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German Pages 238 [240] Year 1983
ZZ71 saur
Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung Band 36 Herausgegeben von Hans Bohrmann Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund
Cecilia von Studnitz
Kritik des Journalisten Ein Berufsbild in Fiktion und Realität
K*6*Saur München • New York* London • Paris 1983
Die Drucklegung erfolgt mit Zuschuß der Stadtsparkasse Donmund wofür Autor und Herausgeber herzlich danken
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Studnitz, Cecilia von: Kritik des Journalisten : e. Berufsbild in Fiktion und Realität / Cecilia von Studnitz. — München : Saur, 1983. (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung ; Bd. 36) ISBN 3-598-21287-9 NE: G T
© 1983 by K. G. Saur Verlag KG, München Satz: Ähren-Verlag W. Brehm oHG, München Druck/Binden: Hain-Druck G m b H , Meisenheim/Glan Printed in the Federal Republic of Germany
Vorwort des Herausgebers Der Beruf des Journalisten wandelt sich vor unseren Augen. Ursache dafür sind technische und ökonomische Veränderungen, die die redaktionelle Tätigkeit beeinflussen, ja neu definieren: elektronische Redaktionen entstehen unter den Bedingungen eines hohen Grades der Pressekonzentration und signifikanten Unterschieden der sozialen Stellung von Redakteuren bei Hörfunk und Fernsehen einerseits, sowie der Presse andererseits. Der Redakteur und die Redaktion sind deshalb nicht ohne Grund seit knapp zwei Jahrzehnten gerade auch in der Bundesrepublik relativ häufig zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden. Kommunikatorforschung ist verglichen mit anderen Themen der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, ein gut bestelltes Feld. Das empirische Berufsbild des Journalisten ist inzwischen wohl fundiert aber, wie auch in anderen Fällen, zeigt sich hier ein deutliches Nachhinken des öffentlichen Bewußtseins, vielleicht teilweise auch des subjektiven Bewußtseins der Journalisten selbst. Die berufliche Realität fordert den „Medienarbeiter", der in der publizistischen Großorganisation seinen Platz einnimmt. Die Berufsideologie behauptet andererseits; jeder Redakteur sei ein „Bekenner", der nur seiner Berufung zur Aufklärung der Öffentlichkeit folgen müsse und könne. Es gibt also fragwürdige Restbestände alter Berufsrollen und Berufsbilder, die gelegentlich bis in die Kommunikationswissenschaft hinein, die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation erschweren. Der Herkunft und dem inneren Zusammenhang dieser journalistischen Berufsideologie geht Cecilia v. Studnitz nach, indem sie die Darstellung von Journalisten in literarischen Zeugnissen der letzten 300 Jahre zusammenträgt und interpretiert. Wie in einem Spiegel werden die über die historischen Epochen hinweg außerordentlich stabilen literarischen Charakterisierungen journalistischer Berufe erkennbar. Die Quellengrundlage ist breit. Sie reicht vom Schauspiel über die Novelle und Erzählung zum Roman, vom Epos zur Lyrik, dem Hörspiel, Fernsehstück und Feature. Das Ergebnis der Recherchen wird mit ausgewählten Befunden der heutigen Kommunikatorforschung konfrontiert, um das Cultural lag im journalistischen Berufsbild zu verdeutlichen. Das Buch enthält 10 ganzseitige Originalillustrationen von Benedikt Fred Dolbin (1883-1971). Hans Bohrmann
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Vorwort der Verfasserin Wann immer von Journalisten und Journalismus die Rede ist, kommt es leicht zu unsachlichen Äußerungen über diesen Beruf. Häufig wird in Extremen argumentiert. Entweder der Journalist wird als vorbildlicher, politisch engagierter und fachlich hochqualifizierter Zeitgenosse, der zum Nutzen der Gesellschaft wirkt, beschrieben, oder aber er gilt als charakterlich mieses, verwerfliches, politisch oportunistisches Subjekt, das schamlos die ihm zur Verfügung stehende Macht ausnutzt und eine fragwürdige Informationspolitik betreibt, zum Schaden der Gesellschaft. Die Journalisten selbst haben mit zahlreichen Äußerungen einen wesentlichen Teil mit dazu beigetragen, daß die Diskussion über ihre Tätigkeit emotionalisiert wurde und damit den Blick für die wirklichen Probleme ihrer Arbeit versperrte. Entscheidend dazu beigetragen aber hat auch die historische Entwicklung des Berufes selbst. Von der Nebentätigkeit aus wirtschaftlichen Gründen während der Jahre der Avisenschreiber über die zeitweilige Haupttätigkeit aus politischer Motivation durch Autoren, die in einem anderen Beruf ausgebildet waren und häufig nach ihrem journalistischen Ausflug dorthin zurückkehrten, bis hin zum „lebenslänglichen", speziell ausgebildeten, hauptberuflichen Journalisten, hat dieser Beruf eine Entwicklung durchlaufen, die charakteristisch ist für Professionalisierungstendenzen, also der Entwicklung vom Neben- zum Hauptberuf unter spezifischen Bedingungen. Es soll hier nicht diskutiert werden, ob der Journalismus inzwischen ein professionalisiertes Gewerbe geworden ist, es spricht noch vieles dagegen. Gesprochen werden soll hingegen über die verschiedenen Unsicherheiten, die ihn auch heute noch kennzeichnen. Man scheint die Wege nicht zu wissen, die man bei der Entwicklung des Berufes gehen soll. Die Unsicherheit beginnt schon bei der Berufsbezeichnung. Wer darf sich Journalist nennen und wer maßt sich diesen Berufstitel nur an? Der ausgebildete Redakteur, der Werbefachmann, der gelegentliche freie Mitarbeiter, der Leserbriefschreiber? Es kommt mitunter zu kuriosen Diffusionen. So arbeitet der Wissenschaftler, der Fachartikel an eine Zeitung liefert, journalistisch, ohne Journalist sein zu wollen. Der in der Werbeabteilung einer Privatfirma beschäftigte Journalist arbeitet auch journalistisch, verliert aber oft in den Augen seiner Kollegen von der „freien" Presse, den Anspruch, sich Journalist nennen zu dürfen. Uneinig ist man sich zum Beispiel auch immer noch, auf welchem Wege man hauptberuflicher Journalist wird: Ob über den Seiteneinstieg aus einem anderen Beruf, ob über ein Volontariat, ein Praktikum, ein spezielles Universitätsstudium oder über eifrige freie Mitarbeit ohne zwingend vorgeschriebene Ausbildung: theoretisch steht der Beruf nach wie vor jedem offen, der ihn sich zutraut. Praktisch allerdings werden die Zugangswege zu ihm inzwischen vor allem durch akademisch speziell ausgebildete Publizisten geschlossen werden. Die Offenheit des Berufszuganges hat eindeutige Vorteile, allerdings auch Nachteile. Sie beziehen sich unter anderem auf das Sozialprestige. So gilt der Journalismus vielfach immer noch als Beruf für Leute, die ihren richtigen Beruf verfehlt haben. Genannt sei auch, daß der Journalismus aufgrund der diffusen Zugangsbedingungen immer noch nicht als Ausbildungsberuf staatlich anerkannt ist. Die Unsicherheiten beziehen sich auch auf die Rolle, die der Journalist in unserer Gesellschaft übernehmen soll. Seit Jahren wird das Berufsbild, also der theoretische 6
Überbau des Journalismus, seitens der Berufsverbände permanent verändert. Symptomatisch an jedem dieser veränderten Berufsbilder ist, daß es offensichtlich stets hinter den Erfahrungen der beruflichen Praxis hinterherhinkt. Die Inhalte entsprechen also nicht mehr den praktischen Erfahrungen und Bedingungen. Es ist damit ein Berufsbild, das durch eine ständige Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit gekennzeichnet ist. Wie aber kommen Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit überhaupt zustande? Eine der Einflußmöglichkeiten könnten, ich wiederhole, könnten kulturelle Werke sein, die ein Berufsbild eindrucksvoll vermitteln, multiplizieren und damit stabilisieren. Die Grundlage der vorliegenden Untersuchung sind fiktive Werke: Bücher, Filme, Hörspiele und Theaterstücke. Vorgestellt werden literaische und künstlerische Idealtypen einer Profession, über die seit Entstehung des Berufes unendlich viel diskutiert, geschrieben und gestritten wurde. Es ist der Beruf der Tagesschriftsteller, der Zeitungsleute, der Redakteure, der Journalisten, der Publizisten, der Kommunikatoren, der gate-keeper, der Mediatoren, wie immer man sie bisher genannt hat und wie immer man sie noch nennen wird, jene Männer und Frauen, die die Medien bedienen und sie füllen. Die Untersuchung belegt den dramatischen Wandel eines Berufsbildes in der Fiktion. Nach rund 200 Jahren ist heute schlecht, was einst gut war, gilt als genial, was damals als verwerflich verurteilt wurde, ist heute richtig verstandener Journalismus, was einst als Perversion des Berufes galt. Stereotype Berufsbildvorstellungen werden aufgezeigt, Mythen entdeckt und historische Irrtümer bewiesen. Gerade das journalistische Berufsbild ist damit reichlich bestückt. Verglichen wird das fiktive Berufsbild der journalistischen Helden mit dem Berufsbild von Journalisten der Vergangenheit und Gegenwart, die tatsächlich gelebt haben oder heute noch leben. Und sehr bald werden bei bestimmten Punkten die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit fließend und führen zusammen. In wesentlichen Einzelheiten aber trennen sie sich deutlich von ihren Vergleichsbildern. Bei wem zeigt sich eine Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und beruflicher Praxis? Was ist Fiktion, was Wirklichkeit? Wer schildert den Beruf angemessener, wirklichkeitsgetreuer: die journalistischen Helden der Fiktion oder die Journalisten der Realität? Diese Fragen versucht die Untersuchung zu beantworten. Empirisch wird das fiktive Berufsbild ermittelt, wissenschaftliche Untersuchungen der jüngsten Zeit werden zum Vergleich herangezogen. Als weiteres Vergleichsmaterial dienen die Äußerungen der Berufsverbände und der Journalisten in Zeitungen und Verbandszeitschriften. Was diese Arbeit offenlassen mußte, sollte als Ansatz für eine zukünftige Forschung dienen: Wie kommen derartige Berufsbildvorstellungen zustande, die sich einerseits in fiktiven Werken wiederspiegeln, andererseits aber in wesentlichen Teilen auch das Berufsbild heute lebender Journalisten kennzeichnen? Werden die Journalisten der Gegenwart durch fiktive Werke auf ein Berufsbild hin programmiert, das nichts als die Phantasie des jeweiligen Autoren zur Quelle hat oder aber programmiert die berufliche Wirklichkeit die Phantasie der Autoren? Gibt es vielleicht eine Wechselwirkung zwischen den theoretischen Modellen in Fiktion und Realität? Die zukünftige Forschung sollte also herauszufinden versuchen, durch welche Einflüsse Berufsbilder entstehen. Dies ist vor allem bei jenen Berufen wichtig, die durch eine deutliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit gekennzeichnet sind. Der Journalismus gehört dazu. 7
Die zeitaufwendige Untersuchung wurde erst möglich durch die finanzielle Hilfe der Stiftung Wissenschaft und Presse in Hamburg, der hiermit herzlich gedankt wird. Gedankt sei dem Betreuer der Arbeit, Professor Dr. Janpeter Kob, der mit großer Geduld und beispielhaftem Einfühlungsvermögen immer wieder auf Schwachstellen der Arbeit hingewiesen hat. Gedankt sei auch allen Helfern, die mich unermüdlich auf alte und neue Werke über mein Thema aufmerksam gemacht haben. Hamburg im November 1981
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Cecilia v.Studnitz
Inhalt Vorwort des Herausgebers Vorwort der Verfasserin Verzeichnis der Tabellen
5 6 12
1. 1.1 1.1.2 1.2 1.3 1.4
Einleitung Ohne Kommentar: Drei kontroverse Zitate Anlaß, sich des Themas anzunehmen Untersuchungsansatz Theoretische Grundlagen Forschungshypothesen
13 13 13 16 17 20
2 2.1. 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9 2.1.9.1 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.1.2 2.2.1.1.3 2.2.1.1.4 2.2.1.1.5
Die Untersuchung Methodische Vorbemerkungen Der Untersuchungsgegenstand Auswahlkriterien Untersuchungseinheiten Das Sample/die Grundgesamtheit Die Stichprobe Gesamtzahl/Fallzahl Zeitraum, den die Untersuchung erfaßt Geographischer Bereich/Nationalität der Verfasser Journalistische Erfahrungen der Verfasser Methodisches Instrument Der Fragebogen Die Grundstrukturen des Fragebogens Demographische Daten Berufliche Daten und Tätigkeitsmerkmale Persönliche Eigenschaften, Vorlieben und Charaktermerkmale Berufsmotive, berufliche Zielvorstellungen, Charakteristika von Berufs- und Berufspositionsinhabern Auswertungsmethode Einfache Häufigkeiten Reliabilitätsprüfungen
21 21 22 22 23 24 24 26 26 32 33 37 37 37 37 37 38 38
Die Grundauszählung Vorbemerkungen, die zugleich eine Einschränkung darstellen Ist ,Keine Angabe' ohne Auswirkung auf die Aussage? Die nicht entscheidbaren Fälle Untersuchungsergebnisse der Grundauszählung Demographische Daten der journalistischen Helden Berufliche Daten und Tätigkeitsmerkmale Wer ist eigentlich Journalist und unter welchen Bedingungen arbeitet er? Arbeitsplatzstabilität
40 40 41 41 42 42 46
2.3 2.3.1 2.3.2 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.3 3.3.1 3.3.2
39 39 39
46 58
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3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.7 4. 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1
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Im Grobraster: Erste Berufsbildtypen Vorbildung und Weg, der zum Journalismus führte Exkurs: Die nebenberuflich arbeitenden journalistischen Helden Die hauptberuflichen Journalisten in der Realität: Parallelen zum Lehrerberuf Aussehen, persönliche Eigenschaften und Charakterzüge der journalistischen Helden Vorbemerkung Der intellektuelle journalistische Held und seine optische Erscheinung Verschiedene Charaktermerkmale und ihre Entsprechung in der beruflichen Tätigkeit Berufliche Tätigkeitsmerkmale Das Talent in der Wiege oder kann man Journalismus lernen? Die Frage nach dem Prototypen: Ist Journalismus Dichtkunst oder praktisches Handwerk? Politik und Beruf oder wer ist progressiv? Das Wesen des journalistischen Berufes Wie stirbt ein Journalist? Eigennutz oder Sendungsbewußtsein? Berufsmotive der journalistischen Helden Erfüllungsgehilfe des Staates oder Diener des Volkes? Die Frage nach der Berufsideologie und Berufsethik Ein Menschenbild: Der journalistische Held und sein Rezipient Die Legende von der Macht: Wirkungsmöglichkeiten durch den Beruf Im Grobraster: Aktuelle Berufsbildtypen Schlußbetrachtungen Vorbemerkung Zu den Forschungshypothesen Imaginäre Realität wird stets ergänzt durch historische Realität Fiktive Berufsbilder sind unabhängig von der Zeit, in der sie geschaffen werden Berufsbilder der Realität enthalten fiktive Elemente Einfluß fiktiver Berufsbilder auf Berufsbilder der Realität Cultural lag im journalistischen Berufsbild der Realität Konsequenzen des Cultural lag auf die journalistische Berufsrollenauffassung
63 70 75 75 79 79 79 81 88 97 102 110 118 124 128 136 155 161 172 181 181 181 181 182 183 184 185 187
Anhang I.
Anmerkungen
II.
Untersuchungsinstrument: Fragebogi
EI.
Analysierte Fälle
IV.
Literaturverzeichnis
V.
Personenregister
Verzeichnis der Tabellen I. II. m. IV.
Literaturgattung Breitenwirkung Datum der ersten Veröffentlichung Vergleich zwischen Epoche des journalistischen Helden und Epoche seines Autors V. Nationalität der Verfasser VI. Journalistische Erfahrungen der Verfasser VII. Bewertung der journalistischen Helden durch die Verfasser VE. Geburtsort des journalistischen Helden im Vergleich zum Handlungsort EX. Berufsbezeichnung des journalistischen Helden X. Primäre Tätigkeit XI. Finanzsituation XU. Finanzsituation in den einzelnen Epochen XIII. Erste Berufsbildtypen XIV. Herkunftsschicht XV. Schulbildung XVI. Der intellektuelle journalistische Held XVÜ. Persönliche Eigenschaften und Charakterzüge: Häufigkeit der Nennungen XVm. Persönliche Eigenschaften und Charakterzüge: Gewichtung XIX: Berufliche Tätigkeitsmerkmale: Häufigkeit der Nennungen XX. Berufliche Tätigkeitsmerkmale: Gewichtung XXI. Begabung und Beruf XXÜ. Etikettierung und Berufszufriedenheit XXm. Politisches Engagement XXTV. Das Wesen des journalistischen Berufes XXV. Todesart des journalistischen Helden XXVI. Berufsmotive X X V n . Berufsmotive — systematisiert X X V m . Vermittlungsfunktion bei der beruflichen Tätigkeit XXIX. Vermittlungsfunktion bei der beruflichen Tätigkeit im historischen Überblick XXX. Beurteilung des Rezipienten durch den journalistischen Helden XXXI. Wirkungsmöglichkeiten der Presse X X X Ü . Aktuelle Berufsbildtypen
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23 26 27 29 33 34 35 44 46 55 61 62 71 71 72 80 82 83 88 89 97 103 110 118 124 129 133 137 142 156 161 172
1. Einleitung 1.1 Ohne Kommentar: Drei kontroverse Zitate „Betrachten wir . . . welche Segnungen die Presse . . . unter Millionen Familien hervorbringt, wo sie vernünftig und gehörig zum endlichen und unendlichen Lebenszwecke gebraucht wird, so können wir nicht umhin zu gestehen, daß sie eine der größten, wenn nicht die größte Wohltat ist, die Gott der Menschheit erwiesen h a t . . . Die Presse hat die Fortschritte der Volksbildung und Volkserziehung sichtbar angeregt und befördert; sie ist eine wahrhaft Geister-Sonne und hat über dem Horizont zunächst der europäisch-christlichen, dann auch von einem anderen klimatischen und religieusen Gesetze geleiteten oder beherrschten Menschheit einen allgegenwärtigen Morgen heraufgeführt. Sie hat als ein Tagesgestirn, das nimmermehr von dem Himmelszelte der Civilisation hinabsinken wird, die Rückkehr der Barbarei, der Roheit, der Völkerisolierung, der Finsternis und Nacht in früheren Maßen für alle Zeiten unmöglich gemacht".1 „Zeitungen . . . verstehen ihr Handwerk nicht. Was für einen Sinn hat es, den armen Leser mit obskuren Revolutionen in Bolivien aufzuregen, wenn er wegen Verdauungsbeschwerden nachts nicht schlafen kann? Ist eine schwangere Frau, deren Mann sich beim besten Willen ein viertes Kind nicht leisten kann, an einer außenpolitischen Debatte im Parlament interessiert, die wahrscheinlich sowieso wie das Horneberger Schießen ausgehen wird? Was für einen Sinn hat es, lange und langweilige Artikel geldgieriger Leute mit großem Namen zu veröffentlichen, wenn man den genauen Nachweis liefern kann, daß niemand diese Artikel liest? . . . Warum hat der Beruf des Journalisten so wenig talentierte und originelle Köpfe angezogen? . . . Eine ganz persönliche Frage: gehören Sie selbst etwa zu jenen Narren, die da glauben, die Zeitungen wissen wirklich, was sie tun?" 2 „Wir alle kennen die Macht der Presse . . . Gewisse Blätter, deren ungeheure Auflage das Land überflutet, nützen diese Macht zu unwürdigen Zwecken, verantwortungs- und rücksichtslos. Das ist heute der Fluch unseres Landes. Das kann morgen sein Ende sein". 3 1.1.2 Anlaß, sich des Themas anzunehmen Der Anlaß, sich des Themas anzunehmen, waren persönliche Erlebnisse als Zeitungsredakteurin und als freie Journalistin. Während meiner Ausbildung befragte ich journalistische Kollegen über ihre Einstellung zum Beruf. In Einzelgesprächen beantworteten die Gesprächspartner meine Fragen sehr differenziert. Sie sprachen über die Notwendigkeit, jedes Thema sorgfältig zu recherchieren. Der Leser sei ein kritischer und ernstzunehmender Interaktionspartner, den man zu achten und zu respektieren habe. Sie sprachen von der Notwendigkeit mühevoller Redigierarbeit bei Artikeln von Korrespondenten, um dem mündigen Leser auch in der Provinz guten Journalismus anzubieten. Sie sprachen überhaupt sehr viel vom Redigieren, das leider inzwischen zur hauptsächlichen Tätigkeit der Journalisten geworden sei. Sie bedauerten es, in einer Zeit zu leben, in der Journalismus nicht mehr das Schreiben großer Artikel bedeute, sondern das Verbessern kleiner, unzureichender von anderen zusammengeklöppelter Geschichtchen. Dieser einst so interessante Beruf sei zum langweiligen Job geworden.
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Trafen dieselben Journalisten, die sich vorher so nuanciert mit mir unterhalten hatten, mit einer Gruppe von Kollegen, beispielsweise beim gemeinsamen Mittagessen in der Kantine, zusammen, war eine auffällige Veränderung zu beobachten: Sie gaben sich leger, rissen Witze, rauchten demonstrativ viel. Vorher, im Einzelgespräch, hatten sie aus Furcht vor den gesundheitlichen Folgen noch ängstlich die herausgenommene Zigarette in die Packung zurückgesteckt. Sie redeten laut. Sie veränderten sogar den Satzbau. Die Sprache wurde nun knapp, präzise. Das Vokabular veränderte sich in extremen Fällen ebenso wie der Inhalt einer Aussage: aus Frauen wurden „Miezen" oder „Weiber", der Artikel wurde zur „Story". Derselbe Kollege, der eben noch lange und gründlich an seinem Artikel redigiert hatte, teilte nun in der Kantine den anderen mit, er habe ihn binnen weniger Minuten „heruntergerissen, aus der Maschine gefetzt". Die Leser wurden als „Provinzler" oder als „ungebildete Ignoranten" abqualifiziert. Die nächste Veränderung war zu registrieren, wenn Mitarbeiter verschiedener Redaktionen in der Öffentlichkeit zusammentrafen, beispielsweise im Gasthaus. Es war üblich, daß sich Kollegen von Konkurrenzzeitungen am Pressestammtisch zusammenfanden. Jeder Neuankömmling aus dem Kollegenkreis wurde mit lautem Hallo begrüßt. Er hatte seinen Mantel noch nicht an den Haken gehängt, da erfuhren die übrigen Gäste bereits Einzelheiten: er rief den Kollegen zu, daß er bis eben gearbeitet habe. Sie antworteten mit Witzen, die seine Arbeitsbereitschaft und Fähigkeit in Frage stellten. Auch wenn der Neuankömmling bereits am Tisch saß, wurden die Gespräche mit Stentorstimme weitergeführt, so daß jeder, der im Räume war, zum Zuhörer wurde, ob er wollte oder nicht. Dennoch war es dem unbeteiligten Zuhörer oft unmöglich, den Gesprächsinhalt zu begreifen, denn es wurde häufig ein journalisteninterner Sprachcode verwendet. Da wurde von einer „Gurke" erzählt (eine nicht ganz astreine Geschichte), die mit einem „Flop" geendet hatte. (Ein Reinfall, die Geschichte war journalistisch nicht zu verwerten). Auch von einer „Ente" (Falschmeldung) wurde berichtet, von dem Kollegen, der sie „untergejubelt" (in die Zeitung gesetzt) hatte. Nur er hatte die auf der „Ente" fußende Information ernstgenommen. Er war im Gegensatz zu allen anderen Kollegen darauf reingefallen, wollte unbedingt eine exklusive „Kiste" (ein Thema) daraus machen. Er hatte gehofft, damit alle Kollegen zu „verladen" (zu überlisten). Daß ihm dies mißlang und mit einer persönlichen Blamage endete, sei nur ein weiterer Beweis dafür, was für eine „Blinze" (journalistischer Versager, unfähiger Schreiber) er sei. Die Journalisten erzählten zudem viel aus ihrem beruflichen Alltag. Sie stöhnten über die Hektik, sie verfluchten die Nachtarbeit. Sie klagten über fehlendes Familienleben. Sie erwarteten aufgrund der permanenten Hetze häufig einen „Tod in den Sielen". 4 Die erste Variation dieses Todes war das Ende durch „berufsbedingte Krankheiten". Für die Journalisten gehörten dazu vor allem der Herzinfarkt, der aus dem beruflichen Streß resultierte. Das Raucherbein durch hochgradige Zigarettensucht, die gleichfalls als Korrelat zur beruflichen Hetze angesehen wurde. Das Ende an Leberzirrhose war gleichfalls ein Ergebnis unzumutbarer Berufsanforderungen: Hetze, Aufregung und Arbeitsüberlastung waren ohne den kompensierenden Alkohol nicht zu ertragen. Jene Krankheiten also würden sie eines Tages umwerfen und zwar in der Redaktion, an der Schreibmaschine. Diese Auffassung erstaunte vor allem bei solchen Journalisten, von denen ich wußte, daß es an ihrem Arbeitsplatz keineswegs hektisch zuging. Dennoch: gerade in der Öffentlichkeit sprachen sie oft und gerne davon. 14
Die zweite Variante des Todes in den Sielen war das gewaltsame Ende während eines beruflichen Einsatzes. Auch er wurde häufig besprochen. Man erwähnte den Kollegen, der von Guerillas in Argentinien ermordet wurde, oder den Korrespondenten, den eine Bombe in Israel zerfetzt hatte. Die oft Jahre zurückliegenden Ereignisse wurden stets so dargestellt, als ob sie sich gestern ereignet hätten, und schlössen meist mit einer Bemerkung über die Gefährlichkeit des publizistischen Berufes. Das gesamte Verhalten in der Öffentlichkeit war auf potentielle Zuhörer ausgerichtet. Die Journalisten demonstrierten ihrer Umwelt das Bild eines interessanten Berufes, einer solidarischen, kumpelhaften Gemeinschaft, deren Zusammenhalt keineswegs durch den Umstand eingeschränkt wurde, daß hier Kollegen von Konkurrenzzeitungen an einem Tisch saßen. Der Eindruck, der während dieser Auftritte in der Öffentlichkeit Außenstehenden vermittelt wurde, schien vor allem Jugendliche zu faszinieren. Wiederholt setzten sie sich zu den Journalisten an den Tisch und hörten sichtlich beeindruckt zu. Einige erkundigten sich nach den Bedingungen eines Volontariates bei Zeitungen oder eines Praktikums beim Rundfunk. Sie fragten gleichzeitig nach den Charakteristika des journalistischen Berufes. Die Journalisten erwiesen sich bei dieser Gelegenheit als ausgesprochen hilfsbereit und aufgeschlossen. Nur schilderten sie jetzt den Beruf völlig anders als vorher im Einzelgespräch. Sie sprachen von „Berufung", die ein Talent zum Schreiben beinhalte. Habe man das, sei sichergestellt, daß der Journalismus zur interessantesten Tätigkeit werde, die man sich vorstellen könne: stets inmitten umwälzender Ereignisse stehend, allseits gut informiert, gewissermaßen an den Fäden zur Macht ziehend, habe man es in der Hand, ein flexibles, interessantes, aber auch ein ebenso hektisches wie ruheloses Leben zu fuhren. Bemerkenswert war an dieser Situation, daß der Beruf in solchen Momenten auch von jenen Kollegen so schillernd dargestellt wurde, die ihn vorher als sterbenslangweiligen Redigierjob klassifiziert hatten. Zwar demonstrierten keineswegs alle Journalisten dieses widersprüchliche Verhalten. Aber es kam doch so häufig vor, daß es auffiel. Gleichgültig, ob es sich bei den Redakteuren um Mitarbeiter bei Tages- und Wochenzeitungen, beim Funk oder Fernsehen handelte: sie wechselten ihre Ausdrucksweise, ihr Verhalten und ihre Argumente mit der jeweiligen Situation. Und jedesmal entstand dabei ein andersartiges Berufsimage. Aber welches Berufsbild war nun das richtige? Was waren typisch journalistische Merkmale? Mitunter sprach ich später die so unterschiedlich argumentierenden Kollegen auf die inhaltliche Diskrepanz ihrer Aussagen und auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen in den drei geschilderten Situationen an. Sie reagierten meistens sehr betroffen und versuchten, ihr Verhalten zu erklären. Im Prinzip sei der Journalismus ein langweiliges, mühsames Gewerbe, das zu 90 % mit Redigierarbeiten ausgefüllt werde. Im Prinzip sei auch das Schreiben jedes einzelnen Artikels eine schwere Arbeit, die mit unendlichen Mühen verbunden sei. Im übrigen beabsichtige man keinesfalls, berufsfremde Zuhörer und potentielle Leser durch die Verwendung eines Berufscodes vor den Kopf zu stoßen. Bezogen auf diese Diskrepanzen und auf die unterschiedliche Darstellung des Berufes im internen Kreis und in der Öffentlichkeit, meinte ein Gesprächspartner: „Wir Journalisten sind doch alle Taschenspieler. Immer stellen wir etwas dar, was nicht ist. Und genau das ist eben das Image des Journalistenberufes". Offen blieb die Frage, woher die Redakteure dieses Image hatten, und warum sie so auf einem Berufsbild beharrten, das sie selbst nicht mehr ernst nahmen. Bei mir 15
als der Fragenden blieb Verwirrung und Statusunsicherheit über die eigenen beruflichen Vorstellungen zurück. Diese Verwirrung wurde verstärkt, als ich Bücher las und Theateraufführungen besuchte, in denen Journalisten als Figuren der Handlung vorkamen: die journalistischen Helden dieser fiktiven Werke wiesen in ihren Aussagen auffallende Parallelen zu dem Rollenverständnis meiner in der Gegenwart lebenden journalistischen Berufskollegen auf. Manchmal waren einzelne Segmente nicht nur ihrem Inhalt nach deckungsgleich, sondern sogar wörtlich: Auch in den Werken der fiktiven Welt erwarteten einige journalistische Helden den Tod in den Sielen. Warum eigentlich erwartete kaum einer der journalistischen Helden und kaum einer meiner in der Realität lebenden Berufskollegen einen Tod als Rentner im Bett? Auch die journalistischen Helden der Fiktion sprachen von der talentlosen „Blinz e " und glaubten daran, daß nur jener keine Blinze werde, der über das Talent zum Schreiben verfüge. Die journalistischen Helden der Fiktion träumten wie ihre lebenden Kollegen vom großen Abenteuer durch den Journalismus und langweilten sich entsetzlich beim Redigieren fremder Artikel, um nur einige der Gemeinsamkeiten zu schildern. Damit ergab sich die Frage, wie es zu derartigen Berufsbildparallelen in Werken der fiktiven Welt und bei heute lebenden Journalisten kommen konnte. Die Frage wurde umso interessanter, als festgestellt wurde, daß die ersten literarischen Zeugnisse dieser Art weit über 100 Jahre alt waren.
