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German Pages 347 Year 2008
FORSCHUNGEN ZUR BRANDENBURGISCHEN UND PREUSSISCHEN GESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von Johannes Kunisch
Beiheft 9
Krise, Reformen – und Finanzen Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Krise, Reformen – und Finanzen
FORSCHUNGEN ZUR BRANDENBURGISCHEN UND PREUSSISCHEN GESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von Johannes Kunisch Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz von Wolfgang Neugebauer und Frank-Lothar Kroll
Beiheft 9
Krise, Reformen – und Finanzen Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806
Herausgegeben von
Jürgen Kloosterhuis Wolfgang Neugebauer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0940-1644 ISBN 978-3-428-12852-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhalt Einleitung Wolfgang Neugebauer Zur Einführung. Probleme der älteren Finanzgeschichte am Beispiel Preußens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jürgen Kloosterhuis Krise, Reformen – und Finanzen. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806. Zur Eröffnung der Tagung der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz vom 6. bis 8. Oktober 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ausgangsposition Hans-Christof Kraus Der „nervus rerum“ in Publizistik und Wissenschaft – Staatsfinanzen im kameralistischen und staatswissenschaftlichen Diskurs in Preußen um 1800 . .
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Karl Heinrich Kaufhold Statistik und brandenburg-preußischer Staat, 1650 – 1850: Organisation und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Baumgart Preußische Außenpolitik vor 1806 und ihre finanziellen Dimensionen . . . . . . . . .
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Preußen um 1800 Wolfgang Neugebauer Finanzprobleme und landständische Politik nach dem preußischen Zusammenbruch von 1806 / 07 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Reinhold Zilch Staatsfinanzen und Bildungsreform. Formen der staatlichen Finanzierung des Bildungswesens 1797 bis 1819 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Martin Winter Ein märkischer Andreas Hofer? Die Auseinandersetzungen um die „provisorische Verteilung“ der Kriegslasten der Stadt Berlin im Jahr 1809 . . . . . . . . . . . . . 169
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Inhalt Parallelen und Kontrapunkte
Hans-Joachim Behr Ritterschaftlicher Adel und öffentliches Finanzwesen in Westfalen um 1800 – Landstände, Landtage, Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Werner Buchholz „Se. Königl. Majestät [ . . . ] Vorsorge für die Aufhelfung des Ackerbaus [und für] eine allgemeinere Wohlhabenheit der arbeitenden Klasse“: Strukturkrise und Gesellschaftsreformen in Vorpommern 1806 und ihre Behandlung in Preußen nach 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Ingeborg Schnelling-Reinicke Finanzpolitik in napoleonischen Kunststaaten – ein Modell? Westphalen, Berg und Frankfurt im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Harm-Hinrich Brandt Der österreichische „Staatsbankrott“ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen. Probleme der Kriegslastenbewältigung in einer schwach integrierten Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Hans-Peter Ullmann Der Kampf gegen den Staatsbankrott: Krise, Reform und Konsolidierung der öffentlichen Finanzen in den süddeutschen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Reflexionen Susanne Brockfeld Pecunia nervus rerum? Die Rolle der Staatsfinanzen in der Geschichtsschreibung zur preußischen Reformära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Einleitung
Zur Einführung. Probleme der älteren Finanzgeschichte am Beispiel Preußens Von Wolfgang Neugebauer, Würzburg
Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß gerade die Finanzgeschichte des preußischen Militär- und Finanzstaates nur höchst lückenhaft bearbeitet worden ist. Noch immer ist die Forschung auf Studien angewiesen, die mehr als hundert Jahre alt sind und die zumal hinsichtlich der Datenbasis seit langem diskutiert, ja angezweifelt werden1. Insbesondere auf dem finanzgeschichtlichen Felde wirkt es sich heute ausgesprochen negativ aus, daß in den drei bis vier Jahrzehnten vor 1914, in denen die editorischen Grundlagen für jede wissenschaftliche Beschäftigung mit der älteren preußischen 1 Gleichwohl nach wie vor unverzichtbar: Adolph Friedrich Riedel, Der Brandenburg-Preußische Staatshaushalt in den beiden letzten Jahrhunderten. Ausführung eines in der Königl. Akademie der Wissenschaften am 6. April 1865 gehaltenen Vortrages, Berlin 1866, für die Zeit um 1800: 200 – 242; zu späteren Aktenfunden aus den Beständen der Generaldomainenkasse und des Tresors vgl. die Korrespondenzen aus dem Jahre 1909: GStA PK VI. HA, Nachlaß Schmoller, Nr. 241; nach wie vor nützlich: Friedrich Gustav Schimmelfennig, Historische Darstellung der Grundsteuer-Verfassungen in den preußischen Staaten (Die Preußischen direkten Steuern, 1), Berlin 1831, etwa 49 ff.; wichtig ders., Die Preußischen direkten Steuern, 1. Tl., enthält: Die historisch-pragmatische Darstellung der Grundsteuerverfassungen in den Preußischen Staaten, 2. umgearb. Aufl. Potsdam 1843, mit Kapiteln zur Steuerverfassung der einzelnen Provinzen, etwa Ostpreußen: 112 – 156; nach wie vor wichtig: Wilhelm Anton Klewiz, Steuerverfassung im Herzogtum Magdeburg. Aus öffentlichen Quellen, 2 Bde., Posen 1795, mit wichtigen historischen Rückblicken, etwa Bd. 2, 28 ff.; zuerst 1877: Gustav Schmoller, Die Epochen der preußischen Finanzpolitik bis zur Gründung des deutschen Reiches, wieder in ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, Neudruck: Hildesheim / New York 1974, 104 – 246, zu Riedel vgl. 127 Anm. 1; die ältere Lit. bei Friedrich-Wilhelm Henning, Die preußische Thesaurierungspolitik im 18. Jahrhundert, zuerst 1974, wieder in ders., Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mittelund Ostdeutschlands (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, A 42), Dortmund 1985, 119 – 136, hier 134 ff.; unter Auswertung der älteren, auch zeitgenössischen Finanzliteratur und mit neuen archivalischen Grundlagen Alexander Hamann, Finanzpolitik und Finanzstruktur im Alten Preußen. Das Beispiel der Kurmark im 18. Jahrhundert, Magisterarbeit Würzburg (Masch.) 2007, bes. 12 ff.
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(Struktur-)Geschichte auch in der Gegenwart gelegt worden sind, zentrale Felder des Steuerwesens ausgespart blieben. Bekanntlich wurde zwar die Geschichte der Kontribution und überhaupt der direkten und indirekten Steuern im 17. Jahrhundert noch rechtzeitig vor dem Ersten Weltkrieg erforscht2, wenn auch die Drucklegung 1915 nur noch in stark reduzierter Form erfolgen konnte3. Der Autor, Friedrich Wolters, hat nach 1918 dieses Arbeitsgebiet, für das er eine große, nicht zuletzt paleographische Kompetenz erworben hatte, nicht weitergepflegt; er gehörte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu den markanten Personen des George-Kreises. Freilich lag der Fokus des Interesses bei der älteren Forschung auf der Zentralverwaltung, während die Vorgänge der Ressourcenextraktion auf der lokalen Ebene überhaupt noch weitgehend im Dunkeln liegen, und das gilt auch für das 18. Jahrhundert4. Aber es stellt sich doch die Frage, wie auf der unteren Ebene konkret, in den (kleinen) Städten und im Dorf, die Gelder eingehoben wurden, wie die Finanzströme organisiert worden sind, ob sie über die Zentralkassen in der Hauptstadt flossen oder ob – in den Zeiten des Fondsprinzips – die Gelder in den Regionen und Landschaften erhoben und auch wieder verwendet wurden. Vieles spricht dafür, daß für die Funktionsweise einer solchen vor-modernen Finanzwirtschaft ständische Strukturen in den Kreisen und Landschaften von einem Gewicht waren, das die Forschung bislang allenfalls ansatzweise erkannt hat. Formen der Widerständigkeit setzten an dieser Praxis dezentraler Finanzwirtschaft an – und auch dieses Forschungsfeld liegt, soweit es die Regionen Preußens betrifft – noch gänzlich brach. Diese Beispiele stehen für viele. So stellen sich der künftigen Forschung gleich auf mehreren Ebenen neue Fragen, die es ermöglichen, auch und gerade auf dem Felde der Finanzgeschichte der Gefahr eines konventionellen Zugriffs zu entgehen. 2 Friedrich Wolters, Geschichte der brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640 – 1697. Darstellung und Akten, Bd. 2: Die Zentralverwaltung des Heeres und der Steuern (Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1.2), München / Leipzig 1915, zu den Planungen der hier abgedruckte „Bericht der Kommission für die Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg“, V f. 3 An der Drucklegung und Betreuung des Wolterschen Bandes war Otto Hintze stark beteiligt; die einschlägigen Korrespondenzen Wolters, Schmollers und Hintzes liegen im GStA PK, VI. HA, Nachlaß Schmoller, Nr. 216 und 247, zu 1914 und 1915; zur Person: Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904 – 1930, mit einer Einleitung hrsg. v. Michael Philipp, Amsterdam 1998, die Einleitung: 5 – 62, darin zu Schmoller: 17 f. 4 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Staatsverfassung und Heeresverfassung in Preußen während des 18. Jahrhunderts, in: FBPG NF 13 (2003), 83 – 102, hier 94 ff.; Fondssystem: Franz Schneider, Geschichte der formellen Staatswirtschaft von Brandenburg-Preußen (Schriften der Forschungsstelle für Staats- und Kommunalwirtschaft e.V.), Berlin (1952), 32 f., 42, 48, 81, 85 u. ö.
Zur Einführung
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Das große Editions- und Forschungsprojekt der Acta Borussica5 hat sich der Finanzgeschichte speziell nur im Rahmen der Zoll-Handels- und Akzisepolitik angenommen6, während die direkten Steuern, insbesondere die Kontribution, nicht bearbeitet worden sind7. Nach den archivalischen Kriegsverlusten des Jahres 1945, zumal nach dem Brand des Heeresarchivs mit seinen für die Finanzgeschichte wichtigen Beständen8 ist es fraglich, ob die von der klassischen Forschung in den Jahrzehnten Gustav Schmollers und Otto Hintzes gelassenen Lücken künftig werden geschlossen werden können9. Dies betrifft, um ein Beispiel zu geben, auch und gerade die Heeresfinanzierung. Jedenfalls gilt auch für dieses weite Arbeitsfeld, daß fortan der Blick aus der zentralinstanzlichen Perspektive durch denjenigen aus den Landschaften, den großen und kleinen Regionen zu ergänzen ist. Denn
5 Vgl. zur Konzeption dieses als staatswissenschaftliches Grundlagenwerk angelegten Unternehmens Wolfang Neugebauer, Zum schwierigen Verhältnis von Geschichts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften am Beispiel der Acta Borussica, in: Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, hrsg. v. Jürgen Kocka (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen, Forschungsberichte, 7), Berlin 1999, 235 – 275, hier 245 ff., 262 und passim; zum (Not-)Betrieb nach 1918: Wolfgang Neugebauer, Zur preußischen Geschichtswissenschaft zwischen den Weltkriegen am Beispiel der Acta Borussica, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 50 (1999), 169 – 196, und ders., Das Ende der alten Acta Borussica, in: Wissenschaftsfördernde Institutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Beiträge der gemeinsamen Tagung des Lehrstuhls für Wissenschaftsgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin und des Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft 18. – 20. Februar 1999, hrsg. v. Rüdiger vom Bruch / Eckart Henning (Dahlemer Archivgespräche, 5), Berlin 1999, 40 – 56. 6 Acta Borusscia. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hrsg. v. der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung: Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens, bearb. von Hugo Rachel, 3 Bde. (in 5), Berlin 1911 – 1928, freilich nur bis 1786; zur Anlage der beiden letzten Teilbände vgl. das Vorwort von Otto Hintze V f.; dazu W. Neugebauer, Verhältnis (Anm. 5), 266 ff. 7 Vgl. die Wunschliste bei Gerd Heinrich, Acta Borussica. Ein Rückblick nach hundert Jahren, in: Acta Borussica . . . Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 16, Tl. 2, bearb. von Gerd Heinrich und Peter Baumgart (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 5, Quellenwerke 5), Hamburg und Berlin 1982, VII – XIX, hier XV. 8 Vgl. F. Wolters, Geschichte (Anm. 2), XI zur Bedeutung des „Geheimen Archivs im Königlichen Kriegsministerium“ für diese Materie; vgl.: Übersicht über die Bestände des Geheimen Staatsarchivs Berlin-Dahlem, Tl. 2, (bearb.) v. Heinrich Otto Meisner und Georg Winter (Mitteilungen der preußischen Archivverwaltung, 25), Leipzig 1935, etwa 62 ff.; Eckart Henning, 50 Jahre Geheimes Staatsarchiv in BerlinDahlem – 100 Jahre seit seiner Vereinigung mit dem Ministerialarchiv, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 25 (1974), 154 – 174, hier 166 zum Verlust der Masse des Heeresarchivs 1945. 9 Zur Überlieferungslage statistischer Quellen aus dem 18. Jahrhundert vgl. den Beitrag von Karl Heinrich Kaufhold in diesem Bande; zum Arbeitsfeld der Militärfinanzierung vgl. A. Hamann (Anm. 1).
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es gibt ja gute Argumente dafür, daß die Entwicklung Preußens vor 1806 durchaus nicht von einer linearen und progressiven Zunahme „einheitsstaatlicher“ Struktur-Charakteristika gekennzeichnet gewesen ist10. Vielleicht wird sich auf finanzgeschichtlichem Felde einiges von der Beobachtung bestätigen, daß in Preußen die Entwicklung vor 1806 eher von Desintegrationserscheinungen und Zentrifugalkräften gekennzeichnet war11, und dies durchaus nicht nur mit Blick auf die denkbar heterogenen Teilungsund „Entschädigungs“-Lande im Osten und im Westen der Monarchie. Auch – aber durchaus nicht allein – für den preußischen Fall gilt es, die vormoderne und die moderne Geschichte der „öffentlichen“ Finanzen deutlicher zu unterscheiden und nicht die Verhältnisse und Maßstäbe des 19. Jahrhunderts auf frühere Zeiten zurückzuprojizieren. Die Rolle des landständischen Kredits, auch und gerade des nach 1770 neu organisierten Bodenkredits und der damit in Verbindung stehenden Boden-Mobilisierung12 gehört in diesen Kontext. Gerade hier böten sich hervorragende Ansatzpunkte für einen Vergleich im deutschen und im weiteren europäischen Rahmen, und dessen Resultate besitzen Relevanz sowohl für die politische als auch für die Sozialgeschichte. Die Finanzgeschichte der „Sattelzeit“13, also der Jahrzehnte um 1800, leistet einen zentralen Beitrag zur Analyse von Kausalitäten und Phänomenen in jener Epoche beschleunigten Wandels, und auch für diese Zeitschicht gilt, daß – trotz mancherlei Vorarbeiten der letzten Jahrzehnte14 – die preu10 Aus der Schule Otto Hintzes: Ludwig Tümpel, Die Entstehung des brandenburgisch-preußischen Einheitsstaates im Zeitalter des Absolutismus (1609 – 1806) (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, 124), Breslau 1915, Neudruck Aalen 1965, vorsichtig: 265. 11 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Marktbeziehung und Desintegration. Vergleichende Studien zum Regionalismus in Brandenburg und Preußen vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 45 (1999), 157 – 207; und ders., Der Adel in Preußen im 18. Jahrhundert, in: Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (1600 – 1789), hrsg. v. Ronald G. Asch, Köln / Weimar / Wien 2001, 49 – 76, bes. 75. 12 Vgl. den Beitrag von Werner Buchholz in diesem Bande, vgl. dort Anm. 18. 13 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII – XXVII, hier XV ff.; vgl. dazu Karl-Erich Bödeker / Ernst Hinrichs, Alteuropa – Frühe Neuzeit – Moderne Welt? Perspektiven der Forschung, in: Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung (Problemata, 124), Stuttgart / Bad Cannstatt 1991, 11 – 50, hier 41 ff.; mit weiterer Lit. vgl. Wolfgang Neugebauer, Aufgeklärter Absolutismus, Reformabsolutismus und struktureller Wandel im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. v. Werner Greiling / Andreas Klinger / Christoph Köhler (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, 15), Köln / Weimar / Wien 2005, 23 – 39, hier 23 f., 38 f., mit weiterer Lit.
