in Blackface schwarze Kultur nur in Form des »schwarzen Karnevalsclown[s]« gelten.26 Doch selbst dafür mussten relevante Bewegungen und Haltungen eingeübt werden: »It is impossible to make up the real thing.«27 Auch wenn sie als Persiflage oder Karikatur gemeint waren, blieben bestimmte Elemente der Tänze erhalten. Das verstanden wohl auch die Behörden, die 1875 erstmals das Verhalten bei den Faschingsbällen über eine Verordnung regulieren wollten. Sie verboten Worte, Handlungen und Bewegungen, die gegen die »öffentliche Moral« verstießen und ahndeten sie mit Geld oder Gefängnisstrafen. Auf den öffentlichen Bällen in Orten wie dem Teatro de la Opera tanzte man unterschiedliche Tänze – neben Polka und Quadrillen, Walzer, Mazurka und Schottische auch die Habanera.28 Bei letzterer handelt es sich um einen Tanz aus Kuba, dessen synkopierter Rhythmus afrokubanischer Herkunft war. Auch bei den anderen Tänzen war keineswegs Entwarnung geboten. Schließlich ging es darum, wie sie ausgeführt wurden. Seit den 1860er Jahren finden sich Beschreibungen von Polkas und Mazurkas mit »cortes« und »quebradas«, den für den modernen Tango wie für alle anderen Jazztänze typischen Momenten des plötzlichen Innehaltens (Breaks), auf die Improvisationen isolierter Körperteile folgten.29 In der Forschung ist umstritten, wie relevant der Beitrag afrikanischer Tanzkultur im Tango war. Gegenüber den afrikanischen Wurzeln hebt Chasteen die rassistische Aneignung hervor.30 Thompson versucht, genau das Gegenteil zu belegen, und will dieser Aneignung nicht das letzte Wort lassen. Torp wiederum weist jede deskriptive Referenz auf einen fixen Gegenstand zurück, wenn es um Tango geht und betont »vielfältige geo-historische Verflechtungen«. In den »rhythmischen Figurationen« ließen sich sowohl Brüche wie Kontinuitäten ausmachen. Es sei denkbar, dass mit demselben Begriff zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedliche kul-
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Torp, Alte atlantische Tangos, S. 215. Vgl. Windus, Afroargentinier, S. 197. Thompson, Tango, S. 89. Vgl. Enrique H. Puccia: Historia Del Carnaval Porteno, Buenos Aires 2000, S. 194-195. Thompson, Tango, S. 224-225. Chasteen, Black Kings, S. 43-59.
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turelle Formen bezeichnet wurden, so dass der Begriff Tango nicht zwangsläufig auf eine kulturelle Verwandtschaft hindeuten müsse. Aus der Perspektive von Körper in Schieflage liegt die Verwandtschaft weniger in ethnischen Wurzeln begründet, als in minoritären Strategien der Gemeinschaftsbildung im Black Atlantic. Der Tango war Teil eines (oft rassistisch geführten) Streits um das Verhältnis von Kolonie und Metropole und verhandelte später die Grenzen der imaginären Gemeinschaft der Nation in Relation zur Erfindung der weißen Rasse. Der Tango war sowohl das Produkt einer transnationalen Verflechtungsgeschichte wie das Ergebnis lokaler Auseinandersetzungen um Bürgerschaft, Partizipation und Rechte, die in postemanzipatorischen und imperialen Gesellschaften rund um den Atlantik strukturell ähnliche Fragen aufwarfen. Die verschiedenen Tangos standen nicht unverbunden nebeneinander. Ihr strategisches Potential, sowohl in Nachahmen bestimmter Bewegungen wie in der Übertragung des Begriffs Tango auf verschiedene kulturelle Praktiken, ergab sich aus der Geschichte des Rassismus. Die sich verändernden Figurationen von Tango verweisen auf Auseinandersetzungen und Konflikte. Der Karneval von Buenos Aires und die in ihm aktualisierten Tänze wie Cakewalks und Tangos verhandelten Fragen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit entlang der Color Line. Dass diese um 1900 überhaupt noch verhandelt werden mussten, verweist auf eine Präsenz, die es offiziell bereits nicht mehr gab: Denn laut Zensus war das ›Rassenproblem‹ im Land schon gelöst und die Afroargentinier_innen dabei, »auszusterben«.31 Angeblich gab es in Argentinien 1895 laut Zensus nur noch 500 schwarze Bewohner_innen. Hatten Afroargentinier_innen in Buenos Aires um 1800 noch gut ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht, war ihr Anteil nach der Abschaffung der Sklaverei rapide zurückgegangen. Neben der Einwanderung aus Europa hatte dies jedoch auch mit veränderten Techniken des Zählens und Registrierens argentinischer Bürger_innen zu tun. Vergleicht man die offizielle Statistik mit der Präsenz von schwarzen Menschen in Buenos Aires um 1900 und der Existenz von Vereinen und Zeitungen, die sich politisch als schwarz positionierten, ergibt sich ein klarer Widerspruch. Andrews zeigt in Afro-Argentines of Buenos Aires, dass der Zensus ebenso wie andere administrative Maßnahmen eine Politik des »Weißmachens« verfolgte.32 Wer sowohl weiße wie schwarze Eltern hatte, zählte im Zensus nicht mehr zur Kategorie »Negro«. Was auf den ersten Blick wie die Umkehrung eines nordamerikanischen Modells der »one drop rule« erscheint, folgte tatsächlich einer ganz ähnlichen Rationalität, denn auch in Argentinien galten die Nachkommen der Sklav_innen als Problem, das bevölkerungspolitisch gelöst werden müsse.
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Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 105. Er verweist hier auf den weiter unten noch ausführlicher diskutierten Arzt und Soziologen José Ingenieros. Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 65 ff.
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Aus der Perspektive von Afroargentinier_innen folgte auf die Unabhängigkeit und die Kriege um Grenzverläufe mit Nachbarstaaten der Kampf um die endgültige Abschaffung der Sklaverei und gegen die Gesetze, die sie unter anderem Namen perpetuierten. In der sich konsolidierenden argentinischen Republik sahen sich schwarze Bürger_innen somit vor dem Problem, dass der Rassismus, dem sie sich im Alltag ausgesetzt sahen, politisch nicht mehr als Sklaverei adressierbar war. Im nationalen Diskurs spielten sie zudem die Rolle des Opfers – verehrt als gefallene Soldaten für die Unabhängigkeit waren sie tatsächlich einer Politik der Vernachlässigung ausgesetzt, die ihr »Aussterben« auch in Friedenszeiten erwarten ließ.33 In den Augen der herrschenden Oligarchie waren sie Teil eines unerwünschten Teils der Bevölkerung geworden, der entweder durch Vernachlässigung und Ausschluss oder durch Assimilation und Vereinnahmung möglichst rasch verschwinden sollte.34 Die Oligarchie versuchte, sich mit der Anwerbung von europäischen Migrant_innen in den 1880er Jahren von der Arbeitskraft der alten, als arbeitsunwillig denunzierten Arbeiterklasse unabhängig zu machen, zu der nicht nur ehemalige Sklav_innen, sondern auch Indigen_as und die weiße Unterschicht zählten.35 Die Rationalität, mit der die Regierung eine Politik der Modernisierung propagierte, formulierte gegensätzliche politische Interessen und Konflikte zwischen Stadt und Land, zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen alteingesessenen und neu zugezogenen Arbeiter_innen als Gegensatz von »Barbarei und Zivilisation«. Mit der Migration kamen aber auch neue Formen des Widerstands ins Land: Sozialist_innen und Anarchist_innen setzten die Regierung mit Generalstreiks und Bombenanschlägen unter Druck.36 1912 musste die Oligarchie einem allgemeinen und geheimen Wahlrecht zustimmen. Um die Politik der Vernachlässigung und der Diskriminierung anzugreifen, hatten sich Afroargentinier_innen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Vereinen zur gegenseitigen Unterstützung organisiert, ähnlich wie dies später auch die Migrant_innen aus Europa taten. Dabei wuchs die Notwendigkeit, ihre Position offensiv als schwarze Argentinier_innen zu artikulieren und an die Geschichte der Sklaverei zu erinnern. Sie standen vor der Herausforderung, sich zugleich als Teil der Nation und als schwarz zu positionieren, um auf Diskriminierung aufmerksam ma33 34 35 36
Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 113 ff. Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 42-58. Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 104. Zur transnationalen Dimension des Anarchismus um 1900 und zum mehrjährigen Aufenthalt des italienischen Anarchisten Errico Malatesta in Buenos Aires in den 1880er Jahren vgl. Anderson, Under Three Flags. Anarchism and the Anti-Colonial Imagination, London/New York 2005, S. 75 ff.; allgemein zur Einwanderung vgl. Arnd Schneider: Inmigrantes Europeos y de otros Orígines, in: Quijada, Homogeneidad y Nación, S. 141178.
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chen zu können.37 Bereits 1879 hatten einige Theater und Tanzhallen in Buenos Aires versucht, schwarze Besucher_innen auszuschließen.38 Doch diese Maßnahme der Segregation konnte sich politisch nicht durchsetzen. Dieser Versuch stellte aber nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs alltäglicher Diskriminierung dar, denn der Ausschluss von Afroargentinier_innen reichte damals von Mitarbeit in öffentlichen Ämtern hin zur Diskriminierung im Bildungsbereich.39 In der Zeitschrift Caras y Caretas aus Buenos Aires findet sich um 1900 eine Kolumne mit dem Titel »Gente de Color«, die sich über die »Überreste« der schwarzen Community lustig machte, die These ihres Verschwindens aber auch konterkarierte. Die weiße Presse erfand mit Gente de Color eine neue Bezeichnung, die unabhängig von den Kategorien des Zensus das Andere der weißen Rasse markierte.40 Auch in Argentinien bildete sich also eine Color Line heraus. All diese Maßnahmen belegen, dass sich die Hoffnung der Politik, das »Rassenproblem« werde sich von selbst lösen, nicht bewahrheitete. Vielmehr kam es zu unvorhergesehenen Querverbindungen und Austauschbeziehungen. Während es in der Anfangszeit der Republik noch relativ viele schwarze Musiker gegeben hatte, die für ein bürgerliches Publikum spielten, sahen sie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert von europäischen Einwanderern ersetzt, die ihr Können mit Zertifikaten und Akademiestudium belegen konnten. »The black musicians, unable to present such documents, were ignored by a society intent on adorning itself with the most certifiably European accoutrements available.«41 Doch in den zahlreichen, zwischen Amüsement und Sexarbeit positionierten Lokalen der Vorstädte, in denen arme Einheimische und Einwanderer zusammenlebten, waren schwarze Musiker und 37
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Ein frühes Beispiel für schwarze Selbstorganisierung war die Gründung von Genossenschaften in den 1850er Jahren, die ihre Mitglieder im Krankheitsfall unterstützten. »La Protectora« war zuerst bei afroamerikanischen Hafenarbeitern aus den USA in Buenos Aires erfolgreich. Doch bald war La Protectora in der gesamten afroargentinischen Bevölkerung hoch angesehen und hatte seit den 1880er Jahren auch Mitglieder aus anderen Communities. Die Genossenschaft existierte bis in die 1930er Jahre, ohne dass sich noch jemand daran erinnert hätte, dass sie ursprünglich eine Gründung von Afroargentinier_innen gewesen war. Vgl. Andrews, S. 151-155. Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 196-197. Vgl. Ricardo Rodríguez Molas: Racismo y esclavitud. Páginas de un modelo, in: Dina V. Picotti (Hg.): El Negro en la Argentina. Presencia y Negación, Buenos Aires 2001, S. 333-344. Andrews, Afro-Argentines, S. 199; vgl. z.B. Gente de Color, in: Caras y Caretas, 25. November 1905. Wie groß die Angst war, dass der Plan vom weißen Argentinien scheitern könnte, zeigen auch die rassistischen Reaktionen auf ein Gerücht 1888, die USA würden Afroamerikaner_innen ermutigen wollen, nach Südamerika auszuwandern, vgl. Molas, Racismo, S. 341. Mehr zu Karikaturen in argentinischen Zeitschriften um 1900 in Daniel Schavelzon: Buenos Aires Negra. Arqueología histórica de una ciudad silenciada, Buenos Aires 2003, S. 104. Andrews, Afro-Argentines, S. 170.
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Tänzerinnen gefragt. Wer dort arbeitete – sei es als Prostituierte, Zuhälter oder Musiker – legte ein anderes Verhältnis zu den Normen bürgerlichen Verhaltens an den Tag. Die Kultur des Black Atlantic brachte diese Haltung von Nähe und Differenz wie keine andere auf den Punkt. Ein Beispiel für diesen Übersetzungsprozess ist der Körper in Schieflage: Auf dem Titelblatt von Noche de Garufa wird er wie in einer Promenade allein getanzt. In der Candombe drückte er nach Thompson Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit aus. In der engen Umarmung des Tangos fand die Geführte für diese Bewegung nun die Unterstützung ihres Partners, der ihren Schwung auffing. Die Flexibilität, die der nach hinten verlagerte Oberkörper ausdrückte, erzeugte ein neuartiges Bild, das Balance und Kooperation ausdrückte, aber auch als weibliche Hingabe und Unterwerfung interpretiert werden konnte. Ähnlich wie der verlagerte Oberkörper im Cakewalk entwickelte sich die Figur zu einer Ikone des Tangos.42 Wie New York war auch Buenos Aires als Hafenstadt und kommerzielles Zentrum einer expansiven Ökonomie ein Zentrum moderner Sexarbeit. Das Nachtleben von Buenos Aires war in den Augen von Zeitgenossen ein Zeichen für Modernisierung im Sinne einer Abkehr von der Melancholie und Untätigkeit der traditionellen argentinischen Oberschicht. Die Intensität des Nachtlebens entspreche der intensivierten Arbeitsleistung der Bevölkerung am Tag, argumentierte der Mediziner und Soziologe José Ingenieros.43 Eng mit dem Nachtleben verbunden war die Ökonomie der Sexarbeit, die in Buenos Aires seit den 1870er Jahren legalisiert war. Doch neben den staatlich überwachten Bordellen, in denen die Frauen sich regelmäßig medizinischen Untersuchungen unterziehen mussten, gab es einen weitaus größeren Bereich der unregistrierten Sexarbeit.44 Auf die Frage, wo der Tango in Buenos Aires um 1900 getanzt wurde, finden sich widersprüchliche Angaben. In Tanzhallen wie dem Ausflugslokal eines deutschen Migranten, Lo de Hansen, wurde er offiziell nicht getanzt, wohl aber in informellen Tanzschulen, den »academias de baile«. Immer wieder folgt die Tangogeschichtsschreibung hier dem Blick der Polizei und der Wissenschaftler, die mit ihr zusammenarbeiteten. Der Rechtsmediziner Francisco de Veyga berichtete beispielsweise 1910 in Los auxiliares de la delincuencia (deutsch: Die Gehilfen der Delinquenz) über die academias, die er zu Untersuchungszwecken aufgesucht hatte. Es handle sich dabei einfach um Cafés, berichtete er, die ihre meist deutschen Betreiber »animier kneipe, ›taberna de animación‹« 42
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Vgl. die Titelbilder und Illustrationen in zahlreichen Publikationen zum Tango, z.B. Nicole Nau-Klapwijk: Tango Dimensionen, München 1999. Die ersten drei Abbildungen zeigen die Autorin mit ihrem Partner in dieser Figur. Ingenieros, Sociología, S. 218. Vgl. Donna Guy: Sex & Danger in Buenos Aires. Prostitution, Family, and Nation in Argentina, Lincoln NE/London 1991; dies.: White Slavery, Public Health, and the Socialist Position on Legalized Prostitution in Argentina, 1913-1936, in: Latin American Research Review 1988 23 (3): S. 60-80.
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nennen würden. Frauen seien hier allein dafür angestellt, mehr Männer in das Lokal zu bringen und dort zum Trinken zu animieren.45 Der Ausschluss von Afroargentinier_innen aus dem bürgerlichen Unterhaltungsgewerbe brachte diese nun – ungewollt – in die Nähe einer subproletarischen Kultur der Vorstadt. Eine Afroargentinierin erinnerte sich 1902 in einem Interview daran, dass sie früher von den »compadritos« eingeladen worden sei, in ihren Cafés und zu schwarzer Musik zu tanzen.46 Compadrito ist die Verkleinerung von Compadre, einer Bezeichnung für ehemalige Gauchos, die in die Stadt gezogen waren, »vertriebenes Landproletariat«.47 »Im ›Compadre‹ vereinen sich die ethnischen Merkmale des Gauchos, des Indios und des Schwarzen. Vom Gaucho hat er das wilde Draufgängertum und das treffsichere Messer, vom Schwarzen erbte er die Geschmeidigkeit für den sinnlichen Tanz der Vorstadt, und vom Indio hat er das bartlose Gesicht und die reine Sentimentalität [...].«48
Damit wäre genau das Milieu der alten Arbeiterklasse beschrieben, das aus der Perspektive der Regierung durch die Migration erneuert werden sollte. Der Compadrito war der »Nachfolger« des Compadre, weniger Symbol einer vergangenen Zeit als Ausdruck einer problematischen Gegenwart: »He was affected in dress and behaviour, a pimp, an exploiter of prostitutes, who admired the upper class.«49 Ähnlich wie der Coon in den USA oder in Südafrika nahm der Compadrito nicht die Position ein, die seinen ökonomischen Verhältnissen entsprach. Er war ein »Feind der Arbeit« und führte durch Mode und affektiertes Verhalten eine Subjektivität vor, die ihm sozial nicht zustand.50 Der Compadrito verfolgte als kleiner Compadre auch ein etwas anderes Konzept von Männlichkeit als der stets kämpfende und seine Position verteidigende ›Compadre‹:
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Vgl. Dr. Francisco de Veyga: Los Auxiliares de la Delincuencia, Buenos Aires 1910, S. 29, zitiert in: Gobello, Crónica, S. 24. Vgl. Andrews, Afro-Argentines, S. 166; vgl. auch die Quellen zum afroargentinischen Musiker und Tango-Tänzer »Casimiro«, Gobello, Crónica, S. 31 ff. Daniel Vidart: Herkunft und Schicksal des ›Compadrito‹, in: Künstlerhaus Bethanien (Hg.): Tango. Melancholie der Vorstadt, Berlin 1982, S. 39-42, hier: S. 40. Vidart, Herkunft, S. 42; der Gaucho war in etwa das Pendant des nordamerikanischen Cowboys und hier wie dort waren viele von ihnen Schwarze, vgl. Chasteen, National Rhythms, S. 55. Die Unterscheidung von Gauchos und Schwarzen in der Aufzählung ist insofern irreführend. Vgl. Gustavo Javier Benzecry Sabà: Glosario de Tango Danza/Tango Danza Glossary. Key Tango Argentino Dance Terms, Stuttgart 2004, S. 106. Vidart, Herkunft, S. 42; »Hinter den exaltierten Gesten der Aufschneider zeichnet sich ein Lebensstil ab, eine Weltanschauung, eine besondere Psychologie, alles in allem eine Kultur, die ebenso legitim wie die der städtischen Elite ist«, ebd., S. 39.
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»Der ›Compadrito‹ ist ein ›Compadre‹, der eine Note sanfter ist, ein Bursche mit einer Nelke im Ohr und mit blütenreichen Schmeicheleien, der geht, als tanze er Tango, der sich seine Sporen in kleinen Fehden verdient, bis er eines Tages sein Patent als Raufbold erlangt, wenn er einen stolzen ›Compadre‹ von seinem Thron stösst.«51
Beide, Compadres und Compadritos werden in der Tangoliteratur als frühe Tangotänzer erinnert. In den Liedtexten und Erzählungen über den Tango wurde der Compadrito dabei zur Karikatur, zum Compadron: »Der ›Compadron‹ ist ein Schlaumeier, der viel redet, aber einer körperlichen Auseinandersetzung lieber aus dem Weg geht.«52 Er setzte nicht mehr alles daran, Compadre zu werden. Es geht mir an dieser Stelle weniger darum, ob diese folklorisierten Figuren tatsächlich der Entstehungsgeschichte des Tangos oder der sozialen Realitäten in den Vorstädten entsprachen. Sie sind vielmehr symptomatisch für Auseinandersetzungen um gesellschaftlich zugewiesene Plätze, die stets auch mit dem Tango in Verbindung gebracht wurden. Eine solche Funktion erfüllten diese folklorisierenden Figuren auch auf den lokalen Theaterbühnen von Buenos Aires, wo der Compadrito üblicherweise die Rolle des sprechenden Repräsentanten des Tangos übertragen bekam.53 Zu diesen Aufführungen wagte sich auch ein bürgerliches Publikum. Der Tango ermöglichte aus der Perspektive der alten Arbeiterklasse, aus der Konkurrenz mit der neuen Arbeiterklasse auszusteigen und in Körpertechniken und Selbstinszenierung zu investieren. Während auch die afroargentinischen Zeitungen in ihren Kommentaren Arbeitsethik und Leistungsbereitschaft hochhielten und damit den an sie gerichteten Anforderungen der liberalen Modernisierer entsprachen, die das Land »zivilisieren« wollten, entzogen die Compadritos ihre Kreativität und Aufmerksamkeit diesem Zusammenhang und verlegten sich auf eine andere Ökonomie: Frauen zu beeindrucken und zu verführen, um ihre spezifische Position in einer Einwanderungsgesellschaft für sich zu nutzen. Denn in Buenos Aires gab es um 1900 mehr Männer als Frauen. Einerseits wanderten mehr Männer als Frauen ein, andererseits verhinderten soziale Abgrenzung und Klassenrassismen den Austausch zwischen Einheimischen und Zugewanderten.54 Bisweilen wird sogar behauptet, der moderne Tango sei entstanden, um die Neuankömmlinge aus Europa als Provinzler vorzuführen. Ähnlich wie in New York wird damit auf den Kontext einer urbanen Kultur der Selbstdarstellung und Selbsterfindung verwiesen. Doch
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Vidart, Herkunft, S. 41. Vidart, Herkunft, S. 41. Vgl. Monika Elsner: Das vier-beinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurse des Tango argentino, Frankfurt am Main 2000, S. 253. Vgl. den Abschnitt »Frauenmangel und Mädchenhandel – Die Milonguita«, in: Birkenstock/Rüegg, Tango, S. 29-39.
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das Lachen war ambivalenter und unkontrollierbarer, als diese These souveräner Manipulation in ihrem Funktionalismus unterstellt.55 Als der Tango in Europa um 1910 zum Modetanz wurde, hatte dies wieder Rückkopplungen in Argentinien selbst. Die argentinische Oberschicht wies den Tango als nationale Kultur erst zurück und erinnerte die Pariser daran, dass er zuhause nicht von der besseren Gesellschaft getanzt werde.56 1911 warnte ein Artikel in einer argentinischen Wochenzeitschrift, die sich am Konsum der Oberschicht orientierte, dass die Pariser Tangomode nicht dazu führen möge, dass »unsere gute Gesellschaft« ihn akzeptiere. Doch anders als der Tango in Paris, den der Kommentator offenbar lächerlich fand, würde die »Akklimatisierung des Tango in seiner Heimat nicht komisch wirken.«57 So lud der Artikel ein, die Europäer_innen zu belächeln und sich den Tango zugleich national einzuverleiben. Was argentinisch ist, war aber nicht erst durch die enthusiastische Rezeption des Tangos in Europa fraglich geworden. Die bevölkerungspolitischen Fantasien waren aus der Perspektive von Regierung zu einem Alptraum großstädtischen Kontrollverlusts geworden. Die Migrant_innen blieben größtenteils in Buenos Aires und wandten sich nicht dem Hinterland zu, das die Ideologie des argentinischen Nationalismus zum Nährboden für die Seele des argentinischen Volkes erklärt hatte, sondern sie wurden »porteños«, Hafenstädtler. Als die sozialistische Partei um 1900 die Einbürgerung propagierte, um den politischen Einfluss der Migrant_innen zu stärken, reagierte die Regierung alarmiert. Sie erließ die ersten restriktiven Gesetze gegen Einwanderung aus Europa und versuchte nun, auch die europäische Migration in erwünschte und unerwünschte aufzuteilen.58 In diesem Zusammenhang veränderte sich auch der Rassismus im Land. Die Nation wurde mehr und mehr als »amalgamierte Homogenität« vorgestellt.59 Daran hatten auch Wissenschaftler wie der Arzt José Ingenieros ihren Anteil, die einen biologistischen Positivismus und eine von Rassenhygiene informierte Soziologie und Kriminologie vertraten.60 Während sich einige einer verklärten Vergangenheit 55 56
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Vgl. Andrés M. Carretero: Der Spott, in: Künstlerhaus (Hg.), Tango, S. 30. Auch in Deutschland verwiesen manche auf die ›wahre‹ Herkunft des Tanzes im Rotlichtmilieu, was nicht nur skandalisierte sondern auch exotisierte, vgl. Cabaret-TanzRevue 1913 59 (3): S. 12-13. Kommentar in El Hogar vom 20. Dezember 1911, zitiert in Elsner, Das vier-beinige Tier, S. 257. Vgl. Birgit zur Nieden: Falta la reciprocidad? Argentinisch-spanische Diskurse über Migration. Eine Bewegungsgeschichte, unveröffentlichte Dissertation, FU Berlin 2009. Zur Nieden, Falta, S. 121. »Francisco de Veyga (1866-1948), José Ingenieros (1877-1925), Carlos Octavio Bunge (1875-1918), and José Maria Ramos Mejía (1849-1914) were the most renowned among the cultural scientists, students of Freud, Lombroso, Taine, Nordau, Krafft Ebing and Sarmiento, whose mission it was to diagnose and remedy the illnesses of the body politic.« Persephone Braham: Los Simuladores del Talento. Representing Monsters in Ar-
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zuwandten, die sie kulturell im »criollismo« und ökonomisch in der kolonialen Ausbeutung des Hinterlandes verorteten, plädierten andere für eine radikalisierte Liberalisierung. Nur Arbeit könne den unproduktiven »kreolischen Charakter« überwinden, seine Arroganz und Melancholie, schrieb Ingenieros 1913.61 Als Sohn italienischer Einwanderer in Sizilien geboren, war er wie sein Vater erst Sozialist gewesen, doch um 1900 distanzierte er sich politisch und begann, für das neu eingerichtete Hygieneministerium zu arbeiten, das unter anderem mit der Überwachung und Regulierung der Migration befasst war. Gegen seinen alten Glauben an die Möglichkeit radikaler Brüche setzte er nun eine Theorie der Evolution, die – analog zu Prozessen in der Biologie – menschliche Gemeinschaftsbildung und soziologische Veränderungen analysieren und regulierend in diese eingreifen sollte. Der alte Kampf von Zivilisation und Barbarei, wie ihn die Gründer der Republik imaginiert hatten, war dabei erheblich verkompliziert: Die strebsame, disziplinierte Arbeiterschaft aus dem imperial erneuerten Europa hatte die alte Arbeiterklasse nicht einfach ersetzt. Der Konkurrenzdruck einer entstehenden Industriegesellschaft hatte vielmehr unvorhergesehene Mutationen hervorgebracht.62 Eine Gesellschaft, die den Alltag als Überlebenskampf organisierte, der von Konkurrenz und Übervorteilung geprägt war, führte zu einer Kultur der Simulation, »un medio fraudulento de lucha por la vida.«63 Um ihre Interessen durchzusetzen, seien Lügen und Maskierungen, die Vorspiegelung falscher Tatsachen, die Erfindung neuartiger Pathologien an der Tagesordnung. Mit seinem Begriff der »Pathomimicry« versuchte Ingenieros diesen Mechanismus der Simulation zu benennen, der den Glauben an stabile ethnische oder nationale Charaktere ebenso erschütterte wie eine technokratische Vorstellung gesellschaftlicher Veränderung.64 Die im Kapitel Gesellschaftstanz bereits aus dem Komplex Ausstellung rekonstruierte Konzeption der »krankhaften Mimikry« erscheint vor dem Hintergrund der Sozial- und Kulturgeschichte von Buenos Aires um 1900 noch in einem anderen Licht: Maskierungen und Posen waren für den Tango konstitutiv. Seine Entstehungsgeschichte erzählt weniger von Vermischung und Hybridisierung als von sich ausbreitenden Konflikten.65 Jorge Salessi verortet sie in seiner Untersuchung des Zusammenhangs bürgerlicher Sexualpolitik und der Nationalisierung des Tangos als Teil von Strategien der Marginalisierung, die aus den bürgerlichen Projekten
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gentinean Letters, 1890-1914, in: Latin American Literary Review 2003 31 (61): S. 97112, hier: S. 97. José Ingenieros: La Sociología Argentina, Madrid 1913, S. 215. Vgl. Graciela Ferrás: Extranjero, Raza y Simulación en el Pensamiento de José Ingenieros, in: Coherencia 2006 3 (4): S. 139-163. Zitiert nach Molloy, Posing, S. 152. Vgl. Kap. I.2. Politiken der Pose. Savigliano, Tango, S. 37.
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von Hygiene, Urbanistik und Heteronormativität erwuchsen.66 Eng damit verbunden war auch der Versuch, die Einwanderung zu regulieren und Prostitution zu legalisieren. Staatlich zertifizierte Bordelle waren von Wissenschaftlern in den 1880er Jahren legitimiert worden, weil die in ihrer sexuellen Identität als unzuverlässig geltenden, mehrheitlich männlichen Einwanderer Gelegenheit zu heterosexuellen Praktiken bekommen sollten.67 Noch war von »Lust« die Rede, die sich in »Päderastie« zu verwandeln drohe, doch schon um 1900 sprachen lokale Psychiater von der Notwendigkeit, die Nation gegen die »sexual invert's sensibility« zu erziehen, die Einwanderer mitbrächten.68 Protagonisten dieser Wissensproduktion waren neben Ärzten und Psychologen auch Polizisten und Kriminologen. Die Bürokratie von Buenos Aires behandelte Migration als gefährliche Invasion durch kosmopolitische Schurken, die in Vierteln wie La Boca eine Ökonomie des Lasters betreiben, dem Land seinen Reichtum entziehen und seine Kultur zerstören würden.69 Salessi spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung einer »inverted culture« in Buenos Aires, die paradoxerweise genau dort entstanden sei, wo Institutionen der »Hygiene« eingerichtet wurden. Sexarbeit wurde zur »agency of new cultural codes«, die genau die Geschlechterordnung zu unterlaufen drohte, die sie verankern sollte. Der Tango war unter anderem ein Produkt dieser Situation, so Salessi. Die vereinzelten Quellen, die berichten, dass anfangs häufig Männer zusammen getanzt und »geübt« hätten, seien keine kuriose Marginalie, ebensowenig wie die Tatsache, dass in den Bordellen oft Frauen miteinander tanzten. Die zahllosen Tangotexte seit den 1920er Jahren erzählen von der tragischen oder komplizierten Beziehung zwischen Compadrito und Milonguita, die häufig mit Sexarbeit assoziiert wurde. Um 1900 folgte die Musik im Tango noch weitgehend den Experimenten der Tänzer_innen und war nicht durch Liedtexte formal festgelegt.70 Ähnlich stumm wie der Tango war deshalb auch die »undocumented history«, in die er hineingeboren wurde.71 Als Quellen stehen heute in erster Linie die Pathologisierungen und Kriminalisierungen dieser marginalisierten Welt zur Verfügung, die Salessi in 66 67 68 69
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Jorge Salessi: Medics, Crooks and Tango Queens. The National Appropriation of Gay Tango, in: Delgado/Muñoz: Everynight Life, S. 141-174. Vgl. Salessi, Medics, S. 149 f. Vgl. Salessi, Medics, S. 146 f. José Ramos Mejía: Los simuladores del talento, Buenos Aires 1903; ders.: Las multitudes Argentinas, Buenos Aires 1912; Salessi, Medicos, S. 151 und 156; Salessi verweist hier auf einen auch in anderen Kontexten beobachteten Zusammenhang einer bürgerlichen Konzeption von Nation und derartigen Verschwörungsszenarien gegenüber den unteren Schichten. Vgl. auch George Mosse: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen, Reinbek bei Hamburg 1987. Vgl. die Periodisierung des Tangos in Savigliano, Tango, S. 247; zur Funktion der Maske in der Konstruktion von Männlichkeit als Abwehr von Homosexualität die Analyse von Tangotexten vgl. Saikin, Tango und Gender, S. 130 ff. Salessi, Medics, S. 143.
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seiner Untersuchung gegenliest. Polemisch fragt er abschließend, ob die spätere Melancholie des Tangos und die nostalgische Erinnerung an die Zeit der Jahrhundertwende nicht auch eine Art und Weise war, den Verlust von »homosexual desire« zu betrauern.72 Tatsächlich erschien die totale Durchsetzung bürgerlicher Normen auch dem Bürgertum selbst unheimlich. Eindrücklich belegt dies eine Ausgabe der Zeitschrift Caras y Caretas zum Karneval 1901. Eine Fotostrecke stellt Karnevalsgruppen in Kostüm vor: »Las Boers« zeigt eine Gruppe weißer Kinder mit Patronengürteln um die Brust, die den Kampf burischer Siedler_innen in Südafrika gegen die britische Kolonialpolitik darstellen sollten. Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich eine Fotografie der Truppe »Los Cuatro Negros Unidos«, die in ihren Kostümen auf ethnografische Völkerschauen und in ihrem Namen auf afroargentinische Selbsthilfeorganisationen anspielte.73 Weil auf dem Bild mehr als vier Personen zu sehen sind, könnte der Titel auch eine Anspielung auf die Inkongruenz zwischen der offiziellen Zählung und der offensichtlichen Anzahl gewesen sein. Während die Migrant_innen aus Italien und Spanien die Integration in die argentinische Nation verhandelten, wählte die Zeitschrift unter den schwarzen Truppen in Blackface ein Bild aus, das sie als geschichtslose Wilde darstellte. Aus diesen einzelnen Bildern, die gerahmt, mit Bildunterschriften versehen und von Text umgeben das Durcheinander des Karnevals ordnen, ergeben sich Trennungen, die entlang der Color Line Distanz und Differenz vermitteln: Die Einwanderer integrieren sich, die Afroargentinier bleiben afrikanische Barbaren, die Oberschicht bleibt auf ihren eleganten Bällen unter sich. Es war also alles an seinem in der kolonialen Ordnung vorgesehenen Platz, trotz Konflikte und Kriege. Doch die Zukunft konnte man sich aus dieser Perspektive schon nicht mehr richtig vorstellen, jedenfalls keine Zukunft mit Karneval. Eine Karikatur in derselben Ausgabe zeigt wie in einem Comic vier historische Stationen eines ausgelassenen Festes – die Bacchanalien in Griechenland; die französische Aristokratie bei einer Partie im Park; einen modernen Karneval unter elektrischer Straßenbeleuchtung, ganz ähnlich einer Zeichnung »Escenas de Carnaval« von Buenos Aires in der Gegenwart, die in derselben Ausgabe einige Seiten vorher abgedruckt war,74 und als letztes ein Bild, das neben ordentlich spazierenden Bürger_innen nur einen einsamen Clown zeigt, der mit den Händen in den Taschen nachdenklich aus dem Bild geht und den Betrachter_innen den Rücken zuwendet. Die Straße gehört einigen Automobilen und Kutschen, dazwischen gibt es einen Fahrradfahrer. Die breiten Bürgersteige sind bis auf wenige Passanten fast leer. Die Überschrift der Karikatur »El carnaval à través de los siglos« wirft die Frage auf, 72 73 74
Salessi, Medics, S. 168. Vgl. El Carnaval, in: Caras y Caretas, 23. Februar 1901. Vgl. Escenas de Carnaval, in: Caras y Caretas, 23. Februar 1901.
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was an diesem letzten Bild noch Karneval sein soll.75 Sollte sich die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Polizeiordnung tatsächlich durchsetzen, so diese Karikatur, würde es keinen Karneval mehr geben. In dieser Situation ist auch die Ankunft des Cakewalks um 1900 in Buenos Aires zu verorten, den die Polizei in ihrem Bericht von 1904, der am Anfang dieses Kapitels steht, problematisierte. Das Varieté hatte ihn in die Stadt gebracht, zusammen mit Musiker_innen aus den USA, die wie der Pianist Harold Phillips mit Ragtime auftraten und in der Stadt blieben.76 Der Cakewalk war wie eine Bestätigung von außen für einen Prozess der Veränderung, der in den herrschenden Begriffen keinen Namen hatte. Die Noche de Garufa verweist auf eine veränderte Vorstellung von Stadt, die zur elektrisch erleuchteten »noche porteña« in vormals zwielichten Vierteln einlud.77 Doch nicht nur die Sauftouren der Männer überschritten die konstitutiven Grenzen einer bürgerlichen Welt. Frauen spielten auf ihren heimischen Klavieren nicht mehr nur klassische Musik, sondern zunehmend auch Ragtime und Tangos, die wie Noche de Garufa massenhaft als Musiknoten verkauft wurden.78 Insbesondere gelangweilte Dandies und Jugendliche, die ihre Eltern schockieren wollten, tanzten den Cakewalk in Buenos Aires. Gleichzeitig mit dem Cakewalk erlaubten die ersten bürgerlichen Theater in Buenos Aires dem Tango Eingang in ihre zu Tanzpalästen umfunktionierten Räumlichkeiten, vorerst jedoch nur zur Karnevalszeit.79 Als Geste des Überschwangs und der Hingabe, die – wie argentinische Korrespondenten aus Paris eifrig berichteten – auch in Europa populär war, entwickelte sich der Cakewalk in den bürgerlichen Schichten von Buenos Aires für einen kurzen Moment zu einer etwas weniger skandalösen Alternative zum Tango. Er war weniger sexuell aufgeladen und erlaubte mehr Distanz zum Tanzpartner.80 Auch war er nicht wie der Tango mit Afroargentinier_innen oder Sexarbeit in der Stadt assoziiert, sondern mit den ökonomisch immer wichtiger werdenden USA und mit der Welt des internationalen Varietés.81 Als Polemik der Color Line ermöglichte der Cakewalk in Buenos Aires, das argentinische »Durcheinander« – eine der vielen möglichen Bedeutungen von Tango – ins Verhältnis zu den Mutationen und Transformationen der globalen Color Line zu setzen, ein Be-
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Vgl. El carnaval a través de los siglos, por Urtubey, in: Caras y Caretas, 23. Februar 1901. Vgl. Thompson, Tango, S. 176-177. Sergio A. Pujol: El cakewalk en Buenos Aires. El primer baile negro de salón, in: Picotti (Hg.), El Negro en la Argentina, S. 215-228, hier: S. 216. Pujol, El cakewalk, S. 215. Pujol, El cakewalk, S. 223-224. Es gibt aber Hinweise darauf, dass dies vereinzelt auch in den 1880er Jahren schon vorgekommen war, vgl. Torp, Alte atlantische Tangos, S. 311. Pujol, El cakewalk, S. 221. Zur Assoziation von Tango und Prostitution vgl. Saikin, Tango und Gender, S. 48 ff.
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dürfnis, das bereits der Artikel über den Karneval von 1901 in Caras y Caretas zum Ausdruck brachte. Jürgen Osterhammel schreibt in Die Verwandlung der Welt, dass die Einwanderung nach Argentinien nicht durch »unfreie Arbeitsverhältnisse belastet« wurde. Die Versklavung von Afrikaner_innen habe in der modernen Geschichte des Landes fast keine Rolle gespielt.82 Die kulturgeschichtliche Perspektive von Körper in Schieflage zeigt dagegen, dass den Statistiken der Bevölkerungspolitik nicht das letzte Wort gelassen werden sollte. Sicherlich war die Situation in Argentinien anders als im benachbarten Brasilien, doch das heißt nicht, dass das Land nicht von der Geschichte der Sklaverei »belastet« gewesen wäre, wie Osterhammel sich ausdrückt. Jedenfalls sollte die Geschichtsschreibung heute das damals formulierte Projekt, die schwarze Geschichte Argentiniens vergessen zu machen, nicht dadurch vollenden, dass sie eine »Europäisierung« Argentiniens als einfach gegeben annimmt. Tatsächlich war Argentinien wie Europa um 1900 in eine Transformationsdynamik eingebunden, in der dies Kampfbegriffe waren und keine stabilen Referenzen. Martha Savigliano betont in Tango and the Political Economy of Passion, dass die argentinische Republik die Logik und Rationalität eines kolonialen Projekts der Erschließung und Ausbeutung nach der Unabhängigkeit erst richtig umsetzte, und zwar in einem Projekt innerer Kolonisierung. Vom Vernichtungskrieg gegenüber der indigenen Bevölkerung zur »Autoexotisierung« in der Erfindung einer nationalen argentinischen Kultur, die Savigliano in der Nationalisierung des Tangos nachzeichnet – die Aufgabe, als Argentinier gleichsam das bessere Europa zu schaffen, hatte gewaltsame und selbstzerstörerische Konsequenzen, die nicht zuletzt in der Verinnerlichung eines kolonialen Blicks lagen. Ähnlich wie im Cakewalk in den USA gab es eine doppelte Abgrenzungsfolie: Es galt, Amerikaner zu werden, in Abgrenzung zum unvollendeten Projekt europäischer Zivilisation, das als imperiales Vorhaben außerhalb Europas perfektioniert werden sollte. Und es galt, dabei Weiß zu werden oder zu bleiben, in Abgrenzung zu anderen Bewohner_innen der eroberten Territorien, wie den Indigenen oder den zwangsverschleppten Afrikaner_innen. So ersetzte der nationalisierte »tango argentino« – in einem Zug mit dem Diskurs des Aussterbens der Afroargentinier_innen und der Politik des Weißmachens – die komplexe Herkunft des Tangos aus dem Black Atlantic. Vom kolonialen Kontext, so Savigliano, blieb nur das autoexotisierte Bild des heißblütigen Argentiniers als internalisierter Projektion europäischer Fantasien.83 Doch im Tango selbst entstand auch eine andere Form der Geschichtsschreibung. Thompson zeigt, dass viele berühmte Tangotänzer_innen in Interviews er82 83
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 238-239. Savigliano, Tango, S. 1-29.
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zählten, dass sie bei schwarzen Tänzer_innen gelernt hätten. Auch viele argentinische Tangomusiker betonten ihre schwarzen Wurzeln oder ihre Bekanntschaft mit schwarzen Musikern. Statt Ursprüngen berichten diese Erinnerungen von Begegnungen und Austausch, Bewunderung und Einfluss. Bis in die 1920er Jahren gab es in den unter Tangomusikern bekannten Tanzclubs von Buenos Aires und der benachbarten Stadt Montevideo in Uruguay, mit der ein reger Austausch herrschte, eine kontinuierliche Präsenz schwarzer Tänzer_innen, die bis in die 1920er Jahre auch die Candombe tanzten. Ein Tanzclub trug den Namen »Los Haraganes Sin Producto«, was so viel heißt wie unproduktive Tagediebe. Nicht nur afrikanische Wurzeln und schwarze Geschichte, sondern auch eine Polemik um Ökonomie und Arbeit ist hier dokumentiert. Thompson warnt davor, die Tanzgeschichte allzu linear zu erzählen und zu glauben, dass tatsächlich ein Tanz den anderen abgelöst hätte.84 Der moderne Tango lässt sich nicht auf einen Ursprung reduzieren – egal ob er nun in Buenos Aires oder im Kongo liegen soll – denn er entstand im Black Atlantic: Er perfektionierte ein komplexes Vexierspiel voller Verdoppelungen, Ersetzungen und Maskierungen, die den Austausch einer transatlantischen Ökonomie kennzeichneten, der stets unter ungleichen und ausbeuterischen Bedingungen stattfand. Dabei ist weniger relevant, was die beteiligten Akteure jeweils beabsichtigten, sondern welchen Formen sie sich zuwandten; weniger bedeutsam, wo diese Formen herkamen oder wie sie ursprünglich gemeint waren, sondern ihr polemischer Einsatz im Streit um die »imagined community« um Nation, Moderne und Bürgerrechte. Wie Anderson betont, handelte dieser Streit nicht nur von der Gegenwart, sondern wurde auch im Namen der Toten geführt. Neben den Grenzen der Inklusion ging es dabei um die Niederlagen in den Kämpfen um Freiheit und Selbstbestimmung. Dabei entstand eine Tanzkultur, die von der Möglichkeit unvorhergesehener Unterbrechungen und Kehrtwenden erzählte. Sie war zwar selbst wieder ausbeutbar und wurde zum Übungsfeld eines redefinierten Nationalismus. Die Herausforderung improvisierter und kooperativer Bewegung, die keinem vorgeschriebenen Muster folgt, blieb aber bestehen und wird in den stets wiederkehrenden »TangoRevivals« bis in die Gegenwart rund um den Globus aktualisiert. Die tänzerischen Möglichkeiten, die der Tango bietet und die Fragen, die er im Spannungsverhältnis von Führen und Folgen aufwirft, sind lange nicht beantwortet.
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Thompson, Tango, S. 91.
Berlin
Das Berliner Metropol-Theater im Herbst 1906. Und der Teufel lacht dazu lässt aktuelle Ereignisse und Skandale Revue passieren. Das vergangene Jahr wird aus der Perspektive des deutschen Kaiserreichs als koloniales »Welttheater« rekonstruiert, das vom Teufel regiert wird. In der ersten Szene hält er Audienz. Erst kommt die Sünde aus Wien und berichtet, es gebe dort so viel Streit, dass die Leute fast keine Zeit mehr zum Walzer tanzen hätten. Außerdem wolle bald jeder nach seiner Fasson tanzen. Der Teufel zeigt sich zufrieden über dieses Durcheinander. Dann tritt die Sünde von Paris auf, »Mademoiselle Chauvin«. Sie tanzt mit einem »flotten Cancan oder Cake-walk herein.«1 Der Teufel ist begeistert, besonders »mit Marokko« habe sie wacker »geschürt und gehetzt« und vielen Leuten Sorgen gemacht. Mit Mademoiselle Chauvin verweist die Revue auf den Namensgeber des Chauvinismus und mit »Marokko« auf die gleichnamige Krise von 1905/06, in der das Deutsche Kaiserreich imperiale Geltungsansprüche in Nordafrika gegenüber Frankreich und England zu behaupten versuchte. Nach und nach kommen Gesandte aus anderen Ländern, die laut Regieanweisung jeweils »typische« Tänze aufführen sollten, wobei das mondäne Montecarlo mit der brasilianischen »Matschitsche« glänzte.2 Schließlich kommt die »Gesandtin aus Berlin« auf die Bühne, allerdings ohne Tanzeinlage. Sie habe nicht viel zu berichten, die Berliner seien allzu moralisch und solide.
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Vgl. Und der Teufel lacht dazu. Grosse Jahres-Revue in Sieben Bildern. Von Julius Freund. Musik Viktor Holländer. Typoscript (23. 09. 1906/ 08. 12. 1906), Nachlass Julius Freund Kst 7 97/92/W180 13. Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh. Die Maxixe entstand in Brasilien in den 1880er Jahren aus afrobrasilianischen Rhythmen und europäischem Paartanz. Sie wanderte gleichzeitig mit dem Cakewalk zwischen Europa und Südamerika hin und her. Ihre Herkunft aus Brasilien geriet dabei aber, anders als im argentinischen Tango, in Vergessenheit. Vgl. Micol Seigel: The Disappearance Dance. Maxixe's Imperial Erasure, in: Black Music Research Journal 2005 25 (1-2): S. 93-117.
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| E NTSTEHUNG Abbildung 5: Werbepostkarte »Der Teufel lacht dazu«, Berlin 1906
So macht sich der Teufel höchstpersönlich auf den Weg nach Berlin, um zu überprüfen, warum es den Deutschen so sehr an teuflischer Energie fehlt. Er begegnet dem Obrigkeitsstaat, der das Volk zählt, besteuert und einer strengen Pressezensur unterwirft; den Berliner_innen, die sich diesen Maßnahmen zu entziehen versuchen, dabei aber rechte »Bummler« werden; und er begegnet einem »kolonialen Sumpf« aus Sex, Gewalt und Entrechtung, den die Revue in ein gefälliges Duett zwischen einer weißen Frau und einem schwarzen Mann verwandeln wollte. (Abb. 5) Ein afrikanischer Prinz, der in Berlin in die deutsche Kolonialpolitik interveniert, eine Frau, die mit Hilfe eines Gouverneurs der Kolonialverwaltung mit gefälschtem Pass in die dortige Oberschicht eingeschmuggelt wird, der Alltag der Presse- und Theaterzensur, der vieles nur als Geste und Andeutung sichtbar werden lässt – in der Jahresrevue von 1906 ging es um Schein und Sein einer Metropolenkultur, die sich immer noch mit London und Paris vergleichen musste. Tatsächlich bescheinigten Zeitgenossen Berlin damals einen Minderwertigkeitskomplex.3 Die
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Vgl. Julius Rodenberg: Bilder aus dem Berliner Leben, Berlin 1886, S. 185, zitiert nach Katja Zelljadt: Alt-Berlin in the Kaiserreich. History as Object of Consumption and Marketing Concept, in: Thomas Biskup/Mark Schalenberg (Hg.): Selling Berlin. Image-
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Jahresrevue von 1906 machte sich darüber lustig und folgte doch selbst Vorbildern aus London und Paris.4 Die Berliner Theatermacher imitierten und kopierten in der Regel, was sich auch in Nachbarländern als erfolgreich erwiesen hatte. Julius Freund, der Autor von Und der Teufel lacht dazu, informierte sich beispielsweise durch die englische Zeitschrift The Play Pictorial. Eine Ausgabe von 1901 liegt in seinem Nachlass zu dieser Jahresrevue. Sie stellt den Cakewalk als Bühnentanz vor.5 Im Stück selbst steht er für Paris, Hauptstadt der Sünde im Welttheater des vergangenen Jahres und wird mit dem Cancan gleichgesetzt. Seine Herkunft aus den USA, der schwarzen Diaspora, dem Kontext der Sklaverei, den zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Rassismus scheint getilgt. Die neuen Tänze des Black Atlantic sind unterhaltsames weltstädtisches Dekor und zugleich Teil der Botschaft: Auf dem Parkett der Metropolenkultur herrschen Konkurrenz, Überwachung, Polizei, doch wie nebenbei entstehen dabei auch Situationen und Beziehungen, die aus der Perspektive von Regierung nicht vorgesehen waren. Die Identifizierung des Cakewalks mit Paris begann im deutschsprachigen Raum bereits, als der Tanz 1903 zum Tagesgespräch im transnational vernetzten europäischen Unterhaltungsgewerbe wurde. Bereits damals war häufig zu lesen, dass der Tanz aus Paris komme. Er sei »das Neueste des Neuen der guten Gesellschaft« und nun würden auch andere »Weltstädte« dem Pariser Beispiel folgen, schrieb die Zeitschrift Variété 1903.6 Fast wortwörtlich zitiert sie aus einer Ausgabe von Musiknoten mit dem Titel »Die lustigen Neger. (Coontown Chimes). Original Cake-Walk« von Harry S. Webster. Sie vermarkteten 1902 den Cakewalk als Sensation der Pariser und Londoner Bälle. »Jung und Alt lernt nun den Cake-Walk mit Feuereifer und jeder Tanzmeister hat ihn in sein Programm aufgenommen.« Die Musiknoten beschreiben den Tanz in sechs Figuren. »Grazie und Phantasie« sei für den Erfolg beim Wettbewerb ausschlaggebend. »Die Hauptbedingungen sind: 1. Den Oberkörper sehr stark zurückbeugen. 2. Die beiden Arme horizontal ausgestreckt halten. 3. Die Knie bei jedem Schritt sehr hochheben und die Beine nach vorwärts schwingen.« 7 Diese Version des Cakewalks geht auf das amerikanische Tanzpaar Les Elks zurück, die im Oktober 1902 im Varieté Nouveau Cirque in Paris auftraten, serienweise Bildpostkarten ihres Auftritts produzierten und mit eben
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bildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt, Stuttgart 2008, S. 117-134, hier: S. 118. Vgl. Walter Freund: Aus der Frühzeit des Berliner Metropol-Theaters, in: Kleine Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte 1962 19: S. 45-66, hier: S. 47. Nachlass Julius Freund Kst 7 97/92/W180 13. Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh. Der neue Sensationstanz, in: Das Variété 1(1903) Nr. 18. Vgl. Harry S. Webster: Die lustigen Neger. Coontown Chimes. Original Cake-Walk. Verlag Josef Weinberger Wien, Leipzig, Paris. (copyright 1902 in London, New York, San Francisco), Deutsches Tanzarchiv Köln.
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solchen Beschreibungen in eine Art Tanzkurs verwandelten.8 Ein Blick in die Programme von Varietés der Jahrhundertwende zeigt, dass der Cakewalk durchaus nicht »aus Paris« kam, sondern in Städten wie Berlin längst auf der Bühne war, bevor er zum Modetanz avancierte. Dabei überraschte die Dynamik des Nachtanzens bisweilen auch die professionellen Tänzer_innen, die das Format auf ihrer Reise über den Atlantik eigentlich gerne abgelegt hätten. Die beiden berühmten New Yorker Cakewalker Charles Johnson und Dora Dean traten schon 1901 in Berlin auf. Sie hatten in den 1890er Jahren zahlreiche New Yorker Wettbewerbe im Cakewalken gewonnen und begannen 1901 ihre erste Europa-Tournee im internationalen Varieté Wintergarten in Berlin. Sie vermarkteten sich dort aber nicht als Cakewalker, sondern als kreolisches Tanzpaar. Die Zeitschrift Berliner Leben druckte 1902 ein Gemälde des Malers und Karikaturisten Ernst Heilemann ab, das »die Creolin Dora Dean« in eleganter Garderobe zeigt.9 Johnson und Dean gelten als einer der ersten »class acts« in der afroamerikanischen Theatergeschichte. Sie traten in Abendgarderobe auf und brachen mit dem Format der Minstrel Show.10 Ihre Bezeichnung als »Modemenschen« in der deutschen Presse belegt diese Rezeption. In Berlin warb das »Kostüm Atelier Pruschinski« noch 1913 damit, dass es für afroamerikanische Tänzer_innen wie »Rastus und Banks, Dora Dean, Minnie Washington, The Little Topsy [der Künstlername von Ida Forsyne]« die »neuesten Schöpfungen« kreiere.11 1902 kam die Louisiana Amazon Guard nach Berlin und warb ebenfalls nicht mit dem Cakewalk, obwohl sie ihn im Programm hatte. Die Truppe war in New York von der deutschen Agentin Paula Kohn-Woellner zusammengestellt worden. Ein Mitglied der Truppe war Olga Burgoyne, die zuvor mit Dora Dean, Belle Davis, Aida Overton und Mattie Wilkes in der Show Oriental America aufgetreten war.12 Alle vier reisten in diesen Jahren mit dem Cakewalk im Repertoire nach Europa. Oriental America bediente sich eines orientalistischen Rahmens, um eine afroamerikanische Show zu organisieren. Die Show kombinierte dies mit modernistischen Elementen und zeigte neben Bauchtänzen auch Damen in Pumphosen beim Fahrradfahren. Kohn-Woellner positionierte die Louisiana Amazon Guard im Kontext der Kolonisierung Afrikas. Amazonen waren ein in Europa seit der Antike aufgeladener Mythos über kriegerische Frauen, der in den 1890er Jahren in den Kolonialkriegen um Dahomey in Westafrika aktualisiert wurde. Dahomey, das tief in den Sklavenhandel verstrickte Königreich an der westafrikanischen Küste, war zwi-
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Vgl. mehr zu Les Elks in Paris, Kap. III.2. Postkarte. Vgl. Berliner Leben 1902 5 (1): S. 4. Vgl. Stearns, Jazz Dance, S. 258 ff. Das Organ der Variétéwelt 1913 (266): S. 65. Vgl. Brown, Babylon Girls, S. 117-118. Aida Overton ist die spätere Aida Overton Walker, vgl. Kap. II.1.
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schen 1892 und 1894 von Frankreich erobert worden. Zur gleichen Zeit traten in Völkerschauen in Europa häufig Truppen auf, die angeblich aus Dahomey stammten. Besonders prominent waren die so genannten Amazonen, die weiblichen Mitglieder der bewaffneten Palastwache.13 Als die Louisiana Amazon Guard 1902 nach Deutschland kam, traten im Panoptikum des Passage Theaters in Berlin gerade 42 Dahomey Neger auf.14 Kohn-Woellner inszenierte ihre Truppe aber gerade entgegen der Erwartungen, die sie mit dem Namen aufrief. Sie ließ sie in europäischen Fantasieuniformen auftreten, die Frauen exerzierten auf der Bühne und marschierten in exakten Formationen.15 Dabei handelte es sich um ein etabliertes Format, das in der Theatergeschichte der USA unter dem Begriff Burleske zu den Vorläufern des Striptease zählt.16 Auch in Deutschland war das Format um 1900 bekannt. Hochhackige Stiefel, hautfarbene Strumpfhosen und eng anliegende korsageartige Trikots mit hohem Beinausschnitt inszenierten bewaffnete Frauen als erotisch aufgeladenes Bild einer verkehrten Welt. Das Germania Ensemble trat seit den 1890er Jahren in Deutschland auf und präsentierte militärischen Drill und nationale Lieder.17 Was im Alltag zunehmend umkämpft war, ließ sich auf der Bühne als sexualisiertes Spektakel vermarkten: Es dachte Emanzipation und Gleichberechtigung von Frauen in einer patriarchal-militaristischen Logik zu Ende. Die disziplinierte Erotik und geordnete Harmlosigkeit solcher Frauenspektakel bestätigte dabei die Normen und Grenzen des Bestehenden. Doch Kohn-Woellners Truppe tanzte auch Cakewalks und trat als »Rough Riders« auf. Rough Riders war eigentlich ein Begriff für Cowboys im Amerikanischen Westen. Im Krieg der USA gegen Kuba von 1898 war der Begriff auf eine Truppe angewandt worden, die unter der Führung des späteren Präsidenten Theodore Roosevelt stand. In der Louisiana Amazon Guard waren die Rough Riders nun 13
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Ihre Auftritte gehören in Europa und den USA zu den bestbesuchten Völkerschauen. In Paris sahen 1893 2,7 Millionen Besucher_innen die Amazonen, vgl. Suzanne PrestonBlier: Les Amazones à la rencontre de l'Occident, in: Nicolas Bancel u.a. (Hg.): Zoos Humains. De la Vénus Hottentote aus Reality Shows, Paris 2002: S. 136-141, hier: S. 138. Die ersten Amazonen traten möglicherweise 1890 in Hamburg St. Pauli in Umlauff's Weltmuseum auf, vgl. Carl Heinz Thinius: Damals in St. Pauli. Lust und Freude in der Vorstadt, Hamburg 1975, S. 36. Vgl. Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer» Menschen in Deutschland 1870-1940, Frankfurt am Main 2005, S. 85. Vgl. das Plakat von Adolph Friedländer, Louisiana Amazon Guard (1901), Zirkusarchiv Jaap Best, www.circusmuseum.nl, zuletzt abgerufen am 15.11.2012. Vgl. Robert C. Allen: Horrible Prettiness. Burlesque and American Culture, Chapel Hill NC 1991. Vgl. Postkarten von «H. Berend's Germania-Ensemble» von 1901. Altonaer Museum. Stiftung Historische Museen Hamburg. Die Truppe war bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs europaweit auf Tournee.
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nicht nur Frauen, sondern auch noch schwarz und spielten damit vielleicht auf die in Kuba kämpfenden afroamerikanischen Einheit der Buffalo Soldiers an. Die Louisiana Amazon Guard siedelte sich zwischen amerikanischen Südstaaten, der Karibik und Westafrika an, mobilisierte amerikanischen Imperialismus und europäischen Kolonialismus und war nirgendwo eindeutig zuzuordnen. In einer der ersten Rezensionen ihres Auftritts in Deutschland schrieb die Zeitschrift Der Artist im Juli 1901, die Louisiana Amazon Guard trage mit dem Cakewalk dem modernen Varieté Rechnung.18 Entgegen der auf der Bühne präsentierten Komplexität produzierte die Truppe damals Werbepostkarten, die sie einfach als Varietétänzerinnen darstellten. Die Gruppenportraits betonen ihre individuellen Gesichtszüge. Abbildung 6: »The Louisiana Amazon Guard«. Leipzig nach 1905
Nach wenigen Wochen passten die Frauen ihr Programm den lokalen Gegebenheiten an und sangen einen Teil ihrer Lieder auf Deutsch. Das war nicht ungewöhnlich.19 Häufig präsentierten fremdsprachige Varietékünstler_innen einen Teil ihres Programms in der jeweiligen Landessprache oder wechselten nationale Identitäten, um sich besser zu vermarkten. Doch diese Flexibilität war nicht nur angepasst, sondern auch eigensinnig. Nachdem sich die Louisiana Amazon Guard Ende 1902 mit ihrer deutschen Managerin überworfen hatte, übernahm eine der Tänzerinnen die
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Der Artist, 21. Juli 1901, zitiert in Rainer Lotz: Black People. Entertainers of African Descent in Europe and Germany, Bonn 1997, S. 188. Ihre Kollegen von den Black Diamonds traten damals in Lederhosen mit dem bayerischen Schuhplattler auf, die Sängerin Arabella Fields begann zu jodeln und Ida Forsyne lernte in Russland den Kassotzky, vgl. Lotz, Black People, S. 257 ff. zu den Black Diamonds; S. 225 ff. zu Arabella Fields; zu Ida Forsyne siehe Stearns, Jazz Dance, S. 248 ff.
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Leitung und änderte den Namen in Louisiana Troupe.20 Die Amazonen fielen aus dem Titel, und der Cakewalk nahm im Programm nun mehr Raum ein.21 Aus der Perspektive afroamerikanischer Tänzer_innen, die um 1900 nach Europa kamen und hier im Varieté auftraten, waren Orte wie Berlin Durchgangsstationen und der Cakewalk ein Medium des Übergangs, das sie nutzten, um sich zu verändern. Während Johnson und Dean die im Cakewalk bereits angelegte Dimension von »high class« ausbauten, nahmen Olga Burgoyne und Ida Forsyne orientalische und russische Elemente in ihr Repertoire auf.22 Sie begegneten dem Cakewalk auf ihren Reisen immer wieder, partizipierten daran und ließen ihn aber schnell wieder hinter sich.23 Mit der Dynamik des Nachtanzens hatten sie aber nicht gerechnet, wie der Fall von Charles Johnson und Dora Dean zeigt.24 Statt »ihren« Cakewalk zu verteidigen, überließen afroamerikanische Künstler_innen das Format bereitwillig ihren europäischen Kolleg_innen. Doch seine Technik, etwas bereits in der Populärkultur vorhandenes neu zusammenzusetzen, zu überdrehen und dadurch zu verwandeln, setzten sie in ihrer Arbeit systematisch fort. Im Frühjahr 1903 traten in Budapest die Florida Creole Girls im Orfeum auf und bald darauf nahm die Konkurrenz ebenfalls einen Cakewalk ins Programm.25 Im Apollo Theater in Berlin war der Cakewalk unter der Leitung von Miss Jenny Jacobs zu sehen, die sich als »The American Agent in England« bezeichnete.26 In Breslau kündigten die 5 Sisters Lorrison, ein amerikanisches Gesangs- und TanzEnsemble, die »Darstellung eines echten Cake-Walk« an. In Frankfurt am Main trat Aboney Bells als Cakewalk-Tänzerin im Orpheum auf. Und auch in Hamburg zeigte die Campbell Truppe im Varieté Hammonia einen »Cake-walk-dance«. 1904 tourten die Louisiana Troupes durch Frankreich und vermarkten sich häufig mit
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Lotz, Black People, S. 193. Programmliste in Das Variété 1903 (26). Vgl. eine Postkarte von Olga Burgoyne aus der Zeit, »Olga of Duo Eclatants«, Binder 1 (6), Sammlung Helen Armstead Johnson Postcard Collection. Special Collections. Schomburg Center for Black Culture. New York Public Library. Das belegt auch Green in der Rezeption von In Dahomey in London. Das Publikum erwartete einen »real« Cakewalk, getanzt von echten Afroamerikaner_innen, und so wurden neue Szenen mit Cakewalk-Wettbewerben eingebaut. Aida Overton Walker begann den Cakewalk in London zu unterrichten. Vgl. Green, ›In Dahomey‹. In der afroamerikanischen Geschichtsschreibung wurden Johnson & Dean ironischerweise als diejenigen erinnert, die den Cakewalk zuletzt »im Original« aufführten. Sie versuchten in den 1930er Jahren ein Comeback – mit dem Cakewalk. Vgl. Box 3 Folder 64, Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library. Performing Arts Research Collections, New York City. Zur Biografie vgl. Rainer Lotz, Johnson & Dean, in: Doctor Jazz 2002 40 (178): S. 4-8 und (179): S. 24-28. Vgl. die Programmliste im Variété 1903 (23). Vgl. eine Anzeige von Jacobs in: The New York Clipper, 2. April 1904, S. 121.
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dem Hinweis »créateures du Cake Walk«. Sie waren jetzt so bekannt, dass es sogar »Cakewalk Louisiana« Parodien gab.27 Im Varieté ebbte diese erste Phase der Nachfrage nach dem Cakewalk bereits Ende 1903 wieder ab.28 Gleichzeitig entwickelte sich der Cakewalk zu einem Gesellschaftstanz und zu einem Teil der Alltagskultur. 1905 veröffentlichte die Zeitschrift Berliner Leben eine Erzählung über »Großstadtmenschen«: »Wir tanzten den ganzen Abend zusammen, rechts rum und links rum, Walzer und Polka und Cake Walk.«29 Während der Cakewalk hier in einer kleinbürgerlichen Angestelltenkultur verortet wird, weisen andere Quellen in die Kontaktzone der Halbwelt. Der Berliner Autor Hans Ostwald beobachtete 1905 einen Cakewalk, in einem nicht näher bestimmten Ballsaal in der Behrensstraße, in der auch das Metropol-Theater war. Der Ballsaal war mit überbordendem Plüsch dekoriert, zwei sich abwechselnde Kapellen ermöglichten permanente Unterhaltung durch Musik, es gab viel Dekor und Separées und ein auf männliches Publikum ausgerichtetes Programm mit Animierdamen. »[K]urz vor eins, [...] rast eine laut kostümierte Schar einen Cake Walk durch den halbleeren Saal, in dem die Toiletten im Glühlicht schimmern und glänzen.«30 Ostwald betont Glamour, Ausgelassenheit und, ähnlich wie in New York und Buenos Aires die Rolle von elektrischem Licht, um den Effekt des Cakewalks zu beschreiben. Aus sich selbst heraus erzeugte die »kostümierte Schar« eine überschwängliche Stimmung, die Ostwald gemessen an der davor vorherrschenden Langeweile als Raserei interpretierte. Musik war sicherlich ein zentrales Medium, um den Übergang vom passiven Zuschauen im Theater zum aktiven Nachtanzen zu ermöglichen. Musiknoten zirkulierten schnell auf den Verkehrs- und Handelswegen rund um den Atlantik. Schon zu Beginn der Cakewalk-Mode vermarkteten Berliner Autoren ihre neuen Lieder als Cakewalks, auch wenn sie noch nicht in der Lage waren, einen Rhythmus zu synkopieren.31 Doch auch amerikanische Bands waren in der Stadt. 1905 gastierte eine afroamerikanische Band in Berlin, unter den Musikern war Joe Jordan, der später die Memphis Students gründete. Diese Band gilt als eine der ersten Jazzbands, ihre Spezialität war ihr tanzender Dirigent, der durch seine rhythmischen Bewegungen die Musiker zusammenhielt.32 27
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Vgl. Lotz, Black People, S. 194. Sie tauschten damit Plätze mit den Florida Creole Girls, die 1902 im Casino de Paris aufgetreten waren, 1903 in Wien im Ronacher zu sehen waren und von dort über Polen nach Moskau reisten. Vgl. Personalien, in: Das Variété 1903 1 (27). Vgl. exemplarisch die Programmlisten in Das Variété von 1903. Julius Knopf: Grossstadtmenschen. Eine Berliner Scene, in: Berliner Leben 1905 8 (6). Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 75. Vgl. Lotz, Black People, S. 1-23. Vgl. Johnson, Black Manhattan, S. 120-121. Es war diese Tournee, die Ida Forsyne erstmals nach Europa brachte. Allgemein vgl. Thomas L. Morgan: From Cakewalks to
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»All through a number he would keep his men together by dancing out the rhythm, generally in graceful, sometimes in grotesque steps. Often an easy shuffle would take him across the whole front of the band. This style not only got the fullest possible response from the men, but kept them in just the right humour for the sort of music they were playing.«33
Diese Art, Musik zu machen unterschied sich außerordentlich von den professionellen Tanzkapellen der Stadt. Diese Musiker spielten nicht, um eine anonyme Menge zum Tanzen zu bringen, sondern sie tanzten selbst schon, während sie ihre Instrumente spielten. F. W. Koebner, Berliner Autor und Herausgeber der Eleganten Welt berichtete 1912, dass im Eispalast gerade eine schwarze Band spiele, »mit nur ihnen eigenem Rhythmus«. Sie spielte den Song »Alexander's Ragtime Band«, der erst im Jahr zuvor von Irving Berlin in New York veröffentlicht und schon zu einem internationalen Hit geworden war. »Ab und zu unterbricht ein heiseres Lachen die Akkorde«, betont Koebner.34 Dass Musiker_innen ihr eigenes Spiel noch mit Lauten oder Gesängen, mit Worten und sogar mit Tänzen begleiteten, erschien ihm ungewöhnlich. Der Akt des Produzierens trat in den Vordergrund, Musik und Bewegung, Gesang und Tanz, Rhythmus und Körper: Alles wurde Teil einer Show, die sich nahtlos von der Bühne über die Tanzfläche ausbreitete. Aus dieser Perspektive wäre der Cakewalk Teil einer Vorgeschichte des Jazz in Deutschland und deutsche Cakewalks eine mehr oder weniger virtuose, mehr oder weniger gelungene Imitation afroamerikanischer Kultur. Doch es gab durchaus eine eigene Cakewalk-Dynamik in Berlin, die ihre eigenen Konflikte und Ambivalenzen mit dem modernen Großstadtleben verhandelten. Aus dieser Perspektive war die Imitation einer Imitation einer Imitation im Berlin der Jahrhundertwende keine schlechte Kopie, sondern Teil von Polemiken um die Grenzen und Ambivalenzen von Bürgerschaft und Bewegungsfreiheit im Black Atlantic, deren Effekte und Kontexte im Folgenden rekonstruiert werden. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht Hans Ostwalds Analyse des »Berliner Tanzlieds« der Jahrhundertwende, in das der Cakewalk um 1900 Eingang fand. Es war ein neues Phänomen in einer neuen und rasant wachsenden Metropole: »Vor der Einigung Deutschlands gab es Berliner Tanzlieder im heutigen Sinne nicht.« Erst in den 1870er Jahren hätten Komponisten und Textdichter begonnen, sich auf Tanzlieder zu spezialisieren, unter ihnen Paul Lincke, »der seit mehr als zehn Jahren Varietés und Tanzlokale mit Tänzen spickt.«35 Die Lieder seien dabei weniger »robust« und volkstümlich, dafür
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Concert Halls. An Illustrated History of African American Popular Music from 1895 to 1930, Washington, DC 1992. Johnson, Black Manhattan, S. 122. F. W. Koebner: Eispalast-Casino, in: Elegante Welt 1912 (15): S. 4-5. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 53.
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»schmalzig« und »frivol« geworden. »Das waren diese Lieder, die dem sich jäh vermehrenden Ladenmädchen und der Warenhäuslerin und ihren Liebhabern am meisten zusagte.« Voll sexueller Anspielungen, die jedoch nicht offen ausgesprochen werden konnten, erzeugten sie ein Lachen, das sich an »grotesken, hahnebüchenen, zur Schadenfreude neigenden Dingen« erfreute. Daneben gab es Lieder, die sentimental waren und den Verlust von Heimat und Eltern beklagten. Beides seien die Lieder des »Neuberliners«, insbesondere der Neuberlinerin, die als »Töchter von Pförtnern, kleinen Geschäftsleuten, Tafeldienern und Kochfrauen« in den Stadtvierteln der Reichen aufwüchsen, wo sie »putzsüchtig und eitel« würden.36 Sie gelangten aus den Volksvarietés oder Kabaretts in den Tanzsaal. Lieder wie »Berliner Luft« seien aber nicht nur im Original populär, sondern zirkulierten auch als Parodie, die den Berliner_innen ihre »Eigenarten« vor Augen führten.37 Wer oder was Berlin und seine Bewohner ausmacht, war um 1900 alles andere als selbstverständlich. Ähnlich wie in New York war auch Berlin um 1900 von einem beispiellosen Wachstum seiner Bevölkerung im 19. Jahrhundert geprägt. Die Stadt wuchs von 200 000 Menschen im Jahr 1825 auf 2 Millionen 1905 an. Deutschland war außerdem um 1900 eine Durchgangsstation für die Migration aus Osteuropa in die Amerikas, und Berlin war neben Hamburg eine der Drehscheiben dieses Transits. Rund 5 Millionen Menschen zogen zwischen 1880 und 1914 aus Russland durch Deutschland, und nicht alle wanderten weiter in die USA. Antisemitismus und Antislawismus begannen sich zu verbünden.38 Die Universität zog viele ausländische Studierende an, unter ihnen auch zahlreiche Afroamerikaner_innen.39 Aus den eigenen Kolonien wollte das Deutsche Kaiserreich aber lieber niemanden hier studieren lassen. Dennoch entwickelte sich Berlin neben der Hafenstadt Hamburg zu einem Zentrum der zahlenmäßig kleinen, in der Populärkultur aber hypersichtbaren schwarzen Community aus den deutschen und anderen afrika-
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Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 59-62. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 68-69. Der Rixdorfer war von dem Tänzer Littke Karlsen im Kabarett auf die Bühne gebracht worden und hatte sich von dort in den Tanzsälen verbreitet. Vgl. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 124-167, besonders S. 145ff. Der Komponist von In Dahomey Will Marion Cook und der Philosoph und Soziologe W.E.B. Du Bois studierten beide in Berlin. Vgl. zu Du Bois Gilroy, Black Atlantic, S. 111 ff; zu Cook in Berlin vgl. Carter, Swing Along, S. 11ff.; allgemein zu afroamerikanischen Studenten in Deutschland Leroy Hopkins: »Black Prussians«. Germany and African American Education from James W. C. Pennington to Angela Davis, in: ders./David McBride/C. Aisha Blackshire-Belay (Hg.): Crosscurrents. African Americans, Africa, and Germany in the Modern World, Columbia SC 1998, S. 65-81; Corey D.B. Walker: Of the Coming of John [and Jane]. African American Intellectuals in Europe 1888-1938, in: Amerikastudien/American Studies 2002 47 (1): S. 7-22.
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nischen Kolonien.40 Die Berichterstattung über diese Form der Migration war ambivalent und schwankte zwischen kolonialem Rassismus und metropolitanem Stolz.41 Doch auch unter den Binnenmigrant_innen, die größtenteils das Wachstum Berlins ermöglicht hatten, waren Konflikte ausgeprägt. Im sogenannten Kulturkampf verknüpften säkulare Protestanten ihre Kritik am Katholizismus mit einem kolonialen Entwicklungsgedanken, der religiöse Differenz als primitiv und vormodern interpretierte. Katholiken sollten zivilisiert werden.42 Wie die Forschung in den letzten Jahren gezeigt hat, gab es ideologische, diskursive und personelle Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Kolonisierung.43 Was machte also Berlin nach Jahrzehnten massenhafter Zuwanderung aus? Die Neuberliner jedenfalls legten neue Konsumgewohnheiten an den Tag. Ostwald betont, dass sich für den Rixdorfer alle begeistern konnten, Alt-Berliner_innen und Neu-Berliner_innen.44 Eigentlich hielt er sich in seinem Bericht über Berliner Tanzlokale mit der Beschreibung von Tänzen nicht lange auf und reduzierte das Tanzen oft vorschnell als Mittel zum Zweck einer Ökonomie der Liebe, die alles zu kommerzialisieren drohte.45 Erst im Verhältnis zur Tanzmusik und ihren Texten schreibt er dem Tanzen ein kreatives Potential zu. Es sei Indikator für »gewisse Stimmungen und Empfindungen«, weil das Tanzen auf »gewisse Eigenschaften stoße, die nur auf
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Peter Martin: Anfänge politischer Selbstorganisation der deutschen Schwarzen bis 1933, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Reinhard Klein-Arendt (Hg.): Die (koloniale) Begegnung. AfrikanerInnen in Deutschland, 1880-1945 – Deutsche in Afrika, 1880-1918, Frankfurt am Main 2003, S. 193-206; El-Tayeb, Schwarze Deutsche; Oguntoye, Eine afrodeutsche Geschichte. Vgl. zu dieser Form von Berichterstattung Joachim Zeller: »Dunkle Existenzen« in Berlin. Die Präsenz Schwarzer Menschen im Spiegel weißer Ikonographien, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Sunna Gieseke (Hg.): Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur, Frankfurt am Main 2006, S. 413-442. Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2011. Vgl. Conrad, Globalisierung, S. 74 ff; Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin, 1849-1914, Köln/Weimar/Wien 2006; Rolf Lindner/Ruth Alexander (Hg.): Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997; Olaf Blaschke: Die Kolonialisierung der Laienwelt. Priester als Milieumanager und die Kanäle klerikaler Kuratel, in: ders./Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 93-135. Vgl. auch zur gleichzeitigen Hervorbringung des Gegenstands »Alt-Berlin« durch Geschichtsvereine und Gewerbeausstellungen Zelljadt, Alt-Berlin, S. 117-134. Vgl. Kap. I.3. Ermüdung und Erfrischung.
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den richtigen Ausdruck warten«.46 Er druckte einige Texte dieser Lieder ab, die zeigen, wie sie diese Aufteilung in Alt und Neu durchkreuzen. Sie zielten nicht darauf ab, etwas Altes wieder ins Recht zu setzen, sondern experimentierten mit Sprache. Es finden sich der Nonsens-Einsatz französischer Begriffe (»tanzt mit Schmelz und mit avec«), Lautsprache und rhythmische Experimente, Satzfragmente und Auslassungen und immer wieder sexuelle Anspielungen und Anzüglichkeiten. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht seine Beschreibung des Rixdorfers. Er werde »mit vorgeschobenen Schultern, geknickten Knien und hocherhobenen Armen« getanzt und sehe »grotesk« aus.47 Diese Begriffe erinnern an die Art und Weise, wie der Cakewalk in der Welt des Varietés angekündigt und beschrieben wurde. Berliner Tanzlieder zeichneten sich ganz allgemein durch eine »freche Exzentrik« aus und setzten »ganz tolle Dinge zusammen«, die eigentlich nicht zusammenpassten.48 Tatsächlich nahmen Komponisten wie Paul Lincke neue Impulse aus dem transatlantisch vernetzten Unterhaltungsgewerbe sofort in ihr Repertoire auf.49 Linckes Frau Anna Müller Lincke trat über Jahre hinweg mit dem Künstlernamen Annie Miller oder Milles im Varieté in Blackface auf.50 Noch im Oktober 1909 trat sie zusammen mit dem Komponisten Julius Einödshofer in Berlin im Apollo Theater auf, im selben Programm mit The Four Black Diamonds. Einödshofer komponierte damals Cakewalks und nahm sie auch auf Schallplatte auf. Die Four Black Diamonds wiederum sangen afroamerikanische Lieder, traten in bayerischen Lederhosen auf und kombinierten Steptanz mit Schuhplattler, berichtete Der Artist im Jahr zuvor.51 So traf um 1900 ein in Berlin bereits vorhandenes Verlangen nach imitierender Übertreibung und parodistischer Selbsterfindung auf den Cakewalk und erzeugte neben Rassismus, Ausbeutung und Abgrenzung auch Momente des Lernens und der Verwandlung. Einen solchen Moment dokumentiert Ostwald möglicherweise in ei-
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Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 49 Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 63. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 67. Vgl. zur Interpretation von Cakewalk als exzentrisch und grotesk Kap. III.1. Vgl. das dreisprachige Cover der Musiknoten in Lotz, Black People, S. 23. Nicht nur Lincke, auch andere deutschsprachige Komponisten brachten Cakewalks heraus, z.B. Franz Léhar in Der Rastelbinder (1902) und Jean Gilbert in Der Prinzregent (1903). Vgl. Ritzel, Synkopen-Tänze, S. 170. Vgl. Lotz, Black People, S. 271. Bereits 1901 druckte die Zeitschrift Berliner Leben eine Fotostrecke über Schauspieler an Berliner Theatern ab, darunter ein Portrait von »Anna Müller (Lessing Theater)« in Blackface, vgl. Berliner Leben 1901 4 (6): S. 107. Lotz, Black People, S. 270. Auch 1910 war Anna Müller Lincke auf der Leinwand in einem kurzen Film, einem Lustspiel, zu sehen, in dem sie eine »Negerköchin« spielte. Vgl. Herbert Birett: Das Filmangebot in Deutschland, 1895-1911, München 1991. 1933 berichtete Müller-Lincke in der Zeitschrift Filmwelt unter der Rubrik »Jung sein und schön bleiben«, sie habe zuletzt in dem Film Hitlerjunge Quex mitgespielt. Vgl. Anna MüllerLincke. Archiv der Akademie der Künste, Berlin.
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ner Szene, die er in der Berliner Skala am Oranienburger Tor beobachtete. Hier tanze »zur Abwechslung mal ein ganz leibhaftiger Nigger einen ganz echten Cake Walk. Und zwei zierliche Blaßgesichter begleiten ihn nicht ohne Schwung. Es sieht ordentlich pervers aus.«52 Ostwald beschreibt diesen Cakewalk als »ganz echt« und gibt damit implizit zu, dass durchaus bekannt war, dass der Cakewalk nicht aus Paris kam, sondern von der schwarzen Diaspora ins Spiel gebracht worden war. Er grenzt den Cakewalker in der Skala in seiner »Leibhaftigkeit« von der Kultur des Blackface und den vielen weißen Cakewalker_innen ab, die hier als »Blaßgesichter« beschrieben werden. Die Beschreibung der Situation als »ordentlich pervers« bewältigte möglicherweise den Anblick von Hüftbewegungen, die den Cakewalk auszeichneten, rassifiziert und sexualisiert die Szene damit aber auch. Er projiziert Kontexte auf das Geschehen, die damit eigentlich nichts zu tun haben und dokumentiert doch eine Alltagssituation, die für die Geschichte des Tanzens im Black Atlantic bedeutsam ist: Zwei weiße Frauen tanzen mit einem schwarzen Mann. Sie folgen seinem Schwung, seinen Schritten, wie sie es von jeher im Paartanz gelernt hatten. Es ist ein Moment der Begegnung mit einer neuen Tanztechnik über die Grenzen der Color Line hinweg, vermittelt durch eine alte Tanztechnik, die ihr experimentelles Potential wieder aktualisierte.53 Hans Ostwalds funktionale Haltung zum Tanzen hängt mit dem Kontext der Berliner Großstadt-Dokumente zusammen, in dem er seinen Bericht über Berliner Tanzlokale veröffentlichte. Die bereits im Kapitel Arbeitsrhythmus diskutierten stadtethnografischen Untersuchungen analysierten urbane Milieus, die sich der Aufteilung in Adel, Bürger und Arbeiter entzogen. Sie verstanden sie aber als integralen Bestandteil der Gesellschaft und nicht als ihr krankhaftes oder auszugrenzendes Anderes. Wo der Wilhelminische Obrigkeitsstaat eher auf Repression setzte, plädierten Autoren wie Ostwald für »Erziehung«.54 Als einem der wichtigsten Orte des Berliner Nachtlebens versprach gerade das Tanzlokal Aufschluss über die »zentrifugalen« Kräfte in Prozessen gesellschaftlicher Veränderung, wie sie auch in anderen Ausgaben dieser populärwissenschaftlichen Reihe untersucht wurden.55 Die Reihe rief in der wissenschaftlichen Kritik ein geteiltes Echo hervor. Besonders interessant ist der Vorwurf der Ansteckung, der den Dokumenten gemacht wurde. Sie würden ihre Leser_innen doch erst dazu verführen, das Milieu aufzusuchen, das in den Untersuchungen über Prostitution, Tanz und Homosexualität be52 53 54
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Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 87. Vgl. Kap. I.2. Vgl. zur Rezeption der Großstadt-Dokumente und der Kritik an der Abkehr vom Paradigma der Repression Jazbinsek/Thies: Großstadt-Dokumente, S. 38-44; vgl. auch Peter Fritzsche: Vagabond in the Fugitive City. Hans Ostwald, Imperial Berlin and the Grossstadt-Dokumente, in: Journal of Contemporary History 1994 29 (3): S. 385-402. Vgl. den zweiten Band der Berliner Großstadt-Dokumente von Julius Bab: Die Berliner Bohème, Berlin 1904, S. 11; zitiert nach Jazbinsek/Thies: Großstadt-Dokumente, S. 34.
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schrieben werde.56 Darin ähnelt die Debatte in Berlin der gleichzeitig in New York geführten Auseinandersetzung um das slumming. Tatsächlich wirkte Ostwald auch an der Produktion von Reiseführern mit, die um 1900 Besucher_innen und Neuankömmlingen in der Hauptstadt Orientierung geben sollten.57 Die GroßstadtDokumente versprachen ebenfalls, »den Wißbegierigen an die Hand [zu] nehmen« und ihn durch die »zahllosen Wirrnisse« der Großstadt zu führen.58 Das Zitat stammt aus dem Vorwort des ersten Bandes der Reihe mit dem bezeichnenden Titel »Dunkle Winkel in Berlin«.59 Der Blick auf das Tanzen in Berlin war Teil von Reformvorhaben, die Zeitgenoss_innen selbst als Innere Mission oder auch als Kolonisierungsbewegung verstanden.60 Hans Ostwald gründete selbst 1907 den Verein für soziale Kolonisation, eine private Initiative der Arbeitsbeschaffung für arbeitslose Berliner.61 Dieser Blick prägte auch populärkulturelle Formate: Die Zeitschrift Berliner Leben, die 1898 erstmals erschien und es sich mit großformatigen Fotoreproduktionen und Zeichnungen zum Thema gemacht hatte, Berlin als Metropole darzustellen, veröffentlichte um 1900 regelmäßig Karikaturen aus dem subproletarischen Milieu unter dem Titel »Aus dem dunklen Berlin«.62 Den Berliner_innen, so implizierten diese und ähnliche Publikationen war die eigene Stadt fremd geworden. Ausgestattet mit großformatigen, mit neuester Drucktechnik erzeugten Bildern vermittelte das Berliner Leben vom heimischen Wohnzimmer aus Einblicke in die sich so rasant verändernde Stadtlandschaft. Stadtführer versprachen dagegen Orientierungshilfe und die Möglichkeit zur Selbstführung durch die urbanen Wirrnisse. Die »dunklen Winkel« sollten zugänglich gemacht werden, durch eine medial vermittelte Nähe, während im Alltag sonst Distanz und Segregation herrschten. Tanzlokale waren ideale Orte für eine solche Fragestellung. Denn hier war das Verhältnis von Nähe und Distanz im urbanen Alltag bereits auf eine neue Art und Weise verhandelbar gemacht worden.63
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Vgl. zur Debatte um »Kontagiosität« Jazbinsek/Thies, Großstadt-Dokumente, S. 44-45. Vgl. Ich weiß Bescheid in Berlin. Vollständiger systematischer Führer durch GroßBerlin für Fremde und Einheimische, für Vergnügungs- und Studienreisende, Berlin 1908, an dem Ostwald beteiligt war. Zitiert nach Jazbinsek/Thies, Großstadt-Dokumente, S. 31. Hans Ostwald: Dunkle Winkel in Berlin, Großstadt-Dokumente Bd. 1, Berlin [1904]. Alexa Geisthövel/Ute Siebert/Sonja Finkbein: ›Menschenfischer‹. Über Parallelen von innerer und äußerer Mission um 1900, in: Lindner, Wer in den Osten geht, S. 27-50. Vgl. Thies, Ethnograph des dunklen Berlin. Vgl. Aus dem dunklen Berlin, in: Berliner Leben 1901 4 (5): S. 98. Unter der Rubrik »Sich nahe kommen: Orte des Abstands« führt der Sammelband »Orte der Moderne« auch das Tanzlokal auf, vgl. Alexa Geisthövel: Das Tanzlokal, in: dies./Habbo Knoch (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 141-150.
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Metropolen zeichnen sich dadurch aus, dass es in diesen Städten von allem mehr gibt als anderswo und dass hier verschiedene Welten aufeinanderprallen.64 Doch dieser Prozess der Entstehung einer Metropole ergibt sich nicht per se aus der Ökonomie, der Populärkultur oder medialen Innovationen, sondern ist von einem politischen Moment geprägt, einem Konflikt um die Grenzen von Bürgerschaft und Bewegungsfreiheit. Ostwald beschreibt im Berliner Ballsaal 1905 französische, polnische und deutsche Frauen beim Cakewalken, die hier zwischen Animation und Sexarbeit am Rand der Legalität arbeiteten. Er berichtet von »Else, die im Cake Walk mittanzte und behauptet, wenn sie hier monatlich ihre 60 Mark bekomme, könne ihr die Polizei nischt.«65 Prostitution war in Berlin um 1900 erlaubt, wenn sich die Frau bei der Polizei meldete und sich an bestimmte Regeln hielt. Sie verpflichtete sich beispielsweise, nicht in den Flanier- und Vergnügungszentren der Stadt nach Kunden Ausschau zu halten. Im Metropol und anderen Tanzhallen war dies hingegen allgemein geduldete Praxis.66 Diese Sonderzone stand im krassen Gegensatz zur Berliner Straßenpolitik der Zeit. Wurden unbegleitete Frauen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten von der Polizei angetroffen, konnten sie wegen des Verdachts der »gewerbsmäßigen Unzucht« verhaftet werden.67 Es lag im Ermessensspielraum der Polizei einzuschätzen, welcher Aktivität eine Frau nachging.68 Die Kriminalisierung von Prostitution führte zu einer naheliegenden Ausweichstrategie der Camouflage: Wollten sie besser verdienende Kunden finden, mussten sich Prostituierte ähnlich wie bürgerliche Frauen kleiden und Orte wie die Ballsäle der Behrensstraße aufsuchen. Kleine und signifikante Details in Kleidung, Accessoires und Gesten setzten die Sexarbeiterinnen von der bürgerlichen Norm ab. In diesem Aufzug trafen sie in den neu etablierten, glamourösen Tanzsälen auf Frauen, die im Zuge der neuen Tanzmoden vermehrt zusammen mit ihren Männern abends ausgingen. Bald gingen nicht mehr nur bürgerliche Männer an diese Orte, um sich von professionellen Frauen unterhalten zu lassen, sondern auch bürgerliche Frauen. Eine Werbepostkarte des um 1910 ebenfalls in der Behrensstraße eröffneten Palais de Danse betont, dass hier auch
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Tobias Becker/Anna Littmann/Johanna Niedbalski (Hg.): Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011, S. 105-136. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 76. Vgl. Marline Otte: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933, New York 2006, S. 211. Seit den 1880er Jahren duldete die Berliner Polizei Sexarbeit eher in Tanzcafés, wo sie besser regulierbar war als auf der Straße. Angelika Hoelger: Die Reglementierung öffentlicher Lustbarkeit in Berlin um 1900, in: Becker, Die tausend Freuden, S. 23-42, hier: S. 36. Vgl. Katharina Ankum: Frauen in der Großstadt. Herausforderung der Moderne? Dortmund 1999, S. 163 ff. Vgl. Lindenberger, Straßenpolitik, S. 68 ff; Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris – Berlin – London, 1840-1930, München/Zürich 1991, S. 165 ff.
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Frauen als Zuschauerinnen willkommen waren: Das Lokal schmückte sich nicht nur mit glamourösen Auftritten professioneller Tänzerinnen, sondern platzierte auch modisch gekleidete Frauen gut sichtbar im Publikum.69 Diese »Damen von Welt« kamen angeblich explizit, um Damen der Halbwelt kennen zu lernen. Der Journalist Walter Turszinsky schrieb 1911, dass sich Frauen neuerdings offensiv in die Doppelmoral der Gesellschaft einmischten und die »früheren Bekanntschaften« der Männer, die sie begleiteten, kennen lernen wollten. Seine Beschreibung einer solchen Szene ist widersprüchlich: Verhielt sich die »Dame von Welt« herablassend? Oder war es dem Autor peinlich, dass sie so offensiv Komplimente über den »Riß des Klassenunterschieds« hinweg verteilte?70 Er fand jedenfalls, dass bei näherem Hinsehen gar nicht so viel Unterschied zwischen den legitimen und illegitimen »Schwestern« sei. Im Berliner Palais de Danse spielte der rumänische Kapellmeister Giorgi Vintilescu in den 1910er Jahren Ragtime und die Modetänze aus den Amerikas prägten das Geschehen auf der Tanzfläche.71 Doch schon 1905 hatte Ostwald behauptet, dass sich im Berliner Tanzlokal die verschiedenen Klassen wie sonst an keinem Ort der Stadt mischten. Ähnlich wie schon in New York waren es die Wohlhabenden, die Tuchfühlung mit den Ärmeren suchten.72 Knapp zehn Jahre später kommentierte F. W. Koebner, Berliner Publizist, Herausgeber der Zeitschrift Elegante Welt und Autor zahlreicher Lehrbücher über die neuen Modetänze, in Berlin habe sich eine Form des Nachtlebens entwickelt, in der »eine saubere Trennung« zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten nicht mehr möglich sei.73 Die »Halbwelt« bestimme das Modegeschehen Berlins. An ihr orientierten sich angeblich alle, die als modern gelten wollten. Es bestehe »kein wesentlicher Unterschied mehr zwischen den Tanzformen der guten Gesellschaft und denen der Demimonde.«74 Nicht mehr nur Männer interessierten sich für Frauen, deren moralischer Status fraglich sei, sondern auch Frauen seien neugierig zu sehen, welche Kleider diese trügen und wie sie tanzten. Diese »Demimonde« war nicht gleichbedeutend mit Prostitution im Sinne eines immer gleichen, alten Gewerbes, sondern nach Alexandre Dumas eine »moderne
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Vgl. die undatierte Postkarte »Pavillon Mascotte. Palais de Danse«, http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de, zuletzt aufgerufen am 15.11.2012. Vgl. Walter Turszinsky: Palais de Danse, in: ders.: Berlin. Drüber weg und unten durch, Berlin 1911, S. 7-13, hier: S. 10-11. Vgl. Rainer Lotz: German Ragtime and the Prehistory of Jazz, Bonn 1985, S. 237 ff. Vgl. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 6. F. W. Koebner: Die Bälle der Behrenstraße. Metropol Palais de Danse, in: Elegante Welt 1912 (8): S. 10-12. K. O. Ebner: Von der Quadrille zum »Turkey Trot«; vgl. zur Relationierung von Demimonde und Modeerscheinungen auch Simmel, Die Mode, S. 60 und Kap. I.1. Bühnentanz/Verwandlungsakt.
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Schöpfung«. Das strenge bürgerliche Gesetzbuch habe untreue Frauen kriminalisiert, ließ er eine seiner Bühnenfiguren ausführen. Früher – zu Molières Zeiten – sei eher der gehörnte Ehemann dem gesellschaftlichen Spott ausgesetzt gewesen. Nun werde eine Frau der besseren Gesellschaft, die sich etwas zuschulden kommen ließ, aus ihren Kreisen ausgeschlossen. Doch – »was sollte aus all' diesen compromittirten, geschiedenen, verstoßenen Frauen werden?« Sie bildeten eine Gemeinschaft, trösteten sich gegenseitig und zögen immer weitere Flüchtige und Verstoßene an. Äußerlich seien sie von der vornehmen Gesellschaft kaum zu unterscheiden. »[Sie] bildeten das, was wir die Demi-Monde nennen, welche weder Aristokratie noch Bourgeoisie ist, die aber wie eine schwimmende Insel auf dem Pariser Ocean herumtreibt, und Alles zu sich ruft, um sich versammelt, und aufnimmt, was ihr zufällt – Alle die auswandern, Alle die eine der beiden Mächte fliehen – ohne die Schiffbrüchigen des Zufalls zu rechnen, die – Niemand weiß – woher kommen.«75
Dumas greift hier auf Schiffsmetaphern und Meeresbilder zurück, um die Zufälle und Unfälle des modernen Lebens zu beschreiben. Der Ozean in seiner endlosen, unkontrollierbaren Weite, mit Seeleuten und Schiffsbrüchigen dient ihm als Vorlage. Dabei betont er die Handlungsmacht der beteiligten Frauen: Sie bildeten eine Art Parallelgesellschaft, die nach ähnlichen, aber doch etwas anderen Regeln funktionierte als die vornehme Gesellschaft. Die Entstehung der Demi-Monde veränderte die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und verstärkte Fliehkräfte, weil sie einen sichtbaren imitierbaren Anziehungspunkt bildete. Ähnliches erzeugten die polizeilichen Maßnahmen gegenüber der Sexarbeit: Weil alle Winkel der Stadt ausgeleuchtet werden sollten, verstreute sich die unwahrnehmbar werdende Sexarbeit, die vorher im Bordell institutionalisiert war, über die ganze Stadt.76 Die übliche Assoziation von Theater und Sexarbeit entsprach dabei durchaus einer sozialen Realität, weil wie in vielen anderen Frauenberufen die Löhne kaum für ein unabhängiges Leben reichten. »Aus welchen Kreisen rekrutiert sich die Halbwelt? Die Theaterdamen, die Sterne der Variétés und des Balletts, stellen ihr Kontingent, auch die Aristokratie ist vertreten, doch manche [...] ist niederer Herkunft, versteht es aber ausgezeichnet, sich rasch allen Anforderungen des High Life anzupassen [...].«77 75 76
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Alexandre Dumas: Demi-Monde, übersetzt von P. J. Reinhardt, Wien 1855, S. 53. Zur Idee von »geschlossenen Milieus« und dem Versuch der Pariser Polizei, den gesellschaftlichen Verkehr zu kontrollieren sowie zur Entscheidung der Berliner Behörden in den 1840er Jahren die Bordelle zu schließen und die Prostitution ans »Tageslicht« zu befördern vgl. Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 181-183. Iwan Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, Berlin 1908, S. 390.