1.2 Untersuchungsansatz Die Parallelen zwischen den Berufsbildauffassungen journalistischer Helden und den Berufsbildauffassungen heute lebender Journalisten faszinierten mich derart, daß ich beschloß, zunächst das Berufsbild in Werken der fiktiven Welt zu analysieren. 5 Anschließend sollte ermittelt werden, wieweit Berufsbildausprägungen dieser Art weitere Parallelen aufweisen zu Berufsbildern von einst oder heute lebender Journalisten. Die Frage war damit zugleich: Weist das Berufsbild einst oder heute lebender Journalisten irrationale, phantastische Elemente auf, die in Werken der fiktiven Welt nachgewiesen werden können? Zwei Einschränkungen reduzieren den Forschungsansatz allerdings auf Teilbereiche: 1. Das Hauptgewicht der Untersuchung lag bei der Analyse des journalistischen Berufsbildes in Werken der fiktiven Welt. Sie erfaßt einen Zeitraum von rund 200 Jahren. 2. Eine gleichartige Untersuchung der berufsspezifischen Aussagen von einst oder heute lebenden Journalisten auf nicht literarischer Ebene war an dieser Stelle aus Zeit- und Platzgründen nicht möglich. Vor allem Aussagen bis etwa 1950 sind nur wenig berücksichtigt. Ausführlicher behandelt werden lediglich die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse über den journalistischen Beruf und berufsbezogene Aussagen von Journalisten in Tages- und Wochenzeitungen oder in Verbandszeitschriften. Hier lagen zahlreiche Veröffentlichungen vor. Dennoch muß noch einmal darauf hingewiesen werden: das Hauptgewicht der Untersuchung liegt auf dem Berufsbild in Werken der fiktiven Welt. Wann immer bei den einzelnen Ausprägungen des fiktiven Berufsbildes zum Abschluß der jeweiligen Untersuchungsblöcke der Anhang „ U n d in der R e a l i t ä t . . . " folgt, dienen die dort angeführten Aussagen als Hinweis für Gemeinsamkeiten oder Unterschiede in beiden 16
Berufsbildern. Die nichtliterarischen Äußerungen sind zwar schwerpunktmäßig erfaßt, jedoch sicher unvollständig, zumal die unterschiedlichen wissenschaftlichen Untersuchungen über den Journalistenberuf aufgrund ihrer Heterogenität lediglich als Grobraster dienen können. Dennoch sind sie ein Hinweis darauf, daß dem Berufsbild in der fiktiven Welt ein Berufsbild in der Realität zumindest in einigen wichtigen Punkten zu entsprechen scheint. Damit werden abschließende Forschungshypothesen ermöglicht, die zur Reflektion des Berufsbildes heute lebender Journalisten beitragen könnten. Darauf wird im Schlußkapitel eingegangen. 1.3 Theoretische Grundlagen Eine der theoretischen Grundlagen der Untersuchung bildete die Phänomenologie. Hauptsächlich berufe ich mich dabei auf Alfred SchützEine weitere theoretische Grundlage ist der Forschungsansatz der Ethnomethodologie.7 „Dem Ethnomethodologen... liegt daran, festzustellen, wie Mitglieder der Gesellschaft die Aufgabe lösen, die Welt, in der sie leben, zu SEHEN, ZU BESCHREIBEN UND ZU ERKLÄREN". 8 Die Autoren der fiktiven Werke sind Mitglieder der Gesellschaft. Sie sehen und beschreiben gleichfalls eine Welt. Es ist ihre eigene, individuell geschaffene Phantasiewelt. Auch die in dieser Phantasiewelt auftretenden journalistischen Helden und anderen Figuren sind Produkte der Phantasie. Damit sind diese Figuren und das mit ihnen verbundene soziale Umfeld jedoch keineswegs märchenhaft. Phantasie ist Vorstellung, Vorstellungskraft, Einfallsreichtum. Sie ist ein Konglomerat aus Eindrücken, Vorstellungen, Erlebnissen, Hoffnungen und Enttäuschungen eines jeden Autoren. Schriftstellerei ist in kreatives Handeln umgesetzte Phantasie. Selbst der Märchenerzähler muß seine märchenhaften Gestalten im Kopf haben, um sie zu beschreiben. Bei den der Untersuchung zugrundeliegenden Werken gibt es keine Märchenerzähler. Alle Autoren beschreiben Handlungen, in denen absolut nichts Unvorstellbares vorkommt. Sie beschreiben journalistische Helden, die hätten existieren können. In einigen Fällen, wie zum Beispiel Ulrich v. Hutten, Guttenberg oder C.D. Schubart, haben sie sogar existiert. Die Mehrzahl der dargestellten journalistischen Helden sind historisch jedoch anonym. Sie heißen Popp, Lucien oder Stuff. Auch die Handlung ist fiktiv, phantastisch in oben beschriebenem Sinne. Die Soziologie umschreibt das Wort Phantasie mit „Imagination", einer individuellen Fähigkeit, „durch das Verständnis sozialer Verhältnisse und Ereignisse die eigene Lage kritisch zu erkennen und zu relativieren, um dadurch sensibel zu werden gegenüber sozialen Zwängen".9 Damit sind wieder Fachleute gemeint. Aber warum sollen diese Fähigkeiten nicht auch Laien haben? Die Autoren der untersuchten Werke waren zwar keine Wissenschaftler, aber die meisten kannten den journalistischen Beruf aus eigener Erfahrung. Diese Erfahrung und die mit ihr verbundenen sozialen Bedingungen setzten sie um in Handlung, indem sie anschaulich eine imaginäre Welt schufen, die das Produkt ihres Bewußtseins war, eines Bewußtseins, das sich aus dem Erleben verschiedener Welten konstituiert, die über das „alter ego", das andere, zweite „ich" erfahren und umgesetzt werden. Das „alter ego" ermöglicht es, nicht nur vom Erlebnis des „Ich", sondern bezüglich des anderen zugleich vom Erlebnis des „Du" auszugehen. So wird jedes Fremdverstehen zu einem Akt der Selbstauslegung.10 Zahlreiche Autoren der fiktiven Werke sind z.B. selbst Journalisten gewesen. Der Berufsinsider nimmt seine aktuelle Umwelt in unterschiedlichen Auffassungsperspektiven wahr. 17
Zum einen in Gestalt eigener Erfahrungen, zum anderen in Gestalt der anderen Mitmenschen, Berufskollegen z.B., mit denen er dieselbe Umwelt gemeinsam hat. Ihre Reaktionen auf seine Einstellungen und auf sein Verhalten wirken zurück auf den Autoren und vermitteln ihm ein qualitativ anderes Bewußtsein. Es ist nicht mehr nur das Wissen um die eigene Position, sondern auch das internalisierte Wissen um das Bewußtsein der anderen Kollegen, die nunmehr das Bild des Autoren entscheidend mitprägen. Die Interaktion ist unmittelbar. Zum anderen nimmt der Autor der fiktiven Werke seine aktuelle Welt „mittelbar" wahr. Schütz nennt diese Sphäre der Wahrnehmung soziale Mitwelt. Der besagte Autor lebt zwar mit ihr, sie koexistiert mit ihm, aber er erlebt sie nicht unmittelbar. Die sozialen Partner dieser Mitwelt bezeichnet Schütz als Nebenmenschen. Der Autor lebt mit und unter diesen Nebenmenschen, kann aber durch die fehlende unmittelbare Interaktion mit ihnen keinen internalisierenden Einfluß auf sein Bewußtsein erleben. Dennoch kann er aufgrund ihres Verhaltens, das er als Außenstehender beobachtet, vermuten, wie ihre Einstellung sein könnte. Er kann sogar auf diese Nebenmenschen „zuhandeln, kann auch ihr Verhalten und ihre Erlebnisse als Um-zu . . . (seines) Handelns entwerfen".11 Somit kann der Autor sowohl der Mitwelt als auch der Umwelt nicht nur betrachtend, sondern auch handelnd zugekehrt sein. Wichtig für die Konstituierung von Bewußtsein sind für Schütz zwei weitere soziale Sphären: Die Vorwelt und die Folgewelt. Beide Welten sind auch für die Einschätzung literarischer Produkte von großer Bedeutung. Unter sozialer Vorwelt versteht Schütz die Geschichte. Zeugen dieser Geschichte, z.B. in Gestalt von Denkmälern, nennt er Zeichen. Auch die soziale Sphäre der Geschichte kann der Autor der fiktiven Werke nur betrachten. Aber diese Betrachtung kann ihn zu Schlüssen veranlassen, die wiederum durch die Sicht der Dinge auf sein Bewußtsein Einfluß haben kann. Ein Autor, der sein fiktives Werk zum Beispiel in der Zeit der Reaktion nach der Revolution von 1848 schreibt, wird beim Anblick auf die Feste Hohenasperg vielleicht nicht nur an das Gefangenenschicksal des Christian Daniel Schubart erinnert, sondern zugleich Assoziationen entwickeln, die ihm über den gegenwärtigen Stand der Pressefreiheit Resignation vermitteln: Schubart war einer der ersten Journalisten, die durch ihre Publikationen mit der staatlichen Gewalt konfrontiert wurden. Die mühsam von den Journalisten des Vormärz erkämpfte Pressefreiheit fand ihren Höhepunkt in der Revolution von 1848. Doch bereits ab 1850 setzten die Beschränkungen teils durch politische Verbote, teils durch wirtschaftlich wirksame Steuergesetze erneut ein. Auch diesmal landeten Journalisten — wie einst Schubart — aufgrund oppositioneller Artikel im Gefängnis. Das historische Vorwissen kann das Bewußtsein des Autoren ebenso beeinflussen, wie das Handeln oder die Interpretation des journalistischen Berufes in der jeweiligen Gegenwart. Die letzte soziale Sphäre menschlichen Bewußtseins wird von Schütz die Folgewelt genannt. Es ist „eine von alter egos belebte Welt". 12 Sie ist die einzige soziale Welt, von der Schütz annimmt, daß man sie nur vage erfassen kann, weil man sie niemals erleben wird, denn sie existiert erst, wenn der Autor bereits gestorben ist. Die Vorwelt kann — da die Grenzen oft fließend sind — sehr wohl für die Autoren bewußtseinsbildend sein. Die Mit- und Umwelt ist es durch ihre Gegenwärtigkeit in jedem Falle. Aber die Folgewelt kann höchstens aufgrund bekannter und damit vermuteter Handlungsabläufe erahnt werden. Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, daß die Autoren überwiegend ihre 18
Mitwelt und ihre Umwelt schildern. Kaum ein fiktives Werk läßt außerdem — gemessen am Geburtsdatum der Autoren — die Vorwelt unberücksichtigt. Mitunter beschreiben die Autoren sogar primär Vorwelt, z.B. bei Romanen und Theaterstücken, in denen von lange verstorbenen Journalisten berichtet wird. (Hutten, Schubart, Guttenberg). Sie beschreiben ihre journalistischen Helden jedoch im Kontext mit ihrer Mit- oder Umwelt, auch wenn die Gestalt selbst aus der Vorwelt der Autoren stammt. Doch Folgewelt wird in keinem der hier analysierten fiktiven Werke beschrieben. Folgewelt ist nicht zu verwechseln mit Utopie. Das würde jede fiktive Handlung, die nicht in der Gegenwart des Autoren spielt, sondern ihr in die Zukunft vorgreift, in die Sphäre der Utopie versetzen. Die Autoren beschreiben zwar mitunter Zukunft, aber sie hat in allen Fällen Ausprägungen, die auf Vor-, Mit- und Umwelt zurückgreifen. Auch dort, wo es sich um Träume, z.B. von Pressefreiheit, handelt, die in der momentanen Realität der Autoren, zum Zeitpunkt, als das Werk geschrieben wurde, nicht bestand. Aber sie bestand nicht mehr. Der Wunsch nach ihr ist also eine Folge der Vorwelt und ein Ergebnis der Mit- und Umwelt. Utopie hingegen bedeutet noch nie Dagewesenes, Märchenhaftes. Folgewelt ist die vorstellbare Fortsetzung bekannter Tatbestände. Keine der Welten existiert für sich. Alle konstituieren mit unterschiedlicher Intensität das Bewußtsein. .Jedes Jetzerlebnis h a t . . . ein Vorher und Nachher, weil jedem Punkt der Dauer eine Vergangenheit und eine Zukunft notwendig zugehört. Dies ist zunächst in demjenigen Sinn gemeint, in welchem wir von den .Horizonten* des Erlebnisses sprechen, von den Retentionen vergangener Erlebnisse, auf die es zurück-, und von den Protentionen künftiger, auf die es vorweist".13 Die analysierten Werke sind Produkte der Phantasie. Aber sie haben Bezug zur Realität, der jeweiligen Realität der Autoren. Diese Realität besteht in ihrem Bewußtsein und ihren Vorstellungen. Bewußtsein und Vorstellungen aber sind ein Resultat der sozialen Bedingungen ihrer Umwelt, in der die Autoren lebten. Spätestens hier wird der theoretische Ansatz der Phänomenologie von Alfred Schütz ergänzt durch den theoretischen Ansatz der Ethnomethodologie. Die Ethnomethodologie geht davon aus, daß sie nicht nur Soziologen, sondern auch Laien „praktisches, soziologisches Handeln durchführen... beide machen Handlungen und soziales Handeln beobachtbar".14 Nach Auffassung der Ethnomethodologen hat die Wissenschaft Äußerungen von Laien in ihrer Alltagswelt ernstzunehmen, um aus diesen Äußerungen eine fiktive Welt sichtbar zu machen. Auch „Geschichtenerzählen i s t . . . eine aktive konstitutive Leistung . . . Die Ordnung, welche die Erdenmenschen in ihrem eigenen Tun entdecken, ist eine geschaffene Ordnung und wird durch ihre eigene Beschreibungsarbeit hergestellt".15 Die Autoren der fiktiven Werke machen aufgrund ihres Bewußtseins Handlungen und soziales Handeln sichtbar, indem sie sie darstellen, interpretieren, ihren Figuren ein fiktives Eigenleben verleihen. Da beschreibt ein Autor wie z.B. Karl Gutzkow, der in den Jahren des Vormärz wiederholt mit den preußischen Zensurgesetzen in Konflikt geriet, den mit allen Wassern gewaschenen journalistischen Helden Blasedow, der sich listenreich und hart an der Grenze zur Illegalität gegen staatliche Willkür stemmt.16 Da schildert ein Autor wie Heinrich Boll, der selbst zum Opfer einer gehässigen Berichterstattung durch die Boulevardpresse wurde, den journalistischen Helden Werner Tötges, einen Boulevardreporter. Zynisch und erfolgsbesessen betreibt er einen Journalismus, der die Zielpersonen seiner Berichterstattung stets zu Opfern wer19
den läßt.17 Hier—wie in anderen Fällen—so die Hypothese, wurden individuelle Hoffnungen, Enttäuschungen, Ziele, Frustrationen, Einsicht in Machtzusammenhänge und Menschenbild umgesetzt in Phantasie, in Kreativität. Eine Kreativität, die ein imaginäres Berufsbild entstehen ließ, das Realitätscharakter besitzt. Allerdings: gegenüber der Frage, ob diese Darstellungen der Mitglieder der Gesellschaft richtig, falsch, folgerichtig oder konsequenzlos sind, beweist der Ethnomethodologe seine „Indifferenz". 1 * Mit Recht, denn zum einen ist es anhand des unzureichenden Materials praktisch nicht durchführbar, zum anderen ist auch in Bezug auf Werke der Literatur eine andere Realität gemeint, als jene, die die Ethnomethodologen anführen. Gemeint ist hier stattdessen die Realität der Imagination. Ein Kunstwerk stellt keine Wirklichkeit dar, sondern es ist eine besondere Form der Wiederspiegelung von Wirklichkeit.19 Sie ist eine der Formen einer praktischen und theoretischen Bewältigung der Wirklichkeit. 20 Es gibt nicht eine gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern mehrere, sie sind zwar gesondert zu analysieren, aber nicht einzeln zu betrachten. Eine Realität ergänzt die andere: „Keine einzige Realität enthält mehr an Wahrheit als irgendeine andere". 21 Keine der Realitäten ist vorherrschend, dominierend, wichtiger oder unwichtiger. Die imaginäre Realität wurde bisher in der Soziologie nur sehr wenig berücksichtigt.22 Während der Darstellung der vorliegenden Untersuchungsergebnisse wird deutlich werden, daß die imaginäre Realität immer wieder ergänzt wird durch Sequenzen der historischen. Zugleich versucht diese Untersuchung zu diskutieren, ob imaginäre Realitäten bei der Konstituierung oder Erhaltung eines Berufsbildes bedeutsam sein können.
1.4 Forschungshypothesen Ausgehend von der Fragestellung und ergänzt durch den theoretischen Ansatz ergaben sich folgende Hypothesen: — Imaginäre Realität wird stets ergänzt durch historische Realität. Für die vorliegende Arbeit bedeutet das: das fiktive Berufsbild journalistischer Helden hat im jeweiligen historischen Rahmen zahlreiche Sequenzen, die der damaligen beruflichen Wirklichkeit entsprachen. — Fiktive Berufsbilder konstituieren sich nicht ausschließlich in dem zeitlichen Rahmen, in dem sie von den Autoren geschaffen werden. Stets wirken bei ihnen Sequenzen aus der Vorwelt, seltener Vorstellungen von der Folgewelt mit. — Berufsbilder der Realität — hier bezogen auf das journalistische Berufsbild der Gegenwart — enthalten häufig Sequenzen aus den Berufsbildern der Fiktion. — Diese Sequenzen aus Berufsbildern der Fiktion tragen mit dazu bei, daß das journalistische Berufsbild der Realität gekennzeichnet ist durch ein „cultural lag", das sich vor allem auf berufsethische Aspekte bezieht. — Daraus resultiert: fiktive Berufsbilder als imaginäre Realitäten können Einfluß ausüben auf Berufsbilder der Realität.
20
2. Die Untersuchung 2.1 Methodische Vorbemerkungen Ob empirische Sozialforschung grundsätzlich in der Lage ist, gesellschaftliche Realitäten, Strukturen, Einstellungen und Zusammenhänge zu erfassen, wird mit unterschiedlicher Intensität seit Jahrzehnten angezweifelt. Verstärkt werden derartige Zweifel, wenn der Untersuchungsgegenstand selbst zeitmäßig weit zurückliegt, wenn es sich wie im Falle der vorliegenden Arbeit, teilweise um Untersuchungsobjekte handelt, die vor rund 200 Jahren erstmals erschienen und damals ein Stück kultureller Realität darstellten. Als Kultur gilt allgemein gefaßt „die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Werteinstellungen".1 In der vorliegenden Arbeit ist lediglich ein Teilbereich der Kultur behandelt worden: Literatur, Theater, Hörspiel und Film. Daß kulturelle Realität bei einer derartigen Beschränkung nicht synonym sein kann mit gesellschaftlicher Realität, liegt in der Tatsache begründet, daß Literatur und die übrigen genannten Kulturformen nur einen Teilbereich der Gesellschaft erfassen. In jedem Falle handelt es sich bei kulturellen Produkten, also auch bei Literatur, um eine irreale Scheinwelt. In ihr werden Überzeichnungen ebenso als Kunstmittel oder Ausdrucksmöglichkeit angewendet, wie Auslassungen oder die Darstellung von Idealtypen. Trotz dieser Einschränkungen kann der Inhalt eines Buches, eines Theaterstückes, eines Films oder Hörspiels wesentlichen Aufschluß über Normen, Werte und Klischeevorstellungen vergangener Zeiten oder der aktuellen kulturellen Realität geben. Im Falle der vorliegenden Arbeit sollte primär das Berufsbild des Journalisten in der Literatur und anderen Produkten der Kultur ermittelt werden. Analysiert wurde also eine irreale Figur in einer fiktiven Welt. Kann aber eine derartige Fiktion eines Berufsbildes, dargestellt in einer Scheinwelt, also dem Produkt künstlerischer Phantasie, auch nur einen geringen Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben? Ist das literarische Berufsbild die Abbildung einer möglicherweise tatsächlich existierenden Berufsbildvorstellung? In der Untersuchung ging ich u.a. von der Hypothese aus, daß zumindest einige Parallelen aufzuzeigen sind zwischen dem Berufsbild innerhalb einer Scheinwelt und dem von Journalisten in der Realität. H. Knospe spricht darüber hinaus von der Möglichkeit, durch Literatur „Aufschluß über frühere und gegenwärtige Gesellschaftszustände zu gewinnen".2 Eine Bestätigung dieser These könnte bedeuten, daß literarische oder künstlerische Idealtypen eine meinungsbildende Wirkung auf Berufsbildvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft haben. Angesichts dieses Anspruches wächst das methodologische Unbehagen, mit konkreten empirischen Methoden von heute die irreale Scheinwelt von damals zu analysieren. Schließlich handelt es sich bei dem Untersuchungsmaterial nicht um dokumentierte Aussagen von Berufsverbänden, sondern um literarisch ausgeschmückte Vorstellungen von Autoren. Autoren, die nur teilweise gleichzeitig Berufsjournalisten in der Realität waren. Andere wiederum arbeiteten nur hin und wieder als Journalist und eine dritte Gruppe hatte in ihrer beruflichen Existenz niemals etwas mit Journalismus zu tun gehabt. Trotzdem fiel die Entscheidung zugunsten des geschilderten Untersuchungsmaterials.
21
Als empirische Methode wählte ich die systematische Inhaltsanalyse, eine „Untersuchungstechnik, die der objektiven, systematischen und quantitativen Beschreibung des offenbaren Inhalts von Mitteilungen aller Art dient".3 Ich vermeide hierbei die sehr häufig durchgeführte strenge Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse, weil ich diese Unterscheidung nicht richtig finde. Eine quantitative Häufung von Fakten ohne anschließende qualitative Bewertung ist unvorstellbar. Hansjörg Bessler, der die Inhaltsanalyse analog mit zahlreichen anderen Autoren Aussagenanalyse nennt, beschränkt „die Interpretationsmöglichkeiten der Analyseergebnisse . . . auf die Aussage".5 Interpretation bedeutet für ihn die Formulierung von Rückschlüssen und qualitativen Aussagen anhand vorliegender empirischer Quantitäten, die für ihn zugleich Qualitäten sind. In diesem Sinne möchte auch die Erhebungsmethode der vorliegenden Arbeit verstanden werden. Verschiedene Bücher, Rundfunk-Features und Vorträge6 behandelten das Bild des Journalisten in der Literatur. Die Autoren arbeiteten in erster Linie impressionistisch anhand von Literaturauszügen. Sie vermittelten dem Rezipienten damit ein etwas einseitiges Bild. Zuviele Stereotype oder Eigenschaften im journalistischen Berufsbild blieben unberücksichtigt. Andere wiederum — wie z.B. NegativKlischees — wurden besonders hervorgehoben. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, ein möglichst umfassendes Charakter- und Berufsbild des journalistischen Helden in Werken der fiktiven Welt auf empirischer Basis zu ermitteln. Auch hier besteht die Möglichkeit, durch die subjektive Auswahl nur einiger Kriterien das wirkliche Berufs- und Charakterbild der fiktiven Figur zu verzerren. Diese Gefahr soll so weit wie möglich vermieden werden. Die vorliegenden empirischen Daten bieten zudem immer wieder Gelegenheit, die Interpretation der Ergebnisse zu kontrollieren. 2.1.2 Der Untersuchungsgegenstand Bei dem Untersuchungsgegenstand handelt es sich ausschließlich um kulturelle Produkte der fiktiven Welt, also um künstlerische Werke menschlicher Phantasie.7 Die Träger dieser Produkte waren direkte Massenkommunikationsmedien wie Buch, Film, Fernsehen und Rundfunk.8 Bei den oben geschilderten Werken der fiktiven Welt wurde grundsätzlich nicht in Frage gestellt, ob das zu analysierende Werk literarisch oder künstlerisch besonders wertvoll ist oder nicht. Obwohl ohne Zweifel qualitative Unterschiede bestehen z.B. zwischen der literarischen Qualität eines Romans von Bertha v. Suttner: „Die Waffen nieder!" und dem Roman eines Martin du Gard: „Die Thibaults", werden diese qualitativen Unterschiede nicht berücksichtigt, denn sie sind nicht Sache der Literatursoziologie. Außerdem besteht über die Fragen des ästhetischen Geschmacks und einheitlicher Richtwerte keine Einigkeit.9 2.1.3 Auswahlkriterien Um das entsprechende Werk einer Analyse zu unterwerfen, mußten haupt- oder nebenberufliche journalistische Helden im Rahmen der Handlung vorkommen. Sie mußten so ausführlich geschildert sein, daß mindestens 70 % aller im Erhebungsbogen gestellten Fragen beantwortet werden konnten. Ob man den Journalisten nun Publizist, Schriftleiter, Redakteur, Reporter, Gazettenschreiber oder Kommunikator nennt, wird in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt.10 Wollte man sich histo22
risch korrekt dem Wandel der Berufsbezeichnungen anschließen, müßte man für jede Geschichts- oder Kulturepoche eine andere Bezeichnung des Berufspositionsinhabers anführen. Diese Alternative erschien mir bei der vorliegenden Arbeit zu umständlich. Entscheidend war daher ausschließlich die Funktion der fiktiven Figur, genannt „journalistischer Held". Es handelt sich bei den journalistischen Helden um fiktive Figuren, die sich entweder haupt- oder nebenberuflich „mit Sammeln, Sichten, Prüfen und Verbreiten von Nachrichten oder mit der Kommentierung aktueller Ereignisse" befassen.11 In diesem funktionalen Sinne gehören z.B. sowohl Ulrich v. Hutten als auch Martin Luther zu den Journalisten bzw. journalistischen Helden. Hutten wandte sich mit Schmähschriften an die Öffentlichkeit, die zumindest bei den Fürstenhäusern der damaligen Zeit beträchtliche Unruhe verursachten. Der Inhalt dieser Schmähschriften war so brisant, daß die Fürsten ihm sogar Geld zukommen ließen, damit er sie nicht weiter verbreite.12 So war Hutten einer der ersten „bezahlten" Journalisten, zugleich auch einer der ersten, die sich bestechen ließen. Martin Luther beschränkte sich keineswegs auf den Anschlag seiner Thesen an die Schloßkirche von Wittenberg, sondern ließ durch seine Sympathisanten hundertfach vervielfältigte Flugschriften im gesamten Reichsgebiet verteilen, auf denen er seine Ideen propagierte. Wesentliches Kriterium bei der Auswahl eines fiktiven Werkes zur Analyse war außerdem die Massenverbreitung zur entsprechenden Zeitepoche oder aber auch in den darauffolgenden Geschichtsepochen. Vor allem in der Frühzeit des Journalismus war eine massenhafte Verbreitung von Kulturprodukten allerdings selten. Größere Auflagen erreichten einige von ihnen oft erst Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen. 2.1.4
Untersuchungseinheiten
Die Werke der fiktiven Welt wurden in folgende Untersuchungseinheiten unterteilt: Tabelle I. Literaturgattung des fiktiven Werkes Zahl der Nennungen Literaturgattung Schauspiel
abs.
in %
44
24
9
5
114
62
Lyrik/Epos
2
1
Erinnerung/Sammlung
1
1
Hörspiel/Feature
2
1
11
6
183
100
Novelle/Erzählung/Kurzgeschichte Roman
Fernsehstück/Film Summe
1. Roman Die Romane stellten mit 62 % (-» 114 Fälle) die größte Untersuchungseinheit. Sie vermittelten das Berufsbild des journalistischen Helden am vollständigsten. Im Gegen23
satz vor allem zum Schauspiel wurden in ihnen auch detaillierte Angaben z.B. über die Herkunft des journalistischen Helden, seinen Berufsweg oder sein Aussehen gemacht. 2. Schauspiel Mit dieser Untersuchungseinheit wurden diejenigen Werke erfaßt, die für die Aufführung am Theater vorgesehen waren. Es wurde im Folgenden nicht unterschieden, ob es sich innerhalb dieses Bereiches um ein Drama, einen Schwank, eine Tragödie oder Komödie handelte. Die gesamte Gattung wird im Folgenden Schauspiel genannt. Sie war mit 24 % die zweitgrößte Untersuchungseinheit. 3. Fernsehstück / Film Die Untersuchungseinheit ist zahlenmäßig so klein, weil das Massenmedium Film relativ jung ist und die repräsentative Stichprobe zwangsläufig einen Zeitraum von maximal zwanzig Jahren erfaßt. Im Gesamtsample machte diese Kategorie 8 % aus. Primär erfolgte die Auswertung anhand der Drehbücher. Wo dies nicht möglich war, wurde das Stück mehrfach angesehen. 4. Novelle / Erzählung / Kurzgeschichte 6 % aller Fälle fallen in diese Kategorie. Ursprünglich waren es mehr. Sie mußten jedoch aus dem Sample herausgenommen werden, weil der Fragebogen durch die zwangsläufige Kürze dieser Literaturgattung nur in wenigen Fällen ausgefüllt werden konnte. Die mit nur einem Prozent statistisch unterrepräsentierten Untersuchungseinheiten Hörspiel, Lyrik und Sammlung wurden später in der Auswertung jeweils der Untersuchungseinheit hinzugefügt, der sie ihrem Werkcharakter nach am ehesten entsprachen. So wurden die zwei Hörspiele dem Massenmedium Film-Fernsehspiel hinzugefügt, die Gattung Lyrik und Sammlung der Untersuchungseinheit Novelle. Statistisch wie inhaltlich ist dieses Vorgehen zu verantworten. Der primäre Untersuchungsansatz der vorliegenden Arbeit sollte das Berufsbild des Journalisten in Werken der fiktiven Welt ermitteln, wie es sich mehrheitlich über sämtliche angeführte Literaturgattungen darstellt. Die unterschiedlichen Ausprägungen des Berufsbildes in den einzelnen Literaturgattungen bleiben einer späteren Arbeit vorbehalten. 2.1.5 Das Sample / Die Grundgesamtheit Die wichtigste Quelle zur Materialbeschaffung war das bereits zitierte Buch von Karl d' Ester „Die Presse und ihre Leute im Spiegel der Dichtung". Leider waren in d'Esters summarischer Aufzählung diesbezüglicher Werke gleichzeitig auch Veröffentlichungen enthalten, die lediglich von Journalisten geschrieben worden waren. Im Handlungsablauf trat ein journalistischer Held jedoch nicht auf. Das Werk mußte aussortiert werden. In den Bibliotheken wurde kein Schlagwort über den Journalisten als literarische Figur gefunden. So waren weitere Grundlagen der Materialsammlung neben dem eigenen Vorwissen das Anschreiben von Fachleuten und Verlagen. Insgesamt 585 Titel wurden nach Verfassern alphabetisch sortiert. Sie stellten die Grundgesamtheit dar. 2.1.6 Die Stichprobe Von der Grundgesamtheit wurde zunächst per Zufallsauswahl anhand des nach Verfassern geordneten Materials jede fünfte Veröffentlichung gezogen. Rund 120 Werke bildeten nach dieser Methode die Stichprobe. Leider war sie auf dieser Ebene nicht 24
durchzuführen: Von 120 in der Zufallsauswahl gezogenen Veröffentlichungen waren in Deutschland nur 30 zu entleihen. Die Zerstörungen des ü . Weltkrieges hatten vor allem in Bezug auf die älteren Veröffentlichungen die Bestände der meisten Bibliotheken dezimiert. Einen Ausweg aus diesem Mißerfolg boten die Bibliotheken in Wien, die noch sehr respektable Bestände aufwiesen. Hier waren von den 120 ausgewählten Werken immerhin noch 42 registriert. 30 von ihnen waren tatsächlich zu entleihen oder einzusehen. Von diesen 30 Werken wiederum erwiesen sich 16 als Falschinformation oder für die Untersuchung als ungeeignet. Entweder es handelte sich um ein lyrisch aufwendiges Epos, das nichts über das journalistische Berufsbild aussagte, oder die tatsächlich auftretenden journalistischen Helden waren derart knapp geschildert, daß sie für die Auswertung nicht in Frage kamen. 14 Werke der gezogenen Stichprobe blieben damit zur Analyse übrig. Diese Stichprobe wäre eindeutig zu klein gewesen. Hinzu kam noch, daß einige der Werke nur in geringer Auflage erschienen waren. Nunmehr wurden alle in der Wiener Bibliothek noch vorhandenen Bücher ausgeliehen und durchgesehen. Insgesamt 110 Werke blieben bei diesem Verfahren übrig. Sie waren die Basis der Analyse. Die Werke sind im Anhang, Abschnitt 3, angeführt. Natürlich sind die so ermittelten und analysierten Werke nicht alle Veröffentlichungen, in denen journalistische Helden dargestellt werden. Vor allem fehlen vermutlich wesentliche Filmdrehbücher. Die Untersuchung erhebt daher keinen Anspruch auf Repräsentativität. Sie ist eine Auswahl. Es mag verwundern, wenn darauf hingewiesen wird, daß nur in öffentlichen Bibliotheken zugängliche Werke analysiert wurden. Dies ist jedoch ein Hinweis auf die Wichtigkeit der Werke. Die Tatsache, daß teilweise noch 200 Jahre nach der ersten Veröffentlichung verschiedene Werke einzusehen waren, zeugt von ihrer Relevanz sowohl für die damalige als auch für die heutige Zeit. Werke, die in öffentlichen Bibliotheken seinerzeit niemals ausgeliehen wurden, verschwanden im Laufe der Jahre aus den Beständen. Werke hingegen, die damals wie heute für den Rezipienten wichtig sind, werden häufig sogar erneut verlegt.13 Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch zu verstehen, daß in einigen Fällen derselbe Verfasser zwei- oder gar dreimal als Autor analysiert wurde. Im Falle der dreifachen Analyse handelt es sich z.B. um Roger Martin du Gard, der eine Romantrilogie14 schrieb. Nach seinem ersten Roman erschienen die Teile seiner außergewöhnlich erfolgreichen Romantrilogie „Die Thibaults" in langjährigen Abständen. In allen seiner Werke treten journalistische Helden mit unterschiedlichen Ausprägungen auf. Von Hermann Bahr z.B. wurden zwei Theaterstücke analysiert,15 die jedes für sich eine hohe Breitenwirkung hatten und ein Berufsbildstereotyp multiplizierten. Es muß in diesem Zusammenhang erneut betont werden, daß die vorliegende Arbeit die Manifestierung eines Berufsbildes über die Massenmedien ermitteln wollte und nicht die spezifische Darstellung und Ausprägung eines Berufsbildes durch diesen oder jenen Verfasser im Vordergrund steht. Eine hohe Breitenwirkung lag vor, wenn das Werk über mindestens zwei Auflagen verbreitet und in fremde Sprachen übersetzt wurde; Stücke an Großstadttheatern und an Provinzbühnen mit langanhaltendem Erfolg liefen, ein Fernsehspiel in zuschauerdichter Zeit gezeigt — oder ein Film mehrmals verlängert wurde. Fast die Hälfte der analysierten Fälle fiel in diese Kategorie. Ungewöhnlich hohe Breitenwirkung lag vor, wenn das Werk z.B. mehr als viermal neu aufgelegt oder in fremde Sprachen übersetzt wurde; wenn ein Theaterstück 25
jahrelang an Großstadtbühnen erfolgreich war; ein Fernsehspiel in zuschauerdichten Zeiten oder mehrmals gesendet wurde; wenn das Werk auch nach Jahrzehnten erneut herausgegeben oder aufgeführt wurde. Geringe Breitenwirkung lag bis zur zweiten Auflage eines Werkes vor; wenn ein Fernsehspiel zu Zeiten gesendet wurde, die als zuschauerschwach gelten, z.B. um 23.00 Uhr im IH. Programm; die Aufführung des Stückes lediglich an Provinzbühnen stattfand oder während nur einer Theatersaison an Großstadtbühnen aufgeführt wurde. Ungewöhnlich geringe Breitenwirkung wurde kodiert, wenn das Werk nicht mehr als einmal verlegt worden war; Restbestände als Remittende gehandelt wurden; eine Aufführung des Stückes an Großstadtbühnen nicht stattfand und auch an Provinztheatern keinen durchschlagenen Erfolg hatte. Nur ein Prozent der hier analysierten Fälle fielen unter diese Kategorie. Fast dreiviertel aller analysierten Fälle hatten also eine hohe oder sogar ungewöhnlich hohe Breitenwirkung. Es waren übrigens überwiegend Werke, in denen journalistische Helden als Hauptfiguren auftreten. Damit wird die Transmission des journalistischen Berufsbildes in die Öffentlichkeit zumindest vorstellbar. Tabelle II: Breitenwirkung Zahl der Nennungen Breitenwirkung Keine Angabe Nicht entscheidbar
abs.