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ßische Geschichte alles andere als ausgeforscht ist. Es bedarf auch hier noch erheblicher Anstrengungen, bis die preußische Geschichte dem internationalen und vergleichenden Standard genügt15. Die in diesem Band versammelten Studien, entstanden anläßlich eines Ausstellungsprojektes im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz im Rahmen einer Tagung der Preußischen Historischen Kommission, sollen und können nur einen kleinen Schritt in diese Richtung gehen. Auch16 im Falle Preußens stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Finanzfaktors für Staat und Politik in der Zeit der europäischen Revolu14 Aus der Lit. mit finanzgeschichtlicher Beweisführung exemplarisch Ernst Klein, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 16), Berlin 1963, 15 ff.; Hans Haussherr, Erfüllung und Befreiung. Der Kampf um die Durchführung des Tilsiter Friedens 1807 / 1808, Hamburg 1935; dazu unten die Studie des Vf. in Auseinandersetzung mit Haussherr; nach wie vor unverzichtbar: Rolf Grabower, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen. Mit einem Geleitwort von Johannes Popitz, Berlin 1932, mit weitem Rückgriff in das 18. Jahrhundert (18 – 132); bei Grabower auch die ältere Lit.; sodann: Preußische Finanzpolitik 1806 – 1810. Quellen zur Verwaltung der Ministerien Stein und Altenstein, bearb. von Eckart Kehr, hrsg. v. Hanna Schissler und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1984, darin Hanna Schissler, Einleitung: Preußische Finanzpolitik 1806 – 1820, 13 – 64, mit (15) Stilisierung Kehrs unter Ignorierung der älteren finanzgeschichtlichen Spezialforschung, zu Finanzbedarf und „politischen Teilhabeforderungen“ ab (!) 1810: 19 ff., womit die partizipationsgeschichtlich doch interessanten Jahre ab 1806 / 07 weggeblendet werden; Hypothekenmarkt seit 1807: 36 ff.; zu diesem Werk der Beitrag von Susanne Brockfeld in diesem Bande; vgl. die drastische und kenntnisreiche Rezension von Willi A. Boelcke, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 34 (1985), 142 – 144, 143: Veralteter Forschungsstand, und sodann 144: „Wenn nicht diese besondere deutsche Zweistaatlichkeit bestände, die den freien Zugang zu den Merseburger Aktenbeständen ausschließt, hätte man auf die Edition der fragmentarischen Preußen-Überlieferung aus dem geretteten Kehr-Nachlaß gewiß verzichten können.“ 15 Vgl. die Literaturangaben in dem Beitrag von Hans-Peter Ullmann; exemplarisch: Charles Tilly, Coercion, Capital and European States, AD 990 – 1992, 5. Aufl. Cambridge / Oxford 1998, bes. 87 ff.; Philip T. Hoffmann / Kathryn Norberg (Hrsg.), Fiscal Crises, Liberty, and Representative Government 1450 – 1789, Stanford 1994, etwa die „Introduction“ der Herausgeber: 1 – 5, und die „Conclusion“ 299 – 310, bes. 304 ff.; dazu Wolfgang Neugebauer, Staat – Krieg – Korporation. Zur Genese politischer Strukturen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), 197 – 237; Economic Systems and State Finance, hrsg. v. Richard Bonney, Oxford / New York 1995, etwa die Introduction des Herausgebers 1 – 18, zur Modelldiskussion 5 ff.; in diesem Band Martin Körner, Public Credit, 507 – 538, bes. 532 ff.; vgl. noch: The Political Economy of British Historical Experience, 1688 – 1914, hrsg. v. Donald Winch / Patrick K. O’Brien, Oxford 2002, darin von Patrick K. O’Brien, Fiscal Exceptionalism: Great Britain and Its European Rivals from Civil War to Triumph of Trafalgar and Waterloo, 245 – 265, Schuldenpolitik: 254 ff. 16 Aus der reichen Lit. vgl. den jetzt vorliegenden Band der Edition: Die Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817, Bd. 1: 1799 bis 1801, bearb. von Reinhard
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tionen und Reformen. Die Beiträge dieses Bandes beleuchten direkt und indirekt den Zusammenhang, der zwischen den (Staats-)Finanzen und dem gesellschaftlich-politischen Wandel in vielfacher Hinsicht bestanden hat. Freilich ist der Zusammenhang von Finanzlage und – in einem weiten Sinne – Verfassungsfrage17 nicht erst eine Erscheinung der Zeit um 1800. Auch im 17. und im 18. Jahrhundert, in Staaten und Territorien des „Absolutismus“, läßt sich ja zeigen, daß in Phasen kriegsbedingter Belastung die ständische Partizipation großes Gewicht besessen hat. Sei es Bayern nach dem Dreißigjährigen Kriege oder Österreich im Siebenjährigen Krieg: die Landstände beziehungsweise die landschaftlichen Finanzorgane waren von entscheidender Bedeutung für den öffentlichen Kredit in beziehungsweise nach großen Kriegen. – Diese und andere Beispiele illustrieren den Zusammenhang von finanzieller Krisenlage und politischer Partizipation schon in älteren Epochen. Vielleicht liegen auf diesem Felde noch tiefere Zusammenhänge verborgen zur denkbar strittigen Frage von Kontinuität und Diskontinuität um 1800. Gewiß: da, wo Landstände im 18. Jahrhundert und in den Zeiten der napoleonischen Kriege in der Finanzverwaltung und Finanzpolitik steuererhebend oder kreditschöpfend tätig wurden, handelte es sich zunächst um Landeseliten, um in aller Regel kleine Personengruppen – gemessen an der Gesamtbevölkerung. Aber diese Eliten waren selbst Teil des strukturellen Wandels, und es ist jenseits des allzu dominanten Aspekts institutioneller Kontinuitäten seit der Frühen Neuzeit eine lohnende Frage, unter welchen Umständen die alten Stände selbst Träger des Wandels geworden sind. Die Rolle von Staat und Ständen in der Finanzpolitik führt so zum Problem des ständischen Beitrages für die Staatsbildung auch und gerade in der „Sattelzeit“. Damit verbindet sich das Problem, unter welchen Bedingungen die Stände die Erweiterung der Partizipationsbasis – durch Neuaufnahme bisher nicht standschaftsberechtigter Personengruppen – betrieben und wo dies Stauber unter Mitarbeit von Esteban Mauerer, München 2006, z. B. 116 ff.; zum sehr starken Gewicht der Finanzprobleme in der bayerischen Politik um 1800 im Spiegel dieser Quelle vgl. in Kürze meine Rezension dieses Bandes in der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte (mit Hinweisen auf einzelne Stellen). 17 Vgl. Barbara Vogel, Staatsfinanzen und Gesellschaftsreform in Preußen, in: Privatkapital, Staatsfinanzen und Reformpolitik im Deutschland der napoleonischen Zeit, hrsg. v. Helmut Berding, Ostfildern 1981, 37 – 55, hier 46 ff., mit starker Unterschätzung des ständischen Faktors nach 1806; Herbert Obenaus, Finanzkrise und Verfassungsgebung. Zu den sozialen Bedingungen des frühen deutschen Konstitutionalismus, in: Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, hrsg. v. Gerhard A. Ritter, Düsseldorf 1974, 57 – 75, Finanzimpuls: 61 ff., 66 ff., freilich mit etatistischer Zuspitzung; epochenübergreifend die Beiträge in dem Band: Staatsfinanzen – Staatsverschuldung – Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte, hrsg. v. Gerhard Lingelbach, Köln / Weimar / Wien 2000, darin für die Zeit um 1810 Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische „Staatsbankrott“ von 1811. Rechtliche Problematik und politische Konsequenzen, 55 – 65, Stände: 57.
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nicht der Fall gewesen ist, d. h. wo die alten Stände in traditionaler Weise finanzpolitische Leistungen – etwa durch die Sicherung des Kredites – erbrachten und welche Bedeutung die Ausweitung der Kreditbasis für die Erweiterung des Kreises der Standschaftsberechtigten besaß18. Der Zusammenhang von Finanz- und Verfassungsentwicklung ist jedenfalls alles andere als ein Phänomen der Moderne, nicht erst ein Produkt der Zeit um 1800, und dabei war der Konnex von Partizipation und Ressourcenextraktion19 in verschiedenen Formen auch auf dem Kontinent relevant. Die Beiträge dieses Bandes spiegeln in kontinental-europäischen Exempeln Entwicklungsvarianten in den Jahrzehnten um 1800, von den Regionen starker Kontinuitätsbrüche unter direktem Einfluß der französischen Okkupation bis hin zu östlicheren Verlaufstypen mit stärkeren ständischen und überhaupt partizipativen Elementen gerade auf dem Felde der Finanzstrukturen. Es stellt sich im Lichte dieser Beobachtungen die Frage, ob die im weiteren Verlauf unstrittige Dominanz des erstarkenden, zumal des Reformstaates nicht Partizipationsspielräume verengte, die leistungs- und auch modernisierungsfähig gewesen wären. Jedenfalls zeigt auch und gerade die Finanzgeschichte, daß der revolutionäre und der etatistische Verlaufstyp um 1806 um denjenigen zu ergänzen sind, bei dem schon in vorkonstitutionellen Zeiten ständische Teilhabe und landschaftliche Leistungen – hier mehr, dort weniger – sehr wohl von Relevanz waren. Es ist zu fragen, ob diese Typologie Anschlußfähigkeit an jene Verfassungszonenmodelle gewinnen kann, die hinsichtlich Kontinuitäten beziehungsweise Kontinuitätsbrüchen Westmitteleuropa von den an Ostmitteleuropa grenzenden Verfassungslandschaften unterscheiden20. Es ist dabei freilich auch daran zu 18 Zur Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert im europäischen Vergleich vgl. W. Neugebauer, Staat (Anm. 15); vgl. Volker Press, Absolutismus, Regionalismus und Ständetum im Heiligen Römischen Reich, in: Identité regionale et conscience nationale en France et en Allemagne du moyen âge à l’époque moderne . . . , hrsg. v. Rainer Babel / Jean-Marie Moeglin (Beihefte der Francia, 39), Sigmaringen 1997, 89 – 99, hier 92, 95 f. 19 Vgl. für England z. B. Michael J. Braddick, The Nerves of State. Taxation and the Financing of the English State, 1558 – 1714, Manchester / New York 1996, 10 ff., 17 f., 97 ff.; ders., Parliamentary Taxation in 17th-Century England. Local Administration and Response (Royal Historical Society. Studies in History, 70), Woodbridge / Rochester 1994, 279 ff.; P. G. M. Dickson, The Financial Revolution in England. A Study in the Development of Public Credit 1688 – 1756, 2. Aufl. Aldershot 1993, 39 ff. 20 Vgl. – im Anschluß an Otto Hintze – Wolfgang Neugebauer, Landstände im Heiligen Römischen Reich an der Schwelle der Moderne. Zum Problem von Kontinuität und Diskontinuität um 1800, in: Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780 – 1815, hrsg. v. Heinz Duchhardt / Andreas Kunz (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 46), Mainz 1998, 51 – 86, bes. 55; Aufhebung ständischer Mitwirkungsrechte auf dem Felde der Finanzadministration im frühen 19. Jahrhundert: Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute, München 2005, 26.
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erinnern, daß gerade am Falle der Finanzgeschichte Bayerns und Badens festgestellt worden ist, daß, was die Entstehung einer modernen Schuldenverwaltung zwischen 1780 und 1820 angeht, die Momente der Kontinuität stärker hervortreten „als jene der Diskontinuität“21. So betrachtet ist Finanzgeschichte, jedenfalls in einem weiteren Verständnis, stets Verfassungsgeschichte im Sinne einer Analyse politischer Strukturen und Kräfteverhältnisse einer Epoche. Sie ist zugleich, worauf Hans-Peter Ullmann hingewiesen hat, stets „Gesellschaftsgeschichte“. „Diese Art von Finanzgeschichte sieht in der öffentlichen Wirtschaft einen wichtigen Vermittlungsbereich, in dem sich politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen beziehungsweise Prozesse eng miteinander verschränken können. Die Finanzwirtschaft eignet sich deshalb als ,Strukturierungskern‘ für Untersuchungen, die den Beziehungen zwischen verschiedenen Sektoren historischer Realität nachgehen. Im Mittelpunkt einer so verstandenen Finanzgeschichte steht deshalb das Wechselverhältnis zwischen den öffentlichen Finanzen und anderen Wirklichkeitsbereichen“22. – Es ist zu wünschen, daß die preußischen Forschungen, die auf finanzgeschichtlichem Felde im nationalen und im internationalen Vergleich gerade für die Jahrzehnte um 1800 noch durch erhebliche Defizite gekennzeichnet sind, an solche Programme den Anschluß gewinnen.
21 Hans-Peter Ullmann, Staatsschulden und Reformpolitik. Die Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780 – 1820 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 82), 2. Tle., Göttingen 1986, 31 f. 22 H. P. Ullmann, Staatsschulden (Anm. 21), 23.
Krise, Reformen – und Finanzen. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806 Zur Eröffnung der Tagung der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz vom 6. bis zum 8. Oktober 2006 Von Jürgen Kloosterhuis, Berlin
Eine Krise, konkret ein Staatsbankrott bedrohte vor 200 Jahren Brandenburg-Preußen, das Mutterland der soliden Finanzverwaltung! War Preußen damals wirklich ein bankrotter Staat, das Vaterland der Aufsteiger und Reformer eingeschlafen auf friderizianischen Lorbeeren? Solche Probleme nahmen sich im Herbst 1806 aus der Sicht eines aufgeweckten elfjährigen Lausbuben aus alter Beamtenfamilie in Magdeburg zunächst wie ein aufregendes Abenteuer aus – das aber bald genug seine böse Fratze zeigte. Denn wie Karl Leberecht Immermann, von dem hier die Rede ist, in seinen „Memorabilien“ erzählte, war man gut preußisch siegesgewiß, als die Bildungsbürger der Bördestadt Napoleon nach seinem Sieg bei Austerlitz 1805 zwar mit Alexander dem Großen verglichen, aber mit dem Zusatz, daß dieser nur über Perser seine Siege erfochten habe, und deshalb, da die Preußen keine Perser seien, es mit Bonaparte nicht viel zu sagen habe. Doch hören wir Immermann weiter1: „Die Armee war in Thüringen, und durch unsere niedersächsische Ebene breitete sich nun im September und in der ersten Hälfte des Oktobers die große Stille aus, welche großen Dingen vorherzugehen pflegt. Diese erschienen dann vorgebildet in der trügendsten Fata Morgana“ – denn tatsächlich traf vom thüringischen Kriegstheater am Abend des 14. Oktobers 1806 in Magdeburg zunächst eine Siegesmeldung ein: „Napoleon sei bei Schleiz geschlagen und in voller Flucht nach dem Rheine. Hieran knüpften sich die glorreichsten Nachrichten von der Zahl der Toten, der Gefangenen, der eroberten Kanonen. Die Verluste gingen ins Unermeßliche. Der freudigste Jubel brach aus.“ Anderntags machte dann freilich die Nachricht vom Soldatentod des Prinzen Louis Ferdinand bei Saalfeld die Runde und stürzte 1 Karl Immermann, Knabenerinnerungen, in: ders: Memorabilien. Nach dem Text der Ausgabe von 1840 – 44, mit einem Nachwort von Erwin Laaths, München 1966, 21 – 53, zit. 39 ff.; vgl. dazu jetzt Matthias Tullner / Sascha Möbius (Hrsg.), 1806. Jena, Auerstedt und die Kapitulation von Magdeburg. Schande oder Chance?, Halle 2007.