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Für den Sexualwissenschaftler Iwan Bloch war das »High Life« eine Kultur der »Ausschweifung«, die auf die richtigen Fragen die falschen Antworten gab. In der Suche nach Leidenschaft und Sex wolle man sich befreien und zurück zur »Natur«, bleibe aber dem gesellschaftlichen Zusammenhang, der einen so einschränke, gerade dadurch verhaftet. Aus dieser Perspektive habe er endlich auch »[g]ewisse Zeiterscheinungen« verstanden, wie die »merkwürdige Vorliebe für die brutalsten, rohesten, gewöhnlichsten Tänze, bloße Gliederverrenkungen wie den Cancan, die Craquette (Machicha), den Cakewalk und andere wilde Negertänze, die das heutige Publikum mehr begeistern, als die schönsten und graziösesten, geistig belebten Ballettänze.«78
Indem Bloch die Tänze des Black Atlantic (ebenso wie den Cancan) als Primitivismen interpretierte, blendete er jedoch die Balance von Ästhetik und Polemik aus. Dass sich Frauen und Männer auf den Routen ihrer Abweichung vom gesellschaftlichen Normalzustand in der Kultur der schwarzen Diaspora wiederfanden und ihre polemische Technik aneigneten, war in dieser eurozentristischen Expertise des modernen Lebens nicht denkbar. Der Sammelbegriff der »Negertänze« ermöglichte, die Geschichte des Black Atlantic auszublenden und ihren Zusammenhang mit der Kultur der Moderne auf einen Antagonismus von Zivilisiertem und Primitivem zu reduzieren. Und dieses Primitive lauerte daheim, in der eigenen Großstadt.79 Französische und englische Begriffe, die Vermischung von gesellschaftlichen Klassen, von Hochkultur und Populärkultur – in der »Halbwelt« war nichts an seinem dafür vorgesehen Platz. Konservative Stimmen hatten dies von jeher dem Weltstädtischen vorgehalten: Es sei nichts als »Schwindel« behaupteten die einen, die Großstadt beherberge »verschiedene Welten« an einem Ort, warnten die anderen.80 Der Cakewalk passte hervorragend in diese bereits zersplitterten und sich überlagernden, einander ausschließenden und doch imitierenden Welten. Auch er war nirgendwo eindeutig zuzuordnen. Es zeigt sich also, dass der Tanz den Hauptstädtern weit weniger fremd war, als die Berichterstattung über ihn und sein Gebrauch in den Massenmedien oftmals glauben machen wollten. Vielmehr traf der Cakewalk um 1900 in Berlin auf eine Dynamik der Maskierung und Verwandlung, die aus dem bürgerlichen Doppelstandard erwachsen war und insbesondere von Frauen betrieben wurde. Die anfangs beschriebene Jahresrevue Und der Teufel lacht dazu am
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Bloch, Sexualleben, S. 524-525. Vgl. Kristin Kopp/Klaus Müller-Richter (Hg.): Die Großstadt und das Primitive. Text – Politik – Repräsentation, Stuttgart 2004. Vgl. Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 195. Die Quellen stammen aus den 1870er und 1880er Jahren.
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Metropol-Theater von 1906 ist dafür ein gutes Beispiel. Auf der Werbepostkarte der Revue (Abb. 5) steht Henry Bender in Blackface neben Fritzi Massary. Massarys mit Straußenfedern geschmückter Damenhut ähnelt dem Portrait der Cakewalkerin Aida Overton Walker aus New York City (Abb. 3). Beide bedienten sich aus einem modischen Repertoire, das auf einer global vernetzten und kolonial organisierten Konsumkultur aufbaute und in den Straßen der kolonialen Metropolen ein spektakuläres Alltagstheater aufführte.81 In Paris verglichen damals Zeitgenossen die elaborierte Hutmode mit traditioneller afrikanischer Stammeskultur, Karikaturen stellten die modische Pariserin als »white savage« dar: Vom Standpunkt eines weißen Mannes seien sie gleichermaßen unverständlich. Cakewalk zu tanzen war in diesem Kontext nur noch folgerichtig.82 Fritzi Massary war 1904 von Wien nach Berlin gezogen und avancierte dort bald zu einem gefeierten Bühnenstar. Kurt Tucholsky setzte ihr noch 1913 ein feuilletonistisches Denkmal und lobte ihre Rolle als »grande cocotte«.83 Wie keine andere könne sie auf der Bühne Sex zur Schau stellen. Was bei den meisten plump, schwerfällig und eindeutig ausfiele, sei bei ihr so leicht und unvorhersehbar wie der Fall einer angepusteten Feder. Ihre primäre Technik sei, sich Erwartungen und Anforderungen zu entziehen. Stets entkomme sie der »strenge[n] Kette des Bürgers«, an die sie das männliche Begehren zu binden versuche. Sie sei selbst »naschende Lüsternheit«, doch wenn ihr Gegenüber zugreifen wolle, »Oho! [...] Das erste verpflichtet nicht zum zweiten, nicht zum dritten... das erste verpflichtet zu nichts! Ich verpflichte mich überhaupt zu nichts!« Tucholsky beschreibt in Massarys Auftritten Bewegungen der minimalen, unangreifbaren Abweichung, Routen, die auf den Karten bürgerlicher Moral nicht verzeichnet waren. Denn Massary hatte alles unter Kontrolle und war nie schrankenlos: »[S]ie darf kippen, noch einen Zentimeter, noch einen; aber wir ängstigen uns nicht. Eine unfehlbare Sicherheit des Geschmacks, eine lächelnde, gleitenden Überlegenheit machen uns vibrieren; aber wir fürchten uns nicht.« Tucholsky beschreibt Massarys souveränes, ausgestelltes Lächeln als undurchdringliche und zugleich flexible Maske und greift auf die Begriffe »Rasse« und »Technik« zurück. »Rasse« meine in Norddeutschland immer etwas Romanisches, doch er glaube, dass bei Massary auch ein »goût américain« mit im Spiel sei, ein seltener »Schmiß« und »Elan«. Doch so schwindelerregend ihm die Kippfigur Massary vorkam, die er irgendwo zwischen Transatlantik und Südeuropa einordnete, sie gehöre doch »irgendwie zu uns«: »Ein schnoddriges Berlinertum, Bachstelze, Erotik hinter tausend Vorhängen, Seidenkissen mit einem hitzigen Parfum, einen Eis-
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Sarah Abrevaia Stein: Plumes. Ostrich Feathers, Jews, and a Lost World of Global Commerce, New Haven CT 2008. Vgl. Gordon, Fashion. Kurt Tucholsky: Massary, in: Die Schaubühne 1913 (47): S. 1143 vom 20. 11. 1913.
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kübel über den Kopf, heiteres Frauenlachen: Massary.« Tucholsky begeisterte sich für Massarys Schauspieltechnik, die eine undurchdringliche Parodie produzierte. Tucholsky erkannte in Massarys Bühnenauftritt, dass ihre Haltung bei aller Leichtigkeit nicht natürlich war. Sie war vielmehr eine »mühsam erworben[e]« Technik, die keinen »heilen Faden an der Rolle lassen« wollte.84 Viele Theaterautoren der Jahrhundertwende experimentierten um 1900 mit performativen Techniken jenseits von Rede und Gegenrede.85 So ließ sich andeuten, was nicht offen ausgesprochen werden konnte. Ein Stück wie die Berliner Jahresrevue durchlief mehrere Prozesse offizieller und internalisierter Zensur, bevor es auf die Bühne kam.86 Die Wende zum Performativen im Theater war aber nicht nur defensiv, sondern Teil einer künstlerischen Bewegung, an der auch das MetropolTheater beteiligt war.87 Als Fritzi Massary in der Revue Und der Teufel lacht dazu als »Cousine« auftrat, stand sie noch relativ am Anfang dieser Entwicklung. Sie spielte in ihrer Rolle auf einen der vielen kolonialen Skandale des Jahres an. Der Kameruner Gouverneur Puttkamer hatte seine Geliebte in der Kameruner Kolonialgesellschaft als seine Cousine ausgegeben, bis der Schwindel aufflog.88 Auf der
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Tucholsky: Massary. Vgl. auch den Vortrag von Ethel Matala de Mazza: Kunstpausen. Prägnante Momente im Auftritt einer Diva auf dem Symposium Context #4: Cover am Berliner HAU, vom 17.-25. Februar 2007. Sie zeigt, dass Massarys Erfolg nicht zuletzt eine Frage von Verzögerung und perfektem Timing war. Die Worte hätten sich »vor die Dinge gestellt« und die Zuschauer »betäubt«, so der zeitgenössische Autor und Theatermacher Hugo von Hofmannsthal, zitiert in Jelavich: Berlin Cabaret, S. 82. Vgl. auch Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne, Würzburg 2003. Vgl. Freund, Frühzeit, S. 61. Allgemein Anja Brauneck: Die Stellung des deutschen Theaters im öffentlichen Recht 1871-1945, Frankfurt am Main/Berlin 1997, S. 60-90; zum Zusammenhang von Skandalpolitik und Massenmedien im Kaiserreich vgl. Frank Bösch: Die Grenzen des »Obrigkeitsstaates«. Medien, Politik und Skandale im Kaiserreich, in: Sven Müller/Cornelius Torp (Hg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 136-153. Zum Einfluss der »Meininger Prinzipien« auf den Gründer und Manager des MetropolTheaters Richard Schultz vgl. Otte: Jewish Identities, S. 223 ff. Jürg Schneider nimmt irrtümlicherweise an, dass »Puttkamer« der Partner Massarys für dieses Duett war: Jürg Schneider: Berlin-Kamerun. Der Gouverneur und eine Berliner Halbwelt-Dame, in: Van der Heyden, Kolonialismus hierzulande, S. 195-200. Er verweist auf eine spätere Plattenaufnahme nicht mit Henry Bender, sondern mit Leonard Haskel, und nimmt an, dass sie der Besetzung auf der Bühne entsprach. Doch bereits im Text des Lieds wird der Topos »Rassenmischung« aufgerufen, wenn die beiden singen: »Wenn schließlich ein Mestizchen käm, das wär' der höchste Trumpf! Der Storch kann ja mal suchen geh'n im kolonialen Sumpf!« Vgl. Willst du mein Cousinchen sein? aus der Revue »Der Teufel lacht dazu«, Musiknoten für Klavier und Gesang, Berlin 1906. Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh. Die Aufnahme bezieht sich möglicherweise auf ein 1909 beworbe-
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Bühne der Jahresrevue trifft Massary als »Cousine« die Figur »Mpundo Akwa«, gespielt von Henry Bender in Blackface. Damit griff die Revue einen besonders prekären Fall von kolonialem Rassismus auf, der im Jahr zuvor im ganzen Land publik geworden war, und verwandelte ihn in ein anzügliches Duett zwischen einer Grande Cocotte und einem Coon. Doch vor einer Beschreibung dieser rassistischen und sexistischen Stereotypen, die hier mobilisiert wurden, um politische Konflikte auf die Bühne und zugleich zum Schweigen zu bringen, muss eine Rekonstruktion des Falls Akwa stehen. Mpundu Akwa war als Kind in Deutschland zur Schule gegangen und kam 1902 zusammen mit einer Delegation der Akwa unter dem Vorsitz seines Vaters nach Berlin zurück. Weil der Delegation eine Audienz beim Kaiser verweigert wurde, blieb er in Hamburg. Wahrscheinlich ermöglichte er die Petition der Akwa im Reichstag, die eine Untersuchung der Rechtsverletzungen durch die deutsche Kolonialregierung in Kamerun verlangte.89 Sie reichten von willkürlichen Enteignungen über Zwangsumsiedlungen bis hin zu körperlicher Gewalt.90 Während die Kolonialverwaltung die Unterzeichner der Petition in Kamerun verhaftete und teilweise zu hohen Gefängnisstrafen verurteilte, reichte ihre Macht in Deutschland nur soweit, Akwa polizeilich aus Hamburg auszuweisen, woraufhin er ins benachbarte Altona zog. Die Behörden begannen daraufhin, ihm das Leben in Deutschland so schwer wie möglich zu machen, was 1905 zu einer Anklage wegen Hochstapelei führte.91 Doch Akwa wehrte sich vor Gericht mit Hilfe des Altonaer Anwalts Levi. Man warf Akwa vor, er habe sich fälschlicherweise als Prinz ausgegeben und sich so Kredit in Hamburger Geschäften verschafft. Tatsächlich hatte ihn die Kolonialverwaltung von seiner finanziellen Versorgung durch seinen Vater in Kamerun abgeschnitten, um ihn möglichst bald dorthin abschieben zu können. Sein Anwalt
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nes »Tonbild« mit den Titeln »Der Teufel lacht dazu« und »Willst nicht mein Cousinchen sein«. Vgl. Birett, Filmangebot. Vgl. Katrin Otremba: Stimmen der Auflehnung. Antikoloniale Haltungen in afrikanischen Petitionen an das deutsche Reich, in: Ingo H. Warnke (Hg.): Deutsche Sprache und Kolonialismus. Aspekte der nationalen Kommunikation 1884-1919, Berlin 2009, S. 235-262; Adolf Rüger: Die Duala und die Kolonialmacht 1884-1914. Eine Studie über die historischen Ursprünge des afrikanischen Antikolonialismus, in: Helmut Stoecker (Hg.): Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft, Bd. 2, Berlin 1968, S. 181-257. Vgl. Andreas Eckert: Grundbesitz, Landkonflikte und kolonialer Wandel. Douala 1880 bis 1960, Stuttgart 1999, S. 44 ff. Vgl. das Schreiben von Regierungsrat von Brauchitsch in Kamerun an Polizeileutnant Niemann in Hamburg von 1902: »Wäre es nicht möglich, auch ohne dienstliches Schreiben diesen Gesellen mit nächstem Dampfer nach hier zurückzubefördern, [...]«, in: Heiko Möhle, Der Prinz aus Kamerun. Friedlich gegen koloniales Unrecht, in: Susanne Heyn/Susann Lewerenz/Heiko Möhle: Zwischen Völkerschau und Kolonialinstitut. AfrikanerInnen im kolonialen Hamburg, Begleitbroschüre zur Ausstellung des St. Pauli Archivs, Hamburg 2006, S. 64-71, hier: S. 66.
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Levi argumentierte nun, es sei ganz egal, ob Akwa ein legitimer Prinz sei oder nicht. Denn die Deutschen hätten ihn seit frühester Jugend, als er in Deutschland zur Schule ging, als solchen behandelt, und Akwa habe dies als legitim und angemessen betrachtet. Von Hochstapelei könne also keine Rede sein. So versuchte Levi die Sichtbarkeit Akwas in der deutschen Öffentlichkeit, die ihn teils kolonialexotistisch überhöhte, teils kolonial-rassistisch verlachte, offensiv zu wenden und für sich zu nutzen. Problematisch war für Levi weniger die rassistisch aufgeladene Repräsentation Akwas in der Populärkultur, die eine Überschreitung kolonialer Grenzen in ihrem Humor implizit anerkannte, sondern das politische Komplott, das heimlich in der Kommunikation zwischen kolonialer und metropolitaner Verwaltung geschmiedet worden war. Levi lenkte damit die Aufmerksamkeit auf die weitgehend unsichtbaren politischen Zusammenhänge, die Akwa überhaupt vor Gericht gebracht hatten.92 Seine Strategie ging auf, im Januar 1906 sprach das Gericht seinen Mandanten frei. In welches Licht rückte nun im Jahr darauf das Metropol-Theater den Fall Akwa? Die Berliner Jahresrevuen, aufgeführt am Berliner Metropol-Theater mit Musik von Viktor Hollaender und Texten von Julius Freund, machten sich aus einer liberalen Perspektive über den wilhelminischen Obrigkeitsstaat lustig. Die Dialoge und Lieder dieser Revuen waren voller Anspielungen auf tagespolitische Ereignisse. Sie richteten sich an das Bildungsbürgertum und forderten es auf, in der Revue zu überprüfen, ob es die relevanten Themen des vergangenen Jahres auch mitbekommen hatte. Die Ereignisse um Akwa zählten 1906 offenbar dazu, die Revue belegt seinen Bekanntheitsgrad. Ihre Produzenten gingen davon aus, dass eine mit Akwa angesprochene Figur in Blackface sofort erkannt werden würde. Die Revue griff einige der Punkte auf, die Akwa gegen die Kolonialregierung vorgebracht hatte. So verlachte sie die Prügelstrafe in den Kolonien als gesellschaftlichen Normalzustand des Kaiserreichs und verwies auf die Körperstrafen in Schulen, Gefängnissen und Familien in Deutschland. Nicht nur in den Kolonien waren die Bürgerrechte mancher eingeschränkt, so die implizite und verharmlosende Botschaft. Sonst bot sie aber kaum Identifikationsmöglichkeiten mit der Figur Akwa an. Dieser kalauerte in schlechtem Deutsch mit englischen Versatzstücken, entgegen seiner deutschen Schulbildung. Dabei verbündeten sich die Jahresrevuen gerne mit dem Lachen der 92
Mit dieser These beginnt Levi sein Plädoyer: Es sei durchaus nicht der »exotische Einschlag«, der das Verfahren zu einer derartigen Sensation habe werden lassen, sondern »der Umstand, daß dieser Prozeß nicht ganz frei von Politik ist«, vgl. Leonhard Harding (Hg.): Mpundu Akwa. Der Fall des Prinzen von Kamerun. Das neuentdeckte Plädoyer von Dr. M. Levi, Hamburg 2000, S. 1. Einige Jahre zuvor hatte Levi Mpundo Akwa seine Visitenkarte gegeben, nachdem dieser an einer Straßenbahnhaltestelle in Altona rassistisch angepöbelt worden war. Akwa musste schon bald auf dieses solidarische Angebot des jüdischen Anwalts zurückkommen, als er sich mit der Anklage wegen Hochstapelei konfrontiert sah, ebd., S. 3.
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kleinen Leute über »die da oben«, aber Akwa passte nicht in dieses Schema. Er verortete sich sozial in der Oberschicht, während er gegen die deutsche Regierung in Kamerun kämpfte, die ihn und seine Landsleute sukzessive zu »Eingeborenen« machte. So griff die Revue auf eine dritte Position zurück – die Kultur des Black Atlantic. Henry Benders Gesicht ist in seiner Rolle als Mpundo Akwa schwarz angemalt, und seine Hände sind unter Handschuhen versteckt. Er trägt eine kurze, geblümte Weste unter seinem Frack, dazu eine viel zu weite, karierte Hose. Den übergroßen Kragen seines Hemdes ziert eine noch größere Fliege (Abb. 5). Die Regieanweisung im Typoskript beschreibt ihn als »halb civilisiert, halb afrikanisch« und damit als koloniales Stereotyp, das Afrikaner als Witzfiguren darstellte, wenn sie sich westliche Kleidungsstile und Lebensweisen aneigneten: den »Hosenneger«.93 Doch entgegen der Regieanweisung war Akwas Kostüm auf der Postkarte eher am Stereotyp des Coon und damit an Vorbildern aus amerikanischen Minstrel Shows orientiert.94 Diese Assoziation von Kolonialismus und Black Atlantic spielte bereits in der ersten Szene der Revue eine Rolle, die am Anfang dieses Kapitels steht: Als die verschiedenen europäischen Nationen die Bühne betraten und den kolonialen Wettlauf um die Aufteilung der Welt vorführten, tanzte die Repräsentantin Frankreichs den Cakewalk. Der schwarze Modetanz und die Konkurrenz um Kolonien, »Niggertramps« als Verkörperung des Widerstands der Kolonisierten – aus diesen Elementen setzt sich unter umgekehrten Vorzeichen auch das Szenario der »Cakewalk tanzenden Nigger« zusammen, die ein Artikel der Leipziger Neuesten Nachrichten 1906 in einer kolonial-rassistischen Polemik um Mpundo Akwa veröffentlichte. Der Cakewalk war hier eine Metapher für koloniale Unordnung und prognostizierte den Untergang der kolonialen Welt, sollte man weiter mit den Kolonisierten verhandeln.95 Und auch Akwas Anwalt Moses Levi griff die Revueszene im MetropolTheater auf und baute sie nachträglich in sein Plädoyer ein, das er als »Beitrag zur Kulturgeschichte des Fin de siécle« veröffentlichen wollte: »Jeder kennt die An-
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Der Teufel lacht dazu. Grosse Jahres-Revue in Sieben Bildern. Von Julius Freund. Musik Viktor Holländer. Typoscript (23.09.1906) Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh, Nachlass Julius Freund, Kst 7 97/92/W180 13. Vgl. zu diesem Stereotyp auch Kap. II.4. und III.3. Vgl. zum Coon insbesondere Kap. II.5. Kapstadt. Zur Präsenz von Blackface Minstrel Shows in Deutschland vgl. Heinrich W. Schwab: Jonny spielt auf. Berichte und Bilder vom Auftreten des schwarzen Musikers in Europa, in: Klaus Hortschansky (Hg.): Opernstudien. Anna Amalie Abert zum 65. Geburtstag, Tutzing 1975, S. 175-187, hier: S. 179-181. Vgl. Kap. III.3. Koloniale Unordnung.
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sichtskarten, in denen diese Glanzscene der Fritzi Massary und gleichzeitig auch der Mpundu Akwa verherrlicht sind.«96 In einer Szene reflektiert die Revue diese Übertragung vom kolonialen zum Black Atlantic und von politischen Konflikten auf die Bühne des Unterhaltungsgewerbes sogar. »Akwa« fragt bei seinem ersten Auftritt nach dem Weg ins Kolonialamt und wird von ahnungslosen Passanten ins Varieté geschickt. »O no Apollitheater, nix Wintergarten«, kontert er, er komme vom »Welttheater« und sei ein echter König.97 Hier wurde ausgesprochen, was in den Kalauern der Revue trotz ihrer kolonialkritischen Töne unterzugehen drohte: Es ging um einen politischen Konflikt entlang der Grenzen souveräner Macht. Hatten die Akwa mit ihrer Unterschrift unter den »Schutzvertrag« mit dem Deutschen Kaiserreich all ihre Souveränität aufgegeben? Laut Vertrag nicht, doch im kolonialen Alltag konnten sie die dort festgeschriebenen Rechte nicht mehr durchsetzen. Akwa wechselte durch seine Migration nach Deutschland aber den Rechtsraum – in Deutschland gab es kein nach Rasse getrenntes Recht, und so verfügte er hier über einen größeren Handlungsspielraum.98 Dieser Handlungsspielraum stand in den Gerichtsverhandlungen um Akwa, den Verleumdungen und Komplotten gegen ihn auf dem Spiel. Die Berliner Jahresrevue griff Akwas Fall auf und verwandelte Widerstand gegen kolonialen Rassismus in einen anzüglichen Witz, der sich im Publikum in lachendes Wohlgefallen auflösen sollte. Dabei war der Alltag im Metropol selbst von gesellschaftlichen Spannungen und Konflikten geprägt. Sein Programm sprach ein Publikum an, das in der etablierten Theaterlandschaft zwischen Bürgertum und Unterschichten noch unbekannt war. Dieses Publikum war bei den Premieren und Bällen im Metropol-Theater selbst Teil des Spektakels. Es wurde »tout Berlin« genannt und umfasste Reiche und Neureiche, Juden und Nichtjuden, Adelige und Bürgerliche. Ausführlich kommentierte die Presse ihren öffentlich inszenierten, hedonistischen Lebensstil. Tatsächlich konstituierte sich dort eine neue soziale Elite, »defined by rumors and conspicous consumption, familial distinction and individual talent, sex and style, but most importantly, by an appreciation for money, power, and the city.«99 Diese Kultur der Selbstdarstellung konnte jedoch in jedem Moment
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Harding, Mpundu Akwa, S. 23. Zu dieser Veröffentlichung kam es jedoch aus unbekannten Gründen nicht. Levi floh in den 1930er Jahren vor dem Nationalsozialismus in die USA, wo seine Tochter lange nach seinem Tod in den 1980er Jahren das Manuskript entdeckte, vgl. ebd. S. 3-5. Der Teufel lacht dazu. Grosse Jahres-Revue in Sieben Bildern. Von Julius Freund. Musik Viktor Holländer. Typoscript (23.09.1906) Nachlass Julius Freund Kst 7 97/92/W180 13. Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh. Akwa ging 1911 zurück nach Kamerun, wurde dort 1912 aus politischen Gründen verhaftet und kam wahrscheinlich in Haft ums Leben, vgl. Möhle, Prinz, S. 68. Otte, Jewish Identities, S. 206-207.
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in Gewalt umschlagen. 1902 war es während des jährlichen Maskenballs zu einer Schlägerei gekommen. Der Sohn eines Minenbesitzers hatte den Sohn eines Bankiers mit antisemitischen Beschimpfungen angegriffen, nachdem dieser ihn zu fortgeschrittener Stunde mit Champagner bespritzt hatte. Es kam zu einer Schlägerei auf der Tanzfläche, an der sich immer mehr Besucher beteiligten. Sie setzten Spazierstöcke als Waffen und Champagnergläser als Wurfgeschosse ein.100 Es fällt auf, dass viele zeitgenössische Quellen den Cakewalk mit dieser neuen Kultur der »Großstadtmenschen« in Verbindung brachten, die neue Formen der Selbstdarstellung und Selbstbestätigung entwickelte und dabei auch den scheinbar so sicher in der bürgerlichen Kultur verankerten Gesellschaftstanz mit sich riss. Indem sie dabei auf Tänze des Black Atlantic zurückgriffen, eröffneten sich zugleich neue Verbindungslinien. Kommentatoren griffen dagegen immer wieder auf Begriffe aus kolonialen Kontexten und ethnografischer Wissensproduktion zurück, um ein Geschehen zu beschreiben, das sie keinem Ort, keiner Identität, keiner Klasse oder »Rasse« eindeutig zuschreiben konnten. Die Elegante Welt perfektioniert dies 1912 in einem Artikel über das »Lebelokal« Sans-Souci. Hier gebe es etwas »Fremdes«, nicht nur, weil die Kellner mit italienischem, französischem und englischem »Beiklang« sprächen, sondern weil sie Crêpes Suzette wie »Oberpriester« und »Unterpriester« in einem Ritual servierten, als sei der Nebentisch ein »Opferaltar«. Diese Perspektive auf das Geschehen machte aber nicht bei den Konsumritualen halt, die das Lokal anbot, sondern bestimmte auch den Blick auf die Besucher_innen selbst: »Seltsam, wie der Ruf dieses Lebelokals, der ihm zum mindesten seine weltstädtische Eigenart bescheinigen muß, hier ein Rendezvous zwischen den verschiedensten Kulturrassen zustande brachte: zwischen neugierig in den Patchouliduft hineinschnuppernden Klein- und gewandtem Weltbürgertum; zwischen Menschen, die in ihren tadellosen Manieren den Eichstempel der Noblesse tragen, und solchen, die beim Vorüberstreifen Farbspuren auf dem Rocke des Nachbars hinterlassen: zwischen Fontane-Stil und Metternich-Stil.«101
Diese Selbst-Rassifizierung der eigenen Gesellschaft greift auf einen postaristokratischen Klassenrassismus zurück, der nicht nur den Unterschied zwischen Klein- und Weltbürgern markierte, sondern auch den damals gerade viel diskutierten Verfall einer verarmenden Aristokratie.102 Äußere Fassade und ökonomische Verhältnisse entsprachen einander nicht mehr. Der Unterschied zwischen Aristokra100 Vgl. ebd. 101 Walter Turszinsky: Zwischen den Tischen, in: Elegante Welt 1912 (6): S. 9. 102 Mit »Metternich-Stil« spielte der Artikel auf einen Fall von Hochstapelei an, in dem ein Mitglied der Familie von Metternich als Hochstapler und Falschspieler durch ganz Europa gezogen war, während ihm diese längst Finanzierung und Unterstützung entzogen hatte. Vgl. Hugo Friedländer: Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Bd. 6, Berlin 1912, S. 143 ff.
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tie und dem Rest drohte in eine Vielzahl von »Kulturrassen« zu zerfallen. Ironisch bemerkte ein anderer Artikel in der Eleganten Welt, von den Berliner Klubs achte die »Casinogesellschaft« ganz besonders »auf die moralische Reinlichkeit ihrer Klubherrenrasse«.103 Doch zugleich zeigten sich die Berichterstatter der Zeitschrift fasziniert von der Bevölkerung, die damals im urbanen Nachtleben aufeinander traf. Man könne sich hier beschnuppern, auch wenn man Gefahr laufe, sich dabei zu beschmutzen, so die Botschaft. In den 1910er Jahren beschleunigte sich das Tempo, mit dem neue Modetänze aus den Amerikas nach Deutschland kamen. Der Cakewalk war auch zehn Jahre später noch ein Referenzpunkt, um diese neuen Tänze einzuordnen. Während der Grizzly Bear »Anklänge an den Cakewalk« habe, sei das »Umhergewerfe« im Turkey Trot eine »absolut neue Erfindung«, schreibt die Elegante Welt 1912.104 Ihr Herausgeber F. W. Koebner schreibt im selben Jahr, dass sich die Berliner Tänzer_innen von den Bühnenvorbildern schon emanzipiert hätten.105 Das Interesse an professionellen Tanzeinlagen sei im Ballsaal beträchtlich gesunken, »die kleine Swenska in der Ecke findet mindestens eben so viel Anklang, wenn sie ganz alleine tanzt.«106 Im Vergleich zum Selbsttanzen erschien ihm der Bühnentanz als künstliches Substitut, das er leicht herablassend kommentiert.107 In dieser Situation dachten sich professionelle Tänzer_innen neue Bühnensituationen aus und tanzten »zwischen den Tischen«. In einem »Lebelokal« der Stadt, das »Mondänste, was momentan in Berlin zu haben« sei, führten Profis Tanzeinlagen im Publikum auf. Sie reichten vom Menuett in gepuderter Perücke und dem Wiener Walzer hin zu einem spanischen Tanz und schließlich dem »Apachentanz«. Am Schluss stand eine Frau aus dem Publikum auf und tanzte mit einem der Berufstänzer eine Maxixe und einen Tango. Ein Moment »innigster, glühendster Liebesumarmung« sei hier zu sehen gewesen. »Das alles geschieht in unmittelbarster Greifweite der Zuschauer, auf einer Bühne, die der Saal selber ist, und deren Vorgänge dem Publikum auf den Leib rücken.«108 Die schon seit dem Cakewalk unsi-
103 Leopold Walter: Berliner Klubs, in: Elegante Welt 1912 (3): S. 4. 104 Franz Wolf: Groteske Gesellschaftstänze. Pas de l'ours und turkey trot, in: Elegante Welt 1912 (12): S. 14. 105 F. W. Koebner: Die Bälle der Behrenstraße. Metropol Palais de Danse, in: Elegante Welt 1912 (8): S. 10-12: Wie nebenbei habe er im Palais de Danse eines Nachts Adelaide und Hughes, ein Tanzpaar, das gerade im Wintergarten auftrat, entdeckt. »Aber so gut wird doch rings umher getanzt, daß nicht einmal die Berufstänzer auffallen.« 106 F. W. Koebner: Eispalast-Casino, in: Elegante Welt 1912 (14): S. 4-5. 107 Das war sicherlich auch Wunschdenken des Autors, der später in den 1920er Jahren den »modernen Gesellschaftstanz« in seinen Tanzlehrbüchern dadurch normalisieren wollte, dass er ihn vom Bühnentanz und von schwarzen Tänzer_innen abgrenzte. Vgl. Kap. III.4. Immunisierung. 108 Walter Turszinsky: Zwischen den Tischen, in: Elegante Welt 1912 (6): S. 9.
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chere Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum hat sich hier scheinbar völlig aufgelöst. Die Tanzfläche konstituiert einen neuartigen performativen Raum, in dem die Rollenaufteilung von Tänzer_in und Zuschauer_in nahtlos gewechselt wird, und Frauen auch alleine das Parkett betreten. Die Beschreibung erzeugt eine intensive Nähe zum Geschehen. Alles scheint mit allem zu kommunizieren: Tänze, Rollen, Geschlechter, historische Zeiten. Die Beziehungen sind reversibel. Immer wieder sind es Frauen, die diese Grenze überschreiten, aus der Bühne wieder eine Tanzfläche machen oder allein zwischen den Tischen tanzen, »Schultern hochgezogen, das Röckchen gerafft, die Arme mit hochgebogenen Händen vor dem Körper. Die Kapelle beginnt den ›Mysterious Rag‹«. Wortlos nehmen sie das Angebot von Musikern und Profitänzern an und experimentieren mit ihren Bewegungen. Schultern, Arme, Hände – wie schon im Cakewalk machen sich die einzelnen Teile des Körpers selbständig und drängen sich in den Vordergrund. Koebner war begeistert von diesen Tänzerinnen. Tanzen sei für sie kein Mittel zum Zweck, um einem Mann zu gefallen, sie würden eher »hungern«, als auf das Tanzen zu verzichten. Sie hätten das Zeug, die Welt zu erobern, viel mehr als die »pleureusengeschmückten, toilettenreichen Damen, die ohne Persönlichkeit und Eigenart nur Schemen sind.«109 Koebner will in ihnen eine Subjektivität rebellischer Jugend wiedererkennen, wie sie die Pariser Schriftstellerin Colette zwei Jahre früher ihrem Roman La Vagabonde beschrieben hatte. In La Vagabonde geht es nicht mehr um subproletarische Landstreicher wie in Hans Ostwalds erstem Reisebericht über Vagabunden von 1900, sondern um Frauen, die Ehemänner verlassen und im Varieté arbeiten.110 Sie waren rebellisch und ungestüm, absolut und kompromisslos, aber auch sprunghaft und anpassungsfähig. Koebner übertrug dieses Modell auf eine sich um 1900 immer deutlicher abzeichnende Subjektivität, die Fluchttendenzen aus der gesellschaftlichen Ordnung aufnahm, sie aber zugleich wieder begrenzte und territorialisierte: Jugendliche. Sie waren eine zentrale Zielgruppe der Zeitschrift Elegante Welt, die Veränderung als unausweichlich darstellte und eine eigensinnige, elegante Form der Hingabe in Form von Mode vorschlug.111 Er übersetzte damit die
109 F. W. Koebner: Eispalast-Casino, in: Elegante Welt 1912 (14): S. 4-5. 110 Colette war nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Tänzerin auf den Bühnen von Pariser Varietétheatern. Sie schreibt über das Tanzen: »Nein, nein, nichts ist wirklich als Tanz, Lichter, Freiheit und Musik. Nichts ist wirklich: nichts als der Rhythmus, den ich in mein Denken bringe und den ich durch schöne Bewegungen ausdrücke. Kann ich denn nicht durch ein bloßes Zurückbiegen meines freien, fessellosen Körpers alle diese Leiber beschämen, die, in ihr Mieder eingezwängt, verkümmern, weil die Mode Schlankheit befiehlt?« Colette: La Vagabonde, Frankfurt am Main/Hamburg 1954, übers. v. Rosa Breuer-Lucka, S. 46; vgl. auch Julia Kristeva: Colette, New York 2004. 111 Franz Wolf: Groteske Gesellschaftstänze. Pas de l'Ours und Turkey Trot, in: Elegante Welt 1912 12: S. 4.
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unbestimmte Linie der Veränderung, die sich zwischen Tanzfläche, Bühne und Musikpodium auftat, in ein bereits etabliertes Muster gesellschaftlicher Devianz. Mit unvermittelten Pausen, synkopierten Zwischenschlägen, verlagerten Körperhaltungen, gesteigerter Wahrnehmung der Partner_in tanzten viele Berliner_innen schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus dem Zusammenhang des Bestehenden. Innerhalb weniger Jahre hatten sich die urbanen Tanzflächen hier in Übungsfelder für eine neuartige gesellschaftliche Flexibilität entwickelt. Manche Forscher_innen des urbanen Alltags wie Ostwald oder Bloch führten dies auf den Anpassungszwang der Gesellschaft zurück und wollten in Tänzen symptomatische Fehlentwicklungen ausmachen. Andere erkannten die Produktivität dieser Orte und vermarkteten neue Körpertechniken und Selbstverhältnisse als moderne Subjektivität, die über Konsum und Mode eine ohnehin nicht zu verhindernde Transformation ästhetisieren und regulieren sollte. Doch beide Seiten sahen in der Tanzfläche keine polemische Bühne, sondern einen Spiegel, in dem sich die Gesellschaft wiedererkennen sollte. So mobilisierten sie primitivistische Tropen und rassistische Begriffe, um zu erfassen, was an diesen Orten passierte. Doch in den Texten finden sich stets auch Indizien dafür, dass etwas Neues passierte, für das es noch keine rechten Worte gab oder das nach neuen Begriffen verlangte. Der Cakewalk war im Berlin der Jahrhundertwende dort besonders präsent, wo sich die Gegenwart einer Aufteilung in Geschlechter, Klassen, Rassen und Kulturen widersetzte. Parallel zu den sich immer weiter ausdifferenzierenden Wissensbeständen über Geschichte, Geografie und Anthropologie, die verschiedene Zeiten, Kontinente und »Rassen« fixierten, entstanden in Theatern und Tanzsälen Räume, die andere Modalitäten des Lernens ermöglichten. Gegen die Utopie der Kolonie mit ihren Träumen der Reinheit und Segregation entstand in der Metropole daheim eine Heterotopie der Imitation und Übertreibung, der Camouflage und Verwandlung, deren Ambivalenzen wiederum koloniale Rassismen befeuerten und die Logik innerer Kolonisierung nahelegten. Die in dieser Politik problematisierte Vergnügungskultur verweist auf eine andere Geografie, auf andere räumliche Zusammenhänge, als die Grenzen nationaler Kultur nachträglich immer wieder glauben machen wollten.112 Das Verhältnis von hier und dort, von uns und denen, von alt und neu verwandelte sich in eine unauflösliche Verstrickung. Im Cakewalk und seinen Nachfolgern konnte sie tanzend in eine ästhetische Form gebracht werden, die bei vielen Lachen und Begeisterung erzeugte. Darin kam dem Cakewalk eine Vorbildfunktion zu: Er
112 Erstaunlicherweise spielt dieser Aspekt in einem kürzlich erschienen Sammelband nur in einem Aufsatz über die Rolle jüdischer Theatermacher in Berlin eine Rolle. Ansonsten wird die Berliner Vergnügungskultur wie selbstverständlich als weiß, deutsch, europäisch, kolonial behandelt. Transatlantische und anti-koloniale Zusammenhänge und die Präsenz schwarzer Tänze ist kein Thema. Vgl. Becker, Die tausend Freuden.
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stellte eine Haltung zur Verfügung, die den Spannungsbogen widersprüchlicher Anforderungen auf den Punkt brachte. Ähnlich wie in Buenos Aires drohte der Regierung die eigene Bevölkerung fremd zu werden. Rückwirkend erklärte die Tanzgeschichtsschreibung in den 1920er Jahren den Cakewalk deshalb zum Ursprung des Tanzfiebers, weil er schwarz war und aus Amerika kam. Sie projizierte diese Komplexität auf einen fremden Einfluss, der scheinbar von Außen über Deutschland hereingebrochen ist. Dabei war es gerade umgekehrt – weil das Verhältnis von Innen und Außen gänzlich instabil war, ermöglichten die neuen Tänze, diese Erfahrung in eine prekäre Balance zu verwandeln, deren Ästhetik im Black Atlantic entstanden war.
Viktoria
Glaubt man den retrospektiven Erinnerungen von Knut Knutson, einem schwedischen Kaufmann, der seit 1882 an der Kameruner Küste gelebt hatte, tanzten die Bewohner_innen der Hafenstadt Viktoria in Westafrika den Cakewalk lange, bevor er in Europa modern wurde. »I shall never forget when I was with [an agent of Woermann] once and we were invited to a fancy ball in Victoria given by Mr. Sam Edgerly, a colored gentleman. We of course did not dance but it was interesting to see how the ball was carried on. There were many gentlemen and ladies from Fernando Po, mostly mulattos and all spoke Spanish and English. I saw a dance which the West Europeans took up about twenty-five years later. I have not seen it here [in Sweden] but have heard of it. The name of it was ›Cake Walk‹.«1
Während sich europäische Kolonisatoren imaginierten, dass sie aus der Zukunft kämen und auf dem Weg nach Afrika in die Vergangenheit der Menschheitsgeschichte reisten, erscheint dieses Verhältnis aus der Perspektive des Cakewalks gerade umgekehrt: Sie begegneten auf dieser Reise einem Prozess der Kreolisierung und damit ihrer eigenen Zukunft.2 Statt auf traditionale Gesellschaften von »Eingeborenen« trafen sie auf eine Kultur des Black Atlantic, die aus dem transatlantischen Sklavenhandel und dem Kampf um seine Abschaffung erwachsen war. In der Debatte um freie und unfreie Arbeit in der Kolonisierung Afrikas nach der KongoKonferenz in Berlin 1884/85 stand diese Begegnung zudem in einer prekären Kontinuität.
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Shirley Ardener (Hg.): Swedish Ventures in Cameroon, 1883-1923. The Memoir of Knut Knutson, New York 2002, S. 135. Knutson verfasste seine Memoiren nach seiner Rückkehr nach Schweden 1896 und beendete sie während des Ersten Weltkriegs. Vgl. zur kolonialen Konstruktion der außereuropäischen Welt als anachronistischem Raum Anne McClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York 1995, S. 36-42.
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Das folgende Kapitel geht der Frage nach, wer die Kreolen von Viktoria waren und was der Cakewalk über ihre kulturelle Selbstverortung aussagt. Diese Frage beschäftigte um 1900 verschiedene europäische Akteure vor Ort, Händler, Forscher und Repräsentanten kolonialer Regierungen. Ihr Blick auf die Kreolen dokumentiert eine Form kolonialer Wissensproduktion, die den Black Atlantic wieder auf Kategorien von Zivilisation und Barbarei zurechtstutzen sollte und zentral um die Frage von Arbeitskraft und Produktivität kreiste. Die »colored gentlemen and ladies« von Viktoria am Fuß des Mount Cameroon und der gegenüberliegenden Insel Fernando Po kamen aus unterschiedlichen Regionen rund um den Atlantik. Manche waren aus den USA oder der britischen Kolonie Jamaika als Missionare gekommen, andere waren als politische Häftlinge aus der spanischen Kolonie Kuba deportiert worden. Wieder andere waren über die Routen portugiesischer und später brasilianischer Sklavenhändler aus Brasilien eingewandert.3 Die meisten hatten den Atlantik jedoch nie überquert, sondern waren als befreite Sklaven von den Briten auf Fernando Po angesiedelt worden. Um das Verbot des Sklavenhandels von 1807 durchzusetzen, brachte die britische Navy Schiffe auf, die sie des illegalen Sklavenhandels verdächtigte und befreite die »Fracht«. Diese Menschen zu versorgen erwies sich als enormes Organisationsproblem, das in Form kolonialer Ansiedlungsprojekte in der britischen Kolonie Sierra Leone gelöst werden sollte. Dort war auch ein Court of Mixed Commissions eingerichtet worden, eine Art internationaler Gerichtshof. Weil sich der nun illegalisierte Sklavenhandel weiter nach Süden in den Golf von Guinea verlagerte, sollten Gericht und Ansiedlung 1827 auf die Insel Fernando Po verlegt werden. Doch das Projekt erwies sich als schlecht geplant und scheiterte unter anderem am Widerstand Sierra Leones. Dazu kamen diplomatische Konflikte mit Spanien, das seit den 1780er Jahren Fernando Po offiziell für sich beanspruchte. Schließlich brach 1829 eine verheerende Fieberepidemie aus und die britische Verwaltung beendete offiziell ihre Präsenz auf Fernando Po.4
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Anders als häufig dargestellt, war der erste Missionar in Kamerun nicht Alfred Saker, sondern der schwarze Missionar Joseph Merrick aus Jamaika, vgl. Bengt Sundkler/Christopher Steed: A History of the Church in Africa, Cambridge/New York 2000, S. 261 ff.; zur Präsenz von Deportierten aus Kuba vgl. Michael Zeuske: Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks, 1400-1940, Münster 2006; über Afrobrasilianer in Westafrika vgl. Silke Strickrodt: The Brasilian Diaspora to West Africa in the Nineteenth Century, in: Ineke Phaf-Rheinberger/Tiago de Oliveira Pinto (Hg.): AfricAmericas. Itineraries, Dialogues, and Sounds, Madrid/Frankfurt am Main 2008, S. 36-68. Vgl. Robert T. Brown: Fernando Po and the Anti-Sierra Leonian Campaign. 1826-1834, in: The International Journal of African Historical Studies 1973 6 (2): S. 249-264; vgl. auch David Northrup: West Africans and the Atlantic, 1550-1800, in: Philip D. Morgan (Hg.): Black Experience and the Empire, Oxford u.a. 2004, S. 35-57; Ibrahim K. Sundiata: Creolization on Fernando Po. The Nature of Society, in: Martin L. Kilson/Robert I.
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Die dort angesiedelten Menschen blieben nun unter spanischer Herrschaft, zusammen mit »farbige[n] Deportierte[n]« aus der spanischen Kolonie Kuba, die dort in Rebellionen und antikoloniale Kämpfe involviert gewesen waren.5 In den 1840er Jahren kamen jamaikanische Missionare via London auf die Insel und gründeten von Fernando Po aus eine erste Missionsstation in Bimbia auf dem Festland. Obwohl ein Teil der Kreolen mit den baptistischen Missionaren 1858 nach Viktoria zog, verblieben viele von ihnen auf Fernando Po. Sie schickten allerdings ihre Kinder nach Viktoria zur Schule und kamen, wie Knutsons Bericht belegt, zu Bällen dorthin.6 Einige der Missionare waren selbst ehemalige Sklaven oder hatten schwarze Vorfahren. In den 1880er Jahren waren auch afroamerikanische Missionare aus den USA vor Ort.7 Die Bewohner_innen von Viktoria und Fernando Po nannten sich selbst Kreolen. Die Bubi, die traditionell auf Fernando Po gelebt hatten, gaben ihnen einen anderen Namen: »Poto«, ein Begriff, den sie für all die flüchtigen Sklaven und Kontraktarbeiter geprägt hatten, die von den benachbarten Inseln São Tomé und Príncipe geflohen und an der eigenen Küste aufgetaucht waren. Dort hatte Portugal schon seit dem 16. Jahrhundert eine koloniale Plantagenwirtschaft für Zuckerrohr, Kaffee und später Kakao aufgebaut, erst mit Sklaven-, später mit unfreier Kontraktarbeit. Fernando Po war seit dem 17. Jahrhundert unter verschiedenen europäischen Mächten eine Station im transatlantischen Sklavenhandel gewesen.8 Die Bubi hatten sich zum eigenen Schutz vor Versklavung ins Hinterland der Insel zurückgezogen. Die Ansiedlung der von England befreiten Sklaven stand aus ihrer Perspektive in einer Kontinuität mit der Ankunft von Menschen, die auf der Flucht vor Sklaverei waren.
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Rotberg (Hg.): The African Diaspora. Interpretive Essays, Cambridge MA, London 1976, S: 391-413, hier S. 392. Ein österreichischer Geograf berichtete 1886 von einem Bewohner Fernando Pos, der die Reise über den Atlantik gezwungenermaßen gleich zweimal angetreten war. Er war erst von San Salvador im heutigen Angola auf einem Sklavenschiff nach Kuba verschleppt worden. Jahre später deportierten ihn die Spanier nach Fernando Po: »Noch fand ich einen Greis unter ihnen, der das Kicongo sprach und sich an seine Jugend in Ntotilás Stadt (San Salvador) erinnerte, von wo aus er als Sklave nach Cuba gebracht wurde.« Oscar Baumann: Eine afrikanische Tropeninsel Fernando Po und die Bubi, dargestellt auf Grund einer Reise im Auftrag der K.K. Geographischen Gesellschaft in Wien, Wien 1888, S. 124. Vgl. Ibrahim Sundiata: From Slaving to Neoslavery. The Bight of Biafra and Fernando Po in the Era of Abolition, 1827-1930, Madison WI 1996, S. 148. Vgl. Max Buchner: Kamerun. Skizzen und Betrachtungen, Leipzig 1887, S. 79: Bakundu, der »am weitesten nach dem Inneren vorgeschobene Posten« der Missionare der Baptist Missionary Society in Kamerun sei von einem »Mulatten-Ehepaar aus Illinois« verwaltet worden. Fernando Po war einer der wenigen Stützpunkte Spaniens an der Sklavenküste, hatte im Sklavenhandel aber immer eine periphere Position inne. Vgl. Zeuske, Sklaven und Sklaverei, S. 186.
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Für die atlantischen Ökonomien des 17. und 18. Jahrhunderts stellten Inseln zentrale Ankerpunkte dar.9 Sie waren relativ leicht zu erobern und funktionierten wie Bastionen, von denen aus mit den Küstengebieten Handel betrieben werden konnte.10 Europäische Händler lebten bis in die 1880er Jahre permanent auf künstlichen Inseln vor der westafrikanischen Küste, die sie in Form von fest verankerten ausrangierten Schiffen geschaffen hatten. Linear betrachtet waren die Inseln frühkolonialer Herrschaft Vorstufen kontinentaler Eroberung. Die Angst vor Angriffen von außen oder Aufständen im Inneren erzeugte eine angstbesetzte Enge. Dem standen Beziehungen zu anderen Inseln gegenüber, so dass nicht nur die Insel als Festung, sondern auch die Insel als Teil eines Archipels entstand, die durch Handel und Kommunikation, Reisen und Flucht eine alternative Geografie erzeugte. Nach Édouard Glissant ergeben sich aus der Perspektive der Insel in jedem historischen Moment verschiedene Möglichkeiten, sich hinter Festungsmauern zu verschanzen oder Ausschau nach möglichen Beziehungen zu halten.11 Der Cakewalk in Viktoria war das Produkt solcher Beziehungen, die kreuz und quer über den Atlantik verliefen, von der Karibik über die USA und Europa hin zu den Küstengebieten Westafrikas. Nach dem Abzug der englischen Regierungsvertreter waren diese Verbindungen zu anderen Orten und Inseln für die Kreolen Fernando Pos die einzige Überlebenschance. Europäischen Besucher_innen war die dabei entstandene kulturelle Offenheit unheimlich. Die Kreolen folgten europäischen Kleidermoden und sahen doch anders aus. Sie waren Christen, kombinierten die Religion aber mit afrikanischen Traditionen. Sie sprachen häufig drei bis vier Sprachen, neben Englisch, Spanisch und Portugiesisch auch lokale Sprachen, zumeist jedoch nicht perfekt, sondern »corrumpirt«.12 Sie arbeiteten als Zwischenhändler und begannen im Verlauf des 19. Jahrhunderts selbst, Plantagen anzulegen und mit Hilfe von Kontraktarbeitern Kakao zu produzieren. Vereinzelt kauften sie auch Schiffe und handelten direkt mit England oder Spanien.13 Europäische Händler sahen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zudem mit einer wachsenden Anzahl von Konkurrenten konfron-
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Vgl. John R. Gillis: Islands in the Making of an Atlantic Oceania, 1500-1800, in: Jerry H. Bentley/Renate Bridenthal/Kären Wigen (Hg.): Seascapes. Maritime Histories, Littoral Cultures, and Transoceanic Exchanges, Honolulu HI 2007, S. 21-37. Zeuske, Sklaven und Sklaverei, S. 211. Édouard Glissant: Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen, Heidelberg 1986. Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 129. Nach Baumann war der größte Plantagenbesitzer Fernando Pos, W. A. Vivou, ein Kreole, der vor 30 Jahren aus Sierra Leone eingewandert war. Baumann: Eine afrikanische Tropeninsel, S. 137-138. Zum direkten Handel vgl. Martin Lynn: Technology, Trade and ›A Race of Native Capitalists‹. The Krio Diaspora of West Africa and the Steamship, 1852-95, in: The Journal of African History 1992 33 (3): S. 421-440.
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tiert, europäischen und zunehmend auch afrikanischen, wie den Kreolen aus Sierra Leone, Liberia, Fernando Po oder Viktoria. Neben Händlern waren Missionare im 19. Jahrhundert zentrale Akteure vor Ort. Der Bericht eines methodistischen Missionars beschreibt das ausschweifende Nachtleben, das vor seiner Ankunft 1870 im einzigen Hotel in Clarence Town auf Fernando Po herrschte. »Formerly, Belmont House was a sort of hotel, the only one in the land, where European traders, ship officers, and travellers used to meet and quench their thirst with wines, play at cards and billiards, and dance with black women, […].«14 Europäische Tänze waren also schon vor der Ankunft des Cakewalks bekannt und es gab ein Nachtleben jenseits der Color Line. Doch nun kamen auf Wunsch der lokalen Bevölkerung neue Missionare und bauten ihre Kirche gerade in diesem mittlerweile verlassenen Hotel auf. Sie übernahmen das Mobiliar, funktionierten einen Billiardtisch samt grüner Baumwollbespannung zu einem Teil der Kanzel um und schafften die alte Orgel hinaus, mit der ein schwarzer Musiker einst zur Quadrille aufgespielt hatte. Die Missionare wollten die Vergangenheit bereinigen, indem sie einen ehemaligen Tanzraum, der dem Spiel und der Sexarbeit gedient hatte, in einen Raum für Predigt und Gottesdienst verwandelten. Der Bericht versicherte, dass die Zeit vorbei war, in der die Leute tanzend und feiernd vergessen hätten, ob Tag oder Nacht war. Aus den Ruinen des verfallenden Gebäudes würde etwas Neues entstehen: »Thus this den of evil spirits is being cleansed and converted, consecrated with morning and evening worship, while native women sing, ›Jesus, the name high over all in hell, or earth, or sky.‹«15 Doch die Missionare hatten mit dem Klima und anderen Widrigkeiten zu kämpfen.16 Bereits am Tag, nachdem Belmont House umgestaltet worden war, bekam eine Missionarin Fieber, »probably hastened by her extra work in entering Belmont House yesterday.« Der Aufwand der spirituellen »Reinigung« eines Ortes, der mit Tanzen assoziiert war, wird hier implizit mit der Gefahr der Ansteckung durch tropische Krankheiten in Verbindung gebracht, die Missionare tatsächlich bedrohten. Die Fantasie der Reinigung blieb auch deshalb unvollständig, weil die lokale Bevölkerung durchaus nicht aufhörte zu tanzen, wie die Quellen zum Cakewalk und anderen Maskenbällen belegen. Zur gleichen Zeit entwickelte sich Viktoria in den 1870er Jahren zu einem »unabhängigen Freistaat«, wie ein britischer Philanthrop berichtete, der am Mount Ca14
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Henry Roe: Fernando Po Mission. A Consecutive History of the Opening of Our First Mission to the Heathen. With Notes on Christian African Settlers, African Scenery, Missionary Trials and Joys. Partly re-written from »West African Scenes«, with many facts not before published, London 1882, S. 44. Roe, Fernando Po, S. 44-45. Vgl. die missionsinterne Einschätzung in Joseph Ritson: The Romance of Primitive Methodism, London 1909, S. 295: Immer wieder sei die Arbeit durch »alcohol trade«, heidnische Bräuche und »licentiousness« unterbrochen worden.
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meroon ein Sanatorium für Missionare gründen wollte und damals einige Jahre eine offizielle Funktion in der Selbstregierung der Stadt innehatte.17 Die protestantischen Kreolen bildeten zusammen mit den Missionaren »die regierende Klasse«, erklärte er. Viele von ihnen hätten »junge Leute beiderlei Geschlechts, ursprünglich Sklaven« adoptiert. Sie seien die »wertvollen Glieder der Gemeinde«, schrieb er in einem Bericht von 1871, der 1887 auf Deutsch übersetzt im Evangelischen Heidenboten abgedruckt wurde. Ein zweiter Teil der Bevölkerung sei »heidnisch«: Menschen aus der Umgebung waren nach Viktoria geflohen, um sich Gerichtsurteilen zu entziehen, der Verfolgung von Hexerei zu entkommen oder einfach, »weil sich's hier sicherer lebt als in ihren Dörfern.« Sie stärkten das Gemeinwesen, bereiteten aber auch »Sorgen«, weil sie »abergläubisch« waren, andere Gewohnheiten hatten, kein Englisch sprachen, aber die besseren Kontakte zur näheren Umgebung pflegten. Als dritte Gruppe nannte der Bericht eine »Mittelklasse« aus geflohenen Kontraktarbeitern aus den portugiesischen Kolonien São Tomé und Príncipe. »Sie sind im ganzen wohlgesittete Leute und sehr darauf aus emporzukommen.«18 Neben diesen aus missionarischer Perspektive vielversprechenden Aussichten erzählte der Bericht aber auch von Gewalt, Verbrechen und Chaos. Es werde noch lange dauern, ehe man die Leute »völlig unter Kontrolle« bekäme. Der Artikel belegt das politische Interesse einer deutschen Leserschaft an Viktoria Ende der 1880er Jahre. Dies hatte einen aktuellen Anlass. Zwei Jahre nach der Unterzeichnung der ersten Schutzverträge des Deutschen Kaiserreichs mit den Duala kaufte die Basler Missionsgesellschaft unter Mitwirkung des Auswärtigen Amtes 1886 von der Londoner Baptisten-Mission die Station Victoria. Die bisher unter englischem Schutz stehende Enklave sei nunmehr zum deutschen Besitze zu rechnen, berichtete die Zeitschrift Globus. »Schwere Arbeit werden die Baseler Missionare dort vorfinden, denn ein nichtswürdigeres Gesindel als die Bewohner Victorias gibt es weit und breit nicht.«19 Deutsche Kolonisatoren entwickelten einen besonderen Rassismus gegenüber den Kreolen, der sich durch eine besserwisserische Haltung auszeichnete, mit der sie stets betonten, aus den Fehlern der britischen Kolonisierung gelernt zu haben. Der deutsche Arzt und Afrikaforscher Max Buchner, der 1884 die kaiserliche Kommission zur Unterzeichnung von Schutzverträgen in Westafrika begleitet hatte, kritisierte in seinem Bericht die »widerwärtige Scheinkultur« der Kreolen: »Wo es ihnen nicht paßt, zu gehorchen, thun sie eben doch
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Vgl. [George Thomson]: Bilder aus Kamerun. Aus den Erlebnissen und Schilderungen eines Freundes Westafrikas, in: Der Evangelische Heidenbote 1887, S. 11-13; 19-23; zu George Thomson vgl. Ardener, Swedish Ventures, S. 237-240. Thomson, Bilder aus Kamerun, S. 21-22. Baseler Missionsgesellschaft, in: Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Völkerkunde 1886 50 (16): S. 255.
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was sie wollen, trotz aller sonstigen Despotie der Missionare«.20 Buchner warf den Baptisten vor, die Kreolen nicht »zur ersprießlichen Arbeit zu erziehen« und stattdessen den direkten Handel der Kreolen mit Europa zu fördern, was den Interessen deutscher Händler genau entgegengesetzt war. Auch in den Augen des Forschungsreisenden und Journalisten Hugo Zöller, der 1884 ebenfalls nach Kamerun geschickt worden war, um Schutzverträge vorzubereiten, waren die Kreolen den Europäern allzu ähnlich: »Zu allen kleinen Schlechtigkeiten und Niederträchtigkeiten im Charakter der schwarzen Rasse sind [bei den Kreolen] nun noch diejenigen der weißen Rasse hinzugekommen.«21 Der österreichische Geograf Oskar Baumann, der Kamerun 1886 besuchte, machte dafür die englische Kolonialpolitik verantwortlich: »Man befreie schwarze Sklaven verschiedener Stämme, siedle sie an und setze sie längere Zeit dem Einflusse englischer Regierung und englischer Missionen aus und es wird sich aus ihnen eine Menschenspecies entwickeln, die sich selbst als »coloured gentlemen« bezeichnet, von Weissen aber meist »Hosen niggers« genannt wird.«22
Baumann sprach die deutsche Regierung nun als die besseren Kolonisatoren an. Die Zivilisierungsmission der Briten sei gescheitert, weil sie nur »oberflächlich« Veränderungen herbeigeführt, aber die Seele der Beteiligten entweder nicht berührt oder sogar korrumpiert habe. Diese Oberfläche, hinter der die Kreolen ihre wahren Motive verbergen, sei nichts als eine »Maske« oder »Tünche« der Zivilisation, hinter der sich tatsächlich »tiefste moralische Verkommenheit« verberge.23 Diese »Maske« war problematisch, weil sie dem Zugriff auf Menschen und Landschaften als »Ressourcen« und »Arbeitskraft«, wie Baumann es sich in einer perfekten kolonialen Gesellschaft erträumte, Grenzen setzte. Selbstverständlich behauptete Baumann von sich, dieses »Spiel« zu durchschauen, unter die Oberfläche in die verdorbenen Seelen blicken zu können und zu erkennen, dass sie aus dem Kontakt mit den Europäern einen ganz falschen Schluss gezogen hätten: Sie denken, es würde darum gehen, europäische Kleider zu tragen und nicht zu arbeiten.24
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Buchner, Kamerun, S. 81. Zitiert in Baseler Missionsgesellschaft, S. 255. Zum Mythos von den Deutschen als den »besseren Kolonisatoren« vgl. Susanne M. Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870), Berlin 1999, S. 16-17. Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 127. Baumann sprach hier über die Kreolen auf Fernando Po, verwies aber zugleich auf Gespräche mit Buchner und Zöller in Kamerun, die ihm versichert hätten, dass sie »mit jenen der deutschen Colonie Victoria bei Kamerun fast identisch sind.« Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 127. Vgl. zur Frage der Beschaffung von Arbeitskräften Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 140.
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Der Historiker Ibrahim K. Sundiata analysiert das rassistische Stereotyp von den »faulen Kreolen«, indem er ihre wirtschaftlichen Unternehmungen, die im frühen 19. Jahrhundert ihre Position als Produzenten und Händler begründeten, ins Verhältnis zu der zunehmenden Konkurrenz mit der nationalstaatlich und auch transnational organisierten Politik imperialer Erschließung im ausgehenden 19. Jahrhundert setzt.25 Viele konnten auf dem internationalen Markt ökonomisch nur bestehen, wenn sie sich ähnlicher Methoden der Ausbeutung von Kontraktarbeitern bedienten wie die Europäer, was Reisende wie Baumann mit besonderer Genugtuung vermerkten.26 Dass Baumann jedoch überall wirtschaftliche Expansionsmöglichkeiten entdeckte, könnte auch darauf verweisen, dass die Bewohner_innen von Fernando Po und Viktoria darauf bedacht waren, Situationen relativer Stabilität herzustellen und ihre transnationalen Kontakte zu pflegen, sich also eher wie Migrant_innen verhielten, nicht wie moderne Kolonisatoren im Sinne Baumanns.27 Der Topos der »Maske«, der in Baumanns Rassismus gegenüber den Kreolen eine so zentrale Rolle spielt, beschreibt die kreolische Kultur Viktorias und Fernando Pos als ambivalent. Sie ruft Assoziationen von Karneval und Camouflage auf und verhandelt Mechanismen des Ein- und Ausschlusses in Beziehungen, die von Rassismus und ökonomischen Konflikten geprägt waren. Der eingangs zitierte schwedische Händler Knut Knutson begegnete dem Cakewalk auf einem »fancy ball«, einem Masken- oder Kostümball. Aus europäischer Perspektive schlossen die Bewohner_innen Viktorias und St. Isabels damit an eine säkularisierte Kultur des Karnevals an, die für einen begrenzten Zeitraum ermöglichte, nicht man selbst zu sein und im Gewand eines Anderen aufzutreten.28 In den Augen von Oscar Baumann war diese Haltung aber nicht auf besondere Zeiträume im Jahr beschränkt, sondern entsprach ihrem Alltagsverhalten. Baumann nennt sie im obigen Zitat »Hosen niggers« und bringt damit ein rassistisches Stereotyp in Anschlag, das nach Homi Bhaba konstitutiv für die Ambivalenz des kolonialen Diskurses war. Die Kolonisierten sollten sich den Anforderungen der Kolonisatoren anpassen, ihnen je-
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Sundiata, Creolization on Fernando Po. Vgl. Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 137-139. Anders als in der deutschen Kolonie Kamerun, wo die in den 1890er Jahren angelegten Plantagen lokale Kakaoproduzenten verdrängten und enteigneten, entstand auf Fernando Po eine kleinbäuerliche Produktionsweise. Neben Kreolen und Spaniern waren daran auch die von Missionaren unterstützten Bubi beteiligt. vgl. W. C. Clarence-Smith: African and European Cocoa Producers on Fernando Póo, 1880s to 1910s, in: The Journal of African History 1994 35 (2): S. 179-199. Michael Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1995.
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doch nicht so ähnlich werden, dass sie ununterscheidbar würden.29 Ein rassistischer Blick, der abschätzig den Abstand misst, sollte diese Differenz immer wieder herstellen. Baumann behauptet dementsprechend, die Kreolen würden sich vor einem Ball monatelang im Tanzen üben, »um sich dann den Weißen gegenüber keine Blöße zu geben«. Er versicherte zudem, dass die Weißen die Kreolen nur aus Geschäftsgründen zu einem gemeinsamen Ball einladen.30 Auch Knutson betont, er habe den Cakewalk »natürlich« nicht mitgetanzt. Überall finden sich solche Behauptungen, den Schein dieser Kultur durchschaut zu haben. Doch immer wieder setzte die damit einhergehende Haltung der Kolonisierten dem Zugriff kolonialer Wissensproduktion eine Grenze. Ein besonders eindrückliches Beispiel für den damit einhergehenden Rassismus ist der Amtliche Bericht über die Deutsche Kolonialausstellung 1896 in Berlin. Der Arzt und Anthropologe Felix von Luschan bezeichnete in seinem darin abgedruckten »Ethnologischen Bericht« die Duala aus Kamerun immer wieder als »Hosen-Nigger«. Zum Teil charakterisierte er damit diejenigen, die sich in Sprache, Mode und Alkoholkonsum an europäischen Vorbildern orientiert hatten. Doch meist reagierte er mit dem Begriff auf ein Verhalten, das sich seinem Forscherblick entzog. Viele wollten sich nicht entkleiden, fotografieren und vermessen lassen. »[D]er richtige Hosen-Nigger!«, kommentierte Luschan in einem Fall.31 Auch als einer der Ausgestellten Fotografien bei ihm in Auftrag geben wollte und den Forscher somit als gemeinen Studiofotografen adressierte, bezeichnete ihn Luschan als »Hosen-Nigger«.32 Das hier problematisierte Verhalten ähnelt dem Coon im amerikanischen und südafrikanischen Kontext: In einer urbanen Situation verlassen manche den ihnen zugewiesenen Ort, eignen sich Verhalten und Dresscodes an, die ihnen ökonomisch nicht zustehen und entziehen sich der eingeforderten (Arbeits-) Disziplin.33 Doch der Begriff »Nigger« hatte in der Gegend noch eine andere Bedeutung, die hier möglicherweise neutralisiert werden sollte. Max Buchner hatte bereits 1887 aus Kamerun über das dort gesprochene pidgin english berichtet, dass »Nigger« dort so
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Homi Bhaba: Of Mimicry and Man. The Ambivalence of Colonial Discourse, in: Frederic Cooper/Laura Ann Stoler (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley/Los Angeles/London 1997, S. 152-160. Baumann: Eine afrikanische Tropeninsel, S. 131. Arbeitsausschuss der Deutschen Kolonialausstellung (Hg.): Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896. Amtlicher Bericht über die erste deutsche Kolonial-Ausstellung Berlin 1897, S. 220. Vgl. zur Geschichte der Studiofotografie in Westafrika Tobias Wendl/Heike Behrend: Snap me one! Studiofotografen in Afrika, München 1998, S. 14-15 und zur Beteiligung lokaler Fotografen an kolonialer Bildpostkarten-Produktion vgl. Christraud Geary/Virginia Lee-Webb (Hg.): Delivering Views. Distant Cultures in Early Postcards, Washington DC 1998. Vgl. Kap. II.5.
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viel wie Sklave bedeute. Ganz irritiert war er davon, dass die Einheimischen das auch über Europäer sagen würden: »You be Mister Woermann him nigger« habe sich schon so mancher »gänzlich weiße Faktorist ins Gesicht sagen lassen müssen«. Der Begriff verhandelte auf eine abwertende Art und Weise abhängige Lohnarbeit. Buchner empörte sich über die »Aufgeblasenheit vornehmer Neger«, die mit solchen Begriffen hantierten.34 Der koloniale Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts griff kreolische Kultur auch deshalb so sehr an, weil sie eine relative Autonomie gegenüber europäischen Normen an den Tag legte, die sie in Konsumverhalten und Sprechweise spektakulär sichtbar und hörbar werden ließ. Es ist deshalb problematisch, die Kultur der Kreolen wie Sundiata als »Anpassung« an ein westliches Ideal zu lesen.35 Denn diese Formen entsprachen durchaus nicht den Plänen britischer und amerikanischer Missionare zur »Akkulturalisierung« ehemaliger Sklaven, die als »zivilisierte Avantgarde« eine »Erlösung« Afrikas vorbereiten sollten.36 Stattdessen war eine Dynamik der Kreolisierung im Black Atlantic entstanden, der koloniale Akteure auch bei ihrer Rückkehr in die europäischen Metropolen wieder begegnen sollten. Diese Dynamik erwuchs aber keiner quasi naturwüchsigen Vermischung, sondern einer Polemik um den Anspruch kolonialer Akteure, Normalität zu definieren, bei der Arbeit, auf der Straße, auf einem Fest. Der Rassismus, der insbesondere in der Ideologie der Erziehung zur Arbeit zum Ausdruck kam, entfaltete erst vor diesem Hintergrund seine besondere Evidenz und Dringlichkeit. Er systematisierte sich nach der Abschaffung der Sklaverei und unter dem Eindruck eines sich ausbreitenden, allgemeinen Begriffs von Freiheit.37 Die deutschen Kolonisatoren nahmen dabei – in Konkurrenz zu britischen und französischen Kolonisierungsbemühungen – die Position eines spät gekommenen Außenseiters ein, der aus den Fehlern der anderen gelernt haben wollte. Ein Argument für eine formale koloniale Landnahme und die Errichtung von sogenannten Schutzgebieten lautete, dass dadurch Konkurrenz auf eine formal rechtliche Grundlage gestellt und »zivilisiert« ausgetragen werden würde. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das alte System des Handels in die Krise geraten. Die Zwischenhändler, die traditionell die Beschaffung von Gütern organisiert hatten, setzten dem Expansionsstreben europäischer Händler Grenzen. Nachdem der transatlantische Sklavenhandel offiziell verboten worden war, brach der Handel 34
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Buchner, Kamerun, S. 215. Eine ähnliche Geschichte erzählte er später in Aurora Colonialis, seinem zweiten Bericht über die Reise von 1885. In Monrovia in Liberia würden die »Republikaner« von »white nigger« sprechen. Vgl. Max Buchner: Aurora Colonialis. Bruchstücke eines Tagebuchs aus dem ersten Beginn unserer Kolonialpolitik, 1884/85, München 1914, S. 40. Sundiata: Creolization, S. 404. Sundiata: Creolization, S. 405. Vgl. Philip D. Morgan/Sean Hawkins: Introduction, in: dies. (Hg.): Black Experience and the Empire, Oxford u.a. 2004, S. 1-34, hier: S. 14.
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in Westafrika keineswegs ein. Weil zugleich die Nachfrage nach Rohstoffen wie Palmöl enorm gestiegen war, boomte der Handel an der Kameruner Küste. Im Landesinneren heizte dies aber die Nachfrage nach Arbeitskräften an und damit auch nach Sklavenarbeit. Weil die nachgefragten Rohstoffe auf den internationalen Märkten gehandelt wurden, schwankten ihre Preise und sanken schließlich unter dem wachsenden Konkurrenzdruck expansiver Märkte. Die afrikanischen Zwischenhändler an der Kameruner Küste hatten wenig Interesse, sich diesem Marktgeschehen anzupassen. Ihre auf Subsistenz basierenden Gesellschaften waren vom Handel mit den Europäern nicht abhängig. Sie boykottierten einen Händler einfach, wenn er einseitig die Preise verändern wollte.38 Offiziell war die Sklaverei abgeschafft, als Baumann, Knutson und Buchner nach Kamerun kamen. Doch tatsächlich erzeugten internationaler Handel und koloniale Landnahme nach 1884 ständig neue Formen von Unfreiheit durch Zwangsund Kontraktarbeit. Dies war auch zu Hause in Deutschland umstritten.39 Doch anstatt diesen komplexen Zusammenhang ökonomischer und politischer Konflikte um Märkte und Souveränitäten zu benennen, sprachen Akteure wie Buchner lieber von »anarchische[n] Wirren«, die aus dem Handel der vergangenen Jahrhunderte entstanden sei.40 Nur Gewalt, gab Max Buchner 1887 ganz unverblümt zu, ermögliche es den Deutschen in Kamerun, sich aus den Verstrickungen dieser Vergangenheit zu befreien, deren gegenwärtige Auswirkungen ihm wie ein nutzloser Überrest vorkam. Es sei die »Pflicht« der Deutschen, Kamerun von den »Schlacken der Verkommenheit« zu »säubern«.41 Im Kampf gegen die »Scheinkultur«,42 der sie an den Kameruner Küsten begegneten, müssten sich die Deutschen aber ihrerseits verstellen und ihre wahren Ziele und Beweggründe verschweigen. Diese Zurückhaltung, die er den Kolonisatoren vor Ort ans Herz legte, befand er in seinem in Deutschland veröffentlichten Reisebericht aber nicht für nötig. Hier sprach er ganz offen von einer Politik der Entrechtung und Enteignung. Als die Duala 1884 dem Deutschen Reich einen Teil ihrer Souveränitätsrechte abtraten, um damit ihre etablierten Rechte und Privilegien als Zwischenhändler zu sichern, konnten sie nicht wissen, dass die koloniale Verwaltung ebenso wie die deutschen Handelsvertreter die Bewohner dieses Territoriums in Rohstofflieferanten und Arbeitskräfte verwandeln wollten und ganz andere Ziele hatten, als offiziell verhandelt. Max Buchner beschrieb bereits 1887 ganz offen die gewaltsamen Maß38 39
40 41 42
Vgl. Albert Wirz: Vom Sklavenhandel zum kolonialen Handel. Wirtschaftsräume und Wirtschaftsformen in Kamerun vor 1914, Zürich/Freiburg i. Br. 1972, S. 79. Vgl. Togo und Kamerun. Eindrücke und Momentaufnahmen von einem deutschen Abgeordneten, Leipzig 1905, die allerdings eher apologetisch ausfallen. Der Bericht spricht aber die Legitimationsnöte des Systems der Zwangsrekrutierung an, ebd., S. 31-38. Buchner, Aurora, S. 42. Buchner, Kamerun, S. 165. Buchner, Kamerun, S. 81.
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nahmen, derer es zur Kolonisierung Kameruns bedürfe. Dabei ging es nicht nur um militärische Landnahme und Verwaltung, sondern um Enteignung, Entrechtung, Illegalisierung und eine planvolle Politik des Hungers, die auch die Möglichkeit der Vernichtung mit einschloss. Die Duala seien wie »Parasiten«, die nichts produzieren, sondern »die Last ihrer Existenz auf fremde Schultern übertrage[n]«. Darin ähnelten sie dem »Landstreicherthum«, das man aus Europa kenne. Weil sie aber als »Masse noch weich und ungemodelt« seien, müsse man nur die »Zügel streng anziehen«. Buchner buchstabierte ungewöhnlich offen aus, was er sich unter dieser Strafpädagogik vorstellte: Man werde den Leuten das Land wegnehmen, dadurch Hunger erzeugen und sie so zur Lohnarbeit zwingen.43 »Das oben vorgeschlagene Verfahren zur Bändigung und Zähmung unserer Duala mag hart erscheinen. Aber man darf nicht vergessen, daß es sich eben auch um eine harte Lebensfrage handelt. Wer sich scheut, von seinen Ellenbogen Gebrauch zu machen, der mag im Gedränge zugrunde gehen. Aber ich glaube, praktisch ist niemand wirklich so sentimental. Unser Kameruner Besitz muss unbedingt sich selber bezahlen, d.h. seinen Regierungsapparat selber bestreiten. Unter den bisherigen verrotteten Verhältnissen wird Kamerun dazu niemals imstande sein. Wohl aber sind noch unausgenützt die Fähigkeiten dazu vorhanden, die es zu heben und zu organisieren gilt.«44
Buchner plädierte damit ganz offen für Sklaverei als Übergangsphänomen. Anders sei auch die Kolonisierung Amerikas nicht zu bewerkstelligen gewesen. Abolitionisten bezeichnete Buchner in diesem Zusammenhang als »HumanitätsFanatiker«.45 Sklaven freizukaufen und sie dafür zur Arbeit zu verpflichten, wie es beispielsweise die Missionen taten, sei nichts als Heuchelei.46 Besser sei es, die Sklaverei »vorsichtig« und langsam in eine »höhere Form der Arbeitspflicht um[zu]wandeln«.47 Ziel dieses Programms der »Erziehung zur Arbeit« war aber tatsächlich, die Duala aus dem Handelsgeschäft zu verdrängen und direkt mit dem Binnenland Handel zu treiben, um höhere Profite zu erzielen.48 Um nicht von ihnen abhängig zu werden, sollten aber auch von woanders her Arbeiter beschafft werden. »Also ist vielleicht mit den Duala nichts rechtes mehr anzufangen.«49 Sie waren damit von Anfang an als potentiell überflüssig markiert.
43 44 45 46 47 48 49
Buchner, Kamerun, S. 172-174. Buchner, Kamerun, S. 174. Buchner, Kamerun, S. 176 Buchner, Kamerun, S. 177. Buchner, Kamerun, S. 179 Buchner, Kamerun, S. 166. Buchner, Kamerun, S. 175.
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»Die Arbeiterfrage ist auch in Fernando Póo das Haupthinderniss eines grösseren Aufschwunges«, schrieb auch Oskar Baumann 1888.50 Der Geograf hatte auf seiner Reise das wirtschaftliche Potential der Insel untersucht, die er dem Deutschen Kaiserreich in seinem Bericht explizit als sinnvolles nächstes Eroberungsund Kolonisierungsprojekt ans Herz legte. Er schlug die Errichtung einer Sägemühle vor und wollte die Insel zu einer Station für Handelsschiffe machen, die frisches Trinkwasser benötigten. Der Ausbau der Plantagenwirtschaft kranke in erster Linie an der »Faulheit«, die Baumann überall, gerade auch bei den spanischen Kolonisatoren, zu erkennen glaubt. Die Bewohner_innen vor Ort, soviel war klar, waren nicht einfach zum Arbeiten auf Plantagen zu bewegen. Auch die angeworbenen Kontraktarbeiter beschreibt er als »eine fortwährend flucturierende [sic], männliche Bevölkerung von mehreren hundert Seelen.« Zusammen erzeugten sie entlang der westafrikanischen Küste ein »Wirrwarr«, das dringend regulierender Maßnahmen bedürfe. Er schlug vor, die deutsche Regierung solle ein Gebiet an der Elfenbeinküste erwerben, um von dort aus systematisch die Anwerbung von Arbeitskräften zu organisieren: »Welch grosse Vortheile für die Regelung der westafrikanischen Arbeiterverhältnisse hätte eine Occupation des unabhängigen Gebiets zwischen Cap Palmas und Assinie durch die deutsche Regierung! Kamerun und Togo werden wohl noch lange keine einheimischen Arbeitskräfte liefern und theilweise auf Kruboyarbeit angewiesen sein.«51
Kolonisierung erscheint aus der Perspektive Baumanns als ordnende Maßnahme gegen den drohenden »Wirrwarr« einer von Fluchtbewegungen und Eigensinn kontaminierten Situation, deren Probleme stets durch einen Terrainwechsel gelöst werden sollten: die Kolonisierung Fernando Pos sollte die Besetzung eines anderen Gebiets zwischen Liberia und der Elfenbeinküste nach sich ziehen. Dadurch sollte unter anderem sichergestellt werden, dass die eingeführten Arbeiter die Insel wieder verlassen würden, anstatt zu bleiben und sich der Kultur der Kreolen zu »assimilieren«. Mobilität war aus dieser Perspektive eine zweischneidige Sache: Die Fluktuation der Kontraktarbeiter erzeugten »Wirrwarr« und die alten Handelsbeziehungen hatten »anarchische Wirren« hervorgebracht. Doch eine andere Form von Mobilität – organisiert nach den Interessen kolonialer Akteure – versprach Abhilfe: An der westafrikanischen Küste sollten Kontraktarbeiter angeworben werden. Der »Kruboyarbeit« waren Baumann oder Buchner bereits auf ihrer Reise nach Westafrika begegnet. Schiffe der Woermann-Linie hielten in Monrovia, Liberia, um dort Arbeiter anzuwerben, die ihnen bei der Landung und beim Entladen des Schiffes in Togo, Kamerun und Deutsch-Südwest-Afrika helfen sollten. 50 51
Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 140. Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 140.
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»Das Beste, was Liberia liefert, sind die ausgezeichneten Kruboys, das unübertreffliche Arbeitsvolk für die Küstenfaktoreien und namentlich zur Bootsbemannung, ohne die der ganze Handel bis hinunter nach dem Kongo kaum bestehen könnte.«52
Buchner war voll des Lobs für diese Arbeiter, die er als fleißig und zuverlässig darstellte. Die Reisenden mussten damals ihr Leben wortwörtlich in die Hände dieser Arbeiter legen. In vielen Häfen mussten die Schiffe weit draußen im Meer ankern. Ruderboote brachten Passagiere und Fracht durch eine gefährliche Brandung an Land. Buchner brachte den Kru für ihre Geschicklichkeit Bewunderung und Anerkennung entgegen.53 Doch der Kontakt mit den schwarzen Arbeitern war nicht ohne Spannungen: Man habe den Kru auf dem Schiff deutsche Matrosenuniformen gegeben, was bei »unseren echteren weissen Matrosen« auf Widerstand gestoßen sei.54 Buchner belächelte zwar die Vorbehalte der deutschen Matrosen, die angeblich nicht wollten, dass die angeheuerten Kru dieselben Uniformen tragen, wie sie selbst. Doch dass die Kru in ihrer Heimat manchmal als Seeräuber aufgetreten seien, beunruhigte auch ihn.55 Ihre besonderen Kenntnisse konnten sich auch gegen europäische Interessen wenden. Baumann stellte sich dagegen vor, dass die Kru als Kontraktarbeiter nur ihre produktiven Fähigkeiten mitbrächten, wenn sie auf Fernando Po, weit entfernt ihrer Heimat, für eine bestimmte Zeit vertraglich zur Arbeit verpflichtet würden. Alles Eigensinnige sollten sie zu Hause lassen und nach Ablauf ihres Vertrags auch wieder dorthin zurückkehren. Die Realität der Arbeitsmigration sah freilich anders aus, und das wussten gerade deutsche Kommentatoren eigentlich schon von daheim.56 Das Verhältnis zwischen weißen und schwarzen Arbeitern, afrikanischen Kru und europäischen Reisenden verhandelte auch der Reisebericht eines ehemaligen Schutztruppensoldaten in Deutsch-Südwest-Afrika. Der Truppentransporter hatte 1905 auf dem Weg von Hamburg nach Swakopmund in Monrovia Zwischenstation gemacht und neunzig Arbeiter an Bord genommen. Wieder auf dem Meer feierte die Besatzung Karneval. Es wurde Bier getrunken, Eckardt, der Autor, hielt eine Rede auf »S.M.« den Kaiser. Doch Fastnachtsstimmung sei erst durch das »Konkurrenzreden von 2 Niggern« aufgekommen.57 Einer »sprach übrigens ein gutes Deutsch, ein echter Hamburger Junge.« Die Mehrsprachigkeit ermöglichte auch die
52 53 54 55 56
57
Buchner, Aurora, S. 41. Buchner, Aurora, S. 52. Buchner, Aurora, S. 41. Buchner, Aurora, S. 41. Zum parallel sich entwickelnden und in Deutschland umkämpften System polnischer Saisonarbeit vgl. Ulrich Herbert: Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 13-44. P. Eckardt, Zwei Kriegsjahre beim südwestafrikanischen Train, Berlin 1910, S. 18.
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Konkurrenzrede, die »wahre Lachsalven« auslöste. Der Erzähler aber lachte nicht mit, sondern hielt die »Poussiererei des schwarzen Gesindels« mit dem Rest der Besatzung für sehr »unzweckmäßig«.58 Der Soldat auf dem Weg in den Krieg in Deutsch-Südwest-Afrika reagierte abwehrend auf diese Begegnung, indem er ein rassistisches Schimpfwort aus dem amerikanischen Kontext verwandte, den kommunikativen Austausch sexualisierte und ihn auf ein Mittel zum Zweck reduziert sehen wollte. Der Bericht verschweigt, wovon die Rede gehandelt hatte und konzentrierte sich auf die Beschreibung von »affenartigen Bewegungen«. Trotzdem dokumentiert die Szene, gerade auch in ihrem Rassismus, dass etwas geschehen war, das die Route, auf der der Soldat reiste, auf eine Abweichung hätte bringen können. Eckardt hatte sich freiwillig zur Schutztruppe gemeldet, nachdem er in Deutschland arbeitslos geworden war. Er war es müde gewesen, »von neuem den Kampf auf[zu]nehmen mit Verbeugungen nach allen Seiten«.59 Dass ihm als Alternative zur Arbeitslosigkeit in Deutschland nur das Soldatenleben eingefallen war, entbehrt nicht der tragischen Ironie, unterwarf er sich damit einem noch rigideren, allerdings weniger selbstverantwortlichen Kommando. Diese von einem nationalen Auftrag gestützte Haltung verteidigte Eckardt nun gegen das ansteckende Lachen auf dem Schiff, ausgelöst von den Körperbewegungen und dem Wortwitz der beiden schwarzen Mitreisenden. In seinem nach seiner Rückkehr veröffentlichten Bericht rühmte er sich auch, dass alle Erlebnisse, egal wie verrückt oder schrecklich sie waren, von ihm abgeprallt seien. Durch nichts habe er sich in seiner Haltung erschüttern lassen. Herausforderungen hätten seine ursprünglich eingenommene Haltung nur noch bestärkt. Sie dienten der Abhärtung gegenüber Gefühlen und Zusammenhängen, deren Komplexität über die Zweckmäßigkeit, die allein seine Beziehung zu schwarzen Menschen ausmachen sollte, hinausging. Auf dem Weg nach Westafrika begegneten europäische Reisende um 1900 einer Welt, in der die Dinge eher gemischt als klar voneinander getrennt waren. Arbeiter aus Liberia sprachen deutsch, die Kreolen von Viktoria tanzten afroamerikanische Cakewalks und kleideten sich dabei auf eine Art und Weise, die manche Beobachter allzu sehr an Mode in den europäischen Metropolen erinnerte. Ein englischer Händler schrieb bereits 1862: »The beaux and belles of the place dress themselves in their finest and most brilliant feathers and strut and mince up and down like our own fashionables.«60 Diese Beschreibung des Gehens der Kreolen als stolzierend und tänzelnd erinnert an den Cakewalk, der selbst häufig als »strut« bezeichnet wurde, als stolzierender Gang. Ausgestattet mit europäischer Kleidung und entsprechenden Accessoires wie Spazierstöcken bewegten sie sich auf eine bürgerlich58 59 60
Eckardt, Zwei Kriegsjahre, S. 17. Eckardt, Zwei Kriegsjahre, S. 7. Vgl. Sundiata, Creolization, S. 406.
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souveräne Art und Weise im öffentlichen Raum und spiegelten europäischen Beobachtern, dass diese Haltung hier wie dort performativ hergestellt und veränderbar war. Die Aneignung dieser Haltung provozierte europäische Besucher_innen. Bissige Kommentare über ihren Kleidungsstil waren ein alltägliches Ärgernis für die Fernandinos.61 Auch Baumann kommentierte das Thema ausführlich und kritisierte insbesondere die Männer dafür, dass sie »in ihrer Kleidung den Europäer nachzuäffen trachten«. Die Frauen hingegen kleideten sich wochentags in einen »faltigen Talar« und trügen ein »turbanartig geschlungene[s] Tuche« auf dem Kopf.62 Nur sonntags würden sie ihre »besten Kleider« tragen und ihren »Goldschmuck aus Accra und Cape Coast« zur Schau stellen: »Nichts ist komischer als so ein chocoladenbraunes Gretchen zu beobachten, wenn es aus der Kirche wallend, die grinsenden Huldigungen eines pechschwarzen Faust entgegennimmt.«63 In einer doppelten Geste des vereinnahmenden Ausschlusses interpretiert Baumann das Geschehen in Begriffen einer modernen Liebeskonzeption, wie er sie aus Goethes Faust kennt, und verlacht sie auf eine Art und Weise, die ihre Existenz zu einer undenkbaren Sache macht. Dies gelang, indem er eine Form von Rassismus mobilisierte, der die Color Line nutzte, um jede Assoziation von Liebe und Begehren in einen rassifizierten und sexualisierten Witz zu verwandeln.64 Aus dieser Perspektive blickte Baumann auf die Kreolen Fernando Pos, in denen er schlechte Schauspieler_innen sehen wollte. Das von der europäischen Zivilisierungsmission eingeforderte und an bürgerlichen Normen geschulte Verhalten sollte aus der Perspektive weißer Vorherrschaft als Witz behandelt werden. Baumann gab hier auch an, warum er diese Rituale nicht ernst nehmen konnte. Denn angeblich waren die kreolischen Frauen »ohne Ausnahme« zur Prostitution mit Europäern bereit, sofern der Preis stimmte. Zynischerweise schrieb er diese Beobachtung dem Preisverfall des Palmöls zu, die zu einer »grosse[n] Verarmung« der Kreolen auf Fernando Po geführt habe, was auch »das Sinken der Moralität« erkläre.65 Ironischerweise war es ein erklärtes Ziel kolonialer Ansiedlungspolitik gewesen, unter den europäisierten Afrikaner_innen Konsumbedürfnisse zu wecken, um die »liberated African[s]« von den »advantages of industry« zu überzeugen.66 Was 61 62 63 64
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Sundiata, Creolization, S. 407. Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 128. Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 129. Die afroamerikanische Tänzerin und Choreografin Aida Overton Walker beklagte in einem Interview, dass vor weißem Publikum die Repräsentation romantischer Liebe zwischen schwarzen Charakteren tabu sei, vgl. Krasner, Resistance, S. 92-93. Aber auch die im Kapitel über Berlin diskutierte Jahresrevue Und der Teufel lacht dazu im MetropolTheater belegt diesen Kontext. Baumann, Eine afrikanische Tropeninsel, S. 129. Sundiata, Creolization, S. 405.
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dabei jedoch entstanden war, irritierte europäische Beobachter zunehmend. Denn die Kreolen folgten nicht dem »lifestyle of a frugal and emerging bourgoisie«.67 Statt primär in die Entwicklung der Insel zu investieren, verschuldeten sich die Fernandinos lieber bei dem englischen Händler vor Ort, der ihnen »horses, bicycles, musical boxes etc.« auf Schuldschein verkaufe, wie ein spanischer Beamter 1904 beklagte. Kommentatoren dieser Kultur des Konsums und des Ausstellens von Kulturgütern waren stets bemüht, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu einem angeblich europäischen Modell zu bestimmen. Baumann behauptete, die Kreolen versuchten, die Tänze der Europäer möglichst gut nachzutanzen, ohne dadurch jemals ihre Anerkennung zu erlangen. Doch nach Knutson tanzten sie zumindest auf ihren eigenen Bällen den Cakewalk, der sich selbstreflexiv mit der Technik der Imitation auseinander setzte. Was den Europäern so übertrieben vorkam an der Art und Weise, wie sich die Kreolen selbst darstellten, war eine Technik, ein vorhandenes Repertoire neu und anders zusammenzusetzen, es zu überdrehen und zu überzeichnen, und sich so ins Verhältnis zu einer instabilen und irrationalen Situation zu setzen. Kolonialer Rassismus interpretierte solche Formen dagegen als dekadente Überreste einer Vergangenheit, mit der man nichts mehr zu tun haben wollte. Die Bevölkerung in den europäischen Metropolen interpretierte dagegen den Cakewalk zwanzig Jahre später gerade deshalb als aktuell und zukunftsweisend, weil er in diesem raumzeitlichen Schema nicht eindeutig einzuordnen war. Er war modern. Der koloniale Rassismus gegenüber den Kreolen belegt dagegen eine gewisse Aggression gegenüber der Undurchdringlichkeit ihres Verhaltens. Die Maske der Kultur, die ihnen Baumann unterstellte, setzte dem Zugriff auf ihre Subjektivität Grenzen. Einzig Knutson berichtete eher neugierig als bewertend von dem Ball, den er in Viktoria besuchte. Als schwedischer Kaufmann war er in einer eher unabhängigen Position und fühlte sich keiner nationalen Kolonialmacht verpflichtet. Er kritisiert im selben Kapitel, in dem es auch um den Cakewalk geht, koloniale Rassismen, als habe er mit dem Prozess der Kolonisierung selbst nichts zu tun. Dabei stilisierte er sich zum schwedischen Einzelkämpfer, dessen Unternehmungen von keiner Kolonialmacht unterstützt und beschützt wurden und der deshalb zu allen Seiten gute Kontakte pflegen musste, auch zu den Kreolen in Viktoria. Er überschrieb das Kapitel mit »Black and White« und bemühte sich, ein Bild von den vielfältigen Verbindungen und Allianzen zu zeichnen, die er quer durch alle Fraktionen und Gruppen aufgebaut hatte. Sein Bericht unterscheidet sich von den deutschen Reiseberichten insbesondere dadurch, dass er sich mit lokalen Autoritäten abfinden und verbünden musste. In deutschen Reiseberichten werden diese in erster Linie lächerlich gemacht, um ihre Legitimität zu untergraben, wie die folgende Beschreibung eines Büttels am Markt von Viktoria belegt: 67
Sundiata, Creolization, S. 407.
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»Der Kerl gab eine charakteristische Figur ab; als Uniform trug er einen alten blauen Rock mit goldenen Knöpfen, rotwollene Epauletten, dazu einen mächtigen Knotenstock und einen ältlichen, einst weiß gewesenen Strohhut. Die Bewaffnung der heiligen Hermandad bestand in einem echten preußischen, durch die eine Tasche gesteckten Infanteriedegen.«68
Alte und neue Herrschaftssymbole, militärische und alltägliche Accessoires waren hier eine eigentümliche Verbindung eingegangen. Sie machten die Autorität des Marktaufsehers sichtbar und dokumentierten zugleich die lange Geschichte europäisch-afrikanischer Handelsbeziehungen. Weil sie dem raumzeitlichen Modell moderner politischer Souveränität nicht gehorchten, sondern Altes und Neues scheinbar beliebig kombinierten, waren sie aus der Perspektive des deutschen Beobachters lächerlich. Doch als performativer Akt führten sie genau die Geschichte der Beziehungen auf, derer sich die deutschen Kolonisatoren so gerne entledigen wollten. Zudem konfrontierte der Aufzug des Büttels die Europäer mit der Erkenntnis, dass auch die Legitimität ihrer Regierung auf der theatralen Inszenierung ihres Herrschaftsanspruches basierte. Der Büttel imitierte diese möglicherweise nicht nur, sondern kommentierte sie zugleich.69 Das Lachen, das die Aneignung der dabei benutzten Symbole, Kleidungsstücke oder Bewegungen durch die Kolonisierten bei den Kolonisatoren auslöste, war deshalb zweischneidig. Es ermöglichte Abgrenzung, negierte dabei aber einen Teil der eigenen Geschichte und schlug so das Angebot aus, über sich selbst und diese geteilte Geschichte zu lachen. Akteure wie Baumann und Buchner wollten dagegen keine distanzierte Haltung zu ihrem Vorhaben einnehmen, sie waren ganz und gar damit identifiziert. Doch nicht alle Europäer_innen fühlten sich dazu verpflichtet oder waren überhaupt eingeladen, daran teilzunehmen. In Europa hatten um 1900 viele das Bedürfnis, über sich selbst und den Lauf der angeblich so wohldurchdachten Dinge zu lachen. In Kamerun und, wie sich im folgenden Kapitel zeigt, auch in Südafrika verhinderte kolonialer Rassismus dieses gemeinsame Lachen und Tanzen. Akteure wie Buchner, Baumann und auch Knutson schlugen einen gemeinsamen Cakewalk nicht zuletzt deshalb aus, weil die in dem Tanz aufgeworfene Frage, in welcher Welt man eigentlich lebte oder leben wollte, aus ihrer Perspektive schon beantwortet war. Aus der Perspektive der Kreolen war der Cakewalk dagegen eine Möglichkeit, sich jenseits dieser Logik in der Gegenwart zu verorten, an die Geschichte der Ver-
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Dr. Friedrichs: Aus Kamerun. Bruchstücke aus dem Tagebuch von Hans Pichier, in: Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Völkerkunde 1896 69 (11): S. 177-178. Vgl. zur »symbolischen Ökonomie kolonialer Herrschaft« und ihrer Aneignungen durch afrikanische Soldaten im Dienste der deutschen Kolonialmacht Michael Pesek: Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt/New York 2005, S. 207 ff und 300 ff.