in %
2
1
-
-
Hohe Breitenwirkung
84
46
Ungewöhnlich hohe Breitenwirkung
46
25
Geringe Breitenwirkung
49
27
2
1
183
100
Ungewöhnlich geringe Breitenwirkung Summe
2.1.7 Gesamtzahl / Fallzahl Das Sample der Untersuchung umfaßt insgesamt 183 Fälle, also journalistische Helden. Die Fälle sind nicht gleichbedeutend mit der Anzahl der analysierten Werke: insgesamt 110 Werke wurden analysiert. In rund einem Drittel aller Werke trat nur ein handlungsrelevanter journalistischer Held auf. Bei einem weiteren Drittel waren es zwei journalistische Helden innerhalb der fiktiven Handlung und beim Rest der Werke drei bis vier journalistische Helden, die analysiert werden konnten. Da sich die Analyse nach den Fällen orientierte, ergaben die 110 fiktiven Werke insgesamt 183 Fälle. Auch sie sind im Anhang, Abschnitt 3, angeführt. 2.1.8 Zeitraum, den die Untersuchung erfaßt Ausschlaggebend war nicht der Zeitpunkt, zu dem das Werk geschrieben wurde, sondern das Datum des erstmaligen Erscheinens. Während der Untersuchung stellte sich 26
heraus, daß Darstellungen über den Journalismus bereits im 16. Jahrhundert existierten, daß aber künstlerische Werke, die gleichzeitig ein erstes Berufsbild des journalistischen Helden in der Literatur vermittelten, zahlenmäßig so gering waren, daß sie sich als statistisch sinnlos erwiesen. Die Fälle verteilen sich über folgende Geschichtsepochen: Tabelle III: Datum der ersten Veröffentlichung Zahl der Nennungen abs.
Geschichtsepoche
in %
Keine Angabe
1
1
Nicht entscheidbar
2
1
Aufklärung Zeit: etwa 1680 -
1790/1800
1
1
Französische Revolution/Freiheitskriege/Revolution 1848/ Bürgerbewegungen der neueren Zeit bis zum Sieg der Reaktion Zeit: 1789 - 1870
30
17
Zweites Deutsches Reich bis zum Ende des Weltkrieg I. Zeit: 1871 - 1918
55
29
Weimarer Republik Zeit: 1919 - 1933
24
13
Nationalsozialismus/Weltkrieg II. Zeit: 1933 - 1945
17
9
Nachkriegszeit Zeit: 1946 - 1948/49
2
1
Neueste Zeit ab 1950
51
28
183
100
Summe
Die Kategorisierung der Fälle nach Geschichtsepochen und nicht genau nach Jahreszahlen hatte Vor- und Nachteile zugleich. Der Vorteil bestand darin, daß die Fälle bereits in der Voranalyse inhaltlich der Geschichtsepoche zugeordnet wurden, in der sie erstmals erschienen. Es war zum Beispiel wesentlich zu wissen, daß 29 % der journalistischen Helden in einer Zeit agieren, die sowohl den Sieg der Reaktion nach der Revolution von 1848 beinhaltete als auch den endgültigen Sturz der Monarchien durch die Folgen des Weltkrieg I. Es waren offensichtlich Jahre, die trotz staatlicher Zensur und den Ängsten, die mit einem Krieg verbunden sind, das Schreiben fiktiver Werke provozierten und ihre Veröffentlichung ermöglichten. In den knapp fünfzig Jahren, die diese Epoche umfaßt, treten in den veröffentlichten Werken fast doppelt soviele journalistische Helden auf, wie in den rund einhundert Jahren vorher. Dabei sollte man annehmen, daß gerade die revolutionären Bewegungen der Zeit von 1789 bis 1870 die Entstehung fiktiver Werke herausfordern und ermöglichen. Übrigens haben die meisten Werke, die in der Epoche nach der großen Revolution geschrieben wurden, eben diese revolutionären Bestrebungen und Freiheitsideale zum Inhalt. Das läßt darauf schließen, daß die Folgeepoche immer zur Rückbesinnung auf die voran27
gegangene geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung veranlaßt. Dieser literarische Effekt wird allerdings in erster Linie in Krisenzeiten sichtbar. So behandeln die meisten Werke, die während der Zeit des Weltkrieg II. erschienen, gleichfalls die Vorepoche, die Weimarer Republik. Auch hier sind es — gemessen an den wenigen Kriegsjahren — erstaunlich viele Veröffentlichungen. In Jahren, in denen sich die politischen und sozialen Verhältnisse einigermaßen normalisiert hatten, wie z.B. ab 1950, sind die Inhalte der fiktiven Werke nicht retrospektiv, sondern meistens auf die Gegenwart ausgerichtet. Der Nachteil der Kategorisierung nach Geschichtsepochen besteht in der unterschiedlichen zeitlichen Dauer jeder Epoche. Sie erfaßt einmal, wie im Falle der Weimarer Republik, 14 Jahre oder zum anderen, wie bei der Epoche von der Französischen Revolution bis zum Sieg der Reaktion in Europa, fast 100 Jahre. Dieses Manko erhält aber erst Gewicht, wenn die Entwicklung des journalistischen Berufsbildes in der Literatur von Jahrzehnt zu Jahrzehnt dargestellt werden soll. Die detaillierte Schilderung des literarischen Berufsbildes von Geschichtsepoche zu Geschichtsepoche würde weitaus mehr historischen Kontext erfordern, als hier in der vorliegenden Arbeit angeführt wird. Diese Einschränkung fand allerdings erst statt, nachdem festgestellt wurde, daß das Berufsbild des journalistischen Helden mit den meisten Ausprägungen schon sehr früh konstituiert wurde. Dort, wo sich bei einigen Ausprägungen wesentliche Unterschiede bei Veröffentlichungen zum Beispiel zwischen 1850 und 1950 ergeben, wird im Verlauf der Darstellung darauf hingewiesen. Interessant war übrigens der Vergleich der Epoche, in der der journalistische Held auftritt, mit jener Epoche, in der sein Verfasser lebte. N u r in einem einzigen Fall waren Erscheinungsdatum und die Zeit, in der der Verfasser überwiegend lebte, nicht zu entscheiden. Mit Ausnahme der fiktiven Werke, die ab 1950 erschienen, versetzen die Autoren überwiegend den Handlungszeitraum ihrer journalistischen Helden um mindestens eine Epoche zurück. Die in der Einleitung angeführte Verarbeitung der Vergangenheit im Sinne von Alfred Schütz wird hier im Bewußtsein der Autoren sichtbar. Vorvergangenheit scheint dort sichtbar zu werden, wo die Verfasser Zeiträume als Handlungszeitraum wählten, die sie selbst nicht erlebt haben konnten. Diese Vorvergangenheit spielt in Werken der fiktiven Welt eine wichtige Rolle. Zusätzlich ergab sich eine Vermutung, die sich nicht nur auf die Vorvergangenheit oder Vergangenheit als abstrakter Begriff bezog, sondern die von der gesellschaftspolitischen Struktur jener Gesellschaft abzuhängen schien, in der der jeweilige Autor tatsächlich lebte: je desolater eine Gegenwart gesellschaftspolitisch war, umso häufiger wählte der Verfasser offensichtlich nicht nur erlebte Vergangenheit, sondern Vorvergangenheit, Vorwelt als Handlungsepoche für das Geschehen um seine journalistischen Helden. Je konsolidierter sich die gesellschaftspolitische Gegenwart für die Autoren darstellen mußte, umso häufiger gingen sie entweder lediglich in die erlebte Vergangenheit zurück oder sie ließen ihr Werk in der für sie gerade aktuellen Gegenwart spielen. Von Beginn der Französischen Revolution über die Freiheitskriege, die Revolution von 1848 bis hin zur Konsolidierung der alten Mächte dominierte offensichtlich unter den Autoren eine hochgradige Unsicherheit bezüglich der Gegenwart. N u r 5 % der journalistischen Helden leben in derselben Zeit, in der auch ihre Schöpfer lebten. Alle anderen 25 journalistischen Helden leben in der Vorvergangenheit der Verfasser. 28
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Bei den beruflichen Tätigkeitsmerkmalen waren auffallende Polaritären zu registrieren, die jedoch nicht unbedingt ein Indikator für die bisher durchgeführte Unterscheidung zwischen positiven und negativen journalistischen Helden ist. Mitunter wird zum Beispiel die illegale Informationsbeschaffung oder eine rasche, oberflächliche Recherche von den Autoren positiv bewertet. Eindeutig positiv bewertet wurde allerdings der Begabte. Die Begabung scheint eine Voraussetzung des Berufes zu sein, denn immerhin 80 % verfügten darüber. Sie wird oft geradezu euphorisch geschildert: „Lynge verstand es, helle Blitze aus einer Frage zu bilden, er schrieb mit Krallen, mit einer Feder, daß einem die Zähne knirschten; seine epigrammischen Spitzen waren eine Geißel geworden, die niemals fehlte und die alle fürchteten. Welche Kraft und welche Geschmeidigkeit... es übertraf alles, was die Stadt an Journalistik gesehen hatte".120 In den Werken ist journalistische Begabung nicht gleichbedeutend mit Intelligenz. Sie ist auch nicht gleichbedeutend mit Dichtkunst im poetischen Sinne. Auf den Anspruch einiger journalistischer Helden, eigentlich Dichter oder Schriftsteller zu sein, wird später noch eingegangen. Hier ist stattdessen von der rein journalistischen Begabung die Rede. Sie beinhaltet alle Möglichkeiten, Kniffe und Raffinessen des Schreibens. Sie bedeutet die Fähigkeit, eine Information sachgerecht und überzeugend zu vermitteln. Sie meint zugleich die Kunstfertigkeit, durch witzige, ironisierende Glossen den Nagel einer Sache genau auf den Kopf zu treffen. Sie beinhaltet aber auch die Fähigkeit zur Manipulation. Hierbei wird der Leser nicht durch die Kraft der Argumente überzeugt, sondern durch Roßtäuschertricks eher verführt. Da die Frage der journalistischen Begabung in Werken der fiktiven Welt wie in der REALITÄT eine bedeutsame Rolle spielt, wird ihr im Folgenden ein Sonderabschnitt eingeräumt. Im Zusammenhang mit den beruflichen Tätigkeitsmerkmalen ist zunächst nur wichtig, daß die journalistische Begabung von allen beruflichen Tätigkeitsmerkmalen die höchste Prozentzahl aufweist. 70 % aller journalistischen Helden recherchieren gründlich und gewissenhaft. Ihnen unterlaufen keine sachlichen Fehler. Ihre Artikel haben Hand und Fuß, übrigens auch dort, wo sie aus Zeitungsenten oder Lügen bestehen. Es scheint mit zum Berufsbild des guten Journalisten in Werken der fiktiven Welt zu gehören, daß der gute Publizist hin und wieder eine Geschichte erfindet. Ist die Erfindung — in der Zeitungssprache wird sie „Ente" genannt — jedoch durchsichtig oder gar durch Wiederholungen strapaziert, wird sie abgelehnt. So läßt Gustav Freytag bereits im Jahre 1854 seinen journalistischen Helden Konrad Bolz über eine bereits damals bis zum Überdruß strapazierte Zeitungsente fluchen, die sein Mitarbeiter zu neuem Leben erweckte, weil ihm noch sechs Zeilen Text fehlten: „Alle Wetter, kommt der wieder mit der alten Seeschlange! Ich wollte, sie würde ihm als Gelee gekocht und er müßte sie kalt aufessen . . . wie konntest Du die abgedroschene Lüge wieder einsetzen?... Erfinde Deine eigenen Geschichten, wozu bis Du Journalist?"121 Die Zeitungsente ist in Werken der fiktiven Welt keineswegs auf Fabeltiere beschränkt. In Robert Ruark's Roman „Der Honigsauger" wollen zwei untergeordnete Mitarbeiter verschiedener Zeitungen einen besseren Posten an ihrem Blatt bekommen. Sie beschließen, Zeitungsenten zu erfinden, die jeweils der andere bestätigen mußte. Da der Rest aller konkurrierenden Kollegen die erlogene Story natürlich nicht recherchieren konnte, hatten beide einen Informationsvorsprung und machten sich durch ihre exklusiven Artikel bei den Verlegern beliebt: „Alec schrieb . . . eine Geschichte über den Ausbruch von Tollwut in Südost-Washington für die Spätnach90
mittagsausgaben (seiner Zeitung) und Dinah bestätigte sie für die Frühausgaben ihrer Zeitungen . . . Oder Dinah erfand für ihre Zeitung einen Skandal im Wohnungsbau, und Alec bestätigte es für seine Zeitung mit einer ähnlichen Meldung, und wieder hackten beide auf die gequälten Ausschußmitglieder ein. Wenn Alec einen Pockenalarm erfand, bestätigte es Dinah. Wenn Dinah einen neuen Plan erfand, wonach ein Wohnblock abgerissen werden sollte, um Platz für eine Autobahn zu schaffen, bestätigte es Alec". 122 Der Erfolg ist durchschlagend. Die geprellten Kollegen versprechen den beiden, nie wieder mit einer eigenen Story hinterm Berg zu halten. Dinah und Alec steigen zu Starreportern auf und versprechen den Kollegen ihrerseits, nie wieder „Romane zu schreiben". 123 Aber so ganz können sie es trotz der nunmehr gesicherten Position doch nicht lassen: mit einer eigens dazu geschlachteten Ziege wird von Alec ein Mord fingiert und Dinah ist natürlich die erste, die zufällig die Blutspur entdeckt. Besonders rücksichtsvoll gehen die beiden hierbei nicht vor: „Ein Verdächtiger um den anderen wurde in Haft g e n o m m e n . . . es war eine großartige Story". 124 Und in der REALITÄT? Es gehört wohl eher zur Kuriositätensammlung des journalistischen Berufsbildes, daß sich jenes Seeungeheuer, das bereits bei Gustav Freytag als abgedroschene Lüge bezeichnet wird, hartnäckig bis heute gehalten hat und regelmäßig zur journalistischen Sauregurkenzeit zwischen Juni und Mitte September nicht nur in Boulevardblättern, sondern auch in seriösen Zeitungen ausführlich behandelt wird. Die Journalisten nennen es liebevoll „Nessi", weil man es im Laufe der Jahre im schottischen Loch Ness ansiedelte. Eine ähnliche Zeilenfüllerfunktion hat auch der sagenhafte Schneemensch vom Himalaja, der seit Jahren pünktlich zur Sauregurkenzeit wieder einmal gesehen wird.125 Doch auch in der REALITÄT beschränkt sich das Thema von Zeitungsenten nicht auf Fabeltiere oder Vorzeitmenschen. Spätestens seit der Mitarbeit von Günter Wallraffin der „BILD ,, -Zeitungsredaktion weiß man in der Bundesrepublik, wie Enten und falsche Informationen Zustandekommen. Teilweise beruhen die Artikel auf einem Quentchen Wahrheit, häufig aber sind sie reine Zeitungsenten, also von den jeweiligen Redakteuren ausgedacht, bzw. „getürkt", wie es in der Zeitungssprache heißt.126 Bleibt noch anzumerken, daß fast 20 % der Bundesrepublikaner glauben, die ,Journalisten erfinden die tollsten Geschichten". 127 Gründliche Recherchen — positiv bewertet — schließt also in Werken der fiktiven Welt die gut geschriebene Lüge mit ein. Sie gehört offensichtlich zum Metier journalistischer Tätigkeit. Das bedeutet zugleich, daß es beim journalistischen Berufsbild in Werken der fiktiven Welt nicht unbedingt um die Informationsvermittlung im Sinne von Wahrheit geht, sondern primär um die gut geschriebene Story. Die journalistische Schreibkunst, also die Form, ist damit wichtiger als der Inhalt. Negativ bewertet wird hingegen, wer als journalistischer Held bestechlich und korrupt ist. Dies allerdings nur in fiktiven Werken, die etwa bis 1945 erschienen sind. Dabei ist gerade bei journalistischen Helden bis zu dieser Zeit soziale Not meistens die Ursache der Korrumpierbarkeit. Der bereits zitierte bestechliche „Schmock" bei Gustav Freytag hinterläßt einen derart schlechten Eindruck, daß sein Name in späteren fiktiven Werken häufig zum Synonym mieser Journalisten schlechthin wird. „Schmock — charakterloser Schmierant", 128 nennt Wolfgang Madjera einen seiner gleichfalls korrupten journalistischen Helden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß zahlreiche charakterlose journalistische
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Hermann Bahr (1863-1934)
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Helden keineswegs immer negativ bewertet werden. Sie können auch zusätzlich arm, mitunter sogar dumm sein, ohne daß der Stab über ihnen gebrochen wird. Lassen sie sich jedoch bestechen und damit kaufen, trifft sie der Bann. Diese Bewertung zieht sich wie ein roter Faden durch die fiktiven Handlungen in Werken bis 1945. Umso erstaunlicher ist der Gesinnungswandel in Werken, die nach 1945 erschienen sind. Die Prozentzahl der bestechlichen journalistischen Helden ist hier fast am höchsten, die Bewertung jedoch selten negativ. Und dies, obgleich jene journalistischen Helden in keinem Falle aus sozialer Not bestechlich sind, sondern ausschließlich aus Machthunger oder Geldgier. Alle sind wohlsituiert oder sogar reich. Trotzdem verschaffen sie sich persönliche Vorteile durch Korruption. Da erhält der journalistische Held „Merz" sein neues Auto um 40 % billiger. Als Gegenleistung bringt er die Automarke wie zufällig verschiedene Male vor seine Fernsehkameras. Merz ist im Laufe seiner Berufsjahre längst bestechlich geworden, weil alle im journalistischen Gewerbe korrupt sind. „Moralische Entrüstung über dein eigenes Handeln erkennst Du nicht an. Es würde die Dinge nur komplizieren".129 Rund ein Drittel aller journalistischen Helden in Werken der Neuesten Zeit gelten als bestechlich und sind trotzdem positive journalistische Helden. Losgelöst von der einst sozial begründeten Bestechlichkeit journalistischer Helden in früheren Werken scheint nunmehr die Bestechlichkeit eine informelle Norm des journalistischen Berufes geworden zu sein. Ein bißchen Korruption gehört offensichtlich zum Gewerbe, es wird verständnissinnig und augenzwinkernd beschrieben. In der REALITÄT ist die Bestechlichkeit der Journalisten ein altes Problem. Koszyk berichtet, daß Bismarck Korrespondenten bestach, damit sie seine politischen Thesen auch noch nach seinem Sturz in die preußischen Zeitungen setzten. Diese Praxis sei jedoch keineswegs die Ausnahme, sondern allgemeiner Brauch gewesen.130 In der Gegenwart unterliegen vor allem Reisejournalisten oft dem Vorwurf der Korrumpierbarkeit. In einem Bericht über Schnorrbriefe von Reisejournalisten an Touristik-Unternehmen, die ihrerseits entrüstet jene Briefe dem Deutschen Journalisten-Verband schickten, meint Arnold Petrusebka: „Der Weg vom ,Bakschisch'-Journalisten zum .Bettel'-Journalisten i s t . . . nicht weit".131 „Die Bestechlichkeit im Reisejournalismus ist schon . . . sprichwörtlich geworden", beklagt Bernd Rosema und weist „auf die zunehmende Verlotterung unseres Berufsstandes" hin.132 Er spricht von „Korrumpierungsfeten"133 und einer beklagenswerten Käuflichkeit seiner Kollegen: „Es ist schon merkwürdig, wer heutzutage alles dazu beitragen darf, das einst so rühmliche journalistische Berufsethos mit abzutragen".134 Daß die Frage der Bestechlichkeit im journalistischen Beruf auch über die Berufsgattung der Reisejournalisten hinausgeht und ein allgemeines publizistisches Problem zu sein scheint, belegt der 15. Grundsatz des Deutschen Presserates. Darin heißt es unter anderem: „Wer sich für die Verbreitung oder Unterdrückung von Nachrichten bestechen läßt, handelt unehrenhaft und berufswidrig".135 Nach einer Emnid-Umfrage nehmen 62 % der Bundesdeutschen Bevölkerung an, daß Korruption im Staate herrscht. Zwar liegen die Bereiche Industrie und Politik mit rund 60 % des Verdachtes zur Bestechlichkeit und Korruption am höchsten, aber immerhin ein Viertel der Bevölkerung vermutet diese Unsitte auch bei Presse, Funk und Fernsehen. Damit — so tröstet das Verbandsorgan „journalist" — komme die Presse noch „relativ glimpflich"136 davon. Letztes in der Tabelle angeführtes berufsbezogenes Tätigkeitsmerkmal journalistischer Helden in Werken der fiktiven Welt ist die Art der Informationsbeschaffung. 93
64 % der journalistischen Helden besorgen sich ihre Informationen überwiegend legal, was die vereinzelte illegale Nachrichtenbeschaffung nicht ausschließt. Fast 35 % bedienen sich hingegen primär der illegalen Methode, um an Informationen zu gelangen. Die Illegalität wird von den Autoren primär positiv bewertet, denn sie zeugt in ihren Augen von Flexibilität im Handeln und von Einfallsreichtum, Eigenschaften, die grundsätzlich im journalistischen Berufsbild positiv bewertet werden. Zudem sind die illegalen Methoden oft ungemein witzig und dienen häufig als humoristische Einlage: da verkleidet sich ein journalistischer Held als Krankenpfleger, um einen wichtigen Patienten zu interviewen. Der nächste kriecht unter ein Bärenfell und spielt Bettvorleger, um die gesellschaftlichen Kontakte einer Gräfin bis ins Intimleben zu verfolgen. Ein anderer journalistischer Held tritt als weißberockter Anstreicher auf und wird so zum Zeugen wichtiger Gespräche. Aber nicht nur der Verkleidungstrick bringt auf illegale Weise Information. Der journalistische Held Tredup stiehlt einem Bauern, der sich gerade über die Toilette gebeugt übergibt, den wichtigen Brief von hinten aus der Hosentasche.137 Alec Barr lockt einen Minister in das Bett einer eigens dafür von ihm bestellten Schönen und schießt hinter dem Vorhang verborgen die korrumpierenden Fotos138 und Carla Moll schleicht sich heimlich in das Haus ihres Bekannten, um dort Spuren seines nationalsozialistischen Vaters zu finden.139 In jenen Fällen, wo Freundschaften zur Informationsbeschaffung mißbraucht werden, verurteilen die Autoren den Trick des Einschleichens. Meistens bezieht sich die Hinterlist jedoch auf Fremde. Dort wird die illegale Informationsbeschaffung in fiktiven Werken aus sämtlichen Geschichtsepochen überwiegend befürwortet. Bekommt ein journalistischer Held seine Information nicht auf legalem Wege, so ist es recht und billig, daß er sie sich eben illegal besorgt, auch dort, wo es sich um Tratschgeschichten handelt. So ist es auch nur folgerichtig, daß der journalistische Held Stuff, als man ihn beim Lauschen an fremden Türen ertappt, sich nicht verteidigt, sondern nur trocken bemerkt: „Das tun alle Zeitungsleute . . . das ist ihr Beruf". 140 Auch Stuff ist ein positiver journalistischer Held. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß der hohe Zweck einer umfassenden Information alle illegalen Mittel heiligt. Doch die meisten, die sich dieser Methoden bedienen, sind keine politisch motivierten journalistischen Helden. Im Gegenteil: gerade den politischen Kämpfern unter ihnen ist dieser Weg so fremd, daß er nicht einmal zur Diskussion gestellt wird. Hier schimmert erneut das Bild des frühen positiven journalistischen Helden durch, das in den „Akademischen Journalisten" des vergangenen Jahrhunderts sein Vorbild fand. Doch ihr Beispiel ist nicht ins Gegenteil zu verkehren: da vor allem den „Emporkömmlingen" (Vorbild „Self-MadeJournalisten") unverholene Anerkennung gezollt wird, ist die illegale Informationsbeschaffung jener journalistischen Helden auch dann nicht verwerflich, wenn sie aus unpolitischen Gründen erfolgt. Die negative Bewertung bezieht sich eher auf den moralischen Makel des Verrates an Freunden sowie auf die Vortäuschung von Freundschaft oder von Liebe zum Zweck der Information. Die positive Bewertung der illegalen Informationsbeschaffung durch die Autoren sowie die hohe Prozentzahl der journalistischen Helden, die sich dieser Arbeitsweise bedienen, läßt daher zumindest auf eine weitere informelle Berufsnorm in Werken der fiktiven Welt schließen. In der REALITÄT wird die illegale Informationsbeschaffung von den Berufsverbänden zunächst verurteilt. So heißt es in den publizistischen Grundsätzen des Deut94
sehen Presserates: „Bei der Beschaffung von Nachrichten, Informationsmaterial und Bildern fiirfen keine unlauteren Methoden angewandt werden.141 Die illegale Methode der Informationsbeschaffung scheint trotzdem zur alltäglichen journalistischen Praxis zu gehören. Ein Reporter der Zeitschrift „Gong" gab sich als Arzt aus, um von der Frau eines bekannten Fernsehautoren die Adresse der psychiatrischen Klinik zu erfahren, in der sich ihr Mann befand. Der Reporter gab vor, eine neue Heilmethode zu kennen, die ihrem Mann helfen könne.142 Ein Redakteur der ,3üd"-Zeitung brach in die Wohnung eines verhafteten Oberschülers ein und stahl dort Fotos des Verhafteten, die tags darauf in dem Boulevardblatt erschienen.143 Die „Bild am Sonntag"-Reporterin Daphne Wiesand schlich sich unter falschem Namen in die Sekte „Kinder Gottes" ein, um die rigorosen Bekehrungsmethoden dieser Religionsgemeinschaft zu entlarven.144 Einschleichmethoden sind kein Monopol von Mitarbeitern des SpringerVerlages, die Beispiele lassen sich auch für andere Blätter beliebig verlängern. Der bekannteste Schreiber, der sich überwiegend illegaler Informationsmethoden bedient, dürfte inzwischen Günter Wallraff sein. Mit falschen Papieren ließ er sich als Bürobote beim Gerling-Konzern anstellen, um Gesetzesverstöße bei der Lehrlingsausbildung aufzudecken.145 Er gab sich bei anderer Gelegenheit als finanzkräftiger Industriemagnat aus, um Zusammenhänge zwischen der chilenischen Junta und Industriekreisen der Bundesrepublik aufzudecken.144 Wallraff schlüpfte in so viele Masken und Verkleidungen, daß der „Unternehmerwarndienst" seinen Steckbrief an alle Abonnenten verteilte.147 Dennoch gelang ihm im Jahre 1977 sein bislang spektakulärster Verkleidungstrick: „Geschniegelt, gestutzt, von Höhensonne erfolgsgebräunt. Polierte Fresse . . . durch . . . Jacketkronen gleichgerichtete . . . Zähne . . . den Krawattenkragen festgewürgt",148 verrichtete er als „Bild"-Reporter Hans Esser seine Arbeit im AxelSpringer-Verlag. Die Auffassung, daß mitunter zur Wahrung des öffentlichen Interesses der legale Weg der Informationsbeschaffung durch illegale Methoden der Journalisten ersetzt werden müssen, vertraten übrigens bereits vor Wallraff s Enthüllungen 40 % der Bundesdeutschen. Das Allensbacher Institut für Demoskopie befragte sie nach ihrer Meinung zum Fall des Physikers Traube. Das Magazin „Der Spiegel" hatte die geheimen Verfassungsschutzakten, die „ganz zweifelsfrei nicht auf legalem Weg" 149 auf seinem Redaktionstisch landeten, veröffentlicht. Dieser Meinung schloß sich auch der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes weitgehend an, als er über Wallraffs illegale Recherche zu entscheiden hatte. Zwar mißbilligte er die Beschaffungsmethode, doch entschied er, daß auch eine solche Methode gerechtfertigt und damit straffrei ist, wenn es sich um Angelegenheiten des öffentlichen Interesses handelt, die ganz offensichtlich nur auf illegalem Wege recherchiert werden können. Wallraffs Enthüllungen haben nach der Auffassung des BGH derart gewichtige Mißstände einer Zeitungsredaktion entlarvt, daß sich Wallraff und sein Buchverlag auf den Meinungsfreiheitsparagraphen des Grundgesetzes berufen dürfen. Allerdings wurde in dem Urteil hervorgehoben, daß Wallraff ein Schriftsteller und kein Journalist ist. Seine Buchveröffentlichung unterliegt daher nicht dem Presserecht.150 Doch auch aus journalistischer Sicht rechtfertigt Fechner z.B. diese Informationsmethode. Er beruft sich auf das Wächteramt der Presse. Es kann für ihn in solchen Fällen „gar keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Handelns eines Journalisten geben".151 95
Es kann hier nicht noch ausführlicher auf das ganze Spektrum der aktuellen Diskussion eingegangen werden. Deutlich geworden ist die ambivalente Einstellung sowohl der Presseverbände als auch von Teilen der Öffentlichkeit zur Frage der illegalen Informationsbeschaffung. Ob die Arbeitsmethode befürwortet wird oder nicht, scheint von den Rechercheninhalten abzuhängen. Entspricht sie dem zitierten Wächteramt der Presse, oder dem, was man dafür hält, wird sie befürwortet. Ist das Ergebnis hingegen Rufmord oder Klatsch, lehnt man ab und beruft sich auf die unfeine Methode. Es bleibt zu fragen, warum in Werken der fiktiven Welt die illegale Methode überwiegend positiv bewertet wird, obgleich die meisten journalistischen Helden, die illegal recherchieren, eben nicht politisch wichtige Tatbestände entlarven. Als Erklärungsmöglichkeit bietet sich an, daß in Werken der fiktiven Welt mit der illegalen Recherche nicht annähernd so viel Schaden beim Rezipienten angerichtet wird, wie offensichtlich in der REALITÄT. In den wenigsten Fällen, zum Beispiel bei Heinrich Boll und Archibald Cronin, agieren die journalistischen Helden derart gewissenlos, daß sie die bürgerliche Existenz oder gar das Leben ihrer Recherchenopfer vernichten. Bei den übrigen journalistischen Helden wird der Informant zwar hintergangen und auch ein bißchen in seinem Ruf geschädigt, aber nicht annähernd mit der vernichtenden Konsequenz. Häufig ist sogar ein homerisches Gelächter der Öffentlichkeit die Folge, in das der betrogene, unfreiwillige Informant mit etwas dünnen Lippen einstimmt. Die fiktive Gestalt Brenda bewohnt zufällig zusammen mit einer Gruppe sensationshungriger Journalisten dasselbe Hotel. Als sie einen der Journalisten zu verführen versucht, trägt sie unfreiwillig mit dazu bei, die Berichte über den fliehenden Dalai Lama zu konkretisieren. Die übrigen Journalisten erfahren durch Indiskretion von Brendas Versuch und sie wiederum erfährt, welche Rolle sie wirklich bei dem Verführungsversuch gespielt hat: „Brenda sah . . . (den Erzähler) zwinkernd an und kapitulierte. ,Ich glaube, ich war ein Riesenrindvieh', flüsterte sie beschämt".152 Zusammenfassend ist zu folgern, daß Unterscheidungen zwischen positiven und negativen journalistischen Helden eher von berufsbezogenen Erfolgen abhängig sind, als von persönlichen Eigenschaften, die sonst einen positiven oder negativen Helden konstituieren. In anderen Werken der fiktiven Welt gelten Charakteristika wie Bestechlichkeit oder Hinterlist üblicherweise als Merkmal für negative Helden. In den fiktiven Werken über Journalisten werden sie umgewertet: ein beruflich erfolgreicher journalistischer Held ist auch ein positiver Held. So wird beruflicher Erfolg, gleichgültig, mit welchen Mitteln er erreicht wurde, zum Indikator positiver Bewertung. Zugleich wird damit die journalistische Profession zu einer Tätigkeit, in der man zwar überwiegend gründlich, mit legalen Mitteln und nicht kompromittiert arbeitet, sich aber im Zweifelsfalle auch der gegensätzlichen Methoden bedienen darf, um die gesetzte Aufgabe zu erfüllen. Entscheidende Voraussetzung aber, um journalistisch erfolgreich zu arbeiten, ist die publizistische Begabung. Immer wieder wird sie lobend erwähnt und besonders hervorgehoben. Ihr wird in der vorliegenden Arbeit ein Sonderabschnitt eingeräumt, weil sie eine konstituierende Variante des journalistischen Berufsbildes in Werken der fiktiven Welt darstellt.