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die Bürger in verzweifelte Ungewißheit, „denn der Prinz war für Magdeburg, was Achill für das Lager in der Ebene von Ilium gewesen“. Schließlich brachte der Morgen des 17. Oktober „den Jammer der kläglichsten Gewißheit“ von der preußischen Niederlage in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt: „Denn um neun Uhr morgens begann der Rückzug (wenn man ihn so nennen will) der geschlagenen Armee, welche in Magdeburg sich wieder sammeln sollte, und er hat ununterbrochen den ganzen Tag hindurch bis spät in die Nacht, sowie einen Teil des folgenden Tages fortgedauert. Aller Aufsicht entlassen, war ich als elfjähriger Knabe beständig auf der Straße, habe ihn daher mit meinen eigenen Augen gesehen, und kann mithin sagen, daß meine erste große Anschauung der grausenvollste Sturz und Ruin gewesen ist. Um neun Uhr zogen die ersten Flüchtlinge vom Sudenburger Tore herein. Haufen Fußvolks waren mit halben oder viertel Geschwadern Reiterei vermischt, dazwischen fuhren dann wohl einzelne Kanonen oder Pulverkarren. Durcheinander trieben Uniformen aller Regimenter und der verschiedensten Grade sich zur Stadt herein. [ . . . ] Das Volk hatte sich auf dem Breiten Wege und am Neuen Markt in dichten Haufen versammelt und sah anfangs mit einer Art von dumpfer Hoffnung dieser Verwirrung zu. ,Es sind die ersten Ausreißer‘, hörte ich mehrere Leute sagen, ,die halten sich nie in der Ordnung. Nur Geduld, bald werden reguläre Regimenter kommen‘. Aber es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, es ging gegen den Abend und noch hatte das Durcheinander nicht aufgehört, noch immer wälzte sich der verworrene Knäuel, zu welchem der Schlachtengott hier ein Heer zusammengeballt hatte, durch die Straßen. Endlich kamen einige geordnete Scharen, gleichsam zur Probe und um doch auch eine Ausnahme von der grausen Regel zu zeigen. Eingehüllt waren nun die Fahnen, die auf dem Hinzuge so lustig im Winde geflattert hatten. Meistens zog alles ohne Sang und Klang einher. Nur einmal tönte die Musik hell, gleichsam ein Lachen der Verzweiflung über das gramvollste Geschick. Das war, als das Trompeterkorps eines Kürassierregiments einpassierte. Sie hatten ihr Regiment nicht hinter sich, waren überhaupt ganz allein und für sich, und bliesen so auf ihre eigene Hand den Dessauer Marsch, als sei alles in bester Ordnung.“ Doch so lustig die Trompeter auf der Flucht die bekannte Weise „So leben wir, so leben wir alle Tage“ auch blasen mochten, half dies nicht über die Niederlage und den tiefen Fall hinweg, den die preußische Monarchie nun erlitt. Die Festungen ergaben sich fast alle kampflos, so auch die stolze Magdeburg dem französischen Marschall Ney, dem Napoleon 1812 den Titel eines Fürsten von der Moskwa verleihen sollte. Nun, 1806, stürzte sich dessen Löffelgarde mit Plünderung und Gewalttat in die arme Stadt. Als daraufhin eine Bürgerkommission bei Ney um Schutz flehen wollte, wurde sie mit dem Hinweis abgewiesen, daß sich Magdeburg ja überhaupt nicht um
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den Marschall kümmere. Der Sinn dieser dunklen Worte lag darin, wie ein freundlicher Stabszahlmeister den verdutzten Kommissiönern alsbald erklärte, daß sich Ney nach französischem Kriegsgebrauch von der Stadt ein Geldgeschenk von 150.000 Talern gleichsam zum Willkommen erwartete. Diese Privatkontribution hieß das „Glockengeld“, weil Napoleons Marschälle dafür die Versicherung gaben, in einer besetzten Stadt die KirchenGlocken in den Türmen hängen zu lassen. Nun hob ein zäh-verzweifeltes Feilschen zwischen Militär und Bürgern an. Man wurde schließlich bei 100.000 Talern handelseins, und als die Summe innerhalb weniger Stunden erlegt war, kehrte unter den Eroberern Magdeburgs die soldatische Mannszucht ein – und jedermann, denn dazu lassen wir Immermann ein letztes Mal zu Wort kommen, „und jedermann war nun seines Eigentums und seiner Gliedmaßen sicher. Alle diese Vorgänge, über welche die Biographien des Fürsten von der Moskwa schweigen, hörten wir vom Vater erzählen, der auch in die Kommission eingetreten war.“ Mit dieser „Glockengeld“-Geschichte klingt das finanzielle Motiv an, aus dessen Perspektive eine in diesem Tagungsband dokumentierte Auseinandersetzung mit der preußischen Niederlage und der anschließenden Reformzeit, den Befreiungskriegen und den Jahren danach erfolgte. Die Begriffstrias „Krise, Reformen – und Finanzen“ bildete für die Preußen vor 200 Jahren ein höchstaktuelles Problembündel – und so auch für die Preußische Historische Kommission, die es sich zum Gegenstand ihrer Jahrestagung 2006 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz gewählt hatte. Zweifellos stand das Königreich nach dem Tilsiter Frieden von 1807 kurz vor dem Staatsbankrott, wurden viele seiner Bauern und Bürger danach von den Besatzern schier an den Bettelstab gebracht. Gleichzeitig schafften aber diese Preußen mit den so genannten Stein-Hardenbergschen Reformen einen Umbau von Staat und Gesellschaft, durch den die erstarrten Strukturen des Ancien régime aufgebrochen und die napoleonische Militärmacht in einer gewaltigen kriegerischen Kraftanstrengung aus dem Land gejagt werden konnten. Jawohl, durch Preußen ging ein Ruck, ohne daß dies der König eingefordert hätte. Der kräftige, theoretisch freilich schon zuvor angedachte Modernisierungsschub war von den Handschriften der Stein und Hardenberg, Dohna und Altenstein, Hippel, Frey und Schön, Scharnhorst und Gneisenau geprägt: Durchaus im Wortsinn zu verstehen, da die Minister, Beamten und Soldaten ihre Reformvorstellungen natürlich in die Form von Akten brachten. Neubau des Staates, Bauernbefreiung, Gewerbe- und Militärreform (um nur die bekanntesten Aktionsfelder zu nennen) kleideten sich so in das schlichte Gewand von Verwaltungsschriftgut, das Friedrich Wilhelm III. – manchmal zögernd – unterschrieb. Die Vorgänge flossen in ebenso anspruchslosen wie bedeutungsschweren Papierspeichern zwischen blauen Pappdeckeln zusammen: eben in den Akten der preußischen Zentralbehörden, die das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz heute
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verwahrt, und aus denen es im Sommer 2006 seine facettenreiche Ausstellung „Staatsbankrott! Bankrotter Staat?“ aufbaute2. Für die Zeit vor 1806 waren dazu die Provenienzen des Ancien régime heranzuziehen: das (ältere) Kabinett, der Geheime Rat (v. a. dessen Rep. 9 Allgemeine Verwaltung) und die Abteilungen Generaldepartement und Generalkassendepartement der Bestandsgruppe Generaldirektorium. Für die Reformzeit bieten die Ministerialüberlieferungen reiches Quellenmaterial: das Staatskanzleramt und das (jüngere) Kabinett ebenso wie das Innen-, Finanz-, Kultus-, Wirtschafts- oder Justizministerium. Dazu treten die Akten von Spezialbehörden, von denen manche schon in der Behördenfirma den Ernst der von ihnen zu meisternden Lage spiegelten, wie z. B.: Hauptverwaltung der Staatsschulden, Immediatkommission zur Verwaltung der Vermögens- und Einkommenssteuer, Hauptrealisationsdirektion der Tresorscheine, Generalkommission für das Einquartierungs-, Verpflegungs- und Marschwesen3. Die notwendigen Finanzgeschäfte managten im einzelnen die Seehandlung beziehungsweise die Preußische Staatsbank. Und nicht zuletzt müssen alle Forschungen zu Krise, Reformen und Finanzen die (Teil-)Nachlässe der Stein, Hardenberg und Altenstein, von Scharnhorst und Gneisenau im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Rate ziehen. An den Bergen dieses Schriftguts erhellt, wie die preußischen Reformer unter schwierigsten Bedingungen eine Modernisierung in Gang setzten, die ihr Preußen eben nicht als bankrotten Staat erscheinen ließ. Damit sind freilich nur die äußeren Umrisse eines Prozesses bezeichnet, der eine lange Vorgeschichte hatte und von einem gleichzeitigen Diskurs begleitet war, der womöglich auch jenseits von Preußens Grenzen verortet werden kann. Nach den finanziellen Dimensionen der preußischen Außenpolitik im Jahrzehnt nach dem Baseler Frieden war daher in der ersten Tagungssession ebenso zu fragen, wie nach jenem Diskurs, wenn die anschließende Entwicklung differenzierter analysiert werden sollte. Und wie wurde der Diskurs über diese Entwicklung in der Geschichtsschreibung zur preußischen Reformzeit fortgeschrieben? Wer solche Fragen stellte, durfte keine Angst vor Kehritis haben, zumal nicht im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Krise, Reformen und Finanzen in Preußen lassen sich nach der Konstruktion dieses absolutistischen Ständestaates immer aus der Perspektive des Gesamtstaates wie aus der seiner Teile betrachten. Vom Zentrum her ge2 Vgl. den von Susanne Brockfeld u. a. für das GStA PK bearbeiteten Katalog: Staatsbankrott! Bankrotter Staat? Finanzreform und gesellschaftlicher Wandel in Preußen, Berlin 2006. 3 Die Spezialinventarisierung dieser und anderer Bestände der GStA PK-Bestandsgruppen „Preußische Sonderverwaltungen nach dem Frieden von Tilsit“ bzw. „Sonderverwaltungen Preußens und seiner Verbündeten in den Befreiungskriegen“ ist in Vorbereitung.
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sehen, war in der zweiten Tagungssession zu untersuchen, ob gerade in Preußen Finanzverwaltungsinstrumente – zu denen sicher auch die Statistik gehörte – zur Verfügung standen, um Krisenmanagement betreiben zu können. Doch welche konkrete Finanzpolitik war in die Wege zu leiten, wenn eine gnadenlos ausbeutende Besatzungsarmee im Land finanziert werden mußte und man gleichzeitig ein Reformwerk finanzieren wollte, um diesen Besatzer wieder loszuwerden? Wie lange konnte man an der Steuerschraube drehen, und wie war dafür Akzeptanz herzustellen? Vor dem Hintergrund dieser Fragen konnten sich Staatsbürger und Steuerzahler in einem Prozeß konturieren, dessen Chancen und Grenzen durch progressive und defensive Anteile bezeichnet wurden – und ebenso von jenen gesellschaftlichen Gruppen, für die einerseits die Lösung der preußischen Probleme nur ein Teil gesamtdeutsch-nationaler Konzeptionen bildete, oder die andererseits unter „reformare“ wortwörtlich das Wiederherstellen alter Zustände verstanden. Der Bildungspolitik kam in solchen Prozessen sicher zukunftsweisende Bedeutung zu. Wie finanzierte man Universitäten, obwohl man – pardon – pleite war? Und daneben auch noch Uniformen, Gewehre und Kanonen beschaffen sollte? Notabene: Der Tagungsschwerpunkt blieb in Preußen, im frühen 19. Jahrhundert. Daher fokussierte die dritte Session den Blick auf die Landesteile „zwischen Königsberg und Kleve“, um die Rolle der ständischen Korporationen und die provinzialen Vorstellungen von Reformprogrammatik auszuloten – die ja in erster Linie ostpreußische und schlesische Reformprogrammatik war. Wurden diese gleichsam aus den Landesteilen nach Berlin drängenden Ideen nicht eigentlich richtungsweisend für die Fundamentierung des modernen Staates Preußen und das in der Krise gewonnene neue Verständnis seiner Einwohner als Staatsbürger? Und wie sah es damit im überstaatlichen Vergleich aus? Zur Analyse preußischer Probleme traten in der vierten Session Untersuchungen der Verhältnisse in Österreich, im Königreich Westphalen und in den süddeutschen Rheinbund-Staaten. Vermochten sie mit ihren ja gleichzeitigen Krisen strukturell fertig zu werden? Entwickelten sie andere Modelle, alternative, womöglich bessere oder gar zukunftsträchtigere? Wie sah Preußen in solchem Vergleich aus, und welche Erkenntnisse lassen sich daraus für seinen Weg in das lange 19. Jahrhundert hinein gewinnen? So etwa lauteten die Fragen, die sich mit Blick auf Preußen im Umkreis von Krise, Reformen und Finanzen vor und nach der Katastrophe von 1806 zunächst stellten. Zwölf Vorträge in vier Sessionen wurden dazu in der von Wolfgang Neugebauer und Jürgen Kloosterhuis konzipierten Tagung der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz im Oktober 2006 gehalten. Sie werden mit dem vorliegenden Beiheft zu den „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte“ dokumentiert, dessen Drucklegung der Verlag
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Duncker & Humblot in so bewährter wie dankenswerter Weise übernommen hat. Der Band ist einerseits in sich geschlossen und andererseits Teil einer Tagungs-Trilogie der Kommission und ihres Archivs, die 2007 Krise und Reformen mit militärgeschichtlichen sowie 2008 mit kulturpolitischen Aspekten verbinden wird.
Ausgangsposition
Der „nervus rerum“ in Publizistik und Wissenschaft – Staatsfinanzen im kameralistischen und staatswissenschaftlichen Diskurs in Preußen um 1800 Von Hans-Christof Kraus, Passau
Als im Jahre 1811, auf dem Höhepunkt der Reformtätigkeit in Preußen, der letzte Band der nachgelassenen Schriften des 1807 verstorbenen Königsberger Philosophen und Staatswissenschaftlers Christian Jakob Kraus ediert wurde, stellte der Mitherausgeber Johann Dietrich Hüllmann in einer kurzen Vorrede fest, der verstorbene Verfasser habe „durch einige seiner Schüler unverkennbar auf die neuesten Maßregeln der Regierung gewirkt“ und auf diese Weise „nachdrücklicher, als irgend ein Kathederlehrer, in das bürgerliche Leben eingegriffen“, und im übrigen sei das Zusammentreffen der gerade von Ostpreußen – also dem Wirkungsort des jüngst dahingeschiedenen Verfassers – ausgegangenen „staatswirtschaftlichen Reformen mit dem Eifer, womit Kraus viele Jahre in öffentlichen Vorlesungen [ . . . ] auf diese Reformen gedrungen hat“, keinesfalls zufällig1. In einer noch heute grundlegenden Studie hat Wilhelm Treue bereits 1951 den Einfluß rekonstruiert, den Kraus als akademischer Lehrer an der Albertina zu Königsberg auf eine Reihe wichtiger späterer Reformbeamter ausgeübt hat – gerade in seiner Eigenschaft als führender Anhänger und Verbreiter der Ideen von Adam Smith in Preußen2. Die zentralen Befunde, die Treue seinerzeit vorlegte, sind in der Substanz zwar kaum zu widerlegen, allerdings können sie heute in manchen Einzelheiten ergänzt und korrigiert werden. Genau dies ist das Anliegen des folgenden Beitrags, der zudem nur einen kleinen Ausschnitt der im weitesten Sinne ökonomischen Reformen 1 Die Zitate: Christian Jacob Kraus, Staatswirthschaft, hrsg. v. Hans von Auerswald, Bd. 5, Königsberg 1811, VII. 2 Wilhelm Treue, Adam Smith in Deutschland. Zum Problem des „Politischen Professors“ zwischen 1776 und 1810, in: Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Festschrift für Hans Rothfels, hrsg. v. Werner Conze, Düsseldorf 1951, 101 – 133; vgl. hierzu ebenfalls bereits Treues frühere Untersuchungen zur akademischen Vorbildung wichtiger preußischer Reformbeamter: Wilhelm Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815 – 1825 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 31), Stuttgart 1937, 121 ff.