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sklavung und Verschleppung zu erinnern und sich kulturell einem System zu entziehen, aus dem es ökonomisch kein Entkommen gab. Kreolische Kultur wäre damit nicht in erster Linie als Ausdruck von »Verwestlichung« zu begreifen, wie Sundiata argumentiert, sondern als Erfindung kultureller Formen, die zugleich Nähe und Distanz, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Ausdruck bringen konnte.70 Sie ermöglichten, eine minoritäre Haltung einzunehmen.71 Die Kreolen von Victoria zeigten im Cakewalk, dass sie weder Europäer noch Afrikaner waren. Sie suchten sich ihre Vorbilder eher in der Kultur des Black Atlantic. Die Erfahrung von Entwurzelung und Verschleppung, von Flucht und Überleben waren hierfür der unhintergehbare Ausgangspunkt. Anstatt zu kommunizieren, wer sie wirklich waren, wie die kolonialen Reiseberichte vorgeblich so genau wussten, verschoben sie mit dem Cakewalk die Frage, weg von einer rassischen oder an einen festen Ort gebundenen Identität hin zu dem transatlantischen Zusammenhang, der viele von ihnen überhaupt erst nach Kamerun gebracht hatte.
70 71
Vgl. zur These der Verwestlichung Sundiata, Creolization. Vgl. zur politischen Dimension dieses Prozesses Édouard Glissant: Die Poetik der Relation, in: Haus der Kulturen der Welt (Hg.): Der Black Atlantic, Berlin 2004, S. 55-68, hier: S. 57.
Kapstadt
1904 veröffentlichte ein Kapstädter Karikaturist eine Postkarte mit der Karikatur »Afro-German Cake Walk« (Abb. 7). Sie zeigt drei schwarze Jungen, die zur Musik von vier weißen Männern in grünen Uniformen tanzen.1 Die Kinder tragen Fez, eine Kopfbedeckung, die sie als Angehörige der muslimischen Bevölkerung kenntlich macht, Nachkommen der aus Südostasien verschleppten Sklaven. Entgegen der im Bindestrich von »Afro-German« suggerierten Verbindung bilden die Musiker und Tänzer zwei getrennte Gruppen, die sich zudem gegenseitig ignorieren. Die Musiker stehen im Kreis und drehen den ebenfalls im Kreis tanzenden Kindern den Rücken zu. Die Postkarte ist neben »Afro-German Cakewalk« mit »Our Capetown« beschriftet und damit Teil einer Serie von mindestens elf Karikaturen, die damals in Südafrika verkauft und verschickt wurden. Die Karte spielt möglicherweise auf die Präsenz von deutschen Blasorchestern an, die um 1900 durch die Welt tourten.2 Zugleich rief der Karikaturist auch das Verhältnis zu Deutschland auf, das seit der Krügerdepesche 1896 und der Einmischung der deutschen Regierung in den Konflikt der Briten mit den Buren angespannt war.3
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Der Karikaturist war George William Pilkington (1879-1958). In Kapstadt geboren und aufgewachsen, arbeitete er erst im öffentlichen Dienst, bevor er um 1900 als Herausgeber der Zeitung The Cape tätig war. Ab 1924 widmete er sich vollständig der Malerei. Karikaturen waren für ihn eine Nebenbeschäftigung. Vgl. Murray Schoonraad/Elzabé Schoonrad: Companion to South African Cartoonists, Johannesburg 1989, S. 284-285. Vgl. zur Mobilität deutscher Blasorchester um 1900 Rainer Lotz: Vom Cakewalk zum Jazz. Deutsche in Amerika, Afroamerikaner in Deutschland, in: Circolare/Rundschrift der Gesellschaft für historische Tonträger in Wien 2005 (4): S. 31-38. Das Programm einer Industrieausstellung in Kapstadt im selben Jahr 1904 belegt die Popularität von deutscher Marsch- und österreichischer Walzermusik neben amerikanischem Ragtime und Coon Songs, vgl. The Exhibition, in: Cape Times, 29.12.1904. In seiner anti-britischen Botschaft an Paul Krüger, den Präsidenten der Republik Transvaal, erkannte der deutsche Kaiser die Unabhängigkeit Transvaals an und verkündete, die Buren in ihrem Kampf zu unterstützen. Vgl. John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen Monarchie, 1888-1900, München 2001, S. 871-882. Im Jameson-
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| E NTSTEHUNG Abbildung 7: »Our Capetown. Afro-German Cake Walk«. Kapstadt 1904
Doch die zeitliche Koinzidenz der Karikatur mit dem Krieg der deutschen Kolonialmacht im benachbarten Deutsch-Südwest-Afrika gegen die Herero und Nama legt noch eine andere Interpretation von »Afro-German Cake Walk« nahe. Der Spruch »to take the cake« heißt so viel wie »den Vogel abschießen« und war auch unter der englischsprachigen Bevölkerung Südafrikas geläufig.4 »Cakewalk« oder »piece of cake« bedeutet sprichwörtlich, etwas sei ganz einfach zu bewerkstelligen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Karikatur auch als Kommentar auf den Krieg in der Nachbarkolonie interpretieren. Denn dieser war alles andere als ein »Cakewalk«.5 In diesem Sinn wäre die Karikatur als ironischer Kommentar zu interpretieren, denn auch in anderen Karikaturen war der Cakewalk um 1900 ein Sinnbild für koloniale Unordnung und das Scheitern kolonialer Regierung, die Widerstand gegen ihr Vorhaben unterschätzten.6 Die nachträgliche Beschriftung der Postkarte erzeugt noch eine weitere Bedeutungsebene. Die Karte wurde zur Jahreswende 1904/1905 von Rondebosch bei Kapstadt nach Jaegersfontein in der »Orange River Colony« geschickt: »With love and good wishes for the New Year from ›The Daniel‹.« Der Absender benutzte sie
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6
Raid hatten bewaffnete britische Siedler und Söldner zuvor erfolglos das Gebiet angegriffen und den drei Jahre später ausbrechenden Zweiten Burenkrieg vorbereitet. Vgl. eine Anzeige einer Bäckerei in der schwarzen Zeitung South African Spectator 1 (7) vom 23. Februar 1901, S. 1: »We don't take the cake, we make it!« Vgl. Medardus Brehl: Der Völkermord an den Herero 1904 und seine zeitgenössische Legitimation, in: Micha Brumlik/Irmtrud Wojak (Hg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt 2004, S. 77-98. Vgl. auch Kap. III.3. Koloniale Unordnung.
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damit als Glückwunschkarte zum Neuen Jahr, an dem auch der Kapstädter Coon Carnival stattfindet, ein Straßenfest, das Elemente des europäischen Karnevals mit Formen von Blackface Minstrelsy kombinierte, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch Gastauftritte englischer und amerikanischer Minstrel Shows in der Stadt präsent gewesen waren. Die Initiatoren des Karnevals waren die in den 1830er Jahren emanzipierten Sklaven der Kapkolonie gewesen. Die englische Presse unterschied sie von weißen Siedlern und bezeichnete sie als Coloureds oder als Cape Boys. Im Karneval nannten sie sich selbst aber Coons.7 Um 1900 brachte dieser Karneval den Cakewalk in Kapstadt von den Theaterbühnen auf die Straße. Das folgende Kapitel zeigt, dass sich die Kapstädter Cakewalker_innen damit selbstreflexiv als Protagonisten einer Kultur des Black Atlantic positionierten. Um zu verstehen, wer mit wem um 1900 in Kapstadt den Cakewalk tanzte, bedarf es einer Situierung des Phänomens in der komplexen kolonialen Situation vor Ort. Als die holländische Kolonie 1806 englisch geworden war, schaffte die Regierung dort 1834 die Sklaverei ab. Es folgte ein Prozess der langsamen und graduellen Emanzipation, der zwischen Integrationsversprechen und klassenrassistischem Ausschluss schwankte.8 Die Afrikaans sprechenden niederländischen Siedler, auch Buren oder Afrikaner genannt, lehnten diese Politik ab und zogen sich in den 1830er Jahren ins Landesinnere zurück, wo sie unabhängige Republiken gründeten.9 Nachdem dort Gold und Diamanten gefunden worden waren, setzte ein beispielloser Boom in der Region ein, der dazu führte, dass bald zwei Drittel der Bevölkerung »Uitlanders« waren, Ausländer, denen die Buren die politische und rechtliche Gleichstellung verweigerten. Nachdem ein erster Krieg gegen die Buren 1880 gescheitert war, besiegten die Engländer im Zweiten Burischen Krieg 18991902 die Republiken Transvaal und Oranje Freistaat. Einem für beide Seiten verlustreichen Krieg folgte eine Politik der Versöhnung und des Kompromisses, die zur Gründung der Südafrikanischen Union 1910 führte. Sie legte den Konflikt zwischen Buren und Briten in einem folgenschweren Kompromiss bei: Südafrika sollte sich zunehmend selbst regieren, doch damit war nur der weiße Teil der Bevölkerung gemeint. Vorbild für die neue Union war nicht die Verfassung der Kapkolonie, die auch ihren schwarzen Bewohnern Bürgerrechte gewährt hatte, sofern sie gebildet waren und Besitz nachweisen konnten. Die gemeinsame Basis für die Gründung einer selbstregierten, britischen Dominion bildete vielmehr die Aufrechterhaltung weißer Vorherrschaft durch eine Politik der Rassentrennung. 10 7
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Denis-Constant Martin: Coon Carnival. New Year in Cape Town, Past and Present, Claremont 1999; Jeffrey R. Kerr-Ritchie: Rites of August First. Emancipation Day in the Black Atlantic World, Baton Rouge 2007. Vgl. Clifton Crais/Nigel Worden (Hg.): Breaking the Chains. Slavery and its Legacy in the 19th Century Cape Colony, Johannesburg 1994. Der Begriff Buren leitet sich von dem niederländischen »boer« für »Bauern« ab. Vgl. Fredrickson, White Supremacy, S. 191-198.
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Neben dem Kompromiss mit den Buren vollzog sich diese Kehrtwende auch, weil das nach der Abschaffung der Sklaverei in der Kapkolonie eingeführte System gesellschaftlicher Arbeitsteilung, das auf informellen sozialen Ausschlusskriterien basierte, in eine Krise geraten war. Das an Besitz und Bildung gebundene Wahlrecht von 1854 hatte einst all jenen, die sich an die herrschende Ökonomie anpassten, Partizipation und Aufstiegschancen versprochen.11 Doch tatsächlich steckten die meisten der ehemaligen Sklaven dauerhaft in der Armutsfalle und hatten keine Alternative zur Arbeit in der Landwirtschaft. Seit den 1870er Jahren gab es im Eisenbahnbau und dem Ausbau der kommunalen Infrastruktur aber erstmals Alternativen zur Arbeit auf den Farmen. Arbeitgeber begegneten steigenden Lohnforderungen und beginnenden Streikbewegungen dadurch, dass sie Arbeitskräfte in der Umgebung und in anderen Regionen anwarben.12 Seit den 1880er Jahren hatten jähe Auf- und Abschwünge der Wirtschaft die Bevölkerung der Kapkolonie und zugleich die Zahl der Armen enorm ansteigen lassen. Früher war es der weißen Oberschicht relativ gleichgültig gewesen, wer die Armen waren und wie sie lebten: Sie hatten ohnehin kein Wahlrecht, egal ob sie weiß oder schwarz waren. Für diejenigen, die »unverschuldet« bedürftig geworden waren, gab es kirchliche Wohlfahrt. Doch nun waren mit dem Boom viele Migrant_innen in die Stadt gekommen, sowohl aus dem Umland der Kapkolonie als auch aus Europa, denen im Abschwung der soziale Abstieg drohte. Noch lebten nur die reichen Weißen in separaten Wohnvierteln, in proletarischen Vierteln lebten arme Weiße und Schwarze zusammen. Dieser Alltag drohte die auf informellen Ausschlussregeln basierende Color Line der Kolonie in Frage zu stellen. Als Mitte der 1880er Jahre erste Forderungen nach städtischer und staatlicher Hilfe im Fall von Arbeitslosigkeit laut wurden, brachten schwarze und weiße Arbeiter_innen sie gemeinsam vor.13 Diese Gefahr eines gemeinsamen Arbeitskampfes führte zu einem Strategiewechsel. Die Regierung vor Ort antwortete mit einer wachsenden ethnischen Solidarität gegenüber armen Weißen und sprach nun häufiger davon, dass nur eine »racially ordered society« für Ruhe, Ordnung und Sicherheit sorgen würde. Die wachsende Unruhe der weißen Oberschicht hatte auch mit dem veränderten urbanen All11 12
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Vgl. Fredrickson, White Supremacy, S. 179-184. Der Premierminister der Kapkolonie erklärte 1899: »[I]n the neighborhood of Cape Town some ten thousand raw natives lived all over the place. [...] We could not get rid of them: they were necessary for work. What we wanted was to get them practically in the position of being compounded.« Zitiert nach Ian Goldin: Making Race. The Politics and Economics of Coloured Identity in South Africa, London 1987, S. 14. Vgl. Vivian Bickford-Smith: Ethnic Pride and Racial Prejudice in Victorian Cape Town, Cambridge u.a. 1995, S. 91-125, insbesondere S. 111. Das heißt aber nicht, dass es unter ihnen keinen Rassismus gegeben hat. Er scheint nur für einen Moment, in der neuen Situation, nicht mehr auf die alte Art und Weise gegriffen zu haben.
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tag zu tun: In den neu gebauten Straßenbahnen und Überlandzügen war die tatsächliche Zusammensetzung der Bevölkerung der Kapkolonie auf eine neue Art und Weise sichtbar. In den Zeitungen war immer wieder von der »fusion of races« die Rede.14 Die detaillierte Berichterstattung über Verwechslungen und Missverständnisse, Zusammenstöße und Auseinandersetzungen schuf dabei eine Evidenz der problematischen Vermischung, der durch neue Zählverfahren, Umsiedlungsprojekte oder Platzzuweisungen begegnet werden sollte.15 Schritt für Schritt begann in den 1890er Jahren die systematische Segregation von Institutionen entlang der Kategorie Rasse.16 In der Kapkolonie führte dies zu einem »upsurge of Coloured consciousness«.17 Die Diskriminierung der als Natives oder Bantu bezeichneten schwarzen Neuankömmlinge in der Stadt sollte nicht auf die eigene Community ausgeweitet werden. »In the process of restructuring, the term Coloured increasingly came to mean a non-African non-European.«18 Im Zensus von 1904 fand erstmals ein dreiteiliges Rassifizierungsschema Anwendung, das zwischen White, Coloured und Native unterschied. Coloured meinte nun nicht mehr alle, die nicht als Weiße galten, sondern denjenigen Teil der Bevölkerung, der schon lange in der Kolonie lebte, Afrikaans sprach und afrikanische, europäische oder asiatische Vorfahren hatte. Sie machten die alte Arbeiterklasse der Kapkolonie aus. Natives meinte die erst kürzlich aus dem Umland zugezogenen afrikanischen Migrant_innen und die in benachbarten Gebieten wie Mozambique angeworbenen Arbeiter, deren Bürger- und Aufenthaltsrechte immer drastischer beschnitten wurden.19 Ein Artikel im South African Spectator vom Dezember 1901 berichtete von »natives masquerading as Cape boys«. Weil der Verkauf von Spirituosen an Natives seit 1898 verboten war, hätten sie versucht,
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Cape Argus, 14. Juni 1895, zitiert in: Bickford-Smith, Ethnic Pride, S. 127. Vgl. zu solchen Geschichten der »Verwechslung« exemplarisch den Zeitungsbericht über eine englische Besucherin in Kapstadt, die in einem »first class café« nicht bedient wurde, weil man sie als Coloured identifiziert hatte. Zynisch schlug The Owl, A SerioComic Weekly in Kapstadt vor, die Frau solle sich am besten die Haare färben. Sie hätte gewarnt sein müssen: »[A] dark complexion introduced into South Africa« würde unweigerlich zu »perplexities« führen. The Owl, 26. Februar 1904. Vgl. Bickford-Smith, Ethnic Pride, S. 138 ff. 1902 gründete sich die African People's Organization (APO) als Interessenvertretung von Coloureds, um gegen die sich abzeichnende Segregation der Wohnviertel zu kämpfen, vgl. Goldin, Making Race, S. 32. George M. Fredrickson: Black Liberation. A Comparative History of Black Ideologies in the United States and South Africa, New York 1995, S. 46; Bickford-Smith, Betrayal. Vgl. Goldin, Making Race, S. 24. Besonders deutlich wurde dies in der Reaktion der Behörden auf die Pestepidemie von 1901. Es kam zu einer ersten Zwangsumsiedlung von Natives in ein außerhalb der Stadt liegendes, neu aufgebautes Viertel, das mit seinen notdürftig auf der nackten Erde errichteten Hütten eher an ein Lager erinnerte. Vgl. Goldin, Making Race, S. 24.
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als Coloured durchzugehen, um Rum zu kaufen.20 Doch wie sollte ein Barmann diese Unterscheidung von Native und Coloured unter seinen Kunden vornehmen? Die »color appearance« sei jedenfalls kein verlässlicher Hinweis, so der South African Spectator.21 Kapstadt entwickelte sich währenddessen zu einer modernen Großstadt. Stolz berichtete The Cape Town Guide 1894 von elektrischen Straßenbahnen und dem endlich fertig gestellten Abwassersystem der Stadt.22 Kapstadt sei eine »metropolis« geworden, die durch die vielen Schiffsverbindungen mit anderen Ländern und als Zwischenstation von Europa nach Asien in engem Kontakt mit den »great centres of the globe« stehe.23 Auch auf dem Weg ins Landesinnere war Kapstadt eine wichtige Durchgangsstation. Diese Dynamik stand in einem Spannungsverhältnis zu den häufig ungeschriebenen Gesetzen kolonialer Ordnung in einer weißen Siedlergesellschaft. Ähnlich wie in den USA standen die »Erfindung der weißen Rasse« und die rechtliche Ausformulierung ihrer Privilegien in engem Zusammenhang mit den sozialen Konflikten, die diese Ordnung erzeugte. Fotografische Bildpostkarten aus den Minen im Landesinneren zeigen häufig schwarze und weiße Arbeiter zusammen in einem Bild. Sie gruppieren sich um einen der riesigen Bohrer unter Tage oder um einen Amboss in den Werkstätten. Die häufig in Serie produzierten Bilder stellten die Arbeit in den Minen als geordnete Kooperation dar. Die Abgebildeten nehmen Posen ein. Die schwarzen Arbeiter halten ihre Werkzeuge in der Hand. Die Weißen stützen ihre Hände in die Hüften. Doch auch umgekehrte Anordnungen lassen sich finden. Die Arbeiter lächeln nicht, sondern blicken stolz und unnahbar in die Kamera.24 Die Bilder dokumentieren,
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Vgl. Pamela Scully: Liquor and Labor in the Western Cape, 1870-1900, in: Jonathan Crush/Charles Ambler (Hg.): Liquor and Labor in Southern Africa, Athens OH 1992, S. 56-77, hier: S. 69. Der seit 1901 in Kapstadt veröffentlichte South African Spectator wurde von Francis Zaccheus Santiago Peregrino herausgegeben. Er war in Accra im heutigen Ghana geboren, hatte in England studiert und in den USA ebenfalls eine schwarze Zeitung mit dem Titel Spectator herausgegeben, bevor er 1901 nach Kapstadt kam. Seine Eltern waren nach dem Sklavenaufstand von Bahia 1835 nach Accra deportiert worden. Vgl. Christopher Saunders: F.Z.S. Peregrino and »The South African Spectator«, in: Quarterly Bulletin of the South African Library 1977-78 32, S. 81-90. Preface, in: The Cape Town Guide. (Illustrated). Containing Information of every Character for Visitors and Residents, including Guide to all Points of Interest in and around Cape Town, Description of Buildings, Suburbs, &c., &c., Cape Town 1894, S. 21. Der Stadtführer sollte Besucher_innen Orientierung bieten, aber auch den Einheimischen die Möglichkeit geben, Freunden im Ausland ein Bild ihrer Stadt zu vermitteln. Cape Town Guide, S. 34; S. 23. Vgl. Postkarten aus Kimberley in Südafrika, »No. 29 – Langlaagte Gold Mine« und »No. 4: Robinson Deep Gold Mine«, Postcard Collection, Special Collections, National Library of South Africa, Cape Town.
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dass schwarze und weiße Arbeiter auf engstem Raum zusammen arbeiten mussten und sich ihre Tätigkeiten oft nicht grundsätzlich voneinander unterschieden. Häufig posierten weiße Arbeiter in den Bildern aber als Aufseher oder Vorarbeiter, während die schwarzen Arbeiten mit ihren Werkzeugen in der Hand dargestellt wurden. Umso eindeutiger sollte die Segregation jenseits des Arbeitsplatzes sein. Fotografien zeigen »Compounds«, abgeschlossene Wohnanlagen ausschließlich für schwarze Arbeiter, die nicht mehr in den rasch wachsenden Städten leben sollten, sondern in von ihren weißen Kollegen getrennten Massenunterkünften.25 Aus großer Distanz, von oben wie aus einem Wachturm, blickt die Kamera auf solchen Bildern in einen mit Menschen gefüllten Innenhof, umgeben von Gebäuden, die im Rechteck angeordnet den Komplex nach außen hin abschließen. Hier sind die schwarzen Arbeiter als Masse dargestellt, die zusammengefasst, überwacht, reguliert und verwaltet werden sollte. Auch in Kapstadt, weit entfernt von den Minen und ihren Organisationsformen von Massenarbeit, begann sich diese Logik der Segregation durchzusetzen. Neben den Disziplinarinstitutionen wie Schule oder Transportmittel ging es dabei auch um die Einwanderung. Das Einwanderungsgesetz von 1902 privilegierte die Migration aus Europa gegenüber der innerafrikanischen Migration. Aber auch nicht alle Europäer_innen waren gleich willkommen, wie eine auf das Einwanderungsgesetz folgende Debatte um die Frage belegt, ob Yiddisch überhaupt als europäische Sprache gelten könne.26 Die unerwünschten sozialen Effekte kapitalistischer Expansion hatten zu anti-semitischen Projektionen geführt. Lokale Karikaturen auf Bildpostkarten stellten osteuropäische Einwanderer als Betrüger dar.27 Ein ebenfalls 1902 verabschiedetes Gesetz zur Regulierung von Bordellen und Spielhallen verbot weißen Prostituierten, schwarze Männer als Kunden anzunehmen.28 Nach dem Ausbruch des zweiten Kriegs gegen die Buren 1899 gab es in Kapstadt mehr Bordelle denn je, das Rotlichtmilieu von Johannesburg und Kimberley war aus Angst vor dem Krieg unter anderem hierher geflohen. Die vielen Soldaten, die auf dem Weg in den Krieg im Landesinneren hier an Land gingen, versprachen zudem ein gutes Geschäft. In der Stadt herrsche ein »Carnival of Crime«, schrieb die Cape Times 1901 und interpretierte damit den komplexen Nexus von Mobilität, Militarismus und Prostitution als vorübergehenden Ausnahmezustand, den die Zeitschrift zudem implizit mit dem 25
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Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht die Postkarte »Native Compound at the Dutoitspan Mine, Kimberley« und »De Beers Compound«, die 1908 nach Kapstadt verschickt wurde, Postcard Collection, Special Collections, National Library of South Africa, Cape Town. Vgl. Bickford-Smith, Ethnic Pride, S. 148. Vgl. eine Serie von 1906, ebenfalls von G.W. Pilkington, Sammlung Malcolm Murphy. Elizabeth B. Van Heyningen: The Social Evil in the Cape Colony 1868-1902. Prostitution and the Contagious Disease Acts, in: Journal of Southern African Studies 1984 19 (2): S. 170-197, hier: S. 191-194.
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Karneval der lokalen Unterschichten und der nicht-weißen Bevölkerung assoziierte.29 Gemessen an den sich verhärtenden Fronten der Color Line, die zunehmend verwaltungsrechtlich festgeschrieben wurde, zeichneten die Karikaturen der Serie »Our Capetown« ein selbstironisches und selbstbewusstes Bild des alltäglichen Zusammenlebens. Sie umfasste neben dem eingangs beschriebenen »Afro-German Cakewalk« mindestens elf weitere Motive. Nicht alle behandelten die Color Line. Eine Karikatur greift den stürmischen Wind in der Stadt auf, der die Kleider der Kapstädterin in Unordnung bringt; eine andere macht sich über einen gut gekleideten Bürger lustig, der protestiert, als ihm ein Fahrer der städtischen Wasserwerke beim Wässern der Straße grinsend die Hosenbeine nass spritzt; zwei Marktfrauen streiten sich. Eine ist schwarz, eine ist weiß. Doch in dieser Schicht, so suggerierte die Karte, ist das gleichgültig. Die Bildunterschrift »Local Billingsgate« positioniert Kapstadt in Analogie zum Londoner Fischmarkt.30 Doch der Humor von »Our Capetown« ist nicht nur paternalistisch und vereinnahmend, sondern auch zynisch und moralisierend: In der Karte »Our Native Labour Supply« sieht man einen elegant gekleideten, mit Spazierstock, Zigarre und breitkrempigem Hut ausgestatteten schwarzen Mann, der sich auf der Straße von einem älteren weißen Mann die Schuhe putzen lässt. Der Absender kommentierte das Motiv und fügte handschriftlich einen nach oben zeigenden Pfeil an das Kinn des schwarzen Kunden, um zu markieren, wie hochnäsig und anmaßend er sein Verhalten empfand. Daneben schrieb er: »I see this done daily«.31 Die darin zum Ausdruck gebrachte Empörung buchstabiert das in der Karikatur angelegte Ressentiment gegen die Entstehung einer schwarzen Mittelschicht aus, die eine dienende Position verlässt und sich statt dessen – für alle öffentlich sichtbar – von einem weißen Arbeiter bedienen lassen kann. Diese Mittelschicht für den wachsenden Arbeitskräftemangel der Kolonie verantwortlich zu machen, ist in der Karikatur ironisch gemeint. Doch der empörte Kommentar bestätigte das Bild als Alltagsphänomen, das den Ordnungsvorstellungen des Absenders widersprach. Eine ebenfalls 1904 produzierte Postkarte zeigt einen Mann und eine Frau mit Tennisschlägern und modischer Kleidung, ihn mit einer sportlichen Kappe, sie mit breitkrempigem Sonnenhut. Hautfarbe und Profil betonen, dass sie keine Weißen sind. Die Bildun29
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Cape Times, 31. July 1901, zitiert in Elizabeth B. Van Heyningen: The Social Evil in the Cape Colony, 1868-1902. Prostitution and the Contagious Diseases Acts, in: Journal of Southern African Studies 1984 10 (2): S. 170-197, hier: S. 192; zum Immigration Restriction Act vgl. Van Onselen, Fox, S. 182, und zum »Betting Houses, Gaming Houses and Brothels Suppression Act« ebd., S. 194. Vgl. Sammlung Malcolm Murphy. Er schickte die Karte ins rund 70 Kilometer entfernte Wellington am Westkap und ging davon aus, dass der Adressat seine Empörung teilen würde. Sammlung Malcolm Murphy.
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terschrift lautete: »Why the Chinese came to South Africa« und bezieht sich auf die Debatte, ob die Betreiber der Minen Kontraktarbeiter aus China anwerben dürften, was die meisten weißen Siedler strikt ablehnten.32 Eine andere Karte der Serie »Our Capetown« zeigt eine schwarze Frau am Arm eines weißen Soldaten in Uniform. Sie blickt stolz geradeaus, doch die modische europäische Kleidung, die sie trägt, sieht unförmig und lächerlich aus, insbesondere ihr großer weißer Sommerhut. Den Soldaten, der ihr den Arm zum Geleit gereicht hat, scheint es nicht zu stören. Erfreut lächelnd blickt er sie von der Seite an, während sie im Gleichschritt dahinmarschieren. Die Bildunterschrift lautet »Best Assorted«, eine Ausdruck, der in der Vermarktung eines Produkts eine besonders sorgfältige Auswahl und Mischung anpries.33 Die Anspielung auf etwas Käufliches war kein Zufall, denn gemessen an den Normen der Kolonie war hier gerade kein »wellassorted pair« zu sehen, sondern, so die Unterstellung, ein Fall von käuflicher Liebe, die zudem die Color Line überschritt. Die Serie »Our Capetown« war bemüht, eine aus bürgerlicher Perspektive aus den Fugen geratende Gesellschaft in ein selbstironisches Bild britischen Gleichmuts zu fassen. Wer in Kapstadt überleben wollte, so die Botschaft, brauche Durchsetzungsvermögen und Standhaftigkeit. Doch im Großen und Ganzen sei gerade im Durcheinander alles in bester Ordnung. Lediglich der Vorwurf, dass die schwarzen Bürger_innen durch ihr Bürgerlich-Werden das Funktionieren der kolonialen Ordnung durcheinander brächten, ging über diese Haltung hinaus und formulierte eine zutiefst moralische Kritik. Sie spielte diejenigen, die ihren Platz in der kolonialen Ordnung kannten, gegen »Emporkömmlinge« aus, die für Arbeitskräftemangel und moralischen Verfall verantwortlich gemacht wurden. Dazu passt auch, dass in den einzelnen Karikaturen jeweils antagonistische Relationen abgebildet waren, die entweder hierarchisiert, getrennt oder wie im Fall der Marktfrauen als Konflikt dargestellt wurden. So sehr die Serie »Our Capetown« eine Gemeinschaft aufrief, die sich über das selbstreflexive Anerkennen ihrer Grenzfiguren und Konfliktlinien konstituieren sollte, so wenig konnte sie sich mehr als zwei dieser Differenzen, Konflikte und Begehrlichkeiten in einem Bild vorstellen. Die Kapstädter »Typen« begegneten einander, sie stritten sich oder wurden handelseinig, sie ignorierten oder beschmutzten, säuberten oder befriedigten einander, aber sie tanzten und feierten nicht miteinander.34
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Vgl. Sammlung Malcolm Murphy. Serie »Our Capetown«, Postcard Collection, Special Collections, National Library of South Africa, Cape Town. Vgl. auch die Serie Capetown Types, die um 1900 veröffentlicht wurde. Die Zeichnungen schwankten zwischen Karikatur und ethnografischem Portrait einer als exotisch dargestellten Bevölkerung Kapstadts. Vgl. Sammlung Malcolm Murphy.
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Diese Logik zeigt sich auch in der Rezeption des Cakewalks. Während diejenigen, die im Zensus von 1904 als Coloureds registriert werden sollten, den Cakewalk im Karneval in ihr Repertoire aufnahmen, wollte ihn die weiße Gesellschaft nur als Bühnentanz sehen.35 Er fand Eingang in politische Karikaturen, in denen Tanzen als Bild für Korruption und Unordnung herhalten musste.36 Dass es sich beim Cakewalk um einen Gesellschaftstanz handelte, der in Europa gerade zum Modetanz avanciert war, spielte in der Kapstädter Presse jedoch keine Rolle.37 Das ist insofern auffällig, als die weiße Presse sonst bereitwillig von den »splendid new novelties« aus Europa berichtete.38 Nur einmal kündigte das »Monster Program« einer Abendveranstaltung in Filis's Circus and Menagerie im Januar 1904 einen »Grand Cakewalk Contest« an, doch das Ereignis wurde weder in der Presse besprochen noch in den darauf folgenden Monaten wiederholt.39 Gesellschaftsbälle waren in der Presse, bis auf knappe Ankündigungen, ohnehin kein Thema. Wurde einmal über einen Ball berichtet, dann ging es um die Mode der Damen und wie viel Bein zu sehen war, wenn sie ihre Röcke hoben.40 Zwar traten in dem 1903 neu eröffneten Variété-Theater Tivoli Artisten auf, die Coon Songs aufführten und in der Presse als »eccentric dancers« mit »clever movements« besprochen wurden, doch um welche Tänze es sich bei ihren Darbietungen handelte, war nicht weiter von Interesse.41 Ähnlich wie im amerikanischen Süden oder im westafrikanischen Kamerun tanzte die weiße Gesellschaft von Kapstadt den Cakewalk nicht selbst 35 36
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Vgl. Coloured Carnival at Green Point, in: Cape Times, 9. Januar 1907, und ausführlicher weiter unten in diesem Kapitel. Vgl. Preparing for the Ballot, in: The Owl, 8. Januar 1904, S. 24. und in derselben Ausgabe To Welcome Ah Sin, S. 11. Im ersten Fall stellten Politiker der verschiedenen Parteien Balletttänzerinnen im Tutu dar. Einer von ihnen, der Vertreter der in den 1890er Jahren wegen Korruption berüchtigten Clean Party, zeigt eine Cakewalk-Pose. Im zweiten Fall war eine Straßenparade von Interessenvertretern von Industrie und Banken zu sehen, die sich als Fürsprecher für die Anwerbung chinesischer Kontraktarbeiter in »Chinesen« verwandelt hatten, wie ihre Ausstattung mit Zöpfen, traditioneller chinesischer Kleidung und entsprechenden Schuhen und Hüten belegen sollte. Der Untertitel der Karikatur lautete »A Pro-Chow Progressive Movement« und spielte auf die Progressive Party an. Zwei der Abgebildeten nahmen die eigentümliche Haltung mit den weit nach vorne ausschreitenden Beinen und den nach vorn gereckten Armen ein. Das gilt in erster Linie für die weiße Presse. Auch der an eine coloured Leserschaft gerichtete South African Spectator berichtete nicht über den Cakewalk, was aber nicht weiter verwundert, weil er auch sonst nicht über gesellschaftliche Ereignisse dieser Art berichtete, anders als Cape Times oder Cape Argus. Cape Times, 5. Dezember 1904. The Owl, 29. Januar 1904, S. 2. Der Artist berichtete am 31. Juli 1904 vom Auftritt von »Guillaume & Baby, französische Clowns« mit dem Cakewalk bei Filis's Circus, der zu diesem Zeitpunkt in Pietmaritzburg, Südafrika gastierte. Der Artist 1904 22 (1016). The Cape Register, 31. Juli 1903, S. 15. Vgl. Cape Register, 02. Oktober 1903 und 16. Januar 1903, S. 2-3.
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nach. Als »America's latest novelty« war er zwar im abendlichen Unterhaltungsprogramm der Stadt willkommen.42 Doch die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum überschritt er dabei nicht. Es ist aber davon auszugehen, dass die Bewohner_innen der Stadt durchaus von den Ereignissen transatlantischen Ereignissen rund um den Cakewalk wussten. Ihnen standen um 1900 nicht nur die vor Ort produzierten Medien zur Verfügung, sondern sie waren auch an den internationalen Zeitungsmarkt angeschlossen. Für den englischsprachigen Markt umfasste das Angebot sowohl Zeitungen aus England als auch aus den USA. Bereits 1897 klagte die Kapstädter Zeitschrift The Owl über Zeitungen, die das »young Colonial mind« mit »lascivious ideas« verschmutzten.43 Neben dem in London veröffentlichen Illustrated Standard nannte der Artikel auch The Mascot aus New Orleans und The Police Gazette aus New York City.44 Die »Colonial boys and girls« würden sich auf die »spicy stories« über Ehebruch und Verbrechen stürzen. Tatsächlich war in den USA seit den 1880er Jahren eine neue Form von Sensations-Journalismus entstanden, der auch in Kapstadt Leser_innen fand. Der Artikel in The Owl sorgte sich um den »kolonialen Geist« der lokalen Jugend und beflügelte zugleich die Fantasie seiner Kontrolle, indem er diese Form des modernen Journalismus problematisierte. Der beschleunigte Verkehr rund um den Atlantik brachte die Metropolen näher an die abgelegene Kolonie, intensivierte aber zugleich das Begehren nach Distanz und Differenz unter den Apologeten einer kolonialen Ordnung. Die immer schneller und billiger werdenden Kommunikationsmöglichkeiten gefährdeten nach Ansicht der weißen Kapstädter Presse nicht nur die Sittlichkeit der Jugend, sondern stellte auch die Distanz der afrikanischen Bevölkerung zum Rest der Welt in Frage. Die Cape Times veröffentlichte im März 1907 eine Karikatur, die eine junge Frau vor einer Hütte zeigt. Zu ihren Füßen kniet ein junger Mann. In den Wolken über ihnen schießt Cupido einen Pfeil auf sie ab. Darunter steht in eckigen Klammern »A package was sent recently through the post by a Basuto boy to a native girl which contained a copy of a work on ›The Principles of Political Economy‹.« Diese Information stamme vom »Postmaster General« von Transvaal. Dass die schwarze Jugend Südafrikas John Stuart Mills Klassiker der politischen Öko42
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Vgl. Veit Erlmann: A Feeling of Prejudice. Orpheus M. McAdoo and the Virginia Jubilee Singers in South Africa 1890-1898, in: Journal of Southern African Studies 1988 14 (3): S. 331-350, hier: S. 349. The Owl 1897 2 (3): S. 35. Die Police Gazette berichtete wie die New York Times auch über die CakewalkWettbewerbe der 1890er Jahre. Vgl. Walkin' Fer [sic] de Cake, in: National Police Gazette 5. März 1898, S. 6. Nach Mura Dehn richtete sie selbst einen der wichtigsten Wettbewerbe in der Stadt aus, vgl. Box 3 Folder 64, Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library. Performing Arts Research Collections, New York City.
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nomie las, war auch unter britischer Herrschaft nicht vorgesehen. Sie verfolgte zwar eine andere Politik der Kolonisierung als die Buren, ging aber ebenso davon aus, dass die Weißen die Schwarzen regieren sollten: »A political equality of white and black is impossible.«45 Damit das so blieb, hatte die Post das Paket geöffnet und das Buch möglicherweise beschlagnahmt.46 Die Karikatur entpolitisierte diesen Eingriff in das Postgeheimnis und rückte die Kommunikation zwischen einem Mann und einer Frau ins Zentrum. Aus der Perspektive des rassistischen Witzes hatte der Mann ein unpassendes Buch ausgewählt, um die Adressatin zu verführen. Die in der Bildbeschriftung aufgerufene Differenz von Alt und Neu verortete Afrikaner_innen zudem in einer Zeit vor dem globalisierten Postverkehr, vor der Moderne, vor der Politik – eine Fiktion, die erst gewaltsam hergestellt werden musste. Der Witz über die Basuto war kein Zufall. Sie lebten in einer Gegend, dem heutigen Lesotho, die sich auch nach ihrer offiziellen Eingliederung in die britische Kapkolonie eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt hatte. Ein afroamerikanischer Schiffskapitän namens Harry Dean, der um 1900 in der Kapkolonie lebte, besuchte die Gegend auf Einladung ihres Chiefs Lerothodi. Dean sollte ihn dabei unterstützen, unabhängig von der britischen Kolonialmacht Handelsbeziehungen zu knüpfen und ein Bildungssystem zu etablieren. Dean traf dort »Judge Con Rideout«, den er als einen alten Freund aus Mississippi bezeichnet. Der afroamerikanische Anwalt sei ihm hier weitab von Kapstadt mit »high silk hat and Prince Albert coat« begegnet. Er habe einen wichtigen Posten in der Regierung von Lerothodi inne gehabt, die er zudem als »parliamentary form of government« beschreibt. Auch Lerothodi sei europäisch gekleidet gewesen, seine gebildete Frau habe französische Kleider aus blassgelber oder grüner Seide getragen.47 Dean träumte davon, in Kooperation mit der lokalen Bevölkerung eine moderne afrikanische Nation zu gründen und sprach dafür in der ganzen Kapkolonie potentielle Siedler an. Viele waren Afroamerikaner_innen aus den USA oder von den westindischen Inseln.48 45
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So Lord Milner, der als High Commissioner in Südafrika nach dem Krieg gegen die Buren den Wiederaufbau des Landes organisieren sollte. Zitiert nach George M. Fredrickson: White Supremacy. A Comparative Study of American and South African History, New York 1981, S. 195. Ähnlich ging zur gleichen Zeit die deutsche Nachbarkolonie Deutsch-Südwest-Afrika vor. Die Post fing dort einen Brief aus Japan an Hendrik Witbooi ab, der den Anführer der Nama in seinem anti-kolonialen Kampf bestärken sollte. Vgl. den Auszug aus Maximilian Bayer: Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika. Berlin 1909, abgedruckt in Zimmerer/Zeller, Völkermord, S. 122. Captain Harry Dean: Umbala. The Adventures of a Negro Sea Captain in Africa and on the Seven Seas in his Attempts to Found an Ethiopian Empire, London/Winchester MA 1989, S. 205. Vgl. John S. Burger: Captain Harry Dean. Pan-Negro-Nationalist in South Africa, in: The International Journal of African Historical Studies 1976 9 (1): S. 83-90, hier: S. 88 ff.
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Um 1900 wurde aus der Idee des Panafrikanismus, die in den USA bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden war, ein Projekt konkreter Vernetzung und Organisierung.49 Aus der Perspektive kolonialer Siedler war dies besorgniserregend. 1907 druckte die Cape Times den anonymen Artikel The Native Question, by an Old Colonist ab, der zuvor in der Londoner Pall Mall Gazette veröffentlicht worden war.50 Angesichts der Debatte um die Anwerbung chinesischer Kontraktarbeiter kümmere sich niemand um die »Native Question«, beklagte der Autor. Dies sei gerade angesichts des im Jahr zuvor niedergeschlagenen Aufstands der Zulu gefährlich. Es ließe sich eine allgemeine Tendenz beobachten, dass man es in Südafrika bald nicht mehr nur mit vielen kleinen, verstreuten »tribes« zu tun habe, sondern einem größeren Zusammenschluss von Gegnern: »[E]very day brings nearer the time when the whole of the Bantus will be considered one people.« Dann stünden 135.735 Weiße 5.193.062 Schwarzen gegenüber. »We all know that the ambition of a large proportion of the white population is to have Africa for Afrikaners, but it is not so widely known that there is an ever-increasing feeling, fed and fostered by the partly-educated Kafirs who are making their influence felt all through the country, that the time is about to come when Africa should be for Africans.«51
Die erfolgreiche Expansion der südafrikanischen Republik und die angestrebte Gründung einer Südafrikanischen Union verwandelten um 1900 den fortwährenden Krieg gegen äußere Feinde, die am Rand einer expandierenden Grenze angesiedelt waren, in das Szenario eines permanenten, im Inneren geführten Rassenkrieges. Das bevölkerungspolitische Rechenspiel in dem Artikel eines »old colonist« stellte Kolonialpolitik als Überlebenskampf der weißen Siedler gegenüber einer schwarzen Mehrheit im Land dar. In dem Artikel über die Native Question und der Rede von »Africa for Africans« klingt das Phänomen des schwarzen Nationalismus an, das um 1900 eng mit dem Begriff Ethiopianism verbunden war. Der Begriff Ethiopia stand im 19. Jahrhundert häufig als Pars pro toto für den afrikanischen Kontinent und seine Bewohner. Damit verbunden war auch die Hoffnung, von Afrika aus das Christentum in Europa zu erneuern. Im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei bemächtigten sich afroamerikanische Intellektuelle in den USA des Begriffs. In kontroversen De49
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1900 fand in London eine erste panafrikanische Konferenz statt, an der Vertreter der schwarzen Diaspora aus der Karibik, aus den USA und aus Afrika teilnahmen. Harry Dean traf hier auf W.E.B. Du Bois und unterbreitete ihm einen Vorschlag für eine militärische Intervention in Afrika, was dieser aber für wenig aussichtsreich hielt. Vgl. Burger, Captain, S. 84; allgemein zur Geschichte des Panafrikanismus vgl. Immanuel Geiss: Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt am Main 1968. Cape Times, 9. Januar 1907, S. 27. Ebd.
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batten um die Kolonisierung von Gebieten in Westafrika durch amerikanische Freedmen ging es um die praktische Umsetzung der im Bürgerkrieg erkämpften Freiheit.52 Bereits 1859 schrieb der afroamerikanische Abolitionist Martin R. Delany nach einer Reise nach Afrika: »Our policy must be [...] Africa for the African race and black men to rule them.«53 In den 1870er Jahren wuchs die Enttäuschung über das Scheitern der Emanzipation in den Südstaaten. Von den schwarzen Kirchen, die sich nach der Abschaffung der Sklaverei gebildet hatten, waren immer mehr der Überzeugung, dass der Exodus aus dem Süden die einzige Hoffnung darstelle.54 Zur gleichen Zeit gründeten sich in Südafrika ebenfalls schwarze Kirchen, die sich von europäischen Missionen oder Kongregationen abspalteten. Unter ihnen war die Kapstädter Ethiopian Church von 1893, die 1896 sogar um Aufnahme in die African Methodist Episcopal Church (AME) in den USA bat.55 Die Intensität der Begegnung von Afroamerikaner_innen und den unterschiedlichen Bewohner_innen der britischen Kapkolonie in den 1890er Jahren belegt, dass sich die jeweiligen Akteure in einem transatlantischen Bezugrahmen bewegten. Nicht nur zitierte der »old colonist« in England fast wortwörtlich Delanys antikoloniale Position, sondern es betrachteten auch schwarze Intellektuelle in Südafrika Afroamerikaner_innen als »Africans in America« und erklärten sie zu Vorbildern im Kampf gegen Rassismus. In diesem Zusammenhang spielte auch der Cakewalk eine Rolle. Orpheus McAdoo, ein afroamerikanischer Sänger und Impresario aus den USA, brachte ihn mit den Virginia Jubilee Singers Ende der 1890er Jahre nach Kapstadt. Er war schon länger vor Ort gewesen, doch nachdem sich einige der Mitglieder seines Ensembles in Südafrika selbständig gemacht hatten, musste er 1897 nach New York reisen, um dort neue Künstler_innen anzuwerben. Er kam mit »America's Latest Novelty« – dem Cakewalk – im Programm zurück und führte ihn auf den Bühnen der Kapstädter Varietés ein.56 Die Entscheidung von »thousands of
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Vgl. Fredrickson, Black Liberation, S. 64-65. Zitiert nach Fredrickson, Black Liberation, S. 66; zur Politik von Delany siehe Gilroy, Black Atlantic, S. 19-29. Fredrickson, Black Liberation, S. 76-77. Fredrickson, Black Liberation, S. 82-85. Diese Vernetzung über den Atlantik währte aber nicht lange, schon 1908 optierte die Ethiopian Church wieder für die Unabhängigkeit. Vgl. Erlmann, A Feeling, S. 349. Als McAdoo 1898 Südafrika endgültig verließ, um in Australien aufzutreten, gründete er dort die Original Alamaba Cake-Walkers. Martin behauptet, McAdoo sei mit den Alabama Cake-Walkers aufgetreten, bevor er mit den Virginia Jubilee Singers nach Südafrika kam, was aber unwahrscheinlich ist, vgl. Martin: Coon Carnival, S. 85. McAdoo war bereits in den 1880er Jahren in einer aus den Fisk Jubilee Singers hervorgegangenen Truppe auf Tournee in England, Indien, Australien und dem Fernen Osten gewesen. 1888 war er erstmals nach Südafrika gekommen und mit Unterbrechungen bis 1899 dort präsent. Vgl. Erlmann, A Feeling, S. 333.
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working class Coloured men«, im Kapstädter Karneval als Coons aufzutreten, geht unter anderem auf den Einfluss von McAdoos Auftritten zurück.57 Wie der Name andeutet, sangen die Virginia Jubilee Singers Spirituals aus der Zeit der Sklaverei und kombinierten sie mit Formaten aus Blackface Minstrel Shows, die in Südafrika bereits seit den 1850er Jahren bekannt waren. Daneben sangen sie Arien aus europäischen Opern, populäre Schlager und amerikanische Coon Songs. Wie in einem Zerrspiegel konnten die verschiedenen Bewohner_innen Südafrikas ihre Gefühle in diesen Aufführungen spiegeln und ihre Wünsche auf die gut gekleideten, teils traurig, teils humorvoll, aber in jedem Fall harmonisch singenden afroamerikanischen Künstler_innen projizieren, ganz gleich, wie sie in den kolonialen Beziehungen Südafrikas, ihren Konflikten und Widersprüchen positioniert waren. Die Briten fühlten sich an die glorreiche Zeit der Abschaffung der Sklaverei erinnert, aus der sie ein Gefühl moralischer Überlegenheit gerade auch anderen europäischen Kolonialmächten gegenüber ableiteten.58 Und sogar vor burischem Publikum hatten die Jubilee Singers Erfolg. Besonders eindrücklich war die Reaktion des burischen Präsidenten von Transvaal Paul Krüger: Die traurigen Spirituals McAdoos rührten ihn zu Tränen. Der oberste Vertreter eines Systems, das Weiße als Auserwählte imaginierte und Schwarze zu ihren ewigen Dienern machen wollte, war von den Gefühlen überwältigt, die schwarze Musik bei ihm auslöste.59 Doch McAdoo war in Südafrika nicht nur als Künstler, sondern auch als politischer Aktivist und Netzwerker erfolgreich. Die Jubilee Singers sangen nicht nur, McAdoo hielt auch Vorträge, bei denen er vom Kampf um Bürgerrechte in den USA nach der Abschaffung der Sklaverei berichtete und besonders die Errungenschaften im Bildungswesen hervorhob.60 Wie seine Berichte über Südafrika in afroamerikanischen Zeitungen belegen, verstand McAdoo den Rassismus in Südafrika in Analogie zur Situation in den USA. Als er 1899 kurz vor Ausbruch des Zweiten Burenkriegs Südafrika endgültig verließ, schrieb er aus Australien: »[A] man is a
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Vgl. David B. Coplan: In Township Tonight. South Africa's Black City Music and Theatre, Johannesburg 1985, S. 39. Auch Martin betont die Bedeutung von McAdoos Truppe, vgl. Martin, Coon Carnival, S. 85-88. In den Auseinandersetzungen mit den burisch regierten Republiken im Landesinneren, wo seit den 1870er Jahren Gold und Diamanten gefunden worden waren, verwiesen sie immer wieder auf deren schlechte Behandlung der einheimischen Bevölkerung. Tatsächlich ging es im zweiten Burenkrieg darum, die Ungleichbehandlung britischer Siedler und Schürfer in dem Gebiet zu beenden. Vgl. Fredrickson, White Supremacy, S. 194. Erlmann, A Feeling, S. 341. Im Anschluss an Eugene Genovese interpretiert Erlmann dieses Verhalten als Paternalismus. McAdoo hatte am Hampton Institute studiert und versuchte, aus Südafrika Studenten dorthin zu schicken. 1890 war Titus Mbongwe mit einem von McAdoo finanzierten Stipendium dorthin aufgebrochen. Bei einem Zugunglück auf der Reise kam er aber ums Leben, vgl. Erlmann, A Feeling, S. 345.
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man here. There is no color line to fight. You are known for what you are.«61 In Südafrika waren er und seine Virginia Jubilee Singers hingegen ständig mit der Color Line in Konflikt geraten: In zahlreichen Prozessen und Auseinandersetzungen mit der Polizei mussten sie ihr Recht, eine Bar zu besuchen oder einfach nachts auf der Straße zu sein, erst durchsetzen.62 Immer wieder musste der amerikanische Konsul in Kapstadt bestätigen, dass sie wirklich amerikanische Staatsbürger waren. Denn die Jubilee Singers weigerten sich, amerikanische Pässe zu beantragen, die vor Ort ihre Identifizierung als Amerikaner erleichtert hätte. Sie insistierten auf ihrem Recht, ebenso wie andere Amerikaner, ohne Pass durch die »Schwesterrepubliken« Südafrika und Australien zu reisen.63 Gerade der beginnende Passzwang entwickelte sich zu einer zentralen Technik der Apartheid, um schwarze Südafrikaner zu Fremden im eigenen Land zu machen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund zeigt sich die politische Dimension der Auftritte der Jubilee Singers in Südafrika um 1900. In schwarzen Zeitungen galten sie als politische und kulturelle Vorbilder, nicht nur wegen ihrer künstlerischen Leistungen, sondern auch wegen ihrer kämpferischen Haltung, wenn es um die Durchsetzung ihrer Rechte ging.64 Bereits in den 1890er Jahren entstand ein lokales Pendant, das auf Tournee nach England und in die USA ging. Einige der Mitglieder dieser südafrikanischen Jubilee Singers waren zugleich Mitglieder der Ethiopian Church in Kapstadt. Als das Unternehmen 1896 in Ohio Konkurs ging, nahmen einige Mitglieder des Ensembles Kontakt mit der dortigen AME Church auf und vermittelten vermittelten schließlich sogar die zeitweilige Aufnahme der Ethiopian Church in die AME Church. In einer Serie von Postkarten mit dem Titel Capetown Types, die nach 1905 in London produziert wurde, findet sich die Karikatur eines schwarzen Paares in modischer Kleidung mit der Bildunterschrift »Can the Ethiopian Change His Skin?«65 Ein Cakewalk, der 1903 ebenfalls in London als Musiknoten der Zeitschrift The 61
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Vgl. den Artikel O.M. McAdoo's Minstrel and Cake Walkers arrive in Sidney, Australia, in: Indianapolis Freeman, 29. Juni 1899, abgedruckt in: Sampson, The Ghost Walks, S. 177. Vgl. Coplan, In Township Tonight, S. 57. Bürger_innen der USA brauchten damals auch in Europa – mit Ausnahme des zaristischen Russlands – keinen Pass. In Deutschland war der Visumszwang für die eigene Bevölkerung mit dem »Gesetz über das Paßwesen« vom 12. Oktober 1867 zuerst im Norddeutschen Bund aufgehoben worden. Der zweite Paragraph lautete: »Auch von Ausländern soll weder beim Eintritt, noch beim Austritt über die Grenze des Bundesgebietes, noch während ihres Aufenthalts oder ihrer Reisen innerhalb desselben ein Reisepapier gefordert werden.« vgl. »Gesetz über das Paßwesen vom 12. Oktober 1867 und über die Freizügigkeit vom 1. November 1867«, in: Gesetze des Norddeutschen Bundes, Bd. 2. Digital auf http://de.wikisource.org, zuletzt abgerufen am 08.10.2009. An McAdoo's Auftritte erinnerten sich eine Reihe von später prominenten Gegnern der Apartheidspolitik wie Solomon Plaatje, vgl. Erlmann, A Feeling, S. 343. Vgl. Sammlung Malcolm Murphy.
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Graphic als Supplement beigelegt worden war, trug den Titel »Ethiopian's Ecstasy« (Abb. 9). Hier war die Bevölkerung Londons zu sehen, afroamerikanische Artisten, die gerade im Varieté auftraten, kostümierte Narren und alltäglich gekleidete Bürger, Polizisten in Uniform und sogar die Haustiere der englischen Gesellschaft, alle beim Cakewalken. Während das Titelblatt den Tanz zwischen individueller Balance und drohendem Chaos positioniert, spricht der Titel des Cakewalks von der Ekstase der »Ethiopians«, als sei London von einer transatlantischen und implizit antikolonialen Bewegung erfasst worden. In Kapstadt war dagegen nicht einmal als Witz denkbar, dass sich die heterogene Bevölkerung zu einem selbstbestimmten Tanz vereint. Witzpostkarten betonten, dass die Color Line auch den Wechsel der Klasse überdauern würde. Die eigentümliche Anordnung im eingangs beschriebenen »Afro-German Cakewalk« betont diese Trennung, gerade weil sie im Kapstädter Straßenkarneval, versteckt hinter den Masken von Blackface und Whiteface, nicht mehr recht greifen konnte. Der Wunsch, die heterogene Bevölkerung in ihren Bestandteilen zu identifizieren und voneinander abzugrenzen, erzeugte einen Humor, der auf Pinkertons Postkarten ebenso zum Ausdruck kommt wie auf Karikaturen in Zeitungen wie »A Modern Courtship«. Auch in der symbolischen Anerkennung und kommerziellen Vermarktung des Karnevals, die 1907 erstmals erprobt wurde, kommt die doppelte Bewegung von Vergemeinschaftung durch Segregation zum Ausdruck. Hierbei trat auch der Cakewalk prominent in Erscheinung. Am selben Tag, als die Cape Times 1907 den Artikel des »Old Colonist« veröffentlichte, der die drohende Vereinigung der »Bantus« und einen Rassenkrieg in Südafrika prophezeite, druckte sie eine Fotostrecke über den »Coloured Carnival« in Greenpoint ab. Ein Foto zeigt eine Frau in einem langen weißen Sommerkleid. Sie hat ihren Oberkörper weit nach hinten gelehnt und die Arme hoch in den Himmel gereckt. Fast scheint es, als würde sie schweben, nur einer ihrer Füße berührt leicht den Boden. Der Spannungsbogen ihres Körpers reicht vom Kopf bis in die Fußspitzen. Die Kamera blickt etwa in Höhe dieser Füße auf die Tänzerin, die erhöht auf einer Bühne steht. Ihr gegenüber steht, etwas nach hinten versetzt, ein anderer Tänzer, ausgestattet mit Hut und Spazierstock, der mit federnden Schritten seinen Auftritt beendet. Die Bildunterschrift der Fotografie lautet »Cake Walk (Princes Escort)«.66 Erstmals war im Rahmen des lokalen Straßenkarnevals auf dem Gelände eines Cricket-Klubs ein Tanz- und Musikwettbewerb ausgerichtet worden. Die Fotostrecke zeigt die Prozession auf das mit Tribünen ausgestattete Sportgelände, Karnevalisten in ihren Kostümen, einen Auftritt der »Darktown Fire Brigade« und zwei Fotografien des Cakewalk-Wettbewerbs. Ein in Greenpoint ansässiger Cricket-Klub hatte einen Cakewalk-Wettbewerb ausgeschrieben und Preise von insgesamt 100 66
Siehe Coloured Carnival at Green Point, in: Cape Times, 9. Januar 1907.
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Pfund angesetzt. Der Klub verkaufte Tickets für die Veranstaltung und besserte so seine angeschlagene Kasse auf.67 In der Presse war die Veranstaltung als »Coloured Carnival« angekündigt.68 Die Karnevalisten nannten sich selbst jedoch nicht Coloureds, sondern Coons. Sie definierten sich damit nicht als Minderheit und ihre Praxis nicht als Folklore, sondern eigneten sich eine Kultur des Spotts an. Indem sie ihre Gesichter teils schwarz, teils weiß anmalten, waren sie in der herrschenden Rassenordnung nicht eindeutig zuzuordnen. Wie bereits in vorhergehenden Kapiteln gezeigt, stammte der Begriff Coon aus der Populärkultur der USA, wo seit den 1880er Jahren Lieder als Coon Songs in millionenfacher Auflage als Musiknoten verkauft wurden, die rassistische Stereotype in Umlauf brachten.69 Sie waren in Kapstadt auch im Variété präsent.70 Auf den Routen internationaler Künstleragenturen war Kapstadt eine feste Station. Englische, amerikanische und sogar deutsche Artisten gingen um 1900 regelmäßig in Südafrika auf Tournee. Doch die alte Arbeiterklasse von Kapstadt griff die Maske des Blackface auf, die übertrieben weltmännische Haltung des Coon und die Bewegungen des Cakewalks, um sie in ihren Straßenkarneval zu integrieren, der seit den 1880er Jahren an die Geschichte der Sklaverei erinnerte. Indem sie den Coon von der Bühne auf die Straße holten, aktualisierten sie ein Potential, das die Figur vor ihrer Verfestigung zu einem rassistischen Stereotyp gehabt hatte. David Roediger zeigt, dass schwarze Coons in den USA im frühen 19. Jahrhundert »irrepressible, irresponsible, dandified free Blacks in the North« repräsentierten. Sie tauchten auf den Theaterbühnen als Zip Coon oder Raccoon auf und stellten eine Untergruppe unter der allgemeinen Problematik Coon dar. Diese hatte sich ursprünglich auf arme weiße Männer vom Land bezogen, die als »gewiefte Burschen« den ihnen zugewiesenen Platz verließen und in die Städte zogen. In den 1840er Jahren entwickelte sich Coon als Schimpfwort gegen den Populismus der Whig Party. »Only gradually did coon emerge as a racial slur«. Sein Gebrauch als Schimpfwort zog eine Verbindungslinie zwischen schwarz und weiß, weil der Begriff vor seiner explosionsartigen Ausbreitung als rassistisches Stereotyp jene Weißen bezeichnet hatte, die sich einer an sie herangetragenen Arbeitsethik verweigerten und ihren Platz in der »new world of wage labor« nicht ohne weiteres einnehmen wollten: »Rustics and con-
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Vgl. Martin, Coon Carnival, S. 98-99. Cape Times, 1. Januar 1907, abgedruckt in: Martin, Coon Carnival, S. 99. James M. Dormon: Shaping the Popular Image of Post-Reconstruction American Blacks. The ›Coon Song‹ Phenomenon of the Gilded Age, in: American Quarterly 1988 40 (4): S. 450-471. Vgl. zum Erfolg von Coon Songs und Ragtime in Südafrika Veit Erlmann: African Stars. Studies in Black South African Performance, Chicago/London 1991, S. 59-69 und S. 112-155.
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men, fops and ›fascinators of women‹, brawlers and ›sentinels of the new army of the unemployed‹ – all of these proved easier to discuss when blacked up.«71 In Kapstadt griffen um 1900 die Organisatoren des Karnevals diesen Begriff auf. Sie griffen damit ein Repertoire an Gesten, Masken und Rhythmen auf, das über das Unterhaltungsgewerbe und andere Massenmedien in die Gegend gekommen waren. Dieses Repertoire war nicht nur sinnlos-fröhlich, sondern auch aggressiv-traurig. Nicht nur die Kapstädter Karnevalisten übernahmen damals Kostümierung, Musik und Haltung aus dem Black Atlantic, sondern auch afrikanische Schulchöre in der ganzen Region. Dieses Repertoire machte Sinn, weil es weder weiß noch schwarz, weder traditionell afrikanisch noch europäisch angepasst war.72 Eigensinnig und flamboyant, quer zu den Erwartungen und Anforderungen der herrschenden Ordnung – noch in den 1920er Jahren war »this coon thing« ein Referenzpunkt in der Beschreibung populärer Tanzmusik unter den Arbeiter_innen in Johannesburg, die aus unterschiedlichen Regionen und Traditionen stammten.73 Als die weiße Oberschicht den Karneval 1907 als Kapstädter Folklore und Sitte der Coloureds symbolisch anerkannte und kommerziell vereinnahmte, schuf sie ein Szenario des kontrollierbaren Zusammenlebens, indem sie Coons mit Coloureds gleichsetzte und wie eine feststehende, bestimmbare Größe behandelte. Laut Presse brachte der »Coloured Carnival« in Greenpoint mehr als 7.000 zahlende Zuschauer in das Stadion am Kapstädter Hafen, wovon mehr als 2.000 »Europeans« waren. Man habe zwar nicht recht verstanden, worum es in den Liedern der Parade gegangen sei, so die Cape Times, »sung in that half chant, half mumble of the Cape mummer«, aber das Marschieren selbst sei überzeugend gewesen, »with coat tails flying, prancing fantastically along the rattling of the bones, the tum-tum of the drums, the banging of tambourines, and the strumming of banjo and guitar.«74 Der Artikel stellte den »Coloured Carnival«, der sich hier erstmals auf einer Bühne vor zahlendem Publikum abspielte, als etwas Altbekanntes und Kontrollierbares dar, das auch für ein »europäisches« Publikum von Interesse sein könnte.
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Vgl. David R. Roediger: The Wages of Whiteness, Race and the Making of the American Working Class, New York/London 1999, S. 97-99. Vgl. Coplan, In Township, S. 72. Coplan zitiert hier einen südafrikanischen Musiker, der über die Tanzmusikszene der 1920er Jahre in Johannesburg berichtet: »When they came to the mines, they came with this coon thing. [...] you see they had their own way of coming together in a crowd like the coons do, marching up and down. They were the most popular people, really; costumes were a bit brighter and they had a sense of show-biz, being performers and all that.« Coplan, In Township, S. 95; Christopher Ballantine: Marabi Nights. Early South African Jazz and Vaudeville, Johannesburg 1993. Cape Times, 3. Januar 1907, S. 7, abgedruckt in Martin, Coon Carnival, S. 101.
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Diese Folklorisierung des Karnevals erkannte ihn als Kapstädter Besonderheit an und erklärte ihn zugleich zur unverständlichen Kuriosität. Seine komplexe Herkunft aus der subproletarischen und kreolischen Kultur der Kapkolonie erzählt dagegen eine andere Geschichte. Noch zwanzig Jahre früher hatte ein Reporter der Cape Times ganz genau verstanden, worum es im Karneval ging. In spontanen Umzügen hätten die »coloured inhabitants of Cape Town« die Nachtruhe der »suffering citizens« gestört, berichtete ein Artikel in der Cape Times 1886. Maskiert und kostümiert, mit Blas- und Zupfinstrumenten ausgestattet, seien sie singend durch die Straßen gezogen und hätten »variations taken from Rule, Britannia« gesungen.75 In einer dieser veränderten Versionen der inoffiziellen Nationalhymne Großbritanniens stellten die Karnevalisten in Frage, ob die Sklaverei wirklich abgeschafft sei oder ob die Kolonialpolitik nicht diejenigen, die hier zu Hause seien, einer neuen Art von Tyrannei unterworfen habe.76 Die Cape Times beschrieb das Ereignis als Geisterzug: »[T]hey seemed like so many uncanny spirits broken loose from – say the adamantine chains of the Nether World.«77 Das Gespenst, das hier umging, war der auch nach der Abschaffung der Sklaverei anhaltende Widerstand gegen die herrschenden Arbeitsbedingungen: Der Artikel warf den Coloureds vor »to take a holiday on the slightest pretext«. Die Metapher der »adamantine chains« verwies auf jenen Edelstein, der seit den 1870er Jahren einen nie dagewesenen Boom in der Region ausgelöst hatte und metaphorisch für Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit stand. Die »diamantenen Ketten der Unterwelt« bezogen sich implizit auf die Arbeitswelt von Minenarbeitern. Zwei mal betonte der Artikel, dass die Leute chinesische Laternen und Banner mit sich getragen hätten. Viele der ehemaligen Sklaven waren aus Indonesien und Malaysia an das Kap verschleppt worden. Nach der Abschaffung der Sklaverei waren Kontraktarbeiter aus Indien und China angeworben worden.78 Die chinesischen Laternen belegen die kulturellen Verbindungen nach Asien, die es unter den Arbeiter_innen am Kap gab. Zugleich markiert der Artikel diese Objekte als fremd und unheimlich. Die Laternen hätten ein gespenstisches Licht auf die dunklen Gesichter geworden, schrieb die Cape Times. Von Karneval war in diesem Artikel von 1886 noch nicht die Rede. Als erste englischsprachige Tageszeitung der Kapkolonie griff die Cape Times die Straßenparaden vielmehr als lokale Sitte auf, die ihr merkwürdig und reformbedürftig er75 76 77 78
Cape Times, 4. Januar 1886, abgedruckt in Martin, Coon Carnival, S. 90. Vgl. Bickford-Smith, Ethnic Pride, S. 188. Cape Times, 4. Januar 1886, zitiert nach Martin, Coon Carnival, S. 90. Vgl. Goolam Vahed: Constructions of Community and Identity among Indians in Colonial Natal, 1860-1910. The Role of the Muharram Festival, in: The Journal of African History 2002 43 (1): S. 77-93; Gary Kynoch: ›Your Petitioners Are in Mortal Terror‹. The Violent World of Chinese Mineworkers in South Africa, 1904-1910, in: Journal of Southern African Studies 2005 31 (3): S. 531-546; David Northrup: Indentured Labor in the Age of Imperialism, Cambridge u.a. 1995.
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schien. Sie wandte sich damit einer kreolischen Kultur zu, die seit dem 18. Jahrhundert in der Kapkolonie entstanden war. Afrikaans war als gemeinsame Sprache aus der Interaktion niederländischer Kolonisatoren mit den aus Indonesien und Malaysia eingeführten Sklaven und den lokalen Khoikhoi entstanden, hatte sich aber bis Anfang des 19. Jahrhunderts so verändert, dass Niederländer aus Europa sie nicht mehr ohne weiteres verstehen konnten.79 Neben der Sprache veränderten sich auch die Musik und Tänze derjenigen, die weit entfernt ihrer jeweiligen Heimat unter ungleichen und ausbeuterischen Bedingungen zusammen lebten. Sie lernten europäische Instrumente, tanzten Walzer und Quadrillen und tauschten Lieder und Melodien aus. Als Hafenstadt war Kapstadt auch Teil einer maritimen Subkultur, die von Händlern, Seeleuten, Prostituierten und Tagelöhnern geprägt war, deren Klassenzugehörigkeit bis ins 20. Jahrhundert keiner Color Line folgte. Sie war zwar im Verhältnis zu den Normen der herrschenden Oberschicht Kapstadts marginal, dafür aber umso besser mit Orten rund um den Atlantik und in den Pazifik vernetzt.80 Aus diesen kosmopolitischen Zusammenhängen speiste sich auch die proletarische Straßenkultur, die im 19. Jahrhundert den Karneval ins Leben rief. Sie war von chinesischen Laternenumzügen ebenso geprägt wie von europäischen Militärparaden. Möglicherweise spielte für die Entstehung des Kapstädter Karnevals auch die Heilsarmee eine Rolle, die bereits seit 1881, drei Jahre nach ihrer Gründung in London, in der Kapkolonie aktiv war. Als Erweckungsreligion übersetzte sie die Logik der Zivilisierungsmission in eine »innere Mission« der als barbarisch wahrgenommenen Lebenssituation der armen Bevölkerung Londons und kombinierte sie mit einer militärischen Organisationsform, die diesen Umständen den Kampf ansagen sollte. Rasch breitete sich das Projekt rund um den Atlantik aus. Eine Zeichnung von 1884 zeigt eine Parade der Heilsarmee durch Kapstadt. Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, teils mit, teils ohne Uniform nahmen an ihr teil. Eine solche gemischte Menge erscheint im Nachhinein wie eine Vorlage für die spontanen nächtlichen Paraden zum Neujahr.81 Der Kapstädter Karneval beginnt an Neujahr, weil die ehemaligen Sklaven und ihre Nachkommen im 19. Jahrhundert an diesem Tag in Paraden das Ende der Skla-
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Zur Entstehung einer kreolischen Kultur am Kap siehe Martin, Coon Carnival, S. 53-64, zum Afrikaans ebd., S. 57. Keletso E. Atkins: Black Atlantic Communication Network. African American Sailors and the Cape of Good Hope Connection, in: Issue. A Journal of Opinion 1996 24 (2): S. 23-25. Martin, Coon Carnival, S. 89. Der Karikaturist war Heinrich Egersdörfer, ein Migrant aus Nürnberg, der via London nach Kapstadt ausgewandert war. Vgl. Schoonrad, Companion, S. 119-121.
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verei feierten, die am 1. Januar 1834 abgeschafft worden war.82 Twelfth Night am Vorabend des 6. Januars, der an die Heiligen Drei Könige erinnert, war in England im Mittelalter mit karnevalesken Straßenumzügen begangen worden. Aus diesen heterogenen Elementen setzte sich der Kapstädter Karneval zusammen. Indem ihn die weiße Presse im ausgehenden 19. Jahrhundert aber als »Coloured Carnival« bezeichnete, wies sie die Existenz einer gemeinsamen, kreolischen Kultur zurück. »Most whites rejected the idea that they too shared in the South African brand of ›creolity‹. They abandoned its heritage to the non-whites [...].«83 Dabei finden sich im Kapstädter Straßenkarneval genau jene grotesken und karnevalesken Merkmale, die nach Michail Bachtin eine volkstümliche Lachkultur ausmachten: die Vernunft des Doppelten und die dezentrierte Wahrheit.84 Die Karnevalisten waren weder weiß noch schwarz, sondern stellten diese Identitäten als sich überlagernde Masken aus. Sie verhandelten auch das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit und warfen, ähnlich wie ihre närrischen Kolleg_innen in Buenos Aires oder wie die Cakewalker in New York, in einer post-emanzipierten Gesellschaft die Frage auf, was abstrakte Freiheit konkret bedeute. Coons und Cakewalks belegen zudem eine Verschiebung der Bezugspunkte: Kapstadt war nicht mehr in erster Linie von den europäischen Metropolen beeinflusst. Wie London, Paris oder Berlin war die Stadt eine Durchgangsstation für transatlantische Bewegungen geworden, die in komplexen Rückkopplungseffekten wie dem Cakewalk eine populäre Kultur des Black Atlantic hervorbrachte. Aus dieser Perspektive ist es nur folgerichtig, dass die Kapstädter Karnevalisten um 1900 keinen König wählten oder das Rathaus stürmten, sondern als Coons durch die Straßen zogen und sich damit der Identifizierung und Abgrenzung als Coloureds entzogen. Stattdessen schlossen sie an eine kulturelle Dynamik an, die den Konflikt der Color Line auf das selbstreflexive Terrain des Black Atlantic verschob. Schon seit den 1880er Jahren hatten sie Blackface aus amerikanischen Minstrel Shows übernommen. Um 1900 trugen sie bunte und extravagante Uniformen wie im Varieté. Manche Gruppen nannten sich »American Sporting Club« oder »Dahomey Coons«, andere marschierten als Piraten oder »Egyptian Burglars« durch die Straßen. Dazu kamen »Apaches«, »Wild Indians« oder »Red Skinaars«. Manche gaben sich königstreu wie die »Lord Nelson Marines«, doch die meisten wählten Figuren, die aus dem Rahmen der imperialen Ordnung der Dinge fielen oder deren Platz da82
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Vivian Bickford-Smith: Meanings of Freedom. Social Position and Identity among exSlaves and their descendants in Cape Town, 1875-1910, in: Clifton Crais/Nigel Worden (Hg.): Breaking the Chains. Slavery and its Legacy in the 19th Century Cape Colony, Johannesburg 1994, S. 289-312; zum Emancipation Day siehe Nigel Worden u.a.: Cape Town. The Making of a City, Hilversum 1998, S. 106. Martin, Coon Carnival, S. 95. Vgl. Renate Lachmann: Vorwort, in: Michael Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1995, S. 21.
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rin umkämpft war.85 Mit Blackface, Indianerkostümen, Elementen aus dem internationalen Varieté und synkopierter Marschmusik finden sich ähnliche Elemente wie zur gleichen Zeit im Karneval von Buenos Aires, New Orleans, Kingston oder Recife auf der anderen Seite des Atlantiks. Das gilt nicht nur für visuelle und rhythmische Elemente, sondern auch für die Polemik um die Color Line. Dabei gingen nicht nur amerikanische Elemente in die südafrikanische Kultur ein, sondern die Lage auf der anderen Seite des Ozeans war auch in den Amerikas selbst präsent. In New Orleans gibt es beispielsweise im traditionellen Faschingsumzug bis heute die Parade von »King Zulu«, die zeitlich etwas versetzt zur Parade der Debütantinnen der weißen Oberschicht stattfindet, die seit den 1870er Jahren von dem ganz in Weiß gekleideten »King Rex« angeführt wird. Eine afroamerikanische Selbsthilfeorganisation hatte 1909 erstmals die »Zulus« ins Rennen geschickt, die ähnlich den Kapstädter Coons in der doppelten Maske von Blackface auftreten.86 So warfen sie die Frage auf, wer sie als Afroamerikaner eigentlich seien – in einer Welt, in der sie laut Verfassung die gleichen Rechte hatten, im Alltag aber überall diskriminiert wurden, in einer Welt, in der Völkerschauen und Weltausstellungen Afrikaner als Wilde präsentierten, einer Welt, in der das eigene Land imperialistische Kriege gegen Kuba und die Philippinen führte, die mit der besonderen Verantwortung des weißen Mannes begründet wurden, und in der die Zulu wenige Jahre zuvor in einem blutig niedergeschlagenen Aufstand massenhaft von britischen Kolonialtruppen ermordet worden waren.87 Dieser Bezug auf antikoloniale Widerstände spielte auch in Kapstadt um 1900 eine prominente Rolle. Die Bildunterschrift der oben beschriebenen Fotografie aus der Cape Times von 1907 lautete »Cakewalk (Princes Escort)«, was sich wahrscheinlich auf die Truppe der »Prince of Benin's Escorts« bezog.88 Eine andere Truppe nannte sich »Dahomey Coons«.89 In beiden Fällen handelte es sich um Königreiche an der westafrikanischen Küste, die mit dem transatlantischen Sklavenhandel groß und mächtig geworden waren. Sie waren erst kurz zuvor, in den 1890er Jahren, von England und Frankreich militärisch besiegt worden, nachdem sie lange Widerstand gegen koloniale Eroberung geleistet hatten. Auch die Truppe der »Ma-
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Vgl. Martin, Coon Carnival, S. 100-104. Vgl. Roach, Cities of the Dead, S. 18-20. Die Begründer der Zulus hatten laut Überlieferung kurz vorher eine Vaudeville-Aufführung von The Smart Set gesehen, einer unter weißem Management geführte afroamerikanische Vaudeville-Truppe. Das Stück hieß »There Never Will Be a King Like Me«. Vgl. Jeff Guy: Remembering the Rebellion. The Zulu Uprising of 1906, Scottsville SA 2006. Siehe Martin, Coon Carnival, S. 110-111. Es ist nicht auszuschließen, dass die »Dahomey Coons« auch den Erfolg des afroamerikanischen Musicals In Dahomey reflektierten, das 1903 in London so prominent geworden war, vgl. Kap. II.1.
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tabele Warriors« riefen die erst in den 1890er Jahren beendeten Kämpfe im heutigen Zimbabwe gegen die Expansion britischer Truppen und Siedler in Erinnerung. Der »Baltimore Tennis Lawn Club« oder die »Wynberg Lawn Tennis Coons« wiederum kommentierten die koloniale Ordnung, indem sie einen bürgerlichen Status reklamierten, den ihnen die weiße Gesellschaft verwehren wollten. Zusammen vermittelten diese Figuren ein Wissen über geografische, historische und soziale Zusammenhänge im Black Atlantic. Anti-koloniale Widerstände und der Kampf gegen Segregation und Rassismus rund um den Atlantik wurden in einen gemeinsamen Erfahrungshorizont gestellt. Die Kapstädter Karnevalisten wollten nicht Herr statt Knecht sein, sondern den Zusammenhang verwandeln, der sie überhaupt an diesen Ort gebracht hatte.90 So sehr sie sonst ihre kulturellen Wurzeln und religiösen Riten im Alltag pflegten, im Karneval wandten sie sich zunehmend einer Kultur des Spotts gegen die Color Line zu, die in den Amerikas entstanden war, und wandten sie auf ihre Situation in der Kapkolonie an. Der Einfluss der USA erklärt möglicherweise auch die Bezeichnung Karneval selbst, der kalendarisch nicht zum katholischen Festkalender passt. Im amerikanischen Englisch meint »carnival« auch den Jahrmarkt oder ein ausgelassenes Fest, das unter modernen Bedingungen metaphorisch das ganze Jahr über die Verhältnisse auf den Kopf stellen konnte: Die New York Times hatte den Ball bei McGlory's in New York 1883 als »most disorderly carnival« bezeichnet.91 Auch die Cape Times verwandte den Begriff metaphorisch, wenn sie 1901 von einem »carnival of crime« sprach, als sie die Auswirkungen des Krieges auf das Kapstädter Leben beschrieb.92 Es ist bezeichnend, dass gerade ein weißer Sport-Klub 1907 zum ersten Mal zum »Coloured Carnival« in ein Stadion einlud und eine Alternative zum Straßenkarneval anbot. Der Cricket-Klub von Greenpoint behandelte den Karneval als Folklore und wies ihm auf der Bühne einen klar umrissenen Ort zu. Die ersten beiden Jahre waren ein großer Erfolg, die Zahl der teilnehmenden Truppen stieg an, ein Laternenumzug erzeugte eine »most picturesque« Szenerie. Für 1909 hatten die Veranstalter in Green Point außerdem geplant, einen »Kaffir dance« ins Programm zu nehmen. »The natives will be dressed in their own savage costumes, and will be armed with assegais, knobkerries, and shields.«93 Doch die im Dezember 1908 in der Cape Times veröffentlichte Ankündigung traf auf den Widerspruch von »colou90
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Das heißt aber nicht, dass der Karneval keine praktischen politischen Konsequenzen gehabt hätte. Der Widerstand der muslimischen Bevölkerung gegen eine Stadtverordnung zur Schließung eines Friedhofs hatte auch mit der kurz zuvor gemachten Erfahrung der Selbstorganisierung im Karneval zu tun, vgl. Achmat Davids: The Mosques of Bo Kaap. A Social History of Islam at the Cape, Athlone SA 1980. Vgl. Kap. II.1. Cape Times, 31. July 1901, zitiert in Heyningen, The Social Evil, S. 192. Cape Times, 19. Dezember 1908, zitiert nach Martin, Coon Carnival, S. 102.
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red missionaries« und wurde wieder abgesagt. Sie verhinderten, dass in den Tanzwettbewerb kulturelle Formen der immer zahlreicher werdenden afrikanischen Migrant_innen aus dem Umland Eingang gefunden hätten. Die schwarzen Missionare verhinderten dadurch aber auch, dass der Karneval zu einem ethnografischen Spektakel umdefiniert wurde. Die Reaktionen auf den Karneval von 1909 waren gemischt. Die Cape Times fand, dass etwas gefehlt habe. Die Sache sei nicht mehr so enthusiastisch begangen worden, die Kostüme seien nicht besser geworden: »It may be that the novelty of the thing has by this time worn off [...].«94 Der Karneval von Kapstadt kehrte vorläufig wieder auf die Straße zurück. Seine Folklorisierung war gescheitert.95 Das eigentümliche Bild eines »Afro-German Cakewalk«, das 1904 in Kapstadt als Karikatur auf Bildpostkarten zirkulierte, verweist auf Konfliktfelder, die um 1900 im Aufeinandertreffen von kolonialem Atlantik und Black Atlantic entstanden. Sie verbreiteten nicht nur ambivalente Figuren wie den Coon, sondern ermöglichten auch neue Formen der Artikulation von Konflikten und Widerständen, der Verortung und Organisierung. Wieder tauchte der Cakewalk dort auf, wo Segregation die in der Abolition erkämpften Rechte in Frage stellte und die damals anerkannte Gleichheit durch flexible Differenzierungen entlang einer Color Line ersetzen sollte. Die in diesem Aufeinandertreffen ermöglichten Begegnungen und Erfahrungen hatten auch Rückwirkungen auf die USA, wo die anti-rassistische Theoretisierung der Color Line, wie sie unter anderem bei Du Bois vorgenommen wurde, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der globalen kolonialen Konstellation stattfand. Gemeinsames Tanzen zwischen Schwarzen und Weißen als formalisierte Form der Begegnung, der Polemik, des Wettbewerbs und Streits ist hier, ähnlich wie in Kamerun oder im amerikanischen Süden, nicht dokumentiert.
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Cape Times, 4. Januar 1909, zitiert nach Martin, Coon Carnival, S. 103. Erst 1920 organisierte die APO als Interessensvertretung von Coloureds unter eigener Regie ein Revival dieses Spektakels, um für Hilfsbedürftige nach dem Ersten Weltkrieg Geld zu sammeln. Als die Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg die Kapstädter Innenstadt sukzessive zu einer »white group area« erklärten und Natives and Coloureds in weit abgelegene Townships umsiedelte, durchkreuzte ihr Karnevalszug durch die Innenstadt dieses Vorhaben jedes Jahr. Ob der Karneval heute zu einer kommerzialisierten Folklore wird oder ob sich sein radikaler Impetus aktualisieren lässt, ist eine offene Frage. Vgl. auch den Dokumentarfilm The Silver Fez (Südafrika 2009), Regie: Lloyd Ross.
III. Verwandlung
Übersetzung
Der Cakewalk traf um 1900 auf ein eingeschränktes Repertoire an Begriffen. Kommentator_innen nannten ihn »exzentrisch« oder »grotesk« und ordneten ihn dadurch in ein bestehendes Repertoire kultureller Polemik um gesellschaftliche Normen ein. Parallel dazu entwickelte sich aber auch ein rassifizierter Begriffsapparat, der aus kolonialen Wissensordnungen schöpfte und auf unvorhergesehene Abweichungen von einer kolonialen Ordnung reagierte. Der Tanz konnte aber auch auf eine Lachkultur bezogen werden, die nicht nur das Geschehen auf den Bühnen der Populärkultur prägte, sondern auch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und programmatischer Gegenwartsdiagnosen war. Das folgende Kapitel rekonstruiert die Heterogenität der diskursiven und medialen Gebrauchsweisen von Cakewalk und schwarzen Modetänzen im deutschsprachigen Raum. Es zeigt, dass sie nicht immer schon oder auf die gleiche Art und Weise von der Color Line bestimmt waren. Vielmehr gab es spezifische Resonanzräume, in denen seine Figuren und Gesten übersetzbar wurden. Wer im Cakewalk über wen oder was lachte, blieb situationsbezogen, veränderlich und konfliktreich.
»E XZENTRIKTANZ «
UND
G ROTESKE
Es gibt kaum eine schriftliche Quelle zum Cakewalk in Deutschland, die um 1900 nicht Begriffe wie grotesk und exzentrisch heranzog, um den Tanz zu beschreiben. Solche Begriffe bezeichneten in der Tradition von Zirkus und modernem Unterhaltungsgewerbe abweichendes Aussehen und Verhalten, das in kulturell verdauliche Form gebracht wurde. Im 19. Jahrhundert bezog sich die Charakterisierung eines Zirkus- oder Varieté-Akts als »exzentrisch«, »excentrique«, »eccentrici« oder »eccentric« meist auf Clownnummern und Akrobatikaufführungen. Afroamerikanische Artisten griffen diese Kategorie um 1900 auf, um ihre Arbeit zu vermarkten.1
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Brooks & Duncan, Neger-Eccentric-Duo. Programme aus Circus und Variétébühnen, in: Der Artist 1901 (863) vom 25. August 1901.
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Auch mit dem Begriff des Grotesken fanden sich die neuen Tänze in ein bestehendes Bedeutungsschema eingeordnet, das aus der volkstümlichen Lachkultur des europäischen Mittelalters erwachsen war.2 Im Anschluss an Michail Bachtin analysiert Linda Tomko in Lehrbüchern aus dem 18. Jahrhundert Grotesktänze, die das Repertoire der neuen, disziplinierten, als »klassisch« verstandenen Tanzbewegungen begleiteten. Die Grotesktänze verlangten einen geöffneten Körper, der sich Bewegungen als »vortex of force« hingab und »overflows of energy« zu raumgreifenden, dezentrierten, vom Körperschwerpunkt abweichenden Bewegungen werden ließ. Neben dem disziplinierten, abgeschlossenen, individualisierten Körper existierten in der europäischen Tanzgeschichte stets im Konflikt dazu stehende exzessive Körper, »bodies ever becoming«.3 Nach Peter Jelavich reagierten Zeitgenossen um 1900 mit der Kategorie »grotesk« auf eine »conceptual helplessness« gegenüber neu entstehenden kulturellen Formen. »[H]ow else could [critics] have described the distorted and exaggerated, paradoxical and hybrid, sometimes even ugly and obscene images?«4 In seiner 1902 veröffentlichten Studie Das Variete beschrieb Arthur Moeller-Bruck Groteske und Exzentrik als Bestandteile eines für das Varieté typischen »Ulkstils«. Dabei drücke sich der »Übergangszustand der modernen Menschheit« in Form einer »grotesken Ästhetik« aus, die sich mit einer tragikomischen Moral decke. Die Exzentrik mache die Menschheit gleich und behandle mit »brutaler Gleichgiltigkeit [sic] das Leben selbst«. Gewalt sei hier fast zärtlich, die Figuren schlagen einander zu Boden, »als wäre es nichts«.5 Moeller-Bruck nennt diese heute als Slapstick bekannte Form des Humors einen »Tanz« mit »übertriebenen Gestikulationen«.6 Kommentarlos endet das Kapitel über den »Ulkstil« mit der Karikatur zweier schwungvoll mit ihren Banjos einherschreitenden Blackface Minstrels und belegt, welches amerikanische Vorbild Moeller-Bruck für diesen Stil im Sinn hatte. »Der Exzentrik ist die Karikatur der modernen Menschheit, nach deren Auffassung gerade so wenig etwas ernst zu nehmen ist, wie es etwas Heiliges gibt.« Moeller-Bruck sah im Varieté eine Möglichkeit der Profanierung, die der etablierte Kulturbetrieb aufgegeben hatte. Diese Übersetzbarkeit des Cakewalks ermöglichte seine problemlose Zirkulation in den Institutionen des Unterhaltungsgewerbes. Und sie ermöglichte Identifikation: »Ein grotesker Zug geht durch unsere Zeit,« erklärte sich die Zeitschrift Das 2 3
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Bachtin, Rabelais. Linda J. Tomko: Magri's Grotteschi, in: Rebecca Harris-Warrick/Bruce Alan Brown (Hg.): The Grotesque Dancer on the Eighteenth-Century Stage. Gennaro Magri and His World, Madison WI/London 2005, S. 151-198. Peter Jelavich: Grotesque and Carnivalesque. Negation and Renewal around 1900, in: Pamela Kort (Hg.): Comic Grotesque. Wit and Mockery in German Art 1870-1940, München u.a. 2004, S. 89-104: hier S. 89. Moeller-Bruck, Variete, S. 218. Moeller-Bruck, Variete, S. 220.
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Variété 1903 den Erfolg des »neuen Sensationstanzes« Cakewalk.7 Dagegen betonte ein Artikel von 1902, dass die »Exzentriktänze«, für die sich nun alle begeisterten, doch eigentlich »nichts anderes als der veredelte und erweiterte Niggertanz« seien.8 Das rassistische Schlagwort sollte eine einfach Identifikation verhindern. Noch 1913 schreib Organ der Variétéwelt, fast alle neuen, amerikanischen Modetänze seien »Grotesk-Tänze«. Susann Foellmer zeigt in Am Rande der Körper in einem ausführlichen Abschnitt über das Groteske im modernen Tanz, wie Valeska Gert, eine deutsche Ausdruckstänzerin, in den 1920er Jahren Haltungen schwarzer Varietétänzerinnen wie Joesphine Baker überbetont und übergenau wiederholte, »bis sie ins Groteske umkipp[t]en«. Foellmer misst diesem Verfahren einen eminent analytischen, wenn nicht gar politischen Wert zu, deckte es doch die »kritiklose Adaption kultureller Chiffren des ›Fremdartigen‹ und ›Exotischen‹« auf. Gert karikierte einen als grotesk wahrgenommenen »Negertanz« und kreierte eine groteske Verzerrung des Grotesken, eine »Supra-Groteske«. Dass bereits Gerts Vorbilder diese Technik anwandten, bleibt in dieser Analyse jedoch außen vor. Foellmer beschreibt nicht Praktiken der Bezugnahme, sondern reduziert implizit schwarze Tänze auf den Status eines kulturellen Rohmaterials, als sei dieses erst durch Gerts Aneignung analytisch und künstlerisch geworden. Doch dieses ›Material› war selbst bereits überdreht, überbetont und übergenau wiederholt. Gert verbündete sich mit diesen Techniken, wenn sie, wie Foellmer zeigt, tanzend den Exotismus ihrer Zeitgenossen kommentierte.9 Die Interpretation der Tänze als grotesk und exzentrisch hatte auch Auswirkungen auf ihre visuelle Darstellung. Die Zeitschrift Theater und Kinowoche schrieb 1919, Wien tanze jetzt nur noch »mondäne Tänze«. »Da wird Ragtime getanzt, Mattchiche, Tango, Foxtrott, Boston und was es da noch mehr oder weniger exzentrische Tänze gibt.« Exzentrische Tänze werden mit mondänen Tänzen gleichgesetzt, um nach der Abschottung der Kriegsjahre Verbundenheit mit Metropolenkultur und Internationalität zu signalisieren. Neben dem Artikel sind zwei kleine Piktogramme mit Tanzfiguren abgedruckt. In beiden gibt es eine im Verhältnis zum Bildrand schiefe Linie: Im »Ragtime« sind es die schräg nach unten gerichteten Arme, im »Fox-Trott« ein durch Hüftschwung und Gewichtsverlagerung nach
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Der neue Sensationstanz, in: Das Variété 1903 1 (18). Die Entstehung des Exzentriktanzes, in: Das Variété 1902 (9). Vgl. Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2009, S. 111-112; siehe hier auch eine ausführliche Darstellung der Möglichkeitsbedingungen des Grotesken in der Tanzgeschichte, S. 62116.
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rechts verschobener, schiefer Oberkörper. Zu dieser eckigen Form der Hüfte kommt der spitze Winkel der Oberarme.10 Diese schräge Linie zeichnete sich bereits in Studiofotografien und Karikaturen des Cakewalks ab, die um 1900 häufig als Bildpostkarten verkauft wurden. Die dabei inszenierten Tanzfiguren betonten diese Dimension, indem sie in den rechtwinkligen Rahmen gleichformatiger Bilder die schräge Linie einer Tanzpose platzierten. Weil es sich in den Fotografien um minutiös inszenierte und aufwändig produzierte Studiofotografien handelte und die Abgebildeten häufig in glamouröser Abendtoilette vor die Kamera traten, zitierten sie auch die Konventionen der bürgerlichen Portraitfotografie. Hier wie dort hielt die Kamera respektvollen Abstand zu den Abgebildeten und versuchte, sie in bestes Licht zu rücken. Doch statt einfach aufrecht zu stehen, verrutschten die Körper schräg nach vorne, nach hinten oder zur Seite und blieben dabei doch leichtfüßig und elegant. Stets findet sich ein spitzer oder rechter Winkel im Ellbogen, im Knie oder in der geknickten Hüfte (Abb. 8). Zwar finden sich auch in Darstellungen traditioneller europäischer Tänze Gewichtsverlagerungen oder angewinkelte Beine oder Arme.11 Sie standen häufig für bäuerliche oder besonders ausgelassene Tänze. Sie weisen aber keine vergleichbare Komposition der verschiedenen Bestandteile des Körpers zueinander auf, die stets asymmetrisch und doch ausgewogen ist. Zora Neale Hurston spricht in Characteristics of Negro Expression von »angularity« und »asymmetry« als zentralen Einsätzen in afroamerikanischer Ästhetik. Wichtig sei dabei auch, dass gerade beim Tanz mehr angedeutet als gezeigt werde: »compelling insinuation«.12 Manche dieser in Serie produzierten Bilder nehmen sich durch die gezielte und prägnante Vermittlung von Körperhaltungen wie Tanzkurse aus. Sie waren besonders in Europa beliebt, wo der Tanz erst noch bekannt gemacht werden musste. Aus dem Fluss von Bewegungen griffen Fotografen und Tänzer_innen einzelne Posen heraus, die dadurch typisch wurden. Ohne ein gewisses Maß an Kooperation und Kommunikation zwischen Fotografen und Abgebildeten wäre das nicht möglich gewesen. Zusammen erzeugten sie das, was heute als Ikonografie des Cakewalks gilt.
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Mondaine Tänze, in: Die Theater und Kinowoche. Illustrierte Zeitschrift für Theater und Musik, Variété, Cabaret und Kino, 1919 (14): S. 16. Vgl. auch die Karikatur »Expressionistischer Foxtrott« auf S. 19 derselben Ausgabe. Vgl. die Illustrationen in Sachs, Weltgeschichte des Tanzes, Tafel 28 stellte Hof- und Bauerntänze einander gegenüber. Selbstkontrolle stand hier schwungvollem Herumwirbeln entgegen. Vorbilder für schwarze Ästhetik finden sich allerdings in den Moriskentänzen, vgl. Tafel 24. Allgemein zu den nach der Eroberung Spaniens sich ausbreitenden, äußerst populären Tänzen vgl. Müller-Meiningen, Moriskentänzer. Vgl. Zora Neale Hurston: Characteristics of Negro Expression, in: Gena Dagel Caponi (Hg.): Signifyin(g), Sanctifyin', & Slam Dunking. A Reader in African-American Expressive Culture, Amherst 1999, S. 293-308, hier: S. 297-299.