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3.5.1 Das Talent in der Wiege oder kann man Journalismus lernen? In den Werken der fiktiven Welt reicht die Kunstfertigkeit eines journalistischen Helden, seine Artikel geschickt und routiniert zu formulieren, allein noch nicht aus, um von einem großen publizistischen Talent zu sprechen. Meistens kommen noch irrationale, sachlich kaum greifbare Kriterien hinzu, die man als berufsmystische Elemente bezeichnen könnte: die großen Talente unter den journalistischen Helden benötigen zusätzlich noch ein Gefühl, ein gewisses Gespür, um als Begabung zu gelten. Die Metapher vom Jagdhund wird in diesem Zusammenhang häufig verwendet. Die talentierten journalistischen Helden laufen zunächst relativ ziellos in der Gegend herum. Sie sind auf der Suche, wissen aber noch nicht, was sie suchen. Plötzlich aber nehmen sie die Witterung von einem scheinbar belanglosen gesellschaftlichen Ereignis auf. Für die weniger begabten Kollegen ist das Ereignis kein Thema. Die talentierten journalistischen Helden jedoch riechen die Sensation. Was alle anderen erst sehr viel später merken werden, die Talente wissen es bereits jetzt: hier liegt ein großer folgenschwerer Artikel in der Luft. Der Instinkt und die Spürnase der begabten journalistischen Helden ist so sicher, daß sich oft zweitrangige Kollegen an ihre Fersen heften. Gleichgültig, ob sich der Begabte nun Socken kauft oder in einer Kneipe ein Glas Bier trinkt: stets sind die Kollegen hinter ihm her und hoffen, teilzuhaben an der großen Story, die der Begabte gleich — im Zweifelsfalle beim Sockenkauf — entdecken wird. Die Gläubigkeit ist so groß, daß die Kollegenmeute im Schichtdienst vor dem Hotelzimmer des Talentes Wache schiebt, um nicht den Moment zu verpassen, in dem ihr Vorbild den Raum verläßt.153 Inspiration, Gespür und ein sicherer Instinkt für journalistisch wichtige Themen ist gepaart mit vollendeter Schreibkunst. Selten wird erwähnt, mit welcher Schreibmethode der journalistische Held seine Leser fasziniert, aber stets, daß es geschieht. Bei 75 % aller journalistischer Helden wird eine Aussage über die Begabung gemacht. Die Frage ist für die Autoren der fiktiven Werke also von großer Bedeutung. Von diesen 138 journalistischen Helden, bei denen etwas über die Begabung ausgesagt wird, gelten 111 ( - 80 %) als begabt. Ist diese Fähigkeit zum Beruf angeboren oder kann man sie lernen? Tabelle XXI: Begabung und Beruf Zahl der Nennungen abs.
in %
Nicht entscheidbar Angeboren Lernbar
2 35 9
4 76 20
Summe
46
100
Begabung
Immerhin 46 journalistische Helden äußern sich zu diesem Thema. 35 von ihnen sind der Meinung, daß man mit dem Talent zum Journalismus geboren wird. Nur 9 vertreten hingegen die Auffassung, daß man Journalismus lernen kann. Bei zwei journalistischen Helden waren beide Auffassungen gleichwertig vertreten. So heißt es zum Beispiel beim DDR-Autoren Hermann Kant: „Auch darfst Du 97
denken: jetzt bräuchte man einen Kisch, 154 und dann darfst Du Dir einen machen. Suche Dir einen Jungen mit dem Ansatz, er muß zu finden sein . . . Zwinge ihn durch tausend Bücher fürs erste, jage ihn über tausend Straßen fürs erste und presse ihm fürs erste tausend Zeilen ab über . . . die Badetricks eines Schornsteinfegers, den Speisezettel im Seebach-Stift,... das Einkaufsproblem, das Wohnungsproblem, das Problem Straßenbahn und das Problem Adlershof. Streite mit ihm, bis ihm nichts anderes mehr bleibt als seine eigene Meinung. Zeige ihm, wieviel andere Meinung möglich ist außer seiner. Bringe ihn so durcheinander, daß er sich Systeme baut. Lehre ihn das Gruseln vorm Schema. Schlag auf ihn ein, wenn er verachtet, was er nicht versteht; streichle ihn, wenn er Dir sagt, er versteht Dich nicht. Fauche ihn an, wenn er ein zweites Mal Bahre sagt, wo es Trage heißen müßte, und rauche eine Zigarette mit ihm, wenn er das Wort .Vervollgenossenschaftlichung' stinkdämlich findet. Schicke ihn zum Interview mit dem eitelsten Menschen der Republik. Presse ihn in einen Abendkurs für Spanisch . . . Versuche einen Menschen aus ihm zu machen, der freundlich ist, aber nicht feige; skeptisch, aber nicht pessimistisch; ironisch, aber nicht zynisch; der die Arbeit liebt und seine freie Zeit genießt; seine Freiheit schätzt und ohne Disziplin nicht leben kann; Ignoranz als einen Ansatz zur Barbarei begreift; Dogmen nicht achtet und Prinzipientreue nicht mit Dogmatismus verwechselt". 155 Selbst hier also, wo aus einem jungen Menschen geradezu ein Musterknabe journalistischer Profession gemacht wird, lohnt sich die mühevolle Arbeit der Erziehung zum Journalisten erst dann, wenn man einen Anwärter findet, der bereits den Ansatz hat, ein Kisch zu werden. Die Voraussetzungen zum Beruf müssen also auch bei ihm bereits vorhanden sein. Doch den meisten journalistischen Helden ist es unvorstellbar, daß man die Fähigkeit zum Beruf lernen könnte. Zwar kann man sich das reine Handwerk aneignen, bei dem Uberschriften ausgezählt, ein langatmiger Korrespondenten-Artikel zur griffigen Meldung zusammengestrichen — oder aus einer knappen Meldung eine fantasievolle Story gemacht wird. Aber das alles wird nicht als ausschlaggebendes Kriterium zur Begabung bewertet. Ausschlaggebend hingegen sind Inspiration, Neugier, Instinkt und die bereits zitierte Spürnase. Und diese mystischen Fähigkeiten sind nicht erlernbar, sondern angeboren. Jene journalistischen Helden, die an das Talent in der Wiege glauben, sind häufig selbst Koryphäen ihres Berufes. Sie wissen das auch und beurteilen die Masse der übrigen Kollegen nicht gerade als Versager, aber doch zumindest als trostlos mittelmäßige Leute. Zugleich haben sie ein sicheres Gespür für die wenigen journalistischen Talente. Entdecken sei eines, versuchen sie mit allen Mitteln, diese Begabung zu fördern, selbst dann, wenn der Entdeckte keineswegs vorhat, den Journalismus zu seinem Hauptberuf zu machen. Da steht der junge Alec Barr abgerissen und ausgehungert vor dem großen Journalisten Skipper Henry. Lediglich aus Geldnot möchte er ihm ein kleines Artikelchen verkaufen. Skipper Henry überfliegt das Manuskript sekundenschnell, sieht auf und weiß, daß er hier den geborenen Journalisten vor seinem Schreibtisch stehen hat: „Man trifft nicht oft auf ein unerwartetes Talent, nicht öfter als auf einen Diamanten in einem Misthaufen . . . Sie haben was Besseres als Tom Wolfe. Sie haben natürliche Disziplin, einen Sinn für die Form. Das kann man nicht lernen. Damit wird man einfach geboren. Sie haben Fantasie und Sie haben . . . das GEFÜHL dafür". 156 Das Talent ist Alec damit zwar in die Wiege gelegt, aber lernen muß er zusätzlich dennoch, um das Handwerk „von der Pieke auf" 157 zu beherrschen. Eine Formulierung, die in den Werken der fiktiven Welt häufig verwendet 99
wird. Von der Pieke auf zu lernen bedeutet für die journalistischen Helden das mühsame Empordienen von einer kleinen Provinzredaktion bis hin zum Massenblatt der Großstadt. Nur, wer diesen Weg geht, hat auch die Möglichkeit, aus seinem angeborenen Talent etwas zu machen, beruflich erfolgreich zu sein, ein großer Journalist zu werden. Anders ist es mit den wenigen journalistischen Helden, die als unbegabt gelten. Zu ihnen zählen symptomatischerweise jene, die zugleich glauben, daß man Journalismus lernen könne. Sie meinen damit allerdings in erster Linie das Schreiben im Sinne eines Handwerks. Die zitierte Spürnase der angeborenen journalistischen Helden kennen sie nicht. Sie sind daher ziemlich instinktlos, wenn es um die Tendenz der öffentlichen Meinung geht. Sie erfragen von ihren Rezipienten, welche Richtung des geplanten Artikels wohl erwünscht sei. Und da sie meistens die falschen Leute fragen, wird der Artikel zum Fiasko. Ein journalistischer Held, der annimmt, daß man Schreiben durch mühevoller Kleinarbeit lernen könnte, ist der journalistische Held Max Tredup. Er feilt und streicht stundenlang an einem Artikel herum. Bei jeder Fassung ist er sicher, daß sie besser geworden ist, als der vorangegangene Versuch. Die so mühevoll zustande gekommenen Artikel erscheinen auch tatsächlich in der Zeitung — und werden zum totalen Mißerfolg. Beim nächsten Versuch arbeitet Tredup noch länger und gründlicher am Manuskript. Als auch das ein Mißerfolg wird, versucht er es mit rasch hingeworfenen, zügig formulierten Zeilen. Aber alle seine Bemühungen bleiben erfolglos. Die anderen journalistischen Helden in Falladas „Bauern, Bonzen und Bomben" sind sich einig, daß dem armen Tredup nicht unbedingt die Fähigkeit zum Schreiben fehlt, sondern es fehlt ihm das journalistische Gespür. Bei den meisten anderen journalistischen Helden, die in weiteren Werken der fiktiven Welt annehmen, man könne Schreiben lernen, ist es ähnlich. Damit wird nicht die Fähigkeit, perfekt zu schreiben, zum Indikator für journalistisches Talent, sondern das kaum greif- und definierbare Gespür, der Riecher. Schreiben ist Handwerk. Der Riecher ist Talent. Die große Kreativität des guten Journalisten hat ihre Ursache im Gespür. Und das ist eben angeboren. Die Umschreibungen dieses mystifizierten Gespürs reichen von der Neugierde, vom Stachel im Fleisch bis hin zur angeborenen Unrast, die den journalistischen Helden von frühester Jugend an für den publizistischen Beruf prädestinieren. Bezogen auf die mystischen Elemente und die Uberzeugung, daß die Fähigkeit zum Journalismus angeboren sei, stehen die Journalisten der R E A L I T Ä T den journalistischen Helden der Fiktion um nichts nach. „ Z u m Journalistenberuf gehört angeborenes Publizistenblut, das durch keine Spezialdressur ersetzt werden kann", 1 5 8 behauptet im Jahre 1922 Martin Carbe, damals immerhin Vorsitzender der Vereinigung großstädtischer Zeitungsverleger in Berlin. Doch man braucht nicht so weit in der Vergangenheit zu suchen, um den Begabtenmythos zu finden. Im Jahre 1973 erschienen die Erinnerungen eines der ersten Rundfunkjournalisten, Kurt Krüger-Lorenzen. Auch er fragt nach den Kriterien der journalistischen Begabung: „ U n d wieder einmal stelle ich mir die Frage, in wieweit man zum Reporter .geboren' sein muß. Der Beruf ist nur bis zu einem gewissen Grad erlernbar; natürlich gehört eine möglichst breit gefächerte Bildung dazu . . . Aber was nicht erlernbar und käuflich ist, das sind die ursprünglichen Veranlagungen des Reporters: sein Temperament, sein Einfühlungsvermögen, sein Takt und seine vitale, immer wache Neugier. Ja, beim echten Vollblutreporter kommt noch etwas beinahe Mystisches hinzu: ganz gleich, wo er erscheint — just dort und im selben Augenblick passiert auch etwas! Wie ein Hai, der 100
immer in Bewegung sein muß, gleitet er in den Sog der aktuellen Ereignisse. Es scheint, als ob er geradezu magisch vom Außergewöhnlichen angezogen wird".159 Die Zeitungslehre des Publizistikprofessors Emil Dovifat war verbindlich für Legionen von Redaktionsvolontären auch in Journalistenschulen. In ihr heißt es lapidar: „Die JOURNALISTISCHE BEGABUNG liegt gleich der künstlerischen in der Persönlichkeit. Sie kann durch Studium und Erfahrung zur Entfaltung gebracht werden, ist jedoch nicht anzulernen oder zu erarbeiten".160.Doi>$ii spricht unter dem Abschnitt der Begabung dann erläuternd unter anderem vom „impulsiven Sendungsbewußtsein . . . von Triebkräfte(n) publizistischen Wollens . . . oder aber auch . . . einer allgemein(n) publizistisch(en) Leidenschaft".161 Aber da diese so vage formulierte Begabung weder anzulernen noch zu erarbeiten ist, muß sie bereits vorhanden — vermutlich angeboren — sein. Konkreter formuliert Ernst Müller-Meiningen seinen Begriff von der Begabung. Sie muß auch angeboren sein, denn das journalistische Talent sollte seiner Meinung nach nicht durch ein wissenschaftliches Studium verwässert werden: .Journalistik ist ein BEGABUNGSBERUF, voraussetzend Lebensneugier, Aktivität, Beweglichkeit, Entschlußfähigkeit und vor allem Passioniertheit fürs Metier".162 „Für die Tätigkeit des Journalisten ist zwar eine gewisse Ausbildung durchaus erwünscht, doch . . . entscheidend für das Unterkommen und den Erfolg im Journalismus sind weder Zeugnisse noch Diplome, sondern allein die Begabung für diesen Beruf",163 suggeriert Heinz Bäuerlein den Lesern seines Buches, das er „als Ausbildungshilfe"164 verstanden wissen möchte. Auch die größte Standesorganisation der Journalisten in Deutschland, der DJV, sang bis vor kurzem noch das hohe Lied von der Begabung. Bis 1978 galt ein Berufsbild, das neben „Allgemeinbildung, Lebenserfahrung, Charakterfestigkeit... vor allem die Begabung zu allgemeinverständlicher Aussage"165 voraussetzte. In den diesem Berufsbild beigefügten Erläuterungen heißt es dann sehr deutlich: „Solche Tätigkeit setzt eine spezifische Begabung voraus, die vorhanden sein muß und nicht erlernbar ist, aber auch ständig weiterentwickelt werden soll".166 Wann immer sich publizistisch besonders engagierte Autoren — zu jenen dürften die Memoirenschreiber und Standespolitiker gehören — zu den Berufsvoraussetzungen äußern, wären Bücher zu füllen mit Zitaten, die alle mehr oder weniger verklärt von der journalistischen Begabung sprechen. Uneinigkeit herrscht über die konstituierenden Variablen der Begabung. Sie bleibt in ihrem Konglomerat von Instinkt, Fingerspitzengefühl, Inspiration, Sendungsbewußtsein, Beweglichkeit, Lebensneugier oder Kreativität stets Mystik. Einigkeit herrscht über den Ursprung. Begabung ist angeboren, in die Wiege gelegt, also nicht zu lernen. Im Gegenteil: durch ein Zuviel zum Beispiel an akademischer Ausbildung wird sie sogar bedroht. Das journalistische Fußvolk — gemeint ist hier der jeweils repräsentative Durchschnitt der befragten Publizisten in empirischen Untersuchungen — beurteilt die Frage etwas differenzierter. Jürgen Prott stellt eine „zunehmende Verunsicherung der Begabungsideologie"167 fest, wenn er darauf verweist, daß über die Hälfte seiner Interviewpartner den Beruf uneingeschränkt oder überwiegend für erlernbar halten. Nur noch knapp 50 % halten ihn überwiegend oder überhaupt nicht für erlernbar. Unter ihnen befinden sich die Journalisten mit der längsten Berufserfahrung. Auch im Autorenreport von Fohrbeck/Wiesand sind es primär die älteren Journalisten, die noch am mystischen Begabungsbegriff festhalten. Knapp die Hälfte aller befragten Journalisten glauben daran.168 101
In der Untersuchung von Hans Heinz Fabris sprechen sogar nur noch vier der 30 Befragten von einem gewissen Instinkt, dem Gespür für Meldungen, der zu den Berufsvoraussetzungen gehöre."9 Ahnlich skeptisch beurteilen Berufsanfänger diese Frage. Von 151 befragten Bewerbern zur Deutschen Journalistenschule in München vertraten im Jahre 1971 nur noch 3 % die These, daß für einen Erfolg im Journalismus die angeborene Begabung ausschlaggebend ist.170 Ob nun das erwähnte „Fußvolk" der Journalisten immer schon etwas weniger an das Primat der Begabung glaubte, ist nicht verbindlich festzustellen. Die Tatsache aber, daß vor allem die älteren Journalisten noch am häufigsten das angeborene Talent voraussetzen, läßt eher darauf schließen, daß sich zumindest bei den jüngeren Publizisten ein Meinungswandel ankündigt, der das Berufsbild entmystifiziert. Der Deutsche Journalistenverband trug diesem Wandel radikal Rechnung. Im neuen Berufsbild des DJV kommt der Begriff der „Begabung" überhaupt nicht mehr vor. Der bisherige Anspruch wird ins Gegenteil verkehrt: „Die Eignung zum Journalistenberuf wird durch erlernbare Fähigkeiten und persönliche Eigenschaften bestimmt".171 Bis zur Gegenwart also waren die Auffassungen der journalistischen Helden in Werken der fiktiven Welt bezüglich des angeborenen Talents mit der Auffassung von Journalisten der REALITÄT fast deckungsgleich. Für journalistische Helden wie für tatsächlich lebende Journalisten galt überwiegend der Grundsatz, daß die Kunst des Schreibens allein nicht ausreicht, den guten Journalisten zu bestimmen. Schreiben kann man lernen. Hinzu kommt die Begabung als ein Sammelsurium unterschiedlichster Eigenschaften. Dennoch wird sie zum entscheidenden Indikator positiver beruflicher Einschätzung. Begabung ist angeboren. So wird nur der ein guter Journalist, der immer schon einer war. Die neue Sichtweise in der REALITÄT bezüglich der erlernbaren Fähigkeiten zum Beruf ist noch zu jung, als daß man von einem echten Bewußtseinswandel sprechen könnte. Erst die folgenden Jahre werden zeigen, ob dieser Wandel tatsächlich einen wirklich qualitativen Umschlag des journalistischen Berufsbildes darstellt. 3.5.2 Die Frage nach dem Prototypen: ist Journalismus Dichtkunst oder pragmatisches Handwerk? Drei zusätzliche Variablen konstituieren das journalistische Berufsbild in Werken der fiktiven Welt. Sie sind ausschlaggebend für die Berufszufriedenheit: — Wer ist ein typischer Journalist, ein Prototyp? — Empfindet sich der journalistische Held eher als Dichter mit künstlerischem Anspruch an Inhalt und Form seiner Arbeit, oder als pragmatisch orientierter Schreibhandwerker? — Wer ist mit seinem Beruf am ehesten zufrieden? Die Variablen beziehen sich also auf den Schreibstil, die Etikettierung und die Identifikation mit der Berufsrolle. Uber 60 % der Helden halten sich für einen prototypischen Journalisten, was immer sie im einzelnen darunter verstehen. So ein Prototyp ist zum Beispiel der Redakteur Lynge bei Knut Hamsun. Er „war erfüllt vom hohen Zweck der Presse . . . Nie zuvor hatte seine Feder so glänzende Arbeit verrichtet. Es übertraf alles, was die Stadt an Journalistik gesehen hatte".172 Der hohe Zweck der Presse ist ein berufsethisches Postulat, wird aber nicht näher spezifiziert. Hinzu kommt die offensichtliche Schreib102
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— Die Parteinahme für die Mächtigen hingegen nimmt von Epoche zu Epoche zu. Der höchste Sprung findet zwischen 1919 und 1933 statt. In der „Neuesten Zeit" sympathisieren fast 40 % der journalistischen Helden mit den Mächtigen im Staate. Hier hat sich also ein deutlicher Wandel im journalistischen Berufsbild der Fiktion vollzogen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daran zu erinnern, daß keineswegs alle journalistischen Helden, die vorgeben, im Interesse des Volkes zu arbeiten, dies tatsächlich auch tun. Gerade in der „Neuesten Zeit" sind die Wankelmütigen sehr häufig vertreten. Während ausnahmslos alle journalistischen Helden, die im Interesse der Regierung oder einer ihr nahestehenden Gruppen wirken möchten, in jeder Geschichtsepoche kompromißlos dieses berufsideologische Ziel in die praktische Tat umsetzen, ist es bei den berufsethisch motivierten journalistischen Helden häufig gerade umgekehrt. Sie neigen von Epoche zu Epoche immer mehr dazu, ihre Ziele nur zu äußern, schwenken aber dann meist aus Karrieregründen zum gegnerischen Lager, den Reichen und Mächtigen über. Sind es — wie Teilauszählungen ergaben — in den ersten drei Geschichtsabschnitten rund ein Drittel, die ihre Berufsethik nicht in die Tat umsetzen oder sie gar verraten, so sind es nach kontinuierlichem Ansteigen in der „Neuesten Zeit" bereits 75 %. Berufsethik — hier reduziert auf die Parteinahme zugunsten der Regierten und Besitzlosen — wird offensichtlich immer mehr zum Propagandamittel der Selbstdarstellung degradiert. Berücksichtigt man dann noch die unverhältnismäßig hohe Prozentzahl der journalistischen Helden, die sich in der „Neuesten Zeit" von vornherein auf die Seite des Staates oder eine seiner ihm besonders verbundenen Interessengruppen schlagen, so wird deutlich, daß sich der Journalismus von Geschichtsepoche zu Geschichtsepoche immer mehr zu einer staatserhaltenden Profession verändert. Es ist ein Wandel, der verständlicher wird, wenn man die Entwicklung des journalistischen Berufes in der REALITÄT berücksichtigt. Daß in den Werken der fiktiven Welt nur 10 % der journalistischen Helden während der Epoche „Französische Revolution bis zum Sieg der Reaktion" mit der Regierung sympathisieren und rund 40 % ihre Arbeit mit den Interessen des Volkes verbinden, dürfte seine Ursache in der Rolle der damals tatsächlich existierenden Journalisten als politische Opposition gehabt haben. Vorwiegend die sogenannten „Akademischen Journalisten" bestimmten in dieser Zeit die Presselandschaft. Ihr Engagement für die Ideale der Französischen Revolution waren ja die entscheidenden Auslöser der republikanischen Freiheitsideen gewesen. Hatten sie sich zunächst, ca. ab 1800 für die Abschaffung der Monarchie oder zumindest für eine konstituelle Monarchie eingesetzt, so führten Unruhen der Dreißiger Jahre und die mißlungene Revolution von 1848, staatliche Pressezensur und persönliche Verfolgung zunehmend zur Resignation. Zudem waren sich die „Akademischen Journalisten" der Tatsache sehr wohl bewußt, daß Unruhen und Revolution primär gebildete Kreise erfaßt hatten. Das Volk, geprägt von Analphabetismus und unzureichender politischer Bildung, hatte ihnen hingegen nicht folgen können. Die „Akademischen Journalisten" waren vorwiegend hochgebildete Intellektuelle aus den oberen Gesellschaftsschichten gewesen. Sie strebten zwar eine vom Volk gewählte Regierung an, aber nie eine echte Volksherrschaft. Letztlich war ihnen die Möglichkeit, daß ungebildete, besitzlose und einfache Menschen die Herrschaft ausüben sollten, ebenso suspekt wie der Absolutismus der regierenden Fürsten. So wird auch erklärlich, daß vor 143
allem nach dem Scheitern der Oppositionsbewegungen zahlreiche „Akademische Journalisten" ihren Beruf nur noch als Bildungsaufgabe sahen. Es galt, das Volk aufzuklären und vorzubereiten für demokratische, bessere Jahre. Dieser Bildungsauftrag bedingte einerseits eine parteiliche Stellungnahme im Interesse des Volkes, andererseits aber auch — nach den Niederlagen im Kampf gegen die Staatsgewalt und der fehlenden Gefolgschaft des Volkes — den frustrierten Rückzug auf kulturelle Werte. Die Presse war nach dem Sieg der Reaktion machtlos geworden. In den Werken der fiktiven Welt stellen jene journalistischen Helden, die ihren Beruf als unparteiische Vermittlungsfunktion auffassen, im ersten Geschichtsabschnitt daher die größte Gruppe. In der folgenden Geschichtsepoche, „II. Deutsches Reich bis zum Ende des Weltkrieg I.", erscheinen fiktive Werke, in denen die journalistischen Helden offensichtlich annähernd dieselbe Auffassung von der Vermittlungsfunktion ihres Berufes haben. Nur fällt auf, daß die Zahl derer, die unparteiisch wirken wollen, im selben Maße abnimmt, wie die Zahl jener, die für die Regierung arbeiten, zunimmt. Zwar sind es nur 5 %, aber die Veränderung der Berufsauffassung kündigt sich an. Für die REALITÄT wurde bereits darauf hingewiesen, daß in diesen Jahren erst die tatsächliche Entwicklung des Journalismus begann. Waren die Akademiker der ersten Geschichtsepoche überwiegend noch eine Art Hobby-Journalisten gewesen, die keineswegs in diesem Beruf ihre einzige Existenzmöglichkeit zu sehen brauchten, so gab es nunmehr die ersten Berufsvertreter, die ausschließlich vom Journalismus leben wollten oder mußten. Die Entwicklung des Journalismus vom Neben- zum Hauptberuf vollzog sich zunehmend, allerdings mit all den Nachteilen, die jedem neu entstehenden Hauptberuf zunächst anhaften: die Tätigkeit war verbunden mit äußerst geringem Sozialstatus und mit ebenso geringer Bezahlung. Trotzdem gab es sowohl bei den anspruchsvollen Tageszeitungen der Meinungs- oder Gesinnungspresse und vor allem bei der gerade geborenen Generalanzeigerpresse für Spitzenkräfte bereits akzeptable Gehälter. Die Masse der durchschnittlichen Journalisten aber litt unter Geldnot und gesellschaftlicher Unterbewertung. Es war zudem jene Zeit, in der die Gesinnungspresse ihren ersten Rang im Publikumserfolg an die Generalanzeigerpresse langsam, aber kontinuierlich abtreten mußte. In den Werken der fiktiven Welt sind vor allem bei der unpolitischen Generalanzeigerpresse jene journalistischen Helden zu finden, die aus Karrieregründen mit den Mächten des Staates kollaborieren. Zugleich sind in dieser Epoche die ersten journalistischen Helden zu registrieren, die zwar vorgeben, im Interesse des Volkes zu arbeiten, in der Praxis aber seine Gegner bevorzugen. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird hier erstmals deutlich. Wankelmütigkeit und Opportunismus der journalistischen Helden werden von den Autoren der fiktiven Werke bitter beklagt. Doch auch bei den journalistischen Helden sind im Kontext der fiktiven Handlungen die psychologischen und sozialen Ursachen für diese Haltung zu finden. Ursachen, die im übrigen für die REALITÄT den Journalismus dieser Jahre als eine Tätigkeit ausweisen, die noch von sozialer Unsicherheit und geringem Sozialstatus geprägt ist. Zum einen gab es in der REALITÄT das leuchtende Beispiel einer ehrlichen politischen Opposition vor allem aus der Frühgeschichte der Presse. Das Volk hatte die Ziele der politisch motivierten Journalisten zwar nicht praktisch nachvollzogen, es hatte jedoch begriffen, daß es bei dieser Opposition auch um seine Zukunft ging. So galten gerade jene unbeugsamen „Akademischen Journalisten" als Avantgarde der politischen Opposition. Wen wundert es, daß 50 Jahre später andere Journalisten die144
selben Ziele auf ihr Banner schrieben? Nur hatte sich in diesen Jahren einiges verändert. Zum einen wandelten sich die Zeitungen und Zeitschriften von unrentablen „Steckenpferden der Geldaristokratie"329 zu profitablen Großunternehmen, die primär unter den ökonomischen Gesichtspunkten eines kapitalistischen Wirtschaftsbetriebes geführt wurden. Zum anderen hinderten staatliche Zensur und die Notwendigkeit der Existenzsicherung ausschließlich durch den publizistischen Beruf viele Journalisten der Jahre nach 1870 an der praktischen Konsequenz. Ein weiterer Grund dürfte in den Ängsten der Auf- oder Absteiger zu finden sein, in diesem neuen Hauptberuf von einer der beiden wichtigen Parteien, Staat oder Volk, abgelehnt zu werden. Statusunsicher und beherrscht von existenzieller Sorge arrangierte man sich mit beiden Gruppen, stellte gewissermaßen die einen theoretisch, die anderen praktisch zufrieden. Folgerichtig kommen in Werken der fiktiven Welt, die ab 1871 bis 1918 erschienen, daher immer häufiger journalistische Helden vor, die sich im permanenten Interessenkonflikt zwischen Sendungsbewußtsein und Staatsraison befinden, aber auch jene journalistischen Helden, die das Sendungsbewußtsein nur noch vorgeben. Häufig den untersten Schichten entstammend, versuchten die journalistischen Helden um jeden Preis, ihre mühsam erkämpfte Position zu halten. Die konnten sie aber nur halten, wenn sie nicht auf die Seite der Verlierer gerieten. Zwar hatten auch sie zunächst politische Ideale, ordneten sie jedoch ihrem großen Ziel, endlich aus der anonymen Masse herauszukommen und den neuen Status als beachtetes — wenn auch nicht immer geachtetes — Gesellschaftsmitglied zu behalten, unter. Jede Niederlage in ihrem Beruf ist für die journalistischen Helden dieser Zeit gleichbedeutend mit persönlichem Versagen. Jedes persönliche Versagen zog den sozialen Abstieg nach sich. Für das verletzliche Selbstbewußtsein des Aufsteigers war der Vorwurf von Opportunismus oder Charakterlosigkeit weniger blamabel, als das Scheitern des Traumes vom Statusaufstieg dank der beruflichen Karriere. So hat zum Beispiel der Redakteur Lynge „während all der Jahre wie ein Sklave gearbeitet, hatte seine besten Kräfte für diese Menschen aus dem Volk eingesetzt. Es war nicht mehr der Mühe wert, beständig wurde es mit allgemeiner Rohheit vergolten".330 „Aber so war es überall. Keine Bildung, kein Adel, nur Gemeinheit, so weit ' er sah. Konnte er nicht Abhilfe schaffen?"331 Lynges Grundsätze weichen sehr rasch der Sucht nach Anerkennung. Er beginnt, die einfachen Menschen zu verachten und mischt sich in die hohe Politik ein. Doch er ist bereits korrumpiert. Als er merkt, daß er sich für die falsche Partei engagiert hat, unterstützt er sofort die andere, potentielle Regierungspartei. Er verrät seine Freunde und schockiert die gesamte Stadt. Seine Charakterlosigkeit bringt ihm zwar zeitweise auch Mißerfolge ein. Aber jedesmal vollzieht er einen Meinungswandel, ist wieder oben auf. „Lynge rieb sich über diese neuen Siege zufrieden die Hände; solche Coups hatten etwas Verführerisches für i h n . . . Und ihn wollte man stürzen? Nimmermehr! Nimmermehr!"332 Dieser Roman von Knut Hamsun erschien erstmals 1898. Gerade die psychologischen Hintergründe der Aufsteiger werden vor allem in Werken ab Ende des 19. Jahrhunderts von den Autoren ziemlich synchron dargestellt. Gemessen am historischen Kontext scheinen sie ein Spiegel der REALITÄT zu sein. Das gleiche gilt auch für die journalistischen Helden, die als soziale Absteiger im Journalismus landeten. Immer wieder wird beschrieben, daß für sie der Journalismus die letzte Möglichkeit überhaupt war, es im Leben noch zu etwas zu bringen. Ein 145