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nach 1807 in den Blick nehmen möchte: nämlich das Thema der staatlichen Finanzpolitik – als „nervus rerum“ öffentlicher Tätigkeit an sich bereits von zeitübergreifender Bedeutung3 – sowie im besonderen deren Darstellung und Konzeptualisierung in der kameralistischen und staatswissenschaftlichen Literatur, die in Preußen zu diesem Thema seit dem frühen 18. Jahrhundert erschienen ist. In diesem Zusammenhang verdient durchaus die Tatsache Beachtung, daß zu dieser Zeit, bereits während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I., in Halle und in Frankfurt an der Oder die ersten kameralwissenschaftlichen Lehrstühle an deutschen Universitäten errichtet worden sind4. Dabei ist im besonderen danach zu fragen, welchen Anteil bis in die Zeit nach der Katastrophe von 1806 diejenigen Autoren an der finanzwissenschaftlichen Debatte gehabt haben, die eben nicht der neuen marktökonomischen Schule von Adam Smith angehörten, sondern der älteren merkantilistischen Kameralistik oder auch der immer noch einflußreichen physiokratischen Schule zuzurechnen waren. Und außerdem sind in diesem thematischen Zusammenhang einige der damals in Preußen oder in dessen Umfeld wirkenden philosophischen und wissenschaftlichen Außenseiter besonders zu berücksichtigen, die ebenfalls – wenn auch sehr charakteristische und sehr eigenwillige – politisch-ökonomische Konzepte entworfen und auf diese Weise bestimmte Ideen formuliert haben, die den ökonomisch-finanzpolitischen Diskurs in Preußen durchaus mitgeprägt haben – und dies gerade auch dann, wenn sie in schroffem Gegensatz zu den zentralen Konzepten der Reformer standen. Seit Wilhelm Roschers im Jahre 1874 publizierter, sehr verdienstvoller, aber begreiflicherweise in vielen Einzelheiten stark veralteter Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland ist dies bisher nicht wieder unternommen worden5; die neuere Forschung hat 3 Hierzu statt vieler vor allem Michael Stolleis, Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1983. 4 Vgl. Hans Maier, Die Lehre der Politik an den älteren deutschen Universitäten, in: Politische Wissenschaft in Deutschland. Aufsätze zur Lehrtradition und Bildungspraxis, hrsg. v. dems., München 1969, 15 – 52, 245 – 263, bes. 41 f.; Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts (Münchener Studien zur Politik, 27), München 1977 60 f.; Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert (Historische und Pädagogische Studien, 3), Berlin 1972, 65 f.; Erhard Dittrich, Die deutschen und die österreichischen Kameralisten (Erträge der Forschung, 23), Darmstadt 1974, 80 ff.; Rüdiger vom Bruch, Wissenschaftliche, institutionelle oder politische Innovation? Kameralwissenschaft – Polizeiwissenschaft – Wirtschaftswissenschaft im 18. Jahrhundert im Spiegel der Forschungsgeschichte, in: Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937 – 1986), hrsg. v. Norbert Waszek, St. Katharinen 1988, 77 – 108, hier 93.
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sich entweder darauf beschränkt, die Stufen, Details und Wandlungen der deutschen Smith-Rezeption mehr oder weniger eingehend nachzuzeichnen – so etwa W. Treue6, G. Schmölders7, M. E. Vopelius8, H. Winkel9 und besonders prononciert auch G. Krüger10 – oder eher knappe Skizzen zur Entwicklung der deutschen und der preußischen finanzpolitischen- und wirtschaftstheoretischen Literatur zu geben; dies haben etwa A. Tautscher und E. von Beckerath11 getan; etwas jüngeren Datums sind zwei einschlägige Studien von R. vom Bruch12 und K. H. Kaufhold13. Ich werde daher im ersten Teil meines Beitrags einen kurzen Blick zurück ins 18. Jahrhundert werfen, um die Tradition der deutschen und im engeren Sinne auch spezifisch preußischen Kameralwissenschaft wenigsten in ihren Umrissen sichtbar werden zu lassen, bevor ich auf die Diskussion um und nach 1800 zu sprechen komme. Hier werde ich mich, im zweiten Teil, zunächst den Vertretern des traditionellen Kameralismus und der Physiokratie zuwenden, bevor ich mich im dritten Teil den finanzpolitischen Thesen der einflußreichsten Smith-Schüler in Preußen widmen werde, d. h. vor allem 5 Vgl. Wilhelm Roscher, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, 14), München 1874, 344 – 429. 6 Vgl. W. Treue, Adam Smith in Deutschland (Anm. 2), 102 ff. u. passim. 7 Günter Schmölders, Stein und Adam Smith. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der preußischen Reformzeit, in: Historische Forschungen und Probleme. Peter Rassow zum 70. Geburtstage dargebracht, hrsg. v. Karl Erich Born, Wiesbaden 1961, 235 – 239. 8 Marie-Elisabeth Vopelius, Die altliberalen Ökonomen und die Reformzeit (Sozialwissenschaftliche Studien, 11), Stuttgart 1968. 9 Harald Winkel, Adam Smith und die deutsche Nationalökonomie 1776 – 1820, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie V, hrsg. v. Harald Scherf (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. 115 / V), Berlin 1986, 81 – 109. 10 Gerhard Krüger, . . .gündeten auch unsere Freiheit. Spätaufklärung, Freimaurerei, preußisch-deutsche Reform, der Kampf Theodor v. Schöns gegen die Reaktion, Hamburg 1978, 78 ff. 11 Anton Tautscher, Geschichte der deutschen Finanzwissenschaft bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, hrsg. v. Wilhelm Gerloff / Fritz Neumark, 2. neu bearb. Aufl. Tübingen 1952, 382 – 415; Erwin von Beckerath, Die neuere Geschichte der deutschen Finanzwissenschaft (seit 1800), in: ebenda, 416 – 468; allzu knapp und daher unvollständig: Horst Jecht, Finanzwissenschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart / Tübingen / Göttingen 1961, 707 – 722, hier 707 – 712. 12 Rüdiger vom Bruch, Der Kameralismus in Preußen und die Berliner Akademie, in: Technik und Staat, hrsg. v. Armin Hermann / Hans-Peter Sang (Technik und Kultur, 9), Düsseldorf 1992, 41 – 59. 13 Karl Heinrich Kaufhold, „Wirtschaftswissenschaften“ und Wirtschaftspolitik in Preußen von um 1650 bis um 1800, in: Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung in Preußen. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Preußens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. v. Karl Heinrich Kaufhold / Bernd Sösemann (Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte; Beihefte, 148), Stuttgart 1998, 51 – 72.
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Christian Jacob Kraus und Ludwig Heinrich Jakob. Im vierten Teil werde ich sodann die publizistisch-theoretischen Gegenentwürfe von Johann Gottlieb Fichte und Adam Müller näher in den Blick nehmen, bevor ich abschließend, im fünften Teil, einige Resultate meiner Untersuchungen zusammenfassen werde. Vier Themenfelder, die im Rahmen der preußischen Finanzreformen ab 1807 eine besondere Bedeutung gehabt haben, sollen dabei in erster Linie in den Blick genommen werden: 1. das Geldproblem und die Frage der staatlichen Geldschöpfung, 2. das Staatsschuldenproblem, 3. das Thema der Steuern und Steuerreformen und 4. schließlich das Problem der Binnenund der Außenzölle. I. Der preußische Finanzdiskurs im 18. Jahrhundert wurde von einer Reihe von Autoren geführt, von denen keineswegs alle als Wissenschaftler im engeren Sinne oder als Universitätsgelehrte zu bezeichnen sind; zu ihnen zählten versierte und erfahrene Praktiker wie etwa der 1762 verstorbene preußische Münzmeister und über die Grenzen des Landes hinaus bekannte, aber auch durchaus umstrittene Währungsfachmann Johann Philipp Graumann14, ebenso der markgräflich-brandenburgische Geheime Regierungsrat Johann Wilhelm von der Lith15, aber auch Jakob Friedrich von Bielfeld als Diplomat und politischer Schriftsteller aus dem Umfeld Friedrich des Großen16. Nicht vergessen werden dürfen ebenfalls die führenden Kameralwissenschaftler, die zu jener Zeit, um die Mitte des 18. Jahrhunderts, an den preußischen Landesuniversitäten lehrten oder in Preußen wirkten17, so 14 Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. v. der Historischen Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 – 56, (München) Leipzig 1875 – 1912, fortan zitiert nach der Bandzahl, hier ADB, Bd. 9, 605 f. (Inama); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 420 f.; Reinhold Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, 4. – 5. Aufl. Stuttgart / Berlin 1913, Bd. 2, 172 f.; Bd. 3, 136, 191. 15 Vgl. ADB, Bd. 18, 781 – 783 (Inama); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 425 f. 16 Vgl. ADB, Bd. 2, 624 (Emil Steffenhagen); Gerda Voss, Baron von Bielfeld. Ein Beitrag zur Geschichte Friedrichs des Großen und des ausgehenden Rationalismus, phil. Diss. Berlin 1928; Friedel Stössl, Jakob Friedrich von Bielfeld. Sein Leben und Werk im Lichte der Aufklärung, phil. Diss. Erlangen 1937; zum Verhältnis Bielfelds zu Friedrich siehe auch R. Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, Bd. 1, 215, Bd. 2, 237 f. 17 Vgl. dazu im Überblick u. a. W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 344 ff.; Wilhelm Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Abhandlungen der Philologisch-historischen Klasse der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, XXV, 2), Leipzig 1906, 21 ff. u. passim; Günter Schmölders, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Reinbek bei Hamburg 1962, 13 ff.; E. Dittrich, Die deutschen und die österreichischen Kameralisten (Anm. 4), 56 ff.; K. H. Kaufhold, „Wirtschaftswissenschaften“ und Wirtschaftspolitik (Anm. 13), 56 ff.; neuerdings auch die Fallstudie zur Universität Halle von Axel Rüdiger, Staatslehre und
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etwa Justus Christoph Dithmar18 und etwas später Johann Georg Darjes19, beide Professoren an der Viadrina zu Frankfurt an der Oder20, und ebenfalls die in Halle lehrenden Kameralwissenschaftler Simon Peter Gasser21, Johann Christian Förster22, Georg Friedrich Lamprecht23 und Johann Christian Christoph Rüdiger24. Schließlich ist ebenfalls der wohl bedeutendste und produktivste aller deutschen Kameralisten des 18. Jahrhunderts zu nennen, der in seiner letzten Lebenszeit in Preußen wirkte und auch sein wichtigstes finanzwissenschaftliches Werk in Berlin publizierte: Johann Heinrich Gottlob von Justi25. Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 15), Tübingen 2005. 18 Vgl. ADB, Bd. 5, 259 f. (Inama); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 431; W. Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Anm. 17), 21 f.; E. Dittrich, Die deutschen und die österreichischen Kameralisten (Anm. 4), 83 – 86. 19 Vgl. W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 419 f.; W. Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Anm. 17), 52 f., 78; E. Dittrich, Die deutschen und die österreichischen Kameralisten (Anm. 4), 93 – 96. 20 Der ebenfalls in Frankfurt a. d. Oder die Fächer Kameralwissenschaften und Staatsökonomie lehrende Historiker Carl Renatus Hausen hat keine im engeren Sinne kameralistischen Schriften hinterlassen; seine nur in wenigen Bänden erschienene Zeitschrift „Staats-Materialien und Historisch-politische Aufklärungen für das Publikum, vorzüglich zur Kenntniß des deutschen Vaterlandes in ältern und gegenwärtigen Zeiten“ (2 Bde., Dessau 1784 – 1785) enthält zwar einige wenige Einzelbeiträge zu demographischen und ökonomischen Fragen, jedoch keine von finanzwissenschaftlichem oder kameralistischem Interesse; vgl. zu Hausen auch ADB, Bd. 11, 87 (Schwarze) und den Hinweis bei W. Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Anm. 17), 68. 21 Vgl. ADB, Bd. 8, 401 f. (Inama); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 372 – 376; E. Dittrich, Die deutschen und die österreichischen Kameralisten (Anm. 4), 80 f.; A. Rüdiger, Staatslehre und Staatsbildung (Anm. 17), 213 ff. 22 Vgl. W. Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Anm. 17), 60 f., 85; A. Rüdiger, Staatslehre und Staatsbildung (Anm. 17), 277 ff. 23 Vgl. neben der sehr knappen Erwähnung bei W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 602, die Angaben bei W. Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Anm. 17), 61 – 63, 85; A. Rüdiger, Staatslehre und Staatsbildung (Anm. 17), 279, 282 ff. 24 Vgl. ADB, Bd. 29, 468 (A. Leskien); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 557 f., 602; W. Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Anm. 17), 59 f., 85 f.; A. Rüdiger, Staatslehre und Staatsbildung (Anm. 17), 278 ff. 25 Vgl. aus der umfangreichen Forschung nur: Ferdinand Frensdorff, Über das Leben und die Schriften des Nationalökonomen J. H. G. von Justi, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-hist. Kl., Nr. 4, Göttingen 1903, 355 – 503; Justus Remer, Johann Heinrich Gottlob Justi – Ein deutscher Volkswirt des 18. Jahrhunderts (Deutsche Wirtschaftswissenschaftliche Gesellschaft; Beiträge und Abhandlungen, Bd. 3), Stuttgart / Berlin 1938; Marcus Obert, Die naturrechtliche ,politische Metaphysik‘ des Johann Heinrich Gottlieb von Justi (1717 – 1771) (Europäische Hochschulschriften, R. II, Bd. 1202), Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1992; für den Zusammenhang der Entwicklung der kamera-
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Was das erste der im folgenden zu behandelnden finanzpolitischen Themen anbelangt, das Geld, so wurden um die Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl die theoretischen Aspekte einer angemessenen Definition des Geldes als auch die bekannten Probleme der Münzverschlechterung sowie die Frage nach dem Nutzen und Nachteil des Papiergeldes von mehreren dieser Autoren eingehend diskutiert. Ein durchaus zukunftsweisendes Geldverständnis findet sich bereits 1752 bei Graumann, der den Geldwert ausdrücklich nicht über den reinen Edelmetallwert vorhandener Gold- oder Silbermünzen definiert, sondern als „diejenige Materie, welche eine Nation willkürlich zum Maasstock erwählet hat, um den Wehrt aller Güter darnach zu bestimmen“26. Mit dieser abstrahierenden Definition ging der preußische Währungsspezialist den meisten seiner Zeitgenossen weit voraus, von denen einige noch um 1800 den Geldwert ausschließlich an den Metallwert der Münzen zu binden versuchten. Zu den wenigen, die in der Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg bereits ähnliche Ideen entwickelten, zählte auch Johann Christian Förster, der in seiner (im allgemeinen wenig bekannten) „Einleitung in die Staatslehre“ von 1765 das Geld als „Zeichen, welches den Werth der Sachen vorstellet“, definierte und Gold und Silber dementsprechend nur als „erdichteten“ Reichtum bestimmte27. Eine Art ceterum censeo vieler Autoren um die Mitte des 18. Jahrhunderts besteht in der eindringlichen Warnung vor staatlicher Münzverschlechterung: Vor allem Dithmar28, von der Lith29 und Justi30 sind sich in dieser listischen Wissenschaften: E. Dittrich, Die deutschen und die österreichischen Kameralisten (Anm. 4), 103 – 110. – Als wichtige Spezialstudie siehe ebenfalls: Ernst Klein, Johann Gottlob Justi und die preußische Staatswirtschaft, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 48 (1961), 145 – 202. 26 [Johann Philipp Graumann], Vernünftige Vertheidigung des Schreibens die Teutsche und anderer Völker Münz-Verfassung betreffend, der so genannten gründlichen Prüfung desselben entgegen gesetzet. Nebst einem Anhange, die in der Erfahrung gegründete Ursachen von dem Steigen und Fallen des Gold- und Silber-Preises, und dem darauf sich gründenden Steigen und Fallen des Wechsel-COURSES abgehandelt werden, Berlin 1752, 2 (§ 1). 27 Johann Christian Förster, Einleitung in die Staatslehre nach den Grundsätzen des Herrn von Montesquieu zum Gebrauche seiner Zuhörer, Halle 1865, 116 (§ 238): „Das Geld ist ein Zeichen, welches den Werth der Sachen vorstellet, folglich ist Gold und Silber nur ein erdichteter Reichthum und nur ein Zeichen des wahren Vermögens, und man hat dieses Metall dazu genommen, weil es sich durch den Gebrauch wenig abnutzt, und ohne vernichtet zu werden, sich in sehr viele Theile zerlegen läßt, auch weil es kostbar ist, folglich leicht fortgebracht werden kann, und weil es ein Metall ist, das seiner Feine wegen nicht eben zu einem andern nothwendigen Gebrauche bestimmt wird, da ein anderes weniger kostbares und unedles Metall hinreichend dazu ist“. 28 Vgl. Justus Christoph Dithmar, Einleitung in die Oeconomische Policei- und Cameral-Wissenschaften, nebst Verzeichniß eines zu solchen Wissenschaften dienlichen Bücher-Vorraths. Neue vermehrte Edition, Frankfurth an der Oder 1748, 207 (IV., 17). 29 Vgl. Johann Wilhelm von der Lith, Politische Betrachtungen über die verschiedenen Arten der Steuern, Breslau 1751, 174 f. (§ 103), 178 – 184 (§ 105).