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Abbildung 8: »Serie: ›Cakewalk‹«. Berlin 1903
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Die Begriffe »grotesk« oder »exzentrisch« erfassten diese Ästhetik nur teilweise und betonten Abweichung oder Exzess im Gegensatz zu Disziplin und Norm. Dass die Körper überspannt waren, war mit »exzentrisch« treffend benannt. Das Groteske forderte ein herrschendes Körperschema heraus. Dies ermöglichte eine Bezugnahme, die nicht von einer rassisch begründeten Kulturdifferenz ausging, sondern von einem gemeinsamen Repertoire, das die neuen Tänze aktualisierten. Der Fokus auf Abweichung blendete aber bestimmte Anteile dieser Ästhetik aus. Der Cakewalk war nicht nur Parodie und Übertreibung, nicht nur negative Satire, sondern auch bejahende Verwandlung der eigenen Haltung: lässig und »lazy-like«, elegant und ausgewogen. Sie verkehrten ästhetische Normen nicht nur in ihr Gegenteil.13 Kritiker_innen des Cakewalks benutzten dementsprechend den Begriff grotesk bisweilen gleichbedeutend mit hässlich. Die Schule des Tanzes schrieb 1907, der Cakewalk habe »unbegreiflicherweise« Eingang in alle Salons Europas gehalten. Doch glücklicherweise seien mittlerweile »die plumpen Schritte und grotesken Gesten der Neger größtenteils durch moderne Tanzschritte ersetzt«.14 Rassismus ermöglichte die nachträgliche Trennung von Blackness und Moderne, die unter dem Stichwort Amerikanismus bereits zusammengedacht worden waren.15 Auch der Artikel über Die Entstehung des Exzentriktanzes warnte seine Zeitgenossen vor einer übereilten Identifikation mit den Gesten des Tanzes. Man kenne meist nur den »Abklatsch« von der Bühne, das Original sei dagegen beängstigend: »So einen Neger tanzen zu sehen, macht anfangs einen beängstigenden Eindruck. Die Knochen scheinen ihm gänzlich zu fehlen und sein ganzer Körper nur aus Gelenken zu bestehen. Für den Weissen gehört ungeheuer viel Fleiss und Energie dazu, sich in späteren Jahren noch die gleiche Fertigkeit anzueignen.«16
Der Artikel definiert Exzentriktanz als »künstliches« Bühnenphänomen und grenzt es naturalisierend vom angeblichen Ursprung des Cakewalks auf den Plantagen in den amerikanischen Südstaaten ab. Er definiert den Cakewalk vor allem über das, was er nicht sei – Kunstbegriff, Kunsttanz, Volkstanz, Nationaltanz – und erklärt
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Damit lässt sich auch an Bachtins Kritik an literaturwissenschaftlichen Analysen des Grotesken im Deutschland der 1890er Jahre anschließen. Sie habe die Ambivalenz der Groteske nicht verstanden und auf eine rein negative Funktion reduziert, vgl. Bachtin, Rabelais, S. 345. Jolizza, Die Schule des Tanzes, S. 133. Vgl. exemplarisch Alexander Hume Ford: The Americanization of Paris, in: The Independant 1905 59 (2953): S. 23-31. Der Tanz steht hier in einer Reihe von Innovationen, die gerade aus den USA übernommen würden. Sie reichten von Aufzugstechnik über Arbeitsorganisation bis hin zum Cakewalk. Die Entstehung des Exzentriktanzes, in: Das Variété 1902 (9).
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ihn zur Natur der fröhlich nach der Arbeit tanzenden »Plantagenneger«. Was den Europäer_innen als Mode begegne, sei dagegen nur »Abklatsch«. Gut zehn Jahre später verglich ein Kommentator die professionellen »Exzentriks« auf den Bühnen jedoch mit einem anderen »Original« – den Amateuren im Ballsaal. »Das Urbild jener tanzenden Exzentriks, die – an sich schon ergötzlich genug – erst ganz verständlich werden, wenn man ihren Modellen im Ballsaal begegnet ist.«17 Die Komplexität der neuen Tänze wäre damit durch die eigene Teilnahme an ihnen auf der Tanzfläche, und sei es nur eine beobachtende, besser verständlich geworden. Selbst zu tanzen oder von Tanzenden auf der Tanzfläche umgeben zu sein, schärfe das Sehen von Tanz auf der Bühne. Andere argumentierten umgekehrt und schlugen vor, das Tanzen – in diesem Fall des Tangos – doch besser den Experten zu überlassen und sich »in aller Bescheidenheit« mit dem Zuschauen zu begnügen. Zwar müsse auf der Tanzfläche nicht so sportlich und akrobatisch getanzt werden wie auf der Bühne, aber »Charme« und eine »graziöse Körperhaltung« seien für den Tango immer Voraussetzung.18 Mit umgekehrtem Vorzeichen werden hier Bühne und Tanzfläche einander gegenübergestellt: Im einen Fall versteht man den Bühnentanz erst, wenn man sein Original als Gesellschaftstanz im Ballsaal kennt; im anderen Fall sollte der Bühnentanz für die weniger Begabten einen Ersatz bieten, um die neuen Tänze zu genießen, ohne sich lächerlich zu machen. Die »tanzenden Exzentriks« und ihre »groteske Ästhetik« ermöglichten, die Abweichung des Cakewalks von Normen und Grenzen anzuerkennen, ohne die Polemik um die Color Line zu benennen. Der Tanz konnte so in bestehende, sich transformierende Traditionen eingebaut werden. Dem gegenüber stehen rassifizierende Abgrenzungen, die im Folgenden genauer analysiert werden.
R ASSIFIZIERUNG Hans Ostwald betonte in Berliner Nachtlokale, ein von ihm beobachteter Cakewalk sei von einem »ganz leibhaftige[n] Nigger« getanzt worden, was darauf hinweist, dass die meisten, die damals in Berlin den Cakewalk tanzten, Weiße in Blackface waren.19 Auch die Zeitschrift Das Variété nannte den Cakewalk einen »NiggerTanz« und führte seinen Ursprung auf die Tänze von Afroamerikanern im amerikanischen Süden zurück.20 Der Gebrauch des Begriffs »Nigger« durchzieht die Quellen zur Populärkultur um 1900 und findet sich auch im Kontext kolonialer Wissensproduktion. In beiden Fällen war er nicht gleichbedeutend mit dem gebräuchlicheren Wort »Neger«. »Nigger« meinte eine spezifische Sichtbarkeit und Auffüh17 18 19 20
Paul Schüler: Tanz im Sporthotel, in: Elegante Welt 1912 (7): S. 42. Leipzig, Kristallpalast, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (259): S. 16. Vgl. zu Hans Ostwald das Kap. II.3. Der neue Sensationstanz, in: Das Variété 1903 1 (18).
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rung von Blackness, während der Begriff »Neger« deskriptiver ein Individuum oder eine Gruppe von Menschen bezeichnete. »Nigger« waren auf eine besondere Art und Weise sichtbar, die in der kolonialen Ordnung der Dinge potentiell problematisch war.21 Auch aus den USA kam möglicherweise ein bestimmter Gebrauch des Wortes »nigger« über die Remigration zurück nach Deutschland. Roediger zeigt in Wages of Whiteness, dass deutsche Migrant_innen den Begriff »slave like a nigger« übernahmen, um zu beschreiben, warum sie unqualifizierte Arbeit ohne Aufstiegschancen ablehnten.22 Auch in der Berichterstattung über den Cakewalk fällt auf, dass der Begriff »Nigger« nicht synonym zu »Neger« gebraucht wurde. Heinz Pollack erzählt in Die Revolution des Gesellschaftstanzes eine »Entwicklungsgeschichte bis 1921« und beginnt mit dem Cakewalk: »Diese Cakewalks waren in der ganzen Welt gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Zeitlang modern, und von ihnen zum Rag-time war dann nur noch ein Schritt, den aber nicht die amerikanischen Komponisten, sondern die Niggerkapellen ausführten.«23
Die Tänze erinnerten an »alte Negerkriegstänze«, was im Gegensatz zur »Niggerkapelle« nicht auf die kommerzialisierte und professionalisierte Gegenwart, sondern auf eine angeblich vormoderne Tradition verweist. Ähnlich gebrauchte auch Fritz Giese in Girlkultur diese Begriffe: »Neger« bezeichnet die afroamerikanische Bevölkerung, die in ihren Tänzen »unbewußt« die »Sinnlosigkeit« der herrschenden Kultur erfasst habe.24 »Nigger« lebten dagegen in der Welt des Varietés: »Als später der erste Ansturm des Neuen sich amalgamierte mit dem Kulturbestand des Früheren, sind auch jene Originaltrupps der Niggers in hochvollendeter Form nach Europa gekommen.«25 Jelavich behauptet in seiner Studie Berlin Cabaret, »Niggersongs« im Kabarett aufzuführen hätte um 1900 keine »pejorative connotation« mit sich gebracht. »Nigger« bezeichnete zwar tatsächlich etwas anderes als »Neger«, doch beide waren rassistisch. Sie rassifizierten nur unterschiedlich. Über den »Neger« reklamierten die Experten kolonialer Wissensproduktion deskriptive Definitionsmacht. Im »Nigger« verhandelten sie dagegen eine Präsenz, die aus dem Rah21 22
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Vgl. dazu ausführlicher Kap. II.4. Roediger, Wages of Whiteness, S. 144-145; vgl. zum deutschen Kontext auch Susann Lewerenz: »Wilde« und »Hosennigger«. Rassistische Stereotype schwarze Menschen, in: dies./Heiko Möhle/Susanne Heyn: Zwischen Völkerschau und Kolonialinstitut. AfrikanerInnen im kolonialen Hamburg. Begleitbroschüre zur Ausstellung des St. Pauli Archivs, Hamburg 2006, S. 28-31. Heinz Pollack: Die Revolution des Gesellschaftstanzes, Dresden 1922, S. 37. Fritz Giese: Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925, S. 34. Giese, Girlkultur, S. 35.
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men fiel, den sie selbst zu setzten versuchten. Es bedurfte zweier verschiedener Begriffe, um die komplexen Verläufe der transatlantischen Color Line um 1900 (mehr oder weniger) in den Griff zu bekommen. Allein der essentialistisch-biologisch gedachte Differenzbegriff »Neger« reichte nicht aus, ein zusätzlicher Begriff war nötig, um Dynamiken der Kreolisierung, um die Politisierungen der Arbeitsteilung, aber auch Formen von Eigensinn und Widerstand in den transatlantischen Begegnungen aufzufangen.26 Die Begriffe »Neger« und »Nigger« tauchten aber auch da auf, wo verschiedene Rassismen benennbar gemacht werden sollten. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg schrieb Kurt Tucholsky: »Es ist schwer, heute in Deutschland das Wort Neger in den Mund zu nehmen, ohne daß einem die Leute mit dem Ausruf »Schwarze Schmach« über den Mund fahren.« Dabei wolle er in seinem Text nicht die Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen verhandeln, sondern »den Rhythmus von Nigger-Songs«. Gleich im nächsten Satz grenzt er sich aber wieder von diesem Begriff ab: »Der neue Troubadour ist auch gar kein Nigger. Von dem hat er sein Ein und sein Alles gelernt: den Rhythmus.«27 Weniger differenzierend ist die Rassifizierung in der Novelle Cakewalk von 1912.28 Hier vermittelte der Cakewalk zwischen einem modernen, bürgerlichkolonialen und einem älteren, aristokratischen Rassediskurs. Die Geschichte liest sich wie folgt: Zwei junge Männer verbrachten mit einer jungen Frau einen Abend in einem Wiener Tingeltangel. Mary Duncan war eine »niedliche« und »sanft-törichte« Amerikanerin, Münzer ein bürgerlicher Musikliebhaber, und von Scheiblingen schließlich war ein Aristokrat, der von Stimmungsschwankungen und dunklen Visionen geplagt wurde.29 Mary Duncan amüsierte sich über das Abendprogramm. Ihr Liebhaber von Scheiblingen hing währenddessen neurotischen Gedanken über sein Verhältnis zu Frauen und sein unentdecktes dichterisches Talent nach. Als ein afroamerikanischer Tänzer die Bühne betrat und das Orchester einen »Niggersong« spielte, verkehrte sich diese Konstellation. Mary Duncan fand den Auftritt trotz der eleganten Garderobe des Mannes »häßlich«. Sie hasse »Niggers«. Der bürgerliche Münzer widersprach: »Die Kultur verwirft den Rassenhaß.« Von Scheiblingen warf triumphierend ein, Mary habe wohl »Angst vor den Negern!«30 Mary entgegnete, dass so ein Auftritt in den USA undenkbar sei. »Sie sind falsch, die Nigger. Sie hassen 26 27 28
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Vgl. Kap. II.4. und III.3. Koloniale Unordnung. Vgl. Peter Panther (alias Kurt Tucholsky): Die neuen Troubadoure, in: Die Weltbühne 1921 17 (12): S. 342-343. Betty Winter: Cake-Walk, in: dies.: Cake-Walk und andere Novellen, München 1912, S. 61-70. Die Autorin hieß eigentlich Betty-Rosl von Scheibenhof, vgl. Max Geissler: Führer durch die Literatur des 20. Jahrhunderts, Weimar 1913, S. 526. Winter, Cake-Walk, S. 63. Winter, Cake-Walk, S. 65.
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uns.« Von Scheiblingen entgegnete, dass sie dazu ja wohl auch allen Grund hätten. Doch Duncan warnte die beiden. Nur die gesellschaftlichen Schranken würde »Niggers« davon abhalten, sich wie »wild animals« zu benehmen. Währenddessen sang der afroamerikanische Künstler auf der Bühne ein Liebeslied und tanzte den Cakewalk. Die Diskussion am Tisch drohte Aufsehen zu erregen, als von Scheiblingen ganz allgemein behauptete, im Tingeltangel würden einem »Karikaturen unserer Lüste« vorgeführt, ein Wort, das auch Münzer in Anwesenheit einer Dame für unangebracht hielt.31 Doch von Scheiblingen hatte in der sonst so perfekt vorgetragenen, oberflächlichen Fröhlichkeit seiner Freundin eine Schwachstelle erkannt und so fasst er einen Plan. Als die drei das Lokal verließen, lud er beim Hinausgehen heimlich den Cakewalk-Tänzer zu sich nach Hause ein. Nichts ahnend dort angekommen, lachte sich Mary Duncan ihre Beklemmung vom Herzen und wollte wieder fröhlich sein. Doch schon wenig später kam »Mr. Jim«, der seinen Auftritt beendet hatte und von Scheiblingens Einladung gefolgt war. Dieser bat nun seinen Gast, mit Mary einen Cakewalk zu tanzen, den Münzer auf dem Klavier begleiten sollte. »Es gellte der Cakewalk. Der Nigger fletschte seiner Partnerin die Zähne entgegen. Mary Duncan warf den kinderschmalen Oberkörper zurück wie eine Bacchantin. [...] Nein, es war kein gewöhnlicher Cakewalk, den man hier tanzte, es war ein schauerliches papageienbuntes Märchen aus den Tiefen des Urwaldes. Drei Kulturen maßen einander, und fauchten einander ihren haßerfüllten Atem in das Gesicht. Bändigertum und Wildheit füllte die Luft mit Raubtiergeruch, machte das Zimmer zur Manege. Wie verirrt und sehr hilflos standen zierlich leuchtende Statuenleiber auf edel geformten Postamenten. Alte Kunst strömte Leichenstarre durch die zuckende Atmosphäre. Königlich gleichgültig schimmerte edel geformtes Gerät, wie es einst den Vandalen entgegengeschimmert haben mag. Von den vier Menschen im Raum schien der Neger der am besten Gezähmte.«32
Der mit Objekten europäischer Hochkultur ausgestattete Salon des Aristokraten von Scheiblingen verwandelte sich mit dem Cakewalk in eine Zirkusmanege, die in der Fantasie des Erzählers im Spannungsfeld von Afrika, Amerika und Europa in schwindelerregende Untiefen zu geraten drohte. Die Kultur des fin-de-siècle erscheint im Angesicht des Cakewalks wie die spätantike römische Kultur im Angesicht der Völkerwanderung. Doch wer waren die neuen Vandalen? Nicht unbedingt der afroamerikanische Tänzer, der von allen noch »der am besten Gezähmte« war. Plötzlich verlor Duncan die Kontrolle und fiel aus ihrer Rolle: Sie spuckte ihrem Tanzpartner ins Gesicht und beschimpfte ihn als Hund. Doch dem Erzähler erschien sie selbst zu zittern wie der Leib eines »hochblütigen Jagdhundes auf der 31 32
Winter, Cake-Walk, S. 66. Winter, Cake-Walk, S. 68-69.
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Wildfährte«. Jim wich zurück, doch dann sah er sich selbst in einem Spiegel an der Wand. »Mr. Jim entsann sich, daß er in Europa und ein Gentleman war. Lautlos schnellte er sich auf Mary und zerdrückte ihre Kehle. – «33 Die Geschichte verhandelt Rassismus, in den Gesprächen, im Tanz, in der Instanz des Erzählers, doch auf narrativer Ebene verkommt der soziale Konflikt zu einem Spektakel rassistischer Fantasie, die ganz in kolonialer Tradition eine weiße Frau zum Opfer eines schwarzen Mannes macht. Zwar ironisiert die Geschichte die angebliche Bestialität des rassisch Anderen und stellt sie als Projektion der eigenen Dekadenz dar. Doch Jims Mangel an Selbstkontrolle bestätigt das rassistische Stereotyp, verwandelt er sich doch in Sekundenschnelle in einen übermächtigen, raubtierhaften Mörder. Er verkörpert das »Grauen«, mit dem sich Münzer, der Gewährsmann des Erzählers, an die Geschichte erinnert. Mary verkörpert Hysterie und von Scheiblingen Nervenschwäche, aber zum Mörder wird der schwarze Mann gemacht. Die Geschichte nimmt das wie selbstverständlich. Die Ereignisse hätten seinen Glauben an die Notwendigkeit von »Demokratismus« bestärkt, so Münzer, um die Gesellschaft vor den »Untiefen« in den Seelen der Aristokratie zu schützen. Die Novelle der selbst einen aristokratischen Namen tragenden Autorin, die allerdings unter dem Pseudonym Mary Winter veröffentlichte, verhöhnt auf Kosten der 34 schwarzen Figur die eigene Gesellschaft. Denn so ganz ernst ist in der Geschichte nichts gemeint, sie behält stets ihren plaudernden Ton bei. Die reaktionäre Stoßrichtung der Novelle zeigt sich auch in ihrem Antifeminismus. Der Name Mary Duncan ruft zwei Assoziationsfelder auf: ein christliches mit der Jungfrau Maria und ein zeitgenössisch-tänzerisches mit Isadora Duncan, die seit 1899 in Europa lebte und 1904 in Berlin ihre erste Tanzschule für Kinder eröffnet hatte. Duncan lehnte das Ballett ab und tanzte barfuss in weißen Gewändern, die sich an Vorbildern aus dem klassischen Griechenland orientierten. Ihr Erfolg war damals eine beliebte Zielscheibe für Spott. 1911/12 veröffentlichte der Simplicissimus eine Karikatur mit dem Titel Apachentanz, die mit folgender Bildunterschrift versehen war: »Das Verdienst haben die Apachen: Sie haben die Duncan beseitigt.«35 Der Maler und Illustrator Ferdinand von Reznicek fügte 1908 in seinem Tanzalbum einer Zeichnung des spanischen Fandangos die Bildunterschrift »AntiDuncan« zu.36 Auch die Novelle Cake-Walk verspottete in der Hauptfigur Mary das 33 34
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Winter, Cake-Walk, S. 69. Dreißig Jahre später griff Richard Wright mit Native Son ein solches Narrativ auf. In dem 1940 veröffentlichten Roman heißt die weibliche Hauptfigur ebenfalls Mary. Sie versucht, Bigger Thomas zu verführen, der wehrt sich, um nicht mit Mary in einer kompromittierenden Situation entdeckt zu werden. Aus Versehen tötet er sie. Wie in einer griechischen Tragödie ist das Schicksal von Thomas vorgezeichnet, dessen Flucht zu einem weiteren Mord und schließlich zur Todesstrafe führt. Simplicissimus 1911/12 16 (34): S. 591. Ferdinand von Reznicek: Der Tanz. Album, München 1908.
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Befreiungspotential, das Isadora Duncan dem Tanzen zuschrieb.37 Doch die Assoziation von Isadora Duncan mit dem Cakewalk war doppelt unpassend. Isadora Duncan machte aus dem Tanz eine quasi-religiöse Frage, die zu einer enormen Selbstüberhöhung der Tänzerin führte: Sie werde »godlike«, so Duncan – »The highest intelligence in the freest body!«38 Das war genau das Gegenteil der Profanierung im Cakewalk, die das Tanzen einem nicht-instrumentellen Gebrauch zurückgeben wollte. Sowohl der Cakewalk als auch Duncans Tanztechnik stellten um 1900 faktisch die Haltungen und Techniken des Balletts als idealem Bühnentanz in Frage.39 Doch anders als Duncans Projekt der Reform des Tanzes, das sich explizit gegen das Ballett richtete, zielte der Cakewalk als Gesellschaftstanz nicht darauf ab, als Kunst (oder sogar als afroamerikanische Kultur) anerkannt zu werden. Eleganz sollte nicht mehr die herrschende Ordnung abbilden, sondern diesem Erbe die Ehrfurcht entziehen und es berührbar für andere Seinsweisen machen. Duncan polemisierte hingegen nicht nur gegen das Ballett, sondern auch gegen den Einfluss afroamerikanischer Tänze auf die Tanzkultur der USA.40 Die Novelle Cakewalk eignet sich die profanierende Kraft des Cakewalks an, um die europäische Aristokratie zu verlachen, reduziert den Cakewalk aber auf eine Projektionsfläche für zeitgenössische Rassediskurse. Die Novelle ist als historische Quelle dennoch interessant, weil sie die Überlagerung aristokratischer und kolonialer Rassediskurse aus unterschiedlichen Epochen belegt. Das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwandelte sich von einer Linie zwischen Fortschritt und Rückschritt in eine Schwindel erregende Spirale, die in der Logik der Erzählung unweigerlich in den Abgrund führte. Geteilte Interessen oder gar Allianzen zwischen anti-bürgerlichen Impulsen auf beiden Seiten der Color Line waren in diesem Modell nicht denkbar. Gemeinsames Tanzen stand für Selbstzerstörung.
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In Der Tanz der Zukunft (The Dance of the Future) argumentierte sie für das Barfußund Nackttanzen: »The movements of the Savage, who lived in freedom in constant touch with Nature, were unrestricted, natural and beautiful.« Nur der nackte Körper könne sich perfekt bewegen, weshalb der zivilisierte Mensch zum nackten Körper zurückkehren müsse. Duncan betonte jedoch, dass sie damit nicht eine unbewusste Nacktheit meinte, sondern eine bewusste Nacktheit des reifen Menschen, dessen Körper der harmonische Ausdruck seiner geistigen Entwicklung sein werde. Isadora Duncan: Der Tanz der Zukunft. (The Dance of the Future). Eine Vorlesung, Leipzig 1903, S. 12-13. Die geistige Entwicklung der in der Novelle vorgeführten Charaktere wird vor diesem Hintergrund jedoch als völlig unzulänglich vorgeführt und damit implizit auch Isadora Duncans Projekt als lachhaft abqualifiziert. Duncan, Der Tanz der Zukunft, S. 26. Vgl. hierzu: Nancy Reynolds/Malcolm McCormick: No Fixed Points. Dance in the Twentieth Century, New Haven/London 2003, S. 11. Vgl. Krasner, Beautiful Pageant, S. 63 ff., hier: S. 69.
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Sexualisierte Rassifizierung findet sich auch in Liedtexten und Karikaturen des Cakewalks, die um 1900 in Deutschland produziert wurden. Die Konstellation von schwarzem Mann und weißer Frau, die in der Novelle Cakewalk zur Degenerationsund Gewaltfantasie wurde, war in Karikaturen und Zeichnungen des Cakewalks in Zeitschriften oder auf Bildpostkarten recht häufig. Die umgekehrte Konstellation einer schwarzen Frau mit einem weißen Mann war dagegen eher selten.41 Dabei traten auf den Bühnen des Varietés um 1900 ebenso viele, wenn nicht sogar mehr afroamerikanische Frauen mit dem Cakewalk auf. Sie brachten auch Bilder von sich in Umlauf, die sie als fotografische Werbepostkarten nach ihren Auftritten verkauften.42 Der Komponist Rudolph Nelson ließ in seinem Schlager »Meine kleine Braune« von 1904 einen weißen Deutschen von seinem Cakewalk mit einer schwarzen Frau singen, die er jedoch in Afrika verortet. Sie habe den Cakewalk so gut getanzt, dass sie ihm für immer im Kopf geblieben sei, selbst nachdem er sie »aus den Augen« verloren und eine Frau mit den »weissesten Armen« geheiratet habe.43 »Warum bist denn du nicht so braun?« frage er diese in Gedanken nun oft und bedauere, dass seine Ehefrau den Cakewalk nicht tanzen kann. Habe er sich mit seiner afrikanischen Geliebten nachts mit dem Cakewalk die Zeit vertrieben, liege seine Ehefrau nun »still« neben ihm. Doch »plötzlich fällt mir was ein! Tanz! (Cakewalk)«.44 Diese plumpe Gleichsetzung von Sex und Cakewalk ist selten, die Assoziation mit der kolonialen Situation aber nicht. Auch der Liedtext einer in der Zeitschrift CabaretRevue veröffentlichten »Tanzdarbietung« verortete den Cakewalk in »unsern Kolonien«. Die Tänzerin erzählte dabei, wie sie den Tanz dort studiert und dabei gelernt habe, »wie man sich biegt«. Und nun wolle sie zeigen, wie sich ihr »Niggerboy«
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Vgl. Kap. III.2. Postkarte und Kap. III.3. Frauenbewegung. Die afroamerikanische Cakewalk-Tänzerin Ida Forsyne erzählt in einem Interview, sie habe während ihres Aufenthalts in Europa nach ihren Auftritten ihre eigenen Werbepostkarten verkauft. »One Dollar a piece« erscheint allerdings etwas hochpreisig. Forsyne war 87 Jahre alt, als das Interview durch eine Studentin des Theaterhistorikers James Hatch durchgeführt wurde. Hatch/Billops Collection, New York City. Auf einer Postkarte der Sängerin Laura Bowman, die zur gleichen Zeit durch Europa tourte, steht auf der Rückseite handschriftlich »Gime dem eyes, honey. Yours Laura und Peter«. Die Karte zeigt Laura Bowman und Peter Hampton, Binder 2 (6) Helen Armstead Johnson Photograph Collections. New York Public Library. Schomburg Center for Research in Black Culture, Special Collections, New York City. Cake-Walk-Lied: Meine kleine Braune. Vorgetragen von Paul Schneider-Duncker, Text von Herm. Klink, Musik von Rudolph Nelson. Sammlung Rudolph Nelson, Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Vgl. auch Alan Lareau: Jonny's Jazz. From Kabarett to Krenek, in: Michael Budds (Hg.): Jazz & the Germans. Essays on the Influence of »hot« American Idioms on 20th-Century German Music, Hillsdale NY 2002, S. 19-60, hier: S. 31ff.
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dort mit ihr im Tanz gewiegt habe.45 Die scheinbare Selbstverständlichkeit einer sexualisierten Begegnung von Schwarzen und Weißen war jedoch ein Witz: Sie lud ein, über etwas zu lachen, das gerade nicht gesellschaftliche Norm war. Abbildung 9: »The Cakewalk. The Ethiopian's Ecstasy«. London 1903
Komplexere Bilder finden sich in Karikaturen. Manche zeichnen verschiedene Tänzer_innen, die sich gemeinsamen den Bewegungen des Cakewalks hingeben. Auf dem Titelbild einer Ausgabe von Musiknoten, die 1903 in London der Zeitschrift The Graphic als Supplement beilag, tanzt eine gemischte Menge den Cakewalk (Abb. 9). Zu sehen sind drei schwarze und acht weiße Cakewalker, teils in Karnevalskostümen, teils in einer Ausstattung, die an die Auftritte von Artisten im Varieté erinnert. Tatsächlich zitiert die Karikatur das Kostüm und sogar die Gesichtszüge 45
M. C. Fuchs: Der Tanz. Einleitender und verbindender Text für eine internationale Tanzdarstellung. Musik von Walter W. Goetze, in: Cabaret-Revue 1912 2 (32): S. 21.
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von Les Elks, einem Tanzpaar aus den USA, das 1902 in Paris aufgetreten war.46 Aber auch dickbäuchige Bürger mit Frack und Monokel finden sich auf dem Titelblatt, ein englischer Polizist mit Schlagstock und dem charakteristischen, tief in die Stirn gezogenen Helm, begleitet von einem Hund auf zwei Beinen, der mit ausgestreckten Vorderläufen ebenfalls zu cakewalken scheint. Das Bild ist nicht gerahmt und scheint wie ein Ausschnitt aus einer noch viel größeren Menge. Es ist zugleich abstrakt, weil es seine Figuren nicht perspektivisch verräumlicht, sondern flächig anordnet. Was dem Durcheinander etwas Ordnung und Symmetrie verleiht, sind lediglich die nach hinten verlagerten Oberkörper und die nach vorn gestreckten Arme der unterschiedlichen Tänzer_innen. Ein Tänzer hat aber das Gleichgewicht verloren und liegt mit nach oben gestreckten Beinen am Boden. Der Untertitel des Musikstücks »The Cake Walk. The Ethiopian's Ecstasy« entsprach nun gar nicht dem, was die Zeichnung zeigte: Hier waren keine Afrikaner_innen zu sehen, sondern die Bevölkerung Londons neben weißen und schwarzen Artist_innen aus den USA, die gerade im Varieté auftraten, sowie kostümierte Narren und Bürger_innen in Straßenkleidung, Polizisten in Uniform und sogar die Haustiere der englischen Gesellschaft. Während das Bild den Tanz zwischen individueller Balance und gesellschaftlicher Unordnung positionierte, sprach der Titel von der Ekstase der »Ethiopians«, was um 1900 nicht mehr nur die Herkunft des Tanzes vom afrikanischen Kontinent behauptete, sondern, wie die Rekonstruktion des Cakewalks in Kapstadt gezeigt hat, im »Ethiopianism« auch ein politisches Programm der Selbstbestimmung des afrikanischen Kontinents und der schwarzen Diaspora meinte.47 Das Titelblatt von Ethiopian's Ecstasy ähnelte einer französischen Karikatur von 1902: Eine ungeordnete Menge an Tänzern – zumeist handelt es sich um die oben beschriebenen Tänzer_innen aus dem Nouveau Cirque – sind mit Les Nègres Joyeux untertitelt. Unvermutet wurden so alle Tänzer, egal ob weiß oder schwarz, zu »Les Nègres« erklärt, auch Les Elks und die anderen weißen Tänzer_innen des Auftritts. Der offensichtliche Widerspruch zwischen Text und Bild ist aufschlussreich: Die Karikatur subsumierte alle Tänzer unter die in Frankreich kolonial aufgeladene Figur der »Nègre«.48 Wer zusammen mit Schwarzen den Cakewalk tanzte, so die implizite Botschaft, stellte auch seinen Status als Mitglied der »weißen Rasse« in Frage.49 Ein ähnlicher Bildaufbau findet sich auch in der Karikatur Tanzepidemie, die 1920 in der Zeitschrift Simplicissimus veröffentlicht wurde. Wieder findet sich das
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Mehr über Les Elks im Kap. III.2. Vgl. Kap. II.5. Vgl. Widhopff: Le Cake-walk: Au Nouveau Cirque – Les Joyeux Nègres, in: Le Courrier Français vom 9. November 1902, abgedruckt in: Blake, Tumulte Noir, S. 16. Karl Arnold: Tanzepidemie, in: Simplicissimus 1920 25 (38): S. 516.
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Motiv einer nur durch den Bildrand begrenzten tanzenden Menge, die sich grenzenlos auszuweiten droht. Avantgarde, Folklore und Subproletariat inspirieren hier gleichermaßen das modebewusste Bürgertum. Auf die Markierung einer Color Line wird dagegen verzichtet.
Z WEIERLEI L ACHEN Lachen war eine Art und Weise, mit dem Cakewalk umzugehen. Rassistische Witze oder Schauergeschichten wie die Novelle Cakewalk verhandelten Ängste, Konflikte und Begehrlichkeiten, die sich um Sexualitäts- und Rassediskurse anordneten. Tanzen mobilisierte und aktualisierte sie, bot aber potentiell auch Positionswechsel an. Wie bereits im Kapitel Arbeitsrhythmus deutlich gemacht, lachten Sklavenhalter und Sklaven über unterschiedliche Dinge, wenn sie auf den Plantagen an einem Cakewalk teilnahmen. Die Sklavenhalter »dachten, wir konnten nicht besser tanzen«, die Cakewalker lachten über eine Parodie, die ihren Handlungsspielraum erweiterte. Dabei entstanden Situationen, die zweierlei Lachen gleichzeitig erzeugen konnten.50 Potentiell war dieses Lachen selbstreflexiv und ermöglichte eine dritte Position, die weder Herr noch Knecht sein wollte. Auch darin lag seine kommunikative Kraft. Doch eine rassistische Rezeption, wie sie sich in der Novelle und den Liedtexten abzeichnet, war als Möglichkeit auch immer schon gegeben. Bestialisierung, Sexualisierung und Instrumentalisierung sollten diese unbestimmte, unbenannte Position undenkbar oder zumindest unsagbar machen. Im Folgenden soll das Spannungsverhältnis von rassistischem und selbstreflexivem Lachen, von affirmativem und subversivem Humor im Wechsel verschiedener Medien und Wissensformationen analysiert werden. Es zeigt sich, dass sich dabei die Regeln des Sichtbaren und Sagbaren veränderten. Die oral histories ehemaliger Sklav_innen berichten auf den Plantagen über eine simultane Konstellation, in der gleichzeitig über Verschiedenes gelacht wurde. Als der Cakewalk am Broadway erfolgreich wurde, war er Teil einer dialogischen, szenischen Inszenierung. Einem Theaterkritiker fiel 1903 auf, dass im Parkett und in den oberen Rängen nicht in den gleichen Momenten gelacht wurde. Das Theater war segregiert – für schwarze Zuschauer gab es im Parkett keine Plätze, obwohl das Stück von der Regie bis zur Choreografie von Afroamerikaner_innen organisiert war. Die zwei Arten des Lachens – das Lachen der Sklaven, das Lachen ihrer Besitzer – kehrten zurück, aber etwas hatte sich verändert. Erst lachten die einen, an anderer Stelle die anderen. In dieser Ungleichzeitigkeit wurde das Unvernehmen hörbar, wenn die Schauspieler 50
Vgl. hier auch die Unterscheidung zwischen dem »Lachen der Henker« und dem »Lachen der Revolutionäre«, die Gilles Deleuze in seiner Rezension von Michel Foucaults Buch Überwachen und Strafen vornimmt. Gilles Deleuze: Kein Schriftsteller. Ein neuer Kartograph, in: ders./Michel Foucault: Der Faden ist gerissen, S. 100-136, hier: 101.
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auf der Bühne Witze machten, die ein Teil der Zuschauer überhaupt nicht als solche wahrnahm oder mit Schweigen bedachte. 51 Abbildung 10 und 11: »Glückliches Neujahr!« Deutsche Postkarte , verschickt 1909.
»Humor aus dem Familienbad« Deutsche Postkarte, verschickt 1907.
Auch auf populären Bildern waren zweierlei Lachen möglich: Es gab rassistische Witzpostkarten über den Cakewalk und es gab Bilder der Selbstrepräsentation, die Artist_innen zu Werbezwecken produzierten und in Umlauf brachten. Erstere interpretierte Abweichung als Scheitern an einer unerreichbaren weißen Norm. Die Tänzer_innen sind als häßlich dargestellt, sie wirken plump und tragen lächerliche Kleidung. Doch selbst diese Karikaturen kamen nicht umhin, Elemente des Cakewalks darzustellen: eine spezifische Spannung in den Gelenken, die Leichtigkeit des Körpers im Verhältnis zum Boden, die Dezentrierung des Körperschwerpunkts (Abb. 10). Anders funktionierte eine Karikatur von Arthur Thiele, die 1907 im Kaiserreich verschickt wurde. »Humor aus dem Familienbad« postuliert, dass ganz Deutschland den Cakewalk nachtanze. Das Bild zeigt eine Gruppe von Cakewalkern in Badekleidung am Strand. Zweifellos war der Anblick als frivol interpretierbar, er kam jedoch ohne Rassifizierung aus. Die Karte setzte ein Wissen über den Cakewalk entweder voraus oder ließ die Haltung des Körpers in Schieflage für sich selbst sprechen. Die Karikatur lud ein, über das moderne Leben zu lachen, das einem Badeanzüge, Strandbäder und den Cakewalk beschert hatte. Zwar konnte Thiele davon ausgehen, dass viele Konsument_innen der Karte die Herkunft des Cakewalks mit den USA und Afroamerikanern in Verbindung bringen konnten. Doch für den Witz in »Humor aus dem Familienbad«, der dazu einlud, über sich selbst zu lachen, war dieses Wissen nicht unbedingt nötig (Abb. 11).
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Krasner, Resistance and Parody, S. 68.
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Diese Übersetzung machte den Cakewalk zu einem Sinnbild für das, was am modernen Leben aus den Fugen geraten zu sein schien. Vorbilder dafür kamen möglicherweise bereits aus den USA: Der Film A Seaside Cakewalk von 1904 zeigt Badegäste am Strand von Coney Island in New York City, die auf die statische Kamera zulaufen und sich mit zurückgeworfenem Oberkörper, ausholenden Beinwürfen und akrobatischen Einlagen wie Bocksprüngen amüsieren. 52 Abbildung 12: Miss Adams
Anders die fotografischen Selbstdarstellungen von afroamerikanischen Cakewalker_innen, die stets eine Spannung zwischen Eleganz und Ausgelassenheit, zwischen Distanz und Nähe aufrecht hielten. Auf einer französischen Serie von Postkarten der Florida Creole Girls, die 1903 in Wien auftraten, zeigten die Mitglieder der Truppe verschiedene Posen vor der Kamera. Die Tänzerinnen präsentierten sich in figurbetonten Bühnenkostümen, deren Kniebundhosen die Beine und Hüften der Tänzer_innen besonders sichtbar machten (Abb. 16). Der Oberkörper von »Miss Adams« ist nach vorne gelehnt, die Hüfte gebeugt, die Knie sind eingeknickt und nach innen gedreht, während die Fersen nach außen zeigen (Abb. 12). Diese Bewe52
A Seaside Cakewalk, American Mutoscope and Biograph Co., August 1904. Jerome Robbins Dance Division, NYPL. Mehr dazu in Kap. III.2. Bühne/Leinwand.
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gung wurde zwanzig Jahre später grundlegend für den Charleston.53 Die Tänzerin lacht, ihr ganzer Körper verheißt Bewegung, die nach beiden Seiten ausgestreckten Arme mit den gespreizten Fingern scheinen vom Körper wegzufliegen, dessen Haltung durch den nach vorn verlagerten Oberkörper und die beweglichen Hüften eine Spannung aufweist, die sich durch Bewegungen in alle möglichen Richtungen entladen könnte. Das Bild zeigte, was am Cakewalk im Verhältnis zum europäischen Gesellschaftstanz neu war. Neben der Freude am Tanzen war Lächeln im Cakewalk oft auch eine Maske. Die Tänzerin Ida Forsyne, die als Kind bereits mit dem Cakewalk auf der Weltausstellung in Chicago auftrat und danach mit Sophie Tucker eine erste Europatournee unternahm, erinnerte sich in einem Interview: »I got the nicest smile, it seemed real, not a fake.«54 Das wichtigste beim Cakewalken sei gewesen, dass man sich möglichst natürlich und locker benahm. Egal wie kompliziert die Figuren aussahen, egal wie anstrengend es war, den Körper in Schieflage zu bringen, es sollte ganz leicht und gar nicht bemüht aussehen. Neben der Weigerung, eifrig und folgsam zu erscheinen, machte diese Haltung aber auch den Aufwand unsichtbar, dessen es bedurfte, um im Cakewalk zu gewinnen. Nur unter der Maske der Fröhlichkeit konnten Afroamerikaner_innen den Rassismus der Gesellschaft überleben, so Paul Laurence Dunbar in seinem Gedicht We Wear The Mask von 1895.55 Lachen wird hier als Schutzschild beschrieben, das ermöglichte, die eigenen Gefühle und Gedanken dem Zugriff einer feindlichen Gesellschaft zu entziehen. Indem sie ihr inneres Erleben verheimlichten, zogen Afroamerikaner_innen eine Grenze. Doch diese Haltung war nicht selbstgewählt, betonte Dunbar. Sie war ein Tribut an die »menschliche Tücke«, die der Welt Glauben machte, alles sei in Ordnung, um sich dadurch einen prekären Handlungsspielraum zu verschaffen. Nur hinter dieser Maske ließ sich die Strategie der Flucht organisieren, die dem lynching, der Entrechtung und Ausbeutung in den Südstaaten die politische Antwort der Great Migration bescherte.56 Aus anderen Gründen verlangte auch die bürgerliche Gesellschaft die Fassade eines unerschütterlichen Selbst, nicht um sich ihren Anforderungen zu entziehen, sondern im Gegenteil, um die darin angelegten Widerstände und Ambivalenzen zu indivi-
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Vgl. mehr zum Charleston im Kap. III.4. Disziplinierung. Interview mit Isa Forsyne, Hatch Billops Collection, New York City. Paul Laurence Dunbar: We Wear the Mask (1895), abgedruckt in: David Lehman: The Oxford Book of American Poetry, New York 2006: S. 210-211. Vgl. hierzu eindrücklich die Autobiografie von Richard Wright: Black Boy. A Record of Childhood and Youth, New York 1966 [1937]. Zur »culture of dissemblance« von AfroAmerikanerinnen siehe Darlene Clark Hine: Hine Sight. Black Women and the ReConstruction of American History, Brooklyn NY 1994, S. 37 ff.; über Strategien der Maskierung von Widerstand in der schwarzen Arbeiterklasse vgl. Robin D. G. Kelley: »We Are Not What We Seem«. Rethinking Black Working-Class Opposition in the Jim Crow South, in: Journal of American History 1993 (Juni): S. 75-112.
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dualisieren. Die Schule des Tanzes verlangte von jungen Herren und Damen, sich die Anstrengung nicht anmerken zu lassen, die ihnen der Gesellschaftstanz als soziale Situation abverlangte, geschweige denn, ihre verletzten Gefühle zum Ausdruck zu bringen.57 Der Cakewalk agierte innerhalb dieser Konstellation und setzte sich über das Gebot des gehorsamen Befolgens hinweg. Lachen war nicht mehr das Privileg derer, die Regelverletzungen sanktionierten. Es wurde zu einem Lachen über die Regeln selbst. Mehr und mehr Tänzer_innen führten Bewegungen aus, die in der Schule des Tanzes als hässlich galten. Nonkonformes Verhalten ließ sich als lebbare und lustvolle Haltung zur Schau stellen.58 Im ausgehenden 19. Jahrhundert war auch das wissenschaftliche Interesse an Witz, Humor und Lachen stetig gewachsen. Wie viele andere scheinbar selbstverständliche Alltagsphänomene war das Lachen im Zuge der Verwissenschaftlichung des Lebens im 19. Jahrhundert Gegenstand der Forschung geworden. 1900 erschien Henri Bergsons Essay Le Rire, der 1914 auf Deutsch übersetzt wurde.59 Auch Sigmund Freud widmete sich in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten 1905 dem Thema.60 Beide konnten bereits auf eine internationale Publikationsliste über die Phänomene Lachen und Humor zurückgreifen.61 Sie betonten auf unterschiedliche Weise den zutiefst historischen und situativen Charakter des Lachens, das sensibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagiere. In welchem Verhältnis standen die dort gestellten Fragen und Beobachtungen zum Körper in Schieflage? In komischen Bewegungen und komischen Formen verhandle die Gesellschaft ihren wachsenden Anpassungs- und Flexibilisierungsdruck: »Was das Leben und die Gesellschaft von jedem von uns fordern, das ist eine stets wache Aufmerksamkeit, dank welcher wir die jeweilige Situation erkennen; es ist auch eine gewisse Elastizität des Körpers und des Geistes, dank welcher wir uns dieser Situation anzupassen vermögen.«62
Für einen Moment erkläre man sich mit demjenigen solidarisch, dem ein Missgeschick widerfahren sei und lache die Anstrengung aus, der man sich sonst still-
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Vgl. Kap. I.3. »Gesellschaftlicher Verkehr«. Nach Rae Beth Gordon vermarkteten sich Tänzerinnen in Paris, die wenig später auch den Cakewalk in ihr Programm aufnahmen, offensiv als hässlich und erzeugten dadurch Aufmerksamkeit und Zustimmung dafür, dass sie der herrschenden Norm von Weiblichkeit, schön sein zu müssen, in aller Öffentlichkeit tatsächlich die Zunge zeigten. Vgl. Gordon, White Savage, S. 270 ff. Das Bild der Tänzerin Polaire mit der ausgestreckten Zunge findet sich in Gordon, La Parisienne, S. 623. Henri Bergson: Das Lachen, Leipzig 1914. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Hamburg 1958. Vgl. das Vorwort von Bergson, Lachen. Bergson, Lachen, S. 16.
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schweigend unterwerfe; im gleichen Moment bestätige das Lachen aber auch, dass Anpassung normal und der Unfall die Ausnahme ist, in der jemand vorübergehend aus der Rolle fällt oder die Balance verliert. Gegenüber der stets geforderten aufmerksamen Flexibilität weist Bergson ein gegenläufiges Bedürfnis nach Mechanisierung nach, einen Wunsch nach Routine, der sich wie eine Verkrustung über das Lebendige zu legen drohe. Sie soll etwas von der Mühe einsparen, die einem die beständige Anpassungsleistung abverlange. Das Lachen greift diese Verkrustung an und ruft sie quasi zur Ordnung. Dieses Lachen gelingt aber nur dem, der sich eine gewisse emotionale Distanz zum Geschehen bewahrt. »Seelische Kälte« ist nach Bergson unabdingbare Voraussetzung für Humor. Man müsse sich als unbeteiligter Zuschauer imginieren: »So brauchen wir in einem Salon, wo man tanzt, nur die Ohren gegen die Musik zu verschließen, und die Tänzer erscheinen uns lächerlich.«63 Fast klingt es, als beziehe sich Bergson auf Synkope oder Off-beat, wenn er über den Zerstreuten schreibt, sein Verhalten erscheine »wie eine Begleitung, die immer hinter der Melodie zurückbleibt«.64 Im Cakewalk eilen die Füße dem Kopf voraus, eine Umkehrung der kopfgesteuerten Haltung tänzerischer Souveränität, die im europäischen Tanz die Norm war. Doch wo der Zerstreute lächerlich und nach Bergson sogar asozial erschien, entwickelte sich die Zerstreuung im Unterhaltungsgewerbe zu einer Art Selbstzweck. So konnte man sich gesellschaftlichen Anforderungen entziehen, ohne dabei zuviel Aufsehen oder Widerstand zu erregen. Bergson verweist auch mit der Analyse von Humor als »seelischer Kälte« auf eine Technik, die für schwarze Kultur im 20. Jahrhundert (und das heißt ganz allgemein für Popkultur) zentral werden sollte: Coolness.65 Sie konnte an das anschließen, was Simmel die Blasiertheit der Großstadtbewohner nannte.66 In einer Gesellschaft, die beständig Engagement und Durchsetzungswillen, Anpassungsfähigkeit und Selbstführung verlangte, entstand um 1900 ein öffentlich zur Schau gestelltes Selbstverhältnis, das offensiv Desinteresse bekundete. Es setzte dem alltäglichen Trubel eine Grenze und schuf Distanz. Der Cakewalk war – wie die Entstehungsgeschichte in New York gezeigt hat – aus einer solchen Gemengelage als urbanisierter Modetanz hervorgegangen. Als Körperpraxis, die ein enormes Maß an Flexibilität und Kreativität verlangte, überschritt er diese Funktion aber zugleich. Wenn Mode auch eine Form von Maskierung war, wie Simmel behauptet, dann verdoppelte der Cakewalk 63 64 65
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Bergson, Lachen, S. 7. Bergson, Lachen, S. 11. Vgl. Thompson, Aesthetic of the Cool; Thomas Düllo: Coolness. Beharrlichkeit und Umcodierung einer erfolgreichen Mentalitätsstrategie, in: ders./Franz Liebl (Hg.): Cultural Hacking. Kunst des strategischen Handelns, Wien/New York 2005, S. 47-72; Tobias Lehmkuhl: Coolness. Über Miles Davis, Berlin 2009, das allerdings auch die repressiven Konsequenzen dieser Selbsttechnologie deutlich macht. Georg Simmel: Die Grossstädte und das Geistesleben, in: ders.: Die Grossstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Dresden 1903, S. 187-206.
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diese Maske und machte sie sichtbar und veränderbar.67 Blasiertheit, die Simmel auch als Effekt einer sinnlichen Abstumpfung interpretiert, welche auf ein Zuviel an Reizen reagiert, unterscheidet sich von Coolness, die der Außenwelt den Einblick in die eigenen Ängste verwehrt, diese aber nicht unbedingt selbst verkennt. Bergsons Beschreibungen verdeutlichen, mit wie viel Aufmerksamkeit um 1900 diese Grenze zwischen dem Normalen und dem Komischen belegt war. Hierbei betont er auch den konservativen und gewaltsamen Charakter des Lachens, das auf Abweichungen von gesellschaftlichen Normen reagierte. Das Lachen sollte »demütigen und einschüchtern«.68 Es zeige bereits die »leichten Revolten auf der Oberfläche des sozialen Lebens« an.69 Wie ein Seismograf zeichne es »bewegliche Formen der Erschütterung« nach. Was bei Bergson erst am Rande aufscheint, steht in Freuds Analyse im Fokus – die Gewalt, die der Witz potentiell ausagiert. Freud unterscheidet zwei Arten des Witzes: den selbstreflexiven, »eigentlichen« und den rassistischen Witz als brutalen Schwank, der sich die eigentlich »Witzarbeit« der Selbstbeteiligung erspare, ein gesetztes Fremdbild bestätige und die im Witz sonst angelegte Selbstkritik dadurch vermeide. Freuds Unterscheidung ist politisch, weil sie von der Positionierung des Sprechers und der Witzgemeinschaft in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen bedingt wird. In seiner Analyse von jüdischem Humor und Witzen über Juden analysiert er im Lachen eine ähnliche Konfliktlinie, wie sie zur gleichen Zeit im Cakewalk zu finden war.70 Auch in der afroamerikanischen Kultur- und Wissensproduktion der Jahrhundertwende finden sich solche Reflexionen über die Bedingungen von Humor. Sie stellten die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass schwarze Schauspieler zum »funny man of America« geworden seien.71 Rückblickend auf die Jahrhundertwende und den ersten Durchbruch schwarzer Kultur am Broadway rekonstruierte Jessie Fausset in ihrem 1925 veröffentlichten Artikel The Gift of Laughter Strategien schwarzer Künstler_innen, die mit den einschränkenden Erwartungen eines weißen Publikums umgehen mussten. Singen und Tanzen seien die beiden Techniken gewesen, um diese Erwartungen zu erschüttern und zu verändern, die Produktion von
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Vgl. Simmel, Mode, S. 61. Bergson, Lachen, S. 132. Bergson, Lachen, S. 133. Freud unterscheidet an anderer Stelle Witz und Humor. Erstere gehöre zum Bereich des Unbewussten, während das Über-Ich über den Humor bestimme. Gerade der Humor sei ein »Triumph des Narzissmus« und behaupte, das Leben sei ein »Kinderspiel«. Eine Bedeutung von Cakewalk im amerikanischen Englisch ist genau das: ein Kinderspiel. Sigmund Freud: Der Humor, in: ders. (Hg.): Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1999, S. 381-389, hier: 385 und 389. Jessie Fauset: The Gift of Laughter (1925), in: Henry Louis Gates, Jr./Gene Andrew Jarrett (Hg.): The New Negro. Readings on Race, Representation, and African American Culture, 1892-1938, Princeton/Oxford 2007, S. 515-518, hier: S. 515.
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»infectious charm«.72 Fausset greift hier den Diskurs der Ansteckung auf, um die besondere Bedeutung von Singen und Tanzen im Widerstand gegen Rassismus deutlich zu machen. Denn die Konstellation heterosexueller Paartänze im Allgemeinen und die wachsende Tanzlust in der Bevölkerung im Besonderen griffen ein ungeschriebenes Gesetz an, nach dem eine ernsthafte Liebesszene zwischen schwarzen Figuren auf der Bühne undenkbar war. Romantik wurde sofort als Witz interpretiert und verlacht. Ein weißes Publikum reduzierte schwarze Figuren unabhängig von Aufführungskontext und Inszenierung auf das Genre des Burlesken. In der Tradition von Minstrel Shows hatte es früher nur Männer auf der Bühne gegeben. In den Musicals und Revuen der Jahrhundertwende spielten mehr und mehr Frauen. Mit dem Erfolg des Musicals Darktown Entertainers 1913 in einem schwarzen Theater in Harlem fiel das ungeschriebene Gesetz gegen echte Gefühle. Der afroamerikanische Schriftsteller James Weldon Johnson setzt hier nicht nur das »beginning of nightly migration to Harlem in search of entertainment« an, sondern auch den Bruch dieses Tabus. Mit Rock Me in the Cradle of Love präsentierte Darktown Entertainers erfolgreich ein gefühlvolles Liebeslied.73 Ein Artikel über den Tango im Ballsaal von 1913 prognostizierte ihm ein kurzes Leben. Wer versuche, ihn nachzutanzen, würde sich nur lächerlich machen. Man müsse doch »herrlich lachen«, wenn man das »einem Indianertanz ähnliche[] Tohuwabohu« auf der Tanzfläche sehe. »Und dieses Lachen von vielen Tausenden wird der Grabgesang des Tangos werden.«74 Diese Prognose erwies sich als falsch: Tanzend setzten mehr und mehr Menschen der ständig drohenden Sanktionierung von gesellschaftlichen Normen neue Bewegungen entgegen. Hämische Kommentare waren ihnen zwar sicher. Doch der Gewinn war offensichtlich vielversprechender, und zwar von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen aus. Potentiell entstand ein neues Lachen, das dem hämischen, verletzenden, repressiven Lachen etwas entgegensetzte, das im Alltag rassistische und sexistische Grenzen zu überwachen suchte. Wo die Grenze zwischen dem einen und dem anderen Lachen verlief, war deshalb weniger in den Formen selbst oder den Akteuren und ihren Subjektpositionen begründet. Ausschlaggebend waren situative Aufführungskontexte und Machtverhältnisse.
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Fauset, Gift, S. 516. Berühmt wurde das Musical auch wegen einer Tanz-Szene: »The whole company formed an endless chain that passed before the footlights and behind the scenes, round and round, singing and executing a movement from a dance called ›Balling the Jack‹, on of those Negro dances which periodically come along and sweep the country.« Johnson, Black Manhattan, S. 529. Vom Walzer zum Tango und – wieder zurück, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (266): S. 6.
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Das Kapitel ging von der These aus, dass die Übersetzbarkeit einer kulturellen Form ihre Lebendigkeit ausmacht. Der Cakewalk konnte um 1900 an unterschiedliche populärkulturelle und wissenschaftliche Begriffe anschließen und aktualisierte vorhandene Repertoires der Abweichung. Mit dem Fokus auf Groteske und Exzentrik veränderte sich der Cakewalk und verlor einen Teil seiner doppelbödigen Botschaft, die weiterhin zwischen Eleganz und Parodie die Balance hielt. Weil sich viele Zeitgenossen in den Praktiken selbst wieder erkennen konnten, hielten ihnen andere den Spiegel vor und konfrontierten sie mit Kategorien, die sie an ihre Selbstpositionierung als Weiße erinnern sollte. Die Color Line verzweigte sich in vielfältige Konfliktlinien, die den Gesellschaftskörper durchzogen.
Inkorporierung
1909 baute die auf Fahrgeschäfte spezialisierte Gothaer Firma Bothmann eine neue Attraktion für den Jahrmarkt: Den Cakewalk. Die Besucher_innen waren eingeladen, sich auf beweglichen Fußböden auf den Beinen zu halten. Die schlangenförmigen Bewegungen des Untergrunds forderten ihre Balance und Reaktionsfähigkeit heraus. Den Boden unter den Füßen zu verlieren war vorprogrammiert, und das Spektakel, das die zahlenden Gäste dieses Fahrgeschäfts den unten stehenden Zuschauern boten, war Teil des Unterhaltungsprogramms. Es sollte sie anreizen, selbst den Cakewalk zu betreten, ihre Balancefähigkeit unter Beweis zu stellen und damit weitere zahlende Gäste anzulocken. Verschiedene deutsche Firmen bauten das Konzept in den folgenden Jahren noch aus und konstruierten schiefe Treppen, rollende Teppiche und Schüttel- und Vibrationsböden. Manche bauten sogar Luftgebläse ein, die den Damen ihre Röcke hochwirbelten. So sahen sich die Gäste unkontrollierbaren Kräften ausgesetzt, die sie mit Geschicklichkeit, Balance und Humor bewältigen sollten.1 Ein solches Fahrgeschäft ermöglichte auch jenen, die nicht von sich aus ihre Körper in derartige Verrenkungen bringen konnten oder wollten, sich Kräften auszusetzen, die sie unweigerlich solche Bewegungen ausführen lassen würden. Das war einerseits gewaltsam, und man fragt sich, warum sich die Besucher_innen von Jahrmärkten derartiges zumuteten. Es war aber auch eine Möglichkeit, etwas Neues zu erleben, für das man zugleich nicht im Rahmen der üblicherweise geltenden Regeln Verantwortung übernehmen musste. Dieses Kapitel untersucht, in welchem Verhältnis der Cakewalk und seine Nachfolger zu medialen Apparaturen, Licht- und Resonanzräumen standen. Die
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Vgl. Florian Dering: Volksbelustigungen. Eine bilderreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nördlingen 1986, S. 138-139. Das letztgenannte Fahrgeschäft stammte aus den 1920er Jahren, bekam von der Firma Gundelwein den Namen Shimmy und bezog sich damit ebenfalls auf einen Modetanz des Black Atlantic.
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Entstehung des Cakewalks als Modetanz ist von seiner Integration in einen medientechnischen Zusammenhang nicht zu trennen.2 Dieser Zusammenhang ist nicht wirklich neu: Das Verhältnis zwischen Füßen und Boden, Rhythmus und Körper, Tänzer_in und Zuschauer_innen, Licht und Schatten ist konstitutiv für Tanzen. Veränderungen an einer Stelle im Gefüge veränderten potentiell den gesamten Zusammenhang.3 Von der Beschaffenheit von Fußböden über den Einsatz von Kleidung, von der Erfindung neuer Rhythmen, musikalischer Aufzeichnungstechniken, künstlichen Lichts hin zu massenhaft reproduzierbaren Fotografien und Filmen von Tanzfiguren – die Dynamiken des Tanzens standen häufig in Verbindung mit medientechnischen Innovationen. Doch dasselbe gilt umgekehrt: Ohne das intensive Beforschen des Bewegungsapparats, ohne die Experimente mit Wahrnehmung und Aufmerksamkeit hätte es auch keine »neuen Medien« wie den Film gegeben.4 Ein Ort, an dem sich diese Austauschbeziehungen und Rückkopplungseffekte verdichteten, war das Unterhaltungsgewerbe.
V ARIETÉ Das Varieté eröffnete im ausgehenden 19. Jahrhundert eine neue Bühne zwischen bürgerlichem Theater und fahrendem Zirkus. In verschiedenen Ländern hatte das Phänomen je unterschiedliche und jeweils fremdsprachige Namen: in Paris hieß es in Anlehnung an ein englisches Format Music Hall, in Deutschland bürgerte sich der französische Begriff Varieté ein, in den USA war von Vaudeville die Rede. Die Welt des Varietés war transnational. Sie verwies immer auf ein Anderswo, von woher das Neue, Mondäne und Moderne kommen sollte. Das Unterhaltungsgewerbe war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg enorm mobil: Artist_innen und Nummern, Rhythmen und Ideen reisten damals nicht nur durch Europa und die USA und Lateinamerika, sondern bis nach Südafrika und Australien. Wer um 1910 Das Organ der Variétéwelt aufschlug, die »Internationale Zeitschrift der Variététheaterdirekto2 3
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Jonathan Crary/Sanford Kwinter (Hg.): Incorporations, New York 1992, S. 15. So hatte die Erfolgsgeschichte des Walzers im 19. Jahrhundert auch mit der Verlegung von Parkettböden in urbanen Tanzsälen zu tun. Die glatten Flächen dieser Böden, die man vorher nur aus den Prunksälen der Aristokratie gekannt hatte, verwandelten den »gehüpften« Walzerschritt, wie er davor mit klobigen Schuhen auf rauen Tanzböden gedreht worden war, in einen »geschliffenen« Schritt und der Walzer konnte sich enorm beschleunigen. Vgl. Peter Nickl: Parkett. Historische Holzfußböden und zeitgenössische Parkettkultur, München/Berlin 1995; Fink, Ball, S. 27. Vgl. Friedrich Kittler: Der Mensch, ein betrunkener Dorfmusikant, in: Renate Lachmann/Stefan Rieger (Hg.): Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte, Tübingen 2003, S. 29-44. Kittler betont hier die Herkunft bewegter Bilder aus der Erforschung von Gehbewegungen in den 1830er Jahren, die lange vor Edward Muybridges filmtechnischen Experimenten auf der Suche nach mathematisch berechenbaren Gehmaschinen waren.
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ren«, sah auf einen Blick, was zwischen New York, Paris, Budapest, Kairo, Kapstadt und Sydney auf den Varietébühnen gespielt wurde. Als sich der Kulturbetrieb im Zuge der Gewerbefreiheit im 19. Jahrhundert ausdifferenzierte, sollten die Zuschauer_innen in den Arenen der Hochkultur zuhören, zuschauen, schweigend genießen und ihren Beitrag möglichst auf Beifall reduzieren.5 Parallel zu diesen Institutionen entstanden aber Orte der Unterhaltung, die anders funktionierten: In Varietés und Tingeltangel, Tanzlokalen, Gartenrestaurants und Lunaparks waren Besucher_innen anders ins Geschehen involviert.6 Besonders das Varieté bildete sich um 1900 als ein Raum heraus, der Elemente aus unterschiedlichen Institutionen miteinander kombinierte. Obwohl es sich ökonomisch eher an ein bürgerliches Publikum richtete, entsprach die dort etablierte Etikette nicht dem bürgerlichen Theater. Im Varieté konnte man essen und trinken, artistische Einlagen erinnerten an den Zirkus, und das frühe Kino produzierte seine kurzen Filmclips zuerst für diese Bühnen. Varieté-Tänzerinnen waren um die Jahrhundertwende nicht stumm wie im Ballett, sondern erzählten auch Witze und Geschichten. Filippo Marinetti, Begründer des italienischen Futurismus, der im Varieté ein Vorbild für neue künstlerische und politische Formen sah, betonte, dass die Zuschauer_innen im Varieté nicht nur Voyeure seien. Sie kommentierten und kritisierten die Aufführungen schon während sie stattfänden und interagierten vor und nach den Vorstellungen mit den Artisten. Selbst der Rauch, den das Publikum mit seinen Zigarren und Zigaretten produziere, verändere und beeinflusse die Atmosphäre im Varieté und stelle eine spezifische Verbindung von Zuschauerraum und Bühne her.7 Im Theater war die Bühne die Welt. Im Varieté war der Zuschauerraum integraler Bestandteil der Inszenierung. Der Berliner Wintergarten simulierte um 1900 einen Sternenhimmel über den Zuschauer_innen: »[D]a leuchten aus nachtdunkler Höhe – einer Unzahl von Sternen vergleichbar – Glühlämpchen in den Raum herab, alle mit ihrem Glanz überflutend.«8 Schon der Saal des Varietés sei eine »Sehenswürdigkeit ersten Ranges«, betont Eberhard Buchner 1905 in den Berliner Großstadt-Dokumenten über das Varieté. Anders als man es in einem Theater erwarten würde, war dieser Saal keineswegs praktisch angelegt. »Nur der kleinste Teil der Zuschauer kann frei und ungehindert die Bühne [...] überblicken.«9 Nicht nur die Bühne, sondern der Raum selbst und mit ihm die Zuschauer im Varieté waren Teil der Inszenierung. 5
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Vgl. zum Prozess der Disziplinierung des Theaterpublikums im 19. Jahrhundert Levine, Highbrow, Lowbrow; Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand, Berlin 1993. Vgl. Eberhard Buchner: Variété und Tingeltangel in Berlin. Bd. 22 der Berliner Großstadt-Dokumente, Berlin/Leipzig 1905. Marinetti, Variety Theater (1913), S. 116-122. Buchner, Variété, S. 61. Buchner, Variété, S. 60-61.
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An den Grenzen der bürgerlichen Welt angesiedelt, war das Varieté ein Produkt ihrer Doppelmoral und wurde häufig mit der »Demi-Monde« assoziiert. Empört wiesen Artisten in ihren Fachzeitschriften diese Assoziation immer wieder zurück und erinnerten daran, dass sie früher ganz ähnlich gegen das Theater vorgebracht worden sei.10 In ihren Artikeln kämpften sie für die Anerkennung ihres Gewerbes als Ort der Kunst- und Wissensproduktion. Es sei vielfach Vorreiter im Einsatz neuer Technik wie Mechanik und Elektrizität und verlange darüber hinaus in der Arbeitsorganisation viel Selbstverantwortung und Disziplin.11 Die Zeitschrift Das Variété schrieb in ihrer ersten Ausgabe, über keinen Berufsstand mache man sich so falsche Vorstellungen, wie über das Artistenleben. Man sehe nur das schöne und leuchtende Ergebnis der Arbeit, nicht die Arbeit selbst.12 Der Artikel warnte all jene vor Enttäuschungen, die den Faktor Arbeit und Ausbildung im Varieté unterschätzten. Dieser Angriff auf die naive Begeisterung für das Varieté war freilich selbst etwas naiv. Schließlich setzte das Gewerbe alles daran, die Arbeit unsichtbar zu machen, die einer Aufführung vorausgegangen war, und inszenierte eine perfekte Oberfläche fröhlicher Leichtigkeit. Statisten gebe es im Varieté nicht, jeder müsse seine eigene Attraktion darstellen. Das Varieté erscheint in dieser Selbstreflexion der Artisten als eine Welt gnadenloser Selbstdarstellung, als prekäre Arbeit, die von Leistungsdruck und Konkurrenz geprägt war.13 In einem Artikel wurde gar eine selbstorganisierte Form der Ausbildung angedacht. Auf der Bühne ging es jedoch weiterhin darum, eine Welt zu inszenieren, in der sich alles wie von selbst verwandelte und in der selbst das Scheitern nicht wehtat.14 Virtuosität war ein Schlüsselbegriff im Varieté. Er galt für den Einsatz des Körpers ebenso wie für den Einsatz technischer Hilfsmittel. Im Zusammenspiel sollten sie eine Welt erzeugen, die andere Erfahrungen ermöglichte, als sie der Alltag der meisten Menschen zu bieten hatte. Wie bereits im ersten Teil des Buches dargestellt, war das Varieté um 1900 mit kulturpolitischer Bedeutung aufgeladen. Dabei entstand eine Rationalität, die der Sichtbarkeit tänzerischer Bewegungen auf der Bühne und dem Körper in Schieflage eine neuartige Evidenz verlieh. So untersuch-
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José de Milos: Moderne Märchen, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (247) vom 16. August, S. 1-2 Vgl. Henriette Kohn: Artisten-Erziehung, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (249) vom 30. August, S. 1-4; Albert Seeth: Letzte Entwicklungsmöglichkeiten des Variétés. Ein Appell an die Artistik anläßlich des neunten Geburtstages des Albert Schumann Theaters, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (264) vom 13. Dezember, S. 1-3. Der Zwang zur Öffentlichkeit, in: Das Variété 1902 1 (1). Dagegen gründeten sich Vereine wie Die Lustigen Ritter, die neben Informationen über die Zeitschrift Das Variété auch die Krankenversicherung und Altersvorsorge ihrer Mitglieder organisierten. Die lustigen Ritter in Wien, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (261): S. 8-9. Vgl. Moeller-Bruck über den Slapstick in Kap. III.1.
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te Arthur Moeller-Bruck 1902 das Varieté als Produktionsstätte einer anderen Form von Wissen. Er hoffte, hier Vorbilder für die Bewältigung einer Neuverteilung von Handlungsmacht zu finden, die er in der Tendenz als überwältigend empfand. Die Gesellschaft drohe zu einem unendlich komplexen, unübersichtlichen und »wildgeschichteten Labyrinth der Erscheinungen« zu werden, »wo alles Ursache und Wirkung zugleich ist«.15 Diese Komplexität werde im Varieté vor Augen geführt und zugleich werde ihre Bewältigung eingeübt. Zwischen dem Publikum und den »Leistungen, die es sich bieten lässt« bestehe eine »direkte Wechselwirkung«.16 Das Publikum wollte Moeller-Bruck zufolge ausbrechen aus den erstickenden Normen der bürgerlichen Gesellschaft. In einer ersten Phase müsse es notgedrungen zu »Ausschweifungen« und »Verirrungen« kommen, wenn »ein totes, in Bürgerlichkeit verschlafenes Sein« anfange, umherzuschweifen.17 Doch auch später, wenn sich ein »Kulturrhythmus« eingestellt habe, der sich bereits in der Gegenwart abzeichne, werde es weiter zu Reibungen und Konflikten kommen: »Das Publikum des Variete [...] setzt sich aus allen Gesellschaftsklassen zusammen und ist doch verbunden zu einem Identitätsgefühl durch einen gewissen verwegenen Elan, der aus dem Lande jenseits von gut und böse kommt, alle Standesunterschiede in der inneren Gesinnung aufhebt und von der eminent kulturellen Überzeugung lebt, die wahrhaft Aktuellen unter uns zu sein, in deren Sehnen das moderne Leben einen Ruck that, den Blick nach vorne spannte und den Tritt fest in dem der Welt zu gehen hiess.«18
Moeller-Bruck unterstellte dem Varieté-Publikum eine Sehnsucht nach Taktung, nach einem neuen Rhythmus. Er selbst wollte in der Institution eine Art Avantgarde sehen und glaubte, sie würde »irgendwie im Vortrab der Menschheit [...] stehen.«19 In den Metaphern »Tritt« und »Trab« zeichnet sich eine Engführung von gesellschaftlicher Veränderung und Körperbewegung ab. Sie waren weniger ein Spiegel der Gesellschaft als ein Experimentierfeld für die Redistribution von Handlungsmacht und ein Exerzierplatz für eine neue Form von Subjektivität.20 Diese Refor-
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Moeller-Bruck, Variete, S. 28-29. Moeller-Bruck, Variete, S. 33. Moeller-Bruck, Variete, S. 33-34. Moeller-Bruck, Variete, S. 35-36. Moeller-Bruck, Variete, S. 36. Interessant ist auch seine Prognose für das Varieté – es sei nichts als die Geburtshelferin für eine neue Kunst, im Nachhinein werde es wohl wie eine »kultur- und kunstgeschichtliche Kuriosität« erscheinen. In beiden Fällen hatte Moeller-Bruck tatsächlich recht: Vermittelt über das Kabarett eignete sich die Bewegung von Dada während des Ersten Weltkriegs Formate und Bewegungen aus der Welt des Varietés an und nutzte sie radikaler denn je, um das moderne Verständnis von Kunst zu profanieren und einem neuen Gebrauch zu öffnen. Die Form selbst ging in der Kulturindustrie auf.
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mulierung von Handlungsmacht reagiert auf die doppelte Erfahrung von Kontrollverlust und dem Zugewinn von Bewegungsfreiheit. Der Cakewalk machte diese doppelte Erfahrung als Spannungsverhältnis darstellbar, indem sich die Körper weit nach hinten lehnen und die Tänzer_innen in eine offene, unbestimmte Zukunft marschieren konnten, die sie nicht beherrschen, sondern in steter Berührung mit dem Vergangenen verwandeln wollten. Doch Moeller-Bruck träumte eher von der Auflösung dieser Spannung, von einem festen Tritt, der ihm einen Blick in die Zukunft und damit einen Vorsprung vor den »Restmenschen« im Kampf ums Überleben sichern sollte.21 Zehn Jahre später war das Varieté in eine latente Krise geraten. In den Zeitschriften häuften sich Artikel, die fragten, wie es im Varieté weitergehen solle. Der Wintergarten in Berlin präsentiere »saubere Arbeit«, doch das Interesse des Publikums lasse allmählich nach, so der junge Kurt Tucholsky, der gerade anfing, für die Berliner Schaubühne zu schreiben. »[D]ie Leute haben nicht mehr die Augen für einen genialen Körper, für die Schauer der Komik für die Lustigkeit der Farben.« Der Grund liege nicht zuletzt im Mangel an ernsthafter Varieté-Kritik, die das Publikum über das, was es bereits erkennen kann, hinaus »zum Sehen erzieht«. Dafür müsste man sich aber trauen, das Varieté über die dienstbeflissene Anerkennung durch die Tagespresse hinaus ernsthaft zu kritisieren, wenn es schlechten Kitsch und schlechte Technik präsentiere. Doch niemand würde sich das zumuten: »Der Reporter würde sich hüten, denn er verliert Freibillet und Zeilenhonorar und seine Zeitung das Inserat.«22 Das Varieté drohe an seinem kommerziellen Erfolg zu scheitern. Dagegen schlug Tucholsky ein Format vor, das weder Kritik noch Apologie sein sollte: Er schrieb über das, was im Varieté und im Theater über das Bestehende hinauswies, über das, was es nur ansatzweise gab, was er aber gerne mehr sehen wollte.
L ICHT /S CHATTEN Künstliches Licht spielte im Varieté ebenso wie in den urbanen Tanzsälen eine prominente Rolle. Es veränderte das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum und strukturierte, was auf den Tanzflächen sichtbar in Erscheinung trat. Wenn VarietéTheater ihre Außenfassaden mit tausenden Lämpchen zum Leuchten brachten oder wenn im Berliner Wintergarten ein künstlicher Sternenhimmel an der Decke die Besucher beeindrucken sollte, veränderten sie dadurch die Beziehungen der Menschen zum urbanen Raum.23 Die ganze Nacht durchzutanzen und die Nacht zum Tag zu machen, gelang im ausgehenden 19. Jahrhundert auch deshalb, weil die 21 22 23
Mehr zu Moeller-Bruck und Marinetti in Kap. I.1. Bühnentanz/Verwandlungsakt. Kurt Tucholsky: Wintergarten, in: Die Schaubühne 1913 (21): S. 576 vom 22. Mai. Vgl. Buchner, Variété, S. 61.
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Tanzenden dabei von elektrischem Licht unterstützt wurden.24 Im Cakewalk als Wettbewerbstanz war Licht auch wichtig, um sichtbar in Erscheinung zu treten. Neben ihren virtuosen Bewegungen und überraschenden Einlagen nutzten die Tänzer_innen die Reflexionen künstlichen Lichts auf ihren farbenprächtigen, glänzenden oder glitzernden Kleidern. 1883 berichtete ein Journalist in New York, das elektrische Licht habe einem Cakewalk-Wettbewerb in der Bowery eine besondere »Brillianz« verliehen.25 Aufwändig gestaltete Postkarten aus der Zeit betonten diesen Aspekt, wenn in der Produktion Glitzerstaub auf die Fotografien von Tänzerinnen aufgetragen wurde, entlang der Bordüren ihrer Kostüme. Eine Postkarte des Tanzpaars »Brodie & Brodie« wurde nicht nur nachträglich koloriert, sondern das mit Rüschen besetze Kleid der Tänzerin auch mit Glitzer beklebt, um den Glamour der Bühne auf die Postkarte zu übertragen (Abb. 28). Glamour war ein zentrales Medium des Cakewalks, für Frauen ebenso wie für Männer.26 Als der Cakewalk um 1900 die Varietébühnen eroberte, war dort bereits ein Tanz mit Hilfe von künstlichen Lichteffekten zu transatlantischem Erfolg gelangt. Loe Fullers Serpentinentanz nutzte seit Mitte der 1890er Jahre lichtstarke, Farbe und Kontraste wechselnde Scheinwerfer.27 1901 setzten Johnson & Dean bei ihrem ersten Auftritt im Berliner Wintergarten als »Schlusstanz« eine ähnliche Technik ein. Sie nannten ihre Erfindung den »lebenden Biograph«. »Der von ihnen ausgeführte Biographen-Tanz ist eine originelle amerikanische Idee. Durch schnellen Wechsel von Licht und Schatten, welchem das Tanzpaar ausgesetzt ist, wird ein derartiger Effect erreicht, dass der Zuschauer in die Illusion versetzt wird, die Bilder eines Biographen vor sich zu sehen.«28
Die Bühne war in flackerndes Licht getaucht, was den Tanz in ein komplexes Muster von Armen und Beinen verwandelte – eine Art Vorwegnahme des StroboskopEffekts. Ein Rezensent fühlte sich an das flackernde Licht des Filmprojektors erinnert und fühlte sich wie im Kino. Johnson & Dean nannten den Apparat »Kinetoskop« und stellten ihr tänzerisches Vermögen ins Verhältnis zum Tempo einer
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Vgl. zum Palais de Danse in Berlin 1911 Turszinsky, Berlin, S. 9; zu New York vgl. Kap. II.1.; Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte künstlicher Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983; Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 60 ff. Revelry Wild and Shameless, in: New York Times 16. März 1883. Vgl. »Cakewalk and Strut«. Interview mit James Berry, Box 1 Folder 17. Mura Dehn Papers on Afro-American Social Dance, ca. 1869-1987, New York Public Library. Performing Arts Research Collections, New York City. Gabriele Brandstetter: Die Tänzerin der Metamorphosen, in: Jo-Anne Birnie Danzker (Hg.): Loe Fuller. Getanzter Jugendstil, Katalog der Ausstellung in der Villa Stuck, München 1995, S. 25-93. Der Artist 880 (1901). Siehe außerdem Lotz, Johnson und Dean.
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Maschine und zur Wahrnehmungsfähigkeit des Auges. Dadurch produzierten sie »a dazzling ›crowd‹ of images«, wie sich ein ehemaliger Kollege in seiner Autobiogra29 fie erinnerte. Johnson & Deans Einsatz von Licht könnte eine Methode gewesen sein, bestimmte Aspekte ihrer Tänze als Posen sichtbar zu machen. Das flackernde Licht intensivierte das Moment des Unvorhersehbaren. Es teilte den Tanz in seiner Dauer in verschiedene Zeitschnitte auf. Die Übergänge von einer Bewegung in die andere waren oft so schnell, dass sie ungeübte Augen verwirrten. Afroamerikanische Tänze wirkten um 1900 auf manche Zeitgenossen »beängstigend«. Bewegungen, die so fließend und flexibel waren, als hätten die Tänzer_innen »keine Knochen«, verwandelten sich nun durch das Kinetoskop in einzelne, kurz aufscheinende Bilder.30 Sie stellten so signifikante Momente heraus, verdunkelten dabei aber auch die Übergänge und damit die Tanztechnik, die ihren Schwung und ihr Tempo ermöglichten. Dafür stellten sie die Präzision von Körperbewegungen aus und intensivierten die Schaulust des Publikums. Mediengeschichtlich stehen beide Phänomene – der Serpentinentanz und der Biographentanz – in der Tradition von Experimentalanordnungen, wie sie Wissenschaftler im 19. Jahrhundert in der Erforschung von Bewegungsabläufen entwickelten.31 In ihrem Buch Dancing Machines zeigt Felicia McCarren, dass die Abstraktion reiner Bewegung, wie sie in der Kunstform »Tanz« um 1900 entwickelt wurde, mit den gleichzeitig entstehenden Untersuchungen der Arbeitswissenschaften verwandt war.32 Das wachsende Interesse an Körperbewegungen in Europa und den USA war auch ein Interesse an Leistungssteigerung. Wissenschaftliche Untersuchungen und technische Apparaturen sollten sie messbar und berechenbar machen. Licht- und Aufnahmetechniken, die zur Erfindung des Kinos führten, weiteten für einige Zeit die Sichtbarkeit von Tanz enorm aus und machten verschiedene Tanztraditionen für neues Publikum zugänglich. Doch langfristig hätten sie den Tanz »getötet«, so McCarren, weil sie den Bühnentanz aus dem Palast der Künste vertrieben.33 McCarren spricht hier dem Medium Kino eine enorme negative Handlungsmacht zu. Doch war es wirklich die Medialisierung des Tanzes, die seinen Status im Kulturbetrieb veränderte, oder war es die Logik des Kunstmarktes, die von der künstlerischen Avantgarde schon vor dem Ersten Weltkrieg so leidenschaftlich angegriffen wurde? Deren Gegenmodell war nicht zuletzt das Varieté und die Welt der Massenunterhal-
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Fletcher, 100 Years, S. 112. Vgl. Die Entstehung des Exzentriktanzes, in: Das Variété 1902 9. Vgl. Daniel Gethmann/Christoph Schulz (Hg.): Apparaturen bewegter Bilder, Münster 2006. Felicia McCarren: Dancing Machines. Choreographies of the Age of Mechanical Reproduction, Stanford 2003, S. 129 ff. McCarren, Dancing Machines, S. 9.
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tung.34 Die Avantgarde interpretierte Varieté, Postkarten und Slapstick-Filme als gesellschaftliche Experimentierfelder. Dieser Zusammenhang ist aus einer schwarzen oder feministischen Perspektive nicht ganz zufällig, denn auf diesen Bühnen waren all jene Subjektivitäten und Haltungen präsent, die aus dem »Palast der Künste« traditionell ausgeschlossen waren. Einer dieser Vertreter der Avantgarde war Filippo Tomaso Marinetti. Seit dem Futuristischen Manifest von 1909 feierte der italienische Autor das Neue und griff die Nostalgie seiner Zeitgenossen an, die beständig an Traditionen festhielten. »The variety theatre, born as we are from electricity, is lucky in having no tradition«, schrieb er 1913.35 Die Futuristen liebten Technik, weil sie die Naturalisierung des Menschen herausforderte. So interpretierte Marinetti auch den Cakewalk. In seinem Manifesto of the Futurist Dance schrieb er 1917: »We Futurists prefer Louie [sic] Fuller and the ›cakewalk‹ of the Negroes (utilization of electric light and mechanisms.)«36 Diese Tänze seien Isadora Duncan vorzuziehen, die doch letztlich nur eine verzweifelte Nostalgie zum Ausdruck brächte und einem alten Körperschema verhaftet bliebe. »One must go beyond muscular possibilities and aim in the dance for that ideal multiplied body of the motor that we have so long dreamed of.«37 In welchem Verhältnis steht der Cakewalk und die neue Tanztechnik von Körperisolation und Polyrhythmik zu Marinettis »multiplied body«? Möglicherweise hatte Marinetti den Cakewalk im Varieté erlebt. Um 1900 lebte er in Paris, wo Johnson & Dean bereits 1904 auftraten.38
B ÜHNE /L EINWAND Die Grenzen von Kino und Varieté waren bis in die 1910er Jahre fließend. Beide standen im Dienst der »Attraktion« und beeinflussten sich gegenseitig. »Many trick films [were], in effect, plotless, a series of transformations strung together with little connection and certainly no characterization,« schreibt Tom Gunning in Cinema of 34
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Clement Chéroux/Ute Eskildsen (Hg.): Frankierte Fantastereien. Das Spielerische der Fotografie im Medium der Postkarte, Göttingen 2007; Ilka Becker: Agencement und Amusement. Duchamp, Slapstick und retroaktive Geschichten der Moderne, in: dies./Michael Cuntz/Astrid Kusser (Hg.): Unmenge. Wie verteilt sich Handlungsmacht? München 2008, S. 93-121. Marinetti, Variety, S. 116-122. Filippo Tomaso Marinetti: Manifesto of the Futurist Dance (1917), in: Flint (Hg.): Marinetti, S. 137-141, hier: S. 138. Zu einer kritischen Einordung Marinettis vgl. Kap. I. 1. Bühnentanz/Verwandlungsakt. Marinetti, Manifesto, S. 138. Vgl. Lotz, Johnson und Dean. Das Tanzpaar trat 1911 auf einer ihrer zahlreichen Europa-Tourneen auch in Italien auf. Nach den sonstigen Beschreibungen der Programme ist aber unwahrscheinlich, dass sie den Cakewalk mit dem Kinetoskop noch im Programm hatten.
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Attractions.39 Das frühe Kino ließ sich von Transformationsakten inspirieren, und umgekehrt veränderten die neuen technischen Möglichkeiten die Darstellung bewegter Körper auf der Bühne. In Cakewalk Infernal von Georges Méliès tanzten 1903 selbst die Bewohner_innen der Hölle mit dem Teufel einen Cakewalk.40 Méliès ließ Figuren auftauchen und verschwinden, wie er es davor auch als Zauberkünstler auf der Bühne getan hatte. Doch er nutzte die filmtechnischen Möglichkeiten auch, um den Cakewalk selbst auf eine neue Art und Weise sichtbar zu machen: An einer Stelle machen sich die Beine des cakewalkenden Teufels selbständig und tanzen – unabhängig vom Rest des Körpers in der Luft. Damit dreht Méliès den Körper in Schieflage mit den weit vorausschreitenden Beinen noch eine Runde weiter. Die Beine bewegen sich tatsächlich unabhängig vom Oberkörper. Tanzen war seit den ersten Jahren des Kinos ein beliebtes Filmmotiv. Als erste der kurzen, zwischen 30 Sekunden und mehreren Minuten dauernden Tanzsequenzen listet der Katalog des American Film Institute für 1894 einen Imperial Japanese Dance, Aufnahmen der Varieté-Tänzerin Annabelle mit einem Serpentine Dance 1895 und 1896 Dancing Darkies: »A company of little darkies showing off their paces to the music of the banjo.«41 Für 1897 ist ein erster Cakewalk verzeichnet: A Coon Cakewalk, der auch unter den Titeln Comedy Cake Walk oder Darkey Cake Walk kursierte.42 Für Deutschland rekonstruierte Birett das zeitgenössische Filmangebot ebenfalls anhand von Katalogen und Anzeigen und nennt als erste Tanzfilme Aufnahmen von Tanzenden Bären 1897. Es folgen Aufnahmen aus dem Moulin Rouge 1900 und Tänze aus Algerien und der Türkei 1901.43 Drei Tendenzen zeichnen sich in den frühen Tanzfilmen ab: Die Tänzer_innen wurden nicht beim Namen genannt, sondern repräsentierten eine »Kultur«.44 Oder sie hatten Namen, vermarktbar durch ihre Prominenz in der Welt des Varieté: An-
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Tom Gunning: The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the AvantGarde, in: Thomas Elsaesser (Hg.): Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56-62, hier: S. 58; Wanda Strauven (Hg.): The Cinema of Attractions Reloaded, Amsterdam 2006. Cakewalk Infernal (F 1903), Regie: George Méliès, veröffentlicht auf Jacques Meny: Méliès The Magician [UK 1997/DVD 2001]. Vgl. American Film Institute (AFI) Catalog, Beginnings 1893-1910: Dancing Darkies (USA 1896), American Mutoscope Co.; Serpentine Dance – Annabelle (USA 1895), Edison Mfg Co. Colored, mit Annabelle Moore. Vgl. AFI Catalog, Beginnings: A Coon Cake Walk (USA 1897), American Mutoscope Co., copyright American Mutoscope and Biograph Co. 11 May 1903. Birett, Filmangebot. Die Filme sind in beiden Katalogen chronologisch geordnet und zusätzlich über Titelregister und Schlagworte auffindbar. Vgl. AFI Catalog, Beginnings: Imperial Japanese Dance (USA 1894), Edison Mfg. Co., mit den Sarashe Sisters; A Country Dance (USA 1897), American Mutoscope Co.; Dancing Darkey Boy (USA 1897), Edison Mfg Co.
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nabelle Moore, Franchonetti Sisters, Dolorita, Fatima etc.45 Andere erstellten Typen: Parisian Dance, The New Couchee Dance oder eben der Cakewalk.46 Obwohl sich letzterer gerade in New York zu einem populären Ereignis entwickelte, das in Wettbewerben namentlich bekannte Gewinner hervorbrachte, behandelten die Kataloge der Verleihfirmen die Cakewalker_innen anonym.47 Zwar sollte diesen Beobachtungen nicht zuviel Intention von Seiten der damaligen Produzent_innen unterstellt werden, denn auch hier ist die Überlieferung bruchstückhaft, doch es fällt auf, dass keine der berühmten Cakewalker_innen der 1890er Jahre gefilmt wurden oder namentlich verzeichnet sind. Während die meisten Aufnahmen entweder weiße oder schwarze Tänzer_innen zeigen, finden sich in den Beschreibungen Hinweise, dass sie auch gemeinsam auftraten. Besonders ausgestellt und sichtbar gemacht wird dies in französischen Aufnahmen wie Méliès Cakewalk Infernal oder Lumières Le Cakewalk Au Nouveau Cirque.48 Hier werden jeweils Bühnensituationen aus dem Varieté abgefilmt, fantastisch überhöht bei Méliès, realistisch inszeniert bei Lumière. Beide Filme fallen dadurch auf, dass weiße und schwarze Tanzpaare zusammen auf der Bühne stehen. Besonders Le Cakewalk Au Nouveau Cirque vermittelt den Eindruck, hier könne jeder nach seiner Fasson tanzen und trotzdem passe am Ende alles bestens zusammen. Zuerst treten zwei schwarze Männer in eleganter Abendgarderobe auf, einer von ihnen trägt Frauenkleider, der andere Gehrock, Spazierstock und Zylinder. 45
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Vgl. AFI Catalog, Beginnings: Fatima (USA 1897), American Mutoscope Co. Bei Fatima handelte es sich um eine syrische Tänzerin, die 1893 auf der Weltausstellung in Chicago aufgetreten war und danach durch die USA tourte. Ihr Erfolg trug entscheidend zur Entstehung des Hooche-Cooche bei, ein hüftlastiger Bühnentanz, der auch den Striptease beeinflussen sollte. Fatima hatte viele Imitatorinnen, die unter ihrem Namen auftraten, insofern steht nicht fest, ob dieser Film tatsächlich sie selbst zeigt. Vgl. AFI Catalog, Beginnings: Parisian Dance (USA 1897), Edison Mfg. Co.; The New Couchee Dance (USA 1898), Verleih S. Lubin; Cake Walk (USA 1898), Verleih S. Lubin. Interessanterweise finden sich gerade bei diesem ersten Film Coon Cakewalk von 1897 noch Hinweise auf eine spezifische Aufnahmesituation mit professionellen Tänzer_innen: Ein Verleiher behauptete, es handle sich um »a company of New York darkies« und datierte die Aufnahme auf 1897. Eine alternative Zuordnung behauptete, der Film sei 1900 in Philadelphia gedreht worden und zu sehen sei das Americus Quartet. Vgl. AFI Catalog, Beginnings. Le Cakewalk Au Nouveau Cirque (F 1902), Regie: Louis Lumière, Cinématèque Francaise, Kopie im Tanzarchiv Köln. Aufnahmen aus dem Archiv von Gaumont schreiben eine kürzere Aufnahme dieses Auftritts jedoch Alice Guy, der ersten Filmemacherin der Filmgeschichte, zu. Gaumont: Le Cinema Premier, F 1897-1913 [DVD 2008]. Entweder machten beide, Lumière und Guy, Aufnahmen von diesem Auftritt, oder der Film wurde fälschlicherweise einem von Guys männlichen Kollegen zugeschrieben, was häufig vorkam. Vgl. Nicole-Lise Bernheim/Claire Clouzot: Vorwort, in: Alice Guy: Autobiografie einer Filmpionierin, Münster 1981.
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Dann treten zwei schwarze Kinder auf, dann zwei weiße Frauen ganz in Weiß. Wieder hat eine von ihnen Männerkleider an, diesmal Kniebundhosen zum Frack. Am Ende treten Les Elks auf, ein weißes Tanzpaar. Sie trägt ein langes Kleid, er einen grotesk ausgestellten Gehrock. Der Tanz wird immer ausgelassener. Bei den ersten Paaren schwankte er noch zwischen Komik und Eleganz, mit dem letzten Paar werden die Bewegungen ausladender, bis schließlich die Tänzerin dieses Duos ihren ganzen Oberkörper rhythmisch bewegt, so dass ihre langen dunklen Haare aus dem Dutt rutschen. Sie tanzt einfach weiter, in einer Bewegung, die dem Headbanging bei heutigen Heavy Metal Konzerten nicht unähnlich ist. Am Ende des Films, nachdem alle nacheinander auf diese neue Art und Weise gegangen sind, kommen die TänzerInnen zu einem großen Finale zusammen und tanzen – wieder jeder nach seiner Fasson – zusammen im Kreis. Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit erzeugen sie einen außerordentlichen Schwung. Von dieser Filmaufnahme wurden ganze Serien von Bildpostkarten in Umlauf gebracht.49 Kostüme und Bildhintergrund entsprechen einander, doch diese Konstellation des großen Finale wurde nicht nachgestellt. Die Karten zeigen stets nur Paare in ihren Tanzposen. Wer den Film oder die Aufführung nicht gesehen hat, erfuhr nicht, dass es sich um einen gemeinsamen Auftritt handelte. Auch die Bildunterschriften betonen Differenz: »Les Nègres«, »Les enfants nègres« steht unter den Bildern der schwarzen Tänzer_innen. Nur die beiden weißen Tanzpaare werden mit ihrem Künstlernamen vorgestellt: Les Soeurs Pères und Les Elks. Sieben Aufnahmen ihres Auftritts dienten als Vorlage für eine Art Tanzstunde: Unter dem Stichwort »Theorie« finden sich am unteren Bildrand jeweils detaillierte Beschreibungen der abgebildeten Tanzfiguren. Es scheint, als habe der Nouveau Cirque gehofft, gerade über ein weißes und heterosexuelles Tanzpaar die Pariser zum Nachtanzen des Cakewalks zu ermutigen.50 In den USA ist bislang keine vergleichbare Situation des gemeinsamen Tanzens filmisch dokumentiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von G. W. Bitzer, der später für G. W. Griffith in Birth of a Nation als Kameramann arbeitete. Bitzer nahm 1903 und 1904 eine Reihe von Tanzfilmen auf; unter anderem filmte er in The Haymarket die berühmte Tanzhalle in der Tenderloin, einem Vier49
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Vgl. die Titel dieser Postkarten »Le Cake-Walk Dansé au Nouveau Cirque. Les Enfants Nègres«; »Le Cake-Walk dansé Au Nouveau Cirque. Les Nègres«; »Nègre Jouyeux Dansant le Cake Walk«; »Le Cake-Walk dansé Au Nouveau Cirque. Les Nègres«; »Le Cake-Walk dansé Au Nouveau Cirque. Les Soeurs Pérés«. Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. »Cake Walk Dansé au Nouveau Cirque – Les Elks. Theorie – La dame et le monsieur à coté de l'autre, le corps penché en arrière, les bras tendus en avant et avec légèreté dansent en levant le genoux aussi haut que possible.« Sammlung Peter Weiss, Hamburg; Mehr zur Rezeption des Auftritts von Les Elks im Nouveau Cirque Gordon, Dances With Darwin, S. 172 ff.