Scheitern auch in diesem Beruf hätte einen Statusabsturz in die Unterschicht nach sich gezogen. So galten auch diese journalistischen Helden lieber als charakterlos, denn als erfolglos. Wer aber sichtbar mit der Staatsgewalt kollaborierte, wie die berufsideologisch motivierten journalistischen Helden, kam selten in Verlegenheit, beruflich zu scheitern. Regierende und ihnen nahestehende Gruppen wußten auch in den Werken der fiktiven Welt die journalistischen Dienste sehr wohl zu schätzen und honorierten sie mit statusmäßiger Aufwertung, Geld und damit verbunden mit sozialer Sicherheit. Abgesehen von den wenigen von ihrer politischen Mission überzeugten konservativen journalistischen Helden, waren die sogenannten Hofberichterstatter oder die Generalanzeigerjournalisten überwiegend völlig unpolitisch. Es ging diesen journalistischen Helden bei der Berufsausübung nicht um ein kollektives Anliegen, sondern um das eigennützige Ziel der Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung. Wer sich gar nicht erst für eine der beiden Gruppen, Regierung oder Volk, engagierte, brauchte gleichfalls keine Angst um den Arbeitsplatz zu haben. Daß auch bis zum Ende des Weltkrieg I. die Gruppe der unparteiischen journalistischen Helden mit 40 % noch relativ groß ist, dürfte daher einerseits in der erwähnten Resignation und andererseits in der Angst um Status und Existenz seine Ursache haben. Bleibt noch zu fragen, warum bereits im II. Deutschen Reich einige journalistische Helden es nötig hatten, das angebliche Wohl des Volkes zu betonen, obwohl sie in der Praxis gegen seine Interessen handelten. Verschiedene Gründe dürften dabei eine Rolle gespielt haben. U m sie zu erklären, ist erneut ein Blick in die R E A L I T Ä T , in die historische Entwicklung des journalistischen Berufes notwendig. Wie unsicher trotz des Aufkommens der Massenpresse auch in der R E A L I T Ä T der journalistische Beruf noch mindestens bis 1919 war, wurde bereits angeführt. Es ist davon auszugehen, daß die Darstellungen in den fiktiven Werken ein ziemlich genaues Bild von der psychologischen und sozialen Situation eines sich etablierenden Hauptberufes vermitteln. Ein weiterer Grund dürfte sein, daß aufgrund der pressegeschichtlichen Vergangenheit vor allem auf dem Gebiet des Meinungsjournalismus ein deklariertes Votum für die Interessen des Volkes die journalistische Tätigkeit in der R E A L I T Ä T rechtfertigte. Der politische Anspruch war also auch etwas nostalgische Wehmut, vor allem dort, wo die Journalisten um 1900 längst wußten, daß derartige Bestrebungen keine unmittelbaren, sichtbaren Erfolge brachten. 333 Schließlich war es eine Zeit, in der die Reaktion gesiegt hatte und die wirklich oppositionellen Parteizeitungen und Bewegungen mit unterschiedlicher Intensität immer wieder staatlichen Verfolgungen unterworfen waren. Stärker als je zuvor lernten die Journalisten der R E A L I T Ä T mit der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu leben. Hätten sie jene Diskrepanz jedoch zugegeben, hätte vielen die Rechtfertigung gefehlt, sich diesem Beruf zu verschreiben. Zugleich hätte ein Bekenntnis, daß sie ihn nur ergriffen haben, um sich selbst zu verwirklichen oder einen angemessenen gesellschaftlichen Status zu erreichen, den Journalismus zu einem normalen Job degradiert, was angesichts der berufsethischen Vorlagen wiederum einen Prestigeverlust bedeutet hätte. Dadurch wäre auch die Glaubwürdigkeit ihrer Zeitungsartikel erschüttert worden. Wer glaubt schon einem Berufsvertreter, der zugibt, ausschließlich aus eigennützigen Motiven zu arbeiten, daß er politisch unbestechlich und moralisch integer ist? So entstand aus einer Mischung von politischem Kalkül, Nostalgie, Frustration und Illusion die große Selbsttäuschung von der gesellschaftlichen Relevanz eines politisch motivierten Journalismus. Sie war gekoppelt mit dem Bedürfnis, anstelle der tat146
sächlichen Handlungsmotive berufsethische Postulate zu formulieren. Was sehr viel später in den soziologischen Theorien als „kognitive Dissonanz" bezeichnet wurde, ist hier bereits sichtbar: aus der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird eine Rechtfertigungsideologie geschaffen, die den theoretischen Uberbau gerade dort überhöht, wo für praktisches Handeln kein Raum mehr ist. Folgerichtig treten daher auch in den Werken der fiktiven Welt — als Spiegelbild der R E A L I T Ä T — journalistische Helden auf, die das psychologische Dilemma und die persönliche Tragödie des Widerspruches zwischen Anspruch und Wirklichkeit in unterschiedlichen Formen demonstrieren. Für die Geschichtsepoche „Weimarer Republik bis Ende des Weltkrieg II." fällt vor allem auf, daß der Anteil jener journalistischen Helden, die mit der Regierung zusammenarbeiten, sprunghaft angestiegen ist. Gleichzeitig fällt auf, daß die Zielgruppen annähernd gleichgewichtig verteilt sind. In der R E A L I T Ä T hatte sich der Wandel zum Hauptberuf inzwischen vollständig vollzogen. Die Generalanzeigerpresse hatte ihren Höhepunkt bereits überschritten. Die politisch orientierten Zeitungen kamen wieder auf, gerade nach einer Zeit des politischen Umsturzes und in Jahren schwerer, teilweise bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen und dem Versuch einer republikanischen Neuorientierung. Der Journalismus der R E A L I T Ä T war nunmehr an allen Fronten zu finden: Unterhaltungsjournalismus, Meinungsjournalismus in jeder Richtung und anspruchsvoller Bildungsjournalismus. Jede Zeitungsart — ob Unterhaltungspresse oder Propagandagazette — hatte ihre großen Journalisten. Ihre finanzielle Situation verbesserte sich in diesen Jahren übrigens rascher als ihr sozialer Status. Immer noch galt der Journalismus — vermutlich durch den nach allen Seiten offenen Zugang — als Beruf von Leuten, die eigentlch ihren Beruf verfehlt hatten. Bezogen auf die Werke der fiktiven Welt scheint die Weimarer Republik einen Wendepunkt im journalistischen Berufsbild darzustellen. Gleichmäßig wie noch nie und im übrigen wie nie wieder, werden die drei Zielgruppen journalistischer Berufsausübung dargestellt, also die Möglichkeit unparteiisch, für das Volk oder für die Mächtigen zu schreiben. Der qualitative Umschlag im Sinne einer Polarisierung erfolgt bereits im Nationalsozialismus. Obgleich die wenigen fiktiven Werke, die in diesen Jahren erschienen, aufgrund der politischen Zensur nur mit Vorbehalt zu betrachten wären, wird deutlich, daß in dieser Zeit die erwähnte Tendenzwende endgültig vollzogen wird: eine gezielte Parteilichkeit der journalistischen Helden überwiegt jetzt sehr deutlich. Die Sympathie für die Regierungskreise bleibt annähernd gleich. Für die Regierung zu sein, bedeutete übrigens auch im Nationalsozialismus gegen das Volk zu sein, denn in Werken der fiktiven Welt dieser Zeit wird meistens die marode Weimarer Republik behandelt. Die journalistischen Helden werden hier zu negativ bewerteten Opportunisten, die aus Karrieregründen die Interessen des Volkes verraten. Also wieder das gleiche Bild: der statusunsichere journalistische Held verstößt gegen berufsethische Grundsätze, um seine Karriere zu sichern und dadurch in der Gesellschaft anerkannt zu werden. Im Interesse des Volkes zu arbeiten, artikulieren in der „Neuesten Zeit" fast die Hälfte aller journalistischen Helden. Aber inzwischen sind es fast 75 % aus dieser Gruppe, die ihre Sympathie nur vortäuschen. Die wertneutralen journalistischen Helden sind hingegen kaum noch vertreten. Zugleich wird der Opportunismus mit den Mächtigen zum System. Rund 40 % der journalistischen Helden lehnen jedes Be147
rufsethos ab und bekennen sich offen zu ihrer Sympathie für die Regierung oder eine der Lobbygruppen. Dem journalistischen Helden aus dieser Kategorie fehlt es in den seltensten Fällen an Geld, aber immer an gesellschaftlicher Anerkennung. Besonders in dieser Zeit — da entfernt sich die Fiktion von der REALITÄT — stammt er aus niederen sozialen Schichten. Auch gestrauchelte Versager aus dem höheren Bürgertum sind mitunter anzutreffen. Speziell diese 38 % journalistischer Helden stellen einen Berufsbildtyp dar, der praktisch eine Kombination zwischen meinungslosen Generalanzeigerjournalisten und den ehemaligen „Hofberichterstattern" ist: originell, begabt, unkonventionell einerseits, aber auch obrigkeitshörig, charakterlos, bestechlich und opportunistisch andererseits. Offensichtlich dominiert auch in der Gegenwart eine große Statusunsicherheit bezüglich des journalistischen Berufes. Auffallend ist überdies bei diesen journalistischen Helden der Neuesten Zeit, daß es ihnen bei ihrem permanenten Kampf, in dem sie sich gegen alle Kräfte ihrer Gesellschaft zu befinden glauben, meistens um eine Spitzenposition im Journalismus geht, weniger um ihr Verbleiben im Beruf überhaupt. Der Beruf ist inzwischen etabliert, aber jeder einzelne journalistische Held hat höhere Ziele als diesen Beruf: er möchte teilhaben an der Macht. Gewissermaßen als „cultural lag" formuliert er vereinzelt noch berufsethische Grundsätze, aber er nimmt sie selbst nicht ernst. Sie dienen ausschließlich der Propaganda zu Karrierezwecken. Da ist zum Beispiel der journalistische Held Merz. Er will Leiter der Tagesschau werden. Vor einigen Wochen war er in Ungnade gefallen, weil er sich a-politisch gab. Nun setzt er sich flexibel mit berufsethischen Argumenten für eine Politisierung der Sendung ein. „Ein kleiner . . . unbedeutender Richtungswechsel, der heute von Nutzen und morgen überflüssig sein kann, dann nämlich, wenn er genügend Einfluß gewonnen hat, um eine eigene Meinung zu vertreten . . . Jetzt wäre die Gelegenheit da, ihm, Merz, eine erste Position zu schaffen . . . Du wirst auf beiden Klavieren gleichzeitig spielen . . . Heuschka (den Vorgesetzten von Merz) fängst du ganz zufällig morgens oder abends auf dem Parkplatz oder im Lift ab. Bringst dich immer wieder in Erinnerung, spielst den selbstsicheren Freund, der ein Anrecht darauf hat, nun endlich den Platz, der dir gebührt, zugewiesen zu b e k o m m e n . . . Erzählst ganz nebenbei, wer wo, warum und in welcher Weise etwas über ihn (den Vorgesetzten) gesagt habe . . . Das könnte dich unentbehrlich machen. Bei all diesen Aktionen ist dir die kleine Sekretärin Schatz eine wertvolle Hilfe, Zuträgerin . . . solange du . . . ihre angenehm spärlichen Sexbedürfnisse befriedigst".334 Diese 38 % journalistischen Helden, die ihre Arbeit auf die Belange der Mächtigen ausrichten, sind die prototypischen „Emporkömmlinge", die aktuelle Variante des journalistischen Berufsbildes in Werken der fiktiven Welt. Sie hassen alles, was sie auf ihrem Weg nach oben behindert. Sie lehnen das Volk als blöde Masse ab, die man beliebig verführen kann. Sie selbst haben sich längst aus der Anonymität des Volkes erhoben, herrschen zusammen mit der Regierung und den Lobbygruppen über die stumpfen Massen. Sie haben die Ziele der Mächtigen so internalisiert, daß sie sich eins mit ihr fühlen: der journalistische Held IST Teil der Regierung, er ist die Macht. Der neuartige Journalistentyp in Werken der fiktiven Welt wird gezwungen „Informationen zu verschleiern, um die Meinungsbildung des Zuschauers im Sinne der Interessengruppen, die ihm sein Einkommen sichern, zu beeinflussen . . . Korruption am Arbeitsplatz . . . Journalismus, der nicht informiert, sondern Meinungsmache betreibt . . . nicht erklärt, sondern verschleiert. (Stattdessen) Brot und Spiel und kleine 148
blutige Grausamkeiten auf dem Bildschirm, zur Unterhaltung des Publikums. Die große weite Welt pastellgetönt ins Wohnzimmer geholt, damit Freude und Zufriedenheit einkehrt, damit der reibungslose Ablauf des nächsten Arbeitstages an den Förderbändern unserer Nation gesichert ist. Eine ganz große Manipulation des menschlichen Gehirns".335 Der journalistische Held Merz, der hier ein Selbstgespräch führt, sieht alles glasklar. Er weiß um alle Bedingungen, die erfüllt werden müssen, um eine erfolgreiche Karriere zu machen. Er spürt auch ein Unbehagen über diesen Weg, aber es gibt nur einen Weg, der zum Erfolg führt: „Rücksichtslos gegenüber deiner Umwelt, dieser Umwelt, die auch keine Rücksicht auf dich nimmt. Bedürfnisbefriedigung, das ist deine Parole. Immer obenauf schwimmen. Fettauge in der Suppe".336 Ein neuer Berufsbildtyp des negativen Helden ist weniger deutlich zu umreißen. Das könnte daran liegen, daß berufsspezifische und persönliche Eigenschaften, die einst primär den negativen Helden charakterisierten, nunmehr umbewertet als Positivum gelten: beim positiven Helden des neuen Berufsbildtyps kann Qualitätsmerkmal sein, wenn er zum Beispiel korrupt ist. Zeigt sich doch damit ein Mensch, der alle Schliche zum Erfolg kennt. Er darf auch politisch wankelmütig und opportunistisch sein, zeugt es doch von Intelligenz und beruflichem Uberlebenspragmatismus: wer weiß heute schon, wer morgen an der Macht ist? Arrangiert sich der „Emporkömmling" gleich mit der Regierung oder anderen mächtigen Gruppen, gilt er als Realist, der weiß, worauf es ankommt. Spricht er zwar zugunsten des Volkes, handelt aber stattdessen für die Regierung, ist es gleichfalls positiv, denn das Volk will betrogen werden. Nur der Listige, Gerissene bleibt Sieger. Immer deutlicher wird allein durch diese Beispiele, daß vor allem positiv ist, was der individuellen Karriere nützt, daß positiv wurde, was einst als negativ galt. Für die Merkmale eines negativen Helden bleibt beim aktuellen Berufsbild kaum noch etwas übrig. Nach wie vor ist es vor allem der unbegabte, unfähige journalistische Held, der negativ bewertet wird. Ein solcher negativer Held vom alten Berufsbildtyp des „Abhängigen" ist zum Beispiel noch Leporello, der als ebenso sozial abhängige wie niederträchtige und journalistisch unfähige Kreatur des Redakteur Lynge dargestellt wird: „Dieser Mann, ein Journalist ohne Anstellung, der nie etwas schreibt... Er hat nichts bei dem Blatte zu tun, er hat keine andere Beschäftigung als die, auf einem Stuhl zu sitzen und einen Platz einzunehmen. Er spricht nicht, ohne gefragt zu werden und selbst dann sucht er nach den armseligsten Worten. Der Mann ist eine prächtige Mischung von Dummheit und Gutmütigkeit, ein Mann, der kaltblütig aus Faulheit und liebenswürdig aus Not ist".337 Dem historischen Berufsbild vom negativen Helden entspricht, daß er sozial abhängig, unbegabt und glücklos ist. Dem neuen Berufsbild vom negativen Helden entspricht, daß er zusätzlich als charakterlich mies, meinungslos, intrigant, dreist, überheblich und — als journalistisch begabt gilt. In diesem aktuellen Berufsbildtyp, der übrigens kaum in Werken der fiktiven Welt auftritt, vereinigen sich alle schlechten Eigenschaften, die Journalisten möglich sind. In seinen Auswirkungen ist er — schon weil er begabt ist — verheerend. Er wird daher als „Schädling" bezeichnet. Bei ihm werden all die Merkmale, die sonst in der „Neuesten Zeit" als Positivum gelten, negativ beschrieben. Erst die Summe aller negativen Eigenschaften und das Fehlen jedweder positiven Einschätzung seiner Merkmale machen ihn zum „Schädling". Der Reporter Werner Tötges in Heinrich Bolls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum" ist so ein negativer journalistischer Held vom neuen Typ. Bei 149
ihm gibt es absolut nichts, was für ihn spricht, keine Figur im Rahmen der fiktiven Handlung, die auch nur eine gute Seite an ihm entdeckt. Er ist fast schon ein Klischee des Klischees vom bösen Menschen schlechthin. Was dem Tötges negativ ausgelegt wird, weil er eben absolut nichts Gutes an sich hat, wird den positiven Helden zugute gehalten: die List, der Witz, die geistige Flexibilität bei der Wahl neuer Themen, die Schlitzohrigkeit während der Berichterstattung, die Begabung zu schreiben. Bei Tötges wird die List zur Hinterlist; der Witz zum Zynismus, die Flexibilität zum Kennzeichen von Oberflächlichkeit, die Schlitzohrigkeit zur Gemeinheit und seine journalstische Begabung wird ausschließlich zum Zwecke der Manipulation erfolgreich eingesetzt. Daß soziale Abhängigkeit als Kriterium des negativen Helden moderner Prägung nicht mehr vorkommt, verwundert kaum. Doch daß die Begabung, sonst stets Indikator für positive Helden, nunmehr auch die negativen „Schädlinge" auszeichnet, ist schon bemerkenswert. Berufsspezifisch ist der negative Held des aktuellen Typs also kaum noch zu identifizieren. Seine Charakteristika könnten für alle negativen Helden der fiktiven Welt gelten. Deutlich und berufsspezifisch ist hingegen der Wandel des positiven Helden vom „Unabhängigen" zum „Emporkömmling". Sehr langsam zwar, aber kontinuierlich, nimmt er die Rolle des positiven journalistischen Helden in Werken der fiktiven Welt ein. Traten derartige Berufsbiidtypen etwa bis 1930 mitunter noch als negative Gegenspieler zum idealistischen, moralisch völlig integren und berufsethisch motivierten positiven journalistischen Helden auf, so wird etwa ab Ende der Weimarer Republik der „Emporkömmling" der dominante Berufsbildtyp des positiven journalistischen Helden, eines Helden, der diese Gesellschaft und ihre unbarmherigen Bedingungen kennt, der ihr Spiel mitspielt und sich siegreich durchsetzt, sich selbst, nicht etwa seine politischen Ziele. Er hat nämlich entweder keine oder aber er ändert sie täglich. Diese journalistischen Helden heißen beispielsweise Lee,338 Marcello,339 Merz340 oder Alec Barr.341 Vor allem die positiven journalistischen Helden des historischen Berufsbildtyps treten etwa in dem Maße seltener auf, wie der des neuen Berufsbildtyps zunimmt. Aber die guten alten „Unabhängigen" sterben in Werken der fiktiven Welt nicht völlig aus. Hin und wieder sind sie noch zu registrieren, gewissermaßen als Rudimente schöner Idealvorstellungen eines geliebten Traumes. Da gibt es in Torbergs Roman „Die zweite Begegnung" den edlen, hochgebildeten journalistischen Helden Martin, der mit allen Vorstellungen von gutem Journalismus versehen, ausschließlich danach handelt.342 Bernstein und Woodword nennen ihr Drehbuch über die Watergate-Affäre in den USA programmatisch „Die Unbestechlichen" und beschreiben sich selbst damit: trotz aller Aussichten, aufgrund ihrer Recherchen den Job zu verlieren, trotz aller Drohungen und Attentatsankündigungen bleiben die beiden journalistischen Helden unbeirrt der Wahrheit auf der Spur. Sie verfolgen nur ein Ziel: das Volk über die korrupte Oberschicht, über das bestechliche amerikanische Oberhaupt aufzuklären. 343 Der alte Typus des negativen journalistischen Helden ist hingegen fast ausgestorben. Es gibt ihn einfach nicht mehr, den talentlosen, opportunistischen, abhängigen Hungerleider mit den fehlenden journalistischen Instinkten. Und sicher ist dies ebenso kein Zufall, wie das Uberleben einiger positiver Helden alter Prägung. Positive Träume im Sinne von Idealvorstellungen sind dort dauerhafter als Negativklischees, wo dem Traum von der Vollkommenheit noch eine Hoffnung auf Verwirklichung 150
anhaftet. An den berufsethischen Äußerungen heute lebender Journalisten in der REA L I T Ä T läßt sich dies klar ablesen. Zusammenfassend kann also festgestellt werden: die Mehrheit des journalistischen Helden artikuliert, für die Interessen des Volkes zu arbeiten. Innerhalb des Volkes ist ihnen die Gruppe der Armen besonders wichtig. Doch eine von Epoche zu Epoche zunehmende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist festzustellen. Immer seltener wird der berufsethische Anspruch in die praktische Tat umgesetzt. Jene journalistischen Helden, die im Interesse der Mächtigen arbeiten, gelten als machthungrige Parteigänger. Sie wollen auch von ihrem Selbstverständnis her teilhaben an der Macht der Oberschicht. Das Volk ist ihnen suspekt. Ihre berufsideologischen Ansprüche machen den Journalismus zum Instrument ihrer Karrierehoffnungen. Während bei der ersten Gruppe der berufsethische Ansatz das Beste für das Kollektiv anstrebte, dient die Berufsideologie der obrigkeitshörigen journalistischen Helden ausschließlich dem individuellen Wunsch nach sozialem Aufstieg. Emotionslos und relativ praxisbezogen äußern sich jene journalistischen Helden, deren Berufsethos darin besteht, der Wahrheit zu dienen. Der journalistische Held entscheidet von Fall zu Fall, welcher Gruppe im Sinne dieser Wahrheit die Sympathie bei der Berichterstattung gehört. Die Unparteiischen verstehen den Beruf als Transmissionsriemen wichtiger gesellschaftlicher Ereignisse. Ihre eigene Person und Karriere tritt vor dieser Aufgabe zurück. Im Vergleich der einzelnen Geschichtsepochen ist ein deutlicher Wandel zur Parteilichkeit journalistischer Berufsausübung zu registrieren. Stellte in der frühesten Zeit noch der unparteiische journalistische Held die größte Gruppe, so ist er in den fiktiven Werken der Gegenwart die kleinste. Die Sympathie für das Volk nimmt nur geringfügig, das Engagement für die Regierung und ihre Kreise jedoch sprunghaft zu. Während das berufsideologisch untermauerte Engagement für die Regierung grundsätzlich in die Tat umgesetzt wird, nimmt die Bereitschaft der mit dem Volk sympathisierenden journalistischen Helden, berufsethische Ansprüche in die Tat umzusetzen, zunehmend ab. In den letzten beiden Epochen dient Berufsethik überwiegend nur noch der Propaganda zu Karrierezwecken. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird bedauert, aber als berufsspezifisch entschuldigt. Der Berufsbildtyp des idealistischen Fantasten wird zunehmend verdrängt vom Berufsbildtyp des illusionslosen Pragmatikers. Das Schwinden der Berufsethik wird eingeleitet durch die wachsende Gruppe der journalistischen Helden, die diese Ethik nicht mehr in die Tat umsetzen. Die Priorität der Berufsideologie wird vollzogen durch das pragmatische Handeln der Berufsethiker und durch das offene Bekenntnis der Berufsideologen. Der neue Berufsbildtyp, primär eine Mischung aus Generalanzeiger- und Boulevardjournalisten, tritt nach 1900 immer häufiger als journalistischer Held auf. Er wurde der „Emporkömmling" genannt. Ist er zunächst — schon durch seine fehlende Vorbildung — eine Art Antityp zum bisherigen positiven journalistischen Helden alter Prägung, so wandelt sich seine Ausgestaltung von Geschichtsepoche zu Geschichtsepoche. Immer deutlicher konstituiert sich ein neuartiges Berufsbild, das einen modernen Typus journalistischer Helden darstellt. Aus dem einst ausschließlich positiven Helden und dem einst ausschließlich negativen Helden sowie aus Generalanzeigerjournalisten und aus Meinungspublizisten entsteht ein Konglomerat: obgleich politisch wankelmütig oder gesinnungslos, korrupt, obrigkeitshörig oder gar 151
volksschädigend, ist nunmehr positiver Held, wer zugleich ehrgeizig, begabt, listenreich und erfolgsbesessen eine steile Berufskarriere anstrebt. Guter Journalismus wird gleichgesetzt mit Selbstverwirklichung, rücksichtslosem Verhalten gegenüber der Umwelt, illusionsloser Berufsauffassung und der Fähigkeit, von den untersten Sprossen der Gesellschaftshierarchie aufzusteigen in die Nähe der Mächtigen, als deren Teil sich der „Emporkömmling" begreift. Berufsethos wird nur noch selten artikuliert. Dort, wo es vereinzelt noch geschieht, ist es unglaubwürdig. Bedingt durch die Fragwürdigkeit der Berufsethiker und angesichts des Eingeständnisses der Berufsideologen, aus Karrieregründen stets mit den Mächtigen zu sympathisieren, wird der journalistische Held in Werken der fiktiven Welt primär zum Erfüllungsgehilfen der Obrigkeit, der Beruf zum Vehikel individuellen Ehrgeizes. Seine Funktion als Plattform für sozialen Auf- oder Abstieg hat er behalten. Offensichtlich als Reminiszenz hat sich im Gegensatz zum ursprünglichen negativen Helden hingegen vereinzelt noch in fiktiven Werken der Neuesten Zeit weiterhin der klare Berufsbildtyp des früheren positiven Helden erhalten. Aufopferungsbereit, edel, politisch motiviert und begabt, versuchen die „Unabhängigen" weiterhin, kollektive Ziele zum Wohl des Volkes durchzusetzen. Doch wird daran erinnert, daß auch bei den „Unabhängigen" in Werken spätestens nach 1920 das eigennützige Berufsmotiv des Wunsches nach Selbstverwirklichung Priorität hat. Extrem politisch motivierte journalistische Helden treten in Werken nach 1930 kaum noch auf. Ersetzt wird das extreme politische Engagement durch eine berufsethische Globalformel. Es geht um die Wahrheit, das Gute, das Ganze, was immer darunter verstanden wird, konkretisiert werden diese Ansprüche selten. Diese wenigen berufsethisch motivierten journalistischen Helden wiederum treten in der Neuesten Zeit nur noch so selten auf, daß vermutlich nostalgische Wehmut die Quelle ihrer Schöpfer ist. Für die REALITÄT war festgestellt worden, daß sich viele Journalisten zwar mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als links einstuften, daß diese Einstufung jedoch keineswegs verbunden war mit politisch extremen oder radikal oppositionellen Auffassungen. Wenn auch die Anzahl der Parteimitgliedschaften bei Journalisten etwas höher lag, als im Bundesdurchschnitt, so zeigten sich die Journalisten dennoch selten bereit, politisch in diesen Parteien aktiv zu werden, geschweige denn, ihren Journalismus für parteipolitische Ziele einzusetzen. Dessen ungeachtet aber erhoben fast Dreiviertel aller im Autorenreport befragten Journalisten und Publizisten den Anspruch, „Gewissen der Nation bzw. für den Abbau sozialer und politischer Mißstände verantwortlich zu sein".344 Besonders eindrucksvoll formulierte der Intendant des bayerischen Rundfunks im Einleitungswort zum Sommerprogramm 1968 seine berufsethischen Vorstellungen: „Der Bayerische Rundfunk will der publizistischen und kulturellen Verantwortung gerecht werden im Wetteifer um Wahrhaftigkeit, Mitgefühl und Toleranz, in der Bemühung, die Augen für die Wirklichkeit zu öffnen, Menschen verschiedener Ansichten zu befähigen, die Handlungen des anderen kennenzulernen und besser zu verstehen, zur Entwicklung beizutragen, zur Besonnenheit zu helfen, damit das Getöse der politischen Kräfte nicht zur Gefahr werde und wir auch im Augenblick hoher Gefühlsanspannung die Stimme des Widerspruchs ertragen".345 Merkwürdig, wann immer sich Journalisten der REALITÄT zu berufsethischen Postulaten ihrer Profession äußern, werden ihre Aussagen pathetisch und enden in wortgewaltigen Nichtigkeiten. Das blumig geschmückte Wort ersetzt die Inhalte. Bei Alfred Frankenfeld öffnet die Arbeit des Journalisten „Fenster und Türen, sprengt al152
le Mauern des Vorurteils, der Verkennung und Unwissenheit... der Journalist (wird) zum Helfer der menschlichen Gesellschaft. Er stellt die Spalten seiner Zeitung oder seine eigene Person Rat- und Hilfesuchenden zur Verfügung. Er öffnet sie . . . ihren privaten Anschauungen und Kümmernissen".346 Tut er das wirklich? Jürgen Prott bezeichnet jene Gruppe unter den Befragten seiner Untersuchung, die sich mit berufsethischen Vorstellungen den Regierten und Machtlosen widmen wollen, als Minderheit. Wie ein Teil der journalistischen Helden versteht sich auch diese Minderheit der REALITÄT offensichtlich als Anwalt der Armen, Regierten, Machtlosen: „Man muß . . . als Journalist... gerade Minderheiten zu Wort kommen lassen . . . Inhaltlich setzt sich ein guter Journalist für die Lohnabhängigen, Unterprivilegierten ein, die Machtlosen, die keinen publizistischen Apparat in Bewegung setzen können."347 Ein anderer versteht sich als „Anwalt eines mündigen Publikums".348 Hatte sich in den Werken der fiktiven Welt eine Polarisierung im Sinne von Sympathien und Parteilichkeit zunehmend entwickelt, so scheint beim gegenwärtigen Journalismus der REALITÄT genau das Gegenteil der Fall zu sein. Gerade das Berufsbild des unparteiischen Informanten, das in den aktuellen fiktiven Werken fast völlig verschwunden ist, dominiert in der REALITÄT: die Mehrheit der Journalisten scheint sich an dem zu orientieren, was Hans Habe als das „oberste Gesetz für jeden Journalisten"349 bezeichnet: „Objektive Berichterstattung".350 Weiter heißt es bei Habe: „Es ist eine akzeptierte Regel, daß sich der Journalist seine Meinung nicht von Behörden und Wirtschaftsinteressen, von Inserenten etwa, vorschreiben läßt. Er sollte sie sich auch nicht vom Publikum vorschreiben lassen".351 Habe meint mit diesem obersten Gesetz allerdings keineswegs einen meinungslosen, sondern lediglich einen objektiven Journalismus. Eine von subjektiven Werteinstellungen unbeeinflußte Information hält er für irreal. Doch die Mehrheit der in den angeführten empirischen Untersuchungen befragten Journalisten verstehen im Gegensatz dazu ihren Beruf als Verpflichtung zur absoluten Wertfreiheit und Meinungslosigkeit. 77 % der von Weischenberg befragten Sportjournalisten sahen sich in der Rolle des wertfreien Informanten, weitere 21% wollten immerhin primär kritisch informieren.352 Weischenberg spricht in diesem Zusammenhang sogar vom „Fetisch der wertfreien Information".353 Die Hauptaufgabe in ihrem Beruf sahen auch die von Fabris befragten Journalisten in ihrer Rolle des „objektiven Berichterstatters und Informators".354 An zweiter Stelle folgte wie bei Weischenberg die kritische Aufdeckung von Mißständen. Mit zahlenmäßig nur noch äußerst geringer Häufigkeit folgte dann die Zielvorstellung, als Berater und Helfer der Leser tätig zu werden.355 Bei den von Prott befragten Journalisten dominiert gleichfalls die „Vorstellung, daß der ein vorbildlicher Journalist ist, wer sorgfältig zu trennen versteht zwischen politischer Parteinahme und beruflicher Tätigkeit".356 Der gute Journalist muß sogar — wie es einer der Befragten formulierte — „seine eigenen Uberzeugungen zugunsten des Bemühens um Objektivität und Fairneß zurückstellen können".357 Ausgehend davon, daß der eben zitierte Redakteur seine eigenen Uberzeugungen nicht auf Falschinformationen oder Verblendung aufbaut, kann dieser Satz nur bedeuten, daß er zwar Sympathien für irgendeine Gruppe empfindet, sie aber keineswegs in seine Artikel einfließen läßt. Hatten die unparteiischen journalistischen Helden in Werken der fiktiven Welt häufig eine Parteinahme nicht ausgeschlossen, diese aber nicht von einer gleichbleibenden Gruppe abhängig gemacht, so scheint die moderne Berufsbildauffassung der 153