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Frage einig und widmen diesem damals höchst aktuellen Problem weitläufige Erörterungen in ihren Schriften. Justi betont in besonders eindringlicher Weise die Notwendigkeit, die Stabilität des Geldwertes abzusichern – auch um „Treu und Glaube“31 als Grundlage des politischen Lebens und ebenfalls aller Wirtschaftstätigkeit nicht zu gefährden. Deshalb besteht er darauf, daß es letztlich keine anderen Arten des Geldes als eben korrekt geprägte Gold- und Silbermünzen geben darf. Nur Förster vertrat (freilich im Jahr 1765!) die Auffassung, es sei besser, „ehe die Unterthanen gäntzlich verdorben werden“, die notwendigen Geldbedürfnisse dadurch zu befriedigen, daß „aus dem guten Gelde schlechteres geprägt wird“32. In der seinerzeit ebenfalls bereits erörterten Papiergeldfrage wurde von den frühen Kameralisten zumeist sehr zurückhaltend argumentiert; als Beispiel sei nur Gasser genannt, der 1729 bemerkte: „Was die zu ertheilende Assignationes und Umschläge betrift, welche eben so gut als baares Geld anzusehen, dabey hat sich sonderlich ein Rendant in acht zu nehmen, daß er dergleichen nicht ehe anstelle, als bis er dagegen entweder baar Geld oder richtig assignirte Quittungen und Belege erhalten“33. Lediglich Bielfeld erörtert zustimmend das Papiergeldproblem, indem er auf die bekannten Finanzmanipulationen John Laws im Frankreich der Régence34 zu sprechen kommt und dessen Aktivitäten positiv wertet – eben als hartes, aber letztlich doch wirksames Mittel zur Entschuldung des Staates35. Mit dieser Auffassung stand Bielfeld freilich, soweit zu sehen ist, um 1760 noch allein da. Ein Vierteljahrhundert später griff Lamprecht die Frage – nicht zufällig im Zusammenhang seiner Erörterungen über die Möglichkeiten 30 Vgl. Johann Heinrich Gottlob von Justi, System des Finanzwesens, nach vernünftigen aus dem Endzweck der bürgerlichen Gesellschaften, und aus der Natur aller Quellen der Einkünfte des Staats hergeleiteten Grundsätzen und Regeln ausführlich abgehandelt, Halle 1766, 305 ff. (§§ 608 ff.), bes. 321 ff. (§§ 640 ff.). 31 Vgl. ebenda, 305 (§ 609): „Die oberste Gewalt, welcher ein ganzes Volk die Besorgung seiner Glückseligkeit anvertrauet hat, ist die Bewahrerinn der öffentlichen Treu und Glaubens. Nichts ist so nothwendig als Treu und Glaube. Er ist das geheiligte Band der Völker: und durch ihn allein besteht das gesellschaftliche Leben. Sobald wir Treu und Glauben verletzen; so hören alle gesellschaftliche Pflichten, ja die Gesellschaft selbst auf. Keine Gesellschaft kann sonst bestehen“. 32 J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 147 (§ 297). 33 Simon Peter Gasser, Einleitung zu den Oeconomischen Politischen und Cameral-Wissenschaften, Worinnen für dieses mal Die Oeconomico-cameralia Von den Domainen- oder Cammer- auch andern Gütern / deren Administration und Anschlägen / so wol des Ackerbaues als anderer Pertinentien halber / samt den Regalien angezeiget und erläutert werden, Halle 1729, 345 (Cap. XXI, § XIII). 34 Vgl. hierzu statt vieler nur Jean Meyer, Geschichte Frankreichs, Bd. 3: Frankreich im Zeitalter des Absolutismus 1515 – 1789, Stuttgart 1990, 418 – 422. 35 Vgl. [Jakob Friedrich von Bielfeld], Des Freyherrn von Bielfeld Lehrbegriff der Staatskunst, Bd. 1, Breslau / Leipzig 1761, 284 – 289 (X, §§ 16 – 19).
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der staatlichen Deckung eines plötzlich auftretenden außerordentlichen Finanzbedarfs – erneut auf, indem er für staatliche „Leihbanken“ plädierte, „aus welchen die Gläubiger des Staats statt der Schuldscheine Bancopappiers bekommen und denen ein Fond zur Bezahlung der Zinsen ausgesetzt wird“36. Das Staatsschuldenproblem, um zum zweiten Aspekt zu kommen, wird in dieser Zeit im ökonomischen Schrifttum aufs engste verknüpft mit der gerade für die staatliche Finanzpolitik Preußens zentralen Frage, ob das Anlegen eines Staatsschatzes nützlich und sinnvoll sei. Diese Frage ist von den preußischen Kameralisten besonders eingehend und in der Sache überaus kontrovers diskutiert worden. Einige Autoren sind sich darin einig, ein großer „Schatz“ müsse in gesamtökonomischer Perspektive tatsächlich als eher schädlich denn nützlich angesehen werden. Besonders Rüdiger insistiert nachdrücklich darauf, daß ein Staat zu investieren habe, daß er auch mit eigenen Mitteln den Geldumlauf im Lande befördern müsse, um die Wirtschaftstätigkeit und damit besonders die ökonomische Produktion anzukurbeln37. Auch Darjes38 und Bielfeld39 heben die Schädlichkeit eines als totes Kapital angesammelten Schatzes hervor. Dagegen plädieren Justi40, Förster41 und Lamprecht42 nachdrücklich für das Anlegen eines Staatsschatzes, wobei lediglich Förster vor Übertreibung bei der Schatzanhäufung warnt, denn: „Was übertrieben wird, das wird schädlich,
36 Georg Friedrich Lamprecht, Entwurf einer Encyklopädie und Methodologie der öconomisch-politischen und Cameralwissenschaften zum Gebrauch academischer Vorlesungen, Halle 1785, 317 (§ 1026). 37 [Johann Christian Christoph Rüdiger], Ueber die systematische Theorie der Cameralwissenschaften, Halle 1777, 39 (§ 71): Der „Reichthum des Stats [ . . . ] wird zu keiner andern Absicht aufgebracht, als damit er durch weise Verwendung auf nützliche Anstalten zum Besten der Bürger diene. Ohnedem würde er in den öffentlichen Cassen ein ebenso todtes Capital und unnützes Ding seyn, als die schimmelnden Thaler eines filzigen Reichen, der durch Arbeit seinen kümmerlichen Unterhalt erwirbt, um seinen Schatz für lachende Erben zu bewachen. Ja ein solcher ungenutzter Reichthum des Stats wäre noch schädlicher, weil die Bürger das Ihrige dazu hergeben und sich einen Theil der Frucht ihres Fleisses entziehen müssten, ohne durch dafür gemachte wohlthätige Einrichtungen und Anstalten entschädiget zu werden. . .“. 38 Vgl. Johann Georg Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften darinnen die Haupttheile sowohl der Oeconomie als auch der Policey und besondern CameralWissenschaft in ihrer natürlichen Verknüpfung zum Gebrauch seiner academischen Fürlesung entworfen, 2. Aufl. Leipzig 1768, 601 – 605 (§§ 122 f.). 39 Vgl. [J. F. v. Bielfeld], Des Freyherrn von Bielfeld Lehrbegriff der Staatskunst (Anm. 35), Bd. 1, 281 f. (§ 13). 40 Vgl. J. H. G. v. Justi, System des Finanzwesens (Anm. 30), 72 (§ 140), 552 (§ 975). 41 Vgl. J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 132 (§ 270), 157 f. (§§ 315 – 317) 42 Vgl. G. F. Lamprecht, Entwurf einer Encyklopädie und Methodologie (Anm. 36), 315 f. (§ 1021), 320 (§ 1035).
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und wenn der Schatz eines Staates zu groß wird, so wird der Umlauf des Geldes unter den Unterthanen gehemmt: darum ist es dem Lande allezeit dienlich, daß ein Theil eines so groß werdenden Schatzes wieder in den Umlauf gebracht werde“43. Allerdings sind sich sämtliche der eben genannten Autoren darüber einig, daß eine Staatsverschuldung, wenn sie denn in Krisenzeiten notwendig werden sollte, in möglichst engen Grenzen gehalten werden müsse, um eine nachhaltige Schädigung des Staates zu vermeiden. Besonders Justi warnt nachdrücklich vor einer Art der Staatsverschuldung, durch „welche die Substanz des Vermögens des Staats selbst angegriffen wird“. Vor allem dann, „wenn man von auswärtigen Nationen borgen muß; so wird die Substanz des Vermögens auf die allerempfindlichste Art angegriffen; weil die Interessen den Reichthum des Staats alle Jahre immer mehr schwächen, und der Staat dadurch von andern Mächten gewissermaße[n] abhängig wird“44. Lediglich Förster fällt auch hier erneut etwas aus der Reihe der preußischen Kameralgelehrten heraus, wenn er bemerkt, es sei immer noch besser „Schulden zu machen, als die Unterthanen durch ausserordentliche Auflagen zu Grunde zu richten“45, wobei allerdings die Art und die Geschwindigkeit der Schuldentilgung von Anfang an klar geregelt werden müsse46. Lamprecht wiederum plädiert, wie schon Justi vor ihm, für äußerste Vorsicht bei der Schuldenaufnahme, die „doch nur im äussersten Nothfalle“47 zu rechtfertigen sei. Die „Auflagen“, also Steuern und Abgaben, stehen bei fast allen Autoren im Zentrum der Betrachtung, wobei im allgemeinen an der traditionellen kameralistischen Dreizahl der Einnahmenarten eines Staates – also Domänen, Regalien und Abgaben – noch festgehalten wird48. Drei thematisch und sachlich miteinander eng verbundene Fragen stehen hier im Vordergrund: 1. Welche Art der Steuer ist anderen Arten vorzuziehen? 2. Auf welchem Wege und mit welchen Mitteln ist eine möglichst gerechte Besteuerung zu erreichen? 3. Sind die bestehenden traditionellen Steuerprivilegien – zuerst und vor allem diejenigen des Adels und der Kirche – noch zu rechtfertigen oder sind sie schnellstmöglichst zu beseitigen? Die letztgenannte Frage erwies sich natürlich als besonders heikel, berührte sie doch einen nicht erst in dieser Zeit politisch überaus brisanten Gegenstand. 43
J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 158 (§ 317). Beide Zitate: J. H. G. v. Justi, System des Finanzwesens (Anm. 30), 20 f. (§ 43). 45 J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 148 (§ 298). 46 Vgl. ebenda, 149 ff. (§§ 299 ff.), 159 (§§ 318 f.) u. a. 47 G. F. Lamprecht, Entwurf einer Encyklopädie und Methodologie (Anm. 36), 317 (§ 1025). 48 Beispielhaft etwa bei J. G. Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften (Anm. 38), 528 (IV, § 26). 44
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Die meisten Autoren sind sich darin einig, und vor allem Bielfeld49, Förster50 und Lamprecht51 betonen diesen Aspekt, daß die vom Staat erhobenen Steuern mit Rücksicht auf die ökonomische Tätigkeit der Untertanen und deren Zufriedenheit mit der Obrigkeit keinesfalls zu hoch angesetzt sein dürfen52. Ungerecht erscheinende Steuern, vor allem die Kopfsteuer, die die unteren Schichten wesentlich stärker belastet als die oberen, werden im allgemeinen nachdrücklich kritisiert53. Einige Autoren lehnen die „Schatzung“, also die Besteuerung besonders umfangreicher Vermögen, mit dem Argument ab, der Aufwand sei zu groß, um Vermögenswerte angemessen einzuschätzen; diese Auffassung vertreten u. a. von der Lith54 und Lamprecht55. Als die vergleichsweise gerechteste Steuer wird von manchen Autoren eine allgemeine Verbrauchssteuer, eben die Akzise, angesehen, die – wenn auch aus jeweils unterschiedlichen Gründen – besonders von Darjes56 und von der Lith57 sowie von Förster58 und Lamprecht59 empfohlen
49 Vgl. [J. F. v. Bielfeld], Des Freyherrn von Bielfeld Lehrbegriff der Staatskunst (Anm. 35), Bd. 1, 306 f. (XI, § 9). 50 Vgl. J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 134 f. (§ 275): „Es ist falsch, daß ein iedes armes Land dadurch fleissig folglich auch reich werden müste, wenn ihm viel Abgaben aufgelegt werden. So ein armes Land, besonders wenn es klein ist, kann von einem andern grossen umgeben und auf tausenderley Art gedruckt werden, daß wenig Fleiß, Künste und Manufacturen in ihm seyn können. Die Armuth der Bürger verursacht Verzweiflung bey ihnen, so wie der Reichthum Ehrgeitz erregt. Soll so ein armes Land zu viel geben, so wird es bedrückt, weil in ihm nicht die Quellen sind, so viel zu erwerben, daß es viel geben könne“; siehe auch ebenda, 136 (§ 278). 51 Vgl. G. F. Lamprecht, Entwurf einer Encyklopädie und Methodologie (Anm. 36), 293 (§ 955). 52 Vgl. auch bereits die entsprechenden Bemerkungen über die sog. „Cammer-Tax“ (eine Getreideertragssteuer) bei S. P. Gasser, Einleitung zu den Oeconomischen Politischen und Cameral-Wissenschaften (Anm. 33), 222 – 225 (XI, §§ I-IV). 53 Vgl. hierzu nur die Bemerkung von J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 138 (§ 283): „Die Auflage auf den Kopf, die persönliche Auflage, ist der Knechtschaft, hingegen die Auflage auf die Sachen und Waaren, die dingliche Auflage ist mehr der Freyheit gemäß, darum schicket sich diese letzte am besten für die Natur der gemässigten Regierung“; gegen die Kopfsteuer ebenfall [J. F. v. Bielfeld], Des Freyherrn von Bielfeld Lehrbegriff der Staatskunst (Anm. 35), Bd. 1, 382 f. (XII, § 10), und G. F. Lamprecht, Entwurf einer Encyklopädie und Methodologie (Anm. 36), 313 (§ 1016). 54 Vgl. J. W. v. d. Lith, Politische Betrachtungen (Anm. 29), 113 – 116 (§§ 75 – 78). 55 Vgl. G. F. Lamprecht, Entwurf einer Encyklopädie und Methodologie (Anm. 36), 312 (§ 1012). 56 Vgl. J. G. Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften (Anm. 38), 587 ff. (IV, §§ 101 ff.). 57 Vgl. J. W. v. d. Lith, Politische Betrachtungen (Anm. 29), 12 – 98 (§§ 11 – 68). 58 Vgl. J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 140 (§ 287). 59 Vgl. G. F. Lamprecht, Entwurf einer Encyklopädie und Methodologie (Anm. 36), 314 f. (§§ 1019 – 1020).
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wird, während die Besteuerung von Immobilien als zu aufwendig und wenig einträglich abgelehnt wird. Die deutlichste Differenz aber gibt es bei der Einschätzung traditioneller Steuerprivilegien, vor allem derjenigen des Adels. Dithmar60 und Bielfeld61 haben die grundherrliche Steuerbefreiung ausdrücklich verteidigt; allerdings kritisiert wenigstens der letztere die Steuerfreiheiten der Kirche, indem er bemerkt, „daß der geistliche Stand gar keinen Grund hat, von dem Beytrage zum Besten des Staates, der ihm so viel Gutes thut, frey gesprochen zu werden“. Wollten die Landesherren jedoch, aus welchen Gründen auch immer, die geistlichen Steuerprivilegien nicht antasten, dann sollten sie wenigstens „sehr ansehnliche freywillige Geschenke, oder andre Abgaben von ihrer Geistlichkeit fodern“62. Während von der Lith und Darjes sich über dieses Thema ausschweigen, kritisiert wiederum Justi in seinem „System des Finanzwesens“ (1762) jene Privilegien63 ebenso deutlich wie Förster, der anmerkt, die Steuerbefreiung für Kirche und Adel sei eigentlich kein Recht, sondern einzig und allein „eine Gnade des Fürsten. Die Kirche hat kein Recht dazu, weil sie Eigenthümerin der Güter ist. Der Adel hat kein Recht zu diesen Befreyungen. Das Alter beweißt hier nichts, ihre Dienste beweisen nichts, denn die werden ihnen und solten ihnen bezahlt werden“64. Justi fügt hinzu, in den katholischen Staaten habe ein Landesherr noch besonders darauf zu achten, „daß die Geistlichkeit, Kirchen und Klöster nicht immer mehr Güter an sich bringen, und solche den Abgaben entziehen“65. In der Zollfrage wiederum sind sich alle Autoren weitgehend einig: Man hält Außen- wie Binnenzölle für unbedingt notwendig66, um den eigenen Handel zu schützen, um die Ausfuhr und damit den Verlust wichtiger, im eigenen Land produzierter Güter, etwa Edelmetalle67, zu verhindern oder 60 Vgl. J. C. Dithmar, Einleitung in die Oeconomische Policei- und Cameral-Wissenschaften (Anm. 28), 267, 269. 61 Vgl. [J. F. v. Bielfeld], Des Freyherrn von Bielfeld Lehrbegriff der Staatskunst (Anm. 35), Bd. 1, 388 f. u. a. mit den Argumenten, bei der Steuerbefreiung adliger Güter handele es sich um „ein seit vielen Jahrhunderten erworbenes Recht [ . . . ], welches ihnen der Landesherr, ohne Ungerechtigkeit, nicht rauben kann“; außerdem müsse in betracht gezogen werden, daß „der Adel dem Staate auf eine sehr beschwerliche Art, sowohl im Kriege,alsbeyHofe,undbeyGesandtschaftendienet“(ebenda,388). 62 Beide Zitate ebenda, 388 (XII, § 16). 63 Vgl. J. H. G. v. Justi, System des Finanzwesens (Anm. 30), 440 (§ 808). 64 J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 144 (§ 292). 65 J. H. G. v. Justi, System des Finanzwesens (Anm. 30), 441 (§ 808). 66 Vgl. etwa S. P. Gasser, Einleitung zu den Oeconomischen Politischen und Cameral-Wissenschaften (Anm. 33), 289 – 193 (XVII, §§ IV – VII); J. G. Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften (Anm. 38), 557 (IV, §§ 63 – 64), 580 – 586 (IV, §§ 91 – 98). 67 So fordert etwa Dithmar ausdrücklich ein Ausfuhrverbot für alle in einem Land erwirtschafteten Edelmetalle; vgl. J. C. Dithmar, Einleitung in die Oeconomische Policei- und Cameral-Wissenschaften (Anm. 28), 260.