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tel, in dem viele Afroamerikaner_innen lebten.51 Im Jahr darauf filmte er A Seaside Cakewalk, der auch unter dem Titel A Cakewalk on the Beach at Coney Island oder als Cakewalk on the Beach in Umlauf war. Es war wahrscheinlich der erste amerikanische Film, in dem der Cakewalk wie selbstverständlich als Unterhaltungsprogramm für Weiße dargestellt wurde. Dass es hier zu einem segregierten Bild kam, war kein Zufall: Auf Coney Island herrschten – gerade wenn es um das Badevergnügen ging – bis in die 1960er Jahre ungeschriebene Gesetze der Segregation und des Ausschlusses von Afroamerikaner_innen.52 Die Szene war höchstwahrscheinlich für die Kamera inszeniert. In einer Art Prozession tanzten die Paare im Badeanzug an der fest installierten Filmkamera vorbei. Die Aufnahme wich von der üblichen Dramaturgie des Cakewalks ab – sie mündete nicht in einen alle vereinenden Kreis, sondern es blieb bei einer endlosen Promenade. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand damit die Selbstdarstellung vor der Kamera: »A typical crowd of Coney Island bathers in a very ludicrous cake walk on the sand.«53 Viele Beschreibungen in den Verleihkatalogen betonten um 1900, dass ihr Tanzfilm besonders »lively« sei.54 Nach Felicia McCarren versprach das neue Medium Film ein besonders lebendiges Bild vom Leben zu geben, eine Funktion, die es quasi vom Medium Tanz übernahm, dem diese Qualität zuvor zugesprochen worden war. Die Filme verdoppelten damit etwas, das Tanzen bereits dargestellt hatte. »So perhaps the camera does what dance – or to be more precise, a certain apprehension or reception of dance – had done previously; making liveness into an image, taking the spectator into a different experience of time or space, bringing to the eye what was previously imperceptable.«55
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In diesem Viertel began der Race Riot von 1900, vgl. das Kap. II.1. New York. Vgl. Michael Immerso: Coney Island. The People's Playground, New Brunswick 2002, S. 168-169. Vgl. AFI Catalog, Beginnings: A Seaside Cakewalk (USA 1904), American Mutoscope and Biograph Co. Vgl. AFI Catalog, Beginnings: The French Acrobatic Dance (USA 1897), American Mutoscope Co.: »A lively French dance by three pretty girls well-known to the vaudeville stage.« The New Lipman Dance (USA 1899), Verleih S. Lubin: »This is a most lively picture and a very popular subject. A man and a woman are seen dancing a number of fancy figures, and, after a turn or two, she suddenly leaps on the table, presenting her dainty foot, which he kisses. He appears to enjoy the act, for he chucks her under the chin and repeats the operation. An excellent film; full of life.«; vgl. auch Buck Dance (USA 1903), The Haymarket (1903), Schoolgirls Dancing (1903) und Soft Shoe Dance (1903). McCarren, Dancing Machines, S. 28.
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Genealogisch gesprochen gäbe es damit eine Verwandtschaft von Tanzen und Film. In der Frühzeit des Kinos kam es zwischen beiden zu eigentümlichen Konvergenzen und Interferenzen.56 Dabei übten Zuschauer_innen und Produzent_innen zugleich die Spezifizität dieser Medien ein. Denn wenn sich das neue Medium Film zu sehr dem Varieté annäherte, bestand die Gefahr, dass der Unterschied zwischen beiden unwahrnehmbar würde. Das Organ der Variétéwelt berichtete 1913 über »Edisons Kinotophon in Wien«, frühen Experimenten mit der Synchronisierung von Bild und Ton. »Bei allen gesungenen und gesprochenen Leistungen deckten sich Bild und Stimme vollständig. Ein Orchester spielte im Einklang mit dem Kapellmeister, Veteranen trommelten, Tanzlieder wurden gesungen, und auch zwei bellende Hunde liefen über die Bühne. Es war ein Triumph der Realistik, nur fehlten die Farben.«57
Der Artikel fasste Berichte aus verschiedenen Zeitungen zusammen: Für die einen hatte diese Synchronisierung etwas »Geisterhaftes«, andere berichteten von einem überwältigten und sogar erschütterten Publikum. Der Film zeigte erst Bilder aus Südamerika, dann hielt ein Experte einen Vortrag über das »Kinetophon«, und zum Abschluss kamen Aufnahmen von einer Minstrel show aus den USA. »Ueberlebensgroße Figuren erscheinen auf der Leinwand, aber nein, sie kommen wirklich, sie singen, scherzen und tanzen. Dann eine ganze Variétévorstellung. Ein Neger parodiert einen Volksredner, auf englisch natürlich, man versteht jedes Wort, dann kommen Minstrels mit ihren grotesken Gesängen und Tänzen, man vergißt, wo man ist, fühlt sich ganz im Variété, lacht laut. Als es wieder hell wird, klatscht man Beifall, aber wahrhaftig nicht der Erfindung, deren man vergessen hat, sondern den famosen, urkomischen Negern.«58
Um diesem Vergessen vorzubeugen, schalteten die Organisatoren im letzten Teil der Vorführung manchmal den Projektor ab, ließen den Ton allein laufen und verblüfften ihr Publikum damit, wie die Bilder wieder genau synchron mit dem Ton einsetzten. Das Publikum diskutierte nach der Vorstellung. Während die einen eine Revolution des Kinos vermuteten, diagnostizierten die anderen den Untergang des Theaters.
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Vgl. zur »spontaneous intermediality« zwischen frühem Film und Tanz Laurent Guido: Rhythmic Bodies/Movies. Dance as Attraction in Early Film Culture, in: Wanda Strauven (Hg.): The Cinema of Attractions Reloaded, Amsterdam 2006, S. 139-158, hier: S. 143. Edisons Kinotophon in Wien, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (248): S. 8. Edisons Kinotophon in Wien, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (248): S. 8.
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Von einer anderen, nicht weniger eindrücklichen Verschränkung der medialen Konstellation Bühne, Kino und Tanz berichtete Das Organ der Variétéwelt 1913. Der französische Filmschauspieler und Komiker Max Linder, einer der ersten internationalen Stars des Kinos, trat im Varieté Alhambra in Paris mit dem Akt »Der Tango ist Schuld daran« auf: »[N]ach längerer Pause und einigen beunruhigenden Ausrufen hinter dem Vorhang erscheint unter allen Anzeichen von Verlegenheit der Regisseur und teilt dem Publikum mit, Max Lindner sei bisher von einer Autopartie nicht zurückgekehrt, seine Nummer müsse daher ausfallen, im übrigen sei die Direktion bereit, jenen, die darauf bestünden, das Eintrittsgeld zurückzuerstatten. Seinen Worten folgt unmittelbar ein Film, der Max zeigt, wie er sich vergebens bemüht, sein Auto auf der Landstraße in Gang zu bringen, wie er es schließlich in Stich läßt, auf ein Pferd springt, und von diesem in einen eben aufsteigenden Luftballon, und sich von diesem in dem Augenblick an einem Seil herabläßt, da der Ballon über der Alhambra anlangt. Und nun sieht man ihn in persona am Seil von der Decke der Bühne herabklettern. Er ringt nach Atem, entschuldigt sich ob seiner Verspätung, verschwindet hinter der Leinwand, und der Akt beginnt!«59
Das Organ hielt es nicht für nötig, seinen Leser_innen mitzuteilen, worum es in dem Akt schließlich ging oder woran der Tango denn schuld gewesen sein soll. Nicht die Story stand im Vordergrund, sondern die Sichtbarmachung der Grenzen des Medialen und das Lachen über eine raum-zeitliche Kontinuität, die nichts als Simulation war. Das Publikum sah erst Max Linder im Film, dann live auf der Bühne. Und es sah ihn mit alten und neuen Transportmitteln und Technologien hantieren. Erst Linders Furchtlosigkeit, seine Reise notfalls auch auf dem Pferd und per Luftballon fortzusetzen, ermöglichten in der Fiktion seine Ankunft im Hier und Jetzt. Der Akt stellte etwas aus, was sich im Alltag des Varietés weit weniger spektakulär hinter den Kulissen abspielte. Auf unterhaltsame Art und Weise konterkarierte er die scheinbar so mühelose Abfolge von Auftritten im Varieté und zeigte den Aufwand und die Anfälligkeit dieser Maschinerie auf. Doch weil er ihr zugleich verpflichtet blieb und Linder heldenhaft alles in Bewegung setzte, um doch zu seinem Publikum zu kommen, blieb er unterhaltsam. Eine solche Nähe zum Publikum suggerierte auch der Titel mit dem Tango, den das Publikum ja auch selbst tanzte, oft direkt im Anschluss an eine Varieté-Vorstellung in Veranstaltungen, an denen sich zum Teil auch die professionellen Tänzer_innen beteiligten, die eben noch auf der Bühne zu sehen gewesen waren.60 Bühnenraum und Außenraum, Vorderbühne
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Variété, Cabaret, Zirkus, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (259). Vgl. F. W. Koebner: Die Bälle der Behrenstraße, Metropol Palais de Danse, in: Elegante Welt 1912 8: S. 10-12: »Und dort in der Ecke, die beiden – ein junger hübscher Kerl mit einer rassigen Tänzerin in weißer Seide. Das sind doch – richtig, das sind Adelaide und
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und Hinterbühne, Zuschauer und Schauspieler, Nähe und Distanz – der Akt stellte die flexiblen Grenzen der Varieté-Situation aus. In seiner Untersuchung Vaudeville and Film argumentiert Robert C. Allen gegen die These von der Verdrängung des Vaudevilles aus der urbanen Unterhaltung durch das Kino. Er zeigt, dass kleine Aufführungsorte einen Wettbewerbsvorteil erwarben, weil sie mit Filmen relativ günstig an hochwertiges Programm kamen, wenn sie den Aufführungsort interessant gestalteten, die Dramaturgie des Abends gut komponierten und innovativ mit Sound umgingen.61 Auch ein berühmter Streik von Beschäftigten im Varieté 1901 hatte nicht solch drastische Auswirkungen wie lange angenommen. Das lineare Erzählkino war keineswegs die logische Weiterentwicklung der filmischen Technik, sondern eine spezifische Kreation, die auf Konkurrenz reagierte und den Bedürfnissen der Zuschauer_innen entgegenkam. Dass es dabei nicht um Realismus, sondern um die Perfektion von Illusion ging, war auch Zeitgenossen bewusst. Man müsse nur die richtigen Auslassungen, Überdeckungen, Farbeffekte und Tonrhythmen finden: »Wir wollen uns täuschen lassen, aber man darf uns diese Absicht nicht zu schwer machen.«62 Kinovorführungen verwandelten sich so seit ungefähr 1907 in »polymorphe Ton-Spektakel«.63 Nach Jonathan Crary ging es im Verlauf des 19. Jahrhunderts darum, einen brauchbaren und produktiven Betrachter zu erziehen, der die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten des Körpers und seiner Sinne an die Wirkkräfte von Maschinen nutzen können sollte. »Der Wahrnehmende wird zu einem neutralen Durchgangsmedium, einer Relaisstation unter anderen, die optimale Zirkulations- und Austauschbedingungen, sei es von Waren, Energie, Kapital, Bildern oder Information, gewährleistet.«64
Die »Bild- und Spektakelindustrie« des 20. Jahrhunderts sei nur ein Aspekt dieser gewaltigen Verschiebung im Verhältnis zum Körper als Organ von Wahrnehmung.
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Hughes, das Tanzpärchen aus dem Wintergarten. Aber so gut wird doch rings umher getanzt, daß nicht einmal die Berufstänzer auffallen.« Vgl. Robert C. Allen: Vaudeville and Film 1895-1915: A Study in Media Interaction, New York 1980. Fred Hood: Die Illusion im kinematographischen Theater, in: Der Kinematograph 1 (2) vom 17. 3. 1907, S. 1-2, abgedruckt in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.): Medientheorie 1888-1933, Texte und Kommentare, Frankfurt am Main 2002, S. 63-66. Vgl. Simon Rothöhler: »It's all recorded; it is all a tape: it is an illusion.« Zur Sound Dimension filmischer Illusionsbildung, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.): ... kraft der Illusion, München 2006, S. 139-155, hier: S. 140. Jonathan Crary: Die Modernisierung des Sehens, in: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2002, S. 6781.
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In der Aufklärung als ein neutrales Instrument des Sehens konzipiert, erwies sich der Körper im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein »Dickicht«, aus dem neues Wissen über das Sehen und seine mangelnde Wirklichkeitstreue gewonnen werden konnte. »[G]enau diese fortgesetzte Beschreibung des Sehens als nicht wirklichkeitsgetreu und im Körper situiert war die Möglichkeitsbedingung für die künstlerischen Experimente der Moderne gleichermaßen wie für neue Herrschaftsformen, für das, was Foucault als »Technologien des Selbst« bezeichnet hat. Untrennbar verbunden mit den Herrschafts- und Spektakeltechnologien des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts waren selbstverständlich Film und Fotografie.«65
Dass die Hegemonie dieser beiden Techniken die Mythen vom Sehen als etwas Wirklichkeitsgetreues, Unkörperliches und Realistisches wiederaufleben ließ, erscheint Crary wie eine Ironie der Geschichte, die »Fata Morgana« eines transparent imaginierten Bezugssystems, das die Moderne längst entthront hatte. Tanzen forderte den Mythos vom entkörperlichten Sehen heraus, denn hier waren alle Sinne gleichermaßen gefordert. Das war im Alltag oft gerade nicht so – schließlich spannten Maschinen am Arbeitsplatz und Transportmittel im Verkehr die Balance- und Orientierungsfähigkeit des ganzen Körpers, seine Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in einer neuen Intensität und oft besonders einseitig ein. Tanzen siedelte sich dagegen gerne dort an, wo es elektrisches Licht gab oder glatte Tanzböden, dazu Musik und andere Tänzer_innen. Ihr Körper war das einzige, was die modernen Arbeiter_innen neben ihrem Lohn von der Arbeit mit nach Hause nehmen durften. Auch wer fast kein Geld verdiente, konnte immer noch Tanzen gehen. Um 1900 begann die Kommerzialisierung von »Phonoobjekten« als Überbegriff für die verschiedenen Techniken der mechanischen Reproduktion von Tönen. Doch bis in den meisten Haushalten ein Grammophon stand, war noch ein langer Weg.66 Die Popularität des Cakewalks ist nicht einfach auf die Zirkulation afroamerikanischer Musik auf Tonträgern zurückzuführen, im Gegenteil hat die Geschichte dieser frühen Aufnahmen gezeigt, dass er hierzulande meist zu den geraden, unsynkopierten Takten deutscher Komponisten getanzt wurde.67 Der Berliner Theaterregisseur Max Reinhardt befürchtete 1914 gar, die »wachsende Begeisterung für seltsame exotische Tänze, speziell für den Tango« stelle eine größere Gefahr für das Theater dar als das Kino. »Ich müsste mich schon sehr irren, wenn diese Tanzepidemie sich nicht binnen kurzem in den Kassenrapporten der
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Crary, Modernisierung, S. 80-81. Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland, 1900-1940, Köln 2009. Vgl. Lotz, Black People, S. 26.
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Theater viel stärker fühlbar machen würde, als je die Kinematographen das vermocht haben.«68 Die Dynamik des Tanzens stellte die Passivität von Zuschauern in den etablierten Institutionen bürgerlicher Unterhaltung in Frage. Wozu für teure Theateraufführungen und Opern bezahlen, wenn man sich auf der Tanzfläche selbst in einen spektakulären Auftritt verwandeln oder den anderer Tänzer_innen (fast) umsonst beobachten konnte? Reinhardt reagierte auf die Herausforderung und baute populärkulturelle Phänomene in seine Inszenierungen ein. Ein Zeitgenosse nannte ihn gar »Erzieher zum Amerikanismus«.69 Noch 1931 brachte er in einer Inszenierung von Jacques Offenbachs Operette Die Schöne Helena einen Cakewalk auf die Bühne.70 Im frühen Kino verlangte anfangs die starre Kamera, dass sich die gefilmten Objekte bewegten. Der tanzende Körper erwies sich als geeignetes, besonders im Varieté anzutreffendes Motiv. Später ermöglichten Tanzfilme die Selbstreflexion über die Frage, was denn angesichts der neuen Möglichkeiten der Stimulation und Simulation eigentlich das Lebendige sei. Das Kino wurde dabei eher als aktivierendes, denn als passiv machendes Medium interpretiert und problematisiert. Die abgedunkelten (aber nicht ganz dunklen) Räume des Kinos und des Varietés erlaubten, neue Bewegungsformen und -räume zu fantasieren, und erzeugten einen Teil der Lust, sie selbst zu erproben.71 Das Kino rührte an »tausend Handlungsmöglichkeiten«, ließ sein Publikum aber zugleich in Ruhe und verpflichte es zu nichts.72 Auf die Frage nach dem Verhältnis von Film und Tanzen angewendet, ähnelt dies der Position der Zuschauer_innen am Rand der Tanzfläche und lockert zugleich die im exhibitionary complex angelegte Selbstüberwachung. Entlang der Grenzen von Leinwand und Zuschauerraum, von Tanzfläche und Bildausschnitt verhandelte noch ein drittes Medium die flexiblen Grenzen dieser medialen Ensembles: die Bildpostkarte. Eine Karte, die um 1910 in Berlin produziert wurde, zeigt laut Bildunterschriften »im Kino« die Aufführung eines »Apachentanz[es]«. Zu sehen ist das Bild einer Aufführung dieses populären Bühnentanzes und darunter, wie aus der Perspektive eines Kinozuschauers, die Stuhllehnen, Rücken und Hüte des Kinopublikums, das auf die Leinwand blickt.73 Die Karte war
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Allerlei, in: Das Organ der Variétéwelt 1913 6 (254) vom 4. Oktober: S. 8. Erich Schlaikjer: Amerikanismus, in: Der Kunstwart 1914 27 (2): S. 102-104. Vgl. eine Besprechung in der Berliner Nachtausgabe, zitiert in: Willibald Eser: Theo Lingen. Komiker aus Versehen, München/Wien 1986, S. 69. Vgl. auch die Karikaturen im Programmheft von Die Schöne Helena, die Tanzbewegungen von Cancan über Cakewalk bis Charleston darstellen. Programmheftsammlung. Deutsches Tanzarchiv, Köln. Elisabeth Büttner: Aktualität als Handlungsraum. Konstellationen des Bildes und Modalität des Gebrauchs im Kino der 1910er Jahre, in: Claudia Liebrand/Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien, Köln 2002, S. 184-197. Büttner, S. 190. Sie zitiert hier Heike Klippel: Gedächtnis und Kino, Basel 1997. Abgedruckt in Chéroux/Eskildsen, Frankierte Fantastereien, S. 43.
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Teil einer Serie von mindestens drei Postkarten, die je verschiedene Momente auf der Leinwand und im Publikum zeigten. Drei mal geht es auf der Leinwand um erotisch aufgeladene Tanz-Konstellationen zwischen einem Mann und einer Frau. Und in zwei Postkarten verhält sich auch das Publikum entsprechend: Arme werden um Schultern gelegt, Köpfe schmiegen sich an die Nachbarin, ein Paar küsst sich. Die Motive inszenieren so eine Korrespondenz zwischen dem Geschehen auf und vor der Leinwand und werfen ähnlich wie beim Tanzen das Problem der Imitation auf. Solche Postkarten stellten die »doppelte Realität« des Kinos aus, die neben der Realität der auf der Leinwand abgebildeten Ereignisse auch die ZuschauerLeinwand-Beziehung umfasst.74 Diese Situation adressierte ihre Zuschauer_innen als Menge, die sich in einem öffentlichen Raum versammelt.75 Man konnte den Blick im Bild und zwischen Leinwand und Publikum herumwandern lassen. Dabei entstand ein spezifischer Handlungsraum, der nach Elisabeth Büttner Aktualität erzeugte, die weder an einen bestimmten Ort noch an eine bestimmte Gegenwart gebunden war.
P OSTKARTE /F OTOGRAFIE /K ARIKATUR Um 1900 setzten fotografische Portraits der international bekannten Tänzerin Cleo de Merodes eine ungeheure Nachfrage in Gang. Von keiner anderen Person gab es um 1900 eine ähnlich hohe Auflage von Portrait-Postkarten. Die Sammlerzeitschrift Das Blaue Blatt berichtete 1906, weltweit existierten ca. 50 Millionen Karten von ihr, womit sie sogar den deutschen Kaiser weit hinter sich gelassen habe. Doch ganz allgemein gilt: Tänze und Tänzer_innen waren äußerst beliebte Postkartenmotive.76 Die Entstehung schwarzer Modetänze koinzidierte mit dieser Blüte des Mediums Postkarte, das zwischen 1890 und 1910 zu einem wichtigen Experimentierfeld für technische Innovationen in Drucktechnik und Bildgestaltung avancierte.77 Weil die meisten Zeitungen noch keine vergleichbare Qualität in der Reproduktion von Bildern bieten konnten, waren Bildpostkarten nicht nur unterhaltsam, sondern auch
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Vgl. Thomas Elsässer: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 87. Vgl. Miriam Hansen: Early Cinema, Late Cinema. Transformations of the Public Sphere, in: Linda Williams (Hg.): Viewing Positions. Ways of Seeing Film, New Brunswick NJ 1995, S. 134-152, hier: S. 138. Vgl. Neues vom Ansichtskarten-Sport, in: Das Blaue Blatt 1906 21 S. 249-251, hier: S. 251; vgl. auch Christian Corvisier: Cleo de Merode et la photographie. La première icône moderne, Paris 2007, S. 52-53: »Si l'on ne peut assurer qu'elle ait été la femme la plus photographiée de l'époque, elle est celle dont l'image a été le plus démultipliée par la carte postale à l'échelle internationale.« Ebd., S. 53. Vgl. Cheroux/Eskildsen, Frankierte Fantastereien.
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informativ und besaßen oft Nachrichtenwert.78 Postkarten mit Motiven des Cakewalks finden sich vor allem auf Werbekarten, Künstlerpostkarten und Witzpostkarten mit oft rassistischen Karikaturen. Zwei Eigenschaften zeichnen das Medium aus: Es zirkulierte öffentlich sichtbar über den Postweg. Und es brachte den Cakewalk aus Tanzhallen und Nachtlokalen ins heimische Wohnzimmer. Nicht alle wurden verschickt, viele kauften Karten für private Sammelalben.79 Postkarte und Tanzen gingen aber bereits im Tanzsaal ein eigentümliches Bündnis ein. Veranstalter luden ihre Gäste ein, gleich vor Ort eine Postkarte an Freunde daheim zu verschicken.80 Für die Besitzer von Tanzhallen war dies doppelt lukrativ: Sie verkauften Postkarten und brachten ihre Kunden außerdem dazu, Werbung für sie zu machen.81 Drucksachen hatten den bürgerlichen Ballsaal schon im gesamten 19. Jahrhundert begleitet. Auf Tanzkarten fanden Besucher_innen eine Liste der angesetzten Tänze vor, zu denen sich ihre jeweiligen Tanzpartner_innen eintragen sollten. Diese Praktiken des Aufzeichnens und Auflistens auf bebilderten und datierten Drucksachen schufen nicht nur Souvenirs, sondern machten das Geschehen für Eltern und andere Aufsichtspersonen im Nachhinein überprüfbar.82 Bildpostkarten hatten um 1900 also eine enorme Präsenz, in öffentlichen wie privaten, urbanen und ländlichen Räumen. Sie waren in Gasthäusern und Zeitschriftenläden, Kaufhäusern, bei fliegenden Händlern und sogar im Zug zu kaufen. Sie lagen in Schaufenstern aus und steckten in Postkartenständern, viele Geschäfte spe78
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Vgl. eine Postkarte mit Cakewalkmotiv der American News Company, die Dependancen in New York, Berlin, Leipzig und Dresden hatte, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Ungefähr zwei Drittel der hier untersuchten Karten aus der Sammlung Weiß wurden nicht verschickt, im Jargon der Postkartensammler, sind nicht gelaufen. Daraus lassen sich aber nur bedingt Rückschlüsse auf das Sammelverhalten um 1900 ziehen, weil es sich auch um individuelle Charakteristika der Sammlung Weiß handeln könnte. Karten, die nicht gelaufen sind, gelten als wertvoller. Vgl. auch das folgende Kapitel Sammeln/Sampeln. Vgl. Max Ressel: Im Ballsaal. Saalpostkarten-Grüsse, Mühlhausen 1919. Das Buch ist in Bibliothekskatalogen noch verzeichnet, allerdings auf Anfrage als Kriegsschaden gemeldet und gilt als verschollen. Vgl. auch Anna Ananieva/Christiane Holm: Phänomenologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit, in: Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.): Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Köln 2006, S. 156-187. Vgl. »Grüsse aus der Tanzstunde«, Tanzkartensammlung, Deutsches Tanzarchiv Köln. Ein Merkbuch für Tanzerinnerungen ging noch weiter: Die Benutzer_innen sahen sich aufgefordert, in mehrspaltige Tabellen einzutragen, welche Tänze sie mit wem getanzt hatten, ob sie sich gut unterhalten fühlten und wann sie nach Hause zurückgekehrt waren. Im vorliegenden Fall scheint die Benutzerin aber wenig Freude daran gehabt zu haben, nur beim ersten Mal folgte sie den Vorgaben und brach das Vorhaben überhaupt nach wenigen Einträgen ab. Vgl. Merkbuch für Tanz-Erinnerungen, TanzkartenSammlung, Tanzarchiv Köln.
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zialisierten sich auf ihren Verkauf. Dazu kamen mindestens seit 1896 Postkartenautomaten.83 Die Bildpostkarte profitierte von der Gründung des Weltpostvereins 1874, mit dem ein System internationaler Kooperation entwickelt worden war, das sich über internationale Abkommen und koloniale Expansion globalisierte.84 Deutschland entwickelte sich als technisch versiertes Billiglohnland zu einem der weltweit führenden Produzenten.85 Wie häufig im Fall eines neuen Mediums war die Nachfrage anfangs größer als das Angebot. Die Industrie war ständig auf der Suche nach Motiven und Ideen. Die Verlage schrieben nicht nur Wettbewerbe aus, sondern kopierten und zitierten auch, was das Repertoire der visuellen Kultur hergab. Bildrechte wurden häufig missachtet.86 Abbildung 13: »Cake Walk (Negro Dance) No. 1.« New York 1900.
In diesem Kontext ist auch die Produktion der Serie »Cake Walk (Negro Dance)« in New York City zu verorten. Sie wurde um 1900 aus den USA nach Deutschland geschickt und zeigt die Cakewalker Bert Williams und George Walker mit Partnerinnen. Diese Serie findet sich in fast allen von mir untersuchten Sammlungen und
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Vgl. Jutta Haack: Bildpostkarten mit Glückwünschen. Zu Typologie und Funktion von Geburtstagskarten zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg, Dissertation Universität Hamburg, 1988 (Fachbereich Kulturgeschichte und Kulturkunde). Vgl. Geary, Delivering Views. Vgl. Christa Pieske: Das ABC des Luxuspapiers, Herstellung, Verarbeitung, Gebrauch, 1860-1930, Berlin 1983, S. 44-48; Helmut Beer: Grüsse aus Nürnberg. Nürnberg in Ansichtskarten um 1900. ›Auf dem Weg zur Großstadt‹, Nürnberg 1992. Dagegen begannen sich aber gerade Varietékünstler_innen zu wehren, die ein »Recht am eigenen Bild« einklagten, vgl. Ein grober Unfug, in: Das Variété 1902 1 (2).
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muss in hoher Auflage zirkuliert sein.87 Viele wurden einfach kommentarlos nach Deutschland geschickt, andere mit Beschriftungen versehen, die sich nicht auf die Karte beziehen. »Ziemlich langweilig, denn hier ist zu Ostern nichts los«, schrieb Albert aus Hoboken, New Jersey 1900 an Betty in Hamburg. Nach und nach schickte er weitere Karten der Serie an dieselbe Adressatin (Abb. 13). 88 Die relativ schlechte Qualität dieser Bilder hatte möglicherweise mit ihrer Zweitverwertung zu tun. Williams und Walker hatten sich 1897 zusammen mit zwei Partnerinnen 1897 für das New York Journal fotografieren und interviewen lassen. Diese Bilder montierte der Postkartenverlag Franz Huld aus New York auf Postkarten und veröffentlichte sie unter dem Titel »Cakewalk (Negro Dance)«.89 Die Namen der Abgebildeten fielen weg. 1905 warb Wunibald Kretzschmann aus Regensburg für sein Produkt »Kummer's Kuchen« mit eben diesen Aufnahmen von Williams und Walker, die auf Postkarten als »Original Aufnahmen von Franz Huld, New York« gekennzeichnet waren. Die Qualität der Bilder wurde in diesem Prozess immer schlechter. 90 Deutsche Migrant_innen nutzten afroamerikanische Motive häufig, um mit Familie und Freunden zu kommunizieren. Sie standen für das, was an den USA neu und anders war als in Europa. Darunter waren viele rassistische Motive, die bisweilen zu sexualisierter Kommunikation zwischen einem Mann und einer Frau benutzt wurden (Abb. 14).91 Indem die Absender die industriell produzierte Massenware auswählten, kommentierten und verschickten, unterschrieben sie gleichsam ihre Botschaft.
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Es handelte sich um Reproduktionen von Fotografien, die der Postkartenproduzent aus einer Fotostrecke im New York Journal kopierte. Sie ist abgedruckt in Brown, Babylon Girls, S. 151. Im Original sehen Körper und Kleidung weniger künstlich und ausgeschnitten aus. »Cake Walk (Negro Dance No. 3). Franz Huld Publisher«; »Cake Walk (Negro Dance No. 4)«; »Cake Walk (Negro Dance No. 2). Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln Auf diesen Bildern tanzen Bert Williams und George Walker mit der afroamerikanischen Tänzerin Stella Wiley und einer unbekannten Frau. Die Werbung für die American Tobacco Company wurde dagegen mit Overton produziert. Die Bilder wurden also nicht von dort kopiert, wie Brooke Baldwin annimmt, sondern aus der Zeitschrift. Abgedruckt in New York Journal, 22. August 1897, vgl. Brown, Babylon Girls, S. 151. Auf den Postkarten sind sie spiegelverkehrt abgedruckt. Vgl. »Kummers Kuchen«, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. »Mein liebes Fräulein marie. Im alten Jahre sende meine herzl. Grüße, für zu küssen sind sie zu weit entfernt von mir. Hoffe Sie wohl und munter. Viele Grüsse an Frl. Schwester und an Frl. Bloch. Herzl. Grüße Jocob Kahn Was denken sie über diesen schwarzen Mann? Hier gibt es nur Neger, nicht zum [p?]ou[ss?]ieren.« Handschriftliche Mitteilung, Postkarte verschickt vor 1907 aus den USA nach Landau in der Opferpfalz.
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Doch dieses Gegenzeichnen konnte Bildbedeutungen auch verschieben und unterlaufen. Abbildung 14 und 15: »Way down South in Dixie«
»Four of a kind«
Eine deutsche Migrantin, deren Sprache sich schon in eine Mischung aus Deutsch und Englisch verwandelt hatte, schrieb auf eine Karte, die sie 1907 von South Dakota nach Wien schickte: »Come 26 July in Hamburg an.« (Abb. 15) Ihre Unterschrift »Eure Adolphine« setzte sie über das Bild eines schwarzen Mädchens, die zusammen mit drei anderen Jugendlichen ein Gruppenbild abgab. Sie behandelte es augenzwinkernd, als sei es ihr eigenes Portrait. »Adolphine« blickte mit ihrer schräg auf dem Kopf sitzenden Mütze und ihren übereinander geschlagenen Beinen verschmitzt zu dem neben ihr sitzenden Jungen mit roter Baseballmütze. Ihre Haltung, ihr Gesicht, ihr leuchtend pink nachkoloriertes Hemd – etwas muss der Absenderin gefallen haben, und sei es nur die selbstreflexive Geste, mit der sie die Daheimgebliebenen in amerikanisiertem Deutsch darauf vorbereitete, wie sehr sie Amerikanerin geworden war.92 Manche nutzten Werbekarten oder Karikaturen des Cakewalks, um während eines Ausflugs kollektive Grüße von einem Ausflug an die Daheimgebliebenen zu senden (Abb. 6). So bot die Postkarte auch die Möglichkeit, Zustimmung oder Ablehnung zum eben gerade Gesehenen zu kommunizieren.93 Viele Karten sind ohne große Aufmerksamkeit bekritzelt und mit oft unleserlichen Kommentaren versehen, die Rückschlüsse auf den nicht ganz nüchternen Zustand der Absender zulassen. Bisweilen passierte dabei etwas Eigentümliches: Die Besucher führten die Aufführung auf dem Papier fort, kommentierten und veränderten sie. Diese Postkarte der Louisiana Amazon Guard ist am unteren Bildrand mit folgendem Kommentar ver92 93
Die Postkarte wurde von »Illustrated Postal Card Co. New York – Germany« produziert und verweist auf die transatlantische Verflechtung der Postkartenindustrie. »Speyer's Wintergarten Nürnberg«, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln.
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sehen. »So schön sind die doch nicht. Übrigens bin ich für die letzte rechts!« Danach eine Reihe von Unterschriften. Der Poststempel ist unleserlich, ebenso wie die Adresse. Sicher ist nur, dass der Adressat ein Mann war. Dieselbe Gruppe schickte zu einem früheren Zeitpunkt und von einem anderen Ort ein anderes Motiv der Louisiana Amazon Guard an eine Frau und hielt die Beschriftung dabei neutraler. »Grüße und Prosit« stand da neben den individuellen Unterschriften. Diese Karte wurde 1902 aus Braunschweig verschickt und koinzidierte mit der Tournee der Truppe durch Deutschland. Postkarten waren um 1900 ein Medium alltäglicher Kommunikation. Sie dienten unterschiedlichen Zwecken: Verabredungen, nüchternen Mitteilungen, sogar geschäftlichen Zwecken. Meist standen Motiv und Beschriftung in keinem direkten Verhältnis zueinander. Auf Karten mit Cakewalk-Motiven oder anderen Darstellungen von Afroamerikaner_innen finden sich jedoch häufig explizite oder implizite Bezüge zwischen Bildmotiv, Bildunterschrift und individueller Beschriftung. Viele waren sexistisch und rassistisch, doch manche nutzten das Motiv auch, um das Thema Kommunikation zu verhandeln. Ein Mann verschickte 1905 eine in Deutschland produzierte Karte mit dem Motiv eines Tanzpaars, das sich aufmerksam und fröhlich lächelnd anblickt. Daneben fragte der Absender, warum die Adressatin ihn denn nicht mehr besuchen komme, seine Mutter und Geschwister würden sich schon wundern. Ob sie denn böse sei? »Ich wüßte nicht wieso.«94 Noch einen Schritt weiter ging die Absenderin dieser Karte: 1904 schickte »Helene« das bereits im Kapitel New York beschriebene Portrait von Aida Overton Walker von Homberg nach Frankfurt an »Lina«, doch außer Adresse und ihrer Unterschrift ist diese Karte für Außenstehende unleserlich (Abb. 3). Helene benutzte eine Geheimschrift aus Zahlen und Buchstaben, um mit ihrer Freundin zu kommunizieren. Sie stellte damit für ihre Umwelt eine sichtbare Grenze her, die das Geschriebene nicht in einem Umschlag versteckte, sondern ganz offen einen für andere unlesbaren Code entwickelte. Doch in welchem Verhältnis standen die Motive des Cakewalks zu den Bedingungen, unter denen er getanzt wurde? Veränderten sie sich durch die Dynamik des Modetanzes? Die frühen Aufnahmen des Cakewalks in Europa vermarkteten den Tanz als etwas Neues und Innovatives. Sie verwiesen dabei meist auf andere Medien: Tanzfläche, Bühne, Leinwand und Fotografie. Tänzer_innen, die auf der Bühne auftraten, stellten ihre Auftritte im Fotostudio nach; Filmaufnahmen waren zugleich Momente, in denen fotografiert wurde; die Cakewalker im Nouveau Cirque konnte man 1902 in Paris auf Bildpostkarten, im Kino und im Varieté sehen. Die Serien fotografischer Postkarten boten unterschiedliche Figuren und Positionen an, wobei 94
»Kummers Kuchen schmecken pikfein. Cake Walk (Kuchentanz) Originalaufnahmen von F. Huld, New York«. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln.
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sich der Körper in Schieflage erst nach und nach, durch Zitieren und Kopieren als Ikone des Cakewalks herausbildete. Die ersten Aufnahmen der Louisiana Amazon Guard in Deutschland stellten dagegen nicht den Cakewalk und seine Posen in den Vordergrund, obwohl das Ensemble bei seiner Ankunft in Deutschland 1902 den Cakewalk bereits im Programm hatte. Statt Ganzkörperaufnahmen in Tanzpose produzierte es Gruppenportraits. Die Postkarten sind grafisch gestaltet und spielen mit dem Bildformat: Im einen Fall dramatisieren zwei schwarze, schräge Balken den Ausschnitt des Bildes (Abb. 6), im anderen Fall sind die Ränder der Fotografie abgefächert, so dass die Gesichter wie aus einem Nebel auftauchen. Letzteres war eine Technik aus der Portraitfotografie des 19. Jahrhunderts, ersteres inspiriert von Werbegrafik, wie sie von Artist_inen auch in Varieté-Zeitschriften genutzt wurde. Anders die Serien, die einzelne Tänzer_innen in Tanzposen darstellten, wie in der »Serie: Cakewalk« (Abb. 1 und 8) von 1903. Hier stehen der neue Tanz, der Name des Fotostudios und die Posen der Tänzerinnen im Vordergrund. Wahrscheinlich warb das Fotostudio Becker & Maass die beiden Cakewalkerinnen für das Shooting an.95 Die Serie hebt einen Aspekt des Cakewalks hervor, der in vielen der gleichzeitig über den Tanz kursierenden Texte aus dem Blick zu geraten drohte, die ihn als grotesk und exzentrisch beschrieben – seine Eleganz. Die Aufnahmen sind zugleich einladend und distanziert, lässig und elegant, humorvoll und glamourös. Eine Tänzerin trägt glänzende dunkle Bundhosen und einen hellen Frack, ihre Partnerin ein weibliches Bühnenkostüm. Die Bilder variieren neben den Posen auch Details: Mal trägt die Frau ihren eigenen Hut, mal hat sie den Zylinder ihrer Partnerin auf. Mal trägt die eine den Spazierstock, mal die andere. Mal stehen sie parallel zueinander, als bewegten sie sich synchron, mal bilden sie ein asymmetrisches Ensemble. Doch stets ist die Komposition im Bild ausgewogen und zeichnet ein komplexes Zusammenspiel parallel oder schräg zueinander verlaufender Linien. Die senkrecht gestreifte Tapete im Hintergrund und das immer gleiche Format des Objekts Bildpostkarte verstärken diesen kompositorischen Eindruck. Als Bildpostkarten verkauft, gesammelt und mit der Post verschickt, handelte es sich bei diesen fotografischen Serien um Druckerzeugnisse von relativ hoher Qualität. Das Verhältnis der Kamera zu den Abgebildeten ist distanziert und zugleich vertrauensvoll. Die Gesichter leuchten, Satinhosen und Lackschuhe glänzen. Die
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Die »Serie: Cakewalk« aus Berlin verschwand gleich nach dem Kauf in einer Sammlung. Sie findet sich auch weder in einer anderen der gesichteten Sammlungen noch wird sie in Internet-Auktionen zum Kauf angeboten. Die Vermutung liegt nahe, dass Becker & Maass eine relativ kleine Auflage druckten, während beispielsweise die Serie der Florida Creole Girls oder der Tänzer_innen am Nouveau Cirque in weitaus größeren Auflagen erschienen.
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Abgebildeten blicken direkt in die Kamera, sie lächeln mal verschmitzt, mal freundlich und zeigen sich professionell und natürlich zugleich. Abbildung 16: »Danse du Cake Walk. Les Florida Creole Girls« Paris 1903
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Das gilt auch für die Serie der Florida Creole Girls, die 1902 in Paris produziert wurde.96 Die Frauen tragen ähnliche Kniebundhosen, zeigen allerdings einzeln je eine Tanzpose vor der Kamera. Das Kostüm macht die Silhouette des Körpers und damit die Ästhetik der spitzen Winkel und der schiefen Linien sichtbarer als es die oft ausladenden Frauenkleider der Epoche erlaubt hätten. Die »Serie: Cakewalk« zitiert elegante Abendgarderobe und damit die Situation des Gesellschaftstanzes, die Florida Creole Girls tragen dagegen Bühnenkostüme aus Matrosenhemden, spanisch anmutenden breitkrempigen Strohhüten und schwarzen Kniebundhosen, die kokett ein Strumpfband unter dem linken Knie zu sehen geben. Im Laufe des Monats Juli 1903 verschickte jemand in Frankreich diese Serie, eine Karte nach der anderen, an ein und dieselbe Adressatin. Die Kommunikation beschränkte sich dabei weitgehend auf die Bilder selbst.97 Sie standen auch deshalb im Vordergrund, weil die andere Seite der Postkarten noch gänzlich den Adressen vorbehalten war und von den Absendern sonst nicht beschrieben werden durfte. So blieb nur rund um das Bild etwas Platz für Grüße oder Mitteilungen. Manche versuchten, auf diesem Raum so viel Text wie möglich unterzubringen, andere begnügten sich damit, die Bilder für sich selbst sprechen zu lassen. Welche Botschaften ließen sich mit Cakewalk-Postkarten vermitteln? Manche nutzten die schwungvolle Eleganz, die er vermittelte, um zu einem festlichen Anlass Glückwünsche zu übermitteln.98 Andere luden mit solchen Karten höflich zu einem Cakewalk ein: »Ich hoffe zuversichtlich bald das Vergnügen zu haben, sie wieder in unsere bescheidene [sic] Mitte sehen zu können, und mit Ihnen mal einen dieser feinen Tänze mitzumachen!«99 In diesem Fall war die Karte selbst außergewöhnlich: ein auf Leder gedrucktes Cakewalk-Motiv, das von Budapest aus ver-
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»Danse du Cake Walk. Les Florida Creole Girls (Casino de Paris)« Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Fotograf war Lucien Walery, der sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Fotografen von Varietétänzerinnen entwickelte und in den 1920er Jahren viele der berühmten Aufnahmen von Josephine Baker machte. Neben dem Datum finden sich am unteren Rand der Fotografie, neben der aufgedruckten Bildunterschrift »Danse du Cake-Walk Florida Creole Girls (Casino de Paris)«, handschriftlich knappe Grüße oder Wünsche. Einmal nur steht ein rätselhaftes »Je ne puis rien te promettre a tois. Luce«, sonst wünscht der/die Absender/in Freundschaft und Gesundheit oder bedankt sich für die Karten, die Agnes ihr/ihm geschickt hatte. Schließlich die letzte Karte mit dem Vermerk »La dernière«. »Cake-Walk (Amerikanischer Kuchentanz)«; »Prosit Neujahr«: das Bild zeigt dasselbe Tanzpaar wie in der »Serie: Cakewalk«, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Cakewalk-Postkarte »Ohne Titel«, verschickt von Richard Fröhlich am 31.08. 1908 in Budapest, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln.
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schickt wurde. Rätselhaft bleibt, wieso sie zwar mit abgestempelten Briefmarken versehen, jedoch ohne eine Adresse geblieben ist. Abbildungen 17: Serie Kober, Paris nach 1905, Verlag Brüder Kohn, Wien.
Im krassen Gegensatz zu fotografischen Postkarten des Cakewalks stehen Karikaturen, die auf ein verächtliches und hämisches Lachen setzten. Das Spiel von Nähe und Distanz, von Humor und Glamour wurde hier durch flache Stereotype ersetzt. Gleichsam als Gegenprogramm zur Genauigkeit und Detailversessenheit der Fotografien, der Mode, der Bewegungen zeigten sie plumpe Figuren in schlecht sitzender Kleidung. Rassistische Karikaturen des Cakewalks, die in Deutschland produziert wurden, orientierten sich häufig an amerikanischen Vorlagen: Sie zeichneten übertrieben große Augen und Lippen. Doch wie Thompson in Tango. The Art History of Love betont, musste sich auch das rassistische Abziehbild eines Tanzes noch minimal auf das Original beziehen, um erkennbar zu bleiben, und das geschah in den Karikaturen über die Körperhaltungen, die Position von Armen, Ellbogen, Knien und Füßen. Die Kraft aus dem Boden, aus den geknickten und gebeugten Gelenken und damit der spezifische Schwung dieser Tänze blieben so sichtbar. Solche Posen konnten ein Eigenleben entfalten, verstärkt durch das Kopieren und Zitieren von Motiven auf Postkarten. Der österreichische Maler und Werbegrafiker Leo Kober zeichnete um 1907 in Paris eine Serie, die solche Stereotype in verschiedenen Tanzposen zeigte, darunter auch Figuren des Cakewalks. Jahre später wurde eine dieser Karten nachträglich mit einem Stempel bedruckt: »Tango«. Diese nachträgliche Bildunterschrift machte die in der Logik von Modetänzen veraltete Karte wieder vermarktbar. Doch vor dem Hintergrund der im Kapitel Buenos Aires rekonstruierten komplexen Entstehungsgeschichte des Tangos und seiner vielfältigen Beziehungen zum Cakewalk
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erweist sich die Umbenennung als nicht völlig beliebig.100 In Bildpostkarten des Cakewalks zeigt sich also ein Spannungsverhältnis von Fremd- und Selbstrepräsentation. Abbildungen 18: Serie Fernel, Paris vor 1905
Bildpostkarten des Cakewalks betonten häufig, dass ganz unterschiedliche Menschen ihn tanzten. In der Serie aus dem Nouveau Cirque waren es Frauen und Männer, Schwarze und Weiße, Kinder und Erwachsene, Frauen in Männerkleidung, Männer in Frauenkleidung. Der französische Karikaturist Fernand Fernel nahm diese Frage in einer vor 1905 produzierten Postkartenserie auf und dachte sie weiter. Eine mit »Danse« beschriftete Karikatur zeigt drei weiße, bürgerlich gekleidete Tänzer_innen, zwei älter, eine jünger, in einer typischen Cakewalk-Pose: die Arme
100 Vgl. Torp, Alte atlantische Tangos, S. 27: Kobers Karikatur ähnelt Gesten und Haltungen eines afroargentinischen Tanzpaars in einer Karikatur der Zeitschrift La Illustración Argentina von 1882.
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sind nach vorn gestreckt, die Hände hängen schlaff von den Gelenken, die Knie führen die eigentümliche Promenade an, während der Kopf hinterherhinkt. »Cake Walk« zeigt drei schwarze Cakewalker_innen, die in Kleidung und Aussehen lächerlich und hässlich wirken sollten. Grafisch ähnlich sind vier weitere Karten, »Cake Walk chez les Nègres«, »Cake Walk chez la Baronne«, »Cake Walk chez les Apaches« und »Cake Walk Au Congo«. Im letzten Fall sind zwei Elefanten in gestreiften oder geblümten Unterhosen zu sehen, die auf zwei Beinen aufrecht tanzen und auf den Vorderpfoten Spazierstöcke balancieren. Bei den »Apachen« ist ein weißes Tanzpaar abgebildet, dessen Aufzug zwischen Bühnenkostüm und proletarischer Straßenkleidung changiert: Übergroße karierte Fliege und eine trapezförmig ausgestellte Jacke erinnern an das Varieté, während die Schiebermütze des Mannes und der karierte Rock der Frau ebenso wie die grobschlächtigen Schuhe auf die Straßenkluft des Pariser Subproletariats verweisen, das in der Presse seit den 1890er Jahren als »Apachen« skandalisiert wurde. Die Assoziation dieser beiden Tanzwelten – Cakewalk und Apachentanz – ist in verschiedene Richtungen lesbar: als Befriedung dieser Auseinandersetzung, als Ähnlichkeit auf Grund einer nicht-bürgerlichen Herkunft, oder in Relation zu den anderen Karten der Serie. Denn mit »Cake Walk chez la baronne« unterstellte die Serie, dass der Tanz in der Aristokratie ebenso wie im bürgerlichen und proletarischen Milieu Anklang fand. Somit tanzten alle wie »chez les Nègres« und näherten sich damit der Kultur des Kongo an. Dieses Schreckgespenst war jedoch in Form der dressierten Zirkuselefanten nur in gleichsam gezähmter Form sichtbar. Eine Postkarte mit der Bildunterschrift »Cake Walk à Paris« zeigt zwei Affen auf ihren Hinterbeinen. Einer trägt einen zerknautschten Zylinder auf dem Kopf, der andere eine Jakobinermütze.101 Die Witzpostkarte machte sich über Franzosen lustig, die den Cakewalk tanzten, doch anders als die oben analysierte Postkarte »Humor aus dem Familienbad«. In der Figur des Affen rief sie einen Topos kolonialen Rassismus auf, der schwarze Menschen mit Menschenaffen assoziierte: Die Karikatur weitete ihn nun auf diejenigen Weißen aus, die einen schwarzen Tanz imitierten. Diese Tendenz zeigt Rae Beth Gordons in Dances with Darwin anhand zahlreicher Karikaturen und Kommentare nach. Sie situiert den Erfolg des Cakewalks in Paris im Spannungsfeld kolonialer Rassismen und populärwissenschaftlicher Diskurse um Geisteskrankheit und Degeneration.102
101 »Cake Walk A Paris«, verschickt 1903, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. 102 Vgl. Gordon, Dances with Darwin, S. 172 ff.
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Abbildungen 19: »Cake Walk«. Gedruck vor 1905 in Berlin.
Diese ebenfalls vor 1905 produzierte Serie greift die Logik der cakewalkenden Affen auf, gibt ihr aber eine andere Wendung: Ganz unterschiedliche Tiere sind hier beim Cakewalken zu sehen: Frösche, Affen, Schweine, Esel, Hunde und Katzen. Sie tragen je ein Kleidungsstück, das teils elegant, teils grobschlächtig, teils modern, teils traditionell aussieht. Vermenschlicht dargestellte Tiere waren in der Tradition der europäischen Fabel ein etablierter Topos, den die Postkartenindustrie gerne benutzte. Hier steht die Tierwelt für die Gesellschaft als Ganzes und führt ihre Mitglieder als dressierte und abgerichtete Wesen vor.103 Eine eigentümliche Spannung von Freiheit und Zurichtung, von Anpassung und Differenz zeichnet sie aus. Noch deutlicher verhandelt eine andere Serie aus Deutschland dieses Verhältnis von Dressur und Tanz: Hinter einer Reihe dressierter Hunde auf ihren Hinterbeinen tanzen jeweils ein Zirkusclown, ein Mann oder eine Frau im Reitdress den Cakewalk. In den Händen halten sie alle drei eine Peitsche. Die Hunde stehen auf ihren Hinterläufen und machen die Bewegungen ihrer »Herren« nach. Oder ist es umgekehrt? Ging es um den Cakewalk als unnatürliche Dressur oder um den Gesellschaftstanz im Allgemeinen? Wieder konnten sich unterschiedliche Formen des Lachens an solche Karikaturen anschließen. Sie riefen unterschiedliche Assoziationsräume auf, von Sozialdarwinismus über Zirkus und Varieté hin zu jenem rassisti-
103 »Cake Walk«, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Die Karten sind für den internationalen Verkehr in verschiedenen Sprachen mit der Bezeichnung »Postkarte« und »Weltpostverein« versehen. Sie wurden in Berlin gedruckt.
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schen Humor, der Blackness mit Primitivität und Animalität in Verbindung brachte. Als Jean Gilbert, ein Hamburger Komponist für Revue und Operette, um 1910 sein Lied »Aapenwalzer« schrieb, kam bald eine Postkarte in Umlauf, die auf der Vorderseite die Karikatur eines cakewalkenden Mannes zeigt, während auf der Rückseite der Liedtext zu lesen ist. Das Bild zeigt hinter dem Tänzer ein gutes Dutzend Zuschauer_innen und die Mitglieder der Band, die den im Vordergrund tanzenden Mann begleitet. Alle Abgebildeten sind weiß, aber das Bild arbeitet mit schwarzen Kontrasten. Der Bildhintergrund ist ähnlich wie bei Fernel schwarz eingefärbt, ebenso wie der bis auf das weiße Hemd und das rosa Gesicht ganz in schwarz gemalte Körper des Tänzers. Die Bildunterschrift in demselben Schwarz lautet »Aapewalzer: Mach ich de Aap, ich de Aap.« Der im Kölner Platt verfasste Text erzählt die Geschichte eines Tanzbegeisterten, der auf die Frage, ob er denn nur zum Spaß auf der Welt sei, nur eine stumme Antwort kennt: »mach ich de Aap, mach ich de Aap.«104 Andere Postkarten des Cakewalks nutzten den Paartanz, um Nähe und Begehren zwischen einer Frau und einem Mann darzustellen. Sie thematisierten häufig die Konstellation zwischen einem schwarzen Mann und einer weißen Frau.105 Abbildungen 20: Luis Usabal, gedruckt in Berlin, nach 1905.
Vieler dieser Bilder waren aber keine Karikaturen, sondern Zeichnungen oder Grafiken. Ähnlich wie die eingangs diskutierten Fotografien betonten sie Glamour,
104 »Aapewalzer«, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Aap heißt im Kölner Dialekt Affe. 105 Zur eigentümlichen Verführungskraft solcher Bilder vgl. Kobena Mercer: Avid Iconographies, in: ders./Chris Darke: Isaac Julien, London 2001, S. 7-21.
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Schwung und Ausgelassenheit. Diese Serie von Bildpostkarten mit Tanzmotiven gehört zum Genre der Künstlerpostkarten (Abb. 20).106 Die Blicke, die teils zum Tanzpartner, teils aus dem Bild an einen imaginären Zuschauer gerichtet sind, etablieren ein Beziehungsnetz aus Begehren und Schaulust. Nach dem Ersten Weltkrieg griffen die Dadaisten das Genre Künstlerpostkarte auf. Eine Postkarte mit der Bildunterschrift »The dance of today« diente Georg Grosz als Vorlage für eine Collage, auf der er das Tanzpaar mit ausgeschnittenen Fragmenten von Fotografien von ihm und seiner Frau beklebte, dazu zerschnittene alte Briefmarken des Kaiserreichs, Ausschnitte aus Reproduktionen und eigenen Zeichnungen, postalische Aufkleber und Randabschnitte von Briefmarkenbögen. 107 Den Kopf seiner Frau ersetzte er durch das Bild eines Kinderkopfes, vom ursprünglich auf der Karte dargestellten Paar blieben nur die tanzenden Füße erhalten, die allerdings wie die Beine von zwei eng miteinander tanzenden Frauen aussehen. Überklebte Grosz ausgerechnet das Bild von zwei tanzenden Frauen mit dem Komplex seiner Ehe? 108 Viele Künstler_innen betätigten sich um 1900 als Werbegrafiker_innen und produzierten auch für die Postkartenindustrie.109 Ging die Forschung früher vom Gebrauch der Bildpostkarte in den Händen von Künstler_innen aus, die ein Massenprodukt wieder in ein Kunstwerk verwandelten, fragte sie in den letzten Jahren verstärkt danach, wie die Bildpostkarte neue künstlerische Praktiken inspirierte und die Kunst damit selbst veränderte.110 Besonders in den Arbeiten der Surrealisten spielte die Bildpostkarte eine wichtige Rolle. Sie glaubten, hier das gesellschaftliche Unbewusste studieren zu können und Anschluss an eine Form des kollektiven
106 Unter diesem Begriff untersucht die Forschung Bildpostkarten, die von Maler_innen und Künstler_innen bemalt wurden, sei es als selbst bemalte Unikate oder als Vorlagen für ihre industrielle Fertigung. Eine der ersten Bildpostkarten überhaupt bemalte und verschickte 1880 ein junger Maler namens Philipp Franck mit der Deutschen Reichspost. Vgl. Bärbel Hedinger: »Künstler, Post, Karte – eine Einleitung«, in: Bärbel Hedinger (Hg.): Die Künstlerpostkarte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München/Hamburg 1992, S. 9-18, hier: S. 11. 107 Sabine Blumenröder: »DADA ruht nie – DADA vermehrt sich« – Die Künstlerpostkarte der Dadaisten, in: Hedinger (Hg.), Künstlerpostkarte, S. 24-29, hier S. 27-28. 108 Zu Grosz Verhältnis zu seiner Frau Eva vgl. Hanne Bergius: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, Gießen 1989, S. 176-181, hier: S. 180. Sie geht leider nicht weiter auf die Tatsache ein, dass es zwei Frauen sind, die auf dieser 1922 produzierten Postkartenkollage miteinander tanzen. 109 Vgl. Das internationale Künstlertum im Dienste der Ansichtskarte, in: Das Blaue Blatt 1907 9 (4): S. 42. 110 Altonaer Museum Hamburg: Bemalte Postkarten und Briefe Deutscher Künstler, Hamburg 1962; Hedinger (Hg.), Künstlerpostkarte.
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Denkens zu gewinnen.111 Auch im DADA war die Bildpostkarte ein prominentes Mittel zur Selbstvermarktung und ermöglichte zudem Kommunikation in der netzwerkartigen Struktur der Bewegung: »Legen Sie Ihr Geld in DADA an«, setzten Raoul Hausmann und Johannes Baader 1919 in ausgeschnittenen Schriftzügen auf ihrer »Angekarte«.112 Abbildungen 21: Postkarten mit Tanzmotiven von Leo Rauth, nach 1905.
In Ausstellungen zur Tanzgeschichte wird häufig Bilder von Leo Rauth gezeigt, darunter auch Cakewalk-Motive.113 Der Schüler von Franz von Stuck veröffentlichte sie vor dem Ersten Weltkrieg.114 Manche dieser Bilder zirkulierten auch als Postkarten, darunter eine schwarze Tänzerin in einer Cakewalkpose (Abb. 21). Die erste Karte zeigt einen schwarzen Mann und eine weiße Frau beim Tanzen, die Bildunterschrift identifiziert die Situation als »Cake Walk«. Die Frau ist von hinten gezeichnet, sie wendet sich ihrem Partner schräg von der Seite zu. Der Fokus liegt auf ihrer gebeugten Hüfte, die dadurch sichtbar wird, dass sie die Schleppe ihres Kleides zur Seite angehoben hat, so dass vom Rücken zu den Oberschenkeln eine rechtwinklige Linie sichtbar wird. Dadurch ist ihr Po prominent in der Bildmitte platziert. Auf diese Linie trifft, räumlich aber nach hinten versetzt, das angewinkelte Knie ihres Tanzpartners. Die Spannung im Bild entsteht durch diese beiden ge111 Vgl. Clément Chéroux: Das Kleingeld der Kunst, in: ders. (Hg.), Frankierte Fantastereien, S. 205. Chéroux zitiert hier André Breton. 112 Blumenröder, DADA, S. 26. 113 Vgl. die Ausstellung Black Paris. Kunst und Geschichte einer schwarzen Diaspora im Museum der Weltkulturen in Frankfurt, 2007; und Tanzen Sehen. Museum für Gegenwartskunst Siegen, 2007. 114 Leo Rauth: Tänze, Leipzig 1911.
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genläufigen und doch miteinander verbundenen Bewegungen. Das Tanzpaar ist modisch gekleidet, die Grafik changiert zwischen Eleganz und Dekadenz. Der Kontrast des giftgrünen Kleids der Frau mit ihren leuchtend roten Haaren verstärkt diesen Eindruck. In der mit »Scherzo« betitelten Grafik von Rauth mutiert diese Konstellation von weißer Frau und schwarzem Mann zu einer sexualisierten Fantasie. Bekleidet mit einem blauen Reifrock und einer Korsage, die knapp unter ihrer Brust endet und so ihre nackten Brüste zu sehen gibt, tanzt eine weiße Frau im Arm einer schwarzen Figur, die zwischen grotesk-animalischem Pan und dunkelhäutigem Menschen samt antisemitisch gezeichneter Judennase changiert. Sein Blick ist starr auf die weißen Brüste seiner Tanzpartnerin gerichtet, während diese ihm ins Gesicht blickt. Rote Details wie Lippen, Haarschleifen, Bordüre der Corsage und die Spitze eines roten Schuhs, der unter dem blauen Kleid hervorlugt verstärken, die Sexualisierung. Kontraste und Blickkonstellation, Hautfarbe und Animalisierung passen ins bereits in der Novelle Cakewalk rekonstruierte Schema kolonial-rassistischer Sexualfantasie. Doch Rauth identifiziert diese Szene nicht als Cakewalk, sondern verortet sie als Scherzo in der europäischen Tanzgeschichte. Ganz ohne Worte kommt schließlich die dritte Karte aus. Die schwungvolle Bewegung und das extravagante Kleid der schwarzen Tänzerin stehen für sich. Sie hat ein Bein nach oben geworfen, hält dabei ihren Oberkörper eher aufrecht, doch die schräge Linie ihres am Knie abgewinkelten Unterschenkels wird exakt vom schiefen Sitz ihres Hütchens und der Position ihres mit bunten Bändern geschmückten Spazierstocks wiederholt. Abbildungen 22: »Cake Walk Intime«. Französische Postkarten, vor 1905.
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Cakewalk-Motive mussten auch als erotische Postkarten herhalten. »Cakewalk intime« zeigt eine weiße Varietétänzerin, die bis auf einige Accessoires wie Strümpfe, Schuhe und Hüte völlig nackt ist (Abb. 22).115 Die Bilder sehen aus wie Zeichnungen oder retuschierte, übermalte Fotografien. Die Frauen sind nackt – man sieht Bauchnabel und Brustwarzen – und sie sind es nicht, weil ihre Scham verdeckt ist, als trügen sie ein den ganzen Körper bedeckendes Trikot. Sie tanzen den Cakewalk mit einem Hund, Schwein oder Hasen an der Leine. Die dressierten Tiere verkörpern männliches Begehren, das im Verhältnis zu den weit ausgestreckten Gliedmaßen klein und fremdbestimmt erscheint. Die dritte der hier abgedruckten Karten aus der Serie macht diesen Punkt noch einmal explizit: Zu sehen ist eine Frau, die in einem Ausfallschritt ihren Oberkörper schräg zur Seite verlagert hat. Die Zone zwischen ihren Beinen ist leer, als wäre da nichts, nur Haut. Dieser ohnehin unheimliche Effekt wird durch zwei Objekte noch verstärkt, die sie in ihrer rechten und linken Hand hält: Ein rot leuchtendes Herz an einer Schleife und eine kleine Marionettenpuppe, die einen weißen Mann in Frack und Zylinder darstellt, dessen Glieder an den von ihren Fingern kontrollierten Fäden hängen. Diese Witzpostkarten ermöglichten damit beides – die Fantasie auszuleben, wie ein nackter Cakewalk wohl aussehen könnte, und sie als Angstfantasie des 116 Kontrollverlusts zu verlachen. Diese Motive waren nun aber nicht durch den Cakewalk ins Leben gerufen worden. Auf Plakaten der 1890er Jahre, die in den USA Werbung für Burlesken machten, findet sich genau dieses Narrativ. Die einst transgressive Form, die im 19. Jahrhundert Klassen- wie Geschlechterverhältnisse herausgefordert hatte, stand im 20. Jahrhundert mehr und mehr für Striptease.117 Die Plakate der 1890er Jahre markieren diesen Übergang. In »Bon-Ton Burlesquers« ist eine Frau in typisch kurzberocktem Bühnenkostüm zu sehen. Sie füllt fast das ganze Bild aus. In ihrer rechten Hand hält sie fünf Bänder, in die sich fünf Männer verwickelt haben, die zu ihren Füßen tanzen. Sie sind in Relation zu ihrem Körper sehr klein. So würde eine Frau fünf Hunde an der Leine führen. Nun sind diese Männer nicht wirklich angekettet, sie sind vielmehr verstrickt in diese Bänder, tanzen dabei aber ausgelassen und pro-
115 Die Serie wurde vor 1905 in Frankreich produziert. 116 Um 1900 gab es immer wieder Konflikte um »unsittliche« Postkarten, die von Post und Polizei aus dem Verkehr gezogen wurden. Vgl. Kampf gegen unsittliche Postkarten, in: Das Blaue Blatt 1904 6 (20): S. 241. Allerdings wird hier von einem Postkartenhändler berichtet, der »unzüchtige Abbildungen« nicht nur verkaufte, sondern auch im Schaufenster ausstellte. Der Artikel rief die Bevölkerung auf, gegen solche Händler Anzeige zu erstatten. Auch die Serie Cakewalk Intime wurde nicht verschickt, sondern gesammelt. 117 Vgl. Allen, Horrible Prettiness, S. 195 ff.
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sten der Tänzerin mit Champagnergläsern und Bierkrügen zu.118 Diese Motive setzten sich auch noch in den 1920er Jahren fort, wie Karikaturen in der Zeitschrift Der Junggeselle aus Berlin zeigen.119 So drastisch manche dieser Witzpostkarten waren, sie waren doch nur ein kleiner Teil der heterogenen Bilderflut, die um 1900 den Cakewalk zirkulieren ließ. Sie unterscheiden sich in erster Linie als Fremd- und Selbstrepräsentationen. Erstere waren häufig Grafiken und Karikaturen, letztere häufig aufwändig gestaltete, elegante Fotografien aus dem Fotostudio. Dass sich die Abgebildeten mit diesen Postkarten identifizierten, zeigt sich auch darin, dass sie diese nicht nur persönlich verkauften, sondern auch für ihre eigene Korrespondenz benutzten, und das nicht nur zu geschäftlichen Zwecken, sondern auch zu privaten Anlässen.120 Ebenso relevant ist der Befund, dass nicht alle Fremdrepräsentationen des Cakewalks im gleichen Maße ausbeuterisch waren: Neben ihrem Einlesen in eine vorherrschende Sexualisierung und Kolonisierung des Blicks finden sich auch Bilder, die sich mit der Ästhetik der schrägen Linien verbündeten oder die Spannung von Humor und Glamour aufrecht erhielten. Es gab also Alternativen zu einem rassifizierenden oder sexualisierenden Gebrauch. Das Spannungsverhältnis von Fremd- und Selbstrepräsentation, von Begehren und Ressentiment, von selbstreflexivem und rassistischem Lachen, das in den verschiedenen Postkarten des Cakewalks deutlich wird, lässt sich anhand der vorliegenden Sammlungen nicht quantifizieren. Es relativiert aber die Einschätzung des Verhältnisses von Cakewalk und Postkarte, die Brooke Baldwins Aufsatz aus den 1980er Jahren geprägt hatte. Sie fragt, warum um 1900 so viele verächtlich machende, stereotype und rassistische Darstellungen von Afroamerikaner_innen beim Cakewalk in Umlauf waren. Ihre treffende Dekonstruktion der dabei verbreiteten Stereotype identifiziert das Bildmaterial aber als Ausdruck eines homogenen und statisch gedachten Rassismus. Möglicherweise umfasste ihre eigene Privatsammlung, auf der ihre Argumentation fußt, lediglich stereotype und rassistische Darstel-
118 Vgl. H. C. Minder Litho Co.: Bon Ton Burlesquers 365 days ahead of them all, New York 1898. Theatrical Poster Collection, Prints and Photographs, Library of Congress. www.loc.gov, zuletzt abgerufen am 15.11.2012. 119 Der Junggeselle 1922 4 (4): S. 36 und 1922 4 (5): S. 1. Allerdings fällt hier auf, dass bisweilen auch Frauen als ganz klein dargestellt werden, wenn sie »in die Waagschale« geworfen und als »Leichte Ware« befunden werden. Ebd. 4 (4): S. 22. 120 Vgl. die Karte »Bacchus und Miss Meallan«, die Bacchus 1909 von Wien an Kollegen in Graz verschickte. Auch »Brodie & Brodie« hielten mit ihren aufwendig produzierten, nachkoloriert und mit Glitzer beklebten Werbepostkarten Kontakt mit befreundeten Artist_innen. Vgl. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln; vgl. auch zahlreiche Beispiele in Helen Armstead Johnson Postcard Collections. New York Public Library. Schomburg Center for Research in Black Culture, Special Collections, New York City.
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lungen des Cakewalks aus den USA.121 Tatsächlich fällt ein Qualitätssprung ins Auge, vergleicht man die in Berlin oder Paris produzierten Cakewalk-Postkarten mit solchen, die schon früher aus den USA nach Deutschland geschickt wurden. Die europäischen Studio-Fotografien verliehen den Abgebildeten eine unnahbare Aura. Verführung und Distanz, Virtuosität und Komik hielten sich in einer ausgeglichenen und doch spannungsgeladenen Balance. Eine technisch besonders experimentierfreudige Anfangsphase in der Geschichte der Bildpostkarte zwischen 1890 und 1910 verstärkte eine innovative Umgangsweise des Mediums Bildpostkarte mit den neuen Möglichkeiten der Bewegung und Kommunikation, die der Cakewalk anbot. Damals erprobte die junge Postkartenindustrie in Materialien und Motiven, in Grafik und Applikationen, in Falttechniken und Kolorierungsverfahren, was das neue Medium hergeben könnte. In Postkarten des Cakewalks finden sich solche Experimente besonders häufig: Leder und andere ungewöhnliche Materialien, Handkolorierung und Glitzer, komplexe mechanische Kniffe, das Spiel mit Licht und Schatten stellten mediale Bezugnahmen, Übersetzungen, Übertreibungen, Mutationen einer bereits im Tanz selbst angelegten Lust an Improvisation und Rekombination dar. Verbindendes Element war hier die Faszination mit Bewegung. Wie bereits oben dargestellt, simulierten Serien von Postkarten Tanzbewegungen, indem sie signifikante Posen in einer Reihe abbildeten. Doch dieses Experimentieren ging noch weiter: Mechanische Karten versuchten, Bewegung im Bild der Postkarte selbst zu erzeugen. Ähnlich wie bei einem Hampelmann konnte man ausgeschnittene, auf Karten montierte Bilder der Gliedmaßen von Tänzer_innen mechanisch bewegen. Andere simulierten Bewegung über Licht und Schatten oder optische Täuschungen. Eine französische Firma entwarf eine Schattenkarte, indem sie Tanzfiguren ausschnitt und so auf eine Postkarte montierte, dass sich ein interessantes Schattenspiel ergeben sollte, wenn man eine Kerze vor der Karte hin und her bewegte.122 Besonders ungewöhnlich ist die Postkarte »Magic Moving Pictures«, die 1908 von Milwaukee nach South Dakota geschickt wurde. Die ganz in schwarz gehaltenen Figuren eines Tanzpaars sind hinter einer mit schmalen schwarzen Längsstrichen ausgestatteten Plastikfolie montiert. Dieses Bild lässt sich per Hand mechanisch hin und her bewegen, so dass die Illusion einer Tanzbewegung entsteht. Tatsächlich verschwimmen für das Auge kaum wahrnehmbar nach und nach die Übergänge von einem Bild zum nächsten, in einer Art morphing.123 121 Baldwin, The Cakewalk. 122 »Faire tourner une lumière devant le sujet/Work a light in front of figure«, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Die Karten wurden von »Cartes Animées Lambert (déposée), Paris« produziert. 123 Laut Postkarte ließ sich »A. S. Spiegel« die Technik 1906 patentieren. Ich danke Felix Axster für diese Karte, die er mir 2009 von einer Postkartenmesse in Kalifornien mitbrachte.
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In den für Körper in Schieflage analysierten Sammlungen von Bildpostkarten finden sich sowohl rassistische Motive als auch solche, die diesem Rassismus etwas entgegensetzten. In der transatlantischen Dynamik der Zirkulation und des Austauschs stellten sie je situative und strategische Einsätze dar. Sie erscheinen wie Erwiderungen, Kommentare und Abwehrstrategien gegen andere Bilder, die gleichzeitig zirkulierten. Die Selbstrepräsentationen laden ein, mit den Abgebildeten zu lachen und nicht über sie. Dass dieses andere Lachen um 1900 überhaupt möglich war, markiert eine Grenze des kolonialen Blickregimes. Wie die folgenden Kapitel zeigen, stand der Cakewalk bald metaphorisch für das, was in der kolonialen Ordnung nicht an seinem Platz war. Diese Irritation war auch dem rassistischen Material noch zu Eigen.
S AMMELN /S AMPELN Was heute in Postkartensammlungen überliefert ist, wurde nicht zufällig von Zeitgenoss_innen zurückgelassen. Es ist das Ergebnis intensiver Sammlertätigkeit, die bereits in der Produktionszeit des Materials begann. Postkartensammlungen der Gegenwart gehen weitgehend auf diese Tätigkeit tausender anonymer Sammler_innen zurück, die schon zur Jahrhundertwende auswählten, was sie besonders und aussagekräftig fanden. Dass so viele Bildpostkarten über das Tanzen im Black Atlantic überliefert sind, lässt damit auf eine gewisse Sensibilität und Aufmerksamkeit für das Thema unter Sammler_innen der Jahrhundertwende schließen. Der folgende Abschnitt zeigt, dass sich diese Akteure offensiv als Produzenten kulturhistorischen Wissens verstanden. Sie antizipierten, dass Postkarten nachfolgenden Generationen ein Bild der Vergangenheit vermitteln würden. Der besondere Vorzug der Bildpostkarte sei ihre »Mannigfaltigkeit«, argumentierte ein Artikel aus dem Jahr 1900.124 Bis heute zehrt der kommerzielle Postkartenmarkt von den damals angelegten Sammlungen, die beständig weiter zirkulieren.125
124 Otto Weise: Eine Neueintheilung der Gelegenheitskarten, in: Centralblatt der Ansichtskarten-Sammler 1900 3 (1): S. 7. zitiert nach Beer, Grüsse, S. 35. Rudolf Lutz, der 1901 eine erste Entstehungsgeschichte der Postkarte veröffentlichte, prophezeite: »So bietet die illustrierte Postkarte in ihrer gewaltigen Ausdehnung sowohl ein nationalökonomisches wie kulturhistorisches Dokument, das einst in der Geschichte unserer Zeit nicht zuletzt Beachtung finden wird.« Postkarten werden nachfolgenden Generationen Aufschluss über »die heutige Welt, wie sie ist [...] und die heutige Zeit, was sie treibt« geben, vgl. Rudolf Lutz, Die Ansichtspostkarte, ihre Entstehung, Entwicklung und Bedeutung, Baden-Baden 1901, S. 11 f., zitiert in Beer, Grüsse, S. 41. 125 Vgl. Hans Falkenberg: Vorwort, in: Claus-Thorsten Schmidt: Geschichte des Welt-, Kauf- und Tauschverband für Ansichtskartensammler »Kosmopolit«, Düsseldorf 1983. Privatsammlungen sind deshalb stets auch Konstruktionen der Gegenwart, allerdings auf der Basis einer bereits vor hundert Jahren getroffenen Auswahl.
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Postkartensammler_innen organisierten sich in Sammlerverbände und führten in Fachzeitschriften Debatten über den richtigen Gebrauch der Postkarte.126 Die Mannigfaltigkeit sollte systematisiert und geordnet, im gegenseitigen Erfahrungsaustausch die dafür nötige Disziplin eingeübt werden. Gleichzeitig erzeugte die Produktion neuer Karten stets mehr Neuheiten, Vielheiten, Mannigfaltigkeiten. Sie suchte geradezu nach Bildern, die sich nicht leicht einordnen ließen.127 Denn am Postkartenständer sorgte Irritation für Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit war in der »Bilderflut« eine wichtige Ressource. Viele sampelten vorhandene Motive und schufen mit Kopier- und Collagetechniken neue Ansichten.128 Der folgende Abschnitt analysiert Krisenszenarien des Postkartensammelns, die von »Postkartenfieber« bis zur »Sammelwut« reichten. Ähnlich Begriffe, wie sie im Ansteckungsdiskurs über das Tanzen mobilisiert wurden, finden sich also auch im Gebrauch anderer Massenmedien. Sie differenzierten zwischen regulierter, produktiver Leidenschaft für Bilder und der Angst vor Kontrollverlust angesichts der Bilderflut. Letztlich ging es in der Sammlerdisziplin auch darum, Sammelunlust zu vermeiden und die Nachfrage nach Bildern am Leben zu halten.129 Anfangs waren besonders Ansichtskarten begehrt, die motivisch einen Ort abbildeten und an diesem auch abgestempelt waren. »Der Umstand, dass das Blättchen Papier, das wir in Händen halten, dort und dort thatsächlich gewesen ist, bietet unserer durch das Bild der Karte angeregten Fantasie mehr Befriedigung, als das Bild selbst.«130 Im Geiste könne man sich so an den abgebildeten Ort versetzen und einen »dem Menschen innewohnenden Wandertrieb« befriedigen. Manche schlugen auch vor, ihre Sammlungen von Ansichtskarten wie Reiserouten zu ordnen, um
126 Tatsächlich finden sich nur von Männern verfasste Artikel, doch in den Listen der Mitglieder sind auch viele Frauen verzeichnet. Über Frauen als Sammlerinnen vgl. Der Ansichtskartensport, in: Das Blaue Blatt 1901 3 (10): S. 89-90; zum »Geschlecht des Sammelsports« vgl. Axster, Koloniale Spektakel. 127 Der Begriff Sampling entstand im Kontext von Hip Hop und Techno. Ich wende ihn rückwirkend auf die Zeit um 1900 an, um die oft linear gedachte Abfolge von Moderne und Postmoderne in Frage stellen. Vgl. Jochen Bonz: Sampling. Eine postmoderne Kulturtechnik, in: Christoph Jacke/Eva Kimmich/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen, Bielefeld 2006, S. 333-353. 128 Zur Problematisierung der »Ueberflutung« durch Ansichtskarten vgl. Gesamtsammler und Spezial-Sammler, in: Das Blaue Blatt 1905 7 (10): S. 117-119. 129 Vgl. Schmidt, Geschichte; Warum werden so viele eifrige Sammler so bald des Sammelns überdrüßig?, in: Das Blaue Blatt 1902 4 (24): S. 294 und 1903 5 (1): S. 1-2; allgemein zur Frage von Sammeln und Subjektivität vgl. Aleida Assmann: Der Sammler als Pedant, in: dies./Monika Gomille/Gabriele Rippl: Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen 1998, S. 261-274. 130 Herrmann Bock: Sportliche Betrachtungen, in: Das Blaue Blatt 3 (1): S. 1-2.
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beim Betrachten imaginäre Reisen durchspielen zu können.131 »Für wenig Geld seh'n wir die Welt« hatte sich die Internationale Postkartenzeitung, das offizielle Organ des Weltverbandes Kosmopolit zum Motto gemacht.132 Abonnenten konnten tatsächlich imaginäre Reisen bei Postkartenproduzenten buchen, die ihnen Karten aus Südamerika, Afrika oder Asien versprachen, abgeschickt von reisenden Fotografen oder Kontaktleuten vor Ort.133 Viele Artikel in Sammlerzeitschriften privilegierten die Ansichtskarten, die geografisch genau identifizierbare Orte und Ansichten von Städten, Landschaften und Menschen boten, gegenüber den sogenannten Genrekarten, die kein wirklichkeitsgetreues Abbild der Welt vermittelten.134 Sie seien so vielfältig, dass sie sich einer Klassifizierung entzögen und sollten deshalb einfach chronologisch nach dem Datum ihres Erhalts sortiert werden.135 Allerdings mussten viele Autoren eingestehen, dass solche Karten, insbesondere diejenigen, auf denen berühmte Schauspielerinnen und Tänzerinnen zu sehen waren, zahlenmäßig zu den beliebtesten Motiven auf dem Postkartenmarkt gehörten.136 Sie glaubten aber, dass durch ein »Übermaß an Schöpfungen« das Sammeln von Bildpostkarten zu »zweckloser Tändelei« verkomme.137 Der Markt werde »überschwemmt« und die Sammler_innen müssten sich der Erziehungsaufgabe zuwenden, die »geschmacklosen« Karten von künstlerisch, ästhetisch oder wissenschaftlich wertvollen zu unterscheiden.138 Alles, was nicht an dem Ort war, der ihm in enzyklopädischem oder geografischem Wissen zugeteilt war, stellte deshalb ein Klassifikationsproblem dar. »Phantasiebilder« seien vom Sammeln ganz auszuschließen, forderte ein Artikel über das »Normal-Sammeln«. »Volkstrachten, Darstellungen von Sitten und Gebräuchen« seien nur insofern aufzunehmen, wenn sie »der betreffenden Gegend eigentümlich sind«. Das hätte den Zugang von Bildern, die Tanzen im Black Atlantic verhandelten, enorm eingeschränkt. Andererseits galten Karten aus dem Ausland als wertvoller als inländische Karten, und auch das Kriterium der »Naturwahrheit« fotografi131 Über das Ordnen der Ansichtskarten, in: Das Blaue Blatt 1901 3 (4): S. 30-31; Martin Linke: Wie ordne ich meine Ansichtskarten, in: Das Blaue Blatt 1902 4 (14): S. 165-166. 132 Vgl. das von Ludwig Aub verfasste Gedicht »Für wenig Geld seh'n wir die Welt«, das er für die Internationale Postkarten Zeitung ›Kosmopolit‹ im April 1898 dichtete, abgedruckt in Beer, Grüsse, S. 27. 133 Vgl. Albert Aust, Hamburg. Verlag von aussereuropäischen Ansichts-Postkarten. Anzeige in: Centralblatt für Ansichtskartensammler 1900 21 (3): S. 272. 134 Vgl. Hermann Bock: Sportliche Betrachtungen, Teil II, in: Das Blaue Blatt 3 (2): S. 1112. 135 Über das Ordnen der Ansichtskarten, in: Das Blaue Blatt 1901 3 (4): S. 30-31. 136 Postkartenschönheiten, in: Das Blaue Blatt 1907 9 (14), S. 165; Neues vom Ansichtskartensport, in: Das Blaue Blatt 1906 8 (21): S. 249-251, hier: S. 251. 137 Hermann Bock: Sportliche Betrachtungen Teil III, in: Das Blaue Blatt 1901 3 (3): S. 1920. 138 Ansichtskarten, in: Das Blaue Blatt 1901 3 (7): S. 58.
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scher Postkarten vor Karikaturen könnte erklären, warum Postkarten vom Cakewalk dennoch zahlreich aufbewahrt wurden.139 Ohnehin hielten sich die Sammler_innen nicht an die aufgestellten Regeln, was der immer unübersichtlicher werdende Postkartenmarkt noch verstärkte. Eine »Überflutung« durch Ansichtskarten finde statt und Sammler sollten sich dringend einem »Spezialfach« zuwenden, mahnte ein Artikel 1905.140 »Wir schwimmen in Bildern,« diagnostizierte ein anderer, der ein »illustriertes Zeitalter« ausrief und »[ü]berall ein fieberhaftes Streben, das Wort [durch Bilder] zu ergänzen«, erkannte.141 Ein anderer Artikel sprach von einem »Postkartenfieber«.142 Die Ansichtskarte stand hier in einer Kontinuität mit dem sich ausweitenden Bildangebot in Presse und Werbung und dem beschleunigten gesellschaftlichen Verkehr. Die Metaphern von Überschwemmung und Fieber suggerierten, Bilder seien potentiell überwältigend und ansteckend und brächten Zeitgenossen in Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Tatsächlich gab es aber eigentlich nur die Gefahr, dass die Konsument_innen die Lust am Kaufen und Sammeln von Bildern verlieren könnten. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Sammelverbände häufig der Postkartenindustrie nahe standen. Sie riefen ihre Mitglieder auf, gemeinsam ein Wissen zu entwickeln, wie eine große Menge an Bildern verwaltet und mit Sinn ausgestattet werden könnte, ohne dabei den Überblick zu verlieren. Diese Tätigkeit nannten sie Sammelsport.143 Die Ethik des Sammelsports basierte auf der Logik von Geben und Nehmen. Die Zeitschriften veröffentlichten die Adressen ihrer Mitglieder und so konnten individuelle Sammler international miteinander in Kontakt treten und Postkarten austauschen. Wer eine Karte zugesandt bekam, schickte als Revanche eine andere zurück. Sportlichkeit war hier aber mehr als Fairness. Wer eine Revanche verweigerte, verhielt sich nicht nur unsportlich, sondern wurde als Betrüger und Schwindler angeprangert.144 Die Zeitungen veröffentlichten ihre Namen, damit Mitglieder in Zukunft dorthin keine Karten mehr schickten. Das Geben und Nehmen im Austausch von Bildpostkarten rund um den Globus interpretierten sie dagegen als Ver-
139 Vgl. Normal-Sammeln und Normal-Werte der Ansichtskarten, in: Das Blaue Blatt 1905 7 (15): S. 177-179. 140 Gesamtsammler und Spezial-Sammler, in: Das Blaue Blatt 1905 7 (10): S. 117-118; ähnlich: Sammeln von Ansichtskarten, in: Das Blaue Blatt 1910 7 (14): S. 150. 141 Vgl. Der Postkartensammler 1897 1 (11): S. 97, abgedruckt in Beer, Grüsse, S. 34-35. 142 Adolf Ehrenberg: Moderne Albumblätter, in: Centralblatt für Ansichtskarten-Sammler 1900 3 (17): S. 215-217. 143 Vgl. Felix Axster: Die Welt sammeln. Strategisches Potenzial der Sportsemantik um 1900, in: ders./Jens Jäger/Kai Marcel Sicks/Markus Stauff (Hg.): Mediensport. Strategien der Grenzziehung, München 2009, S. 107-125. 144 Übelstand im Postkartensport: Karten die nicht erwidert werden, in: Das Blaue Blatt 1901 3 (5): S. 37-38;
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ständigung unter den Völkern und als Beitrag zum Frieden.145 Sie griffen das Begehren von Postkartensammler_innen auf, mit weit entfernten Gebieten und Menschen in Kontakt zu treten und imaginäre Reisen zu erleben, die durch die Zirkulation eines materiellen Objekts zugleich Berührung mit dem Realen versprachen. Halb ernst, halb selbstironisch beschwörten sie die herrschende »Kartensammelwut« und schlugen vor, ihr mit Hilfe von wissenschaftlichen Hilfsmitteln wie Karten oder Lexika eine Ordnung zu geben.146 So begegneten sich im Sammelsport disziplinär-erzieherische Projekte mit utopisch-expansiven Momenten. Die globale Vernetzung der Sammler_innen und die Infrastruktur des internationalen Postwesens sollte Kommunikation weltweit ermöglichen. In Wettbewerben traten verschiedene Teams gegeneinander an, um Postkarten möglichst schnell um die ganz Welt zu schicken.147 Wessen Karte zuerst wieder am Ort der Erstverschickung ankam, hatte gewonnen. Der Weltbezug war vielen Organisationen eingeschrieben – sie nannten sich »Kosmopolit« oder »Weltall«. Manche projizierten imperiale Fantasien von Expansion und Eroberung auf das Medium, das angeblich »die Welt erobert[e]«.148 Doch dieser Weltbezug war nicht nur imperial codiert: Um Kommunikation jenseits nationalsprachiger Übersetzungprobleme zu meistern, sprach sich das Blaue Blatt dafür aus, Esperanto als Weltsprache zu erlernen.149 Gerade in ihrem Anspruch, die Welt zu verbessern, sieht Felix Axster den spezifisch modernen Charakter des Postkarten-Sammelsports der Jahrhundertwende.150 Das Sammeln von Bildpostkarten stellte ein privates, kleinbürgerliches und von unterschiedlichen Begehrlichkeiten durchzogenes Pendant zum Gebrauch der Fotografie in den Disziplinarinstitutionen dar.151 Es normalisierte, was beständig an die Grenzen des Sichtbaren und Sagbaren stieß und im Produzieren, Aneignen und Ordnen von gleichformatigen Bildern als »Welt« recodiert werden sollte. Bildpostkarten luden dazu ein, die Aneignung von weit entfernten Gebieten – sei es durch Forschung oder Eroberung, Handel oder Migration – daheim im Wohnzimmer nachzuvollziehen oder auch vorwegzunehmen, indem dieser Prozess als geordnet, übersichtlich und handhabbar vorgestellt wurde. Doch je spezieller die Sammelschwerpunkte der Beteiligten wurden, umso unwahrscheinlicher wurde es, dass sol145 146 147 148 149
Ein unangenehmes Häkchen, in: Das Blaue Blatt 1901 3 (13): S. 119-120. Vgl. Der Ansichtskarten-Sammelsport, in: Das Blaue Blatt 1908 19 (19): S. 169-170. Vgl. Ein origineller Postkartenwettbewerb, in: Das Blaue Blatt 1905 8 (16): S. 191. Vgl. Internationale Postkarten-Zeitung 1898 1: S. 1. Das Blaue Blatt 1905 7 (24): S. 292. Vgl. zur Geschichte der Esperanto-Bewegung Marcus Sikosek: Die neutrale Sprache. Eine politische Geschichte des EsperantoWeltbundes, Bydgoszcz 2006. 150 Axster, Welt sammeln, S. 125. 151 Vgl. Allan Sekula: Der Körper und das Archiv, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt 2003, S. 269-334.
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che Austauschbeziehungen für beide Seiten befriedigend ausfielen.152 Die Eigenlogik der Produktion von immer neuen Ansichten erzeugte zudem Unübersichtlichkeit.153 Die nachfolgenden Montagen und Karikaturen zeigen, warum sich viele Motive nicht sinnvoll sammeln ließen, sondern nur als gleichsam zufälliges Zeitgeschehen chronologisch abgelegt werden konnten. Sie überschritten den herrschenden Begriffshorizont und belegen, dass die Welt, die manche nur sammeln wollten, erst noch gemacht werden musste.
152 Ein Artikel von 1905 unterschied entsprechend zwischen »Kartensammlern«, die ihre Karten gemäß ihrem Spezialgebiet selbst kaufen und den »Kartenbettlern«, vgl. Gesamtsammler und Spezial-Sammler, in: Das Blaue Blatt 1905 7 (10): S. 117-119, hier: S. 117. 153 Ein Ansichtskartenverkäufer in Washington DC habe in seinem Laden 17 000 verschiedene Motive zum Kauf angeboten, berichtete ein Artikel 1907, aber auch hierzulande sei in den Läden alles mögliche zu kaufen und jedes denkbare Ding auf Postkarten zu finden, vgl. Nutzen und Vergnügen bei Postkarten, in: Das Blaue Blatt 1907 9 (23): S. 267269, hier: S. 267-268.
Metaphorisierung
Traditionell diente die Abbildung einer tanzenden Menge in der europäischen Kulturgeschichte der Versinnbildlichung höfischer/städtischer Ordnung oder bäuerlicher Unordnung. In der Moderne avancierte das Tanzen nach der Französischen Revolution zu einem Übungsfeld für Techniken der Selbstführung und Selbstregierung, die immer auch Hingabe an einen kollektiven Schwung verlangten und damit ein Stück Kontrollverlust implizierten. Walzer, Polka und insbesondere der französische Cancan ließen sich zu ausgelassenen Aufführungen körperlicher Selbstverausgabung steigern. Tanzen wurde zu einer zentralen Metapher für gesellschaftliche Veränderung. Obwohl nachrevolutionäre bürgerliche Kulturen zu populären Formen des Karnevalesken auf Distanz gingen, tauchten diese im 19. Jahrhundert in veränderter Form in ihrer Literatur als Psychopathologien wieder auf.1 In der Übertragung von Evolutionstheorien aus der Biologie auf vermeintliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen entstanden zudem Krisenszenarien der Degeneration. Symptomatisch zogen Kritiker_innen kulturelle Praktiken wie das Tanzen heran, um sichtbare Evidenzen solcher Veränderungen zu konstruieren.2 Doch die Aufmerksamkeit für das Tanzen stieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch durch das wachsende Interesse von Maler_innen und Schriftsteller_innen am Tanz.3 Kristina Köhler analysiert in Dance as Metaphor die Reformulierung des Verhältnisses von Tanz und Metapher um 1900. Von poetologischen Ansätzen bei Stéphane Mallarmé hin zu tanzreformerischen und avantgardistischen Diskursen fand eine »Transfiguration« statt. Tanzen war nicht mehr primär Meta-
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Vgl. das Kapitel »Bourgeois Hysteria and the Carnivalesque« in Peter Stallybrass/Allon White: The Politics and Poetics of Transgression, London 1986, S. 171 ff. Zu diesem Krisenszenario im französischen Kontext der Jahrhundertwende, in dem der Cakewalk eine prominente Rolle spielte, vgl. Gordon, Dances with Darwin. Kristina Köhler: Dance as Metaphor – Metaphor as Dance. Transfigurations of Dance in Culture and Aesthetics around 1900, in: Herbert Grabes/Ansgar Nünning/Sybille Baumbach (Hg.): Metaphors Shaping Culture and Theory, Real Yearbook of Research in English and American Literature Nr. 25, Tübingen 2009, S. 163-177.
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pher für etwas anderes, sondern ein Aktionsraum.4 Dass sie wie oben bereits gezeigt, immer wieder auch auf den Cakewalk und das Repertoire des Black Atlantic zurückgriffen, ist mit Stuart Hall gesprochen symptomatisch für einen Prozess der Verwandlung, der nicht in der Metapher der Revolution aufging: »The low is thus no longer the mirror-image subject of the high, waiting in the wings to substitute it, as in the classic metaphors of revolution, but another related but different figure, which has haunted and shadowed that paradigmatic metaphor: the low as the site of conflicting desires and mutually incompatible representations.«
Anders als ein dialektisches Modell, das in binären Strukturen operiert und lineare Prozesse der Aufhebung denkt, folgt das Modell des Dialogischen im Sinne Bakhtins einem Modell von Veränderung, das stets im polemischen Dialog mit dem Vorangegangenen bleibt. In diesem Spannungsfeld von dialektischem und dialogischem Gebrauch verortet das folgende Kapitel die Metaphorisierung des Tanzens im Kaiserreich und seinen Zukunftsvisionen und -ängsten.
K OLONIALE U NORDNUNG Im November 1906 veröffentlichten die Leipziger Neuesten Nachrichten einen Kommentar über Mpundo Akwa, den Sohn eines Kameruner Häuptlings, der seit 1902 in Deutschland lebte, um von hier aus in die Kolonialpolitik zu intervenieren und Kaiser, Parlament und die deutsche Öffentlichkeit über die unhaltbaren Zustände in Kamerun unter Gouverneur Jesko von Puttkamer zu unterrichten.5 Die Resonanz war groß und führte indirekt zur Abberufung des Gouverneurs aus Kamerun. Der Kommentator fragte nun in den Leipziger Neuesten Nachrichten polemisch, ob die Deutschen denn ganz und gar ihren Sinn für das koloniale Verhältnis verloren hätten: Sie würden Akwa als politischen Akteur anerkennen, ihn als Prinzen ansprechen, ihn als glaubwürdige Informationsquelle behandeln, wenn es um die Frage von Korruption und Gewalt in den Kolonien gehe: »Ist denn der Sinn für das Lächerliche in Deutschland so völlig erstorben? Hat man das Gefühl des Rassestolzes so vollständig verloren? Ahnt man nichts von der Gefahr, die unsern
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Köhler, Dance, S. 175: »[T]he metaphoricity of dance implies a notion of metaphor no longer determined by difference; instead, and seen under the paradigm of dance, the process of metaphorical meaning production has to be negotiated as a dynamic oscillation of actual and figurative speech.« Vgl. zu Mpundo Akwa Kap. II. 3.
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Kolonien droht, wenn man auf diesem Wege fortschreitet und das schwarze Gesindel mit dem Maße eines hochentwickelten Kulturvolkes mißt?«6
Ganz zu Unrecht trage Akwa den Titel eines Prinzen und mache nicht nur sich selbst lächerlich, sondern alle anderen, die ihm entsprechend respektvoll begegneten. Wenn die Kameruner erst von dem Erfolg Mpundu Akwas in Deutschland erfahren, »dann wird die Erde dröhnen unter dem Stampfen der jubelnden, Cakewalk tanzenden Nigger.«7 Der Artikel ist in einem Pamphlet von Heinrich Liesemann abgedruckt, einem Sammelsurium kolonialrassistischer Stellungnahmen und Pressezitaten rund um den Fall Akwa.8 Der Autor prophezeite einen »Riesenkampfe der schwarzen gegen die weiße Rasse«. Zu keiner Zeit seien die »äthiopische[n] Bewegungen« mit ihrem Ruf »Afrika den Afrikanern« lauter gewesen.9 Fast im Wortlaut zitierte er damit panafrikanische Positionen afroamerikanischer Intellektueller und unterstellte den Akwa eine weitaus radikalere Position als sie selbst vertraten.10 In dem Artikel von 1906 jubelt eine imaginäre cakewalkende Menge in Kamerun darüber, den Status eines politischen Akteurs zurück gewonnen zu haben. Die Metaphorisierung des Cakewalks als koloniale Unordnung basiert dabei auf einer Assoziationskette: Von Mpundo Akwas Migration nach Deutschland über das Gehör, das er in den deutschen Medien fand, hin zum Erfolg des Cakewalks in Deutschland, der ebenfalls gerade eine neuartige Beziehung zwischen Weißen und Schwarzen eröffnete, und letztlich zu den Gefahren möglicher Rückkopplungseffekte solcher Ereignisse zwischen Metropole und Kolonie. Der Text verhandelte nicht, ob die Aussagen Mpundo Akwas über die deutsche Kolonialpolitik in Kamerun richtig oder falsch waren. Er griff die Tatsache an, dass überhaupt mit den Kolonisierten verhandelt wurde.11 Die Quelle dokumentiert einen Moment des Unvernehmens im Sinn Rancières: Die Herrschenden behandeln die Beherrschten, als könnten sie nicht sprechen, als
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Akwa und Anita, in: Leipziger Neueste Nachrichten vom 25. November 1906, abgedruckt in: Heinrich Liersemann: »S.K.H. Prinz« Ludwig Paul Heinrich M'Pundo Njasam Akwa. Ein Beitrag zur Rassenfrage, Berlin 1907, S. 44-45, hier: S. 45. Akwa und Anita, in: Liersemann, »S.K.H. Prinz«, S. 45. Liersemanns Kampagne zahlte sich aus. 1909 gelang es ihm, ein Urteil zu revidieren, das ihn auf Veranlassung Mpundu Akwas wegen Verleumdung verurteilt hatte. Obwohl Akwa von dem Vorwurf der Hochstapelei freigesprochen worden war, hatte sein Leumund Schaden genommen. Vgl. Möhle, Prinz, S. 67. Vgl. Heinrich Liersemann: Akwa Triumphator, in: ders.: »S.K.H. Prinz«, S. 55-57, hier: S. 55. Vgl. Kap. II. 5. Akwa und Anita, in: Liersemann, »S.K.H. Prinz«, S. 45.