REALITÄT mehrheitlich darin zu bestehen, überhaupt nicht mehr Partei zu ergreifen, eigene Meinungen zu äußern, spezifische Gruppen zu unterstützen. Die in den Werken der fiktiven Welt am häufigsten genannte — wenn auch nicht immer praktisch durchgeführte — Parteilichkeit zugunsten des Volkes oder eine seiner Gruppen ist den Journalisten der REALITÄT also keineswegs oberstes Berufsziel. Die Parteilichkeit zugunsten der Regierung oder einer ihr besonders verbundenen Gruppen — von den journalistischen Helden der Fiktion in der Theorie zunehmend und zuletzt in der Praxis sogar überwiegend praktiziert — wird von den Journalisten der REALITÄT kaum erwähnt. Aber das war nicht immer so. 1933 schrieb Alfred Frankenfeld: die Presse „hilft dem Staat... sie ist Sprachrohr dieser Verantwortlichen, deren Willen und Wirken sie ungezählten Millionen verdolmetscht".358 Diese Zeilen erschienen in einer Zeit, in der sich viele Journalisten aktiv mit den Zielen des Nationalsozialismus identifizierten. Es scheint unvorstellbar, daß ein Journalist der REALITÄT heute offen artikulieren würde, sich in erster Linie grundsätzlich für die Belange der Mächtigen einzusetzen. Unvorstellbar auch, daß er ein derartiges Bekenntnis berufsideologisch untermauern würde. Doch Hochmut ist nicht angebracht. In der Praxis scheint die Bevorzugung dieser Zielgruppe häufiger stattzufinden, als es vor allem journalistischen Berufsethikern lieb sein dürfte. Auf die beredten Klagen über den häufig zur Hofberichterstattung erstarrten Lokaljournalismus wurde im Abschnitt „Politik und Beruf" bereits hingewiesen. Ulrich Lohmar beschwor während eines Fortbildungsseminars für Journalisten, Tageszeitungen nicht zu Sprachrohren der Verwaltung zu degradieren. Der mündige Leser bedürfe „nicht des journalistischen Amtsboten, sondern des bürgernahen Reporters".359 Rüdiger Matt zitiert in seinem Bericht über das Fortbildungsseminar aus einer Untersuchung der Arbeitsgruppe Soziale Infrastruktur Frankfurt. Grundlage der Untersuchung waren Inhaltsanalysen von Tageszeitungen, Interviews mit Kommunalpolitikern und Leserumfragen in fünf bundesdeutschen Städten gewesen. Deutlich wurde, „daß Journalisten ihre Arbeit offenkundig mehr an Bedürfnissen von Eliten als jenen verschiedenster anderer Bevölkerungsgruppen ausrichten".360 „Der Publizist, der sich den eisernen Ketten der Staatsraison entronnen glaubte, wurde an die goldene Kette der wirtschaftlichen und politischen Interessen gelegt",361 vermerkt Kurt Koszyk. Es ist festgestellt worden, daß mit der Entstehung des neuen Berufsbildes in Werken der fiktiven Welt keineswegs die Wiedergeburt des Meinungsjournalismus im Sinne einer konsequent verfolgten politischen Mission verbunden war. Zugleich wurde aber registriert, daß sehr wohl der Beruf im Sinne von Parteinahme eingesetzt wurde. Die jeweilige Parteirichtung oder die Ideologie der Herrschenden sind dem journalistischen Helden gleichgültig. Nicht gleichgültig ist ihm jedoch die gesellschaftliche Stellung jener Gruppe, für die er sich einsetzt: es ist jeweils die einflußreichste Machtgruppe, der er seine Arbeit widmet. In der Fiktion gibt es auch für die „Neueste Zeit" noch Rudimente alter Idealvorstellungen: der edle, konsequente, aufopferungsbereite und politisch motivierte journalistische Held mit berufsethischen Grundsätzen, der allen Widerständen zum Trotz für das Wohl des Volkes oder für eine verfolgte Randgruppe wirkt. Es ist zu fragen, ob in der REALITÄT Meinungsjournalisten wie Günter Wallraff, Peggy Parnass oder Gerhard Löwental gleichfalls Rudimente alter Berufsbildauffassung sind. 154
Sollte diese Interpretation zutreffen, gilt auch, was Kurt Koszyk als abschließenden Satz in seiner Abhandlung über die Deutsche Presse im 19. Jahrhundert formuliert. Für ihn haben weder der Nationalsozialismus noch die Pressepolitik der Besatzungsmächte vermocht, die Organisationsstruktur der deutschen Presse einschneidend zu verändern: „Die Anpassung an die Erfordernisse einer anderen Situation hatte . . . nicht neue Formen des Pressewesens zur Folge, sondern belebte die alten wieder, wenn auch in zeitgemäßer Gestalt".362 Die Dominanz des wertfreien — zumindest objektiven — Journalismus läßt darauf schließen, daß sich die von Koszyk angeführte Tradition nicht nur auf die Form des Pressewesens bezieht, sondern auch auf die Berufsrollenauffassung: sie stammt aus der Zeit der Reaktion. So ist zusammenzufassen: zwischen Fiktion und REALITÄT gibt es zunächst deutliche Parallelen: sowohl der journalistische Held als auch der Journalist der Gegenwart haben globale und unklare Vorstellungen von ihren Lesern. Der Kontakt zu ihnen ist auf ein Minimum beschränkt und wird mehrheitlich auch nicht erwünscht. Zwischen Fiktion und REALITÄT gibt es zugleich Unterschiede: die Berufsrollenauffassung der journalistischen Helden ist mehrheitlich parteiisch. Die unparteiischen, wertfreien Informanten werden zunehmend abgelöst durch journalistische Helden, die sich zunächst primär für die Belange der Regierten, Machtlosen aber zunehmend praktisch für die Belange der Regierenden, Mächtigen einsetzen. Die Berufsrollenauffassung der Journalisten in der REALITÄT ist mehrheitlich wertneutral. Eine Parteilichkeit zugunsten einer gesellschaftlichen Gruppe wird abgelehnt. Für die Fiktion war eine Diskrepanz aufzuzeigen: verbal für die Interessen des Volkes votierend, handelten die journalistischen Helden praktisch zunehmend für die Interessen der Regierung. Für die REALITÄT ist zumindest ein Krisenbewußtsein aufzuzeigen: beklagt wird der fehlende Kontakt zum einfachen Leser; vorgeworfen wird zunehmende Berichterstattung zugunsten von Eliten. Ist es denkbar, daß die Journalisten der REALITÄT trotz ihres Rekurrierens auf Wertfreiheit eben doch parteilich sind, dies im Gegensatz zu ihren Kollegen aus der Fiktion jedoch nicht zugeben mögen? Der Rückzug auf das Postulat der wertfreien Information könnte ebenso — wie einst bei den „Akademischen Journalisten" — in Angst vor der Wahrheit und Resignation aufgrund unerfüllter Träume begründet sein. 3.6.2 Ein Menschenbild: der journalistische Held und sein Rezipient Die Frage des Verhältnisses des journalistischen Helden zu seinen Lesern ist zugleich auch die Frage nach seinem Menschenbild. Wann immer sich ein journalistischer Held über Menschen äußert, meint er damit in erster Linie jene Leute, die seine Zeitung lesen oder noch lesen sollen. Die Menschen, von denen er spricht, sind daher die Zielgruppen seiner Arbeit. Angesichts der Untersuchungsergebnisse, daß nur wenige journalistische Helden ihren Beruf aus ideellen Motiven ausüben und noch weniger bereit sind, im Sinne ihrer politischen Ideale aktiv zu werden, ist es nicht erstaunlich, daß rund 70 % der journalistischen Helden ihre Leser negativ sehen. Nur 30 % haben ein eindeutig positives Menschenbild, wenn sie an ihre Leser denken. Da sehr viel mehr journalistische Helden zugleich als positive Helden beschrieben werden, resultiert daraus, daß keineswegs negativ bewertet wird, wer seine Leser verachtet, daß offensichtlich sogar als positiv gilt, wer sich über das damit eindeutig minderwertige Volk erhebt. Wichtig ist 155
Tabelle XXX: Beurteilung des Rezipienten durch den journalistischen Helden Zahl der Nennungen Die Leser sind für ihn Nicht entscheidbar Eine dumme, manipulierbare Masse — negativ
abs.
in %
1
2
68
41
Eine anonyme, passive Masse — negativ
50
30
Eine erziehbare, bildungsfähige Masse — positiv
31
18
Eine Vielzahl von Einzelindividuen ohne Massencharakter — positiv
17
9
Summe
167
100
in diesem Zusammenhang, noch einmal darauf hinzuweisen, daß die meisten Autoren der fiktiven Werke selbst im Journalismus gearbeitet hatten. Noch bemerkenswerter ist allerdings, daß die wenigen Autoren, die niemals selbst im Journalismus gearbeitet hatten, ihren fiktiven Helden das beste Zeugnis ausstellten. Doch was ist das beste Zeugnis? In kaum einem fiktiven Werk wird das negative Rezipientenbild eines journalistischen Helden negativ bewertet oder auch nur kritisch in Frage gestellt. Meist synonym gesetzt mit Durchsetzungsvermögen, ist eben gut, wenn ein journalistischer Held die unaufgeklärten, verfuhr- und manipulierbaren, oft sogar dummen Menschenhaufen unterrichtet, verführt und ausrichtet. Immerhin, die Verachtung des Lesers weist unterschiedliche Grade auf: über 40 % aller journalistischen Helden gehen davon aus, für eine dumme Masse zu schreiben. Die Zeitungskunden sind für sie ein blöder Haufen von Herdentieren, den man beliebig manipulieren kann. So spielt zum Beispiel der journalistische Held Lynge mit dem Gedanken, von heute auf morgen die ideologische Richtung seiner Zeitung in ihr Gegenteil zu verkehren. Und selbst, wenn die Rezipienten diesen Meinungswandel des Redakteurs als Verrat empfänden: „Das Vertrauen sollte nur zusammenbrechen; er lenkte es auf einen anderen Weg ein . . . die Leute sollten knieend zu ihm zurückkehren; er wollte sie zügeln . . . wieder sollten die harrenden Scharen auf seine Entscheidung im Ting lauschen".363 Weitere 30 % der journalistischen Helden halten ihre Leser für eine passive, kritikunfähige Masse, die stumpf und geistig arm dem journalistischen Vorsänger lauscht. Die Meinungsbildung der Zeitungsleser vollzieht sich durch Entmündigung. Man muß sie schon etwas übertölpeln, damit sie schlucken, was ihnen vorgesetzt wird. Bei Henrik Ibsen versucht der journalistische Held Hovstad einer Bekannten klarzumachen, daß man zunächst leichte Unterhaltung liefern müsse, um den Boden zu bereiten für ernsthaftere Information: „Wenn . . . die Leser unter dem Strich so eine moralische Erzählung finden, dann schlucken sie das, was über dem Strich steht, umso eher — weil sie sich sozusagen sicherer fühlen".364 Rund 20% der journalistischen Helden sprechen gleichfalls verallgemeinernd vom „Volk" oder der „Masse", wenn sie ihre Leser erwähnen, aber sie haben immerhin ein positives Menschenbild. Sie halten ihre Leser für bildungsfähig und erziehbar. Unter der fachkundigen Anleitung des journalistischen Helden — symptomatischer156
weise handelt es sich bei ihnen oft um positive Gestalten nach dem Vorbild der „Akademischen Jornalisten" — lassen sie sich willig zu höherer Bildung oder richtigen Ansichten führen. Unübersehbar ist hier der elitäre Anspruch der journalistischen Helden. Immer ist er es, der anregt, erzieht und leitet. Niemals ist es der Leser, der seinerseits dem journalistischen Helden dieselben Dienste erweist. Ist es in den ersten beiden Gruppen primär eine mit Menschenverachtung gekoppelte Demagogie, mit der die journalistischen Helden ihren Beruf von oben nach unten ausüben, so übernimmt die dritte Gruppe immerhin die Rolle des Lehrers oder Erziehers. Es sind überwiegend jene journalistischen Helden, die ihren Beruf relativ emotionslos als Vermittlungsfunktion auffassen, eine Gruppe also, die vor allem in frühen Werken der fiktiven Welt am häufigsten auftritt. Hier ist wieder an die These zu erinnern, daß vor allem der Bildungsjournalismus der frühen Jahre als resignativer Rückzug aufgrund enttäuschter politischer Hoffnungen und aufgrund der Frustration über die fehlende Gefolgschaft der Massen während der revolutionären Jahre interpretiert wurde. Knapp 10 % aller journalistischen Helden äußern sich niemals global über ihre Leser. Den Begriff „Menge" oder „Masse" gibt es für sie nicht, sondern nur den einzelnen Rezipienten oder höchstens spezielle Gruppen von Rezipienten. Es ist zugleich jene Minderheit von journalistischen Helden, die sich mit ihren Lesern auf einer gemeinsamen geistigen Ebene zu befinden glauben; ein Novum in Werken der fiktiven Welt, in denen über Journalismus gesprochen wird. Als Beispiel sei hier die Auffassung des journalistischen Helden Konrad Bolz zitiert. Um seinen Freund über eine verlorene Wahl hinwegzutrösten, organisiert er Volksaufläufe, Jubelsprüche und Lobgesänge vor dessen Haus. Der so gefeierte und getröstete Verlierer der Wahl hätte diese Sympathiekundgebungen für zwar nett gemeinte, aber dennoch oberflächliche Demagogie. Er glaubt nicht an die Ehrlichkeit der Menschen, die hier vor seinem Haus stehen und ihn hochleben lassen. Bolz hingegen wehrt dieses Mißtrauen entrüstet ab: „Diese vielen Menschen sind keine Puppen, welche ein gewandter Puppenspieler an den Drähten umherziehen könnte. Alle diese Stimmen gehören tüchtigen und ehrenwerten Personen an, und was sie Ihnen gesagt haben, das ist in der Tat die allgemeine Meinung in der Stadt, das heißt, die Uberzeugung der Besseren und Verständigen in der Stadt. Wäre sie es nicht, so hätte ich mich diesen braven Leuten gegenüber sehr vergeblich bemüht, auch nur einen vor Ihr Haus zu führen." 365 Von Geschichtsepoche zu Geschichtsepoche nimmt die Summe jener journalistischen Helden zu, die ihre Leser global entweder als passive oder gar als manipulierbare, verdummte Masse beurteilen. Von Geschichtsepoche zu Geschichtsepoche wächst auch der Anteil des neuen Berufsbildtyps journalistischer Helden, der als „Emporkömmling" bezeichnet wurde. Vor allem er hat ein völlig destruktives Menschenbild, das sich im übrigen zunehmend auch auf die oberen Schichten bezieht. Die unteren Schichten verachtet er, weil sie dumm und manipulierbar sind, die oberen haßt er, weil sie statusmäßig über ihm stehen und sein Emporkommen oft behindern. Im Verhältnis des journalistischen Helden zu seinen Lesern offenbart sich damit erneut vor allem in späteren Werken der fiktiven Welt die ehrgeizige Grundhaltung eines Menschen, der darunter leidet, daß ihm bisher die endgültige gesellschaftliche Anerkennung versagt wird. Im Grunde führt er einen Krieg gegen die gesamte Gesellschaft. Einen Krieg, in dem die „Masse, die Leser" das Kanonenfutter darstellen in seinem Kampf gegen die oberen Schichten, die seinem individuellen Erfolg im Wege stehen. Stellen die manipulierten oder zumindest ausgerichteten Lesermassen das 157
Fußvolk dar, die oberen Schichten den Gegner, so wird der Journalismus selbst zur Waffe in diesem Krieg. In der REALITÄT gibt es zur Frage des Menschenbildes kontroverse Ergebnisse. Heinz Risse, ein teilberuflicher Journalist, stellt fest: „Ich schreibe ja zu meinem Vergnügen .... aber ein leichtes Staunen bleibt mir doch, daß einer auf den Gedanken kommt, der Verfasser habe speziell an ihn gedacht".366 Das leichte Staunen ist angebracht, denn „das Publikum ist für den Kommunikator anonym, der Leser, Hörer, Zuschauer eine fiktive Größe ... beim Kommunikator bilden sich Stereotype von seinem Adressaten, die mit numerischer Zunahme des Rezipientenkreises immer realitätsferner zu werden drohen",367 beruft sich Weischenberg auf Ronneberger. Auch bei Sportjournalisten sei diese Distanz zu registrieren. Sie resultiert nach Weischenberg aus der Abqualifizierung des Sports zur Unterhaltung und zum anderen aus dem Zwang, daß die Journalisten selbst in erster Linie zu Jubelschreibern der Sportstars werden. Nur durch die grundsätzlich positive Berichterstattung haben die Sportjournalisten jederzeit Kontakt zu den Koryphäen. Die Sportberichterstattung kommt damit nach Weischenberg einer „Kumpanei" 368verdächtig nahe. 66 % der Sportjournalisten nannten im übrigen persönliches Interesse als Grund für inhaltliche Schwerpunkte ihrer Berichterstattung und nur knapp 30 % das große Publikumsinteresse; 369 ein Untersuchungsergebnis, das zumindest davon zeugt, daß für die Mehrheit der Sportjournalisten die Interessen ihrer Rezipienten nur sekundär wichtig sind. Doch trotz dieser Gleichgültigkeit betrachten sie ihre Leser immerhin als außergewöhnlich fachkompetente und kritische Menschen. 370 In der Untersuchung von Hans Heinz Fabris dominieren eindeutig die positiven Eigenschaften der Rezipienten. Die befragten Redakteure beurteilen sie als „politisch engagiert, informiert, aufgeschlossen, gebildet, wißbegierig". 371 Allerdings gab es in der von Fabris vorgelegten Tabelle keine einzige negative Kategorie. 372 So konnten die Befragten nur zwischen positiven Aussagen wählen und differenzieren. ,Jedes Volk hat die Presse, die es verdient". 373 Jürgen Prott bat seine Interviewpartner zu einer Stellungnahme zu diesem Zitat, ohne zu sagen, daß es von Erich Kuby stammt. So befragt, hielten fast die Hälfte der Zeitungsredakteure diese Aussage „im Kern für richtig". 374 Die das Untersuchungsergebnis ergänzenden Zitate sprechen für sich: „Der Leser ist noch dümmer als du glaubst". 375 Der Bürger ist sehr träge ... wenn (er) sich nicht genügend um das kümmert, was in der Zeitung steht, hat er auch die gegenwärtige Presse verdient". 376 „Wenn Herr Springer täglich Millionenumsätze erzielt mit seiner Bild-Zeitung, dann spricht das nicht für den Geschmack der deutschen Zeitungsleser". 377 Doch merkwürdig, zwar sind rund die Hälfte der von Prott befragten Redakteure der Auffassung, daß Kuby den deutschen Zeitungsleser richtig einschätzt, doch meinen sie damit überwiegend nicht ihre Leser, sondern vorwiegend die Kunden von Boulevardzeitungen. Daß diese Einschränkung allerdings vor allem als Schutzbehauptung dient, zeigt die bereits angeführte Ablehnung der von Prott befragten Redakteure, die Leser bei der redaktionellen Gestaltung der Zeitung mitbestimmen zu lassen. Nur 24 % waren uneingeschränkt damit einverstanden, rund 60 % lehnten eine Mitbestimmung hingegen strikt ab. 378 Und dabei wird kein feiner Unterschied mehr gemacht zwischen den eigenen Lesern und jenen niveaulosen der Boulevardpresse: „Es geht einfach nicht an, daß hier Hinz und Kunz einfach entscheiden können, was in die Zeitung kommt und was nicht". 379 158
40 % der von Prott Befragten allerdings hatten ein eindeutig positives Bild vom Rezipienten. Sie lehnten das Kuby-TAia.1 ab, teils weil „die Bevölkerung kaum eine Möglichkeit hat, in irgendeiner Weise auf die Zeitung einzuwirken", 380 teils, weil „ein Volk sich seine Journalisten nicht aussucht", 381 oder, weil man den Leser als mündigen Bürger betrachtet: „Der größte Fehler, den Journalisten machen können, ist der, den Leser zu unterschätzen". 382 Anders sieht Erich Kuby die Mehrheit der bundesdeutschen Zeitungsleser. Seine Ausführungen sind eine flammende Klage über die Dummheit des Volkes. Prott hatte seinen Interviewpartnern nur den harmlosen Teil von Kuby's Essay, nämlich die Uberschrift, leicht abgewandelt, vorgelegt. Vermutlich hätten sehr viel mehr ablehnende Antworten registriert werden müssen, wenn den Befragten noch einige weitere Sätze auf diesem Essay vorgelegt worden wären. Kuby, selbst zeitweise hauptberuflicher Journalist, beklagt die Beschränktheit eines „Fellachenvolk(es)",383 dessen Hirnlosigkeit nicht zu überbieten sei. Aus seinen Worten wird die abgrundtiefe Verachtung eines elitär denkenden Journalisten gegenüber dem durchschnittlichen Zeitungsleser deutlich. Es sind Worte, die einem fiktiven Werk entstammen könnten, doch Kuby spricht über die REALITÄT. Es sei daran erinnert, daß für viele journalistischen Helden die Rezipienten eine dumme, manipulierbare Masse sind. Auch Kuby wird in diesem Sinne deutlich: „Volk - gewiß, Scheißvolk, mit einem runden Wort, bei Luther entlehnt". 384 An anderer Stelle: „Ein geistig kastriertes Volk ... Man kann mit einem solchen Volk keine öffentliche Meinung machen, also auch keine freie Presse, also auch keine Demokratie". 385 Zwar lamentiert er auch wortreich über schlechte Journalisten, aber nur, um erneut dem Volk die Schuld an deren Versagen zu geben: die Kollegen sind nur deshalb schlecht, weil „das Volk kein Bedürfnis (hat), wie ein Erwachsener behandelt zu werden". 386 Daß dieses Scheißvolk auch einen Erich Kuby hervorgebracht hat, realisiert er nicht. Zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Typen seien im Bild der Journalisten von ihren Rezipienten zu registrieren, stellen Noelle-Neumann/Schulz fest. „Die einen sehen ihr Publikum vorwiegend als nette entgegenkommende und freundliche Leute, die anderen als unsympathische, kritische, ja feindselige Personen". 387 Eine uneingeschränkt positive oder uneingeschränkt negative Einschätzung der Leser ist auch in den anderen empirischen Untersuchungen festzustellen. Besonders deutlich wird dies in den einzelnen Zitaten der Befragten. Diese Schwarz-WeißMalerei aber hat vermutlich auch ihre Ursache darin, daß der Kontakt der meisten befragten Journalisten zu ihren Lesern auf ein Mindestmaß beschränkt bleibt. Sei es aufgrund kaum vorhandener Möglichkeiten, wie Noelle-Neumann/Schulz vermuten, 388 sei es zusätzlich aufgrund der fehlenden Bereitschaft der Journalisten, einen solchen Kontakt aufzunehmen. Im Gegensatz zu den wenigen Journalisten, die im Interesse von spezifischen Zielgruppen arbeiten möchten, hat die Mehrheit aller in den angeführten empirischen Untersuchungen befragten Berufsvertreter keine differenzierte Vorstellung von ihren Rezipienten. Sie erwähnen weder Eliten noch gesellschaftliche Randgruppen. Sie sprechen stattdessen von der Masse, dem Volk, dem Leser. Dieser Leser aber ist für sie weitgehend eine unbekannte Größe. Ein näherer Kontakt zum Rezipienten scheint den Journalisten der REALITÄT überflüssig zu sein, zumal sie das steigende oder sinkende Kaufinteresse der Zeitungskunden als Indikator für die Qualität ihrer Arbeit interpretieren. „In der .täglichen Abstimmung am Kiosk' artikuliert sich der Publikumswille" 389 für sie in völlig ausreichendem Maße. 159
Der Leser als Einzelindividium oder vertreten in Gruppen ist für viele Journalisten der REALITÄT jedoch nicht nur unbekannt, sondern gleichzeitig auch häufig uninteressant. Von Fabris befragt, welchen Auswahlkriterien beim Schreiben eines Artikels Priorität zukommt, nannten nur 13 % der Journalisten die Interessen der Leser. 30 % der Befragten orientierten sich hingegen primär an der redaktionellen Linie ihrer Zeitung. 390 Glotz und Langenbucher zitieren aus einer älteren Untersuchung des Forschungsinstitutes für Soziologie der Universität Köln, die bereits 1967 Ahnliches zutage förderte, wie die Untersuchung von Fabris. Nach Orientierungskriterien für soziales Handeln befragt, nannte die Mehrheit der interviewten Journalisten die Berufskollegen, nicht aber ihre Leser als wichtigste Gruppe. „Vom Leser kann ich nicht annehmen, daß er die Sache sachgerecht beurteilt". 3 , 1 Zwar gaben 73 % der von Fabris befragten Redakteure an, häufig Kontakt mit ihren Lesern zu haben, aber die nächste Frage zeigte, daß die Aktivität zum Kontakt keineswegs vom Redakteur ausgeht. Die häufigsten Nennungen waren geprägt von der Aktivität der Rezipienten, nicht der Journalisten: Telefonanrufe und Leserbriefe. Den dritten Rang nahmen die Gespräche mit Bekannten ein, eine Kommunikationsebene also, die auf bereits bestehenden Beziehungen basiert und nicht auf ein Zwiegespräch des Redakteurs mit dem ihm unbekannten Leser. 392 Das wird von den Journalisten der REALITÄT jedoch offensichtlich nicht als Manko empfunden, denn über 60 % der von Prott Befragten lehnten eine nähere Zusammenarbeit mit ihren Lesern zum Beispiel in Form von Mitbestimmung kategorisch ab. 3,3 Aktive Rezipienten, wie zum Beispiel Telefonpartner oder Leserbriefschreiber; werden als Querulanten oder lästige Nörgler abqualifiziert. 394 Aber ein Krisenbewußtsein scheint bei einigen Journalisten auf diesem Gebiet immerhin vorhanden zu sein: „Dein Leser, das unbekannte Wesen," 395 müßte für Rüdiger Matt ein Buch genannt werden, das speziell für Journalisten geschrieben werden sollte. Matt plädiert dafür, daß der Journalist endlich zu seinen Lesern geht, anstatt auf ihn zu warten. Für diesen Buchtitel spricht einiges. Elisabeth Noelle-Neumann berichtete aus Untersuchungsergebnissen des Jahres 1976, in denen die politischen Ansichten der Journalisten von denen der Bevölkerung weit auseinanderklafften. Das bezog sich sowohl auf die politische Einschätzung bestimmter Themen, als auch auf die Wichtigkeit politischer Forderungen. So fanden 79 % der Bevölkerung besonders wichtig, daß Verbrechen wirksamer bekämpft werden müssen, aber nur 16 % der Journalisten schlössen sich dieser Meinung an. 49 % der Bevölkerung meinte, daß man verhindern müsse, Radikale im öffentlichen Dienst zu beschäftigen. Nur 15 % der befragten Journalisten waren derselben Meinung. 40 % der Bevölkerung wollten die NATO und die Bundeswehr stärken, damit sich der Rüstungsvorsprung der Russen nicht erhöht, aber nur 15 % der Journalisten meinten dies auch. 396 Entweder setzen sich also die Journalisten über die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung hinweg, oder aber sie kennen sie überhaupt nicht. „Das Publikumsbild der Journalisten ist gekennzeichnet von Unkenntnis, negativen Stereotypen und einem weitverbreiteten Desinteresse, die Selektion von Medieninhalten an den Kommunikationsbedürfnissen der Rezipienten auszurichten", 397 meint im Jahre 1981 Wolfgang Donsbach. Es scheint sich also seit rund 20 Jahren relativ wenig in der Rezipientenbeurteilung durch die Journalisten geändert zu haben. So verwundert es auch nicht, daß von „20 vorgegebenen Berufseigenschaften ... das,Ansehen bei der Bevölkerung' (den Journalisten) das unwichtigste Merkmal ihres Berufs" war. 398 160
Wichtig ist für Noelle-Neumann/Schulz nicht nur die Frage, ob das subjektive, selten von Erfahrungen geprägte Fremdbild der Kommunikatoren von ihren Lesern mit der REALITÄT übereinstimmt, sondern vor allem, ob dieses Fremdbild der Kommunikatoren wesentlich Auswahl und Gestaltung ihrer Artikel beeinflußt. m Hinzugefügt sei, daß es wichtig ist, auch das Fremdbild des fiktiven journalistischen Helden, das ja auffallende Parallelen zur REALITÄT aufweist, daran zu messen, ob es möglicherweise die Publikumseinstellungen heute lebender Journalisten beeinflußt hat. Ob es vielleicht über 200 Jahre hinweg ein Positiv- oder Negativklischee darstellte, dessen sich die lebenden Journalisten als Ersatz für mangelhafte Kontakte mit ihren Rezipienten bedienten. Wichtig wäre also eine Einstellungsanalyse, die nach den Grundlagen bestimmter journalistischer Bewußtseinsinhalte fragt. Zusammenfassend ist festzustellen, daß Parallelen deutlich wurden in der Fremdbeurteilung der journalistischen Helden und in der Fremdbeurteilung heute lebender Journalisten. Doch scheint die negative Einschätzung der Leser bei journalistischen Helden häufiger zu sein als in der REALITÄT. Allerdings bleibt dies eine Hypothese, zumal die vorliegenden Untersuchungen über die REALITÄT gerade in dieser Frage unterschiedliche Alternativen anboten. Sowohl in der Fiktion als auch in der REALITÄT wurde eine unzureichende Verbindung zwischen dem Kommunikatoren und seinen Rezipienten festgestellt. Einerseits entspringt sie den Bedingungen des Berufes, andererseits aber auch der fehlende Bereitschaft der Kommunikatoren, mit den Lesern persönliche Kontakte aufzunehmen. Der letztgenannte Gnind ist vor allem in den Werken der fiktiven Welt ausschlaggebend. In der REALITÄT ist er mitunter dem Kontext anderer Fragen zu entnehmen oder aus persönlichen Äußerungen zu schließen. In Werken der fiktiven Welt bleibt das positive Menschenbild die Domäne der immer seltener werdenden positiven Helden vom Typ des „Unabhängigen" (akademischen) Journalisten. Das negative Menschenbild wird hingegen mehr und mehr zum Kennzeichen des staatsloyalen und volksfeindlichen „Emporkömmlings", der zunehmend zum aktuellen positiven Helden wird. 3.6.3 Die Legende von der Macht: Wirkungsmöglichkeiten durch den Beruf Im letzten Abschnitt wurde die These aufgestellt, daß für viele journalistische Helden der Beruf als Waffe im Krieg gegen die oberen Schichten betrachtet wird. Welche Schlagkraft aber hat in ihren Augen diese Waffe? Tabelle XXXI: Wirkungsmöglichkeiten der Presse Zahl der Nennungen abs.