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um den Export doch wenigstens zu kontrollieren – und um den Binnenhandel zu regulieren. Freilich stimmen fast alle Autoren auch darin überein, die Zölle nach Möglichkeit niedrig zu halten, um den inneren wie den Außenhandel so wenig wie möglich zu belasten und damit zu behindern68 – eingedenk der Tatsache, daß man, wie etwa Justi feststellt, bei außergewöhnlich hohen Zöllen „bald alle Commercien zu Grunde richten [würde], und die Zoll-Einkünfte würden endlich gleichfalls aufhören“69. Von allen diesen Autoren hat sich jedoch lediglich Justi bereits in den 1760er Jahren deutlich gegen die Binnenzölle ausgesprochen70. Die aufgeklärte Kameralistik in Preußen, das zeigen bereits diese ersten Befunde, repräsentierte – vielleicht noch etwas stärker als die frühen Kameralwissenschaften in anderen deutschen Territorien – eine, wie u. a. Kaufhold betont hat, besonders „stark am Staat orientierte Wissenschaft“, die freilich im Lauf der Zeit deutlich darüber hinaus ging, bloße „Rezeptsammlungen“ für die staatliche Wirtschaftspolitik zu liefern, sondern analytisch und theoretisch durchaus anspruchsvolle Ideen und Konzepte formulierte, mit denen um 1800 der Beginn der modernen Wirtschaftswissenschaften im deutschsprachigen Kulturbereich eingeleitet wurde71.
II. Im folgenden soll zuerst nach den finanzpolitischen Vorstellungen derjenigen preußischen Autoren um 1800 gefragt werden, die den Gedankengängen und Konzepten eines eher traditionellen Kameralismus oder der Physiokratie verpflichtet waren: Hier ist zuerst zu nennen Karl August von Struensee72, seit 1791 preußischer Minister im Generaldepartement, zuständig für das Akzise-, Zoll- und Kommerzialwesen, ebenfalls ein sehr aktiver und in seiner Zeit durchaus angesehener Finanzschriftsteller, dessen Gesammelte Abhandlungen zu Themen der Staatswirtschaft im Jahr 1800 in drei Bänden erschienen sind73, sodann ein weiterer Praktiker, Leo68 Vgl. etwa J. C. Förster, Einleitung in die Staatslehre (Anm. 27), 141 f. (§§ 288 – 289); J. G. Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften (Anm. 38), 581 (§ 91), 585 f. (§ 98). 69 J. H. G. v. Justi, System des Finanzwesens (Anm. 30), 66 (§ 126). 70 Vgl. ebenda, 164 (§ 318); Justi erläutert seine Auffassung hier am Beispiel der Buchherstellung und des Buchhandels. 71 Die Zitate: K. H. Kaufhold, „Wirtschaftswissenschaften“ und Wirtschaftspolitik (Anm. 13), 59. 72 Vgl. ADB, Bd. 36, 661 – 665 (Herman v. Petersdorff); Peter Krause, Carl August von Struensee (1735 – 1804), in: Aufklärung 6 (1991 / 92), 97 – 99; Rolf Straubel, Carl August von Struensee. Preußische Wirtschafts- und Finanzpolitik im ministeriellen Kräftespiel (Bibliothek der brandenburgischen und preußischen Geschichte, 4), Potsdam 1999; Wilhelm Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1786 – 1797), Frankfurt am Main 2001, 179 – 184 u. a.
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pold Krug, erster Leiter des preußischen statistischen Büros74, dessen sehr kenntnis- und materialreiche „Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats“ von 1805 am Vorabend der Katastrophe noch einmal die ökonomische Lage Preußens ausführlich darstellten75, und schließlich zwei Universitätslehrer, zuerst Friedrich Benedict Weber76, der letzte an der Viadrina zu Frankfurt an der Oder tätige Staatswissenschaftler, und endlich Theodor Anton Heinrich Schmalz77, Jurist und Kameralist an den Universitäten Königsberg, Halle und (ab 1810) auch in Berlin. Die stets aktuelle – ab 1806 / 07 aber mehr als dringliche – Frage nach Geldschöpfung und Geldbeschaffung, wird von diesen Autoren besonders intensiv diskutiert. Der noch uneingeschränkt „dem Mercantilsystem“78 huldigende Struensee legt vor und um 1800 großen Wert darauf, mit besonderem Nachdruck von der Einführung des Papiergeldes abzuraten; das Schicksal der französischen Assignaten und der durch deren Einführung bewirkte Währungsverfall in der französischen Republik dienen ihm als mehrfach ausführlich diskutiertes, stets abschreckendes Beispiel79; seine Überlegungen gipfeln in der Feststellung, dem „Übel der Assignaten“ könne nur begegnet werden durch „ein ordentliches Geld- und Münzsystem“80. Krug und Schmalz wiederum warnen, ganz in der Tradition der Debatten des 18. Jahrhunderts, eindringlich vor der anderen Gefahr einer Münzverschlechterung, die von beiden Autoren übereinstimmend kurz und bündig als ein vom Staat inszenierter „Betrug“ definiert wird81. Während Schmalz 73 Karl August von Struensee, Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatswirthschaft, Bde. 1 – 3, Berlin 1800. 74 ADB, Bd. 17, 216 – 219 (Inama); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 497 f.; Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, 379 ff. 75 Leopold Krug, Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats, und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bde. 1 – 2, Berlin 1805. 76 ADB, Bd. 41, 295 f. (Löbe); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 472, 602 f.; Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Anm. 17), 314 ff. 77 Vgl. Bruno Gerecke, Theodor Schmalz und seine Stellung in der Geschichte der Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Geschichte der Physiokratie in Deutschland, phil. Diss. Bern 1906; Hans-Christof Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760 – 1831) – Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration (Ius Commune; Sonderhefte: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 124), Frankfurt am Main 1999. 78 H. v. Petersdorff, in: ADB, Bd. 36, 663. 79 Vgl. K. A. v. Struensee, Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatswirthschaft (Anm. 73), Bd. 1, 174 f.; Bd. 3, 565 ff. 80 Ebenda, Bd. 3, 584. 81 Vgl. Leopold Krug, Abriß der Staatsökonomie oder Staatswirthschaftslehre, Berlin 1808, 193 – 199 (§§ 223 – 230); vom „Betrug“ ist 197 (§ 228) die Rede; Theodor Schmalz, Handbuch der Staatswirthschaft, Berlin 1808, 308 – 311 (§§ 384 – 385), bes.
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noch in seinem 1808 publizierten umfangreichen „Handbuch der Staatswirthschaft“ die Ausgabe von Papiergeld als vermeintlich ökonomisch ruinöse Maßregel strikt ablehnt82, findet sich in Krugs ebenfalls 1808 erschienenem „Abriß der Staatsökonomie“ eine sachlichere Diskussion dieses Themas; er geht bereits dazu über, die Vor- und die Nachteile des Papiergeldes gegeneinander abzuwägen – freilich ohne zu einer abschließenden klaren Empfehlung zu gelangen83. In der Staatsschuldenfrage gehen die Auffassungen der genannten Autoren in ähnlicher Weise auseinander. Struensee84 und Schmalz85 zeigen sich als entschiedene Anhänger der Lehre von der Nützlichkeit eines Staatsschatzes, in dem sie das sicherste Mittel sehen, um unvorhersehbaren Finanzkrisen des Staates vorzubeugen, während Krug demgegenüber die volkswirtschaftlichen Nachteile hervorhebt, die mit dem Anhäufen eines Schatzes und der letztlich ökonomisch vollkommen sinnlosen Bindung großer Kapitalmassen notwendigerweise verbunden sind. Es bleibe, so das Resümee seiner Darlegungen, „immer eine Entbehrung für die Nation, deren Regierung einen Schatz sammelt; abgesehen von der Nothwendigkeit, daß sie in der Regel mehr Steuern bezahlen muß, als wenn die Regierung keinen Ueberschuß über ihre Ausgaben verlangte“. Und überdies, so Krug weiter, „entgehen der Nazion die jährlichen Zinsen von diesen Schätzen, welche sie hätten eintragen können, wenn sie in der Zirkulazion geblieben wären“86. 309 (§ 384): „Betrug“. Vgl. bereits die knappen Bemerkungen in: Theodor Schmalz, Encyclopädie der Cameralwissenschaften. Zum Gebrauch academischer Vorlesungen, Königsberg 1797, 214 f. (§ 544). 82 Vgl. T. Schmalz, Handbuch der Staatswirthschaft (Anm. 81), 341 – 343 (§ 424), bes. 342: „Nie ist Papiergeld ohne großen Nachtheil vom Staat ausgegeben worden, nie ohne Zerstörung des Kredits; nicht so wohl, also ob dieß Papiergeld an sich so nachtheilige Folgen hätte, sondern durch die Fehler bei der Ausgabe desselben. Vom Papiergelde kann man nie hoffen, daß es dem baaren Gelde werde gleichgehalten werden, wenn es nicht entweder Zinsen trägt, und so aufhört, eigentliches Papiergeld zu seyn, oder ein Bedürfniß es dem Publikum angenehm macht . . .“. 83 Vgl. L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 207 f. (§ 239). 84 Siehe die ausführlichen Erörterungen über die Vorteile einer „Schatzkammer“ bei K. A. v. Struensee, Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatswirthschaft (Anm. 73), Bd. 1, 216 – 258, bes. 245 ff. 85 Vgl. T. Schmalz, Encyclopädie der Cameralwissenschaften (Anm. 81), 227 (§ 575); noch deutlicher: derselbe, Handbuch der Staatswirthschaft (Anm. 81), 347 f. (§ 429): „Das Nachtheilige, was man von gesammelten Schätzen gesagt hat, ist aus dem irrigen Begriffe der Merkantilisten entstanden, welche nur baar Geld für Kapital ansehen, und dann vom Müssigliegen des Kapitals sprechen. Aber wenn sie in dringenden Lagen selbst kein anderes Mittel kennen, als Schulden aufnehmen, wo glauben sie dann, kommen die geliehenen Kapitalien her? Sie mußten doch auch bei dem Privatmanne, von dem geliehen wird, vorräthig und bereit seyn. Mögen sie dann eben so gut im Schatze des Souverains liegen. Ja, wenn es möglich ist, möge, noch während man an den Schulden bezahlt, ein Schatz gesammelt werden. Verliert man dadurch gleich die Zinsen jetzt, so spart man doch künftige, und ist für den Nothfall bereit“.
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Die weitere, gerade nach 1806 / 07 für den preußischen Staat zentrale Frage nach den besten Möglichkeiten der Schuldenaufnahme einerseits sowie der Schuldentilgung andererseits wird von diesen Autoren ebenfalls auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet. Struensee – der übrigens, im Gegensatz zu vielen Vorgängern, den Staatsschulden auch nützliche Aspekte abzugewinnen vermag87 – plädiert für die Verpfändung oder Beleihung staatlicher Ländereien, in denen er die ökonomisch sinnvollste Methode öffentlicher Verschuldung erkennt88. Krug89 und Schmalz90 dagegen empfehlen 1808 das Mittel der Staatsanleihen – freilich nur freiwilliger, keiner Zwangsanleihen – als Finanzierungsmodell unumgänglicher staatlicher Ausgaben in Krisenzeiten. Während sich den Zwangsanleihen, so Krug, „ein jeder aus Furcht vor Verlust möglichst zu entziehen und sein Vermögen zu verbergen sucht“, werden freiwillige Anleihen „manche Kapitale, die gar nicht oder zu geringen Zinsen angelegt sind, an sich ziehen“91. Die Steuerfrage wird im Zusammenhang des nach 1807 drastisch erhöhten Finanzbedarfs des durch Napoleon besiegten und ausgeplünderten Königreichs Preußen von Krug und Schmalz, wie zu erwarten ist, besonders eingehend thematisiert, während Struensee wenige Jahre zuvor in seinen gesammelten Finanzschriften nur noch einmal den im Kameralismus traditionell weit verbreiteten Topos von der genuinen Schädlichkeit zu hoher Steuern aufgegriffen hatte92. Die Empfehlungen von Schmalz und Krug sind dagegen eindeutig physiokratischen Konzeptionen verpflichtet. Krug warnt ausdrücklich vor Steuerreformen, die in die bestehenden Verhältnisse tief eingreifen, vor allem auch vor neuen Steuern, die sich für die ökonomische Entwicklung des Staates nach seiner Auffassung nur negativ auswirken könnten, denn bei allen bestehenden Steuersystemen sei die all86 Die Zitate: L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 214 f. (§ 245); vgl. auch 215 f. (§ 246). 87 Vgl. K. A. v. Struensee, Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatswirthschaft (Anm. 73), Bd. 1, 265 f.; die Vorteile liegen für ihn darin, daß öffentliche Schulden „das Zahlvermögen der Nation“ vermehren und auf diesem Wege „sehr vortheilhafte Folgen sowohl für den Geldumlauf als auch für den Handel“ (ebenda, 266) entstehen. 88 Vgl. ebenda, Bd. 1, 175. 89 Vgl. L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 217 f. (§ 248). 90 Vgl. T. Schmalz, Handbuch der Staatswirthschaft (Anm. 81), 344 – 347 (§§ 426 – 428). 91 L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 218 (§ 248). 92 Vgl. K. A. v. Struensee, Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatswirthschaft (Anm. 73), Bd. 1, 187 – 216; u. a. polemisiert Struensee besonders scharf gegen die Kopfsteuer (ebenda, 202 – 210), und er bemerkt, bereits deutlich geprägt vom Erlebnis der Französischen Revolution, ein durch zu hohe Steuern ausgelöstes „Mißvergnügen der Nation“ (ebenda, 193) könne durchaus zu gefährlichen politischen Unruhen führen!