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sei das, was sie sagen, nicht zu verstehen.12 Die Kolonisierten melden sich zu Wort, doch was sie sagen, wird als unverständlicher Lärm dargestellt. Die Akwa seien lächerlich und nicht ernst zu nehmen. Höhepunkt dieses Lautwerdens der rassistischen Gegenrede ist die Beschreibung des Widerstands der Kameruner als Cakewalk und stampfendes Getöse. Wer Akwa zuhöre und ihm Glauben schenke, wer ihn als legitimen politischen Akteur anerkenne, verwandle das koloniale Verhältnis in einen Cakewalk. Tanzende Körper stehen sinnbildlich für eine Form von Kommunikation, die als irrational und exzessiv dargestellt ist. Der Artikel mahnte »Rassestolz« an und erinnerte an den Unterschied von »Kulturvölker[n]« und »schwarze[m] Gesindel«, was auch die Popularität des Cakewalks in Europa und die Partizipation Deutschlands am Black Atlantic angreifen sollte. Abbildung 23: Französische Postkarte, um 1905.
Ein vergleichender Blick auf diese französische Karikatur belegt die transnationale Dimension der Metaphorisierung des Cakewalks als koloniale Unordnung. Eine um 1910 in Frankreich produzierte Postkarte assoziierte den Tanz mit dem unsicheren Parkett internationaler Politik und den Risiken kolonialer Eroberung. Die Karikatur zeigt den Zar von Russland und den König von England, die beim Cakewalken mit zwei Frauen stolpern und kopfüber zu Boden fallen. Anders als in dem von den Leipziger Nachrichten gezeichneten Bild von den triumphierenden Cakewalkern in Kamerun sind es hier die europäischen Mächte, die den Cakewalk tanzen – und dabei scheitern. Wieder versinnbildlichte der Tanz die Grenzen souveräner Handlungsmacht und verhandelte die Legitimität kolonialer Herrschaft. Weil er von vielen Zeitgenossen als moderner Tanz interpretiert wurde, dessen virtuose Verren12
Vgl. Rancière, Unvernehmen, S. 34.
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kungen symptomatisch für die Herausforderungen des modernen Lebens waren, erschienen die beiden Monarchen hilflos und wie aus der Zeit gefallen. Die Politik in Zeiten internationaler Konkurrenz und imperialer Verstrickungen, so legte die Karikatur nahe, war so kompliziert wie das Cakewalken zu erlernen. Die Postkarte bediente sich etablierter Figuren und Gesten aus der Populärkultur und verschob sie in einen anderen Kontext. Eine der beiden Frauen stellt »La Belle Otero« dar, eine damals in ganz Europa bekannte spanische Variété-Tänzerin, deren Portrait auch ein beliebtes Postkartenmotiv war.13 Auch das tanzende Hündchen im Bild war ein häufiges Motiv im Zusammenhang mit dem Cakewalk.14 Die zweite Frau im Bild ist schwarz und trägt eine kleine goldene Krone auf dem Kopf. Steht sie für ein kolonisiertes Gebiet und verweist auf einen ähnlichen Konflikt um Souveränität wie die Debatte um Mpundo Akwas Status als König in Deutschland? Es könnte sich um Ranavalona III. von Madagaskar handeln, die 1895 von französischen Kolonialtruppen von ihrem Thron vertrieben und ins französische Exil geschickt wurde.15 Die Tänzerinnen werfen flirtende Blicke auf die Monarchen und zeigen ihre Beine, während die Männer das Gleichgewicht verlieren. Die Gefahr des Kontrollverlusts der Kolonisatoren wurde hier wie in der Jahresrevue des Metropoltheaters von 1906 als sexualisiertes Bühnenspektakel dargestellt: Imperialismus als »Welttheater«. Ein Vorbild für diesen Gebrauch des Cakewalks als Metapher für koloniale Unordnung findet sich bereits 1900 in der Zeitschrift Life, einem Wochenmagazin aus den USA, das eine Karikatur mit dem Titel »International Cakewalk« veröffentlichte, die »Uncle Sam« als Personifikation der USA, »John Bull« als Personifikation Großbritanniens und die Monarchen von Deutschland und Frankreich jeweils Arm in Arm mit schwarzen Frauen zeigt, die für jeweilige kolonisierte Territorien dieser Länder stehen.16 Die Kostüme der Frauen verweisen auf einen Maskenball oder auf die Auftritte von Tänzerinnen im Variété. Die Paare tanzen hintereinander eine Promenade in der typischen Cakewalkpose, mit nach hinten verlagertem Oberkörper. Diese Körperhaltung sieht instabil aus, und auch die übertrieben ausgestellte Freude in ihren Gesichtern hat etwas Alarmierendes. Die Paare marschieren froh-
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Vgl. Claudia Balk/Brigida Ochaim: Varieté-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, Frankfurt am Main/Basel 1998, S. 134 ff.; vgl. auch die Postkarten von Otero mit Autogramm, aufgenommen im Fotostudio Reutlinger in Paris, nachgedruckt in Las Mas Bellas Tarjetas Postales, Siglos XIX-XX, Graficas, Graficas Guada, Barcelona, Tanzarchiv Köln. Vgl. Kap. III. 2. Postkarte. Marie-France Barrier: Ranavalo. Dernière Reine de Madagascar, Paris 1998. International Cakewalk, in: Life 35 (916) 31. Mai 1900, S. 462. Diese Karikatur ist in Martha Bantha: Barbaric Intercourse. Caricature and the Culture of Conduct, 1841-1936, Chicago 2003, S. 227 abgedruckt, allerdings mit einer falschen Zitation, die auf den 24. Mai verweist.
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gemut voran, als wüssten sie genau, wo sie hingehen. Aber sie schauen nicht nach vorne, sondern haben ihre Blicke flirtend an ihren jeweiligen Partner geheftet. »Uncle Sam« tanzt mit den »Philippinen« im Arm voran. Die Karikatur portraitiert die amerikanische Teilnahme an der kolonialen Aufteilung der Welt als Korruption der republikanischen Ordnung. Die Vereinigten Staaten stehen damit auf einer Stufe mit den als dekadent dargestellten europäischen Monarchien. Indem sie auf das Bild eines heterosexuellen Tanzes zurückgriff, der zudem aus der afroamerikanischen Kultur stammte, übersetzte die Karikatur internationale Politik und koloniale Gewalt in ein sexualisiertes Szenario frivoler Ausgelassenheit und rückte das koloniale Verhältnis zugleich in die Nähe von Konflikten um die Bürgerschaft von Afroamerikaner_innen im eigenen Land. Obwohl als Kritik am Kolonialismus gedacht, griff sie auf ein zentrales koloniales Stereotyp zurück, das kolonisierte Territorien als schwarze Frauen darstellte und die militärische Eroberung eines Landes mit der sexuellen Eroberung einer Frau analogisierte.17 Als Cakewalk inszeniert, prognostizierte sie eine unkontrollierbare Dynamik in diesem Verhältnis. Die Metapher Cakewalk stand im kolonialen Kontext für eine unvorhergesehene Abweichung von einer Route, die Fortschritt und Zivilisation mit weißer Vorherrschaft gleichsetzte. Die schrägen Linien seiner Körperbewegungen, die Nähe zwischen schwarzen und weißen Tanzpartner_innen, der Schwung einer gemeinsamen Bewegung in eine ungewisse Zukunft: Für manche war es ein Sinnbild des Niedergangs republikanischer Ordnung wie im International Cakewalk, für andere symptomatisch für den Beginn eines »großen Rassekampfes«, wie im Pamphlet gegen Mpundo Akwa.
Z UKUNFTSVISIONEN
UND
»M OMENTAUFNAHMEN «
Die Serie von Postkarte trägt den Titel »Hamburger Momentaufnahmen«. Die Nummer 17 trägt zudem eine Bildunterschrift »Hamburg in der Zukunft – Jungfernstieg«. Das Motiv zeigt eine breite Straße mit chaotischem Verkehr. Straßenbahn, Autos und Fahrräder rasen kreuz und quer über den Jungfernstieg, Fußgänger versuchen auszuweichen, verlieren dabei ihren Hut oder stolpern kopfüber. Ein Fotograf ist samt Stativ zu Boden gestürzt. Inmitten dieses Tohuwabohus zieht im Vordergrund des Bildes ein schwarzer Mann in hellblauem Anzug fröhlich seinen Zylinder. Er grüßt schwungvoll und aufrecht, in perfekter Haltung, ein Bein wie im
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Besonders deutlich wird dies in einer Serie über die koloniale Landnahme Samoas in den 1890er Jahren, die Portraits und Zeichnungen von Samoanerinnen im Lendentuch in attraktiver Landschaft präsentierten, mit der Bildunterschrift »Talofa Samoa. Unsere neuen Landsleute« Talofa ist eine traditionelle Grußformel Samoas. Altonaer Museum. Stiftung Historische Museen Hamburg.
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Tanz angewinkelt. Mit weit geöffnetem Mund blickt er aus dem Bild, als stehe er auf einer Variétébühne und mache eine Ansage. Abbildung 24: »Hamburger Momentaufnahmen, No. 17«, vor 1905.
Das Durcheinander um ihn herum scheint ihn ebenso wenig zu stören wie einen der Autofahrer, der vergnügt lächelnd am Steuer sitzt, während Fußgänger vor ihm fliehen. Am rechten Bildrand stehen zwei Passanten, die dem chaotischen Geschehen auf der Straße den Rücken zuwenden und stattdessen in den Himmel schauen. Dort setzt sich der hektische Verkehr fort: Ein Heißluftballon und andere futuristische Fluggeräte sind zu sehen, eine Seilbahn und ein Storch mit Baby im Schnabel. Die Karte stellt Gleichzeitigkeit aus, indem sie verschiedene Geschwindigkeiten und Aufmerksamkeitsregister in den Konstellationen von Menschen und Dingen inszeniert. Es geht drunter und drüber. Manche tun so, als wäre alles in Ordnung, während andere den Boden unter den Füßen verlieren. Doch das Leben geht weiter, und der Storch bringt immer noch die Kinder. Dieses Motiv eines schwarzen Mannes im Herrenanzug findet sich in zahlreichen Zukunftsfantasien des urbanen Lebens auf deutschen und französischen Postkarten der Jahrhundertwende.18 Fantasien waren um 1900 ein beliebtes Motiv auf Bildpostkarten. Sie verhandelten die Wandelbarkeit des Bestehenden und setzten sich über die raum-zeitlichen Grenzen von Logik und Erfahrung hinweg. Doch sie taten dies nicht beliebig, sondern oft in polemischer Relation zu konkreten Erfah-
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Vgl. »Dresden in der Zukunft« (nach 1905); »Paris/ Halver/ Camenz/ Göttingen/ Jauer/ Uelzen/ Goldberg i. Schl./ Antoninhütte O.S./ in der Zukunft« (alle nach 1905). Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln
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rungen und Problemstellungen.19 Häufig ging es um Verkehr und Reisen, zwei zentrale Politikfelder des Alltags, die lebensnotwendig und zugleich lebensgefährlich geworden waren. Sie verhandelten auch das Ineinandergreifen neuer Transportmittel, infrastruktureller Erschließung und einer Reorganisation des Postwesens, die das mobile Alltagsmedium Postkarte ermöglichten. Stolz stellten solche Postkarten die technischen Erfindungen der Gegenwart aus und projizierten sie in eine linear gedachte Zukunft fortschreitender Beschleunigung. War die aus dem Kontext des Varietés herausgeschnittene und in den Hamburger Jungfernstieg kopierte schwarze Figur eine Antwort auf die Frage, wie man in dieser Beschleunigung die Balance halten könnte? Sie scheint weder überwältigt noch abgelenkt, sondern wie keine andere Figur in diesem Ensemble auf der Höhe des Geschehens. Um 1900 begann – neben vielen anderen Weltprojekten – ein Diskurs um »Weltstädte«.20 Sie hatten Vorbildcharakter für die Urbanisierung anderer Orte und entwarfen Stadtlandschaften, die möglichst übersichtlich und funktional sein sollten. Das Kapitel über Berlin hat bereits gezeigt, dass in Deutschland um 1900 ein latenter Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Metropolen vorherrschte. Stand die Figur eines schwarzen Mannes sinnbildlich für die Erwartung, dass in der Stadt der Zukunft Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt zusammenleben würden? Neutral im Herrenanzug gekleidet konnte die Figur an verschiedene Kontexte anschließen: kosmopolitische Träume von Weltbürgertum, imperiale Weltmachtsfantasien oder schlicht den schon im 19. Jahrhundert erfundenen Topos der Amerikanisierung der europäischen Kultur. Anders als auf der Bühne des Metropoltheaters im Stück Und der Teufel lacht dazu von 1906 wählten die Produzenten dieser Karten aber keine Coons in lächerlich unpassender Garderobe, auch keine halbnackten »Hosenneger«, wie ihn koloniale Stereotype verbreiteten, sondern Figuren, die auf den Bühnen des Varieté gerade ein neues Genre entwickelten: den class act. Manche Cakewalker wie Johnson & Dean lösten sich durch elegante Garderobe von der Minstrel-Vorlage, und andere folgten ihrem beispielhaften Erfolg. Class acts verkörperten Würde und Eleganz und kombinierten die Perfektion von Mode mit der Präzision ihrer Körperbewegungen.21 In den Fotomontagen der »Momentaufnahmen« und Zukunftsvisionen formulierten sie ein eigentümliches Zukunftsversprechen, das den Übergang in eine neue Zeit elegant und souverän, selbstironisch und virtuos bewältigen würde.
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Vgl. Chéroux/Eskildsen, Frankierte Fantastereien. Diese Fantasien hatten häufig mit Technik, Erotik, der Manipulierbarkeit des Sehens und dem modernen Stadtleben zu tun. Vgl. Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt am Main 2006. Vgl. Stearns, Jazz Dance, S. 285 ff. Die Interviews mit afroamerikanischen Tänzer_innen belegen, dass es eine enge Verwandtschaft zwischen den eleganten Hollywood-Steptänzern wie Fred Astaire in den 1920er und 1930er Jahren und diesen Class Acts der 1900er und 1910er Jahre gibt.
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Reinhard Koselleck schreibt in Vergangene Zukunft, dass Erfahrungsraum und Erwartungshorizont in der Moderne immer weiter auseinander traten. Zwischen ihnen entstand eine Spannung, die sich gegenseitig verstärkte. Nicht nur steigerten die Veränderungen in der Gegenwart die Erwartungen an die Zukunft, sondern auch die Erwartungshaltungen selbst beeinflussten bereits das Geschehen in der Gegenwart wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Ein gesteigertes Verantwortungsgefühl sowie der Glaube an die Machbarkeit von Geschichte erzeugten Prognosen und Planspiele kommender Wirklichkeit. Für die geschichtliche Zeit der Neuzeit ist diese Erfahrung konstitutiv, so Koselleck.22 »Die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft wird nicht nur größer, sondern die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung muß dauernd neu, und zwar auf immer schnellere Weise überbrückt werden, um leben und handeln zu können.«23
Anhand von Bildpostkarten lässt sich dieser Prozess für die Zeit um 1900 rekonstruieren. Sie präsentierten »Momentaufnahmen« als flüchtige Katalogisierung des Bestehenden und entwarfen polemische Visionen des Lebens »in der Zukunft«, um die Differenz von Erfahrung und Erwartung zu verhandeln. Im Folgenden analysiere ich Montagen von Stadtansichten, die häufig einen schwarzen Mann in elegantem Herrenanzug und schwungvoller Pose als Blickfang ins Bild montierten. Koselleck zeigt, dass die Erfindung des Kollektivsingulars »Geschichte« in der »Neuzeit« die Funktion von Geschichten als lehrreiche Erzählungen ablöste. Dabei baute sich zwischen den Ereignissen und ihrer sprachlichen Erfassung eine historisch spezifische, wandelbare Spannung auf. Ereignisse und ihre Bewusstmachung mussten im selben Begriff konvergieren.24 Das Konzept des Fortschritts bündelte Ende des 18. Jahrhunderts Erfahrungen und Erwartungen der vergangenen 300 Jahre und übersetzte Inkommensurabilität als Ungleichzeitigkeit. Der Begriff »Fortschritt« ermöglichte Programmatiken, die auf eine aktive Verwandlung der Welt ausgerichtet waren und von keinem Erfahrungshorizont mehr begrenzt werden sollten.25 Man wusste sich seither in einer Übergangszeit und in einer Zeit der Beschleunigung.26 Die zukünftige Geschichte diente sowohl der eigenen Entlastung angesichts der Erkenntnis, dass Geschichte »gemacht« werde, und wurde zugleich zu einem Willensverstärker, weil sie von einer Zukunft ausging, die sich ohnehin
22
23 24 25 26
Vgl. die Abschnitte »Über die Verfügbarkeit von Geschichte« und »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien« in Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt am Main 1984, S. 260-277 und 349-375. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 369. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 264-65. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 364. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 367.
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einstellen werde und die lediglich beschleunigt oder gelenkt werden müsse.27 Die Erfahrungen überstiegen oder unterliefen diesen Erwartungshorizont beständig. Geschichte drohte, sich in eine komplexe Verstrickung zu verwandeln, in der eine Zeit beständig von etwas heimgesucht wird, das scheinbar nicht zu ihr passt.28 Erst in diesem geschichtstheoretischen Rahmen mit seinem historisch spezifischen Weltbezug und seinem linearen Zeitbegriff lässt sich die Funktion von Momentaufnahmen und Zukunftsvisionen auf Postkarten analytisch bestimmen, die sonst lediglich als verrückte Kuriositäten erscheinen. Die Linien der Körper in Bewegung vermittelten dabei zwischen Erfahrungs- und Erwartungshorizont, während die Figuren zugleich stillgestellt und mit den Differenzbegriffen von Geschlecht, Rasse und Klasse aufgeladen waren. Abbildung 25: »Hamburger Momentaufnahmen No. 8. St. Pauli Reeperbahn«
Fotomontagen waren teils fantasievolle Spielerei, teils technische Notwendigkeit. Fotografierte Figuren auszuschneiden und zu Collagen neu zusammenzusetzen ermöglichte es, die Produktion von Bildern des urbanen Lebens als verdichteten, in einem minutiös inszenierten Zusammenprall von Differenzen, was ein Schnappschuss schwerlich bewerkstelligen konnte. Bereits seit den 1890er Jahren stellte die Zeitschrift Berliner Leben mit solchen Collagen das Treiben auf den Straßen und Marktplätzen Berlins nach. Sie machte so die Großstadt im Medium der Fotografie auf eine neue Art und Weise darstellbar. Einmal erfunden, ließen sich lokale Post-
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Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 269. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 276.
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kartenproduzenten von dieser Idee inspirieren und schnitten ebenfalls Figuren und Objekte aus Fotografien aus, um sie zu neuen Ansichten ihrer Heimatstädte zu montieren. Häufig waren es in verschiedenen Städten aber dieselben Figuren, nicht zuletzt der schwarze Mann in eleganter Kleidung, mit Zylinder, Frack und Spazierstock.29 Die Figur, die in »Hamburg in der Zukunft« vor 1905 so schwungvoll den Hut zieht, findet sich auch auf der Karte »Göttingen in der Zukunft«, die nach 1905 produziert wurde. Sie druckte die Figur seitenverkehrt, so dass sie von links ins Bild kommt. Einige Verkehrsteilnehmer aus Hamburg finden sich später wieder in »Paris futur«, zwei Karten, die nach 1905 in Paris gedruckt wurden. Auch hier gibt es einen schwarzen Passanten. Mit Frack und Zylinder steht er frontal zur Kamera, hat die Hände in die Hüften gestützt und trägt am linken Arm einen Spazierstock. Diese Figur ist wiederum auch in der Hamburger »Momentaufnahme Nr. 8« mit dem Titel »Hamburg St. Pauli Reeperbahn« und auf Karte »Dresden in der Zukunft« zu sehen. Die »Hamburger Momentaufnahmen« stellen in der Sammlung die frühesten Fotomontagen schwarzer Figuren in solchen Stadtansichten dar. Die Präsenz eines schwarzen Mannes im urbanen Raum war möglicherweise zuerst ein Gegenwartsszenario, bevor sie der Zukunftsvision zugeschlagen wurde. Diese setzten stets Tempo, Gleichgewichtsverlust und lässige Balance zueinander ins Verhältnis, in der deutschen Provinz ebenso wie in Paris. Die gegenwartsbezogenen Karten waren dagegen heterogener und verhandelten das Verhältnis der Figuren untereinander. Wie auf einer Bühne treten die vier Figuren in der Fotomontage »St. Pauli Reeperbahn« auf (Abb. 25): eine zurückhaltend und bürgerlich gekleidete Frau, eine extravagant-modisch gekleidete Frau, ein Dienstmädchen in Arbeitsbekleidung und der forsch ausschreitende, breit lächelnde schwarze Mann, der sich etwas abseits von den drei Frauen befindet. Zwischen ihnen steht – wenig subtil – ein schwarz-weiß gefleckter Hund, der ebenfalls ins Bild montiert ist. Während die erste Frau den Betrachter anlächelt und das Dienstmädchen das Wechselgeld in ihrem Portemonnaie zählt, wirft die extravagant gekleidete Frau dem schwarzen Mann seitlich einen verführerischen Blick zu. Doch der achtet gar nicht auf sie und lacht den Betrachter an; die steil in seinem Mund steckende Zigarre korrespondiert allerdings mit der Sexualisierung ihres Blicks. So verdichtet die Montage Anspielungen auf St. Pauli als Rotlichtviertel mit der Sexualisierung von Frauen in der wilhelminischen Öffentlichkeit und der Präsenz eines schwarzen Mannes zu einer Metapher für »Rassenmischung«.
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Dies ist ebenso der Fall in Zukunftskarten aus Halvert, Camenz, Jauer, Uelzen, Goldberg und Antonienhütte, alle zwischen 1906 und 1909 verschickt. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln.
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Anders in dieser Werbekarte für ein so genannten Automaten-Restaurant: Sie positioniert die Figur nicht in Relation zu einer Frau, sondern zu einem AutomatenRestaurant. Seit Mitte der 1890er Jahre standen diese ganz ohne Bedienung auskommenden Restaurants für Fortschritt und Automatisierung.30 Abbildung 26: »Residenz-Automat Wehn & Co., Dresden«, verschickt 1908.
Dass die Werbekarte für das Dresdner Automatenrestaurant so prominent einen schwarzen Mann ins Bild rückte, ist vor diesem Hintergrund mehrdeutig: Schwarze Menschen waren auf Bildpostkarten häufig eine visuelle Markierung für die USA; zugleich waren sie ein beliebtes Motiv in der Werbegrafik, besonders in dienenden Funktionen.31 Die Werbung für das Automaten-Restaurant rief damit einen Amerikanismus-Diskurs als Modernitätsversprechen auf und führte zugleich das Aufstiegs- und Wohlstandsversprechen der Mechanisierung und Automatisierung von Produktionsvorgängen vor Augen, die Transformation des schwarzen Dieners zum schwarzen Flaneur.
30
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Vgl. Wilhelm Hornbostel/Nils Jockel (Hg.): Automatenwelten. Freizeitzeugen des Jahrhunderts, München, New York 1998; Rüdiger Wolf: Der Knüller. Lebende Photographien im Automaten-Restaurant vorgeführt, in: Heimat Dortmund. Stadtgeschichte in Bildern und Berichten 1992 (1): S. 24-27. Neben dem berühmten Sarotti-Mohr, der Schokolade serviert, sind bis heute zahlreiche Werbegrafiken von Ludwig Hohlbein bekannt, siehe Volker Duvigneau: Ludwig Hohlwein 1874-1949. Kunstgewerbe und Reklamekunst, München 1996; zum internationalen Kontext vgl. Claude Macherel: NégriPub. 100 ans d'image des Noirs dans la publicité, Fribourg 1988.
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In ihrer ausgestellten Künstlichkeit unterscheiden sich diese Fotomontagen von Karikaturen, die den Alltag der Migration aus den Kolonien nach Deutschland verhandelten. Gerade die Serie »Hamburger Momentaufnahmen«, die in diese Richtung interpretiert werden könnte, zeigt dies im Verhältnis zu anderen, gleichzeitig zirkulierenden Postkarten. Als Hafenstadt rekrutierte Hamburg beispielsweise seine Arbeiter nicht nur lokal, sondern weltweit. Auf deutschen Handelsschiffen arbeiteten um 1900 rund 10 Prozent »farbige Seeleute« aus Asien und Afrika.32 Abbildung 27: »Original Hamburger Strassenleben. Am Hafen«
Diese Witzpostkarte, die nach 1905 in Hamburg produziert wurde, zeigt einen europäischen, einen afrikanischen und einen asiatischen Matrosen Arm in Arm. Das Trio zieht singend und alkoholisiert durch den Hamburger Hafen, und die in Gedichtform abgefasste Bildunterschrift spricht von einem »schönen Bunde, vereint in sel'ger Stunde«. Ein Schutzmann im Bildhintergrund sieht dem Treiben zu. Durch
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Sibylle Küttner: Farbige Seeleute im Kaiserreich. Asiaten und Afrikaner im Dienst der deutschen Handelsmarine, Erfurt 2000, S. 10.
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diese Konstellation vermittelt die Karikatur eine Mischung aus betonter Normalität und der Überwachung ihrer prekären Grenze.33 Im Vergleich dazu waren die Fotomontagen weniger eindeutig. Sie schufen keine Karikaturen, sondern Ikonen. Die in die Bilder montierten schwarzen Figuren waren nicht Passanten aus dem Alltagsleben, deren Charakteristika besonders deutlich gemacht wurden, sondern Figuren aus der Welt des Varieté. Sie waren Mittel zum Zweck, gingen jedoch in keinem der vielen möglichen Kontexte auf, die sie berührten. Die Ursache ist in ihren Bewegungsmustern und Körperlinien zu suchen, die eine Ästhetik des spitzen Winkels und der schrägen Linien bedienten, wie sie im Repertoire des Black Atlantic typisch war und im Cakewalk auf unzähligen Bildpostkarten nachgestellt wurde. Ihre Haltung stellte den performativen Charakter von Spazierengehen zum Teil nur minimal aus und baute dadurch eine irritierende Spannung kaum wahrnehmbarer Abweichung auf.34 Abbildung 28: »Brodie & Brodie. That Mulatto Duett«. Abbildung 25: Ausschnitte
In der »Hamburger Momentaufnahme« auf St. Pauli (Abb. 25) sind die angewinkelten Ellbogen des Mannes seitlich leicht ausgestellt. Diese Ästhetik findet sich auch in den schrägen Linien von Armen und Beinen in Abb. 24 und den asymmetrischen Linien der Arm- und Kopfhaltung in der Figur »Hamburg Fährhaus«, die in anderen
33 34
Vgl. auch »Hamburger Strassenbilder. Am Hafen«, vor 1905, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Hier sei noch einmal auf die Analyse dieser Technik als »compelling insinuation« verwiesen, vgl. Kap. III.1. Exzentrik und Groteske.
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Zukunftskarten häufig zitiert wurde. Diese Haltungen zitieren alltägliche Gesten wie das Tragen des Spazierstocks, das Lüften des Huts, das nickende Grüßen mit dem Kopf. Doch wie auf der Bühne sind diese Gesten weniger zufällig als die anderer Passanten. Sie ähneln Haltungen, die afroamerikanische Tänzer_innen in Deutschland zur Eigenwerbung auf Bildpostkarten und in Varietézeitschriften in Umlauf brachten. Besonders deutlich wird diese Korrespondenz zwischen »Hamburger Momentaufnahme« und der Werbepostkarte des Tanzduos »Brodie & Brodie« (Abb. 28). Wie der Mann in der »Hamburger Momentaufnahme« sind die Ellbogen des Tänzers seitlich ausgestellt, und die Körperspannung läuft bis in die Fingerspitzen. Das breite Lächeln auf seinem Gesicht, das auf den Bühnen des Unterhaltungsgewerbes so beliebt war, positionierte ihn zwar als harmlos vergnügten Zeitgenossen. Doch seine Bewegungen waren zugleich autonom und selbstbewusst. Weil diese Figur stets im Bildvordergrund positioniert ist und direkt aus dem Bild schaut, hat sie etwas Konfrontatives. Sie ist souverän, aufmerksam und flexibel – wie der Prototyp des modernen Großstadtmenschen in den bereits zitierten Beschreibungen Simmels oder Bergsons, dabei jedoch nicht blasiert, sondern scheinbar ganz offen und bei sich.35
K OLONIALE A MBIVALENZ Dieser Abschnitt analysiert Karikaturen, die Ambivalenzen im kolonialen Verhältnis als schwarz-weiße Paarbeziehung und Gruppenkonstellation situierten. Es zeigt sich, dass die Metaphorisierung des Cakewalks Teil eines größeren Korpus war, der die Grenzen nationaler Gemeinschaftskonstitution unter den Bedingungen von Migration und Kolonialismus verhandelte. Witzpostkarten verbreiteten um 1900 Bilder, die scheinbar selbstverständlich die Color Line überschritten.36 Sie waren erfolgreich, weil sie an verschiedenste Erfahrungen und Ereignisse, Widerstände und Begehrlichkeiten im kolonialen Alltag anschließen konnten. Dazu gehörte neben den tatsächlichen Begegnungen auf der Straße die Begegnung mit Bildern, deren Zirkulation stets neue Varianten und Kontexte erzeugte. Im Folgenden rekonstruiere ich mögliche Kontexte von zwei Karikaturen auf Postkarten. Sie reichen von antikolonialen Widerständen über Migrationspolitik hin zu Zukunftsvisionen als Inversion des herrschenden Glaubens an Fortschritt. Die Postkarte »Deutsche Eroberungen am Kongo« wurde 1912 von Augsburg nach München geschickt. Ihre Bildbeschriftung spielte auf das Kongo-MarokkoAbkommen zwischen dem Kaiserreich und Frankreich an. Nach jahrelangen Konflikten einigten sich die beiden Kolonialmächte, und Deutschland bekam unter Ver35 36
Vgl. zu Bergson und Simmel Kap. III.1. Zweierlei Lachen. Vgl. Axster, Koloniale Spektakel.
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zicht auf Einfluss in Marokko Teile von Französisch-Äquatorial-Afrika zugesprochen. Diese als »Neu-Kamerun« bezeichneten Gebiete sollten ein erster Schritt sein, um Zugang zum schiffbaren Kongo zu erlangen.37 Abbildung 29: »Deutsche Eroberungen am Kongo«
Auf den ersten Blick stellt die Karikatur dieses Ereignis als fröhliches Kinderspiel dar. Sie zeigt vier Kinder Arm in Arm, links ein schwarzer Junge, neben ihm ein weißes Mädchen, das sich bei ihm eingehakt hat. An ihrem Arm geht ein schwarzes Mädchen, um deren Schultern ein weißer Junge einen Arm gelegt hat. Mädchen und Jungen blicken sich an, die beiden Frauen in der Mitte sind eingehakt, beachten einander aber nicht weiter. So ist die Gruppe in zwei heterosexuelle Paare aufgeteilt. Die Kinder sind ärmlich angezogen: Flicken bedecken ihre abgerissenen Kleider. Doch sie schreiten fröhlich und energisch aus. Der weiße Junge hebt ein Bein wie zum Tanz und führt die Parade mit einem nach oben gestreckten Ast an. Alle lächeln, doch die Augen der schwarzen Kinder sind mit Tränen gefüllt. Ihr Gesichtsausdruck ist widersprüchlich. Während die Gesichter der weißen Kinder eindeutig lesbar sind, bleiben die ihrer schwarzen Spielkamerad_innen mehrdeutig: Sie haben nicht nur Tränen, sondern auch Falten im Gesicht. Es sind keine fröhlichen Kinder, sondern verkindlichte Erwachsene. Ein gemeinsamer Tanz in den Kolonien war 1912 auch auf der Jahresrevue im Metropoltheater zu sehen gewesen. In der Revue Chauffeur, ins Metropol! gab es eine Szene mit einem danach populär gewordenen Schlager, »Malongo vom Kon-
37
Vgl. Karl Ritter: Neu-Kamerun. Das von Frankreich an Deutschland im Abkommen vom 4. November 1911 abgetretene Gebiet (Veröffentlichungen des Reichskolonialamts 4), Jena 1912.
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go«. Dieser wartete in der Szene auf die Ankunft des »Berliner Schiebers« in NeuKamerun. Was würde passieren, wenn sich die Kolonisierten die subproletarische und vom Black Atlantic beeinflusste Tanzkultur der Metropole aneigneten, fragte die Szene implizit. Zugleich spielte der Dialog mit einer anderen Bedeutung von »Schieber« im Sinne von Schiebung als Korruption.38 Abbildung 30: »Schwarz-Weisse Annäherung«
Die Karikatur auf dieser Postkarte nimmt das Motiv von schwarzen und weißen Kindern in abgerissenen Kleidern auf. Hier sind alle vier als verkindlichte Erwachsene dargestellt. Sie gehen nicht Arm in Arm, sondern stehen mit Musikinstrumenten nebeneinander. Die beiden schwarzen Kinder links und rechts schlagen Trommeln, während die weißen Kinder in der Mitte aus einem Küchentrichter und einer Gießkanne Musik zu machen versuchen. Wieder sind ihre abgerissenen Kleider mit Flicken bedeckt, die Instrumente und das Küchen- und Gartengerät, das dafür herhalten soll, sind durchlöchert. Die Bildunterschrift lautet: »Schwarz-weiße Annäherung«. Die Gerätschaften legen nahe, dass dabei keine oder zumindest keine angenehmen Töne zustande gebracht würden. Zugleich rufen sie mit Dienstpersonal und Gärtner ein proletarisches Milieu auf. Die Figuren haben sich hier in ihrer Armut einander angenähert. Dass sich in den Kolonien ein proletarisches Milieu herausbilden könnte, in dem die Color Line keine Rolle spielte, wurde um 1900 nicht nur in
38
Vgl. Ritzel, Synkopen-Tänze, S. 182. Der Schieber bezog sich auf den »Schiebetanz« und zugleich auf ein halbseidenes Milieu, vgl. zum »Berliner Schieber« Kurt Tucholsky: Rin in die Escarpins!, in: Vorwärts vom 07.02.1914, online auf http://www.textlog.de/.
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Kapstadt als Problem gesehen, sondern auch in den deutschen Kolonien. Kolonialbehörden problematisierten die unregulierte Migration in die Kolonien und setzten sich für die Deportation verarmter Migrant_innen nach Deutschland ein. Migrationskontrolle, sei es aus Übersee oder dem Landesinneren, sollte die Entstehung eines urbanen Proletariats in kolonialen Hafenstädten verhindern.39 Die Karikaturen tanzender und musizierender Kinder lassen sich aber auch als Rassifizierung von Klassenverhältnissen in Deutschland interpretieren, die auf Ereignisse »öffentlicher Un-Ordnung« reagierten. Thomas Lindenberger zeigt in Straßenpolitik, einer Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung im Kaiserreich, dass es um 1900 zahlreiche Formen von Alltagshandeln gab, die das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellten. Die Straße war ein Massenmedium, so Lindenberger, das gesellschaftliche Konflikte jenseits der etablierten politischen Institutionen sichtbar machte. Die Teilnehmer_innen an dieser Form von Politik waren meist Mitglieder der Unterschichten. Sie bildeten zusammen mit anderen Passanten eine zwischen passiver und aktiver Teilnahme schwankende Menschenmenge.40 Besonders zur Wachablösung und zu Truppenaufmärschen versammelten sich viele, um die marschierenden Soldaten zu sehen und die Militärmusik zu hören. Jugendliche aus Arbeitervierteln nutzten diese Situationen, um neben oder vor den Truppen ihre Version einer Wachablösung vorzuführen, »die Arme ineinander verschlungen, die Füße taktmäßig bewegend, die Köpfe herausfordernd erhoben, als ob ihnen die Aufmerksamkeit der herbeigeströmten Passanten gälte«.41 Auf dem Rückweg in ihre Viertel marschierten die Jugendlichen häufig noch weiter auf der Straße und wurden von der Polizei des »groben Unfugs« beschuldigt.42 Im März 1904 berichtete die New York Times aus Berlin, beim Abmarsch von Truppen, die zur Verstärkung der Schutztruppe in Deutsch-Südwest-Afrika im Krieg gegen die Herero und Nama eingesetzt werden sollten, sei es zu Unruhen gekommen. Schon einmal hätten in der Woche davor Jugendliche die Vorgänge behindert, weil sie neben den Truppen hergelaufen seien. Nun wollte die Polizei einen geordneten Abmarsch sicherstellen und sperrte Straßen ab. Doch trotz zahlreicher Festnahmen griffen die Protestierenden die Polizei an: »Several hundred persons, including the anti-military elements, animated by the Socialist's criticism of the army and the colonial policy of the Government, hustled the police, even covertly
39
40 41 42
Vgl. Minu Haschemi Yekani: Die (Un-)Erwünschten. Arbeit, Rassismus und Migration in Deutsch-Ostafrika (1885-1914), unveröffentlichtes Manuskript, Ph.D. thesis, European University Institute, Florenz; zum britischen Kontext vgl. Harald Fischer-Tiné: Low and Licentious Europeans. Race, Class and ›White Subalternity‹ in Colonial India, New Delhi 2009. Lindenberger, Straßenpolitik, S. 116-118. Paul Lindenberg: Berlin in Wort und Bild, Berlin 1895, S. 115. Lindenberger, Straßenpolitik, S. 124-128.
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attacking them.«43 Die Menge habe schließlich eine Polizeistation angegriffen und Fenster eingeworfen, nicht jedoch die abmarschierenden Soldaten selbst attackiert. Hingegen wurde weder im Berliner Tageblatt noch im sozialdemokratischen Vorwärts Derartiges gemeldet. Das Tageblatt berichtete über den Massenauflauf bei den Abtransporten, stellte sie aber als Indiz für die patriotische Unterstützung durch die Bevölkerung dar. Unruhe schrieb das Blatt der Schaulust zu: »Das nachdrängende Publikum suchte sich gewaltsam Eingang zum Perron zu verschaffen, wurde aber durch eine starke Schutzmannskette in Schach gehalten.«44 An besagtem 30. März, als es nach Angaben der New York Times zu den »anti-military riots« gekommen sein soll, war im Tageblatt sogar nur von »brausenden Hurrarufen« die Rede.45 Auch der Vorwärts berichtete nicht von spontanen Aktionen, was aber wenig verwundert. Die Zeitung griff zwar täglich die Kolonialpolitik der Regierung an und machte die deutsche Verwaltung und die deutschen Händler für den Ausbruch der Kämpfe verantwortlich.46 Sie belegte diese Thesen durch Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Soldaten und einfachen Postangestellten, die aus erster Hand aus der deutschen Kolonie berichteten.47 Doch sie rief nicht zu direkten Aktionen auf. Sozialdemokraten wurden damals von der politischen Polizei bereits verhaftet, wenn sie das Wort »Revolution« nur in den Mund nahmen.48 Die rechtliche Begründung war im Übrigen dieselbe, die auch die »eigensinnigen« Jugendlichen betraf, wenn sie der Polizei in die Hände fielen: »grober Unfug«. Dementsprechend bemühten sie sich, bei ihren eigenen öffentlichen Aufmärschen ein diszipliniertes Bild abzugeben.49 Karikaturen stellten dagegen das koloniale Verhältnis offensiv als potentiell reversibles Machtverhältnis dar, verharmlosten es aber auch als Kinderspiel. Zudem luden sie ihre Nutzer_innen ein, sich selbst in diesen Bildraum einzuschreiben. Auf die Rückseite von »Deutsche Eroberungen am Kongo« schrieb der Absender der Karte unter anderem: »Schau Dir mal diese Gesellschaft richtig an, die sind doch wirklich sehr liebe Kerls – passen famos zusammen.« (Abb. 29) Der ironische Kommentar war wie eine Lektüreanleitung, um die Ambivalenz des Bildes zu neu-
43 44 45 46 47 48
49
Berlin Anti-Military Riot, in: New York Times, 31. März 1904, S. 9. Berliner Tageblatt, 25. März 1904, Morgenausgabe, 1. Beiblatt. Berliner Tageblatt, 30. März 1904, Morgenausgabe, 1. Beiblatt. Vgl. Die Schandwirtschaft der Händler im Herero-Land, in: Vorwärts, 29. März 1904; Südwestafrikanische Eindrücke, in: Vorwärts, 31. März 1904, 1. Beilage. Vgl. Südwestafrikanische Eindrücke, in: Vorwärts, 31. März 1904, 1. Beilage. Vgl. die Verhaftung eines Redners bei einer öffentlichen Versammlung von Sozialdemokraten, der das Publikum aufgefordert hatte, ein »Hoch auf die revolutionäre Sozialdemokratie« auszubringen. Grober Unfug, in: Berliner Tageblatt, 30. März 1904, Morgenausgabe, 1. Beiblatt, vgl. auch Der auf das peinlichste berührte Polizeileutnant, in: Vorwärts, 30. März 1904. Vgl. Lindenberger, Straßenpolitik, S. 316.
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tralisieren. Diese Aneignung setzte sich auf der Vorderseite im Bild selbst fort: »Der liebe Hans« steht auf den Körper des schwarzen Jungen geschrieben, »Die nette Marie« auf den des weißen Mädchens. Diese Namensgebung normalisierte die narrative und assoziative Aufladung dieser heterosexuellen Gruppenkonstellation im kolonialen Kontext, die Hautfarbe motivisch ausstellte, in der nachträglichen Beschriftung aber als ganz gleichgültig behandelte. Abbildung 31: »Konzerthaus Bauer, Hamburg St. Pauli«
Oder war Hans etwa ein schwarzer Deutscher, mit dem Absender und Adressatin befreundet waren? Es ist unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar. Denn solche Karikaturen waren auch an die Präsenz schwarzer Migrant_innen und die Gründung deutsch-afrikanischer Familien anschlussfähig. Verena Westermann beschreibt den proletarischen Alltag afrikanischer Migrant_innen in Hamburg um 1900 als wenig glamourös. Sie hatten häufig recht profane Berufe, arbeiteten in der Fabrik oder am Hafen.50 Andere machten sich im Unterhaltungsgewerbe selbständig, vermarkteten entweder besondere Fähigkeiten oder nutzten einfach die besondere Aufmerksamkeit, die sie einem Lokal verschaffen konnten. Das Konzerthaus Bauer warb um 1900 mit einer fotografischen Postkarte, die zwei schwarze Kellner mit einer wei-
50
Verena Westermann: Eine fast vergessene Einwanderung. AfrikanerInnen in Hamburg 1884-1945, in: Heiko Möhle (Hg.): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika – eine Spurensuche in Hamburg, Hamburg 1999, S. 87-92.
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ßen Bedienung am Tresen einer Wirtschaft auf St. Pauli zeigte (Abb. 31).51 Obige Karikaturen standen deshalb auch in einem Spannungsverhältnis zu Bildern, die aus dem Alltag der Migration erwuchsen und von ruhigen und gelassenen Posen geprägt waren.52 So lassen sich die beiden Karikaturen von tanzenden schwarzen und weißen Kindern auch als Antworten auf andere Bilder interpretieren. Besonders in den 1890er Jahren waren Zeichnungen in Umlauf gebracht worden, die das koloniale Verhältnis als Verbrüderung oder kindliche Freundschaft inszeniert hatten. Abbildungen 32 und 33: »Kolonialpolitik«
»Ein deutscher Reichsbruder«
Ein schwarzes und ein weißes Kind umarmen sich unter der Bildunterschrift »Kolonialpolitik« (Abb. 32). »Ein deutscher Reichsbruder« stand schon etwas ironischer unter der Zeichnung eines schwarzen Mannes, der als hemdsärmeliger Hafenarbeiter oder Matrose dargestellt ist (Abb. 33). Andere Postkarten aus den 1890er Jahren hatten Samoanerinnen im Lendenschurz als »Unsere neuen Landsleute« begrüßt.53 Karikaturen von schwarzen und weißen Kindern, die offenbar in eine ande51
52 53
Auf der 1914 verschickten Karte nahm der Absender auf der Rückseite Bezug auf das Motiv: »Wie finden sie diese Niggerkarte? Sind die nicht zum küssen?« steht handschriftlich unter dem Werbespruch »Wohin gehen wir jetzt? Ins Konzerthaus Bauer [...] Schönes geräumiges und freundliches Lokal mit Negerbedienung«. Der Absender markierte diesen letzten Begriff mit einem Kreis und versah ihn mit einem Pfeil, neben dem »Prosit [unleserlich]« steht. Vgl. »Martha und Henry, die beliebte Negerbedienung aus West-Indien«, Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Vgl. die Serie »Talofa Samoa. Ausstellung Samoa«, Altonaer Museum. Stiftung Historische Museen Hamburg.
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re Zukunft marschierten, stellten vor diesem Hintergrund Inversionen kolonialer Fantasien von Verbrüderung und Verführung dar. Der Traum kolonialer Herrschaft, dargestellt als Freundschaft und Liebschaft, war vom Alptraum kolonialer Ambivalenz begleitet. Witzpostkarten griffen die Angst vor Kontrollverlust auf und verharmlosten Konflikte als Kinderspiel. Dafür gab es um 1900 angesichts von zahlreichen Krisen und Kriegen in den Kolonien reichlich Anlass. Verwaltungsbeamte behandelten die neuen »Landsleute« als »Eingeborene«, die sie auf den Status von Arbeitskräften reduzieren und langfristig aus der Gemeinschaft einer kolonialen Gesellschaft ausschließen wollten.54 Die Idee einer kolonialen Gesellschaft musste angesichts der lokalen und transnational vernetzen Widerstände immer wieder gewaltsam durchgesetzt werden, zunehmend in Form von Kriegen, Zwangsumsiedlungen und Maßnahmen mörderischer Vernachlässigung. Immer mehr Bereiche des kolonialen Alltags waren verwaltungsrechtlich segregiert, Maßnahmen, die im Fall Deutsch-Südwest-Afrikas die Rationalität der Apartheid mit vorbereiteten.55 Immer wieder problematisierten koloniale Akteure, dass den Deutschen das nötige »Rassegefühl« fehle, um die Herausforderungen des kolonialen Projekts zu meistern. Die Überwachung und Regulierung von Migration in die Kolonien und aus den Kolonien nach Deutschland, die Gründung von Kolonialschulen oder das Verbot der »Einfuhr von Eingeborenen« aus den Deutschen Kolonien für Völkerschauen sollte die Modalitäten und die Intensitäten kolonialer Begegnungen begrenzen. Denn im Alltag kam es beständig zu Situationen, die einer kolonialen Platzzuweisung widersprachen.
F RAUENBEWEGUNG Die bisherigen Interpretationen gingen davon aus, dass sich schwarze Figuren im Bild auf die schwarze Diaspora oder das koloniale Verhältnis beziehen. Die Präsenz von Frauen erschien als Sexualisierung politischer Konflikte um Kolonisierung und Migration. Dreht man die Perspektive um und fragt nach den Konflikten, in die Frauen um 1900 eingebunden waren, lassen sich die Bilder als Rassifizierung von Geschlechterverhältnissen interpretieren. Wenn auf Bildpostkarten Dienstmädchen Arm in Arm mit schwarzen Männern tanzen, wenn elegant gekleidete Damen der Oberschicht sich beim Tanzen in den Arm eines schwarzen Mannes sinken lassen, dann stand nicht nur die Color Line zur Debatte, sondern auch die Bewegungsfrei-
54 55
Vgl. Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 62 ff. Vgl. Zimmerer, Völkermord; Rautenstrauch-Jost-Museum (Hg.): Namibia-Deutschland, Eine geteilte Geschichte. Widerstand, Gewalt, Erinnerung, Köln 2004; Gesine Krüger: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia, 1904 bis 1907, Göttingen 1999.
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heit von Frauen – im urbanen Raum ebenso wie in der Frage, mit wem sie Beziehungen eingingen. Könnten Frauen tun und lassen, was sie wollten, so die Botschaft, würden sie sich in letzter Konsequenz auch schwarze Männer als Partner suchen. Manche Karikaturen unterstellten, dass dies nur bei Frauen der Fall sei, die anderweitig keinen Mann gefunden hätten.56 Abbildung 34: Deutsche Postkarte, nach 1905.
Andere assoziierten die Bewegung für Emanzipation und Gleichberechtigung mit Rassenmischung: Eine von der Satire-Zeitschrift Simplicissimus herausgegebene Postkarte zeigt eine modisch gekleidete Frau auf dem Kutschbock neben einem schwarzen Kutscher, dessen Hände leer auf seinem Schoß liegen (Abb. 35). Denn die Zügel hat die Frau in der Hand. Dadurch war ebenfalls offen, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen. Die Repräsentation eines schwarzen Mannes und einer weißen Frau im selben Bild, die durch stumme Gesten Verbindung aufnahmen, verkoppelte koloniale und patriachale Ordnung, als seien sie gleichermaßen von der Forderung nach Emanzipation bedroht. Solche Karikaturen schlossen auch an Ereignisse im Alltag an, die häufig um das Problem kreisten, Kommunikation auf ein zweckdienliches Maß zu begrenzen oder humorvoll zu reagieren (und zur Ordnung zu rufen), wo diese Grenzen über56
So zeigt eine Karikatur einen unvollständig mit westlichen Kleidungsstücken ausgestatteten schwarzen Mann mit übergroßen roten Lippen in drei verschiedenen Posen. Darunter steht »War hier vergeblich dein Bemühn Um einen Mann, verzage nicht, Wir haben ja jetzt Kolonien, Was sichre Aussicht dir verspricht.« Vor 1905. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln.
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schritten wurden. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht Ereignisse rund um Völkerschauen, in denen Frauen eine Begeisterung für die Ausgestellten zum Ausdruck brachten, die in der kolonialen Presse noch Jahre später für Empörung und in Karikaturen für Belustigung sorgte.57 Abbildung 35: »Simplicissimus-Karte Serie 7 Nr. 3«
Diese Witze zirkulierten auch auf Bildpostkarten, jenem Medium, das bereits während der Völkerschauen eine gewisse Rolle in der Kommunikation zwischen Aus-
57
Vgl. »Kein Rassenhaß bei Hagenbeck: Knusper Knusper Knäuschen, Wer knuspert an mein Häuschen?« Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Die Karikatur zeigt zwei modisch gekleidete Damen, die ihre Hand gerade neugierig nach einem Zelt ausstrecken, in dem Mitglieder einer Hagenbeckschen Völkerschau untergebracht sind. Ein Bewohner lugt erschrocken unter der Zeltplane hervor. Auf der Rückseite steht gedruckt: »Zu den Artikeln des ›General Anzeigers‹ und der ›Neuen Hamburger Zeitung‹, betreffend Annäherungsversuchen weißer Damen an die Beduinen bei Hagenbeck liefert unser Zeichner umstehende humor. Skizze.« Vgl. auch Eric Ames: Intermissions at the Völkerschau: Traveling Between Performances, in: Issues of Performance in Politics and Arts: Proceedings of the 3rd Annual Interdisciplinary German Studies Conference at Berkeley, Berkeley CA 1997, S. 117127.
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gestellten und Zuschauer_innen spielte. Sie konnten dort Aufnahmen der Ausgestellten kaufen und als Postkarten verschicken. Manche signierten die Karten mit ihrem Namen und verwandelten sie in Autogrammkarten.58 Die dabei entstehenden Beziehungen glichen denen von Fans zu ihren Idolen und waren kolonialen Akteuren ein willkommener Anlass, diese Begeisterung zu problematisieren und die eigene Bevölkerung zu mehr »Rassebewußtsein« zu ermahnen.59 Dass die Ereignisse auch eine Dekade später, als die hier diskutierten Bildpostkarten zirkulierten, nicht vergessen waren, belegt ein Artikel in der Deutschen Kolonialzeitung von 1909. Das »Rasseproblem« sei die schwierigste aller kolonialen Fragen, heißt es da. Sie behandle die »Festsetzung des Verhältnisses zwischen Weiß und Schwarz«. Die Deutsche Kolonialgesellschaft habe darüber in den letzten Jahren intensiv diskutiert, und man sei einstimmig übereingekommen, dass »unbedingte weiße Vorherrschaft gegenüber Eingeborenen erhalten bleiben muß«. Leider sei das Problembewusstsein darüber aber noch nicht »Gemeingut«. Ereignisse in Deutschland, die in der Tagespresse verhandelt würden, seien Beleg für die »Würdelosigkeit« und das mangelnde »Rassebewußtsein« der Deutschen. »Erwachsene deutsche Mädchen aus angeblich besseren Ständen scheuen sich nicht unter dem Vorwande des Briefmarkensammelns mit Negern aus Togo, die in der deutschen Schule unterrichtet worden sind, in brieflichen Verkehr zu treten. Es fragt sich, wer die Adressen dieser Neger den Mädchen in gewissen Pensionaten zugesteckt hat. Aus den Stilproben aufgefangener Briefe ergibt sich, daß dieser Verkehr in eine ungesunde Schwärmerei ausartet. Eine siebzehnjährige Berlinerin schreibt ihrem ›Freunde‹, daß sie eine Freundin habe, die auch gern einen schwarzen Freund hätte, er möchte ihr daher eine Adresse vermitteln. Sie fügt ihre eigene Photographie bei! Ein Mädchen aus Sachsen, das offenbar reif für das Sanatorium ist, macht einem schwarzen Jüngling gar einen Heiratsantrag. Es scheint sich um einen weit verzweigten Unfug zu handeln, würdig der beschämenden Erinnerungen an die Kolonialausstellung von 1896 in Berlin, wo weiße Frauen und Mädchen solchen Negern aus Kamerun und anderen Kolonien nachliefen. Unter diesen Negern war auch Friedrich, der Sohn des berüchtigten Oberhäuptlings der Herero, Samuel Maharero, der für sklavische Frauenseelen zur königlichen Hoheit wurde, wie jener ›Prinz‹ Akwa, den erst die Gerichte in die Schranken seiner Stellung zurückweisen konnten, so sehr war dieser Schauneger verhätschelt worden. Für Friedrich kamen noch lange nach seiner Rückkehr nach Okahandja Liebesbriefe und allerlei Postpakete mit Geschenken an. Zum Glück hat er sie niemals erhalten, sie wurden auf irgend58
59
Vgl. zum Beispiel »Carl Hagenbeck's Tierpark, Stellingen-Hamburg. Aethiopien. Hochzeitstanz.« Die Postkarte ist auf der Rückseite mit arabischen Schriftzeichen versehen. Darunter steht ein üblicher Postkartengruß von »Vater und Mutter« an ihre Kinder auf Deutsch. Die Karte wurde 1909 verschickt und noch im Zug auf der Rückfahrt von Hamburg nach Bremen aufgegeben. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Rassenfragen, in: Deutsche Kolonialzeitung 1909 26 (36): S. 593.
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einem Wege abgefangen. Eine Folge jener Berliner Ausstellung ist das Verbot, Eingeborene aus deutschen Kolonien für Schaustellungen nach Europa auszuführen. Alle, die in die Lage kommen, Ausschreitungen der Gefühlsduselei von der eingangs erwähnten Art zu erfahren, mögen das ihrige beitragen, sie zu verhindern, und die Negerjungen in Afrika sollen erfahren, daß es zwischen ihnen und weißen Mädchen eine Entfernung gibt, die ihnen zu überschreiten nicht gestattet ist.«60
Dieser Artikel in der Deutschen Kolonialzeitung bringt die Paranoia kolonialer Akteure vor unkontrollierten Kommunikationswegen zum Ausdruck. Sie erwiesen sich als reversibel und instabil.61 Er zeigt auch, dass sich koloniale Herrschaft nicht auf Intervention in den Kolonien beschränkte, sondern auch die Regierung der kolonisierenden Bevölkerung mit einschloss. Wer einem »Eingeborenen« einen Heiratsantrag mache, sei »reif fürs Sanatorium«.62 Doch einem Mann einen Heiratsantrag zu machen, war ohnehin nicht selbstverständlich für Frauen. So verkoppelten sich im kolonialen Diskurs Verteidigungslinien patriarchaler Gesellschaftsordnung mit der Rationalität von »Rassebewußtsein«. Der Artikel nahm dabei eine pädagogische Position ein. Eltern sollten aufgeklärt werden, der »Briefschreibeunfug [...] gesteuert« werden, alle sollen zusammen helfen, um den »Ausschreitungen« des Gefühls Einhalt zu gebieten. Als Gegenmittel bot der Artikel Gegengefühle an: Verachtung, Mitleid und Pathologisierung. Die Blicke der Frauen in den Postkarten der »Hamburger Momentaufnahmen« lassen sich vor dem Hintergrund solcher Auseinandersetzungen als ironische Kommentare zu diesem pädagogischen Vorhaben interpretieren (Abb. 24 und 25). Der Artikel machte die private Korrespondenz von Frauen und Mädchen mit ihren afrikanischen Brieffreunden öffentlich; die öffentlich sichtbaren Fotomontagen auf Bildpostkarten stellten die Flirtkonstellation als Hamburger Alltag aus. Als Ansichtskarten versprachen sie damit einem weißen männlichen Betrachter, dass ihn in Hamburg gute Unterhaltung erwarte. Zugleich boten sie weißen deutschen Frauen an, sich das Privileg des neugierigen Blicks anzueignen. Rasse als Spektakel war ein inhärenter Bestandteil von Techniken der kolonialen Wissensproduktion um 1900.63 Der interessierte Seitenblick der weißen Frau auf den schwarzen Mann lässt sich als Einladung an Frauen verstehen, dieses Spektakel zu genießen. Doch unweigerlich waren Frauen auch selbst Teil dieses Spektakels. Rassifizierte und sexualisierte Blickregime trafen in diesen Fotomontagen aufeinander.
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Rassenfragen, in: Deutsche Kolonialzeitung 1909 26 (36), S. 593-594. Vgl. Kusser, Reversible Relationen. Rassenfragen, in: Deutsche Kolonialzeitung 1909 26 (36), S. 593-594. Vgl. James Smalls: »Race« as Spectacle in Late-Nineteenth-Century French Art and Popular Culture, in: French Historical Studies 2003 26 (2): S. 351-382.
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In dem Buch Femme Flaneur untersucht Rita Täuber Gemälde von Künstlerinnen der klassischen Moderne und weist nach, dass sich Frauen das Privileg, ins moderne Stadtleben eintauchen zu dürfen, erst aneignen mussten. Es war oft schon ein Problem, unbegleitet in die Öffentlichkeit zu treten. Bestimmte Orte waren für Frauen nur als Arbeiterinnen oder Prostituierte zugänglich, zur Erfüllung männlicher Bedürfnisse, nicht jedoch als Konsumentinnen oder Kundinnen. Viele Künstlerinnen zeichneten den aneignenden Blick von Frauen nach.64 Auch in den »Hamburger Momentaufnahmen« verhandelten Augen- und Körperbewegung Handlungsmacht, unabhängig davon, welch stereotype Motive sie nahe legten. Die Figuren werden vorgeführt, führen aber auch selbst etwas vor. Sie sind sowohl »represented« als auch »representing«, wie Griselda Pollock es nennt.65 Die Fotomontagen mit ihren künstlichen Blickbeziehungen, ihrer so ausgestellten Künstlichkeit, die gar nicht erst versuchte, realistisch zu wirken, experimentierten ebenfalls mit der Lenkbarkeit von Aufmerksamkeit. So wie sie der weißen Frau im Bild unterstellten, dass sie ihren Blick zwangsläufig auf den schwarzen Mann in ihrer Nähe heften müsse, so setzten die Bilder selbst seine Präsenz ein, um die Aufmerksamkeit des Betrachters zu binden. Diese Struktur legte nahe, die Beziehung sexualisiert zu lesen. Doch war dies die einzig mögliche Lektüre, oder gab es noch einen anderen historischen Bezugsrahmen für diese Begegnungen? Warfen sie nicht potentiell auch die Frage auf, was all die unterschiedlichen Menschen, die in der Stadt zusammenlebten, gemeinsam hatten? Hier war die Konstellation zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern noch aus anderen Gründen signifikant (und erzeugte ex negativo die Gewalt der Sexualisierung). Denn viele Frauen kämpften um 1900 um Gleichberechtigung – um sich im öffentlichen Raum zu bewegen, zu organisieren und letztlich auch, um politische Rechte durchzusetzen. Die »Momentaufnahmen« aus Hamburg könnten deshalb auch als Fragen interpretiert werden: Was würde passieren, wenn die vier Passanten auf der Reeperbahn anfangen würden, sich zu unterhalten? Worüber hätten sie sprechen können? Hatten sie etwas gemeinsam? Schwarze Männer kämpften um 1900 ebenso um Bürgerrechte und Bewegungsfreiheit wie weiße Frauen, beide waren einem spezifischen Blickregime ausgesetzt, das sie überwachte und zum Spektakel machte, wo ihre Präsenz aus dem Rahmen zu fallen drohte.66 In den Ereignissen rund um die Berliner Gewerbeausstellung 1896 verdichtete sich dieser Zusammenhang potentiell. Als die Organisatoren der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 »Eingeborene« aus den deutschen Kolonien anwarben, die den Besucher_innen ihre »Sitten
64 65 66
Rita Täuber u.a. (Hg.): Femme Flaneur. Erkundungen zwischen Boulevard und Sperrbezirk, Bonn 2004. Vgl. Griselda Pollock: With My Own Eyes. Fetishism, the Labouring Body and the Colour of its Sex, in: Art History 1994 17 (3): 342-382, hier: S. 344. Vgl. dazu ausführlich Kap. II.3.
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und Gebräuche« vorführen sollten, kamen viele prominente Vertreter wie Samuel Maharero von den Herero in DSWA nach Berlin, die dort eigentlich Politik machen wollten. Sie wurden enttäuscht und sahen sich statt einer Audienz beim Kaiser als spektakuläre Ausstellungsstücke positioniert. Auseinandersetzungen um die dabei angemessene Bekleidung dokumentieren ihren Widerstand gegen dieses Arrangement. Die Herero setzten durch, nicht in traditioneller, sondern in westlicher Kleidung aufzutreten.67 Zur gleichen Zeit organisierten Berliner Frauenvereine einen Internationalen Frauenkongress in der Stadt. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt, denn die Frauen erhofften sich dadurch internationale Aufmerksamkeit. Die bürgerlich dominierte Veranstaltung fand im September 1896 im Festsaal und den Nebenräumen des Roten Rathauses statt. Man hatte mit 600 Teilnehmerinnen gerechnet, es kamen bereits am Eröffnungsabend 1.300 Delegierte aus Europa und den Amerikas. Insgesamt wurden Karten für 1.700 Teilnehmerinnen ausgegeben. Die Frauen tauschten sich über den Stand der Frauenbewegung in verschiedenen Ländern aus, diskutierten Reformkonzepte und Berufsmöglichkeiten und setzten sich mit der sozialistischen Frauenbewegung auseinander. Die Berichte ausländischer Delegierter machten deutlich, dass Deutschland im internationalen Vergleich in Sachen Frauenrechte Nachholbedarf hatte. Das Recht auf Versammlungs- und Redefreiheit konnten Frauen in Preußen erst 1908 durchsetzen; die Veranstaltung überhaupt durchzuführen, zeugte also von Mut.68 Die Frauen gingen ihren Weg »unter schweren Mühen, verfolgt von Hohn und Spott der Menge«, so die Frauenrechtlerin Marie Stritt.69 Doch unermüdlich würden sie vordringen, »die Bahn für die Nachstrebenden eröffnend.« Das Bild von Frauen, die sich mühsam durch eine ihnen feindlich gesinnte Menschenmenge kämpfen, beobachtet, behindert und verspottet, war eine eindrückliche Metapher für ihren Kampf um Rechte, der zugleich eine neue Bewegungsfreiheit erkämpfte. Im herrschenden Blickregime als Spektakel zu dienen – dieses Position teilten die Delegierten der Frauenbewegung mit den zur gleichen Zeit in der Stadt anwesenden Repräsentant_innen der Kolonien. Doch eine explizite Verbindung zwischen dem eigenen Kampf um Bewegungsfreiheit und der kolonialen Situation stellten sie nicht her. Im Gegenteil waren viele bürgerliche Frauen selbst in der Kolonialbewe67
68
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Vgl. Astrid Kusser, Eigensinniges »Material«. Visuelle Präsentationen einer kolonialen Welt und ihre ambivalenten Effekte, in: Van der Heyden, Kolonialismus hierzulande, S. 309-316; Joachim Zeller: Friedrich Maharero – Ein Herero in Berlin, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 206-307. Barbara Spitzer: Zwei Veranstaltungen, ein Zeitpunkt: Gewerbeausstellung und Internationaler Frauenkongreß in Berlin 1896, in: Bezirksamt Treptow (Hg.): Die verhinderte Weltausstellung. Beiträge zur Berliner Gewerbeausstellung 1896, Berlin 1996, S. 167174. Zitiert in Spitzer, Zwei Veranstaltungen, S. 172.
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gung aktiv. Am ersten und am letzten Tag des Kongresses besuchten die Delegierten die Ausstellung. In den Offiziellen Ausstellungsnachrichten stand hierzu: »Sie kamen zahlreich nach Treptow [...]. Mit der Pariserin, die in modernster Seiden-Toilette ihre kurze Schleppe über den Kies der Ausstellungswege rauschen läßt, schreitet das im fußfreien, einfachsten dunklen Merinokleid gehüllte ›Fräulein Doctor‹ einher! Hinter ihnen eine Dame mit kostbarem Pelzcape im lebhaften Gespräch mit einer fast zu einfach gekleideten Frau! Einen Schmuck aber tragen sie alle – das vergoldete Abzeichen des Kongresses an der Schleife [...] und wenn das Publikum eine Dame mit der Schleife an der Brust kommen sah, dann stieß man sich leise an und flüsterte: ›Eine officielle Frau!‹«70
Die Beschreibung machte die Frauen zu einem Spektakel und damit implizit zu einem Teil der Attraktion der Ausstellung. Der politische Charakter ihrer Veranstaltung, ihre Funktion und ihre Anliegen verschwanden hinter dem Fokus auf die Kleider, die sie trugen. Ihre Forderungen und Analysen kamen nicht zur Sprache. Der Text behandelte sie ähnlich wie Karikaturen und Fotomontagen auf Bildpostkarten: Sie wurden gesehen, aber nicht gehört. Dabei verwandelten sich ihre Körper und die darauf getragenen Symbole in stumme, rätselhafte, aber signifikante Zeichen. Witze auf Bildpostkarten, die Begegnungen und Kommunikation im kolonialen Verhältnis als sexualisierten Flirt darstellten, entstanden in einem historischen Resonanzraum, der von politischen Konflikten, dem Kampf um gleiche Rechte und die Auseinandersetzung mit rassistischen und sexistischen Blickregimen geprägt war. Das Repertoire des Black Atlantic fand Eingang in diese Diskurse, indem Figuren aus der Welt des Varietés zum Teil sprichwörtlich ausgeschnitten und in neue Kontexte montiert wurden, die zwischen imperialen und kosmopolitischen Ansprüchen oszillierten. In diesen mikropolitischen Interventionen und vor dem Hintergrund alltagspolitischer Konflikte wurde der Cakewalk zu einem Sinnbild für die Verkehrung der herrschenden Ordnung. Seine Metaphorisierung dokumentiert einen spezifischen Erwartungshorizont der Zeitgenoss_innen, der bereits um 1900 von der Populärkultur des Black Atlantic geprägt war. Im Versuch, die Nachwirkungen des Kolonialismus in der Gegenwart anzuerkennen, ohne die ambivalente Geschichte des Widerstands mit ihren Siegen und Niederlagen auszublenden, brachte der kamerunische Philosoph Achille Mbembe den Begriff »Afropolitanismus« ins Spiel. Er beschreibt die Moderne aus afrikanischer Perspektive als »Zirkulation von Welten«, die vom transatlantischen Sklavenhandel und von der Dynamik kolonialer Landnahme im 19. Jahrhundert enorm be70
Offizielle Ausstellungsnachrichten. Organ der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, Nr. 163 vom 27.9.1896, S. 12, zitiert in Spitzer, Zwei Veranstaltungen, S. 173-174.
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schleunigt worden sei, mit diesen aber nicht angefangen habe. Es gelte, eine andere Moderne zu erinnern, die mit den sich ausweitenden Kommunikationsbeziehungen anders umgegangen sei. Neben einer Bewegung der Dispersion stellt er eine Dynamik der Immersion fest, ein Eintauchen in und ein Weitertragen von Differenz, das er als »langsamen, manchmal inkohärenten Tanz« beschreibt. »Das Wissen um diese Verfugung des Hier mit dem Anderswo, das Wissen um die Gegenwart des Anderswo im Hier und umgekehrt, diese Relativierung der ursprünglichen Wurzeln und Zugehörigkeiten, diese Art, absichtsvoll das Fremde, den Fremden und das Ferne anzunehmen, diese Fähigkeit, sein eigenes Gesicht in dem des Fremden wiederzuerkennen, die Spuren des Fernen in der nächsten Umgebung zu würdigen, sich Unvertrautes zu Eigen zu machen und mit dem zu arbeiten, was gemeinhin als Gegensatz erscheint – eine derartige kulturelle, historische und ästhetische Empfindsamkeit ist gemeint, wenn man den Begriff ›Afropolitanismus‹ gebraucht.«71
Mbembe schlägt mit diesem Text eine politische Haltung vor, die der stummen Gewalt der »Postkolonie« in der Gegenwart etwas entgegensetzen sollte.72 Diese Haltung basiert auf der Erkenntnis, dass Geschichte nicht nur die Geschichte der Sieger ist, sondern umgeschrieben und angeeignet werden kann. Auch in den populärkulturellen Polemiken der Jahrhundertwende lässt sich ein »Wissen um diese Verfugung des Hier und Anderswo« rekonstruieren. Bildmontagen und Karikaturen waren symptomatische Sichtbarkeiten einer Spannung, die im kolonialen Verhältnis immer schon eine Alternative aufzeigte, eine Möglichkeit, anders in der Welt zu sein. Was in der polizeilichen Logik, die der Artikel in der Deutschen Kolonialzeitschrift ausbuchstabierte, »Ausschreitungen der Gefühlsduselei« waren, erscheint aus der Perspektive des Afropolitanismus als Ausdruck einer »Empfindsamkeit«, eine Reaktion und Antwort auf die »Zirkulation von Welten«. Sie ermöglichte Kommunikation, die den Rahmen der »Welt als Ausstellung« situativ in Frage stellte. Das Privileg des Blicks und die Maske des Lachens, die Bedeutung der Bekleidung und Bewegung des Körpers – erst aus dieser Perspektive werden manche der auf den ersten Blick kuriosen Funde im visuellen Archiv historisch situierbar. Allerdings fand dieser experimentelle Umgang mit Figuren, Gesten und Haltungen aus bürgerlicher Perspektive im Rahmen einer scheinbar stabilen Ordnung statt, die sich mit der »Frauenbewegung«, der »Rassenfrage« und der »Arbeiterfrage« be-
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Achille Mbembe: Afrika – Die Verfugung des Hier mit dem Anderswo, in: Le Monde Diplomatique (Berlin) 5/2006, abgerufen auf www.eurozine.com, zuletzt abgerufen am 14.01.2010. Achille Mbembe: De la postcolonie. Essai sur l'imagination politique dans l'Afrique contemporaine, Paris 2000.
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schäftigte und die bemüht war, revolutionäres Potential in Reformen umzuwandeln, wofür sie in diesen Bewegungen auch Verbündete fanden. Der Erste Weltkrieg unterbrach diesen Fortschrittsoptimismus und seine kosmopolitischen Fantasien und stärkte defensive, nationalistische Positionen. Besonders deutlich wird dies in Artikeln internationaler Varietézeitschriften, die nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit dem Zusammenbruch ihrer Geschäftsgrundlage konfrontiert waren. Die basierte auf zweierlei Formen der Bewegungsfreiheit: Reisefreiheit und Mobilität ihrer Arbeitskraft, und die Freiheit, sich ständig neu zu erfinden. Wer mit Ragtime im Programm auftrat, gab sich einen englischen, wer spanische Tänze vorführte, einen spanischen Namen. »Lillian Dennis, the Texasdancer« verteidigte dieses Vorgehen kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einem Leserbrief, in dem sie sich als international auftretende deutsche Artistin darstellte.73 Artisten hatten sich zu einer »Weltloge« zusammengeschlossen, doch mit dem Krieg wurde die Kooperation eingestellt.74 Eine von manchen schon länger insgeheim für notwendig befundene Renationalisierung des Gewerbes setzte ein. Auch ein spezifischer Opferdiskurs begann: Man habe sich an »ausländische« Vorbilder angepasst, und was habe man nun davon? Man sei von Feinden umzingelt und müsse sich schleunigst auf sich selbst besinnen. Nie wieder sollten sich die Deutschen so sehr selbst vergessen.75 Leserbriefe und weitere Artikel in nachfolgenden Ausgaben belegen zwar, dass sich die Artist_innen alles andere als einig waren. Doch kosmopolitische Positionen gerieten immer weiter in die Defensive. Im Ausland auf der Bühne (oder überhaupt) kein Deutscher sein zu wollen, wurde mehr und mehr unsagbar.
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Vgl. Leserbrief Nationale Kunst, in: Das Organ der Varietéwelt 1914 7 (301). Vgl. Chauvinismus und Nationalismus, in: Das Organ der Variétéwelt 1914 7 (299) vom 15. August, S. 1-2. Else Bernried: Deutsche Kunst, in: Das Organ der Varietéwelt 1914 7 (300) vom 23. August, S. 1-2; Rudolf Dessau: Wie wird es werden? in: Das Organ der Variétéwelt 7 (303): S. 1-2; Fort mit dem Pessimismus: in: Das Organ der Varietéwelt 1914 7 (304): S. 3-4; Fort mit dem übertriebenen Optimismus, in: Das Organ der Varietéwelt 1914 7 (305): S. 3-4; Patriotismus, in: Das Organ der Varietéwelt 1914 7 (306): S. 3-4.
Regierung
Eine Untersuchung von 1929 zählte insgesamt 14.000 Lehrkräfte und 6.500 Tanzschulen in Deutschland. Mehr als 100.000 Personen verdienten in irgendeiner Form am Tanzen, weil sie Räume vermieteten, Musik machten, Unterricht gaben. Mehr als sieben Millionen Menschen hatten zwischen 1924 und 1929 einen Tanzkurs besucht. Damit waren mehr als zehn Prozent der deutschen Bevölkerung in Kontakt mit den Tänzen des Black Atlantic gekommen.1 Tanzlehrer_innen, Turniertänzer_innen und andere Expert_innen des Gesellschaftstanzes begannen bereits vor dem Ersten Weltkrieg, sich international zu vernetzen. Sie nutzten die Möglichkeiten der Selbsterfindung und Improvisation im Repertoire des Black Atlantic und erfanden ihre eigenen Versionen. Doch im gleichen Moment erklärten sie die Experimentierphase für beendet und versuchten, neue Standards zu setzen. Damit verwandelten sie das, was sie selbst in diesen Tänzen gelernt hatten, in Herrschaftswissen. Dieser Prozess der Bevormundung der anfangs selbsttätigen Adepten lässt sich anhand von Tanzbrevieren der 1910er bis 1940er Jahre untersuchen. Diese Publikationen lieferten Anleitungen zum Selbsterlernen der Tänze. Neben der Diskursivierung des Phänomens geben sie Einblick in Bildpolitiken und Visualisierungsstrategien, die der Tanzdynamik eine bestimmte Rationalität verleihen sollten. Dabei entstanden neue Regeln und Räume, um eine standardisierte Version dieser Tänze abzusichern. Tanzlehrbücher problematisierten bestimmte Körperbewegungen, mobilisierten Schamgefühle und schlossen schwarze Tänzer_innen aus der Konstruktion des »modernen« Gesellschaftstanzes aus. Andere Aspekte wie die Intensivierung von Körperbeherrschung hoben sie dagegen besonders hervor. Dabei veränderte sich der Diskurs um den Gesellschaftstanz, denn die Konfliktlinie verlief nicht mehr zwischen Gegner_innen und Befürworter_innen der neuen Tänze, son1
Vgl. Dr. Justus Horn: Der Tanz als Wirtschaftsfaktor, in: Die Stimme seines Herrn. Monatsschrift für Musikfreunde, herausgegeben von der Deutschen Grammophon 1929 14 (11): S. 199-201; allgemein vgl. Schär, Schlager, S. 106; Helmut Günther: Tanzunterricht in Deutschland. Eine kultursoziologische Studie, Remscheid 1991.
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dern verhandelte die Frage, wie diese richtig zu tanzen seien. Diese partielle Integration des Repertoires des Black Atlantic brachte einen modernen Gesellschaftstanz hervor, der die Color Line wieder bestätigte. Die Beteiligten konnten sich weiterhin als Weiße imaginieren, die schwarze Tänze tanzten, ohne sich im immer wieder beschworenen »Tanzfieber« selbst zu verlieren. Das folgende Kapitel untersucht, wie sich Tanzlehrer und andere Experten gegen die unkontrollierte Ausbreitung der Tänze des Black Atlantic organisierten und vernetzten. Dabei entstand eine neue Beziehung zur Kultur des Black Atlantic: ein vereinnahmender Ausschluss. Expert_innen sprachen im Namen »moderner Tänze« und ermutigten ihre Leser_innen und Schüler_innen, sich diese mit Fleiß und Disziplin zu erarbeiten. Sie lobten schwarze Tänze und warnten ihre Zeitgenoss_innen zugleich davor, ihren Status als Weiße in Frage zu stellen. Keinesfalls sollten sie vergessen, wen sie in den Augen der Gesellschaft darstellten. Das Kapitel zeigt, dass sich das dabei produzierte Herrschaftswissen relativ problemlos in Kulturpolitiken des Nationalsozialismus fügte. Der Rekurs auf einen bedrohten Volkskörper, der von innen und außen gefährdet sei und dessen Gesundheit gefördert werden müsse, war bereits in der Weimarer Republik weit verbreitet.2 Dabei handelte es sich jedoch nicht um einen linearen Prozess. Vom »modernen Gesellschaftstanz« führte kein direkter Weg zur faschistischen »Volksgemeinschaft«. Nationalsozialistische Propaganda polemisierte sogar gegen die perfektionierte Disziplin des Tanzsports und versprach eine Art Re-Tribalisierung des Gesellschaftstanzes durch den deutschen Volkstanz.
D ISZIPLINIERUNG Seit dem Cakewalk hatte sich das Repertoire des Black Atlantic weitgehend ohne Tanzlehrer_innen ausgebreitet. Dagegen gründete sich in England bereits 1904 die Imperial Society of Teachers of Dancing. In ihrem Newsletter beklagte sie, dass Tanzen zum Freizeitvergnügen verkomme, keine Kunst mehr sei und verkündete, dass man gegen diese »bad habits« einen langen Krieg zu führen gedenke. Man wolle dem Tanzen seine »pristine nobleness« zurückgeben, nach der »inexplicable vogue, now happily past, of the niggers' cake-walk«.3 Umso mehr begrüßte die Society den Boston, eine Version des langsamen Walzers, der als ebenfalls amerikanisches Produkt die notwendige Kurskorrektur ermöglichen sollte. Die rasche Abfol-
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Vgl. Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009; Cornelie Usborne: Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994. Vgl. Tim Creswell: ›You cannot shake that shimmy here‹. Producing Mobility on the Dance Floor, in: Cultural Geographies 2006 (13): S. 55-77, hier: S. 65.
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ge von Modetänzen dokumentiert damit nicht nur, wie sich ein Repertoire des Black Atlantic ausbreitete, sondern auch, wie manche versuchten, diesen Prozess abzuwehren, umzulenken oder nutzbar zu machen. Auch in Deutschland kritisierten Experten das Geschehen auf den Tanzflächen. »Wie immer bei uns, wurde ohne Kenntnis der Schritte drauf losgetanzt und maßlos übertrieben«.4 Sie begrüßten die Begeisterung für das Tanzen, wollten ihre Leser_innen aber zur Selbstkritik erziehen. »Das Publikum tanzt unaussprechlich schlecht, speziell die Herren. Bis auf wenige Ausnahmen sieht man nur ungewollte Tanzkarikaturen!«5 Tanzlehrbücher warnten ihre Leser_innen davor, sich lächerlich zu machen. Schamgefühle sollten dieses Publikum wieder dazu bringen, sich wie vom Rand der Tanzfläche aus selbst zu beobachten und Verantwortung für das Bild zu übernehmen, das sie abgaben. Es sei traurig, was man auf den Tanzflächen zu sehen bekomme, stand 1919 im Brevier der modernen Gesellschaftstänze, die Tanzenden machten sich lächerlich, wenn sie immer nur komplizierte Drehungen lernen wollten, ohne sich mit Körperhaltung und Rhythmus zu beschäftigen. 6 Deutsche Tanzlehrer bekamen in den 1920er Jahren nicht nur aus dem Ausland oder aus den unteren Schichten Konkurrenz, sondern auch von Frauen. Das »Elend« der ausgebildeten Tanzlehrer ergebe sich nicht zuletzt aus der »Unzahl von neu auftauchenden Tanzlehrern und Tanzlehrerinnen«, die im Krieg arbeitslos geworden seien oder auch aus den »immer noch bestehenden Tanzlehrerinnenfabriken« strömten, beklagte der 1922 gegründete Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Verband. Selten bemühten sich die Zeitgenossen damals, die männliche und weibliche Form zu benutzen. In der Metapher der »Tanzlehrerinnenfabrik« verschmolz die Aversion gegen Frauen als Konkurrentinnen mit dem Vorwurf schlechter Ausbildung und Fließbandproduktion.7 Neben Tanzlehrern meldeten sich aber auch die Amateure zu Wort, die sich von professionellen Bühnentänzer_innen abgrenzten. Anders als konservative Kräfte lehnten sie die neuen Tänze nicht ab, sondern sprachen in ihrem Namen. Um sich nach innen Autorität und nach außen Anerkennung zu verschaffen, legten sie die Ziele der modernen Tänze fest: »Ruhe, Einfachheit, ästhetische Linie«.8 Sie grenzten sich damit von einem als regellos empfundenen Treiben auf den Tanzflächen ab, 4 5 6
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F. W. Koebner (Hg.): Jazz und Shimmy. Brevier der neuesten Tänze, Berlin 1921, S. 3. Paul Moran: Moderne Tänze. Lehrbuch für Amateure, Wien 1927/1928, 2. Auflage. Der moderne Gesellschaftstanz, offener Brief von Rudolf Belling, November 1919, in: Alexander Meiners: Das Brevier der modernen Gesellschaftstänze, Berlin 1920, S. 8-9. Rudolf Belling war Bildhauer und beschäftigte sich in seinem Werk seit den 1910er Jahren mit dem Thema Tanz. Er war Mitglied des Arbeitsrats für Kunst, der zwischen 1918 und 1921 in Anlehnung an die Bildung von Arbeiterräten bestand. Terpsichore. Offizielles Organ des Allgemeinen Deutschen Tanzlehrer-Verbandes e.V. 1923 (1): S. 8, zitiert nach Schär, Schlager, S. 104. Pollack, Revolution, S. 47.
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von der großen »Masse«, die glaube, »tanzen heißt seinen Gefühlen freien Lauf lassen.«9 Die dagegen entwickelten Programmatiken erkannten in den neuen Tänzen nicht nur Hingabe und Ekstase, sondern auch Ästhetik und Disziplin. Doch anstatt die konstitutive Spannung dieser beiden Pole aufrecht zu erhalten, spielten sie einen gegen den anderen aus und verteufelten den Wunsch, sich beim Tanzen gehen zu lassen. Sinn und Zweck des Tanzens seien »natürlich-sinngemäße Bewegungen« und »unumschränkte Herrschaft« über den Körper.10 Was man auf den Tanzflächen sehen könne, sei doch nichts als »Persiflage«, schreibt Heinz Pollack 1922 in Die Revolution des Gesellschaftstanzes.11 Die Bewegung der Tanzclubs habe sich deshalb von denjenigen abgesondert, die sich beim Tanzen nur austoben wollten.12 »Durch Nivellierung der Ecken und Kanten wurde der Weg zur harmonischen Form endlich freigegeben. [...] So kristallisierten sich aus ungeheurem Wust exzentrischer Bewegung langsam reine, unverfälschte Linien des Tanzens. So gibt man den einzelnen Tänzen ihre ursprünglichen Charakteristika in Tempo und Rhythmus wieder.«13
Der spätere Journalist und Schriftsteller war damals erst 21 Jahre alt. Möglicherweise grenzte er sich in Unkenntnis der jüngsten Tanzgeschichte von ihrer Herkunft ab. Ecken und Kanten waren, wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt, zentrale Charakteristika dieser Tänze. Pollack konnte mit dem »Wust an exzentrischen Bewegungen« nichts anfangen. Er selbst nannte implizit den Grund: Er wisse selbst, dass eine Revolution »schnell beendet werden« müsse, wenn sie erfolgreich sein wolle. Die Revolution des Gesellschaftstanzes dauere aber zu lange. Man habe das Alte gestürzt, mit dem Neuen aber nicht recht etwas anzufangen gewusst. »Und niemand war da, der warnte und der erklärte.«14 Pollack beklagte einen Mangel an Vorbildern und Lehrern. Tatsächlich gab es 1922 im deutschen Varieté nur wenige internationale Künstler_innen, die meisten afroamerikanischen Tänzer_innen waren 1914 in die USA zurückgekehrt, auch wenn sie davor jahrelang in Europa gelebt hatten. Doch das Tanzbrevier der neuesten Tänze von 1921, das Jazz und Shimmy gewidmet war, hätte es auf jeden Fall besser wissen müssen, schließlich hatte der Autor schon vor dem Krieg Bücher zum
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Wilhelm Bosch: Im Zeitalter des Modetanzes. Shimmy, Shottisch espagnole, El Chucho, Der neue deutsche Walzer und alle weiteren Modetänze. Lehr und Nachschlagebuch für Anfänger und Tänzer, Berlin 1922, S. 12. Pollack, Revolution, S. 120. Pollack, Revolution, S. 44. Pollack, Revolution, S. 46. Pollack, Revolution, S. 47 f. Pollack, Revolution, S. 124.
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Thema veröffentlicht. Aber auch er behauptete, dass die neuen Tänze ohne Vorbild und von den Deutschen deshalb ganz falsch verstanden worden seien.15 Im Verlauf der 1920er Jahre kamen in Deutschland zahlreiche solcher Bücher und Pamphlete über die neuen Tänze auf den Markt, die neben der Beschreibung von Tanzschritten und Figuren auch einen veränderten gesellschaftspolitischen Rahmen des Tanzens absteckten.16 Sie normalisierten die neuen Tänze, indem sie standardisierte Versionen davon unterrichteten und problematisierten im Gegenzug die Tänzer_innen, die sich diesem Standard nicht beugen wollten. Viele argumentierten, dass eine neue Gesellschaft auch neue Tänze brauche. Nach der erfolgreichen Revolution sollte tanzend eine neue Ordnung der Selbstführung und Selbstkontrolle etabliert werden. Eine solche Perspektive von Regierung nahmen auch liberale Kommentatoren wie Pollack ein.17 Wenn es nach den Autoren dieser Publikationen ging, sollte das Tanzen die Funktion wechseln, nicht länger Spielwiese revolutionärer Bewegungen sein, sondern Exerzierfeld einer Art Tanzbürger_innenschaft. »Unser neues Deutschland will Republik sein«, argumentierte das Brevier moderner Gesellschaftstänze 1920. Tanzend sollten sie sich in einer Gemeinschaft moderner, sich selbst verwirklichender Individuen verorten. Wie das gehe, sollten die Deutschen aus England und den USA lernen. Die neuen Tänze weisen hier den Weg in Richtung einer republikanischen Zukunft; »es werden schon die richtigen Tänze sein, die in Ländern der Freiheit, wo man absolut auf Sport eingestellt ist, geboren werden, um dem Bedürfnis, sich individuell ausleben zu können, zu entsprechen.«18 Tatsächlich spukte durch das revolutionäre Nachkriegsdeutschland ein noch gefährlicheres Gespenst als das der Amerikanisierung. Bereits 1922 fand sich in einem Lehr- und Nachschlagebuch über Modetänze eine Rubrik »Tanzbolschewismus«. Solche Polemiken reagierten auf die russische Oktoberrevolution von 1917 und die Konflikte um Räteregierungen in Deutschland. Die Mobilisierung für den 15 16
17
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Koebner, Jazz und Shimmy, S. 66-86, hier: S. 83. Vgl. allein für 1920 und 1921 Meiners, Brevier; S. Jaffé: Der Tanz im Selbstunterricht. Anleitung zur Erlernung der gebräuchlichsten Tänze, einschließlich der modernsten Tänze, Dresden 1920; Anna Wietfeld: Kurze Tanz- und Anstandslehre. Anleitung für feines Benehmen nebst Beschreibung der üblichen Gesellschafts-Tänze sowie der modernen Tänze wie Tango, Two Step, On [sic] Step, Foxtrott usw., Mühlhausen i. Th. [1921]; Franz Wiesner: Gesellschaftliche Tanzkunst, Moderne Tänze, Dresden 1921; Koebner, Jazz und Shimmy. Besonders deutlich wird dies im Fall von Heinz Pollack, der später als Filmkritiker der Vossischen Zeitung, als Autor der Weltbühne und im Prager Exil nach 1933 als Mitarbeiter der Satirezeitschrift Simplicissimus arbeitete. Er war Mitorganisator des Kongresses Das freie Wort im Februar 1933 in Berlin. Pollack wanderte schließlich über Paris in die USA aus. Walter F. Peterson: The Berlin Liberal Press in Exile. A History of the Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung, 1933-1940, Tübingen 1987. Meiners, Brevier, S. 13.
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Krieg und die revolutionären Umbrüche hatten den Kulturbetrieb seit 1914 politisiert, nun setzten sich konservative Kräfte dafür ein, Politik und Kunst voneinander zu trennen. Doch eine solche Instrumentalisierung des Unpolitischen bedurfte ihrerseits wieder eines dezidiert politisierenden Begriffs: den des »Musikbolschewismus«.19 Neben der Abgrenzung von atonaler Musik, die Hörgewohnheiten im bürgerlichen Konzertsaal herausforderten, meinte der Begriff in den 1920er Jahren auch das Repertoire des Black Atlantic, was zu so schönen, allerdings abfällig gemeinten Aussagen wie »Jazz-band = Kapellenkommunismus« führte.20 Doch auch die Fürsprecher der neuen Tänze grenzten sich von der tatsächlichen Herkunft des Repertoires im Black Atlantic ab. Afroamerikanische Akteure, subproletarische Milieus und die kommerzielle Welt des Unterhaltungsgewerbes dienten allen Lehrbüchern als negative Abgrenzungsfolien. Die moderne Tanzbürger_innenschaft wandte sich an weiße Amateure der Mittelschicht, die tanzen wollten, ohne mit Blackness assoziiert zu werden oder gar Klassenverhältnisse zu verhandeln. Diese Tendenz, die Tänze aus ihrem Entstehungskontext herauszulösen und sie im Namen der Moderne als implizit bürgerliches und weißes Phänomen zu vermarkten, begann schon vor dem Ersten Weltkrieg. Das Tanz-Brevier von 1913 nahm zentrale Argumentationen der Disziplinierung der Tänze in den 1920er Jahren vorweg. Es wandte sich an die »gute Gesellschaft«, die tanzen wollte, ohne mit der »Demi-Monde«, den »Apachen« oder »Niggertänzen« in Verbindung gebracht zu werden.21 »Die modernen Tänze sind arg angefeindet, durch Verbote bedroht und in ihrer Existenz gefährdet worden. Warum, ist unerfindlich. Sie sollen gegen die guten Sitten verstoßen. Das ist natürlich Unfug. Jede Sache hat nämlich zwei Seiten. Jeder Tanz hat zwei Interpretationen: Eine vulgäre, die ins Palais de Danse flüchtet und eine distinguierte, die sich harmonisch den sonstigen Tanzregeln der guten Gesellschaft anpaßt. Ein Tango kann ein entzückendes ruhiges Tanzbild geben und kann ein von wüster Gemeinheit strotzender Apachentanz werden.«22
Was im Berliner Palais de Danse vor sich ging oder was die Apachentänzer darstellten, sollte lernbegierige Anfänger_innen am Besten gar nicht mehr kümmern. Man solle einfach Bewegungen vermeiden, die zu sehr an ein subproletarisches Mi-
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Eckhard John: Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 19181938, Stuttgart/Weimar 1994, S. 29. John, Musikbolschewismus, S. 290 ff. Vgl. F. W. Koebner/R. L. Leonard: Das Tanz-Brevier, Berlin 1913, S. 25 und S. 75. Koebner war Redakteur der Zeitschrift Elegante Welt, die bereits 1912 festgestellt hatte, dass die Grenze zwischen guter Gesellschaft und Demi-Monde nicht mehr klar zu ziehen war, vgl. Kap. II.3. Koebner, Tanz-Brevier, S. 5.
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lieu oder afroamerikanische Bühnentänzer_innen erinnerten. So könne man selbst entscheiden, was man darstellen wolle. Nach dem ersten Weltkrieg verstärkte sich diese Tendenz, und der Tonfall wurde defensiver und aggressiver. »Die Welt ist heute ein vergifteter und kranker Eiterballen. Die Unmoral der Menschen zeigt sich am ärgsten beim Tanz«, schrieb der Münchner Tanzlehrer Wilhelm Bosch 1922.23 Dass nach dem Krieg die moralischen Grundfesten der Gesellschaft erschüttert waren, verwundert nicht. Vielmehr überrascht die Energie, mit der diese Publikationen auf dem Terrain des Tanzes weiter Krieg führen wollten. »Wir stehen an der Klippe von Gutem und Bösem. [...] Stilvoller Tanz ist Kulturnotwendigkeit!«24 Doch Pollacks Die Revolution des Gesellschaftstanzes von 1922, das den politischen und tänzerischen Umbrüchen gleichermaßen positiv gegenüberstand, argumentierte normativ und moralisierend. Hauptangriffsfläche waren die deutschen Tänzer_innen. Die Leute sollten endlich aufhören, immer alles einfach nachmachen zu wollen. Nie könnten sie lernen, so zu tanzen wie die »Unzivilisierten, die Wilden, die Kannibalen«. Allenfalls könne man mühsam die Herrschaft über die eigenen Glieder erlernen. Diese Logik drehte die koloniale Zivilisierungsmission scheinbar um – das perfekte, schöne, ausbalancierte Tanzen haben andere den Europäern voraus, die Sinnlichkeit nicht ertragen können, sondern stets »kichernd« eine »erotische Spielerei« daraus machen.25 Dagegen forderten die Expert_innen der »modernen Tänze« mehr Ernsthaftigkeit. Gut tanze nur, wer nur bestimmte Regeln einhalte: den Oberkörper ruhig halten, den Körper entspannen und den Rest den »Tanzsachverständigen« überlassen.26 Nur diese seien in der Lage, schwierige Tänze wie den Charleston so zu verändern, dass nicht eine »scheußliche Groteske« daraus werde, wenn man ihn nachtanze. Eigentlich könnten ihn nämlich nur »Künstler oder Tänzer von Beruf« richtig gut ausführen.27 Dafür dürfe das Original aber nicht unnötig verändert werden, sondern müsse das Wesentliche des Tanzes erfassen, so dass dem Amateur noch alle Wege offen blieben, wenn er entsprechende Fortschritte mache.28 Die Lehrbücher sprachen zwar von Rhythmus, von Musikalität, von Schwung und fließenden Bewegungen, den dazu stets vorhandenen Gegenpol, mit dem sie nichts (mehr) anzufangen wussten, markierten sie aber als irrelevant und für ihre »Schüler« gar nicht zutreffend: Break und Improvisation, Humorstrategien und
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Bosch, Zeitalter, S. 12. Ebd. Pollack, Revolution, S. 119-120. Moran, Moderne Tänze, S. 61-64. Moran, Moderne Tänze, S. 101. Moran, Moderne Tänze, S. 102.