in %
10 8
6
Pressearbeit bewirkt nichts Pressearbeit verändert Meinungen von Einzelpersonen
66
43
Pressearbeit bewirkt Parteiwandel, verändert Gruppenmeinung, stürzt Regierungen
48
31
Pressearbeit verändert Gesellschaftsstrukturen, stürzt Systeme
23
15
155
100
Wirkungsmöglichkeiten Nicht entscheidbar
Summe
5
161
Die Tabelle zeigt es deutlich: abgesehen von einer verschwindend geringen Minderheit, gehen fast 90 % der journalistischen Helden davon aus, daß ihre Artikel zumindest Meinungen verändern. Darüber hinaus glauben rund ein Drittel, daß Zeitungsartikel eine derartige Schlagkraft haben können, daß Parteien ihre Mehrheit verlieren und Regierungen stürzen. 15 % verrichten ihre Arbeit in dem Bewußtsein, daß gar Systeme umgewälzt, Gesellschaftsstrukturen auf den Kopf gestellt werden können, wenn sie nur zur Feder greifen. Zu jener Minderheit, die nicht annimmt, daß Journalismus auch nur Meinungswandel bewirken könnte, gehört der journalistische Held Padberg. Seine Freunde hatten Zeitungsartikel über Zeitungsartikel geschrieben, um ihrer politischen Bewegung zum Durchbruch zu verhelfen. Doch für Padberg ist das eine vergebliche Mühe gewesen, denn „Zeitung ist Reklame, von der ersten bis zur letzten Zeile, Reklame für eine bestimmte Sorte Politik oder Waschseife. Aber immer Reklame ... Ihre Bewegung war gut, aber sie war im Luftleeren. (Padberg meint damit die ideologische Richtung der Artikel, die von den Freunden geschrieben wurden). Es geschah nichts, sie hatte keine Wirkung. Der Regierung war sie piepe. Dem Finanzamt war sie piepe. Der Schupo war sie piepe. Dem Bürger der Stadt war sie schnurz". 400 Wirkungslos also bleibt die Presse aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit, frucht- und sinnlos daher die Arbeit der journalistischen Helden. Doch diese Gruppe macht nur 5 % aus. Häufig sind in ihr negative Helden vom alten Berufsbildtypus, die journalistisch frustrierten und erfolglosen „Abhängigen", zu finden. Relativ bescheiden ist der Anspruch jener 43 % journalistischen Helden, die davon ausgehen, mit ihrer Arbeit lediglich Meinungen verändern zu können. Oft sind es die Mitarbeiter von Lokalzeitungen, die, zerrieben vom beruflichen Streß und den widersprüchlichen Interessen des Leserwillens einerseits und Machteinfluß der Pressure Groups andererseits, letztendlich resignieren müssen. „Wir Zeitungsschreiber füttern unseren Geist mit Tagesneuigkeiten, wir müssen alle Gerichte, welche der Satan für die Menschen kocht, in den allerkleinsten Bissen durchkosten ... der tägliche Arger über das Verfehlte und Schlechte, die ewigen kleinen Aufregungen ... das arbeitet in dem Menschen. Im Anfang ballt man die Faust, später gewöhnt man sich, darüber zu spotten ... Ich schreibe frisch drauflos, solange es geht. Geht's nicht mehr, dann treten andere für mich ein und tun dasselbe. Wenn Konrad Bolz, das Weizenkorn, in der großen Mühle zermahlen ist, so fallen andre Körner auf die Steine, bis das Mehl fertig ist, aus welchem vielleicht die Zukunft ein gutes Brot bäckt, zum Besten vieler," 401 seufzt der journalistische Held Bolz, als er darauf angesprochen wird, daß er zwar mit seiner Arbeit die Meinungen der Stadt veränderte, selbst aber offenbar die großen Ideale seiner Jugend verloren hat. Bolz entschuldigt diesen Verlust einerseits mit seinem flatterhaften Charakter, andererseits aber auch mit dem Wesen des Berufes, der gerade solche Charaktere wie ihn anziehe: die Journalisten sind für ihn „zu flüchtig, zu unruhig und zerstreut... wir summen wie die Bienen, durchfliegen im Geist die ganze Welt, saugen Honig, wo wir ihn finden, und stechen, wo uns etwas mißfällt. - Ein solches Leben ist nicht gerade gemacht, große Heroen zu bilden, es muß aber auch solche Käuze geben, wie wir es sind". 402 Meinungsänderung ist bei vielen journalistischen Helden aber häufig auch gekoppelt mit einem elitären Bewußtsein, bestimmte Dinge besser zu wissen, als die Leser. Veränderung ist bei ihnen verbunden mit vorbereitender Aufklärung oder Belehrung. Die Arbeit wird zum Bildungsauftrag: „Mach sie so, daß jeder deiner Leser ein bißchen klüger aus deiner Zeitung kommt, als er hineingegangen ist... Reiß ihnen 162
die Welt auf ... füg einen Buchstaben mehr in ihr Alphabet ... verklapse sie nie, sei ihr vorgeschobener Posten und ihr Kurier". 403 Neben der von Jahr zu Jahr abnehmenden Gesamtzahl jener journalistischen Helden, die sich als wertfreie Informanten verstehen, sind in dieser Gruppe vor allem auch die positiven Helden zu finden, die, berufsethisch hochmotiviert, versuchen, politische oder gesellschaftliche Idealvorstellungen zu verwirklichen. Meistens lehnen sie eine demagogische Manipulation des Volkes ab. Sie bauen in erster Linie darauf, daß durch die Kontinuität ihrer journalistischen Arbeit die Parteien den rechten Weg gehen oder die Leser zu besseren Einsichten inspiriert werden. Ein typischer Vertreter dieser Gruppe ist zum Beispiel der journalistische Held Page, der genau weiß, daß der „gemeingefährliche Mist" 404 der journalistischen Demagogen sehr wirksam sein kann. Er hingegen folgt stets dem „Vorbild jener großen Zeitungen, die ihren Grundsätzen treu bleiben, das Volk zu leiten, zu bilden und zu denkenden Bürgern zu erziehen". 405 Es ist festgestellt worden, daß nur noch wenige journalistische Helden im Interesse des Volkes zu arbeiten beabsichtigen. Zugleich aber wird im vorliegenden Abschnitt registriert, daß die positiven Helden alter Coleur vor allem jene sind, die Meinungen zu verändern wünschen und Einzelindividuen dabei zu beeinflussen glauben. Zwar sind die „Unabhängigen" nach dem Vorbild der „Akademischen Journalisten" in dieser Kategorie die größte Gruppe, doch befinden sich in den 43 % noch einige Feuilletonisten, relativ wirkungslose Lokalredakteure oder freie Mitarbeiter. Ein weiteres Charakteristikum in dieser Gruppe journalistischer Helden fällt auf: sie sind persönlich relativ bescheiden in ihrem Anspruch auf Wirksamkeit, vertreten aber zugleich hohe berufsethische Grundsätze. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung ist bei ihnen meist gekoppelt mit idealistischen Vorstellungen. Doch häufig ist der journalistische Held nach längerer Berufstätigkeit immer weniger in der Lage, diese berufsethische Ideale in die Tat umzusetzen. Der Beruf har sie geistig verflacht und deformiert. Das bedeutet nicht — wie am Beispiel des zitierten journalistischen Helden Konrad Bolz deutlich wird — daß diese Ideale nicht mehr relevant wären. Nur werden neue, frische Kräfte im Beruf versuchen, sie in die Tat umzusetzen. Nicht die Wirksamkeit des journalistischen Berufes ist damit aufgehoben, sondern die Wirkungsmöglichkeit des im Beruf verschlissenen journalistischen Helden. Er wird damit als Individium austauschbar. Allerdings: seine Karriereziele hat Bolz erreicht, seine Fähigkeit, Ideale in die Tat umzusetzen, hat er verloren. Eingehandelt hat sich der Frustrierte eine Wesensveränderung. 406 Der journalistische Held Page bei Archibald Cronin hingegen verliert zu keinem Moment der fiktiven Handlung seine Ideale. Dafür verliert er im Kampf für diese Ideale seine Gesundheit, seinen Sohn und seine Schwiegertochter. Zusätzlich wird seine wirtschaftliche Existenz bedroht. Nur seiner Beharrlichkeit, der richtigen Sache zu dienen, und letztlich auch eine gute Portion Zufall retten ihn vor dem endgültigen Untergang. Doch auch er steht zum Ende der fiktiven Handlung zwar im ideellen Sinne am Neuanfang, im persönlichen aber vor den Ruinen seines bisherigen Lebens.407 Derartige Beispiele lassen sich beliebig anführen. Sie gelten für den positiven Helden Martin bei Friedrich Torberg ebenso wie für den journalistischen Helden Adams bei Hans G. Bentz; für Ibsens „Volksfeind" wie für Bertha von Suttners journalistischen Helden Rudolf Drotzky.408 Wann immer sie etwas Gutes im Sinne der berufsethischen Ideale anstreben, müssen diese positiven journalistischen Helden Opfer brin163
gen: das geringste Opfer sind finanzielle Verluste oder gesellschaftliche Konflikte. Die höchsten Opfer sind ein deformierter Charakter, eine ruinierte Gesundheit oder gar der yerlust des Lebens. Uber die Märtyrerrolle im jounalistischen Beruf wurde bereits gesprochen. An dieser Stelle ist noch hinzuzufügen, daß der Moloch Journalismus oft gerade jenen ihr Opfer abverlangt, die mit ihm hohe berufsethische Ziele verbinden. Daß gerade diese Gruppe journalistischer Helden eine geradezu bescheidene Auffassung von ihrer Wirkungsmöglichkeit haben, deutet darauf hin, daß sie ziemlich genau wissen, wie stark die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in ihrem Beruf ist. Durch die Tatsache, daß sie ihre berufsethischen Ideale im Zweifelsfalle auf ihre Nachfolger übertragen, wird deutlich, daß sie zwar individuell frustriert sind, aber als Fantasten den berufsethischen Anspruch hinüberretten in die irrationale Sphäre der Hoffnung auf die Zukunft. Das Ende der Bescheidenheit in Bezug auf die Wirkungsmöglichkeit der Presse ist spätestens mit jenen 31 % journalistischer Helden erreicht, die davon ausgehen, mit ihrer Arbeit Parteistrukturen zu verändern oder auch Regierungen zu stürzen. Sie sprechen oft von der Macht der Presse, auch dort, wo sie sie fürchten: „Sie ist unermeßlich, kann einen Menschen berühmt machen oder ihn zugrunde richten, Regierungen schaffen oder stürzen, kann sogar, der Himmel möge es verhüten, Krieg anzetteln. Gewisse Blätter, deren ungeheure Auflage das Land überflutet, nützen diese Macht zu unwürdigen Zwecken, verantwortungs- und rücksichtslos. Das ist heute der Fluch unseres Landes". 4 0 9 Vielen journalistischen Helden, die an eine derartige Macht der Presse glauben, geht es weder um das Wohl des Volkes noch um die politische Richtung einer Regierung. Es geht ihnen um die Macht als solche, die sie sich mit dem Instrument der Presse ertrotzen werden: der journalistische Held Lynge „hat sein Garn überall ausgelegt, und über aller Haupt blitzt das Schwert der Nachrichten; ein Redakteur ist eine Staatsmacht, und Lynges Macht ist größer als die eines anderen ... Er weiß, daß das Ministerium sich bequemen muß, ihm die Erklärung zu geben, die er verlangt hat, sonst versetzt er ihm E I N E N Stoß, vielleicht den Gnadenstoß". 410 Die ehemaligen politischen und berufsethischen Ideale des Redakteurs Lynge haben im Laufe der Jahre einen empfindlichen Stoß bekommen. Man war ihm nicht gefolgt, hatte ihn abgelehnt. Lediglich das Volk, diese manipulierbare Masse, diese „Mittelware, Durchschnittsmenschen ... Allewelt, der Haufen, keine Auserwählten" 4 1 1 akzeptierte ihn. Aber dieser Erfolg ist Lynge nicht genug, zumal er selbst, ein „Emporkömmling" aus einfachsten Kreisen, das Volk verachtet. Ihm geht es hingegen — wie vielen journalistischen Helden seiner Kategorie — um die Achtung der oberen Schichten und gerade die bleibt ihm versagt. So überragt auch, als er bereits auf dem Gipfel seiner journalistischen Macht steht, die Enttäuschung über diese Zurückweisung seinen einstigen Idealismus. Immer wieder blickt er verbittert zurück auf den dornigen Weg, der ihn zum Erfolg führte: „Wie anders war es ihm einst in alten Tagen ergangen, vor langer Zeit, als er noch klein und unbekannt war und es kaum jemand gab, der es der Mühe wert hielt, ihn auf der Straße zu grüßen ... Er war ein junger begeisterter Bursche vom Lande, lernte schnell und half sich geschickt aus mancher Klemme ... er ... bot sich an, machte Bücklinge, bekam abschlägige Antwort auf abschlägige Antwort und schlief am Abend mit geballten Fäusten ein. Aber wartet nur, ja, wartet, seine Zeit kam auch". 4 1 2 Lynge wechselt seine ideologische Richtung, versucht alle journalistischen Raffinessen, um sich Anerkennung zu er164
zwingen. Aber es geht ihm jetzt nicht mehr um eine politische Idee, nur noch um die Macht. Sie wird zum Symbol seiner gesellschaftlichen Wichtigkeit. Daß er zuletzt bei den Großen dann zwar keine Achtung, aber doch Angst erzwingt, erfüllt den Gekränkten wenigstens mit Genugtuung: „Und die, so da warteten, erlebten es, daß er eine Stadt regierte und ein Ministerium stürzen konnte. Vor aller Nase war er ein mächtiger Mann geworden ... die Jahre der Erniedrigung waren um"/ 1 3 Es wurde im Vorangegangenen von dem modernen Typus des journalistischen Helden gesprochen, von dem „Emporkömmling", der in Werken der fiktiven Welt nach 1919 immer häufiger auftritt. Jener Berufsbildtyp, der über weniger politische Ideale verfügt, aber zugleich einen ungeheuren Machtanspruch hat, sofern es sich bei ihm um einen Statusaufsteiger handelt. Hat er in den Ubergangsjahren bis etwa 1930 noch missionarische Vorstellungen, so glaubt er zunehmend in späteren fiktiven Werken überhaupt nicht mehr an einen Auftrag durch den Beruf. Ein Vergleich zwischen journalistischen und politischen Helden in Werken der fiktiven Welt bietet sich an. Wenn politische Helden in fiktiven Werken auftreten, wollen sie meistens einer politischen Idee zum Sieg verhelfen. Der journalistische Held des modernen Typus benötigt die politische Idee nicht mehr, er will nur noch die Macht. Bei beiden — den politischen und den journalistischen Helden — ist es also der Machtanspruch, der sie zur Arbeit motiviert. Nur ist es in der Regel bei den politischen Helden ein Machtanspruch, um das Beste für die Gesellschaft, das Kollektiv, herbeizuführen. Beim journalistischen Helden ist dieser Machtanspruch primär verbunden mit dem individuellen Wunsch nach Selbstbestätigung. Glaubt der politische Held an seine Idee, so glaubt der journalistische Held vor allem an sich. Möchte der politische Held allen helfen, so besteht die Berufsmotivation des journalistischen Helden darin, ausschließlich sich selbst zu helfen. Ein auffallendes Abhängigkeitsverhältnis zwischen politischen und journalistischen Helden wird damit in Werken der fiktiven Welt sichtbar. Der Politiker bedient sich sehr oft des Journalisten, um seine kollektiven Ziele zu verwirklichen. Der journalistische Held begibt sich ebenso häufig in den Dienst der Politik, um sich selbst zu verwirklichen. Einer ist vom anderen trotz eindeutig unterschiedlicher Ziele abhängig: „Die Politik als Abstraktum (weiß), die Presse ist ihr anderes Ich", 414 läßt Carl Sternheim einen seiner journalistischen Helden sagen. Die Zeitungen — das Produkt unserer journalistischen Helden — werden damit zum „Handlanger der Geschichte". 415 . So wird auch erklärlich, daß eine zunehmende Gruppe journalistischer Helden für die Interessen der Regierungen oder ihrer Lobbygruppen arbeitet. Die einen verhüllt, die anderen — vor allem jene vom modernen Berufsbildtypus des „Emporkömmlings" — unverhüllt. Der Glaube an die Wirkungsmöglichkeit der Pressearbeit findet dort ihren Höhepunkt, wo die journalistischen Helden annehmen, nicht nur Regierungen, sondern auch Gesellschaftssysteme stürzen zu können. Hatten bereits 31 % der journalistischen Helden, die einen Regierungssturz einkalkulierten, nur selten politische Ideale, so kommen sie bei den 15 % journalistischer Helden, die glauben, Systeme stürzen zu können, überhaupt nicht mehr vor. Die Wirksamkeit beruflicher Tätigkeit ist stattdessen so hoch, daß sogar zufällig, zum Beispiel auf Grund eines Versehens, die Systeme fallen: der journalistische Held Jakes wird als Auslandskorrespondent in ein Land geschickt, in dem die Revolution wütet. Doch unabsichtlich steigt er ins falsche Flugzeug und landet in einem anderen 165
Staat. Dort ist natürlich alles friedlich. Zwar bemerkt er nun seinen Irrtum, kabelt aber unverfroren einen angeblichen Augenzeugenbericht aus diesem Land nach Europa: „ U n d in seinem Büro waren sie natürlich nicht schlecht überrascht, daß sein Bericht aus dem verkehrten Land kam, doch sie glaubten ihm und spritzten es in sechs Nationalzeitungen mit Schlagzeilen heraus. A m gleichen Tag erhielten alle Sonderberichterstatter Europas Anweisung, sich auf die neue Revolution zu stürzen.. Sie kamen in Scharen. Alles schien ganz friedlich zu sein, aber wenn sie das gesagt hätten, wären sie ihre Posten losgeworden, wo doch Jakes täglich tausend Worte Blut und Kanonendonner kabelte. Also sangen sie mit. Die Staatspapiere fielen, Panik an der Börse, der Kriegszustand wurde erklärt, das Heer mobilisiert, Hungersnot brach aus, es kam zum Aufstand, und in weniger als einer Woche war die prächtigste Revolution im Gange — genau, wie Jakes es gesagt hatte. Das nenn ich Macht der Presse, bitteschön." 416 Das berufliche Selbstbewußtsein dieser Gruppe journalistischer Helden wird zur politischen Hybris: „Das vergangene Jahrhundert gehörte dem Roman, dieses Jahrhundert gehört dem Journalismus", 4 1 7 und „Die Presse verdient (es), die sechste Großmacht genannt zu werden". 418 Ein Kriegsberichterstatter bei Karl Kraus faßt seinen Größenwahn in Verse: „Der Brigadier/Er meldet mir/Der Feind wird Schläge kriegen./Doch werden wir/Geschlagen hier/So laß ich einfach siegen./Das Militär/Bin ich gewohnt/Für meine Schlachtberichte/Spring ich von der/Zu jener Front/und mache Weltgeschichte". 419 Journalistische Helden mit einer derartigen Auffassung von persönlicher Macht brauchen übrigens nur noch selten die Mächtigen als Assistenten ihres persönlichen Aufstiegs. Es gibt kein Buhlen mehr um Anerkennung, keine Angst mehr vor dem Verlust des sozialen Status. Die journalistischen Helden sind inzwischen mächtiger geworden als die Regierungen. Journalismus IST Macht: Kulturen werden erschüttert, Revolutionen angezettelt, Systeme gestürzt, Kriege vorbereitet, aber auch Frieden verordnet. Das bisherige Bild verkehrt sich in sein Gegenteil: nicht mehr der journalistische Held fungiert als Höriger der Mächtigen, sondern die Politiker werden nunmehr zu hörigen Vasallen, zu Erfüllungsgehilfen. Im Hintergrund allen politischen Geschehens sitzt der journalistische Held als der wirkliche Führer und zieht an den Fäden zur Macht. Wo in der Literatur gibt es eine ähnliche Auffassung beruflicher Wirksamkeit? Sicher in Werken über Berufspolitiker und Revolutionäre, aber einem Arzt als literarischer Figur würde es kaum einfallen, sein berufliches Wirken soweit zu definieren, daß es zum Beispiel die gesamte Menschheit rettet. Bei der hier behandelten Gruppe journalistischer Helden aber geschieht schier Unvorstellbares. Nicht mit Heeren oder einem Stab von die Macht überwachenden Beamten ausgestattet, sondern bewaffnet mit einer Schreibmaschine und einigen Blättern Manuskriptpapier sitzt ein Einzelgänger in einem kleinen Redaktionsstübchen oder in einem Hotelzimmer und macht Weltpolitik. Mit einigen Bogen bedruckten Papiers sieht er sich in der Lage, die Massen zu verführen, die politischen Systeme und damit die gesamte Gesellschaft zum Wanken zu bringen. Doch wäre es verfehlt, sich den Blick von dieser eindrucksvollen Gruppe journalistischer Helden trüben zu lassen. Zum einen sind sie im Rahmen der fiktiven Handlung nicht annähernd so mächtig, wie sie sich das vorstellen, zum anderen sind sie eine Minderheit. Eine Minderheit allerdings, die sich ziemlich kontinuierlich in sämtli167
chen Geschichtsepochen registrieren läßt. Es scheint so, als stellten die Autoren der fiktiven Werke mit diesen allzu an ihre Macht glaubenden journalistischen Helden ein Zerrbild dar, das nur selten selbst im Rahmen einer fiktiven Handlung Realitätsbezug hat. Man läßt diese Typen reden und mit ihrer angeblichen Macht prahlen, aber man läßt sie häufig scheitern. So steht diese extreme Gruppe journalistischer Helden für die Legende von der Macht. Das andere Extrem sind jene 5 % journalistischen Helden, die davon ausgehen, nichts mit ihrer Arbeit bewirken zu können. Auch sie läßt man reden, aber unvermutet doch zu Einfluß gelangen. Dieser Einfluß ist allerdings relativ gering. Er beschränkt sich zum Beispiel auf die Polarisierung von Meinungen innerhalb der Öffentlichkeit oder provoziert Stellungnahmen politischer Kreise zum entsprechenden Thema. Aber dennoch: diese 5 % journalistischen Helden haben die Wirksamkeit ihrer Arbeit unterschätzt. Völlig richtig mit der Einschätzung ihrer Wirkungsmöglichkeiten liegen im Rahmen der fiktiven Handlungen hingegen die beiden jeweils größten Gruppen journalistischer Helden: die 43 %, die davon ausgehen, daß sie Meinungen von Einzelpersonen verändern und die 31 %, die schreibend Gruppenmeinungen umkrempeln oder gar Regierungen stürzen könnten. Bei ihnen trifft fast immer zu, was sie erhoffen und versprechen. Zusammenfassend ist also festzustellen: fast 90 % aller journalistischen Helden glauben im Rahmen der fiktiven Handlung an einen unmittelbaren Einfluß ihrer Arbeit auf die Gesellschaft oder Teile von ihr. Die größte Gruppe stellen mit 43 % jene journalistischen Helden, die lediglich davon ausgehen, Meinungen von Individuen zu verändern. In dieser Gruppe sind die meisten positiven Helden der frühen Jahre, die „Unabhängigen", zu finden. Uber 30 % aller journalistischen Helden nehmen an, Parteiwandel zu erzwingen oder einen Regierungssturz provozieren zu können. Sie sehen sich in der Lage, mit ihrer Arbeit Gruppenmeinungen zu verändern. In dieser Kategorie sind überwiegend die positiven Helden des modernen Berufsbildtyps, die „Emporkömmlinge", zu finden. Da bei beiden Gruppen die jeweilige Einschätzung ihrer journalistischen Wirkungsmöglichkeit im Rahmen der fiktiven Handlung bestätigt wird, ist davon auszugehen, daß die Autoren der Werke mit diesen journalistischen Helden glaubhafte oder gar realitätsbezogene Berufsbildtypen darstellen wollten. Falsch eingeschätzt haben im Rahmen der fiktiven Handlung hingegen die beiden extremen Gruppen journalistischer Helden die Wirksamkeit ihrer Arbeit. Jene 5 % journalistischen Helden, die annehmen, nichts zu bewirken, verändern wider Erwarten dennoch die Meinungen ihrer Leser oder erzwingen mit ihren Artikeln Reaktionen der Öffentlichkeit. Diese Gruppe, zu der mitunter negative journalistische Helden gehören, hat ihren Einfluß unterschätzt. Jene 15 % journalistischen Helden, die annehmen, mit der Pressearbeit Gesellschaftsstrukturen zu verändern oder Systeme zu stürzen, bleiben zwar nicht einflußlos, aber weitaus wirkungsloser, als sie erhofften. In dieser Gruppe sind fast alle Kategorien von Helden zu finden: seltener die positiven Helden des alten, häufiger die des neuen Berufsbildtyps, aber auch negative Helden der neueren Zeit. Alle haben ihren Einfluß überschätzt. Im Kontext wird der Journalismus in Werken der fiktiven Welt damit zu einem Beruf, der mehr oder weniger einschneidend die Gesellschaft zu verändern vermag. Im historischen Vergleich der Berufsbilder entwickelt sich — angesichts der steigen168
den Zahl positiver Helden vom Typ der „Emporkömmlinge" — der Journalismus zu einer Profession, in der pragmatische und desillusionierte Emporkömmlinge aus egoistischen Gründen zunehmend nachhaltigen Einfluß auf das politische Leben einer Gesellschaft ausüben. In der REALITÄT sprechen die Journalisten selten oder ungern über die Wirkungsmöglichkeiten ihrer Arbeit. Angesichts der ebenso zahlreichen wie mannigfaltigen Manifeste über Aufgaben und politische Relevanz des journalistischen Berufes in Zeitungen, Funk und Verbandszeitschriften erstaunt diese Zurückhaltung. Bereits Max Weber vermutet dahinter eine gewisse Verantwortungslosigkeit von Menschen, denen es nicht mehr um ihre artikulierten Ziele, sondern nur noch um die Macht als solche geht. Angesichts der ethischen und politischen Postulate, die die Journalisten mit ihrem Beruf verbinden, ist nach Weber deutlich bei dieser Berufsgruppe eine Gesinnungsethik zu registrieren. Eine Verantwortungsethik über die Auswirkungen ihrer Forderungen vermißt er.420 Übrigens ist dies eine These, die in Werken der fiktiven Welt vor allem beim neuen Berufsbildtyp des „Emporkömmlings" bestätigt wird. Wenn aber — selten genug — in der REALITÄT von publizistischer Macht und der daraus resultierenden Verantwortung gesprochen wird, ist plötzlich wider alle journalistische Gewohnheit Bescheidenheit Trumpf: „Der Journalist ist der Mann der Straße. Der Journalist ist der Durchschnittsbürger. Er hat alle Stärke und alle Schwächen anderer Leute auch. Wenn etwas besonderes an ihm ist, so ist es die mögliche Wirkung seiner Arbeit".421 Wie stark im Bewußtsein der Journalisten die Frage nach der Wirksamkeit und damit verbunden auch der Verantwortlichkeit verdrängt wird, zeigt sich an den beiden folgenden Beispielen, in denen von der Möglichkeit einer außergewöhnlich hohen publizistischen Breitenwirkung gesprochen wird. Ist dies der Fall, handelt es sich für die Autoren entweder um mißverstandenen Journalismus oder überhaupt nicht um Journalismus. Nach Hans Habe sollte der gute Journalist stets seine eigene Meinung vertreten. Uberzeugt er seine Leser jedoch durch zusätzliche satztechnische oder optische Raffinessen, hat er seinen Beruf verfehlt: „Weil dem Journalisten die schier übermenschliche Kraft gegeben ist, Sympathiewellen zu lenken, ohne daß der Hypnotisierte überhaupt von dem Experiment erfährt, beginnt und endet die journalistische Wahrhaftigkeit mit dem bewußten Verzicht auf bewußte Suggestion".422 Bescheiden argumentiert zunächst Alfred Frankenfeld: „Der deutsche Journalist weiß, daß der tatsächliche Einfluß seiner Arbeit auf die sogenannte öffentliche Meinungsbildung nur relativ und beschränkt i s t . . . er kann den Staat nicht nach seinem Willen formen und ebenso wenig die Ordnung der Gesellschaft entscheidend regulieren. Er hat es nie gekonnt".423 Man wundert sich, denn gerade Frankenfeld war es, der so ungeheuer blumig von Berufung, vom Journalisten als getreuen Ekkehard, der großen journalistischen Sendung, dem öffentliche Gewissen der Nation sowie dem Dienst an Volk und Vaterland gesprochen hatte.424 Den Künstlern zum Beispiel galt der Journalist bei Frankenfeld als „ein mächtiger Führer, ein starker Förderer".425 Von des Journalisten Urteil hängen sogar „vielfach die Aussichten ab, die Schöpfer und Schöpfung für die Zukunft besitzen".426 Der publizistische Teufel des Berufes steckt für Frankenfeld im Boulevardjournalismus: „Ihre Managers haben mit dem echten Journalismus so wenig zu tun, wie korrupte Schieber mit einem ehrbaren Kaufmann. Derjenige, der sich der Revolverpresse verschreibt, tut das meist aus persönlicher Gewinnsucht".427 Doch nicht nur in der Kunstkritik, sondern auch im Bereich der Politik hat der 169