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gemeine Regel zu beobachten, „daß die Wirkungen einer schon von Alters her bestehenden Steuer ganz anders sind, als die einer neu einzurichtenden. Vorzüglich ist diese Regel bei den Klagen über Ungleichheit der schon eine Zeitlang bestehenden Steuern zu beachten; indem nach diesen seit einer langen Reihe von Jahren alle Verhältnisse der einträglichen und besteuerten Gegenstände und Gewerbe sich schon so eingerichtet haben: daß eine Abänderung dieses Sistems, wenn es nicht die Steuer in der Quantität überhaupt vermindert, immer bedenkliche Folgen haben muß. Bei den Steuern, deren Einfluß auf das Vermögen der Nazion vorübergehend und nicht dauernd ist, wird das Alter ein wichtiger Grund seyn, sie beizubehalten; und ein Staat, der in seinem Steuersistem oft Veränderungen vornimmt, wird dem Wohlstande der Nazion mehr schaden – wenn er auch verhältnißmäßig weniger von seinen Bürgern verlangt – als ein anderer bei übrigens gleichen Umständen, der nach einem alten immer gleich gebliebenen Sistem etwas mehr von seinen Bürgern zieht“93. Vermögenssteuer, Einkommensteuer und Konsumtionssteuer (also die Akzise), besonders auch die Kopfsteuer, werden von ihm in ausführlichen Erörterungen als nachteilig erwiesen94. Die zentralen Staatseinkünfte sieht Krug zum einen in den Erträgen der Domänen, zum anderen in der Grundsteuer95. Noch radikaler entfaltet Schmalz in seinem Handbuch von 1808 sein zuerst bereits 1797 formuliertes physiokratisches Programm96, wenn er konsequent für die Abschaffung der meisten bereits bestehenden Steuern, vor allem der von ihm besonders verabscheuten Akzise97, plädiert. Er folgt am klarsten und eindeutigsten der reinen Lehre der physiokratischen Schule, die allein und ausschließlich im Grundertrag den einzigen ökonomisch produktiven Faktor erkennen möchte, da es, wie er sagt, „kein Einkommen der Nation“ gibt „als die Summen aller Natur-Produkte“98; insofern läßt er von allen Steuerarten einzig und allein die Grundsteuer übrig99, deren Erhöhung er denn auch nachdrücklich empfiehlt, denn „eine einzige Steuer kann dann bequem alle Staats-Ausgaben bestreiten. Durch diese Besteuerung des reinen Ertrages ist aber dann auch das Problem von verhältnißmäßiger Gleich93
L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 125 (§ 148). Vgl. ebenda, 136 ff. (§§ 158 ff.), 167 ff. (§§ 197 ff.), 179 f. (§ 208). 95 Vgl. ebenda, 154 ff. (§§ 180 ff.), bes. 164 f. (§ 194): „Ein Staat, der bloß aus dem Einkommen seiner Domänen und aus der Grundsteuer seinen jährlichen Bedarf ziehen kann, wird um vieles glücklicher und besser organisirt seyn können, als ein solcher, der zu Steuern auf Gewerbe, Konsumzion und Personen schreitet“. 96 Vgl. T. Schmalz, Encyclopädie der Cameralwissenschaften (Anm. 81), 223 ff. (§§ 565 ff.); siehe dazu auch H.-C. Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (Anm. 77), 502 – 513. 97 Vgl. T. Schmalz, Handbuch der Staatswirthschaft (Anm. 81), 323 ff. (§ 403). 98 Ebenda, 328 (§ 406). 99 Vgl. ebenda, 328 ff. (§ 407 ff.). 94
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heit der Vertheilung der Steuern gelöset, indem jeder gleichen Antheil von seinem Antheil am gemeinen reinen Ertrage des Landes abgiebt“100. Während Krug der sich hier sogleich stellenden Frage nach der Berechtigung traditioneller Steuerprivilegien, vor allem derjenigen der adligen Grundherren, weitgehend ausweicht und jene Privilegien nur indirekt und äußerst zurückhaltend thematisiert, etwa indem er vor tiefgreifenden Veränderungen im bestehenden Steuersystem warnt101, nimmt Schmalz 1808 hingegen mit klaren Worten gegen die Steuerprivilegien adliger Rittergüter sehr entschieden Stellung, indem er darauf hinweist, daß zum einen „die ehemaligen Verhältnisse der Ritter zu den Fürsten in Teutschland“ sich schon seit längerem grundlegend geändert haben, daß in der Gegenwart für den Adel „wahre Staats-Bürgerschaft auch Staatsbürger-Pflichten“ mit sich bringt, und daß zum anderen (hier zeigt sich wiederum der Physiokrat) „alle diese Privilegien leer sind, indem doch alle Abgaben am Ende auf die Grundeigenthümer fallen“102. Gegen eine Steuerbefreiung von Kirchengütern hatte sich Schmalz übrigens bereits in seiner „Encyclopädie der Cameralwissenschaften“ von 1797 ausgesprochen103. Einig sind sich alle Autoren, die nach 1806 publizieren, in ihrer negativen Einschätzung der Zölle, besonders natürlich der Binnenzölle. Krug104, Schmalz105 und ebenfalls (der sich zu Finanzfragen im speziellen Sinne 100 Ebenda, 333 (§ 411), im folgenden (ebenda, 333 ff.) macht Schmalz übrigens Vorschläge für die weitere Ausgestaltung des von ihm vorgeschlagenen physiokratischen Steuersystems, das nicht nur eine „genaue Vermessung und Abschätzung der Grundstücke, und ihres rohen und reinen Ertrages“ (333 f.) erfordert, sondern auch einen Abzug der „jährlichen Bestellungskosten oder Bearbeitungskosten“ (335) vorsehen soll. Siehe zu Schmalz’ „Handbuch“ von 1808 auch H.-C. Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (Anm. 77), 514 – 525. 101 Vgl. L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 124 f. (§§ 147 – 148). 102 Die Zitate: T. Schmalz, Handbuch der Staatswirthschaft (Anm. 81), 317 f. (§ 394). 103 Vgl. T. Schmalz, Encyclopädie der Cameralwissenschaften (Anm. 81), 207 f. (§§ 521 – 524). 104 Vgl. L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 105 – 107 (§§ 124 – 125). 105 Vgl. T. Schmalz, Handbuch der Staatswirthschaft (Anm. 81), 265 f. (§ 332): „Nichts ist drückender für den inländischen und ausländischen Handel, als die Menge der öffentlichen Abgaben, welche ihn drücken, und noch mehr oft die Formen und die Art, in welcher diese Abgaben erhoben werden. Der Aufenthalt, den entweder die Laune und Erpressungen von Zollbeamten, oder die Förmlichkeiten der Durchsuchungen machen, verdirbt oft die Spekulation des Kaufmanns, nicht selten seine Waaren sogar. Außerdem ist jeder Schritt erschwert durch Abgaben; Schleusen-Gelder, Zölle und andre Gelder der Art machen den Transport auf Flüssen oft so kostbar, daß wenig gegen den Landtransport gewonnen wird, daß oft weit mehr an Zöllen, als an Fracht zu bezahlen ist. Die Finanzwissenschaft mag sorgen, die Bedürfnisse des Staats sonst herbei zu schaffen; die Staatswirthschaftliche Polizey muß sorgen den Handel von dieser Last zu entbinden, durch welche so viel Gewinn verloren wird, und so sehr viel mehr, als jene Abgaben der Staatskasse einbringen, daß das National-Einkommen dreifach und mehrfach ausgiebt, was die Kasse der Regierung einfach empfängt“.
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kaum äußernde) Weber mahnen denn auch besonders dringend die möglichst umgehende Abschaffung der letzteren an, um damit gravierende Hindernisse einer freien Wirtschaftstätigkeit innerhalb des preußischen Gesamtstaates zu beseitigen. Soll die Industrie „zu einem hohen Flor“ gelangen, so Weber, dann müssten alle hierzu „erforderlichen Bedingungen erfüllt werden, und keine Störung darin je vorfallen: d. h., nämlich [ . . . ] volle Freyheit des Handels, der Ein- und Ausfuhr aller Waaren und Güter, und des inneren Verkehrs überhaupt, Befreyung des Handels und aller andern Gewerbe von allen unwesentlichen, drückenden Lasten und Beschwerden, möglichste Erleichterung der unausweichlichen Belastungen derselben. . .“106. In der Frage der Außenzölle erweist sich Schmalz als ein noch konsequenterer Anhänger des Freihandels als der ebenfalls sehr zollkritische Krug107, indem er auch sämtliche Einfuhr- und Ausfuhrverbote generell als ökonomisch schädlich ansieht und nachdrücklich deren baldige Abschaffung empfiehlt108. – Jedenfalls deutet sich besonders in den Stellungnahmen von Weber und Schmalz bereits das Ende der alten, die Wirtschaft zuerst und vor allem auf den Staat beziehenden Kameralwissenschaften an, das unter dem Eindruck des Siegeszugs der modernen ökonomischen Theorie sowie angesichts der gravierenden allgemeinen wirtschaftlich-technischen Veränderungen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts tatsächlich erfolgen sollte109.
III. An dieser Stelle ist nun nach der Smith-Rezeption und nach den finanzpolitischen Ideen der Anhänger der Lehren Adam Smiths in Preußen zu fragen110. – Die Aufnahme der Ideen Smiths beginnt jedenfalls in Nord106 Friedrich Benedict Weber, Staatswirthschaftlicher Versuch über die Theurung und Theurungspolizey; mit vorzüglicher Hinsicht auf die dahin einzuschlagende Literatur, Göttingen 1807, 71. 107 Vgl. besonders L. Krug, Abriß der Staatsökonomie (Anm. 81), 99 ff. (§§ 120 ff.), 181 ff. (§§ 210 ff.). 108 Vgl. T. Schmalz, Handbuch der Staatswirthschaft (Anm. 81), 267 f. (§ 335). 109 Dieser Tatbestand kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden; siehe dazu nur Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. München 1986, 195 ff. u. passim; W. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg (Anm. 4), 95 ff.; Rüdiger vom Bruch, Zur Historisierung der Staatswissenschaften. Von der Kameralistik zur historischen Schule der Nationalökonomie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8 (1985), 131 – 146. 110 Generell zur deutschen Smith-Rezeption siehe u. a. W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 593 ff.; Carl William Hasek, The Introduction of Adam Smith’s Doctrines into Germany (Studies in History, Economics an Public Law, 261), New York 1925; Hugo Graul, Das Eindringen der Smithschen Nationalökonomie in Deutschland und ihre Weiterbildung bis zu Hermann, jur. Diss. Halle-Wittenberg 1928; Joseph A. Schumpeter, History of Economic Analysis, hrsg. v. Elizabeth Boody Schumpeter, New York 1954, 501 ff.; Harald Winkel, Die deutsche National-
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deutschland und verfügt über zwei Zentren: Das Kurfürstentum Hannover und Preußen. Zwar erscheint seit 1776 die erste, freilich noch unvollständige und fehlerhafte Übersetzung von Smiths „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ in Leipzig111, doch die eigentliche Wirkung der Ideen des schottischen Ökonomen geht von den Universitäten aus, wobei zuerst Göttingen mit Georg Sartorius sowie etwas später mit August Ferdinand Lueder112 und anschließend Königsberg mit Christian Jakob Kraus113 zu nennen sind. Auch die Politiker nehmen Smith überraschend früh wahr; schon 1786 wird er von Ewald Friedrich von Hertzberg in einem seiner akademischen Diskurse lobend hervorgehoben114, freilich noch nicht eingehender rezipiert115. Das geschieht erst, seitdem der in Breslau wirökonomie im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1977, 7 – 49; ders., Adam Smith und die deutsche Nationalökonomie (Anm. 9), passim. 111 Adam Smith, Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern, Bde. 1 – 2, übers. v. Johann Friedrich Schiller, Leipzig 1776 – 1778, Bd. 3, übersetzt von Christian August Wichmann, Leipzig 1792; vgl. W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 598; H. Winkel, Adam Smith und die deutsche Nationalökonomie (Anm. 9), 90 f. 112 Hierzu sehr ausführlich: Holger Krahnke, Reformtheorien zwischen Revolution und Restauration. Die gesammte Politik an der Universität Göttingen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften, III, 830), Frankfurt a. M. 1999, bes. 204 – 241 (Smith-Rezeption in Göttingen). 113 Vgl. u. a. W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 608 – 615; Erich Kühn, Der Staatswirtschaftslehrer Christian Jakob Kraus und seine Beziehungen zu Adam Smith, in: Altpreußische Monatsschrift 39 (1902), 325 – 370, 40 (1903), 1 – 61; Benny Dobbriner, Christian Jakob Kraus. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte, wirtschaftswiss. Diss. Frankfurt a. M. 1926; Fritz Milkowski, Christian Jakob Kraus. Eine längst fällige Korrektur zur Geschichte der Volkswirtschaftslehre, in: Schmollers Jahrbuch für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften 88 / I (1968), 257 – 297; Kurt Röttgers, Christian Jakob Kraus (1753 – 1807), in: Die Albertus-Universität und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren, hrsg. v. Dietrich Rauschning / Donata von Nerée (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg / Pr., 29), Berlin 1995, 125 – 135. – Allgemein zur Königsberger Kameral- und Staatswissenschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert siehe auch Harald Winkel, Zur Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Königsberg, in: Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937 – 1986), hrsg. v. Norbert Waszek, St. Katharinen 1988, 109 – 121. 114 Vgl. Ewald Friedrich von Hertzberg, Sur la véritable richesse des états, la balance du commerce et celle de pouvoir (1786), in: derselbe, Œuvres politiques de M. le Comte de Hertzberg, Ministre de S. M. le Roi de Prusse, Bd. 1, Berlin 1795, 273 – 324, hier 279 f.: „C’est le travail, comme M. Smith l’a admirablement bien prouvé dans l’ouvrage cité, qui fait la véritable mesure universelle & exacte de la valeur de toutes les marchandises & richesses, & l’argent n’y sert que de moyen & d’instrument pour l’échange du travail“. 115 Vgl. dazu auch Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen, 29), Berlin 1986, 251 f.
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kende Christian Garve in den Jahren 1793 – 96 die erste genaue und vollständige Übersetzung des Werkes publiziert116; 1797 wird Smith übrigens von Immanuel Kant im geldtheoretischen Abschnitt seiner „Metaphysik der Sitten“ zustimmend zitiert117. Ohne Frage war, wie Wilhelm Treue es formulierte, Christian Jakob Kraus „der bekannteste Vertreter des Geistes von Smith in Preußen“118, doch Treue neigt dazu, die Bedeutung des anderen in Preußen lehrenden Smith-Anhängers, des an der Universität Halle wirkenden Philosophen und Ökonomen Ludwig Heinrich Jakob119, zu unterschätzen, der nicht nur als bekannter Universitätslehrer der Kameral- und Staatswissenschaften, sondern auch als kompetenter Übersetzer der neuesten englischen und französischen Wirtschaftsliteratur, darunter Thornton und Say, hervorgetreten ist120. Denn Jakob dürfte bereits lange vor der Publikation seiner „Grundsätze der National-Ökonomie“ von 1805 die Ideen Smiths und der neuen Wirtschaftslehre in seinen Vorlesungen dargelegt haben – freilich in Konkurrenz zu Theodor Schmalz, der vor seinem Wechsel von Königsberg nach Halle (1803) auch der konkurrierende Kollege von Kraus gewesen war121. Die bedeutenden und weitreichenden Wirkungen, die von den preußischen Smith-Anhängern ausgingen, erscheinen fast noch bemerkenswerter angesichts der Tatsache, daß Kraus und Jakob während der eigentlichen Reformzeit persönlich nicht mehr in Preußen präsent waren: Kraus starb im 116 Adam Smith, Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, Breslau / Leipzig 1793 – 1796; seit 1796 erschien bereits eine neue Ausgabe dieser Übersetzung in vier Bänden (nach der 4. Originalausgabe von Garve ergänzend übersetzt), Frankfurt a. M. 1796 – 1799; vgl. dazu auch W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 603; H. Winkel, Die deutsche Nationalökonomie (Anm. 110), 7 f. 117 Vgl. Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 6, Berlin 1914 u. ö., 289. 118 W. Treue, Adam Smith in Deutschland (Anm. 2), 111; vgl. zu Kraus auch die Ausführungen ebenda, 111 ff. 119 Vgl. ADB, Bd. 13, 689 f. (Prantl); W. Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 5), 686 – 696, sodann besonders Gustav Aubin, Ludwig Heinrich von Jakob, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, hrsg. v. der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt, Bd. 5: Lebensbilder des 18. und 19. Jahrhunderts, Magdeburg 1930, 202 – 211; Otto Lehmann, Die Nationalökonomie an der Universität Halle im 19. Jahrhundert, jur. Diss. Halle-Wittenberg 1935, 84 – 140; A. Rüdiger, Staatslehre und Staatsbildung (Anm. 17), 297 ff. 120 [Henry Thornton], Der Papier-Credit von Großbritannien. Nach seiner Natur und seinen Wirkungen untersucht von Heinrich Thornton. Esqu. M. P. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen versehen von Ludwig Heinrich Jakob, Halle 1803; Johann Baptist Say, Abhandlung über die National-Oekonomie oder einfache Darstellung der Art und Weise, wie die Reichthümer entstehen, vertheilt und verzehrt werden. Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und Zusätzen versehen von Ludwig Heinrich Jakob, Bde. 1 – 2, Halle / Leipzig 1807. 121 Vgl. dazu H.-C. Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (Anm. 77), 43 ff., 66 ff.