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Doppeldeutigkeit, die sich nicht darauf festlegen wollten, was sie repräsentierten, sondern das herrschende System der Repräsentation selbst in Frage stellten. »[Die Vermittlung des Charleston] muss sich auf Abschwächung und Beschönigung von gymnastischen, mimischen und possenhaften Übertreibungen beschränken, die der schwarzen Rasse ausgezeichnet stehen mögen, bei unseren Amateuren aber geradezu entsetzlich wirken.«29
Die Liebhaber »moderner Tänze« vermittelten die Bewegungen neuer Tänze selektiv und beriefen sich implizit auf die Kategorie »Rassebewusstsein«, das, wie die vorigen Abschnitte gezeigt haben, koloniale Akteure eingefordert hatten. Bestimmte Bewegungen, Haltungen und gestische Aussagen passten »zur schwarzen Rasse«, zu ihnen aber nicht. Sie sprachen nun im Namen der »weißen Rasse«. Um 1900 hatten die Gegner der neuen Tänze diese oft als hässlich oder unpassend bezeichnet, wogegen ihre Anhänger polemisch entgegneten, dass sie genau das sein wollten.30 Im Varieté traten Frauen auf, die Werbung für sich machten, indem sie betonten, sie seien chic, aber nicht schön. Nicht mehr »Schönheit, sondern Charme, Eleganz und Schick« machten die moderne Frau aus, die »kindlich« und »sexy« sein könne, aber nicht schön zu sein brauche.31 Mit dem Argument, das Tanzen müsse sich modernisieren und internationalisieren, wollten die Tanzlehrer_innen diesen Streit beenden und aus einem populärkulturellen Kontext herauslösen. Diese Doppelbewegung – die Tänze als »modern« zu markieren und an die weiße »Rasse« anzupassen – findet sich bereits im TanzBrevier von 1913. Das »Phantom ›Schiebe- und Wackeltänze‹« drohe, die modernen Tänze überhaupt zu bezeichnen, obwohl es mit diesen gar nichts zu tun habe.32 Damit war bereits ein erster Schritt getan, die Entstehungsgeschichte eines transatlantischen Repertoires umzuschreiben und sowohl die subproletarische wie die schwarze Herkunft der neuen Tänze zu negieren. Wenn es nach dem Tanz-Brevier von 1913 ging, sollten die »excentrischen Tänze« auf den Bühnentanz beschränkt werden: »Excentrisch nennen wir die Tänze, die nicht in den Ballsaal passen, aber
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Moran, Moderne Tänze, S. 102. Vgl. Gordon, Dances with Darwin, S. 39 ff. Cabaret Tanz Revue 1912 2 (47) S. 15. Vgl. auch die Anzeige von »Lola Pikardi, akrobatische Tanzsängerin, Jung! Chic! Sang [sic] Dance. Keine preisgekrönte Schönheit, aber dennoch schön!«, in: Das Variété 1903 1 (30). Was hier verhandelt wurde, war nicht zuletzt ein im ausgehenden 19. Jahrhundert medientechnisch erzeugtes Bild von »Normal-Schönheit« als Polemik gegen moderne Kunst, vgl. Kathrin Peters: Für Ärzte und Künstler. Anatomisches Bildwissen um 1900, in: Krüger (Hg.): Um/Ordnungen, S. 47-60. Koebner, Tanz-Brevier, S. 6. Vgl. zu den Auseinandersetzungen um »Schiebe- und Wackeltänze« kurz vor dem Ersten Weltkrieg, Kap. I.2. Gesellschaftlicher Verkehr.
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doch in ihm getanzt werden.« Das errege »zweifellos berechtigten Anstoß«. Diese Tänze seien zu vermeiden, um nicht »das Gespenst der ›Schiebetänze‹ heraufzubeschwören.«33 So erklärten die neuen Experten das polemische Verhältnis der neuen Tänze zur »Gesellschaft« für beendet. Bewegungen, die angetreten waren, gesellschaftliche Normen in Frage zu stellen, konstituierten zugleich ein Terrain, auf das sich neue Normen und Anforderungen aufsattelten. Rassismus war eine zentrale Technik, um auf diesem Terrain Grenzen zu ziehen und Ausschlüsse zu produzieren. »Souverän beherrschen die Seele des Tanzes, den Rhythmus, eigentlich nur zwei Völker: Spanier und Nigger.« Ausgerechnet der Tango, der wie bereits gezeigt in besonderem Maße ein Produkt des Black Atlantic war, kam Koebner besonders spanisch vor. Deutsche und englische Artist_innen bedienten sich mit Vorliebe schwarzer Tänze, »da schwarze Frauen als Tänzerinnen auf der Bühne nicht erwünscht sind.«34 Dass es diesen Ausschluss nicht gab, belegt ein Blick in die Programme deutscher Variétés der Vorkriegszeit. Warum also diese Behauptung? Das Tanzbrevier lobte schwarze Musik und afrikanische Rhythmen, wollte aber von schwarzen Tänzerinnen nichts wissen. Als »Rasse« verfügten sie einzig »souverän« über diese Tänze; doch als Individuen, als Künstler_innen, als Gegenüber in Kommunikation und Konkurrenz hätten sie die zurechtgelegte Expertise dieser Publikationen durcheinander gebracht. Die beste Kapelle Berlins sei eine Weile eine »Halbblutnegergesellschaft« im Casino im Eispalast gewesen. Sie hätte »die besten amerikanischen Sachen gebracht«.35 Koebner lobte schwarze Musiker, die deutschen Tänzer_innen Rhythmus zur Verfügung stellen. Doch die Definitionsmacht über das Tanzen wollte er selbst erobern. Dabei waren viele schwarze Tänzer_innen in Deutschland auf Tour, wie Johnson und Dean mit den Ragtime Six im Oktober 1913 in Berlin, nachdem das Duo seit mehr als zehn Jahren regelmäßig dort aufgetreten war.36 Doch das Tanzbrevier behauptete, »schwarze Tänzerinnen« seien auf der Bühne nicht erwünscht. Deutsche Tänzer_innen würden »bei Tanzturnieren die Preise holen und Deutschlands tanzliche Ehre gegen die anderen Nationen verteidigen.«37 Das Paradigma eines internationalen Wettbewerbs verwandelte eine transnationale Dynamik des Tanzens, die jedem »Rassebewusstsein« zuwidergelaufen war, in eine symbolische Auseinandersetzung zwischen implizit weißen Nationen. Der diesem Verfahren inhärente Rassismus zeigt sich nicht zuletzt im Verhältnis von Text und Bild. Die Tanzbücher Anfang der 1920er Jahre bildeten durchweg nur Fotografien und Zeichnungen weißer Tänzer_innen ab. Eine schwarze Figur
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Koebner, Tanz-Brevier, S. 62. Koebner, Tanz-Brevier, S. 101. Koebner, Tanz-Brevier, S. 81. Vgl. die Liste der Auftritte für das Jahr 1913 in Lotz, Johnson and Dean. Koebner, Tanz-Brevier, S. 82.
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taucht in Jazz und Shimmy nur an einer Stelle auf: als mechanisch tanzende Holzpuppe, die auf ein Grammophon montiert wird. Die kreisenden Bewegungen des Plattentellers versetzten die Figur wie eine Marionette in Bewegung. »Die neueste Erfindung. Der kleine Shimmy-Liddy tanzt auf jeder Platte«, lautet die Bildunterschrift.38 Doch der Vergleich zum Tanzbrevier von 1913 zeigt auch, dass der Rassismus des vereinnahmenden Ausschlusses keine Reaktion auf den verlorenen Ersten Weltkrieg oder die Besetzung des Rheinlandes mit Truppen durch französische Kolonialtruppen war. Der enorme Erfolg der Tänze quer durch verschiedene Gesellschaften und Schichten hatte schon vorher zu rassistischen Grenzziehungen geführt, die nicht zuletzt der Abgrenzung von den unteren Schichten im eigenen Land dienten. In diesem Zusammenhang wetterten Amateure wie Koebner und Pollack auch gegen die »Geschäftemacherei« kommerzieller Tanzsäle und der Berufstänzer_innen.39 Sie verdienten zwar selbst Geld, indem sie über das Tanzen schrieben, doch auf der Tanzfläche wollten sie den Wettbewerb lieber auf eine symbolische Ebene verschieben. Die Grenzziehungen, die sie vornahmen, entsprachen ihrer Klassenposition. Das soll aber nicht heißen, dass nur gutsituierte (Groß-) Bürger an diesem Expert_innendiskurs beteiligen sollten. Vielmehr sollte er eine klassenübergreifende Interessensgemeinschaft der »wahren« Tänzer herstellen. Das Brevier der modernen Gesellschaftstänze von 1920 beginnt mit einem (möglicherweise fiktiven) Dialog zwischen dem Autor und der Gastgeberin einer Soirée im großbürgerlichen Berliner Grunewald. Der Autor betont im Gespräch die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Tanzens und die Möglichkeit, ja moralische Notwendigkeit, es künstlerisch zu gestalten. Die Gastgeberin fragt nach seinem Beruf, woraufhin er »Arbeiter« antwortet. Aber er schreibe doch auch, fragt sie zurück. Als er bescheiden bejaht, schlägt sie ihm vor, doch ein Buch über das Tanzen zu schreiben. Er ist begeistert von dem Vertrauen, das sie in seine Fähigkeiten setzt, und macht sich an die Arbeit.40 Der Gesellschaftstanz, so suggeriert diese Einleitung, ermögliche Kommunikation und Verständigung zwischen Oberschicht und Arbeiterklasse. In seiner Beschreibung von Tänzen spielt Meiners Brevier Onestep, Boston und Foxtrott gegen Ragtime, Tango und Jazz aus. »Rag« solle man afroamerikanischen Bühnentänzer_innen überlassen, Tango sei rhythmisch zu exakt und dazu schwermütig, und der Jazz sei überhaupt ein »Hochstapler«. Dass auch die anderen Tänze ausländische Namen tragen, solle aber nicht abschrecken, Tanzen sei nun einmal »international« geworden.41 Als bügerlicher Wettbewerb unter Weißen ersetzten
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Koebner, Jazz und Shimmy, S. 88. Koebner, Tanz-Brevier, S. 83. Meiners, Brevier, S. 5-7. Meiners, Brevier, S. 10-11.
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diese internationalen Beziehungen die Dimension des Black Atlantic, der territoriale und identitäre Anrufungen stets unterlaufen hatte. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Tanzlehrer_innen in den Lernprozessen rund um das Tanzen eine wichtige Funktion erfüllten. Auf der Tanzfläche zu improvisieren, den Körper in verschiedene Bewegungszentren aufzuteilen und unabhängig voneinander zu bewegen – bis heute ist das für alle eine Herausforderung, die mit dieser Technik nicht aufwachsen. Auch die Kritik der Amateure ist nachvollziehbar, denn die Lust, tanzend Anti-Disziplin aufzuführen und die Spannung von Hingabe und Balance zugunsten von Kontrollverlust und Selbstauflösung aufzugeben, war tatsächlich zu einseitig. Doch anstatt den konstitutiven Spannungsbogen von Kontrolle und Kontrollverlust, von Disziplin und Hingabe zu untersuchen und die neue Tanztechnik zu vermitteln, riefen die Lehrbücher zur Ordnung und propagierten Körperdisziplin und Selbstbeherrschung. Der unbestimmte Wunsch, dieses Selbst zu verändern, sollte sich wieder vordefinierten Zielen unterordnen. Die Art und Weise, wie die Tänze des Black Atlantic standardisiert wurden, hatte deshalb nicht nur mit Transferverlust oder der Vermischung verschiedener Tanztechniken zu tun, sondern einen eminent politischen Charakter. Viele Tanzlehrbücher gaben Muster vor, anstatt eine neue Technik zu vermitteln. Ein »Grundschritt« und minimal eingesetzte dekorative Bewegungen der folgenden Frau ersetzten die Technik von Körperisolation und polyzentrischer Bewegung.42 In einem Moment, in dem sich die deutsche Bevölkerung besonders intensiv mit einem neuen Körperkonzept auseinandersetzte, vermittelten viele Tanzlehrer_innen den Eindruck, dass es eigentlich nicht viel zu lernen gab. Zum Vergleich sei hier noch einmal auf die afroamerikanische Tänzerin Aida Overton Walker verwiesen, die zur Zeit des Cakewalks erst in London, dann zurück in New York als eine der Ersten eine Art Tanzpädagogik des Black Atlantic entwickelte, die Kommunikation jenseits der Color Line ermöglichte. Ihr Beispiel zeigt, dass nicht jede Veränderung, Reform oder auch Pädagogik zu einer ReDisziplinierung oder Re-Kolonisierung des Tanzens führen musste, im Gegenteil. Walkers »moderner« Cakewalk grenzte sich zwar ebenfalls im Namen des Fortschritts vom »alten« Cakewalk ab und verabschiedete bestimmte Figuren und Spielereien als nicht mehr zeitgemäß. Auch sie plädierte im Namen von Eleganz und Grazie für Veränderung und nutzte ihren Erfolg im Ausland als Ausweis für tänzerische Autorität in den USA. Sie setzte ihre Schüler_innen nicht unter Druck, es richtig zu machen, sondern entlastete sie im Gegenteil von der Vorstellung, einem
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Vgl. Schär, Schlager, S. 92-96.
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bereits vorgegebenen Schema folgen zu müssen. Figuren kämen ganz von allein, argumentierte sie, wenn man erst den richtigen Schwung gefunden habe.43 Auch unter Europäern folgten nicht alle dem Schema der Lehrbücher. Die Tanzhistorikerin Mura Dehn dokumentierte in ihren Forschungsmaterialien einige der Missverständnisse, die sie in ihrer Kooperation mit afroamerikanischen Tänzer_innen aufklären konnte: »The source of Jazz is rhythm. The movement is just a by-product. A visual manifestation of each rhythm pattern which takes approximately the same form once the best solution is found. That is why when studying true jazz it is so hard to find a precise description of a step. From what position does one start? With what foot? In what direction to move? How is the position of the body, the head, the shoulder, where to swing that foot? The teacher looks surprised. This is completely unessential. No amount of faithful notation will make it correct – important is the time between beats, the tension or relaxation under the skin. One can catch it by taking the rhythm inside one's body – one has to enter the stream and be carried by it.«44
Hier ist von einer fast mathematischen Präzision die Rede, mit der die möglichen Optionen berechnet werden, die innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens und rhythmischen Musters Schritte und Bewegungen ermöglichen. In diesem Rahmen gibt es unendlich viel Freiheit und vor allem auch Wahlfreiheit. Die Art und Weise, wie diese New Yorker Tänzer_innen in der Zusammenarbeit mit Dehn ihre Technik beschrieben, steht der rassifizierenden Naturalisierung diametral entgegen, die den europäischen Diskurs prägte. Im Grunde dreht sich jeder der Modetänze des 20. Jahrhunderts darum, diese Technik zu erlernen oder besser: an ihrer steten Weiterentwicklung teilzuhaben, vom Cakewalk über den Lindy Hop zu Hip Hop und Break Dance. Bemerkenswert ist weniger die Tatsache, dass dieser Lernprozess schwierig und langwierig ist, sondern welchen Widerständen er begegnete.
I MMUNISIERUNG Die herkömmliche Tanzgeschichtsschreibung erzählt den Prozess der Durchsetzung und Verschulung der neuen Tänze zugleich als Erfolgs- und Verfallsgeschichte: Schwarze Tänze aus den Amerikas setzten sich durch und wurden zum Standard. Indem man sie ins Repertoire des Gesellschaftstanzes integrierte, verloren sie jedoch ihre ursprüngliche Vitalität. Diese Interpretation von Disziplinierung als re43 44
Vgl. zu Aida Overton Walker als Tanzlehrerin Krasner, Resistance, S. 75-98; allgemein zu ihren performativen Strategien Brooks, Bodies in Dissent, S. 281 ff. The ABC of Jazz Dance, Folder 1 Box 1, Mura Dehn Papers, New York Public Library for the Performing Arts, Jerome Robbins Dance Collection.
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pressivem Mechanismus übersieht jedoch, dass Fantasien der Bereinigung (von »Ecken und Kanten«, von Kommerz, Milieu und Blackness) auch eine Intensivierung des Tanzens und damit des Lebens versprachen. Sie agierten nicht nur über Normen, sondern auch in Form von Normalisierung. Das erklärt auch den steten Rekurs auf die weiße Rasse. Nach Michel Foucault entstanden in der Moderne parallel zu einem juridischen Normendiskurs Techniken der Normalisierung, die in Spielräumen zwischen den Gesetzes- und Normensystemen agierten. Statt einer dichotomen Gegenüberstellung von Norm und Abweichung operiert die Normalisierung mit abgestuften Skalen der Integrierbarkeit.45 Kategorisierungen und Differenzierungen markieren flexible Übergänge des Normalen ins Anormale, ein dynamischer Prozess, der beständig Aufmerksamkeit erfordert und ein stets unabgeschlossenes Versprechen auf Heilung formuliert. Isabell Lorey rekonstruiert in Weißsein und Immunisierung zwei verschiedene Figuren des Immunen, eine juridische, die Privilegien verteilt, und eine biopolitische, die auf die Immunisierung des Gesellschaftskörpers durch eine kontrollierte Hereinnahme des problematisierten Erregers setzt. Letztere verspricht Heilung, wenn wie bei einer Impfung geringe Dosen der Krankheitserreger dazu führen, dass bereits vor einer echten Ansteckung Anti-Körper entwickelt werden. Es gibt zwar keine Garantie dafür, dass dabei jeder einzelne gesund bleibt oder immun wird. Aber der Erfolg ist statistisch ablesbar.46 Die Art und Weise, wie die Tänze des Black Atlantic als moderne Standardtänze verändert und vereinnahmt wurden, soll im Folgenden als Immunisierungsstrategie interpretiert werden. Sie sollte die ständig wachsende Variabilität von Tanzbewegungen stoppen und die unkontrollierte Ausbreitung in geregelte Bahnen lenken. Anstatt Tänze zu verbieten, was sich ohnehin als nicht durchsetzbar erwiesen hatte, begannen Tanzlehrer_innen, im Namen der neuen Tänze ein alternatives Angebot zu schaffen, das sie zugleich nach innen in ihren Organisationen und gegenüber ihren Schüler_innen als Standard zu etablieren versuchten, an dem zukünftig Abweichungen gemessen werden konnten. Im ersten Schritt hatten sie gegen die transatlantischen Tänze selbst erfundene Tänze ins Spiel gebracht, was aber nicht besonders effektiv war. Das »Gegenmittel gegen den Tango«, die venezianische Furlana, habe ihren Siegeszug durch die Welt des Ballsaals angetreten, schrieb die Zeit-
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Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen 1997. Vgl. Isabell Lorey: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich 2011, S. 260 ff; dies.: Weißsein und Immunisierung. Zur Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung, in: Translate, »Beyond Culture. The Politics of Translation«, hg. von eipcp, http://translate.eipcp.net/, dort datiert 21.6.2007.
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schrift Cabaret Tanz Revue 1914.47 Tatsächlich waren solche Maßnahmen gegen Tango machtlos.48 So setzte sich ein anderes Vorgehen durch: »The genuine Shimmy with its shaking limbs and shoulders, is horrible, and offends, and should not be permitted, but if the dancer likes to do a certain foot variation of the foxtrot which has come to be known as the shimmy, let him do it. It is useless the teachers saying they won't have it; if the public want it they will help themselves. The teachers would be doing a more useful service if they would put their heads together and evolve some very harmless variation and suggest that it should take that form.«49
Die Erfahrung lehrte die Tanzlehrer_innen, dass sich die Tänze nicht verbieten ließen. Doch eine »harmlose« Version unter demselben Namen konnte eine Alternative schaffen. So fanden die neuen Tänze Eingang in die Tanzschulen, jedoch in entschärfter Form. Es mutet fast wie eine Verschwörung an, was die europäischen Tanzlehrer_innen auf ihren nationalen und internationalen Vernetzungstreffen in den 1920er Jahren verabredeten.50 Sie nutzten den Wissensvorsprung und die Autorität ihrer Profession, um Neugierde und Lust auf anderes Tanzen in eine bestimmte Richtung zu lenken, ohne dass von den Schüler_innen nachvollziehbar gewesen wäre, was sie wegließen oder veränderten. Sie produzierten ein moralisches Lexikon der Körperbewegungen, das streng, konsequent und vereinheitlichend war. Es setzte auf Eindeutigkeit und Wiederholbarkeit. »It was the variability of dance forms that [dance teachers] really could not put up with.«51 Dies wäre jedoch nicht möglich gewesen, hätte es nicht auch ein Begehren nach Regeln und Standards gegeben. Sie wolle den Frauen keinen Vortrag in Moral hal-
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Vgl. Cabaret Tanz Revue 1914 (76): S. 15. Neben der italienischen Furlana berichtete die Zeitschrift auch von einem »neuen Tanz aus dem alten China«, dem Ta-Tao. Koebner machte sich 1920 über diese gescheiterten Versuche lustig, vgl. F. W. Koebner: Das neue Tanzbrevier, Berlin 1920, S. 62-64. Treffen englischer Tanzlehrer im Juni 1921, zitiert in Creswell, You cannot, S. 63. 1923 schloss der Allgemeine Deutsche Tanzlehrer Verband (ADTV) einen Kartellvertrag mit dem 1920 gegründeten Reichsverband für Tanzsport (RfT). Der RfT vertrat die Interessen der Amateure, die meist in Form von Tanzclubs organisiert waren und sich mit den neuen Tänzen beschäftigten, und der ADTV die Interessen der »Berufstanzlehrer«, die ihnen grundsätzlich skeptisch gegenüber standen. Der Zusammenschluss legte den bis dahin geführten Streit insofern bei, als dass beide Seiten verabredeten, »den vornehmen Gesellschaftstanz auf gemeinsamer Grundlage und gemeinsamen Regeln zu fördern«. Institutionell ermöglichte das Kartell den Amateuren vom RfT, sich ohne besondere Prüfung Mitglieder im ADTV zu werden und sich so als Tanzlehrer_innen zu professionalisieren. Vgl. Hermann Bolz: Tanzsport, Gesellschaftstanz, Turniertanz. Eine Chronik des deutschen Tanzsports unter besonderer Berücksichtigung Kölns, Bd. 1, Köln 1999, S. 93 f. Creswell, You cannot, S. 72.
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ten, gab die Varietétänzerin Cléo de Merode in einem Interview 1912 an, doch sie rate den Frauen, sich »keine exotischen Tänze der neuen Welt aufzwingen [zu] lassen«.52 Von gesellschaftlichen Standards abzuweichen, erzeugte nicht zwangsläufig ein Gefühl von Freiheit oder Selbstermächtigung. Pollack behauptete 1922, die neue Musik aus den USA vergewaltige den tanzenden Körper und zwinge ihn zu mechanischen Bewegungen.53 Die Tanzlehrbücher versprachen zwar Abhilfe, formulierten aber eigentlich neue Anforderungen. So drängten sie ihre Leser_innen, ihre »Hemmungen« abzulegen und nicht so »schüchtern« zu sein. Sie erklärten Tanzen zu einer Willensfrage: »Jeder kann tanzen lernen.«54 Zur Entlastung adressierten sie ihre Leser_innen aber als Opfer eines »herrschenden Wirrwar[s]«, aus dem sie einen Ausweg anboten. Tatsächlich ging es um nichts weniger als darum, das Konzept der guten Gesellschaft aufrecht zu erhalten und neu zu begründen. Ganz offen gab Das Buch für moderne Tänze zu, Figuren weggelassen zu haben, die »zu leicht ins Schieben ausarten«. Es wolle die Grundlage der neuen Tänze vermitteln, die Schritte und Hauptfiguren, »wie sie überall in guter Gesellschaft gelten«.55 Unter dem Stichwort »Haltung« war hier zu lesen: »Die Dame darf in keinem Fall vom Herrn an sich gepreßt werden, es muß zwischen den beiden ein Abstand von mindestens einer Handbreite sein. Auch das Anlehnen von Wange an Wange, oder Umhalsen des Herrn mit dem linken Arm der Dame, oder das Andrücken ihrer rechten Hand an den Oberschenkel des Herrn – alles Sachen, die nur zu oft gemacht werden – sind in modernen Tänzen, genau wie in den alten, gänzlich unzulässig; diese üblen Gewohnheiten sind es, die die modernen Tänze in Mißkredit bringen und den wertvollsten Menschen den Geschmack am Tanzen rauben.«56
Zitate wie diese legen nahe, dass die Verhältnisse von Nähe und Distanz im Tanzpaar ständig neu verhandelt werden musste.57 Nicht nur Männer, auch Frauen scheinen sich das Recht genommen zu haben, selbst zu bestimmen, wie nah sie ihrem Tanzpartner kommen wollten und wo sie ihn berührten. Dem widersprachen die Lehrbücher und unterstützen damit möglicherweise jene, die sich mehr Abstand zum Tanzpartner wünschten. Doch statt ihre Schüler_innen darin zu bestärkten, ihre eigenen, je unterschiedlichen Bedürfnisse nach Nähe und Distanz ernst zu nehmen, sollten sie sich wieder einem internalisierten Blick von außen unterwerfen, als beo52 53 54 55 56 57
Cabaret Tanz Revue 1912 2 (48): S. 32. Pollack, Revolution, S. 78. A. Traber-Amiel: Das Buch für moderne Tänze, Berlin 1922, S. 3. Traber-Amiel, Das Buch, S. 7. Traber-Amiel, Das Buch, S. 39. Vgl. auch die Verteidigungstrategie des Tanzpaares, das 1913 in Bad Tölz und München wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt worden war, Kap. I.2. Gesellschaftlicher Verkehr.
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bachteten sie sich selbst vom Rand der Tanzfläche aus. Indem sie die Leser_innen zum »Selbsterlernen moderner Tänze« einluden, fingen sie die neu entdeckte Bewegungsfreiheit auf der Tanzfläche zugleich wieder in ein Netz der Repräsentation ein und lenkten die Kräfte, die sich dort entwickelt hatten, in normierende Bahnen. Zwar diskutierten diese Publikationen auch die neue »Technik«, die es für diese Tänze brauche: lockere Glieder, entspannte Hüften, Spontaneität und Improvisationsvermögen, musikalisches Gespür und einen Sinn für Rhythmus. Doch dieses Vermögen wechselte nun die Funktion, war nicht mehr selbst entdeckter Schatz, über den man verfügte oder dem man sich hingab, sondern Ausdruck neuer Anforderungen an den modernen Tänzer und seine Partnerin. Die Anleitungen der Tanzbreviere bildeten jedoch nicht ab, was auf den Tanzflächen geschah. Selbst unter den organisierten Tanzlehrern war man sich während der gesamten 1920er Jahre uneins. Sogar im konservativen Allgemeinen Tanzlehrerverband ADTV von 1922 gab es eine Fraktion, die auf den »eckigen« Bewegungen bestanden, die den Foxtrott eigentlich ausgezeichnet hatten, woraufhin der Vorstand sie als »die Wilden« abkanzelte.58 Dieser Begriff spielte auch in Das neue Tanzbrevier von 1920 eine Rolle, eine Überarbeitung der Vorkriegsversion, die nunmehr eine Auflage von 50.000 Stück erreichte. Der Krieg habe einen so drastischen Bruch herbeigeführt, dass man an die »alte glücklichere« Zeit nicht mehr anschließen könne. »Eine Generation ist verwildert herangewachsen, die fünf Jahre lang nur von Haß, von Blut, von Zerstörung, von Einschränkungen, von lauter negativen Dingen gehört hat.« Dementsprechend zeige auch der Tanz dieser Generation ein »ein reichlich verwildertes Gesicht«.59 Dieser Vorbehalt traf insbesondere das Phänomen »Jazz«. Es sei gar keine neue Musik, kein neuer Rhythmus, es gebe gar keinen Jazztanz. »Jazz ist ein Irrtum.« Dieser Irrtum sei aber nicht ungefährlich, weil er auf alles anwendbar sei und dadurch potentiell alles verändern könne: »Alles wird nach Jazzmusik getanzt. Man tanzt also nicht einen Jazz, man tanzt JazzOnestep, Jazz-Walzer, Jazz-Boston, Jazz-Tango, Jazz-Foxtrott.«60 Das neue Tanzbrevier hatte damit nicht ganz unrecht: Jazz war keine weitere Tanzmode. Die Wortschöpfung reagierte darauf, dass die Techniken schwarzer Kulturproduktion sich immer weiter verallgemeinerten. Im Diskurs ermöglichte der Begriff jedoch, ein modernes Tanzen zu imaginieren, das nicht Jazz war. Diese Imagination problematisierte nicht nur afroamerikanische Elemente, sondern auch die Art und Weise, wie sich die Tänzer_innen bislang die neuen Tänze beigebracht hatten. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Rezeption von Charleston. Moderne Tänze von 1927 beschreibt den Charleston als »Negertanz« und als
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Vgl. Eichstedt/Polster, Wie die Wilden, S. 47. Koebner, Das neue Tanzbrevier, S. 1. Koebner, Das neue Tanzbrevier, S. 54.
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»Kunsttanz schwieriger Art«.61 Er lasse sich aber wild oder gemäßigt tanzen, was ganz von den Fähigkeiten und Begabungen des Amateurtänzers abhänge. Es müsse nur gut aussehen, dafür solle ein jeder sorgen. Doch man dürfe auch das Original nicht aus dem Auge verlieren: »Hüpfen und Springen kommt im Charleston nicht einmal spurenweise vor! Alles, was wir im Vorjahre auf unseren Tanzflächen an Gehüpftem und Gesprungenem sahen, waren entweder bodenlose Ausgeburten ahnungsloser Dilettantismen oder Dinge, die inzwischen vollständig unmodern geworden sind. Der Tanz, der in Wien im Winter 1925/26 Verbreitung fand, war zum großen Teil ›ungarisch ausgelegt‹ – eine Art Charl-Csardas!«62
Dieser Verweis auf ein Original sollte unterbinden, was die Tänze in ihrem komplexen Entstehungsprozess erst hervorgebracht hatte: die nie unschuldigen, nie neutralen Übersetzungs- und Aneignungsprozesse kultureller Formen im Black Atlantic. Der gemäßigte Charleston imaginierte sich als Standard, während schwarze, ungarische, dilettantische Versionen gleichermaßen als Abweichung markiert wurden.63 Doch damit noch nicht genug: Die Tänzer_innen wurden auch in die Verantwortung genommen, zu entscheiden, ob ein Tanz körperlich überhaupt zu ihnen passe. Wer »nicht sehr schlank sei«, solle dem Charleston besser »sehr gemäßigt tanzen«. Nach und nach schlich sich das Kriterium Schlankheit in die Tanzbreviere ein, nicht nur als Schönheitsideal, sondern als flexible Grenze, an der sich die Ausführung der Tänze ausrichten sollte. Die Pädagogik positionierte dabei die Leser_innen stets als unwissende Subjekte, gleichwohl fähig zu Einsicht und Selbstkritik. »Übrigens darf ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß alle guten Tanzlehrer und Vortänzer äußerst ruhig und gemäßigt tanzen; beobachten Sie sie – Sie werden sich davon überzeugen. Die Fachtänzer wissen nämlich, daß ruhiges Verhalten am besten wirkt!«64
Neben dem ruhigen, gemäßigten Tanzen diente auch die Erfindung des unkommerziellen, nach festgeschriebenen Regeln organisierten »Tanzsports« der Distanzie-
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Moran, Moderne Tänze, S. 101. Moran, Moderne Tänze, S. 102. Um 1900 hatten österreichische Kommentatoren noch versucht, die Aufregung um den Cakewalk in Analogie zu den Debatten um die ungarische Csardas zu setzen, die schon vorher andere Rhythmen und Bewegungen in habsburgische Tanzsäle gebracht hatte. Auch rhythmische Vergleiche wurden angestellt. Vgl. Deaville, Cakewalk. Moran, Moderne Tänze, S. 102.
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rung vom Geschehen auf den Tanzflächen.65 Bereits 1913 stand im Tanzbrevier: »Über Nacht ist der Tanz vom Amüsement zum Sport geworden.«66 Ein Artikel in der Cabaret-Tanz-Revue mit dem Titel »Die Hygiene des Tanzes« rechnete vor, dass man in einer durchtanzten Nacht so viel Energie verschwende, wie ein Marsch von 10-12 Kilometern verbrauche. Es sei aber fraglich, ob das gesund sei, zumal die Orte, an denen getanzt werde, schlecht belüftet seien. Im Verlauf der 1920er Jahre rückten Tanzklubs und Tanzturniere das Tanzen immer weiter weg vom Nachtleben und schufen Räume jenseits des etablierten »gesellschaftlichen Verkehrs«.67 Tanzen sei Selbstzweck, Wettbewerb, Sport. Ein tänzerisch trainierter Körper könne den vielfältigen Angriffen auf seine Gesundheit besser widerstehen, zitierte Irene Castle einen New Yorker Arzt. Koordination und Balance würden dabei helfen, sich dem Leben weniger ausgeliefert zu fühlen.68 Die Betonung des gesundheitsfördernden Aspekts implizierte auch eine Art Abhärtung des Körpers, im physischen wie im emotionalen Sinn. Dies blieb jedoch nicht unwidersprochen. 69 Die Gegner des Tanzsports hielten die Fahne der »Tanz-Kunst« hoch. »Der wahre überzeugte Tänzer tanzt aus Bedürfnis«, schrieb der Moderedakteur der Eleganten Welt R. L. Leonard 1921 in Jazz und Shimmy.70 Statt den Gesellschaftstanz unter die Rubrik Sport zu fassen, brachte er die scheinbar allem Geschäftlichen erhabene Sphäre der Kunst ins Spiel. Es gebe schließlich eine Muße des Tanzes, aber keine Muße des Boxens. Bewertet würden Inspiration, guter Geschmack und Eleganz, kein Sieg nach Punkten. Überhaupt behagte ihm die Zurschaustellung in den Wettbewerben nicht: »Die wahrhaft gute Gesellschaft wird sich nie in Dingen, die einzig und allein den Ausübenden angehen, zur Schau stellen.«71 Leonard machte sich über die »Paragraphierung des Tanzes« lustig und fand, dass sich die Tanzturniere viel zu ernst nähmen.
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Der Begriff »Sport« wanderte im 19. Jahrhundert aus dem Englischen ein und wurde im Viktorianismus mit einer spezifischen Konzeption von Männlichkeit verbunden. Sport war nicht nur Körper-, sondern auch Charakterschule für moderne bürgerliche Subjektivität. Vgl. Steven A. Riess: Sport and the Redefinition of Middle-Class Masculinity in Victorian America, in: S. W. Pope (Hg.): The New American Sport History. Recent Approaches and Perspectives, S. 173-197. Koebner, Tanzbrevier, S. 5. Vgl. Kap. I.2. Castle, Modern Dancing, S. 173-175. Vgl. Martin Gleisner: Tanz für Alle. Von der Gymnastik zum Gemeinschaftstanz, Leipzig 1928, S. 22 und 52: Es gehe nicht »nur« darum, dass Tanzen »gesundheitsfördernd« sei, sondern »um die Einheit von Körper, Geist und Seele« und darum, dass beim Tanzen alle »produzieren« könnten und nicht auf den Status passiver Zuschauer reduziert würden. Koebner, Jazz und Shimmy, S. 54. Koebner, Jazz und Shimmy, S. 55.
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Der Streit um Tanzsport versus Tanzkunst, um Professionalität, Kommerz oder Liebhabertum verschob den alten Streit um das Verhältnis von Gesellschaft und Tanz auf ein anderes Terrain. Beide Seiten stellten ein Recht in Frage, das sich viele Tänzer_innen längst ungefragt genommen hatten: auf den unübersichtlichen, urbanen Tanzflächen selbst mit dem Vermögen tänzerischer Bewegungen zu experimentieren. Ausschlaggebend für die Produktivität dieser Debatte war nicht, ob man sich einigen konnte. Im Gegenteil blieb das Feld Tanzsport institutionell umstritten: Der 1920 gegründete Reichsverband für Tanzsport, der den Tanzsport der Amateure federführend vorantrieb, hatte 1923 um Aufnahme in den Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen gebeten. Doch der Verband lehnte ab: Tanzsport sei keine Leibesübung.72 Als Begründung verwies er auf »wilde« Clubs in Berlin, kommerzielle Unternehmen, in denen in erster Linie »Gehopse und Verrenkungen« zu sehen seien. »Wilde« Clubs und »wilde« Tanzlehrer waren den in Verbänden organisierten Tanzlehrern ohnehin ein Dorn im Auge, stellten sie doch eine immense Konkurrenz im Geschäft mit dem Gesellschaftstanz dar, das immer lukrativer wurde.73 Bereits 1926 hatte der Verband deshalb eine Eingabe im Reichstag angestrengt, um eine »Gesamtregelung des beruflichen Tanzunterrichtbetriebes für ganz Deutschland« anzustoßen. Unter anderem forderten die Tanzlehrer »Allgemeinbildung« als Zugangsvoraussetzung zum Beruf. Tanzlehrer sollten »wenigstens richtig sprechen, schreiben, lesen und rechnen können«. Dazu gehörten auch »die einfachsten Regeln des gesellschaftlichen Anstandes«, »die elementarsten Kenntnisse der Musik« und »die sogenannten Schulschritte, das ist das ABC des Tanzes«.74 Ein polizeiliches Führungszeugnis und der »Befähigungsausweis« einer offiziellen Tanzlehranstalt rundeten den Forderungskatalog ab. Prüfen sollten diese Kenntnisse und Fähigkeiten Regierungsvertreter. »Die« Musik und »der« Tanz rekurrierten stillschweigend auf eine europäische Tradition. Richtig »sprechen« zu können, grenzte sich implizit von ausländischer Konkurrenz ab. Anstand und Bildung rückten die gesellschaftliche Funktion des Tanzens ins Zentrum, während die tatsächliche Herausforderung der Tänze – ihre Technik – aus dem Repertoire ganz herausgehalten wurde. Standards dienten dazu, den Wert des eigenen Wissensstandes aufrechtzuerhalten und anderes Wissen, über das sie womöglich selbst nicht verfügten, zu delegitimieren. Doch solche Forderungen waren in den 1920er Jahren nicht durchsetzbar. Anfang der 1930er Jahre setzten sich im Allgemeinen Deutschen Tanzlehrer-Verband progressive Kräfte durch, und der interne Streit um alte und neue Tänze hatte vorläufig ein Ende. 1933 fasste die nationalsozialistische Regierung das gesamte Gewerbe unter einem Dach zusammen und unterstellte es der Reichstheaterkammer.
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Bolz, Tanzsport, S. 202 f. Schär, Schlager, S. 102 f. Allgemeine Deutsche Tanzlehrer Zeitung 1926 (9): S. 6 ff., zitiert nach Schär, Schlager, S. 107.
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Etwas zynisch könnte man sagen, dass sie die Forderungen der Tanzlehrer nach Standards endlich umsetzten. Der Bewegungskodex des Standardtanzes sei den Gleichschaltungsbestrebungen der Nationalsozialisten auf ganzem Weg entgegengekommen, argumentiert Astrid Eichstedt. Sie setzten nicht auf Bewegungsfreiheit, sondern auf Leistung, statt Ausgelassenheit ging es um Planung, statt Berührung um Beherrschung. »Ziel des Tanzsports war die Überwindung des Körpers, dessen einzelne Glieder sich dem Ganzen unterzuordnen hatten.«75 Die Politisierung des Tanzens in der Weimarer Republik, die es dem Nationalsozialismus ermöglichte, im Namen einer schlichtenden und befriedenden Macht aufzutreten, war auch eine Reaktion auf künstlerische Interventionen, die im Kulturbereich die unvollendete Revolution mit anderen Mitteln fortführten. Die Dadaisten aktualisierten die Profanierung des Heiligen, indem sie das Repertoire kommerzieller Unterhaltung – Varieté und Kabarett – zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Interventionen machten. Mit »anarchischem Lachen« begegneten sie einer Gegenwart, die in ihren Augen allzu schnell wieder einen gewohnten Lauf der Dinge fortführen wollte. Dass die Nachkriegsgeneration so gerne tanzte, diente vielen konservativen Kritikern als Sinnbild für die politischen Verhältnisse nach der Revolution.76 Die Dadaisten waren dagegen überzeugt, dass die Revolution noch gar nicht stattgefunden hatte.77 George Grosz trat mit »Niggersongs« und »Negergedichten« auf, andere tanzten den »Sixty One Step« in ihren Aufführungen.78 Für ihre »bruit performance« gingen die Berliner Dadaisten ins Lautarchiv, wo vor und während der Ersten Weltkriegs Stimmen, Rhythmen und Gesänge kolonisierter Bevölkerungen aufgenommen worden waren. Was sie dort hörten, brachten sie in veränderter Form abends auf die Bühnen ihrer durchaus kommerziell verstandenen Aufführungen. Im Moment des Verlusts der deutschen Kolonien, eigneten sie sich die Schätze kolonialer Archive an und gaben ihnen einen neuen Zweck.79 Die Da75 76
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Astrid Eichstedt: Wir tanzen ins Chaos. Swing als Bewegung, in: Bernd Polster (Hg.): Swing Heil. Jazz im Nationalsozialismus, Berlin 1989, S. 99-124, hier: S. 103 f. Montanus: Tanzwut, in: Die Lebenskunst. Zeitschrift für persönliche Kultur 1921, S. 2223; Charleston als Widerspiegelung des Seelentiefstandes, in: Christliche Demokratie 1927 (7): S. 131; Die »Auswüchse« des Kapitalismus, in: Christliche Demokratie 1927 8/9: S. 137 f. Richard Huelsenbeck: Deutschland muss untergehen! Erinnerungen eines alten dadaistischen Revolutionärs, Berlin 1920. Vgl. das Programm eines Auftritts in Dresden 1919, abgedruckt in: Karl Riha: Da Dada da war war Dada da. Aufsätze und Dokumente, München 1980, S. 57; Cornelius Partsch: Schräge Töne. Jazz und Unterhaltungsmusik in der Kultur der Weimarer Republik, Stuttgart 2000. Bergius, Das Lachen Dadas, S. 326: Hannah Höch erzählt, sie seien regelmäßig in das Berliner Lautarchiv gegangen, um dort die Aufnahmen von Stimmen und Gesängen anzuhören, die Musikethnologen unter anderem an Kolonialsoldaten in deutschen Kriegsgefangenenlagern während des Ersten Weltkriegs aufgenommen hatten.
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daisten imitierten das Repertoire des Black Atlantic nicht nur, sie wandten es praktisch auf ihre Situation an: Ihre Methode war parodistisch und wiederholte, was es bereits gab, unter veränderten Bedingungen. Sie provozierten, indem sie zusammenbrachten, was scheinbar nicht zusammengehörte, doch sie ließen Provokation nicht auf sich beruhen, sondern arbeiteten sie sofort wieder selbstreflexiv in ihre Performance ein. Dada war Anti-Dada.80 Abbildung 36: »Two-Step«
Auch jenseits von Dada radikalisierte sich das Geschehen auf den Bühnen der frühen Weimarer Republik. Das Bedürfnis der Expert_innen des Gesellschaftstanzes, ihren Bereich vom Bühnentanz abzugrenzen, könnte aus dieser Konfrontation erwachsen sein. Offensiv warfen besonders Frauen auf der Bühne die Frage nach der Grenze von Pornografie und Kunst, von akzeptabler und illegalisierter Vermarktung ihrer sexualisierten Körper auf. Schon vor dem Ersten Weltkrieg waren Nackttänze in Deutschland Anlass für Skandale gewesen, doch als Lola Bach 1921 in Berlin mit einem schwarzen Mann auf der Bühne tanzte, lehnten Zeitgenossen dies auch vor dem Hintergrund des Verlusts der deutschen Kolonien und der Besetzung des 80
Vgl. das Pamphlet »Die deutschen Spießer ärgern sich«, in: Bergius, Das Lachen Dadas, S. 120.
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Rheinlands ab.81 Wie könne sich eine »deutsche Frau [...] halbnackt mit einem Schwarzen produzieren«, fragte ein nach Schweden ausgewanderter Deutscher nach einem Besuch des »Lola Bach Balletts« in Mannheim 1922, »während über die ganze Welt der Schrei über die Schwarze Schmach [geht]«.82 Wieder waren koloniale Situation und das Repertoire des Black Atlantic miteinander verkoppelt. Bach tanzte auch einen »Tipsy Step«, einen »Ohio Trick Trot« und mit einer anderen Frau einen »Schiebetanz«.83 Diese Inszenierung von Nähe und Berührung zwischen einem schwarzen Mann und einer weißen Frau stand im krassen Gegensatz zu visuellen Repräsentationen des Gesellschaftstanzes in den 1920er Jahren. Waren auf Bildpostkarten über den Cakewalk um 1900 die Konstellation einer weißen Tänzerin mit einem schwarzen Tänzer recht häufig gewesen (Abb. 20 oder 21), so zeigen Motive der 1920er Jahren meist weiße Tanzpaare, die im Bildhintergrund von schwarzen Musikern begleitet werden (Abb. 36).84 Der Gesellschaftstanz sollte also nicht mehr mit Bühne, Blackness oder Transgression assoziiert werden.85 Doch der reine Tanzsport erzeugte in den 1920er Jahren seine eigenen Perversionen.
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Bei Lola Bachs Tanzpartner handelte es sich um Alfred Köhler, der laut Aktenlage 1894 in Duala in Kamerun geboren worden war. Er war in Berlin mit einer deutschen Frau verheiratet, mit der er auch ein Kind hatte. Der Afrodeutsche war in der Berliner Artistenszene als »Paprika« bekannt, im Sommer trat er im Zirkus als Fakir auf. Köhler berichtete den Behörden wiederum von Ärgernissen anderer Art – wegen der Besetzung des Rheinlandes sei er in Dresden auf der Straße von Passanten angespuckt worden. Die Behörden verlangten, dass Köhler seine Partnerin auf der Bühne nicht mehr berühre. 1922 übernahm Peter Johnson die Rolle in Lola Bachs Ballet, ein Migrant aus Liberia, der ebenfalls in Berlin verheiratet war, schließlich ersetzte ihn eine »weiße Person«, die »gelb gemacht« war und möglicherweise einen Asiaten darstellen sollte. Bericht Abteilung III. Außendienst vom 23. Februar 1922, Landesarchiv Berlin A Pr. Br. Rep. 030-05 Tit 74 Th 1507. Abschrift an Staatsanwaltschaftrat v. Bradtke, Lola Bach Ballett, Landesarchiv Berlin A Pr. Br. Rep. 030-05 Tit 74 Th 1507. Bericht Abteilung III. Außendienst vom 23. Februar 1922, Landesarchiv Berlin A Pr. Br. Rep. 030-05 Tit 74 Th 1507. Vgl. auch Nagl, Unheimliche Maschine, S. 154 ff. Ähnliche Konstellationen finden sich auch auf den grafisch in schwarz und weiß gehaltenen Tonbild-Postkarten, die sich als Tonträger auf einem Grammophon abspielen ließen, »Ich singe nur für Dich (Slow Fox)«, Musik von N.H. Brown, »Longing for Hawai«, Musik von Frank Anatol, »Oh Donna Clara« Musik von Petersbursky. Nur »Kutscheras Tanz-Tee« im Palais des Westens in Berlin und »Monnings 5 Uhr Tanztee« im Duisburger Wald warben in einer grafisch in Schwarz und Weiß gehaltenen Postkarte mit einem schwarzen Tänzer und einer weißen Tänzerin. Vgl. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Vgl. die fotografische Postkarte »Die Tänzerin Rondi mit ihrem Neger Ali«. Sie zeigt eine weiße Frau und einen schwarzen Mann, beide kaum bekleidet in einer an orientalistische Haremsfantasien angelehnten Bühnenszene. Die Karte wurde in Russland ver-
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In »Erbschaft dieser Zeit« beschreibt Ernst Bloch Alltagsphänomene, denen er in den 1920er Jahren begegnete. Er entwickelte damals ein komplexes und mehrschichtiges Modell von gesellschaftlicher Veränderung, das sich nicht mehr auf das Verhältnis von Bruch und Kontinuität, Alt und Neu reduzieren ließ. Zugleich waren die Texte von düsteren Vorahnungen über die sich verdichtenden faschistischen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft geprägt. In dem Text Wut und Lachlust von 1929 beschreibt Bloch eine »Dauer-Marathon-Tanz-Meisterschaft« in Frankfurt. Tanz-Marathons sind (bis heute) ein eigentümliches Phänomen, das die Logik des »Tanzsports« konsequent zu Ende denkt. Bis in die 1950er Jahre wurden sie jedoch mit einer Radikalität ausgeübt, die bisweilen zu Todesfällen und deshalb häufig zum Verbot solcher Veranstaltungen führte.86 1929 sollten etwa 25 Tanzpaare mehr als zwei Wochen lang, Tag und Nacht, 45 Minuten pro Stunde, auf dem Parkett der Frankfurter Festhalle tanzen. »Die konkurrierenden Paare müssen die Füße während der ganzen Tanzdauer in Bewegung haben; die eine Hand des einen Partners stets auf dem anderen, wie beim Vergnügen, wie im Salon.« Nur dass es bei der Veranstaltung nicht um das Vergnügen der Tänzer oder die Wohltaten des Sports, sondern um die Belustigung der Zuschauer gehe, die beobachten könnten, wie die gequälten Tänzerinnen und Tänzer langsam das Ziel aus den Augen verlieren – nämlich »ein gesellschaftlich würdiges Aussehen [zu] bewahren.« Für Bloch waren die Teilnehmer_innen des Wettbewerbs Abziehbilder von Arbeiter_innen, die umsonst arbeiten und nichts davontragen als »ein krankes Herz und die Pfiffe der Galerie«.87 Sie hätten sich zu diesem Tanz-Marathon ebenso freiwillig erklärt wie Arbeitslose zu ihrer Arbeitslosigkeit. Bloch beschrieb den Tanz-Marathon als gespenstische Wiederaufführung eines Schauspiels, das dem Kampf der Gladiatoren in antiken Arenen ebenso ähnelt wie dem alltäglichen Überlebenskampf auf der Straße. Die Zuschauer blickten auf die Tanzfläche wie in einen Zerrspiegel ihres Alltags und tobten dabei eine »lachlustige Wut« über eine Qual aus, der sie selbst tagtäglich ausgesetzt seien. »Erwerbslose, Kleinbürger und Proleten füllen zu zwei Dritteln den Raum, lassen sich die Marter dort unten als Sport vormachen. Als Sport, der kein anderes Ziel hat als den am längsten hinausgeschobenen Zusammenbruch, keinen anderen Lorbeer als den fürs längste Leiden.« Bloch zog eine Verbindung zwischen dieser Lust am Lachen über das Leiden der Anderen und dem Nationalsozialismus: »Ein Drittel der Wähler sind heute Nazis; hier im Saal dürfte ihrer mehr als die Hälfte tonangebend sein. Wenn
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schickt. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. Driver, Tanzfieber, S. 134 f. Ernst Bloch, Wut und Lachlust (1929), in: ders.: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1985, S. 46-49, hier: S. 46.
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nicht der Zahl, so den Instinkten nach, die sie in die Menge gebracht haben.«88 Das Grauen, das Bloch beim Anblick der bis zur Erschöpfung sich quälenden MarathonTänzer_innen packte, führt auf den prophetischen letzten Satz des Textes zu: »Was die Volksseele hier auskocht, wird man in Kürze nicht schlecht anrichten.«89 Bloch assoziierte die gespenstisch über das Parkett wankenden Tänzer mit Leichen, die im Saal eines gesunkenen Schiffes »träumerisch« durch den mit Wasser gefüllten Raum »vorüberschweben.« Aber weil die Figuren auf diesem Bild noch nicht tot seien, treibe die »Ross Amusement Co.« mit ihrer schmissigen Musik, ihrem humoresken Conferencier und der Gegenüberstellung von Tanzgladiatoren und Zuschauern ein »Perpetuum mobile der Qual« an. Nur einmal gab es einen Moment der Unterbrechung, ein Tänzer machte sich quasi selbständig und geriet aus dem Minutentakt von Tanzzwang und Zwangspause: »Plötzlich wird der Kerl wild, die Schlaffetzen fallen ab, die hinter ihm hergeschleift hatten oder in die er eingehüllt war, reißt sich los und stürmt noch am Endes des Tanzes, ja, während die Musik schon schweigt und die Paare promenieren, mit der Partnerin auf toller Flucht kreuz und quer, nirgendshin, nimmt sie hoch wie ein Tier, mit dem er kämpft, wie ein Brecheisen gegen unsichtbare Feinde, bis er durch das Brüllen des dreitausendköpfigen Saals vollends erwacht und den Schiedsrichter anlächelt, schrecklich und gerettet, als einen Bluthund wenigstens aus dieser Welt.«90
Die Tragödie lag nach Bloch nun darin, dass es trotz dieser Unterbrechung einfach weiter ging. Die anderen Tänzer erschienen für ein paar Minuten wacher, sackten aber bald wieder in sich zusammen. Das Ende der Veranstaltung war unausweichlich, eine Unterbrechung praktisch unmöglich: Zum Schluss sollten auch die Zelte abgebaut werden, in denen die Teilnehmer bislang ihre Pausen verbrachten, um dem Publikum Gelegenheit zu geben zu beobachten, wie die Tänzer schlafen und gepflegt werden. Vor aller Augen und offen sichtbar sollte die absurde Anstrengung ihr Ende finden. Die fantasierte Gefahr, die der Tanzfieber-Diskurs immer schon an die Wand gemalt hatte, wurde hier zur Realität: dass die ungeahnten Kräfte, die im Tanzen mobilisierbar werden, alle Grenzen niederreißen und sich gegen ihre eigene Quelle, den lebendigen Körper, richten und ihn vernichten könnten. In der Lachwut, mit der das Publikum auf dieses schreckliche Schauspiel reagierte, sah Bloch ein Charakteristikum faschistischer Subjektivität. Die defensive Haltung der »Amateure des Tanzsports« ist auch vor diesem Hintergrund der Auseinandersetzung um das Tanzen zu interpretieren. Sie versuchten, 88 89 90
Bloch, Wut und Lachlust, S. 48. Bloch, Wut und Lachlust, S. 49. Bloch, Wut und Lachlust, S. 47.
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das Tanzen aus dem Kreislauf von spektakulärer (Selbst-)Ausbeutung und Politisierung herauszulösen und eine nicht-polemische, nicht-polarisierende Form »moderner« Gesellschaftstänze zu entwickeln. Die zwischen Neuerfindung und Selbstzerstörung, Befreiungsschlag und Selbsthass changierende Kulturproduktion der Weimarer Republik stellte eine zentrale Angriffsfläche für den Nationalsozialismus dar, der in den 1920er Jahren Kampagnen gegen sie lancierte.91 Nach 1933 beschwichtigten Tanzlehrbücher dagegen, dass die ins Repertoire der Standardtänze aufgenommenen Tangos und Foxtrotts ganz ungefährlich seien. Der heutige Tango habe mit dem, was in den 1910er Jahren aus Argentinien über Paris nach Deutschland gekommen war, nichts mehr gemein, sondern sei längst ein deutscher Tanz geworden. In ihren bis in die 1940er Jahre veröffentlichten Tanzlehrbüchern unterrichteten sie weiterhin Foxtrott und Tango. Onestep hieß jetzt Marschtanz. Und Boston wurde zum Langsamen Walzer.92 Andere schrieben eine Geschichte der Sieger. Zwar seien die »Modetänze der Nachkriegszeit« aus dem »Auslande [eingedrungen]«, sie hätten aber durchaus nicht »den ihnen prophezeiten Siegeszug gehalten«.93 Sie seien statt dessen deutschen Bedürfnissen angepasst worden. Die Bücher vermittelten die Botschaft, dass in Deutschland mittlerweile alles unter Kontrolle sei. Vom Tanzen gehe keine Gefahr mehr aus. Unter Kontrolle war aber vor allem das Narrativ, das Tanzen in die deutsche Volkskultur integrieren sollte: »Es ist durchaus nicht so, daß etwa der Steptanz etwas rein Amerikanisches sei. Gefühlsmäßig muß man vielmehr annehmen, daß der Rhythmus des Steptanzes beim Deutschen und Europäer verwandte Saiten zum Klingen bringt, und vom Ohr ins Herz und Gemüt dringt. Das Taktmäßige, Zwingend-Rhythmische und Fröhliche des Steptanzes bewirkt bei uns die Vorstellung, als handle es sich um einen Volkstanz, sozusagen das ›Schuhplatteln‹ ins Amerikanische und Tänzermäßige verwandelt.«94
Das Eindringen der Rhythmen in die heimischen Körper, ihre Affizierung, wird zugleich anerkannt und auf europäische Wurzeln hin fantasiert: Steptanz als verwandelter Schuhplattler. Off-Beat, Synkope, Swing und Break, davon war nun nicht mehr die Rede. Solange man sich an die aufgestellten Regeln hielt und beim Tanzen 91
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Lola Bach war in den 1920er Jahren kein Einzelfall: Die Tänzerin Anita Berber stellte in ihrer Nacktheit eine physisch und emotional entkleidete, aufs äußerste angreifbare Subjektivität aus, vgl. Susan Laikin Funkenstein: Anita Berber. Imaging A Weimar Performance Artist, in: Woman's Art Journal 2005 26 (8): S. 26-31; Ulrike Wohler: Weiblicher Exhibitionismus. Das Postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur, Bielefeld 2009, S. 146-150. Carl Hengel: Tanzen Lernen. Die neuen Gesellschaftstänze und vergnügten Spiele bei Tanz und Geselligkeit, Stuttgart 1940. Herbert John: Der Tanz im Selbstunterricht, Dresden 1939, S. 49. John, Tanz im Selbstunterricht, S. 44.
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an die bayerischen Berge statt an Harlem dachte, war sogar gegen einen Steptanz nichts einzuwenden. Hauptsache der Status als Weiße wurde nicht verunsichert. Neu war nur, dass Lehrbücher nun neben dem »Gesellschaftstanz von heute« in einem zweiten, oft ausführlicheren Teil »beliebte alte Tänze« vermittelten.95 Diese Strategie der Anpassung unterschied sich von einer genuin faschistischen Indienstnahme des Tanzens. Das Deutsche Volkstanzbuch von 1938 argumentierte zugleich völkisch-normativ und gouvernemental-normalisierend.96 Eine zentrale Angriffsfläche bot der Eifer der Tanzsportler_innen und Tanzlehrer_innen, die den internationalen oder englischen Stil trainierten. Wer damit unzufrieden war, fand nun ein suggestives Angebot: »Wir fühlen uns nicht recht wohl dabei, trotzdem wir diese Foxtrotts, Tangos und wie sie alle heißen mögen, oft sehr sauber und korrekt in ihren gezähmten Formen zu tanzen wissen und sogar damit jenseits der Grenzen bestehen können.«97
Sicherlich könne man nicht von heute auf morgen fordern, diese Tanzform abzuschaffen, das würde zweifellos Widerstand erzeugen, denn »man [möchte] aus Gewohnheitsrecht von dem einmal Übernommenen nicht abgehen«.98 Es sei aber »bedauerlich«, dass noch hauptsächlich fremde Tanzformen nachgeahmt würden. Denn die besten Formen wurzeln »alle echt im Mutterboden des Stammes«.99 Noch seien Volks- und Gemeinschaftskreise zerstritten und gespalten in Kunst- und Volkstanz. Aus nationalsozialistischer Sicht dienten beide der Schaffung einer »stets aktionsbereite[n] Volksgemeinschaft, in der Überzeugung, daß der Gemeinschaftstanz am lebendigsten die Erziehung zum Führen und Geführtwerden fördert«.100 Der »Volkstanz« versuchte damit, Unlustgefühle zu rekuperieren, die in der Standardisierung des Tanzens entstanden waren, indem er diese kausal auf ihre Fremdheit zurückführte und eine Selbstbesinnung auf vermeintliche Wurzeln als Gegenprogramm anbot. Das Deutsche Volkstanzbuch nahm in seiner Kritik am »internationalen Gesellschaftstanz« eine primitivistische Position ein, die europäische Exotismen zur Ab-
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Hengel, Tanzen lernen, S. 31 ff. Rolf Cunz: Deutsches Volkstanzbuch. Vom Tanzkreis zur Tanzgemeinschaft, Dresden 1938. Cunz war Dozent an der Folkwangschule in Essen, bevor er 1935 Referent für Tanz im Propagandaministerium wurde. Vgl. Karl Hörmann: »Glaube und Schönheit«. Zur Ideologisierung des Tanzes und der Körperkultur, in: Brunhilde Sonntag/HansWerner Boresch/Detlef Gojowy (Hg.): Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, Köln 1999, S. 184-198. 97 Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 7. 98 Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 8. 99 Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 7. 100 Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 9.
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wehr außereuropäischer Einflüsse mobilisierte: Die Deutschen sollten sich auf ihre Wurzeln besinnen, die den Naturvölkern nie abhanden gekommen seien, während der »volksfeindliche Kunsttanzbetrieb« sie hierzulande verschüttet habe. »Heute soll uns wieder eine reine Bewegungsfreude mit jenem unbändigen Kraftmaß erfüllen, das einem gesunden Volk entspricht und jeden irdischen Widerstand zu brechen vermag, wenn es darauf ankommt.«101 Als beispielhaftes Vorbild diente der »natürliche Volkstanz-Stil, den sich gewisse Völker im Osten und Süden Europas in ihren Kunsttanz-Äußerungen leidenschaftlich erhalten haben«.102 Auch in den »nordischen Ländern« habe es solche Tänze gegeben, doch die »verstandesmäßigen Theorien des modernen künstlerischen Tanzes« hätten zu »Übertreibungen« dieser »ursprünglichen Ausdrucksformen« geführt. Nachdem das Volkstanzbuch eine intellektuelle Okkupation durch die Moderne postuliert hatte, konnte es die eigene Programmatik als Befreiungskampf darstellen. »[D]eutsch sein heißt einfach und klar sein.«103 Nicht nur in den kolonialen Planungen für Afrika, sondern auch in der Kulturpolitik im eigenen Land finden sich Elemente einer Programmatik der »Rückbildung«, um eine ursprüngliche Einheit freizulegen, die tatsächlich erst gewaltsam hergestellt werden musste.104 Das Volkstanzbuch verbreitete deshalb einen Mythos von den Deutschen als Opfer. Die neuen Tänze hätten in den letzten zwanzig Jahren versucht, das »nationale Eigenleben der Völker im ›Saaltanz‹ gleichzuschalten«. Erst jetzt, wo die »fremde Hörigkeit« zu Ende sei, werde erst klar, wie traurig die Zeit damals gewesen sei: »Niemand wußte genau, ob ein erlernter Tanz im nächsten Wintern noch in der Mode war. Man lernte also gleichsam für eine einzige Saison und es mag genug geschäftstüchtigen Lehrern dieser kurzlebigen ›Modetänze‹ besonders verlockend erschienen sein, daß sie immer wieder etwas ›Neues‹, ›Sensationelles‹ von ihren ausländischen Entdeckungsfahrten mitbringen konnten. Darauf beruhte gewissermaßen das Hauptgeschäft des sogenannten Gesellschaftstanzlehrers einer verflossenen Epoche.«105
Der Volkstanz verspreche dagegen, sich von diesem unterdrückerischen Mechanismus zu befreien. Schon früher hätten viele »nicht mehr mitmachen« wollen, aber 101 102 103 104
Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 10. Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 13. Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 20. Zur Kulturpolitik der »Rückbildung«, die auch die Behandlung schwarzer Deutscher und afrikanischer Migrant_innen im nationalsozialistischen Deutschland prägte, vgl. Susann Lewerenz: Die Deutsche Afrika-Schau, 1935-1940. Rassismus, Kolonialrevisionismus und postkoloniale Auseinandersetzungen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt am Main 2006, S. 115-118. 105 Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 18.
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gezwungenermaßen die Tänze erlernt, um sich »nicht lächerlich« zu machen. Gerade diese ehemaligen Tanz-Verweigerer wollte das Volkstanzbuch nun ansprechen. Es bestätigte ihre passive oder ressentimentgeladene Haltung: »[T]rotz lautem Lärm und geräuschvoller Sensation war das Volk unglücklich.« Zum Glück sei diese Zeit vorbei, und man könne nun wieder den Tanz als »schönsten Ausdruck eines gesteigerten Lebensgefühls« praktizieren.106 »Wir brauchen bei diesem Anlaß nicht mehr auf die verwirrenden Formen einzugehen. Sie sind zu ihrer Zeit leider viel zu ernst genommen worden und waren doch im Grunde nur belanglose Importprodukte, die mit unserem irregeleiteten Volkstum nichts zu tun hatten, weshalb sich auch der gesunde Teil der Tanzenden schon damals um die allerneuesten Schlagertänze nicht mehr kümmerte oder sie glossierte und verspottete, wie sie es in Gegenrechnung verdienen.«107
Die rasche Aufeinanderfolge von Tänzen diente also dem Volkstanzbuch als Beleg dafür, dass den Tänzen kein dauerhafter Wert zu Eigen war. In einer doppelten Bewegung von Hereinnahme und Ausschluss integrierte es den modernen Gesellschaftstanz in die geforderte »dauerhafte Aufbauarbeit«108 einer »Volksgemeinschaft«, bescheinigte ihm aber, dass ihm die »rassische Eigenart« fehle. Die Gemeinschaft der Tanzlehrer müsse sich deshalb ihren »Ehrenplatz in der ›Volksgemeinschaft‹« erst noch verdienen: Es gehe fortan nicht mehr nur um die Vermittlung einiger Tanzformen, sondern um die »gesamte Lebenshaltung«.109 Diese latente Drohung erlaubte im Gegenzug eine phantasmatische Selbstermächtigung: Die Deutschen würden erst noch entdecken, welche Tänze ihnen eigentlich im Blut lägen. Die Rassifizierung schwarzer Tänze, erwachsen aus Ressentiment, Ablehnung und dem gescheiterten Versuch der 1920er Jahre, eine neue Tanztechnik zu erlernen, verwandelte sich unter dem Imperativ der Einheit der völkischen Gemeinschaft in einen Prozess der Selbstrassifizierung, der den Deutschen im Nachtanzen der Tänze des Black Atlantic einen Mangel unterstellte und die Forderung nach Selbstfindung formulierte. Dabei war der Tonfall verglichen mit den Kampagnen gegen »entartete« Kunst oder Musik betont gelassen. Die existierende Tanzkultur sei zwar nicht geeignet, um eine im nationalsozialistischen Sinn »aktionsbereite Volksgemeinschaft« zu schaffen. Sie müsse sich aber auch nicht von heute auf morgen verändern – so wie sie war, erschien sie dem Volkstanzbuch harmlos genug, um nach und nach durch die »aktive Selbstbesinnung« der Deut-
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Ebd. Vgl. auch Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 19. Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 19. Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 26.
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schen auf ihre »rassischen Eigenheiten« auf den richtigen Weg gebracht zu werden.110 Wie die Forschung zum Swing im Nationalsozialismus gezeigt hat, war dieses Vorhaben einer »Selbstbesinnung« schwieriger umzusetzen als Ausschluss, Vertreibung und Vernichtung. Obwohl ein Verbot von Jazz auf regionaler Ebene schon vor 1933 zu den ersten Amtshandlungen nationalsozialistischer Regierungen gehörte, tanzten die Deutschen auch weiterhin zum Off-Beat swingender Tanzorchester, zu Tangos und kubanischer Rumba.111 Das Regime zog eine flexible Grenze dessen, was je situativ als integrierbar galt. Um der auch in den 1940er Jahren ungebrochenen Nachfrage nach amerikanischer Musik etwas anzubieten, versuchte die Reichsmusikkammer eine eigene, »deutsche« Tanzmusik ohne Synkopen zu entwickeln, scheiterte dabei jedoch.112 Um die Soldaten während des Krieges zu unterhalten, lockerte das Regime die Auflagen für die entsprechenden Radiosender, während Jugendliche im Reich, die ihr Verlangen nach Jazz ostentativ zur Schau stellten und ungenehmigte Swing-Tanzveranstaltungen abhielten, mit allen Konsequenzen polizeilich verfolgt wurden. Veranstaltungen wurden aufgelöst, Jugendliche verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, ihre langen Haare zwangsweise geschoren. Manche wurden auch vorzeitig zur Wehrmacht eingezogen oder in ein speziell für Jugendliche eingerichtetes Konzentrationslager verbracht.113
110 Cunz, Deutsches Volkstanzbuch, S. 15. 111 Noch 1937 trat das »Kubanische Orchester Rimac« in Berlin auf und nahm im Oktober und November dort Platten auf. Vgl. die CD »Septeto Anacaona & Ciro Rimac, 19361937«, Interstate Music Ltd. 1993; vgl. auch »Swing tanzen verboten«, Vol. 1: Unerwünschte Musik 1929-1945, Membran 2004. Zu den ersten Verboten von Jazz vgl. den Erlass des thüringischen Innen- und Volksbildungsministers Wilhelm Frick vom 5. 4. 1930: »Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum«, abgedruckt in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.): Thüringen auf dem Weg ins »Dritte Reich«, Erfurt 1996, S. 223 f. 112 Vgl. Martin Lücke: Jazz im Totalitarismus. Eine komparative Analyse des politisch motivierten Umgangs mit dem Jazz während der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus, Münster 2004, S. 92-94. 113 Vgl. mehr dazu im folgenden Abschnitt. Zur umfangreichen Literatur über Swing im Nationalsozialismus vgl. Detlev Peukert: Heinrich Himmler und der Swing, in: Journal für Geschichte 1980 (6): S. 53-56; Polster, Swing Heil; Otto Bender: Swing unterm Hakenkreuz in Hamburg 1933-1945, Hamburg 1993; Franz Ritter (Hg): Heinrich Himmler und die Liebe zum Swing. Erinnerungen und Dokumente, Leipzig 1994; Jan Kurz: »Swinging Democracy«. Jugendprotest im 3. Reich, Münster 1995; Anton Tantner: Swing und jugendliche Jazz-Subkulturen. In: ZeitRaum. Zeitschrift für historische Vielfalt 1995 (2): S. 40-57; Jörg Überall: Swing Kids, Berlin 2004; Anja Pannewitz: Beobachtung und Ausschluss jugendlicher Swingtänzer im Dritten Reich. Folgen einer Konsensfiktion, Hamburg 2005.
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R ESTRISIKO Das folgende Kapitel fasst zusammen, was der Immunisierung seit den 1920er Jahren entwischte. Denn es gab auch andere Tendenzen im Umgang mit dem sich verallgemeinernden Repertoire des Black Atlantic. Die immunisierende Hereinnahme kämpfte beständig mit dem Restrisiko einer erneuten Ansteckung mit Affekten und Seinsweisen, die sich den Grenzziehungen der Standardisierung und ihrer abgehärteten Subjektivität nicht fügten. Diesen verstreuten Momenten soll im Folgenden in der Rezeption von Charleston in Deutschland in den 1920er Jahren Raum gegeben werden. Der spezifisch politische Charakter der Standardisierung des Gesellschaftstanzes zeigt sich gerade vor dem Hintergrund dieser anderen Handlungsoptionen. Wie bereits gezeigt, gingen Kommentator_innen des Tanzgeschehens im Verlauf der 1920er Jahre unterschiedlich mit dem ungebrochenen Erfolg schwarzer Populärkultur um: Manche veränderten ihre Bildpolitik, hielten jedoch an den alten Argumenten gegen Jazz fest; andere beharrten auf einer strikten Trennung von Bühnentanz und Gesellschaftstanz, um unerwünschte Konkurrenz nicht anerkennen zu müssen; und wieder andere freuten sich, wenn ein neuer Tanz wie der Charleston auftauchte. Denn nicht bei allen erzeugte die Standardisierung des Tanzens und das damit verbundene Regime der (Selbst-)Überwachung Zustimmung. Eine Besprechung der Revue Chocolat Kiddies 1925 in einer Berliner Tageszeitung belegt die erschütternd befreiende Wirkung der erneuten Konfrontation mit der Kultur des Black Atlantic. Die anonyme Rezension stellt gleich zu Beginn Vorannahmen in Frage. »Was diese Neger spielen, glaubten wir oft gehört zu haben. Wir glaubten es.«114 Tatsächlich aber sei alles ganz anders. Langsam tastete sich der Text an das Erlebte heran. War es der Kontrast zwischen der schnellen und lauten Musik und den dabei so entspannt und locker dasitzenden Musikern, die sie spielten? »Es ist wie ein D-Zug, der mit letzter Geschwindigkeit donnernd über eine Brücke rast, während sich der Zugführer seitwärts schauend eine Pfeife stopft.« Die Musiker hätten keine Angst vor dem Durcheinander, das sie erzeugten, sie schienen genau zu wissen, was sie taten. Und vor allem: Sie waren nicht angestrengt, nicht bemüht oder eifrig, sondern ruhig und gelassen, ganz bei sich. Besonders beeindruckt zeigte sich die Besprechung von den Tänzerinnen: »Dann kommen die Girls, die Kreolinnen sind, die Tänzerinnen. Nur ihre Augen und Haare sind schwarz, ihre Körper sind dunkelbraun, braun aber von einer Farbe, die von der Hautfarbe einer sonnenverbrannten Europäerin nicht zu unterscheiden ist.«
114 »Chocolat Kiddies«, bB Berlin, im Juni; weitere bibliographische Angaben unbekannt; Kritikensammlung, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Schloß Wahn, Universität Köln.
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Tatsächlich achteten amerikanische Produzent_innen schwarzer Revuen in den 1920er Jahren darauf, dass die Haut ihrer Girls nicht zu dunkel war.115 Sie passten sich an das rassistische Schönheitsideal der Mehrheitsgesellschaft an, das zum Teil auch die afroamerikanische Community prägte. Doch die Berliner Besprechung münzte die Beobachtung in eine Polemik gegen die Aufteilung der Welt in Schwarz und Weiß. Es ging darum, beobachtete Differenzen relational und analytisch zu behandeln. »Ihr Aufzug ist herzerfrischend wie ihr Anzug, sie stehen nicht da, sie kommen herein, von allen Seiten, vergnügt, lächelnd, gar nicht in Reih und Glied, um sich aufzustellen und zu tanzen. Und ihr Anzug empfiehlt sie, der reizend ist und keine Uniform. Ich habe deutlich Abweichungen im Schnitt bemerkt – welches Wunder. Und gesehen, daß ein Bändchen über einer braunen Schulter nicht saß. Wie erstaunlich. Sie sind nicht gepanzert.«
Die Abweichung der Chocolat Kiddies von dem, was die Besucher_innen einer Revue in den 1920er Jahren glaubten, erwarten zu können, erzeugte hier Begeisterung: Sie folgte nicht der quasi-militärischen Formation der Chorus Line mit ihren auf Symmetrie und Ebenmaß getrimmten Tänzerinnen. Die Girls der Chocolat Kiddies waren genau das nicht, und sie waren doch präzise, so wie der Zugführer, der sich entspannt eine Pfeife stopft, den D-Zug aber nicht entgleisen lässt. »Die Musik läßt sie nicht los, aber sie kennen den Rhythmus. Sie springen hinein wie die Schwimmer und manche Bewegung einer einzelnen ist, als schlüge sie kleine Wellen, einen Schlag der Freude, der Lust und der Sicherheit, die von solcher Anmut ist, daß man sogar diese Musik für einen Augenblick vergißt.«
Die Besprechung lenkte den Blick auf Details in Kostüm und Körpertechnik, was die Spannung zwischen der Hingabe an den Rhythmus und dem Spiel mit den Zwischenräumen betont, die sich dadurch eröffnete. Das Publikum lernt etwas Neues dazu, weil es nichts mehr versteht: »Wenn sich der Beifall sehr laut äußert, dann kann man wieder nachdenken.« Die Rezension streut an dieser Stelle Überlegungen zur gesellschaftlichen Position von Afroamerikaner_innen in den USA ein und ruft in Erinnerung, dass sie dort unterdrückt seien. Wie man hierzulande zu diesem Problem stehe? Die Antwort stellt den ganzen Begriffshorizont von Rassediskurs und kontemplativem Kulturgenuss in Frage:
115 Vgl. Susannah Walker: Style & Status. Selling Beauty to African American Women, 1920-1975, Lexington KI 2007, S. 70-74.
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»[Unsere] Gefühle sind freundlich, im guten Sinne gleichgültig und das Wissen um eine andere Einstellung einer verwandten Rasse kann uns verwirren. Aber wenn sie schon gleichgültig sind, warum sollen wir nicht ehrlich sein? Denn hier wurde die Szene zum Tribunal. Diese Neger haben für sich gespielt, nicht für uns, und dass wir vor ihnen saßen als Zuschauer in Theatersesseln war genau so verkehrt, wie alles war wir vorher gedacht und erwartet hatten mit unseren Kenntnissen von Jazzmusik. Es ist etwas Neues passiert, das noch keinen Raum hat. Zu dieser Musik gehören Formen einer Lust und Ausgelassenheit, die wir durch die Schalen unserer Konventionen noch nicht fühlen wie wir diese Töne nur schwer durch das melodische Gehäuse unserer Ohrmuscheln hören. Man sage nicht: Neger! Diese Neger müssen sich schminken, wenn zwei von ihnen – die Komiker – als Neger auftreten.«
Wer zugleich Sympathie verspüre und Differenz anerkenne, komme mit den existierenden Begriffen und Apparaten nicht mehr weiter. Schon die Aufteilung in Bühne und Zuschauerraum erschien unpassend. Die Musik und die ausgelassenen Bewegungen, die sie ermöglichten, sprengten den Rahmen von Institutionen, Konventionen und sogar der Sprache: »Man sage nicht: Neger!« Damit stellte die Besprechung zentrale Kategorien in Frage, die in den 1920er Jahren die Rezeption von Jazz organisierten: Primitivismus, Amerikanismus, Gewalt. Die Besprechung verließ sich dagegen nicht auf bereits etablierte Erklärungs- und Interpretationsmuster. Das Argument war nicht »so tanzen sie eben«, sondern die Besprechung stellte die Frage: Warum berührt mich das, was ich da sehe? Die Ursache lag im Kontrast zum Alltag in der eigenen Gesellschaft begründet. »Sie sind nicht gepanzert.«116 In seinem Buch Männerphantasien rekonstruiert Klaus Theweleit die Funktion soldatischer Männlichkeit in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Egodokumente von Mitgliedern der Freikorps, die während und nach der Revolution den Krieg im eigenen Land weiterführten, geben Einblick in eine Subjektivität, die politische Konflikte und revolutionäre Veränderung als bedrohliche Ströme und Sümpfe imaginierte, die weiblich konnotiert waren und gegen die sich der soldatische Mann wappnen sollte.117 Statt einer Berührungsfläche war der Körper ein Medium der Abgrenzung, das sich insbesondere über Schmerz herausbildete. Wie oben be-
116 Vgl. diese und die vorhergehenden Zitate in »Chocolat Kiddies« bB Berlin, im Juni [ohne Jahr]; weitere bibliographische Angaben unbekannt; Kritikensammlung, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln. 117 Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte; Bd. 2. Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Frankfurt am M. 1977/1978. Der »Körperpanzer« des soldatischen Mannes war nicht nur ein Produkt des Militärs, sondern hatte sich verteilt über verschiedene gesellschaftliche Institutionen in der europäischen Geschichte herausgebildet, nicht zuletzt in der Familie. In Anlehnung an Margaret Mahlers Theorie kindlicher Entwicklung interpretiert Theweleit den Körperpanzer als ein sekundäres Ich zur gesellschaftlichen Stabilisierung unvollständiger Ich-Entwicklung im Prozess der Individuation.
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reits angedeutet, imaginierten auch die Tanzbücher den Streit um den Gesellschaftstanz als Krieg mit anderen Mitteln, in dem der Feind im eigenen Land stehe.118 Grenzziehungen markierten kein territoriales Außen, sondern die eigene Körpergrenze, die gegen die Gefahr unkontrollierter Affekte tanzend herausgebildet werden sollte. Die Chocolat Kiddies erscheinen in der obigen Besprechung als ersehnte Abweichung von diesem Programm und seinem Körperschema. 119 Aber die meisten Besprechungen von Revuen wie Chocolate Kiddies (1925), Revue Nègre (1926) oder Black People (1927) reagierten auf solche Affekte mit Abwehr und Abgrenzung. Der Schriftsteller Kurt Pinthus fragte sich in einer Besprechung der Revue Nègre am Berliner Nelson Theater, wie lange diese Aufführung wohl gedauert habe. Sein Zeitgefühl habe ihn verlassen. Doch der Rest der Besprechung grenzt sich vom Geschehen ab, vergleicht, analogisiert, bewertet: Der Tänzer Louis Douglas sei der »Chaplin des Tanzes«, Josephine Baker die »schwarze Mistinguett« (ein französischer Varieté-Star der Vorkriegszeit). Die begeisterten Zuschauer verhielten sich wie »besoffene Kleinbürger in einem Bumslokal«, wenn sie den Rhythmus der Musik mitklatschen und mitstampfen. »Der Kritiker bemüht sich, nüchtern zu bleiben und warnt. Die Europäer sollen diesen dionysisch rasenden schwarzen Exzentriks nicht nachäffen, aber von ihnen lernen, zu welcher ungeahnten Ausdrucksfähigkeit sich unsere Körper steigern lassen.«
Doch nüchtern zu bleiben fiel auch Pinthus nicht ganz leicht. Etwas drohte durch diese Revuen ins Rutschen zu geraten. Das Bedürfnis, »schwarze Exzentriks« und »Europäer« dauerhaft voneinander abzugrenzen, wird mit Blick auf die Publikumsreaktionen gerechtfertigt. Die Fantasie der Verwandlung reichte nicht weiter. Dabei führte die Revue in zweifacher Weise eine Geschichte der Gegenwart auf. Black People handelte von Dandy und Dinah, die erst im ländlichen Süden der USA leben und dann nach New York in den Norden ziehen. Die letzten beiden Szenen spielen in den »Straßen von New York City« und einem dortigen »Neger Kabarett«: »Sie zeigen hier all die alten und neuen modernen Tänze vom Cakewalk bis zum Charleston und wieder sind Dandy und Dinah, jetzt ein Ehepaar, zur Unterhaltung der Gäste im Kabarett
118 Vgl. zu dieser Interpretation auch Zimmermann, Schieber, S. 181. 119 Der expressionistische Schriftsteller René Schickele schrieb in einer biografischen Notiz kurz nach dem Ersten Weltkrieg: »Immerhin gehöre ich zur deutschen Literatur, die ich – wie sich allmählich zeigt: mit Recht – für eine größere Realität ansehe als die gepanzerten, pulvergeladenen, geschliffenen und schaumlügenden Äußerungen der deutschen Öffentlichkeit.« Vgl. die 1920 erstmals veröffentlichte Anthologie expressionistischer Dichtung von Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Hamburg 1995, S. 359-362, hier: S. 360.
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engagiert. Sie singen und tanzen zur Belustigung der Kundschaft, die auch zu tanzen beginnt.«120
Die Revue Black People führte also eine Entstehungsgeschichte dieser Tänze auf. Sie thematisierte das Verhältnis von Stadt und Land, von alten und neuen Modetänzen, von Bühnen- und Gesellschaftstanz. Während die deutsche Presse diese Revuen als Neuheit aus den USA vermarktete, schlossen sie tatsächlich an Figuren, Formen und Akteure an, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland präsent gewesen waren. Louis Douglas war schon als Kind mit dem Cakewalk durch Europa getourt. In der Revue Black People von 1927 trat Rastus Banks mit einem Buck and Wing auf.121 Banks war in Deutschland vor dem Krieg so bekannt gewesen, dass die Zeitschrift Das Organ der Variétéwelt 1913 eine Meldung seiner Hochzeit mit Alverta Burley bekannt gegeben hatte.122 Mit von der Partie war in Black People auch Arabella Fields, eine afroamerikanische Sängerin, die wahrscheinlich seit 1899 in Deutschland lebte und auftrat.123 Eine junge Generation afroamerikanischer Künstler_innen nahm Kontakt mit denjenigen auf, die schon länger in Europa aufgetreten waren. Zusammen führten sie die Geschichte der Great Migration auf, die eine der Herkunftslinien der Tänze ausmachte. In der Schlussszene tanzen alle zusammen, so dass sich Bühne und Tanzfläche, Theater und Alltag berühren. Afroamerikanische Tänzer_innen beschränkten ihre Präsenz in den 1920er Jahren tatsächlich nicht auf die Bühne. Louis Douglas und Josephine Baker tanzten nach den Vorstellungen mit ihren Fans und gaben Tanzunterricht. Douglas blieb bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und arbeitete unter anderem auch als Tanzlehrer, insbesondere für den Charleston.124 Auch Josephine Baker beendete ihre Arbeit meist nicht mit dem Bühnenauftritt, sondern tanzte nach der Vorstellung weiter.
120 Programmheft »Black People«, Negerrevuen: Kritiken und Programmzettel, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Schloß Wahn, Universität zu Köln. 121 Zu diesem virtuosen Bühnentanz des 19. Jahrhunderts, Vorläufer von Steptanz und Ergebnis afroamerikanischer und irischer Kooperation, vgl. Hill, Tap Dancing, S. 20-44. 122 Vgl. Das Organ der Variétéwelt Nr. 248 vom 23. August 1913, S. 12: »Mr. Jeffard Banks (Rastus) von der Firma Rastus & Banks hat sich am 1. d. Monats in Brooklyn mit Miss Alverta Burley verheiratet. Rastus & Banks fahren am 20. September nach Europa, um in Deutschland ihre Engagements zu absolvieren.« 123 Zu Arabella Fields vgl. Lotz, Black People, S. 225 ff; Michael Huffmaster: Arabella Fields. Black Nightingale or Black Chameleon?, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2006 17 (4): S. 68-80. 124 Vgl. Rainer E. Lotz: Schwarze Entertainer in der Weimarer Republik, in: Martin (Hg.): Zwischen Charleston und Stechschritt, S. 255-261, S. 258.
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»Seht mir zu, wenn ich mitten unter euch tanze – so muß man tanzen. Nicht auf der Bühne, aber inmitten eines Kreises von Menschen, die in die Hände klatschen und immer näher drängen, Männer und Frauen, auf der gleichen Ebene mit ihnen, in gleichem Licht, Seite an Seite.«125
Auch in Berlin eröffnete sie in der Behrensstraße ein Nachtkabarett »Bei Josephine Baker«.126 Baker betonte die Tanzfläche als primären Ort, an dem Tanzen vermittelt werden könne, und sie praktizierte das in ihren jungen Jahren tagtäglich. Neben Tanzbrevieren und Tanzschulen müssen deshalb auch für die 1920er Jahren andere Vermittlungsinstanzen miteinbezogen werden, wenngleich sie weniger sichtbare oder analysierbare Spuren hinterlassen haben. Baker selbst beschreibt die Nähe zu ihren Fans als durchaus ambivalent. Anfangs sei sie in Paris nach der Vorstellung immer irgendwo tanzen gegangen, doch es sei »nicht sehr bequem« gewesen, auf dem Montmartre zwischen den Tischen und »unter Wilden« zu tanzen. Nach Mitternacht seien da oben alle »wie die Wilden«. Deshalb habe sie ihr eigenes Lokal eröffnet. Baker nutzte ihre autobiografischen Texte häufig, um kolonial-rassistische Projektionen auf ihren Körper, ihren Charakter und ihre Tanzkunst aufzugreifen und auf das europäische Publikum anzuwenden. Rhetorisch wie tänzerisch verschaffte sie sich Distanz zu den Mechanismen der Exotisierung.127 Sie nutzte sie, trieb sie auf die Spitze und machte sich zugleich über die Wissensbestände lustig, die sie produzierten. Ihre Position blieb dabei stets unsicher und riskant. Sie wählte ihre Rollen weder selbst noch konnte sie souverän über die Inszenierung ihrer Auftritte verfügen. Im Gegenteil, sie gab Verantwortung ab und ließ sich treiben, konzentrierte sich aber darauf, dem Vorgefundenen etwas Neues abzugewinnen. »[Mein Manager] stellt sich vor, daß ich die Französinnen verwandle, und ich stelle mir vor, daß sie mich verwandeln!«128 Im Vergleich zu ihren Kolleginnen vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere Dora Dean, Ida Forsyne oder Arabella Fields, betrat Baker die Bühne in den 1920er Jahren fast nackt. Sie passte sich den Anforderungen des Pariser Showbusiness an, wo man den gerade angekommenen jungen Tänzerinnen aus den USA vermittelte, es sei ganz normal, sich zu Werbezwecken – zumindest vor dem Maler Paul Colin, 125 Josephine Baker: Ich tue, was mir paßt. Vom Mississippi zu den Folies Bergère, Aufgeschrieben von Marcel Sauvage mit Zeichnungen von Paul Colin, Frankfurt am Main 1980 (erste deutsche Ausgabe München 1928), S. 82. 126 Vgl. eine Werbekarte für das Lokal, abgedruckt in Nagl, Unheimliche Maschine, S. 659. 127 Vgl. zu einer exzellenten Lektüre dieser Strategie Fatima Tobing Rony: The Third Eye. Race, Cinema and Ethnographic Spectacle, Durham NC 1996, S. 199 ff.; einen guten Überblick über die Literatur zu Baker gibt auch Michael Borshuk: An Intelligence of the Body. Disruptive Parody through Dance in the Early Performance of Josephine Baker, in: Fischer-Hornung, EmBODYing Liberation, S. 41-58. 128 Josephine Baker, Ausgerechnet Bananen, München/Zürich 1978, S. 111.
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bald aber auch vor allen möglichen Kameras – auszuziehen. Baker war nicht begeistert. In Kombination mit ihrer Bühnenpersona als comedy girl, die sie bereits aus New York mitgebracht hatte, entstand jedoch etwas Neues: Eine nackte Frau auf der Bühne, die witzig war. Sie war zugleich verführerisch nackt und unangreifbar komisch. Ihr ganzer Körper war in Bewegung, schnell und verwandlungsfähig lenkte sie die Blicke ihrer Zuschauer in unvorhersehbare Richtungen: Hände, Hüften, Schultern und Augen tanzten. Was ihre fotografischen Portraits, die auch auf Bildpostkarten zirkulierten, nur unzureichend wiedergeben, zeigt sich in den Filmaufnahmen ihrer Arbeit.129 Josephine Baker machte sich über das Begehren lustig, das sie erzeugte, ohne es vorzuführen oder zu zerstören. Sie reizte es an und lenkte es lachend in eine andere Richtung. »Und dann tanze ich mit all den dicken Damen. Die finden es manchmal gar nicht so lustig; ich finde es immer sehr lustig. Alle Welt beim Charleston. Die Kellner, die Oberkellner, die Köchin, der Kassierer, die Boys, die Ziege und das Schwein, ... Und ich, ich tanze, ich tanze, ich lache, ich platze vor Lachen.«130
Es ist ein anarchisches Lachen, das sich Baker hier gönnt, doch oft war es auch ein Lachen, mit dem sie Probleme auf Distanz zu halten versuchte. Wie anstrengend und schmerzhaft diese Haltung auf Dauer sein konnte, wird in ihrer postum veröffentlichten Autobiografie deutlich.131 Doch mit Anfang zwanzig, als sie dem Journalisten Marcel Sauvage auf dessen Anfrage ihre ersten »Memoiren« diktierte, war sie mit jedem Satz, jeder Geste offensiv. Sie setzte auf ihr Vermögen: »Ich bin nicht sportlich, ich trainier nicht, ich lebe so, wie es gerade kommt, ich übe nie, ich bin keine Maschine, und der Zufall ist viel schöner als jede Maschine, ich bin meiner sicher!« Sie verlachte die Normalisierung des Körpers durch Disziplinartechniken und mobilisierte dadurch eine Kraft der Negation, die sie mit Selbstliebe und der herausragenden Ästhetik ihrer Tanzkunst zu verbinden verstand. Dabei war Baker nicht eingebildet und sie war nicht naiv: »Ich kann mit den Schultern Karussell fahren, ich kann Murmeln spielen mit meinen Augen, ich kann einen Flunsch machen wie ein Krokodil, ich kann auf den Hacken gehen und ich kann auf allen Vieren laufen, wenn ich will, und dann schüttle ich alle Blicke ab... Schließlich
129 Vgl. zwei Szenen mit Josephine Baker in Die Königin der Revue (F 1927), Regie: Joé Francys aus dem Programm des Revuetheaters Folies-Bergère »La Folie du Jour« von 1926. Sie tanzt einmal auf einer Bühne mit dem Thompson Jazz Orchester die Szene »Plantation« und ein andermal auf der Tanzfläche eines Nachtclubs zwischen den Tischen. 130 Baker, Ich tue, S. 81. 131 Vgl. Baker, Ausgerechnet Bananen.
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bin ich doch kein Nadelkissen... Mit meinen Händen, mit meinen Armen sage ich, wer ich bin.«132
Der Frage nach der Identität, die sie festlegen und kategorisieren wollte, wich sie in ihren Bewegungen aus. Ihre Auftritte waren stets relational zu dem, was sie vorfand – sie setzte sich ins Verhältnis zu einer merkwürdigen Welt, die sie in ihrer Kindheit zuallererst von ihrer mörderischen und vernachlässigenden Seite kennen gelernt hatte.133 Nun, da alle Welt nach ihr verrückt war, konnte sie das nicht mehr so recht ernst nehmen. Das galt nicht für ihre Kunst oder ihre Überzeugungen, die sie sehr ernst nahm. Ihre Traurigkeit, ihre Wut und ihr unbedingter Eigensinn waren ihr im Laufe ihres Lebens persönlich immer wieder eine große Last. Doch als Künstlerin entwickelte sie eine eigenwillige Leichtigkeit. Diese Leichtigkeit legte sie auch in Kommentaren über die Tanzlust an den Tag, der sie begegnete. Europäer hätten den Charleston bei Afroamerikaner_innen gesehen und einen anderen erfunden. »[E]r gleicht dem ersten nicht, er ist aber auch sehr hübsch.« Trotzdem solle nicht vergessen werden, worum es bei dem Tanz eigentlich gehe, nämlich »mit den Hüften zu wackeln«. Sie verstehe nicht, warum man »seit einiger Zeit [den] Popo zu sehr versteckt«. Er sei doch nun mal da und sie wüsste auch nicht, was man ihm vorzuwerfen habe. Es gäbe nur manche, die noch viel zu lernen hätten: »Es ist allerdings wahr, daß ich Popos kenne, die so dumm sind, so prätentiös, daß sie gerade noch gut genug wären, um sich daraufzusetzen und selbst das...«.134 Baker widersprach in ihren Tänzen und in ihren Interviews einer herrschenden Moralisierung des Körpers, zelebrierte aber etwas anderes als die ebenfalls prominente Anti-Moral der Weimarer Künstlerszene. Sie versprach die Möglichkeit von Verwandlung, indem Körperzonen, Tanzbewegungen und selbst Worte ihre Funktion wechselten. Eine so unbekümmerte Haltung einzunehmen faszinierte nicht nur Männer, die sich scharenweise in Josephine Baker verliebten oder mit ihr zusammenarbeiten wollten, sondern auch viele Frauen. Eine Gruppe Näherinnen aus Paris schrieb ihr einen Brief mit der Bitte um eine Fotografie, die sie an
132 Baker, Ich tue, S. 71. 133 Lapidar beginnt Baker ihre Autobiografie: »Mein schönstes Kindheitserlebnis? ... Da bin ich überfragt. Aber vom schrecklichsten kann ich berichten. Die Erinnerung daran habe ich für immer bewahrt – unbewußt zuerst, später sehr bewußt. Sie hat mein Leben bestimmt.« Es handelte sich um den mörderischen Angriff weißer Bewohner_innen ihrer Heimatstadt St. Louis in Missouri 1917 auf die schwarze Community der Stadt, gefolgt von der Erinnerung an ihre erste Arbeitsstätte bei einer weißen Frau, die sie körperlich misshandelt hat. Baker, Ausgerechnet Bananen, S. 13-16. 134 Alle Zitate Baker, Ich tue, S. 59.
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ihrem Arbeitsplatz aufhängen wollten; sie glaubten, das würde ihnen Glück bringen.135 Die afroamerikanischen Revuen der 1920er Jahre erinnerten das europäische Publikum daran, dass es zu den Tanzschulversionen dieser Tänze eine Alternative gab. Sie zeigten auch, dass es neben gepanzerter Girlformation oder selbstzerstörerischer Totalentblößung auf der Bühne auch die Möglichkeit gab, eine unbestimmte Position einzunehmen, die weder Ordnung noch Chaos verkörperte, sondern Spannung und Experiment. Bakers Vorbehalte, sich nackt vor der Kamera von Fotografen zu zeigen, belegen möglicherweise, dass sie dem Vorhaben, ihre Körperbewegungen mit der Kamera zu fixieren, skeptisch gegenüberstand.136 Abbildung 37: Sammelkarte Josephine Baker
Von Baker zirkulierten viele Fotografien von unterschiedlicher Qualität. Die Zusammenarbeit mit Fotografen wie Walery in Paris, wo sich um 1900 bereits die
135 Vgl. die in ihrem ersten Buch abgedruckten Briefe ihrer Fans, darunter einige Frauen. Neben den Modistinnen waren darunter noch der Brief eines Dienstmädchens, einer Bildhauerin und einer Ehefrau. Baker, Ich tue, S. 140 f. 136 »(›Oh Pepito, gibt es denn kein anderes Foto von mir als das, auf dem ich ganz nackt bin? Doch, aber das gefällt den Leuten am besten.‹) Die Josephine von le Vésinet [Josephines Wohnsitz bei Paris Ende der 1920er Jahre] trägt ein weißes Bubikrägelchen.« Baker, Ausgerechnet Bananen, S. 119 f.