Journalist offensichtlich doch Wirkungsmöglichkeiten: „Gewiß ist die willensbildende Kraft der Presse unbezweifelt. Gewiß ist das gedruckte Schlagwort, die im Fettdruck hingelegte Agitation noch immer eine scharfe Waffe in der Hand derjenigen, die sie vermittels periodischer Schriften betreiben. Aber mit dem echten Journalismus hat das . . . nur wenig zu tun, ist letztlich nur Beiwerk zur Gesamterscheinung der politischen Agitation, die ausgeht von einer hinter der Presse stehenden Machtgruppe, von Interessenten also, die sich auch u.a. der ihnen gehörigen oder hörigen Zeitungen bedienen. Der wahre Journalismus im Dienst für Staat und Gesellschaft fängt im Grunde erst da an, wo die zweckbewußte Agitation aufhört". 428 Für Emil Dovifat erzeugt die Boulevardpresse „höchst unreale Vorstellungen. Sie vermittelt Lebensbilder, die in ihrer aufregenden Vielfalt die wahren Begriffe entstellen, die Realität verkehren und damit eine Gefahr sind für die Demokratie . . . Sie kann in dem Augenblick gefährlich werden, wo in bewegten Zeiten die Urteilskraft der durch diese Art von Massenpresse geprägten Wähler zu entscheidenden Urteilen aufgerufen wird". 429 Die Ausführungen von Frankenfeld, Habe und Dovifat bestätigen Max Webers These von der fehlenden Verantwortungsethik: es ist schlechter oder gar kein Journalismus, wenn Journalisten auf breiter Ebene wirksam werden, sich der Methoden bedienen, die das Medium Presse ihnen bietet. Der journalistische Tiger hat Krallen, aber er läßt sie eingezogen. Gebraucht er sie, ist er kein Tiger mehr. Max Webers These erschien erstmals im Jahre 1919, die Ausführungen von Frankenfeld im Jahre 1933, die von Hans Habe 1952 und die von Emil Dovifat 1960. Es liegt also nahe, soziologisch und pressegeschichtlich von überholten Lehrmeinungen zu sprechen. Doch das scheint nicht der Fall zu sein: Elisabeth Noelle-Neumann beklagt eine journalistische Verantwortungslosigkeit bezüglich der Wirkungen auch bei Journalisten der Gegenwart. Sogar die Ergebnisse wissenschaftlich abgesicherter Rezeptionsforschungen seien ihnen gleichgültig. Stattdessen gelte bei ihnen die Maxime: „Es ist für mich unwichtig. Ich weiß, wie man Kommunikation macht. Ich weiß, wie man einen Film macht. Das ist mein Beruf und was ich dabei bewirke, ist mir gleichgültig".430 Eine weitere Möglichkeit, über die Auswirkungen publizistischer Arbeit gleichgültig mit den Schultern zu zucken, scheint sich vielen Journalisten zu bieten, indem man die Verantwortlichkeit dem Leser, der es ja gar nicht anders wolle, zuschiebt. Ob es nun Kubys Leser sind, die just die Presse haben, die sie verdienen, ob es die Käufer von Springer-Zeitungen mit ihrer Abstimmung am Kiosk sind oder ob es die Macht des Lesers „als .Souverän' der Massenkommunikation" 431 ist, der die schlechte Presse gebiert: Der Journalist ist jedenfalls nichts als ein ausführendes Organ. Er muß sich dem Willen der Kunden beugen. So kann er auch nicht verantwortlich gemacht werden für eventuelle Folgen. So ist entweder Verdrängung, Gleichgültigkeit oder ein Informationsdefizit bei den Journalisten der Gegenwart über die Auswirkungen ihrer publizistischen Tätigkeit festzustellen. Auch jenen Wissenschaftlern, die sich mit dem Bewußtsein von Journalisten befaßten, scheint ein Problembewußtsein über diese Frage zu fehlen. Das betrifft zumindest die Untersuchungen, die zu der vorliegenden Arbeit herangezogen wurden. Siegfried Weischenberg fragte zwar nach der Einstellung der Journalisten zur Todesstrafe, Prott nach ihrer Beurteilung von Streiks, Fohrbeck/Wiesand nach berühmten Vorbildern: keiner aber fragte detailliert nach der Einschätzung des Einflusses publizistischer Arbeit auf die Meinungsbildung der Rezipienten. Lediglich Hans Heinz Fabris erbat von seinen Interviewpartnern eine Beurteilung des eigenen 170
Einflusses. Von den 30 österreichischen Journalisten nahmen 25 an, die Meinung ihrer Leser zu beeinflussen. 22 glaubten zusätzlich an die Möglichkeit, Druck auf die öffentlichen Institutionen ausüben zu können und 17 vermuteten darüber hinaus eine Beeinflussung der Öffentlichkeit.432 Nach einer Studie von Hans Mathias Kepplinger gehen 42 % von 91 rheinlandpfälzischen Lokaljournalisten von einem durchschnittlichen Einfluß auf ihre Leser aus. 23 % vermuten einen äußerst geringen und immerhin 35 % einen ausgesprochenen hohen persönlichen Einfluß auf ihre Leser.433 Nur ist mit einem überdurchschnittlich hohem Einfluß keineswegs ein Regierungswandel oder ein Systemsturz gemeint. Diese Möglichkeiten werden in der Selbsteinschätzung der Journalisten in der REALITÄT offenbar überhaupt nicht mehr in Erwägung gezogen. Unabhängig davon, daß sie bei Lokalredakteuren absurd erscheinen würde, ist diese Möglichkeit auch bei überregional arbeitenden Journalisten der REALITÄT überhaupt kein Thema mehr. Nach ihrer Selbsteinschätzung können Journalisten offensichtlich maximal „in alle Ministerien Unruhe und Unsicherheit bringen. Man weiß nie, ob sie nicht irgendetwas aushecken".434 Das Sample sowohl von Fabris als auch von Kepplinger ist relativ klein. Bei aller damit verbundenen Fragwürdigkeit ist festzuhalten, daß sie im Prinzip die vorher angeführten Zitate tendentiell bestätigen: journalistische Arbeit ist stets verbunden mit einem Einfluß auf Meinungsbildung innerhalb der Gesellschaft, gleichgültig, wie die Journalisten der REALITÄT nun zu der Verantwortlichkeit dieses Einflusses stehen. Zwischen Fiktion und REALITÄT besteht damit eine Gemeinsamkeit: journalistische Helden und Berufsvertreter der REALITÄT gehen grundsätzlich von einem Einfluß ihrer Arbeit zumindest auf die Meinungsbildung ihrer Leser aus. Zugleich besteht zwischen Fiktion und REALITÄT ein deutlicher Unterschied: während die journalistischen Helden — vor allem die der jüngsten Zeit — sich offen zu diesem Einfluß bekennen und ihn gezielt auf ihrem Weg zur Macht und damit verbunden zur Selbstverwirklichung einsetzen, herrscht bei den Journalisten der REALITÄT über diese Frage eine auffallende Zurückhaltung. Ursache dieser Zurüchaltung scheint eine Mischung aus Desinteresse, Verdrängung und Verantwortungslosigkeit zu sein. So bleibt auch hier wieder zu fragen, ob die journalistischen Helden der Fiktion offener, realistischer und ehrlicher sind, als ihre Kollegen in der REALITÄT. Ein Vergleich zwischen Tabelle XIII und XXXII macht sichtbar, wie stark sich das journalistische Berufsbild in Werken der fiktiven Welt gewandelt hat. Oft durch Welten voneinander getrennt, stehen sich der alte und der neue Berufsbildtyp des positiven Helden gegenüber: der „Unabhängige", dessen Vorbild die Akademischen Journalisten waren und der „Emporkömmling", dessen Vorbild der Self-madeJournalist gewesen sein muß. Die negativen journalistischen Helden unterscheidet nicht annähernd soviel wie die positiven: sichtbarsten Merkmal des negativen „Abhängigen", dessen Vorbild die Statuswechsler waren, ist die finanzielle Notlage und die Unsicherheit des Arbeitsplatzes. Daraus resultieren alle weiteren negativ bewerteten Berufscharakteristika. Der negative „Schädling", dessen Vorbild gleichfalls der Self-made-Journalist gewesen zu sein scheint, ist nicht mehr arm. Er muß auch nicht mehr um seinen Arbeitsplatz fürchten. Er ist einfach schlecht, schädlich, negativ bewertet. Es gibt bei ihm nur wenig wirklich signifikante berufsspezifische Merkmale. Dominieren zunächst bei den ersten Berufsbildtypen die klaren Formen vom po171
Tabelle XXXII: Aktuelle Berufsbildtypen Ausprägungen
Positiver Held
Negativer Held
Bezeichnung
.Emporkömmling'
,Schädling'
Vorbild in der Realität
Self-madeJournalist
Self-madeJournalist
Herkunft
Mittel- und Unterschicht
Kaum Angaben
Schichtenmobilität
Statusaufsteiger
Kaum Angaben
Vorbildung
Akademiker oder Nichtakademiker
Nichtakademiker
Finanzsituation
wohlhabend
wohlhabend
Vorwiegende Tätigkeit
Schreiben redigieren
Schreiben, redigieren für Kollegen recherchieren
Tätigkeitsfeld
Tages- und Wochenzeitungen, Funk und Fernsehen. Selten Boulevardzeitungen
Boulevardzeitungen
Beurteilung beruflicher Fähigkeiten
Begabt
Begabt
Berufsmotive
Anerkennung erzwingen. Macht ausüben
Macht ausüben, destruieren
Berufsethik
nein
nein
Berufsideologie
ja
ja
Politisches Engagement
nein
nein
Bevorzugte Zielgruppen
Regierung, Lobbygruppen
Lobbygruppen
Vorstellungen vom Rezipienten
negativ
negativ
sitiven und vom negativen Helden, so ist die aktuelle Variante des Berufsbildtyps sehr viel differenzierter und gleichzeitig weniger mit den Begriffen gut oder schlecht zu erfassen, die sonst überlicherweise fiktive Helden charakterisieren. Geprägt vom Vorbild des Akademischen Journalisten entstammt der „Unabhängige" überwiegend noch der Ober- und der Mittelschicht. Der aktuelle Berufsbildtyp hingegen — geprägt vom Berufsbild des Self-made-Journalisten — entstammt recht häufig der Unterschicht. Die wenigen empirischen Quellen aus der Geschichte des Journalismus in der REALITÄT weisen den Beruf jedoch ziemlich kontinuierlich als eine Tätigkeit aus, die sich überwiegend aus den Mittelschichten rekrutiert. Dennoch 172
müssen die wenigen Statusaufsteiger der REALITÄT einen nachhaltigen Eindruck auf die Autoren fiktiver Werke gemacht haben. Wie anders wäre es zu deuten, daß sie den ungeheuren Sprung von der Unterschicht zumindest in die mittleren Schichten derart häufig darstellen, daß er das aktuelle Berufsbild fiktiver Helden so prägt? Bei diesem Merkmal deckt sich die REALITÄT nur teilweise mit der Fiktion. Bezogen auf die Vorbildung wird gleichfalls ein Wandel deutlich, der allerdings lediglich eine Tendenzwende ankündigt: die positiven „Unabhängigen" hatten fast alle erfolgreich eine Universität besucht. Ihre negativen Gegenspieler, die „Abhängigen", haben ihre Universitätsausbildung oft abgebrochen. Beim aktuellen Berufsbild in Werken der fiktiven Welt scheint das Bildungsniveau nicht mehr ganz so hoch zu sein. Zwar haben zahlreiche positive „Emporkömmlinge" erfolgreich studiert. Aber es gibt gleichzeitig viele positive Helden der „Neuesten Zeit", die ihr Studium entweder abbrachen oder überhaupt keine Universität besucht haben, bevor sie den journalistischen Beruf ergriffen. Ihre negativen Gegenspieler, die „Schädlinge", haben überwiegend keine Universität besucht. Dennoch wird auch in der „Neuesten Zeit" der Beruf in Werken der fiktiven Welt nach wie vor überwiegend von Akademikern ausgeübt. Ähnlich ist es in der REALITÄT. Obgleich der Berufszugang auch NichtAkademikern möglich ist, überwiegt nach wie vor der Journalist mit Hochschulausbildung. Allerdings ist die Entwicklungstendenz in der REALITÄT eher umgekehrt: immer häufiger wird eine akademisch fundierte Grundausbildung gefordert. Die zahlreichen universitätsbezogenen Varianten der Journalistenausbildung belegen es. Doch eine derartige Ausbildung ist lediglich in den Augen der Berufsverbände wünschenswert, keineswegs Pflicht. Anders ist es bei der Finanzsituation der journalistischen Helden. Weshalb sie bei den „Unabhängigen" problemlos war, ist ausführlich dargestellt worden. Daß sie bei den negativen „Abhängigen" katastrophal war, wurde gleichfalls erläutert. Nur wurde von den Autoren der fiktiven Werke bereits damals gute journalistische Leistung gleichgesetzt mit ausreichender Bezahlung. Dies traf in der REALITÄT zwar für journalistische Spitzenpositionen zu, jedoch war die Unterbezahlung der Masse der Journalisten Norm. Daß beim aktuellen Berufsbild der Fiktion sowohl der positive „Emporkömmling" als auch der negative „Schädling" finanziell gesichert sind, ist eine Bestätigung der REALITÄT. Die Fiktion hat sich also den veränderten Bedingungen angepaßt. Die vorwiegende Tätigkeit der „Unabhängigen" bestand im Schreiben. Das Redigieren, für sie Handwerk, galt ihnen als rangniedere Tätigkeit. Sie kam dem negativen „Abhängigen" zu. Der positive „Emporkömmlich" schreibt und redigiert zugleich. Sein negativer Gegenspieler, der „Schädling", darf gleichfalls schreiben und redigieren. Damit hat also das Schreiben seine ausschließlich positive und das Redigieren seine ausschließlich negative Bewertung verloren. Anders ist es mit der Fremdreecherche. Da sie ausschließlich vom negativen „Schädling" geleistet und zudem auch noch schlecht bewertet wird, ist sie im aktuellen journalistischen Berufsbild in Werken der fiktiven Welt die rangniederste Tätigkeit, in der REALITÄT wird von der Fremdrecherche kaum gesprochen. Die Notwendigkeit des sachgerechten Redigierens wird allerdings von Verbandspolitikern immer wieder als wichtiges Kennzeichen für guten Journalismus hervorgehoben. Von der Masse der einfachen Journalisten wird das häufige Redigieren hingegen beklagt. Sie fühlen sich — wie einst die fiktiven Kollegen der ersten Berufsbildtypen — etwas degradiert, wenn diese handwerkliche Tätigkeit den größten Teil ihrer Arbeitszeit einnimmt. Aber eben nur dann. Priorität besitzt 173
für die Journalisten der REALITÄT das Schreiben. Kommt diese Möglichkeit zu kurz, sind ihre Zielvorstellungen vom journalistischen Beruf nicht erfüllt. Mit zur Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Journalisten in der REALITÄT gehört, daß zunehmend mehr im Team gearbeitet wird. Die umfassenden Reportagen, Serien in Magazinen und komplexe Berichte über aktuelle Ereignisse werden immer häufiger von mehreren Journalisten gleichzeitig bearbeitet; die Fremdrecherche ist keineswegs die Ausnahme. Arbeitsteilig liefern einige Journalisten die Informationen in Gestalt von Reportagesplittern und andere setzen diese Splitter zu großen Reportagen zusammen. Die meisten großen Illustrierten und Magazine arbeiten nach diesem Schema. Immer seltener wird gerade bei diesen Medien der Journalist, der seine Artikel allein recherchiert und schreibt. Bei den Journalisten der REALITÄT aber dominiert nach wie vor der Anspruch des pernament schreibenden Publizisten, der seine Artikel autonom verfaßt und veröffentlicht. Dies ist jedoch überwiegend bei den großen Pulikationsorganen nur den wenigen Meinungsjournalisten vorbehalten, die übrigen arbeiten relativ anonym. Lediglich die Lokaljournalisten bei mittleren und kleineren Tageszeitungen arbeiten ähnlich autonom wie ihre namentlich unterzeichnenden Kollegen bei den großen Zeitungen. Magazinen und Illustrierten. Dies geschieht vermutlich eher aus Gründen des Personalmangels, als aus Gründen journalistischer Autonomie. Überhaupt wird bei der Darstellung journalistischer Tätigkeit in der REALITÄT häufig übersehen, daß die Masse der Journalisten unter verschiedensten Formen von Abhängigkeit arbeiten und Informationen für den täglichen Gebrauch vermitteln, die nur wenig mit dem oft zitierten Wächteramt der Presse zu tun haben. Dessenungeachtet vertritt eben diese Uberzahl von Journalisten jenen Anspruch, den umzusetzen nur sehr wenigen Kollegen möglich ist; und das war schon immer so. Das Tätigkeitsfeld des „Unabhängigen" ist eindeutig die Gesinngungspresse, des negativen „Äbhängigen" mitunter bereits die Generalanzeigerpresse. Unpolitisch oder politisch opportunistisch zu sein, bedeutete bei den ersten Berufsbildtypen seinerzeit zugleich, schlecht beurteilt zu werden. Die Generalanzeigerpresse galt nicht nur als unpolitisch oder politisch opportunistisch, sondern zudem auch als niveaulos. Die Generalanzeigerpresse ist inzwischen ausgestorben. Dieselben negativen Werturteile betreffen nunmehr die Boulevardzeitungen. Der positive „Emporkömmling" schreibt überwiegend für anspruchsvolle Tages- oder Wochenzeitungen, Funk und Fernsehen. Selten nur ist er Mitarbeiter an Boulevardzeitungen. Die Boulevardzeitungen, die den Autoren gleichfalls als offensichtliche Nachfolger der ehemaligen Generalanzeiger gelten, sind hingegen überwiegend das Massenmedium, an dem der negative „Schädling" arbeitet. Auch die Boulevardzeitungen gelten in Werken der fiktiven Welt als politisch opportunistisch und niveaulos. In ihren Auswirkungen werden sie von den Autoren, wie zum Beispiel bei Heinrich B o l l , jedoch als hochpolitische Werkzeuge beschrieben. In der REALITÄT gibt es zu diesem Untersuchungsergebnis eindeutige Parallelen. Nach wie vor haben viele Journalisten ein völlig gestörtes Verhältnis zur Boulevardpresse, die inzwischen massenhaft verbreitet ist. In den Augen jener, die nicht dort arbeiten, gilt sie als Beispiel fehlgeleiteter Berufsbildauffassung. In den Augen derjenigen, die dort arbeiten, ist sie die einzige Zeitungsart, die sachund journalistengerecht die Bedürfnisse der Leser befriedigt. In der Beurteilung einiger berufspolitisch engagierter Journalisten aber ist sie überhaupt nicht der Presse zuzuordnen, sondern einer journalismusfremden, pathologischen Abweichung. Also sowohl in der Fiktion als auch in der REALITÄT dominiert die Verurteilung jener 174
Massenmedien, die sich als besonders publikumswirksam erwiesen haben. Autoren der Fiktion wie Journalisten der REALITÄT scheint es undenkbar, daß mit einer außergewöhnlich massenwirksamen Publikation guter Journalismus gemacht werden könnte. Die Beurteilung beruflicher Fähigkeiten kulminiert in der Frage nach der Begabung. Sowohl in der Fiktion als auch in der REALITÄT hält sich hartnäckig der Glaube, daß sie angeboren und nicht zu lernen ist. Bei den frühen Berufsbildtypen ist nur der ein positiver journalistischer Held, der journalistisch begabt ist. Wem diese Begabung fehlt, fehlt auch der berufliche Erfolg. Ergo ist er — wie der negative „Abhängige" — ein Versager. So konstituiert die journalistische Begabung entscheidend den positiven Helden im frühen Berufsbild. Dies ist bei den aktuellen Berufsbildtypen in Werken der fiktiven Welt nicht mehr der Fall. Die Begabung zeichnet sowohl den positiven „Emporkömmling" als auch den negativen „Schädling" aus. Da auch in der Neuesten Zeit davon ausgegangen wird, daß nur wirken kann, wer auch begabt ist, wirkt der „Schädling" aufgrund seiner angeborenen journalistischen Begabung eben negativ, destruktiv. Somit wird die Begabung in ihrer Bewertung relativiert, als Voraussetzung für die journalistische Tätigkeit jedoch nach wie vor für unabdingbar gehalten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die frühen Berufsbildtypen nur selten an eine durchschlagende Wirkung ihrer Arbeit auf die Gesellschaft glaubten. Die aktuellen journalistischen Helden muten sich stattdessen, gleichgültig, ob in ihrer Rolle als „Emporkömmling" oder als „Schädling", eine beträchtliche Wirkung zu. Bemerkenswert ist der Unterschied zur REALITÄT. Im aktuellen Berufsbild heute lebender Journalisten dominiert zwar gleichfalls.jder Glaube an die angeborene Begabung, Äußerungen über die Wirksamkeit des journalistischen Berufes seitens der Journalisten sind jedoch selten zu registrieren. Wenn sie aber zu finden sind, muten sie so zurückhaltend an, wie einst beim fiktiven „Unabhängigen". Daß in der REALITÄT so wenig über die Wirksamkeit der Presse gesprochen wird, dürfte auch daran liegen, daß der Beruf den Journalisten von heute nicht mehr primär als Mission im Dienste einer politischen Idee, sondern als Instrument zur individuellen Selbstverwirklichung gilt. Die Berufsmotive der journalistischen Helden haben sich im Verlauf von rund 200 Jahren besonders sichtbar gewandelt. Während der „Unabhängige" als positiver journalistischer Held überwiegend aus ideellen, politischen Gründen den Beruf ergreift, ist es beim „Emporkömmling" nur noch in den seltensten Fällen Idealismus. Stattdessen wird der Beruf primär als Plattform individuellen Aufstiegs oder als Auffangstadion vor einem drohenden sozialen Abstieg betrachtet. Der negative „Abhängige" der frühen Jahre ergreift den Beruf gleichfalls aus eigennützigen und materiellen Gründen. Der negative „Schädling" der Neuesten Zeit kommt zum Beruf, um individuelle Macht auszukosten und die Gesellschaft, die er haßt, zu destruieren. Idealistische Berufsmotive also fehlen dem negativen Helden der frühen Zeit. Sie fehlen auch dem positiven und dem negativen Helden der „Neuesten Zeit". Angesichts der Tatsache, daß dem journalistischen „Emporkömmling" der fehlende Idealismus keineswegs negativ, sondern im Gegenteil positiv ausgelegt wird, ist ein idealistisches Berufsmotiv nunmehr irrelevant oder wird sogar als berufsfremd betrachtet. Das berufsethische, idealistische Berufsmotiv ist somit keine konstituierende Variante mehr, weder für den positiven noch für den negativen Helden. Es ist für das journalistische Berufsbild in Werken der fiktiven Welt völlig unwichtig geworden. 175
Berufstypisch ist hingegen beim positiven „Emporkömmling" wie beim negativen „Schädling" in Werken der Neuesten Zeit, daß der Beruf als Waffe im permanenten Kampf gegen die Gesellschaft benutzt wird, einem Kampf, in dem es nur darum geht, dem journalistischen Helden einen angemessenen Rangplatz zu erzwingen und damit seine Relevanz als Persönlichkeit zu bestätigen. In der REALITÄT ist zwar nach wie vor viel von ideellen Berufsmotiven die Rede, doch die Untersuchungen haben belegt, daß auch die Journalisten der Gegenwart aus primär eigennützigen Motiven den Beruf ergriffen haben. Der individuelle Wunsch nach Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung dominiert bei ihnen ebenso wie bei ihren Kollegen aus der Fiktion. Ebenso wie in der Fiktion bietet der Journalismus der REALITÄT gleichfalls die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg oder wird zu Auffangstation vor drohendem sozialen Abstieg: es sind im Journalismus auffallend viele Berufswechsler zu finden. So gibt es zwischen fiktiven Helden der „Neuesten Zeit" und Journalisten der REALITÄT eindeutige Parallelen. Ideelle Berufsmotive sind zweit- oder drittrangig. Die Frage nach der Berufsethik kündet gleichfalls von einem eindrucksvollen Wandel des journalistischen Berufsbildes in Werken der fiktiven Welt. Während der „Unabhängige" wortreich und eindrucksvoll ethische Grundsätze formuliert, werden sie vom „Emporkömmling" rigoros als Phrase abgelehnt. Die fehlende Berufsethik beim „Abhängigen" als negativem Helden alten Typs gilt als Beweis seiner Untauglichkeit zum Journalismus. Die fehlende Berufsethik des „Schädlings" ist kein konstituierendes Merkmal für einen negativen Helden des aktuellen Berufsbildtyps. Sie gilt im Gegenteil als Merkmal für richtig verstandenen Journalismus. In der REALITÄT ist der berufsethische Anspruch nach wie vor hoch. Kaum ein Journalist der Gegenwart hat es bisher gewagt, seine Tätigkeit als pragmatisches Handwerk ohne zusätzliche berufsethische Ansprüche zu beschreiben. Sei es nun als „Anwalt der Armen", als „ Gewissen der Nation" oder als „Meinungsführer". Rückzugstendenzen sind allerdings zu registrieren. Sie werden unter anderem sichtbar im sinkenden politischen Engagement oder im Rekurrieren auf wertneutrale Informationsvermittlung. Dennoch spielt die Berufsethik in der REALITÄT nach wie vor eine wichtige Rolle, auch dort, wo im aktuellen Berufsbild der Verbände neuerdings auf wesentliche Aspekte verzichtet wird. Diese Aspekte sind dafür in den „Publizistischen Grundsätzen" des Deutschen Presserates wiederzufinden. Im offiziellen Berufsbild wird deutlich darauf verwiesen. Die Berufsethik ist also nicht gestrichen, sondern lediglich verlagert. Berufsideologie war den „Unabhängigen" als positiven journalistischen Helden fremd. Ihre negativen Gegenspieler, die „Abhängigen" hingegen benutzten berufsideologische Argumente, um schädliche Auswirkungen ihrer Tätigkeit zu rechtfertigen. Anders ist es mit den aktuellen Berufsbildtypen in Werken der fiktiven Welt. Berufsideologie ersetzt den positiven wie negativen journalistischen Helden die Berufsethik. Es ist für beide Arten von Helden Kennzeichen für eine realitätsbezogene, pragmatische und von jedem ethischen Ballast befreite Berufsauffassung. Berufsideologie — einst also ein Indikator für negative Helden — wird in der „Neuesten Zeit" zum Merkmal des journalistischen Berufsbildes. Positive wie negative journalistische Helden vertreten sie, und es gilt als positiv, wenn berufsideologischer Realismus und Pragmatismus die alten berufsethischen Grundsätze — in den Augen der aktuellen journalistischen Helden sind es Phrasen — ersetzt. Auch die Berufsideologie hat damit ihre negative Bewertung verloren. Sie ist stattdessen konstituierender Bestandteil des aktuellen Berufsbildes in Werken der fiktiven Welt.
In der REALITÄT sind berufsideologische Abhandlungen meistens nur dort zu registrieren, wo sie zum Beweis für falsch verstandenen Journalismus herangezogen werden. Was in den aktuellen Werken der fiktiven Welt als Positivum gilt, wird in der REALITÄT zum Krankheitsbild einer zum bloßen Machtinstrument herabgesunkenen Presse mit gesinnungslosen, unfähigen Journalisten. Das äußert sich sowohl in der „Presse, die ein Volk verdient hat", als auch in beredten Klagen über die verheerenden Auswirkungen der Arbeit der Boulevardjournalisten. Das politische Engagement der journalistischen Helden nimmt etwa in dem Maße ab, wje ihnen die ideellen Berufsmotive verlorengehen. Da der frühe „Unabhängige" die politischen Strukturen verändern wollte, ist sein Engagement bei Parteien oder Gruppen nur folgerichtig. Daß sein negativer Gegenspieler, der „Abhängige", Gleiches nicht anstrebt, liegt unter anderem an seinen eigennützigen Berufsmotiven. Der positive „Emporkömmling" lehnt konsequent politisches Engagement ebenso ab wie der negative „Schädling". Politische Einseitigkeit könnte der Karriere schaden. Da politisches Engagement damit nicht mehr zum Kriterium positiver oder negativer Charakterisierung verwendet wird, ist zu folgern, daß ein politisches Engagement inzwischen offensichtlich nicht mehr berufsspezifisch ist. Stattdessen dominiert im aktuellen Berufsbild die opportunistische Grundhaltung journalistischer Helden. Galt politischer Opportunismus einst bei den „Abhängigen" als Kennzeichen negativer journalistischer Helden, so wird seine Bewertung beim aktuellen Berufsbild relativiert. Politischer Opportunismus gilt beim positiven „Emporkömmling" ebenso wie beim negativen „Schädling" als verständlicher, ja notwendiger Pragmatismus auf dem Weg zum Erfolg in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Opportunismus wird damit zum Bestandteil des journalistischen Berufsbildes. Die Bereitschaft zur Parteimitgliedschaft der Journalisten in der REALITÄT liegt zwar etwas über dem Durchschnitt der Parteimitgliedschaften aller Bundesbürger. Ihr praktisches politisches Engagement ist jedoch äußerst gering. Vor allem wird Politik im und durch den Beruf überwiegend abgelehnt. Die wenigen Meinungsjournalisten befinden sich in permanenter Verteidigungshaltung. Die Norm ist stattdessen wertfreier Journalismus und unparteiische Information. Diese unpolitische Berufsauffassung wird in der REALITÄT gleichzeitig kritisiert. Beklagt wird politischer Opportunismus, den man nicht nur bei Lokaljournalisten, sondern auch bei Redakteuren an überregionalen Zeitungen oder beim Funk und Fernsehen festzustellen glaubt. So weist die Fiktion mit der REALITÄT eindeutige Parallelen auf, doch werden dieselben Tatbestände unterschiedlich interpretiert. Bevorzugte Zielgruppe der historischen „Unabhängigen" war das Volk, um dessen Wohl es den journalistischen Helden in erster Linie ging. Bevorzugte Zielgruppe des negativen „Abhängigen" waren hingegen aufgrund seiner Statusunsicherheit die Regierung und ihr nahestehende Lobbygruppen. Erneut wird ein deutlicher Wandel im journalistischen Berufsbild sichtbar, denn bevorzugte Zielgruppe des aktuellen „Emporkömmlings" sind gleichfalls Regierung und Lobbygruppen. Stets orientiert sich der positive Held der „Neuesten Zeit" an deren Interessen. Das Wohl des Volkes ist ihm gleichgültig. Der negative „Schädling" möchte gleichfalls gerne mit den Mächtigsten zusammenarbeiten und ausschließlich ihre Interessen vertreten. Doch da ihm der Zugang zu Regierungskreisen überwiegend versperrt bleibt, orientiert er sich primär an den Interessen der wirtschaftlich mächtigen Lobby. Der Journalismus in fiktiven Werken der „Neuesten Zeit" wird damit zu einem Instrument der Hofberichterstattung. 177