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Florida Creole Girls fotografieren ließen und mit Dora Kallmus (Künstlername: D'Ora), einer österreichischen Modefotografin, stechen heraus. Sie entwickelten Aufnahmen von erstaunlicher Qualität, die Baker eine glamouröse Aura verliehen. Lichtreflexe auf glänzenden Stoffen, unscharfe Konturen und überbelichteter Glitzerschmuck brachten ihre Haut zum Schimmern. Die Reflexe werfen das Licht auf den Betrachter zurück und erzeugen einen Blendeffekt, der neugierige Blicke anzieht und ablenkt. Dazu kommen verspielte, selbstironische Gesten, wie Baker mit der »Bakerpuppe«, einem der vielen Produkte aus der Selbstvermarktung des Bühnenstars.137 1927 widmete sich ein neues Tanzbrevier ganz dem Charleston.138 Dass sich etwas verändert hatte, konnte man gleich auf der erste Seite des Buches sehen: Hier war eine Fotografie von Josephine Baker abgedruckt. Die Präsenz afroamerikanischer Tänzer_innen in Europa ließ sich nicht mehr wie in den Jahren zuvor ganz ausblenden oder verleugnen. Die fein säuberlich gezogenen Grenzen von Bühnentanz und Gesellschaftstanz waren wieder zusammengebrochen. Das Tanzbrevier trug dem visuell Rechnung, machte sich ansonsten aber gleich wieder an die Arbeit, eine gesellschaftlich akzeptable Version dieser Tänze zu vermitteln: Dem Charleston, der »so ruhig ist, wie der Tango«, sei dieses Buch gewidmet, »nicht dem negerigen Geschlenker mißverstehender Tanzjungen, die in der Copie der Chocolate Kiddies ihre Aufgabe sehen.« So wandte sich die Publikation an diejenigen, die dem Charleston noch skeptisch gegenüber stünden, ihn aber doch schon »im geheimen zu Hause vor dem Spiegel« ausprobiert hätten. Ihnen wolle er mit seinem Buch helfen, so der Herausgeber in seinem Vorwort, ihnen rief er zu: »An die Arbeit!«139 Im Buch selbst lässt sich der vereinnahmende Ausschluss visuell und narrativ nachvollziehen. Die Fotografien von Baker stellen nicht ihre Tanzkunst, sondern ihren nackten Körper aus. Die ausgewählten Bilder vermittelten weder etwas vom Charleston noch von Bakers spezifischer Bühnenpersona. Sie sind weder verspielt noch glamourös. Mit einem bemühten Lächeln zeigt sie ihren nackten Oberkörper, sie trägt Armreif, Kreolen und ein kaum Hüften bedeckendes Federröckchen. Die Bildunterschrift unter zwei weiteren Fotografien, die im Anschluss an das Vorwort abgedruckt sind, lautet: »Die geniale Negertänzerin – Das oft kopierte, nie erreichte Vorbild für den grotesken Bühnen-Charleston«.140 Diese Begriffe – Neger, Bühne, Groteske – dienten ebenso der Abgrenzung wie die Überhöhung Bakers zu einem 137 Baker mit der Bakerpuppe war Teil einer Serie von Sammelbildern mit dem Titel »Berühmte Tänzerinnen und Tänzer«, die von einer deutschen Zigarettenfirma herausgebracht wurde. Vgl. Digitale Sammlung Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten, USB Köln. 138 F. W. Koebner/Otto Dely: Charleston. Ein neues Tanzbrevier, Berlin 1927. 139 Koebner, Charleston, S. 2. 140 Koebner, Charleston, S. 6 f.
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unerreichbaren Vorbild (für den Bühnen-Charleston). In Kombination mit dem Bild sollte sie so auf eine Rolle festgeschrieben werden. Dabei war Josephine Baker in verschiedenen Rollen aktiv: Sie war zugleich Bühnenstar und Gastgeberin in ihrem Lokal. Auf der Bühne wechselte sie – ganz in der Tradition von Transformationsakten – immer wieder spektakulär das Kostüm, trat erst als Tramp, in der nächsten Szene als glitzernde Diva in Abendtoilette auf.141 Doch Baker war auch auf Kooperation angewiesen. Nicht alle von ihr produzierten Bilder waren vielschichtig. Für das Tanzbrevier von 1927 war ein eindimensionales Bild von Baker auch funktionaler: Es sollte helfen, die hier präsentierte Version des Charleston zu vermarkten. Prominent mobilisierte die Publikation den Diskurs der Ansteckung und erzählte unter der Rubrik »Charleston-Fieber« die Geschichte der »Erweckung« des Charleston durch den Impresario George White in New York.142 Der »Erreger« habe schon lange in der Bevölkerung geschlummert, doch erst Whites Übertragung auf die Bühne der »Coloured Shows« habe ihn geweckt. Mit Runnin' Wild von 1922 sei die Welt mit dem Bazillus »Charleston« infiziert worden. Neben White nennt das Brevier weitere Akteure, die für die Entstehung des Charleston angeblich ausschlaggebend waren. Manager, Charlestonköniginnen, Bühnenshows, Musiknoten, Schallplatten. Nur Afroamerikaner_innen spielen keine Rolle. Auf den Bildern sind alle »Charleston-Königinnen« weiß, genau wie die Gewinnerin des »nationalen Charleston-Turniers« 1926 in Chicago, die stolz ihren Pokal präsentiert. Weshalb die »nie erreichten Vorbilder« an solchen Wettbewerben nicht teilnahmen, verstand sich offenbar von selbst. National war implizit weiß und Baker war die Ausnahme, die die Regel bestätigte.143 Das Tanzbrevier versuchte dem spektakulären Erfolg des Charleston auf symbolischer Ebene Rechnung zu tragen: Gestellte Aufnahmen aus dem Pariser und New Yorker Stadtleben sollten belegen, dass man überall Charleston tanze, auf Hausdächern, Turmspitzen, Bürgersteigen, am Strand, in der Hotellobby, auf dem Ozeandampfer und gar auf der Treppe zum Parlament.144 Eine Karikatur verhandelt eine Unterrichtsstunde im Charleston in einer Privatwohnung. Zu sehen ist eine weiße Frau, die von einem Grammophon begleitet, Charleston übt. Ein modisch gekleideter, schwarzer Mann begutachtet sie kritisch. Mit Zigarre und dem hinter ihm platzierten Trichter des Grammophons ist er mit phallischen Versatzstücken ausgestattet. Auch die Silhouette der tanzenden Frau ist spitz und aggressiv. Ihre Beine sind
141 Phyllis Rose: Jazz Cleopatra. Josephine Baker in her Time, New York 1989, S. 122. 142 Der weiße Produzent George White produzierte 1922 das Musical Running Wild am Broadway, das den Charleston mit den gleichnamigen Song von James P. Johnson zum Hit machte. Vgl. Stearns, Jazz Dance, S. 145 f. 143 Koebner, Charleston, S. 12-15. 144 Koebner, Charleston, S. 44-47.
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lang und dünn und stecken in extrem kleinen, spitzen Schuhen. Im Hintergrund sitzt eine wohlbeleibte Frau auf dem Sofa und wischt sich erschöpft ihr vor Hitze rot angelaufenes Gesicht ab: Sie ist aus dem Unterricht bereits ausgestiegen.145 Die Karikatur verkehrte so die ansteckende Lockerheit im Charleston in neue Anforderungen. Nur wer sportlich und offensiv war, so die Karikatur, könne da bestehen.146 Das Tanzbrevier zum Charleston machte Blackness am Rand, als Marginalie sichtbar: Auf den ersten und letzten Seiten waren Josephine Baker und die »Chocolate Kiddies« zu sehen, und die Karikatur macht gemeinsames Lernen und Tanzen zu einem sexualisierten Witz. Ins Zentrum rückte die Vermittlung eines gesellschaftlich akzeptablen Charleston, der von seinen schwarzen Vorbildern unterschieden wurde. Rassismus bot Entlastung an: Europäer müssen das nicht lernen. Das geschah nicht nur argumentativ, sondern auch in der visuellen Dramaturgie des Tanzbreviers. Afroamerikanische Kultur fungierte als Ressource und Rohstoff, um sich ihrer in fest abgesteckten Grenzen zu bedienen. Der Konflikt um die angemessene Form des Charleston, die Frage, ob man sportlich genug dafür sei, die Unterscheidung von Bühnen- und Gesellschaftstanz, der vereinnahmende Ausschluss von Josephine Baker – das Tanzbrevier passte den Charleston in das systemstabilisierende Korsett eines weiteren Modetanzes ein, der Spaß machen, ansonsten aber alles beim Alten belassen sollte. Während in Deutschland auf den Tanzflächen ausgiebig Charleston getanzt wurde – durchaus nicht immer nach dem Standard der Tanzlehrer –, begannen Ende der 1920er Jahre publikumswirksame Kampagnen gegen Bakers Auftritte, insbesondere im katholischen Wien und München.147 Bernd Polster argumentiert in Swing Heil, einer Untersuchung über Jazz im Nationalsozialismus, dass die Kampagnen gegen Jazz in den 1920er Jahren der Politik der 1930er Jahre einen idealen Boden bereiteten. Musikwissenschaftler sprachen von Schmutz, Seuche, Elend und Plage, von antideutschem Wahnsinn und »Negerbluttransfusion«, zu einer Zeit, als solcher Rassismus noch keineswegs verordnet war: »Solche Diagnosen [...] säten jenen Haß, den die Nazis nur noch zu ernten brauchten.«148 In Analogie dazu ließe sich sagen, dass die Tanzbreviere jene kühle Abhärtung und besserwisserische Ge-
145 Koebner, Charleston, S. 41. 146 Die Karikatur des schwarzen Tanzlehrers stand in der Tradition der schwarzen Dandyfiguren, die seit Jahrzehnten zirkulierten. Schwarz-weiße Paarkonstellationen in Tanzbewegung waren hier ein etabliertes Muster, ebenso wie die Konstellation eines schwarzen Mannes mit mehreren weißen Frauen. Vgl. Kap. III.3. 147 Die Polizei verbot Bakers Auftritt in München 1929 mit dem Argument, sie würde »Aufruhr« verursachen, vgl. Nancy Nenno: Weiblichkeit – Primitivität – Metropole. Josephine Baker in Berlin, in: Katharina von Ankum (Hg.): Frauen in der Großstadt. Herausforderung der Moderne? Dortmund 1999, S. 136-158, hier: 152 f. 148 Bernd Polster: Es zittern die morschen Knochen. Orchestrierung der Macht, in: Polster, Swing Heil, S. 9-30, hier: S. 13.
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schichtsvergessenheit vorbereiteten, die eine Vereinnahmung des Standardtanzes im Nationalsozialismus ermöglichte. Der vereinnahmende Ausschluss schwarzer Akteure im Gesellschaftstanz war nationalsozialistischer Herrschaft ebenso dienlich wie der ressentimentgeladene Angriff auf »Jazz« und andere »entartete Musik« in den 1920er Jahren.149 Gegenüber der populären Tanzmusik verhielt sich das Regime pragmatischer und verfolgte, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, ein Erziehungs- und Überwachungsprogramm. Wie schon koloniale Akteure im Kaiserreich, forderten sie die Deutschen zu einer Selbstbesinnung auf und sprachen sie als Opfer »einer seelischen Versklavung und einer geistigen Vergiftung« an. Die deutsche Bevölkerung sei wegen ihrer »rassemäßigen Zusammensetzung von jeher verhältnismäßig instinkt-unsicher gewesen«. Erst mit der politischen und wirtschaftlichen Befreiung werde ihr »Instinkt« zum Ausdruck kommen.150 Musik war ein Terrain, auf dem dieser »Instinkt« eingeübt werden sollte. Unmittelbar nach der Machtübernahme waren manche Bands verunsichert und verbannten vorsichtshalber das Saxophon von ihren Auftritten. Doch das Regime beruhigte sie – man sei schließlich modern und habe gegen das Saxophon nichts einzuwenden.151 Wohl aber gegen »Nigger-Jazz« im Rundfunk, gegen den 1935 ein reichweites Sendeverbot verhängt wurde. Das implizierte, dass es noch anderen, weißen Jazz gebe. Die Sendung »Vom Cakewalk zum Hot« sollte als aufklärerische Anti-Jazz-Propaganda diese Grenze nachvollziehbar machen. Doch die Wirkung war ambivalent, weil »die NS-Rundfunkmacher den Jazz [dadurch] wieder gleichsam durch die Hintertür in den Äther« brachten.152 Ähnliches lässt sich für den Film zeigen: Während afroamerikanische Musiker_innen und Tänzer_innen in Deutschland mit Aufführungsverboten belegt wurden, waren in deutschen Kinos bis Ende der 1930er Jahre Revuefilme aus den USA 149 Vgl. Hans Severus Ziegler: Entartete Musik. Eine Abrechnung, Düsseldorf 1938. Selbst hier waren nationalsozialistische Akteure bemüht, deutlich zu machen, dass man durchaus nicht gegen die »rhythmische Bereicherung« oder gegen »Dissonanzen in der Musik« sei, sondern gegen die »Zerstörung« kultureller Formen, die sich bewährt hätten. Nationalität dürfe nicht in »Mannigfaltigkeit« zerfallen, sondern müsse seine »historische, völkische und rassische Einheit« bewahren. Ebd., S. 26-28. 150 Ziegler, Entartete Musik, S. 3 f. 151 Zum Saxophon als (sexualisiertes) Sinnbild von Jazz und zu seiner wechselvollen Geschichte im Nationalsozialismus vgl. Lücke, Jazz im Totalitarismus, S. 83-94; zu einer Lektüre des berühmten Plakats der Ausstellung »Entartete Musik« mit der Karikatur eines schwarzen Mannes mit Saxophon und Judenstern vgl. Birgit Haehnel: The Black Jew. An Afterimage of German Colonialism, in: Langbehn, German Colonialism, S. 239-259. 152 Kurz, Swinging Democracy, S. 20. Hot bezieht sich hier auf »hot jazz«, eine durch Louis Armstrong popularisierte Richtung in der Geschichte des Jazz. Vgl. auch den Hot Club in Paris in den 1930er Jahren, in dem der Jazzgitarrist Django Reinhardt spielte.
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zu sehen, die meist ohne afroamerikanische Akteure Swing und Steptanz präsentierten. Die Konventionen der Segregation im Hollywood-Kino der Studio Ära gingen so Hand in Hand mit den Rassismen des nationalsozialistischen Regimes. Der leichtfüßige und nie ganz ernste Fred Astaire war der Star dieser Musicalfilme, die bis Ende der 1930er Jahre in den deutschen Kinos zu sehen waren.153 Deutsche Musik- und Filmproduktionen folgten diesem Beispiel und brachten neben Marschmusik und deutschen Schlagern auch Swing-, Tango- und andere amerikanische Tanzmusik heraus.154 Obwohl das Regime im Verlauf des Krieges Jugendliche immer härter verfolgte, die sich um Swing und seine Tänze herum in »Cliquen« organisierten, und kriegsbedingt auch Tanzverbote verhängte, kam es nie zu einem Verbot swingender Tanzmusik. »Das Verbot der Tanzmusik erscheint mir insofern unmöglich, als ja dann auch die entsprechenden Konsequenzen für den Rundfunk gezogen werden müßten.«155 Es war klar, dass ein Verbot von Swing ein Verbot von Tanzmusik ganz allgemein bedeuten würde. Tanzmusik war in den 1930er Jahren Swing. Während des Krieges erschienen wieder deutsche Schallplatten mit Swingmusik, die sogar »einfallsreicher und frecher« wurden.156 Das Vorhaben, eine moderne »deutsche« Tanzmusik ohne Synkopen zu entwickeln, war gescheitert. Die letzten Spielfilme vor Kriegsende zeigten lange Tanzsequenzen ohne Dialog. In Die Frau meiner Träume von 1944 steppt Marika Rökk minutenlang durch spiegelnde Studioaufbauten, während sie »Ich warte auf Dich« singt.157 Doch diese Instrumentalisierung blieb selbst in dieser doppelt vermittelten, erst weiß, dann deutsch gemachten Version eine prekäre Angelegenheit. Das in der Forschung mittlerweile ausführlich untersuchte Phänomen der »Swingjugend« im Nationalsozialismus belegt, wie kurz der Weg von der Begeisterung für amerikanische Musik zur Infragestellung nationalsozialistischer Grundannahmen war. Sie hätten einfach gewusst, dass »die Schwarzen den großen Anteil am Jazz haben«, erinnerte sich ein Zeitzeuge. Diese Evidenz stellte die Glaubwürdigkeit der offiziellen Trennung von swingender Tanzmusik und verpöntem »Nigger-Jazz« in Frage. Ideen, wie man zu dieser Musik tanzen konnte, gaben auch die Tanzfilme aus Hollywood. Der Rest ergab sich aus der Verbindung von Körperbewegungen, Rhythmus und der Lust an der Abweichung wie von selbst. Bewegungen, wie sie bereits Les Elks
153 Vgl. die Liste der wichtigsten amerikanischen Musikfilme, die zwischen 1933 und 1938 in Deutschland im Kino liefen, in: Polster, Swing Heil, S. 231 f. 154 Der Höhepunkt dieser Vereinnahmung war 1936 während der Olympiade in Berlin, vgl. Kurz, Swinging, S. 33 ff. 155 Vorlage des Propagandaministeriums vom 3. Januar 1942 für Joseph Goebbels betreffs »Unwürdiges Verhalten der Jugend beim Spielen von Jazz Musik«, zitiert nach Kurz, Swinging, S. 139. 156 Polster, Swing Heil, S. 236. 157 Die Frau meiner Träume (D 1944), Regie: Georg Jacoby.
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Anfang des Jahrhunderts im Cakewalk ausgeführt hatten, kehrten ebenso zurück wie das gemeinsame Tanzen in einem Kreis: »Der Anblick der etwa 300 tanzenden Personen war verheerend. Kein Paar tanzte so, daß man das Tanzen noch als einigermaßen normal bezeichnen konnte. Es wurde in übelster und vollendetster Form geswingt. Teilweise tanzten zwei Jünglinge mit einem Mädel, teilweise bildeten mehrere Paare einen Kreis, wobei man sich einhakte und in dieser Weise dann gehüpft wurde. Viele Paare hüpften so, indem sie sich an den Händen anfaßten und dann in gebückter Stellung, den Oberkörper schlaff nach unten hängend, die langen Haare wild im Gesicht, halb in den Knien mit den Beinen herumschleuderten. Bei manchen konnte man ernsthaft an deren Geisteszustand zweifeln, derartigen Szenen spielten sich auf der Swingfläche ab. In Hysterie geratene Neger bei Kriegstänzen sind mit dem zu vergleichen, was sich dort abspielte.«158
Die Hamburger Swing-Tänzer_innen waren das Gegenbild zur aufrechten, soldatischen, koordinierten und kontrollierten Massenbewegung von Hitlerjugend und BDM. Den Oberkörper zu benutzen, um den Takt zu schlagen, während die Beine in die Luft springen, die langen Haare durch die Luft und »wild ins Gesicht« fliegen zu lassen – die Umkehrung der kopfgesteuerten, aufrechten Haltung der sich selbst und ihrer Rasse bewussten Deutschen erzeugte eine Abwehr, die auf sexistische und koloniale Begriffe zurückgriff, die bereits um 1900 mit dem Cakewalk assoziiert worden waren. Doch worüber sich der Bericht am meisten echauffierte war die Tatsache, dass die Jugendlichen einfach weitertanzten, obwohl die Präsenz der Gestapo im Raum recht schnell bekannt geworden war. Die Veranstalter kamen der Forderung der Gestapo, dagegen vorzugehen, nicht nach. Oft ohne voneinander zu wissen, verhielten sich Jugendliche in Deutschland und in besetzen Städten wie Wien, Prag und Paris auf ähnliche Art und Weise, was bei den Überwachungsorganen des Regimes Anfang der 1940er Jahre hektische Aktivität auslöste.159 Dabei waren sie oft weniger organisiert als die Behörden befürchteten. Es sei kein Widerstand gewesen, betont Emil Mangelsdorff, der den Krieg als Jugendlicher in Frankfurt erlebte, sondern ein »weitgehend unbewusstes« Verhalten. Ein »Gefühl« habe sie von dem entfernt, was das Regime verlangte. Immer wieder sei er von der Gestapo verhaftet und verhört worden. Sie zwangen ihn, sich die Haare zu schneiden, und wollten wissen, welcher Organisation er angehöre. Es gab keine Organisation, noch nicht einmal einen Club, nur eine Erkennungsmelo-
158 Bericht des HJ Streifendienstes vom 8.2.1940 über eine Streife im Kaiserhof in Altona, abgedruckt in: Ritter, Heinrich Himmler, S. 101. 159 Vgl. Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerzung und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 182: Die Reichsjugendführung sprach 1942 von einer steigenden »Gefahr der politischen, sittlichen und kriminellen Zersetzung der Jugend« durch »Bildung von Cliquen«.
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die, die sie auf der Straße pfiffen, wenn jemand vorbei kam, der äußerlich auch kein Mitglied der Hitlerjugend sein konnte. »Wir hatten dieses Signal, die Melodie von Harlem. Die hatten wir so als Erkennungszeichen.«160 Schließlich gründete er mit seinen Freunden tatsächlich einen Club »zur Pflege der Jazzmusik«, den »Harlemclub«. Nach dem Krieg erfuhr er von einem Historiker, dass es damals bereits einen anderen Harlemclub in Frankfurt gegeben hatte, sie wussten aber nicht voneinander.161 Koffergrammophone und private Plattensammlungen ermöglichten den Tänzer_innen, alle möglichen Orte in Tanzflächen zu verwandeln – die Wiese am Badesee oder auch den nächtlichen Einsatz zum so genannten Heimatschutz in Fabriken, Büros oder sogar Kirchen. Die Grenze zogen die Behörden häufig dort, wo Dissens offensichtlich, öffentlich und provokativ wurde. Es gefiel den unangepassten Jugendlichen, das nationalsozialistische Monopol auf Marschieren und Skandieren auf der Straße in Frage zu stellen. Sie nahmen »Wochenendkarzer« für alternative Marschformationen mit Spottversen in Kauf. Sie verspotteten auch den Hitlergruß, auf der Tanzfläche wie auf der Straße. »Die Hamburger Swings etwa kannten eine Figur, bei der sie im Takt der Musik swingten, den Arm hochreckten und dabei den Zeigefinger ausstreckten. Diese Pose war an den HitlerGruß angelehnt und wurde manchmal auch zur Begrüßung benutzt. Auch den Zazous [in Paris] war diese Figur vertraut: Sie zeigten mit dem Finger nach oben und brüllten dazu ›Zazouzazouzazou...‹«.162
Die Swing-Jugend gilt heute als Vorläufer der Jugendbewegungen der Nachkriegszeit, doch die Akteure zeichneten sich gerade dadurch aus, dass sie keine Jugendlichen sein wollten, jedenfalls nicht in dem von der herrschenden Gesellschaft vorgesehenen Sinn. Im Grunde verhielten sie sich erwachsener als die sich anpassenden Erwachsenen. Sie stellten die Geschlechtertrennung der organisierten Jugend in Frage und führten Beziehungen. Sie weigerten sich, ihre Unruhe in den dafür vorgesehenen Bahnen auszuleben. Gegen das Primat sportlicher Ertüchtigung waren sie betont unsportlich.163 Sie tanzten zwar ausgelassen, aber ihre Gesichter waren ernst und desinteressiert.164 Während die Gestapo das Verhalten der Jugendlichen gerne auf Vernachlässigung durch die Eltern und auf einen Generationenkonflikt zurückführen wollten, hatten die meisten keine Probleme mit ihren Eltern. Viele un-
160 Emil Mangelsdorff: »Diese Melodie von Harlem«. Interview, in: Polster, Swing Heil, S. 143-153, hier: S. 145. 161 Mangelsdorff, Melodie, S. 148. 162 Tantner, Swing, S. 49. 163 Vgl. zum Anpassungsdruck durch Sportunterricht Peukert, Volksgenossen, S. 174 f. 164 Zu den »Tangojünglingen« vgl. Kurz, Swinging, S. 32.
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terstützten sie sogar – vielleicht unbewusst – in ihrem Tun, indem sie ihnen Taschengeld gaben, ihre Modewünsche erfüllten und sie in ihrer Freizeit machen ließen, was sie wollten. Die Jugendlichen entwickelten Strategien, sich den Zwangsorganisationen von HJ und BDM zu entziehen. Tricks und Posen halfen ihnen, gegen das Wertesystem der Gesellschaft ein eigenes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Sie nahmen eine andere Körperhaltung ein, »schlurften« und gingen leicht vornüber gebeugt, sie waren nicht straff, sondern schlaff, nicht schnell oder ehrgeizig, sondern lässig, gelangweilt und verträumt. Insbesondere träumten sie von einem Ort auf der anderen Seite des Meeres: England und den USA. Viele gaben sich englischsprachige Vornamen, ihre Cliquen hießen Melody oder Harlem Club. Sie organisierten zwar keinen Widerstand gegen das Regime, wandten sich aber bewusst von den Werten und Normen ab, die in der nationalsozialistischen Gesellschaft herrschten.165 Sich den Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft zu entziehen, zu verachten, wovon man ausgeschlossen oder worin man zwangsweise eingeschlossen war, eigene Werte, Ästhetik und Soziabilität zu verfolgen – nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Frankreich war dies ein problematisches Unterfangen, sondern auch in den von zunehmender Segregation geprägten Städten in den USA und Südafrika. Deutsche Swing Kids, französische Zazous, amerikanische Zoot Suits und südafrikanische Tsotsis – mit ähnlicher Mode, Tänzen und provokativen Gesten der Desintegration aktualisierten diese urbanen Subkulturen in den 1930er und 40er Jahren das Repertoire des Black Atlantic.166 Die Gesten und Haltungen insistierten auf einer anderen, autonomen Seinsweise, ohne Verantwortung für den gesamten Zusammenhang zu übernehmen oder Aufschub im Namen eines längerfristigen, wie auch immer legitimierten Projekts zu dulden. Der afroamerikanische Schriftsteller Ralph Ellison nannte es 1943 das Rätsel des Zoot Suits. Vielleicht verstecke sich hinter der »symmetrical frenzy of the Lindy-Hop« eine politische Botschaft, die erst noch verstanden werden müsse.167 Der folgende Abschnitt zeigt am Beispiel von zwei Musicalfilmen, wie im Hollywood der 1940er Jahre die Rhythmen und Bewegungen des Black Atlantic benutzt wurden, um eine Subjektivität zu entwerfen, die mit Freude in den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland zieht. In dieser Mobilisierung kam auch der Cakewalk zu neuen Ehren. Die Musicalfilme You'll Never Get Rich mit Fred Astaire und Rita Hayworth von 1941 und Stormy Weather von 1943 mit Bill Robinson, Le165 Vgl. Kurz, Swinging, S. 65-70. 166 Zum Einfluss von Zoot Suit in Südafrika vgl. Rob Nixon: Homelands, Harlem, and Hollywood. South African Culture and the World Beyond, New York 1994, S. 11-42. 167 »Perhaps the Zoot Suit conceals profound political meaning; perhaps the symmetrial frenzy of the Lindy-hop conceals clues to great potential power – if only Negro leaders would solve this riddle.« Ralph Ellison: Editorial, in: Negro Quarterly 1943 1 (4): S. 300 f. Vgl. auch Kelley, Race Rebels, S. 161-182.
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na Horne, Ethel Waters, Fats Waller und anderen schickten swingende und steppende Soldaten aufs Parkett und produzierten zwei streng segregierte Narrative der Integration, um Botschaften nationaler Einheit und patriotischer Gesinnung zu vermitteln. Denn die Forderung nach »double victory« stand im Raum: Der Kampf gegen Faschismus in Europa müsse auch ein Kampf gegen Rassismus in den USA sein, argumentierten afroamerikanische Intellektuelle 1942.168 Doch das segregierte Kino ermöglichte, diese Forderung als Thema von Afroamerikaner_innen darzustellen. In der weißgewaschenen Version mit Fred Astaire war Swing ähnlich wie in den deutschen Filmen ein Mittel zum Zweck, um mit synkopierter Marschmusik die Kampfeslust zu steigern.
M OBILMACHUNG Zoot Suits waren Anzüge mit breitschultrigen, fast knielangen Jackets und weit geschnittenen Hosen, die an den Knöcheln sehr schmal zuliefen. Junge Afroamerikaner im ländlichen Süden und im urbanen Norden trugen sie ebenso wie mexikanische und philippinische Jugendliche der zweiten Generation in Kalifornien.169 Auch junge Frauen stellten sich aus Männer-, Sport- und Freizeitmode neue Outfits zusammen. Sie trugen Mäntel mit überlangen Armen bis zu den Fingerspitzen, kurze Röcke oder lockere Hosenanzügen, Turnschuhe und Kniestrümpfe. 170 »The looseness of jacket and trousers perfectly suited the swirling motion of Lindy Hop.«171 Im ganzen Land, von den ländlichen Südstaaten zum urbanen Norden und dem von pazifischer und mexikanischer Einwanderung geprägten Westen prägten Zoot Suits die Tanzszene den 1930er Jahre. Als der junge Malcolm Little 1941 aus Michigan nach Boston zog, war Zoot Suit zu tragen und Lindy Hop zu tanzen eine Möglichkeit, seine Herkunft aus der Provinz hinter sich zu lassen. Als Zoot Suit gab er dem Anpassungsdruck der Großstadt nach und schlug doch eine andere Richtung ein als die Gesellschaft – auch die afroamerikanische – von ihm erwartete. In seiner Autobiografie beschreibt er einen rassistischen Alltag, der ihn in ein Zwangskorsett von Entmutigung, Demütigung und Anforderung einspannte. Statt Wünsche und Bedürfnisse in einer Ausbildung aufzuschieben, stürzte sich der spätere Wortführer der Nation of Islam in das verwirrende Großstadtleben von Boston und New York und genoss die begrenzte Autonomie, die er sich als Schuhputzer, Eisenbahnschaffner
168 Vgl. Nikhil Pal Singh: Black Is A Country. Race and the Unfinished Struggle for Democracy, Cambridge MA/London 2004, S. 109-128, hier: S. 123; Ronald Takaki: Double Victory. A Multicultural History of America in World War II, New York 2000. 169 Vgl. Luis Alvarez: The Power of the Zoot. Youth Culture and Resistance during World War II, Berkeley/Los Angeles/London 2008. 170 Zu den Geschlechterverhältnissen unter Zoot Suits vgl. Alvarez, Power, S. 82-111. 171 Savage, Teenage, S. 397.
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und Kleinkrimineller erarbeitete. Glaubt man seiner Autobiografie, entzog sich Malcolm X Anfang der 1940er Jahre sogar dem Militärdienst. 172 Zwar waren afroamerikanische Communities und andere amerikanische Minderheiten verhältnismäßig häufig in der Armee vertreten und viele Zoot Suits folgten auch der Einberufung, doch die sichtbare Präsenz einer nichtweißen, jungen, männlichen, kleinkriminellen und ostentativ hedonistisch eingestellten Unterschicht in Städten wie Los Angeles machte sie Anfang der 1940er Jahre zu einer rassistisch aufgeladenen Projektionsfläche für den moralischen Verfall der homefront. Die massenmediale Aufmerksamkeit für die Zoot Suits kulminierte 1943 im Zoot Suit Riot, als weiße Soldaten und Teile der zivilen Bevölkerung in Los Angeles unbehelligt von Polizei und Militärbehörden tagelang Zoot Suits verprügelten und demütigten. Bereits 1942 rationierte die Regierung die Menge an Stoff, die für private Zwecke verbraucht werden durfte und illegalisierte damit die Produktion von Zoot Suits in Kriegszeiten. Sie blieben jedoch im ganzen Land weiterhin populär, gerade auch weil sie unter Jazzmusikern und Filmschauspielern beliebt waren.173 Aus der Perspektive der amerikanischen Regierung waren solche Ereignisse nicht unproblematisch. Um der Totalmobilmachung faschistischer Gesellschaften zu begegnen, griffen auch die USA auf bisher ungenutzte Ressourcen zurück. Mehr und mehr Frauen, Jugendliche und nichtweiße Männer arbeiteten in Rüstungsfabriken und im Dienstleistungssektor. In Städten wie Detroit oder Los Angeles kamen Anfang der 1940er Jahre Massen von Menschen zusammen, produzierten Waffen oder warteten auf ihren Kriegseinsatz. Immer wieder griffen weiße Arbeiter oder Soldaten Afroamerikaner_innen und Einwanderer der zweiten Generation aus Mexiko, Japan oder den Philippinen an.174 In dieser Situation entwickelte Henry Luce, der Herausgeber von Time Magazine, eine neue integrative Formel, um das Selbstverständnis der USA im Zeichen der 172 Malcolm X spielte vor dem psychiatrischen Gutachter einen verrückten schwarzen Mann, der sich freute, zur Armee zu gehen, weil er dort hoffte, andere schwarze Männer gegen Weiße aufwiegeln zu können. An anderer Stelle sagt er, er freue sich, eingezogen zu werden, weil er es gar nicht erwarten könne, der japanischen Armee beizutreten. Selbstbewusst spielte Malcolm X so mit den Ängsten weißer Vorherrschaft vor einer drohenden Illoyalität der nicht-weißen Bevölkerung. Er wurde ausgemustert. Vgl. Malcolm X: The Autobiography of Malcolm X. As told to Alex Haley, New York 1999, S. 108-110. 173 Vgl. Shane White/Graham White: Stylin'. African American Expressive Culture from Its Beginnings to the Zoot Suit, Ithaca NY/London 1998, S. 254-260. 174 »Although the riots sprang from local economic, social, and political conditions, each was also part of a growing trend among whites toward mob and vigilante violence as a response to the increased cultural, economic, or political self-activity of nonwhites.« Alvarez, Power, S. 200-234, hier: S. 201. Vgl. auch Eileen Boris: »You Wouldn't Want One of 'Em Dancing with Your Wife«. Racialized Bodies on the Job in World War II, in: American Quarterly 1998 50 (1): S. 77-108.
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Mobilisierung gegen den Faschismus neu auszurichten. In seinem Artikel The American Century warf er 1941 dem Land vor, es würde sich selbst und seine Rolle in der Welt ganz falsch einschätzen. In einer fulminanten Aktualisierung der imperialen Doktrin von manifest destiny, die Luce als »manifest duty« reformulierte, lud er seine Landsleute ein, sich mit anderen Augen zu sehen – den Augen des Auslandes. »Once we cease to distract ourselves with lifeless arguments about isolationism, we shall be amazed to discover that there is already an immense American internationalism. American jazz, Hollywood movies, American slang, American machines and patented products, are in fact the only things that every community in the world, from Zanzibar to Hamburg, recognizes in common.«175
Luce stellte nicht den Kampf gegen Hitler oder den Faschismus ins Zentrum seines Pamphlets für eine neue weltpolitische Rolle der USA, sondern die Chancen für das eigene Land, sich dadurch selbst zu finden oder neu zu erfinden. Das war nicht besonders verwunderlich, hatte Luce noch wenige Jahre zuvor Mussolini im eigenen Blatt als Helden gefeiert. Die USA sollten eine Führungsposition übernehmen, die ihnen angeblich von der Welt bereits zugeschrieben worden war: »Blindly, unintentionally, accidentally and really in spite of ourselves, we are already a world power in all trivial ways – in very human ways.« Die Menschen auf der ganzen Welt glaubten an die »ultimate intelligence and ultimate strength of the whole American people«.176 Nicht mehr die Bürde des weißen Mannes wie in den 1890er Jahren sollte imperiale Politik begründen, sondern ein Pluralismus, den die Welt den USA als bereits existierende Realität spiegelte. Wie selbstverständlich beginnt Luce die oben zitierte Aufzählung kommerziell erfolgreicher nationaler Produkte mit Jazz. Die räumliche Metapher »von Zanzibar bis Hamburg« verweist wenig subtil auf die koloniale Vergangenheit des deutschen Kaiserreichs, das im Tausch für die Insel Helgoland 1890 Zanzibar an England übergeben hatte. Zwischen Zanzibar und Hamburg, so die implizite Botschaft, herrschen längst nicht mehr die alten Kolonialmächte, sondern die globale Reichweite amerikanischer Konsumgüter. Der konservative Republikaner Luce argumentierte für den Kriegseintritt der USA, indem er nicht den Kampf gegen den Faschismus, sondern den Kampf für amerikanische Hegemonie ins Zentrum rückte. Das war nicht nur geschickte Rhetorik, sondern entsprach auch seiner politischen Haltung. Luce hatte in den 1920er Jahren mit Benito Mussolini als Vorbild von einem amerikanischen Führer geträumt und noch 1939 Adolf Hitler zum »man of the year« im Time Magazine gekürt. Geschickt griff er nun Anfang der 1940er Jahre Einwände und Rhetoriken von schwarzen Intellektuellen auf, die polemisch fragten, welche Demokratie schwarze 175 Henry R. Luce: The American Century, New York/Toronto 1941, S. 33. 176 Luce, American, S. 34.
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Soldaten in Europa verteidigt sollten, wenn das Regime im eigenen Land diesen Namen nicht verdiente.177 »[W]hose Democracy« fragte auch Luce und versprach zugleich, »the most powerful and most vital nation« werde auf der Bühne der Weltpolitik spirituell und praktisch zu sich finden.178 »Under [President Roosevelt] and with his leadership we can make isolationism as dead an issue as slavery, and we can make a truly American internationalism something as natural to us in our time as the airplane or the radio.«179
Isolationismus und Sklaverei stehen modernen Verkehrs- und Kommunikationstechnologien als schlechter Vergangenheit gegenüber. Technologie sollte Menschen über weite Distanzen (und Differenzen) hinweg verbinden. Rassismus in der Gegenwart wird ausgeblendet. Noch sei das Land verunsichert, zögerlich und nervös, während die Briten ganz ruhig um ihr Überleben kämpften.180 Doch auch durch die amerikanische Nation, von internen Konflikten geschwächt, werde bald wieder die Vitalität von »purpose, and enterprise, and high resolve« strömen.181 Tatsächlich war die Lage in den USA kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs äußerst angespannt. Depression und New Deal, Streiks und kommunistische Bewegung, die Massenmigration der Mobilisierungsjahre und die Infragestellung geschlechtlicher und rassischer Aufteilung des Arbeitsmarktes in der Kriegsproduktion – Luces Programm nationaler Erneuerung reagierte auf die Konflikte, die er jedoch nicht führen, sondern aufheben wollte. Wie dies auch mit Hilfe von Jazz gelingen sollte, erprobten die Musicalfilme Hollywoods, die kurz vor und nach Kriegseintritt Massenformationen swing tanzender weißer Soldaten inszenierten. Einer der ersten war You'll Never Get Rich von 1941. Er erzählt vom chaotischen und undisziplinierten Soldat-Werden des Tänzers und Choreografen Robert Curtis, gespielt von Fred Astaire. Im Bootcamp soll er das Marschieren lernen, doch als Steptänzer ist ihm das zu langweilig. Ständig unterbricht er den Marschrhythmus, steppt im Offbeat dazwischen und verwirrt damit seinen Vorgesetzten. Der Film entwirft eine soldatische Männlichkeit, die betont von den Regimen totalitärer Unterwerfung abweicht, gegen die amerikanische Soldaten in Europa und 177 Vgl. zur Dynamik der Internationalisierung des Kampfes um Bürgerrechte von Afroamerikaner_innen Singh, Black is a Country, S.101-133. »World War II contrasted markedly with World War I in its expansion of an official pluralism, yet the recalcitrant spirit of black protest nurtured in the 1930s meant that fewer blacks were willing to ›close rank‹ this time.« Ebd., S. 111 f. 178 Luce, American, S. 20-23. 179 Luce, American, S. 26. 180 Luce, American, S. 4. 181 Luce, American, S. 40.
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Japan kämpfen sollten. Die Schlagkraft der amerikanischen Armee erwachse gerade aus dieser Abweichung, dem Eigensinn und der Intensität des dadurch erzeugten Rhythmus, suggerierte der Film. In einer beispiellosen Apotheose endet You'll Never Get Rich in einer achtminütigen Tanzperformance zu dem Lied Wedding Cakewalk, samt steppender Soldaten in weißen Uniformen mit Partnerinnen in weißen Brautkleidern auf einer riesigen, weiß-glänzenden Panzerattrappe.182 Abbildung 38: Screenshot aus »You'll Never Get Rich«, USA 1941.
Der Plot von You'll Never Get Rich etablierte ein Gegennarrativ zur Ökonomie der Un/Lust der Zoot Suits: Wo diese sich der Gesellschaft entzogen und ganz mit sich selbst beschäftigt Gangs gründeten, sexuelle Beziehungen führten und mit Geschlechterrollen experimentierten, erzählt You'll Never Get Rich die Geschichte von Robert Curtis, der verstrickt in eine komplexe Vierecksgeschichte aus seiner Arbeitswelt in die geordnete Welt der Armee flieht. Der Titel des Films spielt auf die finanziellen Einbußen an, die er durch diesen Schritt in Kauf nimmt.183 Malcolm X log, um ausgemustert zu werden, im Film lügt Curtis, um der Armee beitreten zu können. Eigentlich ist er nämlich zu klein und zu dünn für den Dienst an der Waffe. Der amerikanische Soldat tritt hier als durchsetzungsschwacher, chaotischer, künstlerisch begabter, aber undiszipliniert-impulsiver Tänzer auf, dem die Sympathie des Publikums gehört, weil er vor Komplikationen des sexuel-
182 You'll Never Get Rich (USA 1941), Regie: Sidney Lanfield. Es handelt sich um einer der ersten Musicalfilme, die Kriegsvorbereitung in ihren Plot einbezogen. Vgl. Jennifer R. Jenkins: »Say It with Firecrackers«. Defining the »War Musical« of the 1940s, in: American Music 2001 19 (3): S. 315-339. 183 Unfreiwillig wird Curtis Opfer eines in ihn verliebten Chorus Girls und sieht sich von fremden Begehrensströmen eingekreist. So hat er nur noch einen Wunsch: Flucht.
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len Begehrens im modernen Geschlechterkampf flieht, der von männlichem Chauvinismus auf der einen Seite und der Körpermasse der stets nacktbeinigen Chorus Girls auf der anderen geprägt ist. Der Film legt die Homosoziabilität des soldatischen Ausbildungslagers als Erholungsurlaub vor den Niederungen der kulturindustriellen Warenwelt nahe. Abbildung 39: Screenshot aus »You'll Never Get Rich«, USA 1941.
Zu Curtis Abreise steppen die Chorus Girls vergnügt Marschformationen. Wie in einer Invasion dringen sie in den Bahnhof ein, um ihren Drillmeister zu verabschieden. Überall lange, nackte Beine, glitzernde Schuhe, nackte Schultern. Der Film verzichtet auf moralisch-nationalistische Appelle an Pflicht- und Ehrgefühl des Helden und verspricht stattdessen einen anderen, individuellen Gewinn – ein funktionierendes, heterosexuelles Begehren zu entwickeln. Anfangs gleicht Curtis Leben im Ausbildungslager einer Slapsticknummer, die ihn schon bald in eine Arrestzelle bringt. Hier trifft er, genau in der Mitte des Films, auf eine Gruppe von Afroamerikanern. Sie singen ein trauriges, langsames, swingendes Lied. Ihre Gesichter sind vom Leben gezeichnet, faltig und nachdenklich. Wer sie sind und warum sie unter Arrest stehen, wird nicht weiter erklärt. Die Armee war offiziell ebenso segregiert wie die restliche Gesellschaft, nur in Ausnahmefällen sollten weiße und schwarze Soldaten einander als Gleiche begegnen. Curtis liegt ruhig und entspannt auf seiner Pritsche und hört der Musik zu. Gekonnt begleitet er den Rhythmus mit Klatschen und Klopfen, schließlich steht er auf und tanzt. Doch obwohl das Lied traurig ist, lässt Astaire seine Figur tanzen, wie er immer tanzt – maskenhaft lächelnd, glatt, perfekt. Es scheint, als wolle er Gefühle tanzend abwehren. Das Lied handelt vom Abschied von der Geliebten. Astaire hatte in der Nacht zuvor so lebhaft von der Frau geträumt, vor der er geflohen war und in die er sich ohne es zu merken verliebt hatte, dass er einen Moment unfähig war, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden, und deshalb seinen Vorgesetzten angegriffen hatte. Dieser Vorfall brachte ihn in die Arrestzelle, wo ihn nun die traurige Musik zu einem fröhlichen Tanz anregt. Die Zelle wird durch das Tanzen zur
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Bühne, vor der plötzlich die Geliebte auftaucht. Sie schaut ihm lächelnd zu und kommentiert trocken: »Soldier, you're a beat off.« Mit dem Vorwurf, er sei nicht im Takt, spricht sie die Angst des weißen Tänzers vor dem Scheitern an der schwarzen Vorlage aus. Es ist der einzige Moment im Film, in dem er zusammen mit seinen afroamerikanischen Kameraden im Bild ist. Sheilas Kommentar aus dem Off unterbricht die Inkongruenz in der Szene, ihre emotionale Schieflage. Astaire tanzt in seinem Fokus, immer alles zu geben, an den Gefühlen vorbei; der Film delegiert sie in dieser Szene an singende schwarze Statisten. Die Assoziation von Astaire und Blackness war selten, aber dem Publikum nicht unbekannt. In Swing Time trat er 1936 mit dem Lied »Bojangles of Harlem« auf. Zuerst steppt er mit einer großen Gruppe von schwarz oder weiß gekleideten weißen Chorus Girls und führt sie kollektiv in einen Paartanz, bis er schließlich allein auf der Bühne ist. Da treten drei übergroße Schatten hinter ihm in Erscheinung. Eine Weile ist unklar, wer wem folgt – Astaire den Schatten oder umgekehrt. Sie sind immer perfekt on time, aber nicht immer ganz synchron. Schließlich geben die drei auf, und Astaire grinst in die Kamera, als habe er diesen tänzerischen Schlagabtausch gewonnen. In seinen Gesten imitiert Astaire in diesem Auftritt in Blackface seinen Kollegen Bill Robinson, der den Spitznamen Bojangles hatte. Der damals wohl berühmteste afroamerikanische Steptänzer hatte ebenfalls Karriere in Hollywood gemacht, allerdings waren seine Rollen durch den Rassismus meist auf die Figur des Dieners beschränkt.184 Swing Time blieb Astaires einziger Auftritt auf der Leinwand in Blackface, belegt aber die Komplexität der Verhandlung von Inklusion und Exklusion in der Populärkultur der 1930er Jahre.185 Die Tanzszene in der Arrestzelle des Bootcamps in You'll Never Get Rich ermöglicht die Sichtbarkeit afroamerikanischer Soldaten, die sprichwörtlich entwaffnet sind. Sie sind traurig und nachdenklich, während Curtis kindlich-fröhlich und unerschrocken bleibt. Der Film sollte diese Subjektivität der Naivität bestätigen und von Affekten und Intensitäten abgrenzen, die sie in Frage stellen könnten. Curtis macht Fehler und muss dazulernen, doch die Konflikte stärken seinen Charakter. Der einfache Soldat verkleidet sich als Captain, um der Frau seiner Träume zu imponieren, fliegt auf, bereut und kehrt in die Arrestzelle zurück. Doch nun gibt die Armee ihren Wunsch auf, den Künstler in einen einfachen Soldaten verwandeln zu wollen, und gibt ihm den Auftrag, mit seiner alten Truppe eine Show zusammenzustellen, um die Soldaten im Bootcamp zu unterhalten. Statt sich selbst zu diszipli-
184 Vgl. seine Auftritte mit dem weißen Kind-Star Shirley Temple in The Little Colonel (USA 1935) und The Littlest Rebel (USA 1935). Ein gemeinsamer Tanz konnte hier gezeigt werden, weil die Kombination älterer schwarzer Mann und blondes Kind die Konstellation als entsexualisiertes Kinderspiel darstellen konnte. 185 Swing Time, USA 1936. Vgl. zur ausführlichen Lektüre dieser Szene Elizabeth Abel: Shadows, in: Representations 2003 84 (Fall): S. 166-199.
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nieren, drillt er wieder Chorus Girls, die nun durch ihre Auftritte die Moral der Truppe stärken sollen. So verwandelt sich die Armee in eine Spielwiese für Curtis' impulsive Kreativität, die im Verlauf des Films in geregelte Bahnen gelenkt wird. Indem er am Ende dieser Show mit seiner Partnerin den Wedding Cakewalk auf dem Dach der weißen Panzerattrappe steppt und sie kurzerhand von der Bühnenbraut zur wirklichen Braut macht, integriert sich der einst verantwortungsscheue Karrieremann in die heterosexuelle Ordnung soldatischer Männlichkeit, ohne seine impulsive Kreativität und damit seine Subjektivität aufgeben zu müssen. Astaire gilt als zentraler Vorbereiter des »integrated musicals«, in dem Tanzszenen integraler Bestandteil der Konfliktlösung des Plots waren.186 Abbildung 40: Screenshot aus »You'll Never Get Rich«, USA 1941.
Als Tanz erinnert der Cakewalk in dieser Szene fast nur dem Namen nach an den ersten schwarzen Tanz, den Weiße um 1900 in ihr Repertoire des Gesellschaftstanzes aufnahmen. Erst bereiten langsame Walzer und ordentliche Promenaden die Eheschließung vor; nach dem Jawort küsst sich das Brautpaar aber nicht, sondern steppt zur einsetzenden Swingmusik, als habe es die Zeremonie kaum abwarten können, um endlich wieder loszutanzen. Der Schnitt auf zwei Gesichter im Publikum, die im Film eine strenge, aber wohlwollende Autorität verkörpern, bietet dem Zuschauer eine Möglichkeit, seinen eigenen Blick an diesem Blick auf »die jungen Leute« auf der Bühne auszurichten. In Uniform, ordentlich aufgestellt um den Panzer tanzend, stellen sie in der Tat keine Bedrohung für das »American Century« dar, sondern sind ihr Motor, ihre Energiequelle. Nur einmal, für einen Moment, nehmen Astaire und Hayworth Posen aus der Geschichte des Cakewalks ein. Sie holen ein paar Schritte weit aus und Sheila lächelt ins Publikum. Dann kniet Curtis am Boden, Sheila setzt ihren Fuß auf sein aufgestelltes Knie. Diese Figur war von Aida Overton Walker als erste aus ihrem Programm gestrichen worden, als sie den Cakewalk um 1900 modernisieren wollte.
186 Vgl. John Mueller: Fred Astaire and the Integrated Musical, in: Cinema Journal 1984 24 (1): S. 28-40.
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»[The present cakewalk] is devoid of the extravagant features of the earlier period. Good form no longer permits a woman to place her foot on her partner's knee to have her shoe tied. The flourishing of handkerchiefs and that kind of coquetry is no longer popular with those who have developed the modern cakewalk.«187
Dass nun ausgerechnet diese Figur in der Cakewalk-Szene von You'll Never Get Rich zitiert wird, vollendet den vereinnahmenden Ausschluss der Geschichte dieses Tanzes. Es handelt sich um eine Figur aus der Quadrille oder dem Cotillon, also den Vorlagen, die der Cakewalk einst dekonstruiert hatte.188 Zwei Jahre später kam Stormy Weather in die amerikanischen Kinos, ein »Hollywood war musical«, das sich an ein afroamerikanisches Publikum richtete und etwas anders mit der Geschichte des Tanzens umging.189 Der Film blickt von 1943 auf 1918 zurück und beginnt mit einem Cakewalk. Der Tänzer Bill Williamson, gespielt von Bill Robinson, erinnert sich anlässlich seines 25. Bühnenjubiläums an seine Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg mit den Harlem Hellfighters. Bei einem rauschenden Fest lernt er Selina Rogers kennen, gespielt von Lena Horne. Sie tanzen Ragtime, Turkey Trot und Cakewalk und verlieben sich. Obwohl es auch in Stormy Weather Anachronismen gibt – James Reese Europes Orchester klingt oft mehr nach dem Swing der 1930er als dem Ragtime der 1910er Jahre – orientieren sich die Tänze am historischen Material. Der Cakewalk ist kein Bühnentanz, sondern Gesellschaftstanz. Doch ähnlich wie in You'll Never Get Rich unterbricht die Gewalt des Krieges den Alltagsbetrieb von Konkurrenz und Arbeitsdruck, der die Figuren individualisiert und vereinzelt. Williamson verliebt sich nach seiner Rückkehr in Selina Rogers, verliert sie im Showbusiness und gewinnt sie im Zweiten Weltkrieg zurück. »Anything for the soldiers«, antwortet er auf die Einladung zur Abschiedsrevue für einrückende Soldaten und trifft dort die traurige Rogers wieder, die trotz Karriere nicht glücklich geworden ist. Doch während in You'll Never Get Rich das individuelle Drama von Curtis im Mittelpunkt steht, feiert Stormy Weather die Erfolge schwarzer Künstler_innen als kollektive Geschichte. Ähnlich wie Curtis findet Williamson sein Glück durch Eigensinn – er schafft seinen Durchbruch als Tänzer, weil er aus der Reihe tanzt und sich nicht auf eine Funktion als Taktgeber reduzieren lässt. Doch dieser individuelle Eigensinn sticht nicht heraus, sondern ist teil eines kollektiv zelebrierten Abweichens, das in jeder der aufgeführten Nummern zum Ausdruck kommt – von Fatts Wallers »Ain't Misbehavin'« bis zu Katherine Dun-
187 Vgl. Krasner, Resistance, S. 91. 188 Vgl. zu Quadrillen und zum Cotillon die nachgestellten Tänze im Video Dance Times: 500 Years of Social Dance, vol. 1, USA 1998. 189 Stormy Weather (USA 1943), Regie: Andrew L. Stone.
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hams Auftritt mit einer Rumba im Stil des modernen Ausdruckstanzes. Und hier finden auch die sonst so problematisierten Zoot Suits ihren Platz. In einer Szene repräsentieren sie den Verfall des urbanen Lebens – Sexarbeit und Zuhälterei, in der nächsten tanzen sie zu Cab Calloways Jumping Jive. Er tritt dabei in einem spektakulären Zoot Suit auf, ist aber auch mit einer übergroßen Fliege ausgestattet, ein Zitat aus der Requisitenkiste des Varietés. So vollzieht der Film eine Genealogie des Zoots, die vom Cakewalk über den Niggertramp hin zum class act reicht. Denn auf die Zoots folgen in der Szene von Jumpin Jive die Nicholas Brothers in perfekt gestyltem Smoking und virtuosem Steptanz.190 Diese Integration auf der Leinwand stand im krassen Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Übergriffen gegen Zoot Suits in Städten wie New York und Los Angeles.191 Schon die alleinige Identifizierung von Zoot mit afroamerikanischer Kultur war ideologisch, denn die Form war auch für Jugendliche aus mexikanischen und philippinischen Einwandererfamilien sowie für viele Weiße attraktiv. 1943 schloss die Polizei in Harlem den Savoy Ballroom. Die Tanzhalle gefährde die öffentliche Gesundheit, weil ihre Betreiber nicht entschieden gegen Prostitution vorgingen, was der Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten Vorschub leiste. Versuche der afroamerikanischen Presse, der Stadt nachzuweisen, dass sie das Savoy wegen »interracial dancing« diskriminierte, während sie andere Orte, an denen der Vorwurf der Prostitution angeblich eher zutraf, tolerierte, scheiterten. Die Assoziation von Tanzen, Sexarbeit, Krankheit und Ansteckung blieb unhinterfragt und das Savoy geschlossen.192 Segregation ermöglichte also die kontrollierte Hereinnahme schwarzer Kultur und bedrohte zugleich die Orte ihrer Produktion, die Tanzflächen, auf denen alle mit allen tanzen konnten. Die biopolitische Aufladung nationaler Gesinnung und soldatischer Subjektivität, die Disziplin und individuellen Eigensinn miteinander in Einklang zu bringen versuchte, entledigte sich dem Gespenst unkontrollierten Austauschs durch die polizeiliche Aufteilung von Räumen und die Regulierung von
190 Shane Vogel: Performing »Stormy Weather«. Ethel Waters, Lena Horne, and Katherine Dunham, in: South Central Review 2008 25 (1): S. 93-113; Clayton R. Koppes/Gregory D. Black: Blacks, Loyalty, and Motion-Picture Propaganda in World War II, in: The Journal of American History 1986 73 (2): S. 383-406; allgemein zur »Choreographie des modernen Lebens« in den 1930er Jahren vgl. Ramsey Burt: Alien Bodies. Representations of Modernity, »Race« and Nation in Early Modern Dance, New York 1998, S. 136 ff. 191 Douglas Henry Daniels: Los Angeles Zoot. Race »Riot,« the Pachuco, and Black Music Culture, in: The Journal of African American History 2002 87 (Winter): S. 98-118. 192 Alvarez, Power, S. 123-125.
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Kommunikation.193 Die Kinoleinwand war dabei nicht die einzige ideologische Projektionsfläche dieser Normalisierungstechniken. Auf der Weltausstellung von 1939 in New York war eine Replik des Savoy Ballroom auf dem Ausstellungsgelände aufgebaut worden. Dort spielten Jazzmusiker wie Dizzy Gillespie Swing, und die besten Tänzer aus dem Savoy traten mit dem Lindy Hop auf. Doch die Besucher_innen durften nur zuschauen, nicht selbst tanzen. »That was some weird shit«, erinnerte sich Gillespie. »No dancing was allowed, just a show.« 194 Hier zeigt sich auch deutlich, wie unterschiedlich die Rassismen in den USA und in Deutschland waren. Filmindustrie und andere massenmediale Ereignisse versuchten in den USA, Musik und Tänze nutzbar zu machen. Wer wann mit wem tanzte, musste aber reguliert werden. Im nationalsozialistischen Deutschland war dagegen ein Programm der Umerziehung aufgelegt worden: Wie am Beispiel des Deutschen Volkstanzbuchs gezeigt, sollte ein völkisches Ressentiment die Deutschen von den Herausforderungen des Black Atlantic entlasten. Man werde sich mit traditionellen Tänzen viel wohler fühlen. Doch der Versuch, diese Botschaft massenmedial umzusetzen, gelang nur über den Ausschluss dieser Form, was insofern prekär war, dass eine erneute Begeisterung sofort wieder einsetzen konnte, sobald die Bevölkerung wieder damit in Kontakt kam. Ein interessantes Beispiel ist der anti-amerikanische Film Rund um die Freiheitsstatue von 1941. Der Kurzfilm schnitt Szenen aus amerikanischen Wochenschauen zusammen, um anti-amerikanische Ressentiments zu schüren. Schnitt und Kommentar sollten die Botschaft sicherstellen. Doch die eingefügten Tanzszenen aus Harlem vermittelten den Jugendlichen eine andere Botschaft, als das Regime intendiert hatte. Ein Zeitzeuge erinnert sich: »Plötzlich zwischendurch wahnsinnige Szenen von Orchestern mit Negern. Wir war'n begeistert. Wir standen auf den Stühlen und johlten. Da haben sie den Film dann abgebrochen.«195 Das Kapitel untersuchte, wie in den Institutionen des Gesellschaftstanzes die Kommunikation zwischen Kontinenten, Subkulturen und Halbwelten durch einen stabilisierenden Standardtanz ersetzt werden sollte, über dessen Expertise allein die in Verbänden organisierten Tanzlehrer_innen verfügen wollten. Obwohl dieses Vorhaben im Alltag der Weimarer Republik nur unvollständig gelang, normalisierte es doch die neuen Tänze in einem Maß, das sie selbst für die Angriffe nationalso193 Vgl. allgemein zu dieser Regierungstechnik Marc Rölli: Ansteckungsgefahr! Disziplinierung im Zeichen des schwarzen Todes. Über Michel Foucaults Surveiller et punir, in: Schaub, Ansteckung, S. 353-366. 194 Zitiert nach Alvarez, Power, S. 121. 195 Günther Lust: Kellnerschritt mit Fechtersprung. Interview, in: Polster, Swing Heil, S. 165-170, hier: S. 166 f. Vgl. auch den für den WDR produzierten Dokumentarfilm Im Swing gegen den Gleichschritt (D 2008), Regie: Monika Ladurner/Wolfgang Beyer. Zur Rezeption in Paris vgl. Kathrin Engel: Deutsche Kulturpolitik im besetzen Paris, 19401944. Film und Theater, München 2003, S. 381.
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zialistischer Ideologen schwer zu fassen machte. Sie hatten sich gleichsam selbst abgehärtet und gingen, mit deutschen Namen versehen, als deutsche Tänze durch. Dafür war stets Rassismus nötig, gerade auch in Form der Opfermentalität im deutschen Faschismus, die das Projekt der kulturellen Rückbildung der Deutschen als Form von Dekolonisierung zu verkaufen versuchte.
Schluss
1958 schrieb Joachim Ernst Berendt in dem theologisch-pädagogisch geprägten Sammelband »Der Tanz in der modernen Gesellschaft« einen Aufsatz, der Rock 'n' Roll als »Ausbruch aus einer organisierten Welt« interpretierte.1 Er schreibt, wer heute Jitterbug und Rock 'n' Roll tanze, wolle »ausbrechen«, wolle sich »abreagieren« und eine Freiheit erleben, die im Alltag verwehrt bleibe. »Je erbarmungsloser im System der modernen Organisiertheit der Mensch zur Funktion des Systems wird, um so erschreckender werden die Ausbrüche daraus werden.«2 Und diejenigen, die diesen Ausbruch suchten, seien Jugendliche. In kaum einer Quelle aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg finden sich Hinweise darauf, dass Tanzen im Black Atlantic ein Jugendphänomen war. Jugendliche waren zwar bisweilen Objekt von Problematisierung wie bei den Apachen in Paris oder Zielgruppe von Werbemaßnahmen wie in der Zeitschrift Elegante Welt. Manche waren Autoren waren jung, wie Heinz Pollack, andere wie F. W. Koebner waren älter. Jedenfalls war bis dahin die Beschäftigung mit Cakewalk, Tango und Charleston keine Frage des Alters gewesen. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Diskursivierung des Phänomens durch. Nun schien die Welt auf eine neue Art und Weise zweigeteilt – in die jungen Wilden und den Rest, der schwarze Tänze entweder ablehnte, sich mit dem modernen Standardtanz zufriedengab oder
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Joachim Ernst Berendt: Tanz als Ausbruch. Zur Problematik der modernen Tanzmusik, in: Friedrich Heyer (Hg.): Der Tanz in der modernen Gesellschaft. Theologen, Tanzlehrer, Pädagogen, Musikwissenschaftler, Ärzte und Soziologen deuten das Phänomen des Tanzes, Hamburg 1958, S. 125-138. Berendt interessierte sich schon als Jugendlicher für Jazz, gehörte zur Generation der »Swing Kids« und »Tangojünglinge« und arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Musikredakteur beim Rundfunk. 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, im selben Jahr starb sein Vater nach mehreren Verhaftungen als Bekennender Christ im Konzentrationslager Dachau. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Berendt zum Südwestfunk und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Musikredakteur und Autor über Jazz und Weltmusik Vgl. auch Andrew Wright Hurley: The Return of Jazz. Joachim-Ernst Berendt and West German Cultural Change, New York 2009. Berendt, Tanz als Ausbruch, S. 132.
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wie Berendt selbst »den Jazz« als Hochkultur verstand, die nicht auf den Status von Tanzmusik reduziert werden sollte. Die Integration von Jazz in den Gesellschaftstanz führe zwangsläufig dazu, dass er seine »ursprüngliche Vitalität« verliere.3 Berendt gehört zu einer Generation von Jazz-Experten, die schwarzer Kultur nach der Verfolgung durch den Nationalsozialismus endlich zu Recht und Ansehen verhelfen wollten. Jazz war für ihn Kunst, vergleichbar mit anderen Werken und Epochen der europäischen Musikgeschichte. Die konstitutiven Kräfte des Black Atlantic hatten in dieser Konzeption wenig Platz, was zu Projektionen auf afroamerikanische Kultur als vital, ursprünglich und per se widerständig führte. Das ersetzte einen historischen Prozess voller Konflikte und Kämpfe, Niederlagen und Siege durch eine naturalisierte Opposition von Vitalität und Zivilisation. »Jazz« musste als fremde Kultur konzeptualisiert werden, damit es als Ausbruch aus dem Eigenen benutzt werden konnte. »Wie gesagt, das gehört zur Logik der Ausbrüche. Sie müssen eklatant als Ausbrüche empfunden werden. In ein paar Jahren muss es auch aus dem Rock 'n' Roll wieder einen Ausbruch geben, [...] und auf diesen Ausbruch folgt dann ein Ausbruch aus dem Ausbruch aus dem Ausbruch aus dem Ausbruch ... und so fort.«4
Berendt stellte sich diesen Prozess linear vor, als ewig sich ablösende Abfolge von Ausbruch und Integration. Schwarze Kultur ist dabei essentialisiert und naturalisiert, sie kommt von außen und steht einfach wie eine Ressource zur Verfügung. Die Musik des Rock 'n' Roll ist ein »Naturereignis im System moderner Organisation«, schreibt er in Tanz als Ausbruch.5 Doch wie die vorangegangenen Kapitel dieses Buches gezeigt haben, besteht zwischen der Intensität gesellschaftlicher Zwänge und der Art des Tanzens keine einfache Entsprechung. Das System der Sklaverei war erbarmungsloser organisiert als die Arbeitswelt westdeutscher Jugendlicher in den 1950er Jahren. Es hätte für Sklaven viel mehr Gründe gegeben, tanzend »auszubrechen«, sie entwickelten aber Bewegungen, deren Ästhetik viel komplexer war und die in solch groben Funktionalisierungen nicht aufgingen. Und es war genau diese Ästhetik, mit der sich in den 1950er Jahren nun schon die dritte Generation beschäftigte. Tanzen war im Strudel des Black Atlantic nie nur Ausdruck eines Problems, Spiegel der Gesellschaft, Ausbruch aus Beschränkung, sondern stets auch Analyse, Intervention, Polemik und Verwandlung. Wird Tanzen hingegen funktionalisiert, ist für diese Geschichte oft wenig Platz. Anstatt die Begriffe zu historisieren, die schon in der Vergangenheit auf das Geschehen reagierten, werden sie wiederholt: Tanzfieber, Exotismus, Aus3 4 5
Berendt, Tanz als Ausbruch, S. 137. Berendt, Tanz als Ausbruch, S. 133. Berendt, Tanz als Ausbruch, S. 133.
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bruch. Eine Historisierung zeigt, dass unterhalb und neben dieser Diskursivierung noch andere Beziehungen, Bezugnahmen, Haltungen und Seinsweisen möglich waren. Das macht auch gegenüber heutigen Nutzbarmachungen misstrauisch. Das Geschehen im Strudel des Black Atlantic folgte keiner binären und linearen Logik von alt und neu, schwarz und weiß, jugendlich und erwachsen, angepasst und widerständig. Tänze griffen Vorhandenes auf, verschoben, überdrehten, maskierten und verwandelte es, um genau solchen binären Logiken etwas entgegenzusetzen. Sie führten jeweils Geschichten der Gegenwart auf, die in Projekten innerer und äußerer Kolonisierung nur als Problem oder als Ressource denkbar waren. Tanzen aktualisierte so historische Beziehungen rund um den Atlantik, indem es Bewegungen ermöglichte, die Zeiten und Räume auf eine Weise durchqueren konnten, die in eine unbestimmte Zukunft wies. Dieses Potential aus spezifischen Konstellationen, Konfliktlagen und Transformationsdynamiken. Diskurse, Bilder und Theorien, die dabei entstanden, waren selbst Teil des Geschehens. Wie im dritten Teil »Entstehung« gezeigt werden konnte, tauchten die Bewegungen und Ästhetiken des Cakewalks um 1900 dort auf, wo etwas aus der Perspektive von Herrschaft nicht am dafür vorgesehenen Platz war. Der Cakewalk eröffnete eine Bühne, auf der sich ein alter, schon im europäischen Gesellschaftstanz angelegter Streit aktualisieren konnte: Wie lassen sich die beim Tanzen trainierten Fähigkeiten zur Kommunikation und zur Kooperation zu anderen Zwecken benutzen, als der Repräsentation einer herrschenden Ordnung? Fluchtpunkt in der Polemik des Cakewalks und seiner Nachfolger war nicht Identität, sondern eine Praxis der Ent-Identifizierung mit zugewiesenen Räumen und Identitäten. Bezugsrahmen dieser Polemik war die Idee der weißen Rasse mit ihren Imperativen von Selbstführung und Selbstüberwachung. Diese Aktualisierung war auch deshalb möglich, weil veränderte Tanzweisen unter den Bedingungen von Gouvernementalität ein enormes Potential hatten, Subjektivität zu erzeugen. Unter dem Imperativ der Selbstführung kam einer Veränderung von Körperhaltungen eine neue strategische Bedeutung zu. Von keiner Position aus intendiert oder kontrollierbar, entstand an dieser Schwachstelle bürgerlicher Subjektivität eine Dynamik, die überraschende Verbindungslinien zwischen weit voneinander entfernten Konfliktherden und Subjektpositionen ermöglichte. Und selbst wer sie problematisierte und als Sinnbild kolonialer Unordnung instrumentalisierte, beteiligte sich oft noch an der Verbreitung seiner eindrücklichen Bewegungen. Die dabei entstandenen kulturellen Formen, unter welchem Namen sie auch immer archiviert und katalogisiert wurden, waren aber nicht per se befreiend oder emanzipierend. Sie experimentierten eher und luden dazu ein, die Lücken und Differenzen, die dabei entstanden, mit eigenen Einsätzen weiterzuführen. Was dann passierte, war nicht immer gleich interessant oder emanzipativ. Und so ist die hier erzählte Geschichte auch eine Geschichte der Abwehr und Abgrenzung, der Ver-
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einnahmung und Abwertung, die sich erst skandalisierend und disziplinierend, zunehmend auch normalisierend auf das Geschehen aufsattelte. Doch Ausbeutung war von Anfang an Teil der Situation im Cakewalk gewesen. Seine Masken und Überdrehungen konfrontierten stets einen überwachenden Blick und ein hämisches Lachen. So vermittelten die Tänze potentiell auch Techniken, solchen Blicken zu begegnen und das Gelingen und Misslingen einer Performance an situativen Kriterien zu messen. Damit konnte ein Anteil an der Geschichte der Moderne sichtbar werden, der häufig nur als Ressource, ausbeutbares Material oder als Opfer denkbar war: afrikanische Kunst und Kultur, die Ästhetik der Diaspora, und Momente von Kommunikation und Austausch, die im erzwungenen instrumentellen Rahmen von Arbeitszwang und Ausbeutung nicht aufgingen. Geteiltes Medium war um 1900 der Paartanz, der von verschiedenen subalternen Positionen aus gleichzeitig umgearbeitet wurde. Die Einladung ging damit nicht nur von der afrikanischen Diaspora aus, sondern auch von der Halb-Welt und den »apachischen« Lebenswelten der Vorstädte, vielleicht sogar von den »Großstadtmenschen« allgemein. In jedem Fall waren Frauen an diesen Prozessen prominent beteiligt – teils weil auch das Zwangsregime von Weiblichkeit Maskierungen nahe legte, um sich von männlichen Blicken und der Gewalt der ständigen Überwachung abzugrenzen, teils weil solche Maskierungen neue Begehrlichkeiten wecken konnten, die auch kulturindustriell vermarktbar waren (vgl. II.3. und III.3 Frauenbewegung). Tanzen wurde dabei potentiell zu einem Medium der Selbstreflexion, das Subjektivität als etwas Gemachtes und damit Veränderbares auswies. Erzwungene Masken verwandelten sich in Maskierungen, die ein kritisches Licht auf erstarrte, habitualisierte, gewaltsam hergestellte Identitäten warfen und dabei beweglich und veränderbar blieben. Ob sich eine solche Selbstreflexion einstellte, hing nicht allein von der Form oder der Technik ab und noch weniger vom richtigen oder falschen Verstehen ihrer Herkunft und Bedeutung (vgl. III.4. Restrisiko). Oft ermöglichte gerade Nicht-Verstehen, den Begriffshorizont der herrschenden Ordnung für einen Moment zu verlassen. Die Frage nach dem Sinn und Zweck des Cakewalks blieb notwendig unbeantwortet und machte ihn deshalb so anschlussfähig an verschiedene Kontexte. Aida Overton Walker versuchte ihren Schüler_innen aus der Oberschicht zu vermitteln, dass sie nicht Figuren nachahmen und nicht an das Bild denken sollten, das sie abgaben. (II.1.) Erst wenn sie ihre eigene Haltung fänden, könnten sie beginnen, einen eigenen Style zu entwickeln. Josephine Baker schrieb über das Begehren der Europäer, sich im Kontakt mit ihr zu verwandeln – und wie ihr das ermöglicht habe, sich selbst zu verwandeln (III.4. Restrisiko). Baker beschrieb auch die Macht der Blicke, die Gewalt der Projektionen, den Alltagsrassismus, der ihr das Leben schwer machte. Doch ihr Tanz war darauf auch eine Antwort, ein Versuch, der Gewalt zu begegnen, die Blicke abzuschütteln oder in eine andere Richtung zu lenken. Und schließlich waren da die vielen namenlosen Nachtän-
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zer_innen, die mit neuen Tanztechniken experimentierten und den Konflikt mit Tanzmeistern und Ballgesellschaften aufnahmen, selbst wenn der »grobe Unfug«, den sie angeblich veranstalteten, sie bis vor Gericht brachte (vgl. I.2.). Aber selbst vom Rand der Tanzfläche oder aus den Zuschauerräumen ließen sich Stimmen, Bilder und Resonanzen rekonstruieren, die vom Strudel des Black Atlantic affiziert waren und sich in unbestimmte Richtungen abtreiben ließen. Das gelang oft durch das Schüren und Unterlaufen von Erwartungen (vgl. III.2.). Dieses Geschehen lässt sich von keinem imaginären Ursprung ableiten und keiner funktionalen Logik einfach subsumieren. Das Buch ging deshalb genealogisch vor und wandte sich dem Strudel des Black Atlantic aus drei unterschiedlichen Perspektiven zu, die im Buch keine lineare Abfolge bilden. Der erste Teil rekonstruierte die Herkunftslinien dieser Dynamik, um die Möglichkeitsbedingungen des Tanzens um 1900 nachvollziehbar zu machen. Diese Linien führten kreuz und quer durch große geografische und zeitliche Räume. Die überraschenden Verbindungslinien, die sich dabei auftaten, bereiteten auf den zweiten Teil vor, der sich eher klassisch der Entstehung der Dynamik des Cakewalks in verschiedenen urbanen Situationen rund um den Atlantik zuwandte. So unterschiedlich die Situationen in Städten wie New York, Kapstadt, Buenos Aires, Berlin oder in der kleinen und peripheren Hafenstadt Viktoria in Kamerun auch waren – überall ermöglichte der Cakewalk eine Polemik gegen die Aufteilung von Räumen und Rechten, die auch der Organisation von Nähe und Distanz ihre Selbstverständlichkeit nahm, sei es zwischen unterschiedlichen Teilen einer lokalen Bevölkerung oder zwischen Epochen und Kontinenten. Der dritte Teil analysierte das Tanzen als Medienphänomen, dessen Realitätseffekte den Rahmen des Bestehenden erst erzeugten, potentiell stets aber auch überschritten. Körper- und Medientechniken bedingten sich dabei wechselseitig. Tanzen war ein wichtiger Gegenstand, um in Dynamiken medialer Transformation mit Körperbewegung zu experimentieren. Das war nicht erst im Film, sondern bereits auf Bildpostkarten und Fotomontagen der Fall gewesen. Und es betraf nicht, wie oft angenommen, in erster Linie den Bühnentanz der europäischen Avantgarde, sondern eine viel größere Dynamik des Tanzens, die kreuz und quer zwischen Tanzflächen und Bühnen, Profis und Amateuren, kommerziellen und künstlerischen Projekten hin und herging. Quer durch alle drei Teile ließ sich zeigen, wie um 1900 Performanzen von Blackness, von Weiblichkeit und von subproletarischen Subjektivitäten aufeinandertrafen, die sich aus je unterschiedlichen Perspektiven mit bürgerlicher Subjektivität auseinandersetzten. Dabei entstanden Techniken des Überzeichnens und Maskierens, die aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Medien aufgegriffen und weitergedacht wurden. In Tänzen wie Cakewalk, Apachentanz, Tango und Schiebe- und Wackeltänzen zeigt sich, wie intensiv die Austauschbeziehungen zwischen ihnen waren. Alle zusammen partizipierten an einer Kultur des
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Spotts, die sich den Anrufungen widersetzte, innerhalb der bestehenden Ordnung einen vordefinierten Platz auszufüllen. Sie führten eine Gegenwart auf, die den Ordnungsvorstellungen kolonialer oder nationaler Bevölkerungspolitiken widersprachen. Der Cakewalk polemisierte gegen den wie eine Ersatzreligion zelebrierten Glauben an die weiße Rasse und machte ihn als rigides und autoritäres Körperschema sichtbar. Daraus entwickelte sich durchaus kein Tanzfieber. Nicht alle waren für diese Moves anfällig. Die europäischen Siedler_innen in Kamerun und Südafrika nahmen die Einladung zu diesem Cakewalk nicht an, sondern sagten der überall bereits stattfindenden Kreolisierung urbaner Kulturen rund um den Atlantik den Kampf an. Die Segregationspolitiken des 20. Jahrhunderts mit ihren Säuberungsfantasien und ihrem Ursprungsdenken suggerierten einen Ausweg aus dem Strudel des Black Atlantic, sie waren linear gedacht, äußerst gewaltsam und zu einem wenn auch profitablen Scheitern verurteilt. Auch in New York oder Berlin tanzten nicht alle gleichermaßen den Cakewalk. Es waren die »modernen Großstadtmenschen«, deren Auftreten und Verhaltensweisen sie zunehmend von den Mitgliedern der Halb-Welt ununterscheidbar machten, die im 19. Jahrhundert als ungewollter Nebeneffekt der Moralvorstellungen des bürgerlichen Lebens entstanden war. All diese fiktiven Aufteilungen in halbe und ganze Welten, in zivilisierte und primitive Kulturen, legitime und illegitime Beziehungen waren Versuche, Differenz auf eine bestimmte Art zu organisieren, zu regieren und nutzbar zu machen. Der Cakewalk erzeugte dagegen das Bild einer nicht formierten Menge. Geteilter Erfahrungshorizont dieser Tänze waren oft Bevölkerungspolitiken rund um Migration, Prostitution und Arbeitsteilung. Die Logik der Kolonisierung prägte den diskursiven Horizont dieser Konflikte, nicht nur in tatsächlichen oder ehemaligen Kolonien, sondern auch in den jeweiligen Metropolen daheim. Die neuen Tänze stellen die traditionell stabilisierende Funktion von Tanzen für die Reproduktion von Gesellschaft in Frage. Das war nicht nur aus der Perspektive von Befreiung, sondern auch aus der Perspektive von Regierung interessant und vielversprechend (vgl. Kap. III). So konnten vielfältige Versuche rekonstruiert werden, die Dynamik des veränderten Tanzens zu lenken, zu normalisieren und für bestimmte Ordnungsvorstellungen nutzbar zu machen. Als besonders erfolgreich erwies sich das Weißmachen dieses neuen Repertoires, das unter standardisierten Vorgaben fleißig und ernsthaft geübt werden sollte, bestimmte Elemente – wie Improvisation und Humor – aber systematisch ausschloss. Was unbestimmt war, sollte so wieder mit einer klaren Zielvorgabe gefüllt werden – Köperbeherrschung und Selbstkontrolle. Ziel war nichts weniger als das Meistern schwarzer Tänze, um weiße Subjektivität zu bestätigen. Hier liegt die politische Ursache für den eingangs in Berendts Text naturalisierten und kulturalisierten Verfall einer angeblich ursprünglichen Vitalität.
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Damit lässt sich der moderne Standardtanz als Antwort auf eine unbestimmte, sich in alle Richtungen ausweitende Dynamik der Transformation interpretieren, die der Idee der weißen Rasse ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen drohte. Doch diese Antwort setzte sich nicht nur repressiv durch, sondern auch, weil es ein Bedürfnis nach Stabilisierung und Selbstversicherung gab. Denn viele wollten schwarze Tänze in erster Linie als Wildheit und Regellosigkeit verstehen und überschwänglich alles von sich abschütteln, was sie als einschränkend empfanden und was hinter dem bereits erreichten Niveau dieses Repertoires zurückblieb. Der Standardtanz war deshalb nicht nur Regression und Rassismus, sondern auch ein Kompromiss, der zumindest anerkannte, dass es etwas zu lernen gab. Häufig appellierten Tanzlehrbücher und Kommentare zum Tanzen an Schamgefühle und versuchten, die Leute daran zu erinnern, wer sie eigentlich seien. Doch selbst solche Kommentare, Bilder, Karikaturen, Geschichten und Fantasien blieben oft ambivalent und mehrdeutig. Die detaillierte Lektüre solcher Prozesse des Übersetzens, Metaphorisierens und Inkorporierens von Bewegungen und Polemiken des Tanzens zeigt, dass sie Anschluss an immer neue Konfliktherde und Begehrlichkeiten ermöglichten und in ihren Effekten nicht leicht zu kontrollieren waren. Rassismus hatte dabei oft die Funktion, diesem unbestimmten Ausbreiten etwas entgegenzusetzen und es im Sinn kolonialer oder nationaler Rationalität zu funktionalisieren. Dass Tanzen heute kaum mehr Politikum ist, lässt sich vor dem Hintergrund der hier rekonstruieren Konflikte als Errungenschaft interpretieren. Jeder tanzt, wie er will oder tanzt eben auch nicht, ohne dass er sich den Vorwurf gefallen lassen muss, den »gesellschaftlichen Verkehr« oder den kulturellen Fortschritt zu behindern. Es ist aber auch Ausdruck einer Niederlage, in der Rassismus und Sexismus Lernprozesse immer wieder behinderten und verunmöglichten. Die Erinnerung an diese Geschichte ist von den Perspektiven und Begriffen der Sieger geprägt. Gerade Mythen wie das Tanzfieber haben überlebt, dazu die Color Lines und exotistischen Projektionen. Sie zu erkennen und zu bekämpfen wird durch den herrschenden Rassismus der Farbenblindheit nicht gerade erleichtert. Hier heißt es heute, es sei ganz egal, ob man weiß oder schwarz sei, als sei damit nur die Pigmentierung von Haut gemeint und nicht die Color Line als politisches Projekt, als Geschichte, die sich gewaltsam in Körper eingeschrieben hat. In der Geschichte des Tanzens steckt ein besonderes Potential, sich neu und anders zu erinnern – einmal beim Tanzen selbst, im Kontakt mit einem Repertoire, dessen Bewegungsmuster und Tanztechniken ein eigenständiges Archiv darstellen, welches belegt, wie im 20. Jahrhundert mit den kommunikativen und kooperativen Kräften von Körpern im Gesellschaftstanz experimentiert wurde; und zum zweiten über die Kommentare und Diskurse, Bilder und Mythen, die das Tanzen begleiteten. Ihr strategisches Moment wird im zeitlichen Abstand besonders deutlich, sie erscheinen kontingent, ihr strategischer Einsatz ist deutlich erkennbar. Dazwischen scheinen Haltungen und Lebensweisen auf, Spuren einer Geschichte, die nicht in
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den begrifflichen Rahmen passen, den die Geschichte der Sieger zurückgelassen hat. Diesen Spuren nachzugehen ermöglicht eine Art Trauerarbeit, eine Erinnerung an ihr Potential und ein betrauern der Fehler und Niederlagen, die das Erbe der Gegenwart ausmachen. Theorien und Begriffe, die einem dabei begegnen, können selbst als Teil der Geschichte verstanden und überarbeitet werden. Das betrifft nicht nur koloniale, reaktionäre oder gar faschistische Antworten auf die hier rekonstruierten Beziehungen und Polemiken, sondern auch die Diskurse und Haltungen von denjenigen, die sich im Namen von Befreiung und Erneuerung begeistert in den Strudel des Black Atlantic stürzen wollten. Auch die Theoretisierung von Kultur und Ökonomie in den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften, die häufig auf Theorien zurückgreifen, die im Entstehungszeitraum der hier rekonstruierten Dynamik entstanden, gerät so in den Strudel des Black Atlantic. Als Beispiel sei abschließend noch auf die Jazz-Debatte zwischen Theodor Adorno und Ernst Joachim Berendt Anfang der 1950er Jahre verwiesen.6 Adorno lehnte Jazz bekanntlich als reaktionär ab und bestritt, dass dabei etwas Neues passiert sei, das über das hinausging, was in der europäischen Musikgeschichte längst vorgemacht und überwunden wurde. Berendt versuchte dagegen zu argumentieren, brachte Beispiele aus der europäischen Musikgeschichte und unterschied zwischen authentischem und kommerzialisiertem Jazz. Das war Wasser auf Adornos Mühlen: Jazz sei von jeher kommerziell gewesen und an die Warenform gekoppelt, wandte er ein. Jazz sei auch nicht plötzlich nach dem Ersten Weltkrieg fertig nach Europa gekommen, sondern in Form von Cakewalk und Steptänzen bereits bekannt gewesen. Wenn Berendt Jazz als Vitalität und Ursprünglichkeit verkläre, betreibe er genau die Mystifizierung der Warenform, mit der sich Jazz der Herrschaft immer schon angedient habe. Berendt sah dagegen im Jazz die »ursprünglichen Kraft« einer nichteuropäischen Kulturproduktion. Europa habe den Kontakt zu dionysischen und ekstatischen Dimensionen von Kultur verloren, schrieb er, könne durch außereuropäische Musik diesen Kontakt aber wiedererlangen. Genau darin lag für Adorno der Moment der Wiederholung, der Rückschlag in den Mythos, der die kulturindustriellen Bedingungen dieses Geschehens nicht hinterfragen kann.7 Adorno kritisierte, dass Fans wie Berendt ihre eigenen Sehnsüchte und Erlösungsfantasien auf eine Form projizierten, die sie verklärten, um sie für ihre Zwe-
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Theodor Adorno/Joachim Ernst Berendt: Für und Wider den Jazz, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 1953 7 (9): S. 887-893. Heinz Steinert betont in seiner Historisierung Adornos, dass es nicht ausreiche, seine Thesen zum Jazz durch Unkenntnis geprägt abzutun. Sie waren grundlegend für die Thesen zur Kulturindustrie. Vgl. Heinz Steinert: Die Entdeckung der Kulturindustrie, oder: Warum Professor Adorno Jazz nicht ausstehen konnte, Münster 2003, S. 7-13.
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cke nutzbar zu machen. Doch tatsächlich wiederhole der Jazz nur ein ganz altes Verhältnis, nämlich das von Herr und Knecht, von Sado und Maso, von Herrschaft und Unterwerfung. Letztlich diene das Abweichungsmoment im Jazz nur dem Konformismus, meinte er, und verwies auf die »Ursprünge« des Jazz in der Militärmusik.8 Unwillkürlich denkt man an den steppenden Fred Astaire in Uniform und an Hollywoods War Musicals aus dem letzten Kapitel, die Nutzbarmachung von Swing zur Stärkung von Kampfesmut und Lebensfreude in der Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg, diesseits und jenseits der Atlantiks. Adorno reagierte mit seinen seit den 1930er Jahren formulierten Thesen zum Jazz auf die Befreiungsfantasien seiner Zeitgenossen, die sich in ihrer Begeisterung für schwarze Kultur recht unbefangen aus dem Repertoire kolonialer Rasse- und Blutdiskurse bedienten, um zu erklären, warum sich europäische Musik mit den Techniken von Jazz erneuern müsse.9 Treffend wies Adorno darauf hin, dass diese Kultur ambivalenter sei als solcher Überschwang begreifen wolle.10 Doch Afroamerikaner_innen konnte sich Adorno nur als Opfer, nicht als Akteure vorstellen: Er empfinde es als Beleidigung für Afroamerikaner, »die Vergangenheit ihres Sklavendaseins seelisch in ihnen zu mobilisieren«, um damit eine Musik zu schaffen, in der dann die Europäer ihre Sehnsucht nach »Urtümlichkeit« stillen könnten. Es sei doch entwürdigend, wie ihre Fähigkeiten missbraucht würden, um sie zu »Exzentrikclowns« zu machen, schrieb er in seiner Replik auf Berendt 1953.11 Damit wiederholte Adorno Elemente einer bürgerlichen Kritik am Cakewalk in der afroamerikanischen Community um 1900: Man solle den Weißen doch nicht dieses Spektakel aus der Zeit der Sklaverei vorführen. Man wolle lieber alles vergessen, was mit Sklaverei assoziiert sei (vgl. I.3. Umkämpftes Erbe). Wie die vergangenen Kapitel zeigen konnten, waren weder die Cakewalker die Sklaven ihres Publikums, noch war das Publikum stets Herr des Geschehens. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass die Kultur der schwarzen Diaspora nicht einfach als Ausdruck von Freiheit, Widerstand oder natürlicher, vormoderner Vitalität verstanden werden kann. Es fehlten Begriffe und Konzepte, um auf der Höhe des Geschehens zu argumentieren. Das betraf sowohl die Befürworter schwarzer Modetänze, wie ihre Gegner und Kritiker. Noch in der Jazz-Debatte der 1950er Jahre zeigt sich, wie versucht wurde, die Herausforderung allein im Rekurs auf westliche Kulturgeschichte zu beantworten. Doch das führte stets zu Mythisierungen und Projektionen, zu reduktiven und analogisierenden Argumenten. 8 9 10 11
Theodor Adorno. Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: Merkur 1953 7 (6): S. 537-548. Vgl. zur Rekonstruktion dieses Kontextes der 1920er Jahre Steinert, Entdeckung, S. 6466. Vgl. den 1936 unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler veröffentlichten Text Adornos Über Jazz, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1936 5: 235-259. Vgl. Adorno in seiner Replik auf Berendt, in: Merkur 1953 7 (9): S. 887-893, hier: S. 892-893.
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Tanzen ist heute kaum Gegenstand der Kulturkritik, eher wird Tanzen weiter in Projekte gouvernementaler Regierung integriert. Dokumentarfilme wie Rhythm is it! (Deutschland 2004) oder Spielfilme wie Take the Lead (USA 2006) vermarkten Tanzen als Selbsttechnik, um urbane Unterschichten aus einem Teufelskreis von Gewalt, Aggression und mangelndem Selbstwert herauszuführen, was wie eine psychische Schwäche behandelt wird, nicht aber als Teil von gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen. Die Entdeckung, dass Tanzen zumindest für Momente die Spielregeln verändern kann, die über Ansehen, Sichtbarkeit und Wert in der Gesellschaft entscheiden, hat sich als pädagogisches Allgemeinwissen durchgesetzt. Tanzfilme sind eine interessante Quelle, um zu zeigen, wie dieses Potential heute in eine individuelle Anforderung umgemünzt wird.12 Doch was im Gefolge von Breakdance heute rund um den Atlantic produziert wird, ist nicht weniger verstörend und rätselhaft, als es der Cakewalk oder der Lindy Hop vor ihnen waren. Krumping und Clowning, Kuduro und Dancehall, Baile Funk und Voguing stehen in der Tradition von Breakdance und treiben die Polemik des Cakewalks und seiner Nachfolger weiter. Das konfrontative, polemische und transformierende Potential von Tanzen ist längst nicht passé. Und so breiten sich bestimmte Moves und Masken kontinuierlich aus, allerdings in einem eigenen Tempo, das nicht vom Marketing eines Films bestimmt wird. Da ist zum Beispiel der Drop auf den Boden, ein Bein nach hinten eingeklappt, virtuos und grenzwertig, weil die Körper brutal zu Boden gehen und doch unverletzt wieder zurückkehren. Und da ist der Booty Shake, ein virtuos geschüttelter Hintern, der mal wie eine Waffe ausschlägt und angreift, mal wie eine verführerische Massage auftritt. Bisweilen wird getanzt, als wollten die Kids Pornofilme nachstellen, allerdings mit angezogenen Schauspielern. Es wird eigene Untersuchungen brauchen, um die Transformationen von Breakdance und elektronischer Clubmusik im Strudel des Black Atlantic heute zu erfassen. Die komplexe Geschichte des Cakewalks kann aber dazu beitragen, die Fragen, die sie heute aufwerfen, nicht gleich wieder auf vormoderne Ursprünge zu reduzieren, als Ansteckung zu verhandeln oder Tanzen als simple Reaktion auf musikalische Innovation zu reduzieren.13 Den Erfindern von Breakdance in den 1970er Jahren in der Bronx in New York City war die Herkunft ihrer Moves aus Mambo und Lindy Hop bewusst. Ähnlich 12 13
Vgl. Astrid Kusser: Arbeitsfreude und Tanzwut im (Post-) Fordismus, in: Body Politics 2 2013 (forthcoming). So blendet David LaChapelle in seinem Film Rize (USA 2005) die komplexe Geschichte von Cakewalk und Blackface in seinem Film komplett aus und schneidet an einer Stelle lieber auf afrikanische Stammestänze, so als erkläre sich die Ähnlichkeit von Bewegungen und Masken hier und dort von selbst. Zur Konjunktur von Ansteckungsmetaphern wie »dub virology« und »riddimania« vgl. Steve Goodman: Sonic Warfare. Sound, Affect and the Ecology of Fear, Cambridge 2010, der die gegenwärtige Dynamik circumatlantischer Bassmusik ausschließlich von der Musik her analysiert.
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wie in Europa entzogen sich die Jugendlichen damals den Konventionen des heterosexuellen Paartanzes.14 In Europa war diese genealogische Herkunft lange völlig unbekannt und angesichts des Labellings von Paartanz als spießig und altmodisch auch undenkbar. Und so kommt Paartanz heute ironischerweise aus den Amerikas zurück nach Europa, in Form von Revivals von Tango, Mambo, Rumba, Salsa und Lindy Hop. Sie beschäftigen nun vor allem die urbanen Mittelschichten, nicht nur in Europa, sondern auch in den Amerikas selbst, oder in Südafrika und Asien. Sie sind auch heute ein Ergebnis von Migrationen und Fluchtbewegungen über nationale und institutionelle Grenzen hinweg. finden außerhalb der alten Tanzschulen des Gesellschaftstanzes statt und sind auch das Ergebnis gegenwärtiger Migration aus Lateinamerika. Wer heute lernt, wie in Cuba eine Rueda de Casino zu tanzen, eine Salsa im Kreis mit vielen Partnerwechseln, übt Figuren und Haltungen aus Allemande, Quadrille und vor allem aus dem Cotillon ein, also einer zentralen Vorlage des Cakewalks.15 Diese werden aber mit Breaks und Posen im Rhythmus der Clave getanzt, mit schwingenden Hüften und rollenden Schultern, bisweilen auch mit polemischen Gesten. Meist kreisen sie rund um die heterosexuelle Anordnung, doch bisweilen verlachen sie auch den Alltag von Polizeikontrollen und Razzien wie in der Figur »Policía«.16 Die Einladung zum Cakewalk steht also noch.
14 15 16
Vgl. den Dokumentarfilm From Mambo to Hip Hop. A South Bronx Tale (USA 2006). Vgl. Teil 1 des Dokumentarfilms Dance Time. 500 Years of Social Dance (USA 1998), Regie: Carol Téten. Tanzarchiv Köln. Vgl. http://de.wikibooks.org/wiki/Tanzen:_Salsa:_Rueda_de_Casino, Stichwort Policía. Ich kenne allerdings auch die Version, in der die Frau ihrem jeweiligen Tanzpartner die Hosenbeine abklopft, als suche sie nach versteckten Waffen.
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb. 1: Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten. Digitale Sammlungen der Universität Köln. www.ub.uni-koeln.de Abb. 2: L. Rainer: Apachentanz, in: Simplicissimus 1911/12 16 (34): S. 591. Abb. 3: Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten. Digitale Sammlungen der Universität Köln. www.ub.uni-koeln.de Abb. 4: Bill Matthiesen, Lanesboro, MA (USA). Abb. 5: Filmfotosammlung, Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Abb. 6: Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten. Digitale Sammlungen der Universität Köln. www.ub.uni-koeln.de Abb. 7: Sammlung Malcolm Murphy, Kenilworth, Südafrika. Abb. 8: Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten. Digitale Sammlungen der Universität Köln. www.ub.uni-koeln.de Abb. 9: Arthur Trevelyan: Cakewalk. The Ethiopian's Ecstasy. Beilage der Zeitschrift The Graphic aus London vom 02. Mai 1903. Abb. 10 - 37: Kolonialismus und afrikanische Diaspora auf Bildpostkarten. Digitale Sammlungen der Universität Köln. www.ub.uni-koeln.de Abb. 38 - 40: Columbia Pictures.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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