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August 1807 und Jakob folgte schon 1806, nach der von Napoleon verfügten Schließung der Universität Halle, einem Ruf nach Rußland, wo er zunächst einige Jahre lang an der Universität Charkow und später in der russischen Finanzverwaltung in St. Petersburg tätig war, bevor er 1816 nach Preußen an seine alte Universität zurückkehrte. Immerhin ist seit langem bekannt, daß eine ganze Reihe der führenden Staats- und Wirtschaftsreformer, die in Preußen ab 1806 / 07 an führender Stelle tätig waren, vor und um 1800 bei Kraus in Königsberg staatswissenschaftliche Vorlesungen gehört hatten oder ihm beruflich und persönlich eng verbunden waren – so etwa Friedrich Leopold von Schrötter122, Theodor von Schön123, Hermann von Boyen124 und Johann Gottlieb Frey125. Was nun die Geldtheorie anbelangt, so erweist sich Jakob – wenigstens in diesem einen Punkt – als erstaunlich traditionalistischer Ökonom, der Geld nicht als Zeichen, nicht als Symbol, sondern schlicht und einfach als „Waare“ definiert und den Wert des Geldes ausschließlich dem Wert des Edelmetalls der Gold- und Silbermünzen gleichsetzt. Für Geld werde, so Jakob, „bloß deßhalb etwas gegeben [ . . . ], weil es eine gewisse Quantität Metall von einer bestimmten Feine in sich schließt“126. Insofern sei es nicht zu bestreiten, „daß echtes Metallgeld kein Zeichen des Werthes, sondern selbst ein echter Werth, wie jede andere nützliche Waare sey“127. Mit einer solchen Definition fällt Jakob in der Tat noch hinter Graumann und Förster zurück, die bereits ein halbes Jahrhundert früher zu einer anspruchsvolleren Be122 Vgl. W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik (Anm. 2), 143; Kurt von Raumer, Schrötter und Schön, in: Altpreußische Forschungen 18 (1941), 117 – 155, hier 123; Georg Christoph von Unruh, Friedrich Leopold Freiherr von Schrötter (1743 – 1815), in: Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648 – 1945, hrsg. v. Kurt G. A. Jeserich / Helmut Neuhaus, Stuttgart / Berlin / Köln 1991, 49 – 51, hier 49. 123 Vgl. dazu neuerdings Theodor von Schön, Persönliche Schriften, Bd. 1: Die autobiographischen Fragmente, hrsg. v. Bernd Sösemann, bearb. v. Albrecht Hoppe (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 53,1), Köln / Weimar / Wien 2006, 63 ff., 529 ff. u. a.; siehe auch W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik (Anm. 2), 128 ff.; Ernst Kröger, Vom Studenten zum Kriegsrat. Die staatswissenschaftliche Ausbildung Theodor von Schöns, in: Theodor von Schön. Untersuchungen zu Biographie und Historiographie, hrsg. v. Bernd Sösemann (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 42), Köln / Weimar / Wien 1996, 29 – 40. 124 Vgl. Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, Bd. 1: 1771 bis 1814, Stuttgart 1896, 26 f., 65. 125 Vgl. Theodor Winkler, Johann Gottlieb Frey und die Entstehung der preußischen Selbstverwaltung, 2. Aufl. Stuttgart 1957, 38. 126 Ludwig Heinrich Jakob, Grundsätze der National-Oekonomie oder NationalWirthschaftslehre, Halle 1805, 404. 127 Ebenda, 408; vgl. dazu ebenfalls Ludwig Heinrich Jakob, Grundsätze der Policeygesetzgebung und der Policeyanstalten, Charcow / Halle / Leipzig 1809, 597 – 603 (§§ 219 – 220).
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stimmung gelangt waren128. Im Anschluß an seine Definition des Geldes warnt Jakob konsequenterweise denn auch nachdrücklich, wie bereits die meisten seiner Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert, vor dem Versuch staatlicher Geldschöpfung durch Münzverschlechterung129. Immerhin plädiert er – im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Struensee und Schmalz130 – für das Mittel der Geldbeschaffung durch Ausgabe von „Assignationen“ und anderen Arten des Papiergeldes131. Da die Banknoten „weit mehr Bequemlichkeit haben, als das baare Geld selbst, indem sie a) die große Zahlung erleichtern, b) leicht zu transportieren sind, und c) alles damit ausgerichtet werden kann, was mit Gelde geschieht, so weit ihr Credit geht; so werden sie in einem Lande, das große Handlung treibt, und vollen Credit hat, bald beliebt werden, und es werden der Bank in der Regel nur wenige zur Auswechselung präsentirt werden“132. Diese Art der künstlichen Vermehrung des Geldkapitals eines Staates ist nach Jakob freilich an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft: Zum einen kann sich nur ein verhältnismäßig großer Staat die Ausgabe von Papiergeld leisten133, zweitens soll die Gültigkeit von Geldscheinen ausschließlich auf das Inland beschränkt bleiben134 und drittens muß die Gesamtmenge des umlaufenden Papiergeldes strikt begrenzt und klar festgelegt bleiben, um das Vertrauen der Bevölkerung in dessen Wert nicht zu gefährden und um inflationäre Entwicklungen zu vermeiden135. Auch Kraus, dessen nachgelassener ökonomischer Vorlesungszyklus zwischen 1808 und 1811 von Auerswald und Hüllmann in fünf Bänden unter dem Titel „Staatswirthschaft“ herausgegeben worden ist136, plädiert für die kontrollierte Einführung des Papiergeldes, um, wie er sich ausdrückt, die allgemeine „Gewerbsamkeit“ und damit das Nationaleinkommen eines Staates zu vermehren137. 128
Siehe oben, Abschnitt I. Vgl. L. H. Jakob, Grundsätze der National-Oekonomie (Anm. 126), 404 ff. (§§ 746 ff.). 130 Siehe oben, Abschnitt II. 131 Vgl. dazu ausführlich L. H. Jakob, Grundsätze der National-Oekonomie (Anm. 126), 429 – 447 (§§ 790 – 818); L. H. Jakob, Grundsätze der Policeygesetzgebung und der Policeyanstalten (Anm. 127), 619 – 642 (§§ 222 – 226). 132 L. H. Jakob, Grundsätze der National-Oekonomie (Anm. 126), 435 (§ 800). 133 Vgl. L. H. Jakob, Grundsätze der Policeygesetzgebung und der Policeyanstalten (Anm. 127), 601 (§ 220), unter Bezugnahme auf die Verhältnisse in Rußland. 134 Vgl. L. H. Jakob, Grundsätze der National-Oekonomie (Anm. 126), 438 f. (§ 806). 135 Vgl. ebenda, 439 ff. (§§ 807 ff.); L. H. Jakob, Grundsätze der Policeygesetzgebung und der Policeyanstalten (Anm. 127), 620 ff. (§ 222). 136 Christian Jacob Kraus, Staatswirthschaft. Nach dessen Tode herausgegeben v. Hans von Auerswald, Bde. 1 – 5, Königsberg 1808 – 1811 (die Vorrede zu Bd. 5 stammt von Hüllmann). 137 Vgl. ebenda, Bd. 3, 53 ff., siehe aber ebenfalls 91 ff. (Gefahren einer unkontrollierten Ausgabe von Banknoten). 129
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In der Staatsschuldenfrage wiederum gehen die Auffassungen und Empfehlungen von Jakob und Kraus deutlich auseinander, wobei man freilich zu berücksichtigen hat, daß Jakobs Werk noch vor der preußischen Katastrophe von 1806 erschienen ist. Jakob sieht Staatsschulden als ein grundsätzliches, wenngleich manchmal unvermeidbares Übel an und rät ausdrücklich zur Anlage eines Schatzes, auch wenn er dessen Nachteile ebenfalls thematisiert138. Was die Schuldentilgung anbelangt, so hält Jakob das Mittel der öffentlichen Anleihe für die bessere Methode oder doch wenigstens für das geringere Übel als Steuererhöhungen139. Dementsprechend lehnt er auch Zwangsanleihen strikt ab, denn diese treiben nicht nur „die Reichen aus dem Land, oder machen sie furchtsam, so daß sie sich nicht getrauen, ihr Vermögen blicken zu lassen“, sondern „sie entziehen der Production zugleich solche Capitale, welche das mehreste einbringen, da freywillige Anleihen nur solche Capitale anlocken, mit welchen nicht viel gewonnen wird“140. Kraus hat im vierten Band seiner „Staatswirthschaft“ die Anlage eines Staatsschatzes als nicht nur vollkommen nutzlos, sondern sogar als ökonomisch schädlich strikt verworfen141. Der Frage der staatlichen Schuldentilgung wiederum hat er in dem allerletzten von ihm verfaßten, wenige Tage vor seinem Tod beendeten Aufsatz (es handelt sich vermutlich um ein Gutachten142) mit dem Titel „Ueber die Mittel, das zur Bezahlung der französischen Kriegsschuld erforderliche Geld aufzubringen“, geäußert; dieser Aufsatz ist schon ein Jahr später, im 1808 von Auerswald herausgegebenen zweiten Band seiner „Vermischten Schriften“ erschienen143. Seine wirtschaftspolitischen Empfehlungen, die Kraus angesichts der preußischen Katastrophe noch hatte formulieren können, plädieren insgesamt für eine Mischfinanzierung der Schulden: Vor allem spricht er sich für eine Aus138 Vgl. L. H. Jakob, Grundsätze der National-Oekonomie (Anm. 126), 529 (§§ 976 – 977); immerhin merkt er ebenda (§ 977) an, es werde „das Geld, welches in den Schatz gelegt wird, der Circulation entzogen, und das Volk büßt also den ganzen Vortheil ein, welcher aus der thätigen und nützlichen Anwendung dieses Capitals die ganze Zeit hindurch, wo der Schatz ruhet, geflossen seyn würde. Denn da der Schatz in ausserordentlichen Fällen gleich bey der Hand seyn muß; so kann er nicht leicht nutzbar angelegt werden“. 139 Vgl. ebenda, 533 ff. (§§ 983 ff.). 140 Ebenda, 543 (§ 996). 141 Vgl. C. J. Kraus, Staatswirthschaft (Anm. 136), Bd. 4, 15 ff. 142 Bereits W. Treue, Adam Smith in Deutschland (Anm. 2), 113, hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die späteren Aufsätze von Kraus zu politisch-ökonomischen Zeitfragen „deutlich im Stile eines beratenden Wirtschaftswissenschaftlers geschrieben sind“. 143 Christian Jakob Kraus, Ueber die Mittel, das zur Bezahlung der französischen Kriegsschuld erforderliche Geld aufzubringen, in: derselbe, Vermischte Schriften über staatswirthschaftliche, philosophische und andere wissenschaftliche Gegenstände. Nach dessen Tode herausgegeben v. Hans von Auerswald, Bd. 2, Königsberg 1808, 51 – 84.
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landsanleihe aus; bei dieser Maßregel gewinne, wie er sagt, „die Nation Zeit, sich durch ihre Anstrengungen nach und nach wieder aufzuhelfen“144. Sodann nennt er im weiteren nicht nur eine inländische Anleihe145, sondern er regt ebenfalls Steuererhöhungen an, die er als unvermeidlich ansieht146, aber als so gering wie möglich anzusetzen empfiehlt: Die Einkommensteuer sowie eine stärkere Besteuerung von Luxuswaren zieht er dabei der Vermögenssteuer und anderen Steuerarten, etwa der Akzise, eindeutig vor147. Damit ist bereits das dritte Thema angesprochen, die Steuerreformfrage, die Jakob freilich noch vor 1806 behandelt hat. Da der Staat nun einmal, wie er als Anhänger von Adam Smith sagt, „jederzeit ein schlechter Gewerbsmann“148 sei, plädiert er dafür, die Ausgaben ebenso wie die Steuern möglichst niedrig zu halten. Das „beste System der Staatswirthschaft“ fordere „von den Unterthanen die kleinstmöglichen Auflagen“ und handle deshalb nach dem Prinzip, „die Gelder so lange als möglich in den Händen der Unterthanen zu lassen, und das, was zu den Staatszwecken nöthig ist nur zu der Zeit zu erheben, wo es gebraucht wird, und es so schnell als möglich wieder in die Hände der Unterthanen zurück zu liefern“149. Freilich aber müssen Steuern erhoben werden, und gleich vielen seiner Vorgänger setzt sich Jakob für möglichste Gleichbehandlung aller wirklichen und potentiellen Steuerzahler ein. Wegen der besonderen Schwierigkeit einer genauen Berechnung lehnt auch er eine eigentliche Vermögenssteuer ab, dagegen plädiert er für Lohn- und Verbrauchssteuern und nicht zuletzt auch für die Grundsteuer150. Die „Ungleichheit der Grundabgaben“, wie er sich neutral ausdrückt, damit also, konkret gesprochen, die Steuerprivilegien adliger Grundherren, werden von Jakob mit aller Deutlichkeit als vollkommen überholte, weder aus sachlichen Motiven noch aus ökonomischen Gründen irgendwie zu rechtfertigende Traditionsreste gerügt151. 144
Ebenda, 52. Vgl. ebenda, 62 ff. 146 Vgl. dazu bes. ebenda, 64 ff. 147 Vgl. ebenda, 74 f.: „Auf jeden Fall also verdient eine Steuer vom Einkommen, wenn auch dabei das nichts einbringende Sachvermögen übergangen würde, den Vorzug vor einer Beschatzung des Sachvermögens, wenn bei diesem das Einkommen, welches nicht aus solchem Vermögen fließt, übergangen werden sollte; und zwar verdient sie den Vorzug in eben dem Maaße mehr, als die aufzubringende Summe größer wäre“. 148 Das volle Zitat: L. H. Jakob, Grundsätze der National-Oekonomie (Anm. 126), 312 f. (§ 595): „Allein ein Staat ist jederzeit ein schlechter Gewerbsmann, da er nichts selbst thun, sondern alles durch Agenten weitläufig und kostbar betreiben lassen muß, und diese in der Regel immer ein größeres Interesse haben, sich selbst, als den Staat zu bereichern, oder wenn sie auch vom Eigennutze frey sind, doch nie so vielen Grund zur Aemsigkeit haben, wenn sie für den Vortheil des Staats ein Geschäft treiben, als wenn jemand für seinen eigenen Vortheil arbeitet“. 149 Ebenda, 318 f. (§ 604). 150 Vgl. ebenda, 338 ff. (§§ 632 ff.). 145
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Kraus hat sich hingegen, was diese begreiflicherweise auch schon vor 1806 politisch höchst brisante Frage anbetrifft, deutlich zurückhaltender geäußert. Er mahnt im fünften und letzten Band seiner „Staatswirthschaft“ bei Behandlung der „Landsteuer“ zuerst einmal die allgemeine Durchführung einer genauen Grundstückskatastrierung an, um bestehende Mängel bei der präzisen Erfassung des Grundbesitzes zu beseitigen. Sodann aber empfiehlt er – nach dem Vorbild Englands – den bestehenden, überlieferten Rechtszustand nicht ohne Not anzutasten, also keinen Zwang auszuüben, um unnötige, ökonomisch letztlich kontraproduktive Konflikte zu vermeiden. Das beste Mittel zur langsamen, sukzessiven Beseitigung alter, sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Grundsteuerprivilegien bestehe darin, daß bei einem Besitzerwechsel „der Staat die Eigner solcher Güter bewege, freiwillig auf solche unbillige Vorrechte Verzicht zu thun“152. Was endlich den letzten Punkt angeht, die Zollfrage, so hat sich Jakob für weitestgehende Handelsfreiheit innerhalb eines Landes ausgesprochen – damit indirekt für die Abschaffung der Binnenzölle153. Auch Kraus hat für einen weitestgehenden Abbau aller in- und ausländischen Zollschranken plädiert, allerdings auch Ausnahmen genannt: Einfuhrbeschränkungen seien etwa in den Fällen notwendig, wenn die Betreiber inländischer Gewerbe durch besonders hohe Steuern belastet seien und insofern keine Chancengleichheit mit ausländischen Importeuren bestehe; außerdem sei unter bestimmten Bedingungen auch ein Importverbot ausländischer Waren zu rechtfertigen – etwa wenn es darum gehe, auf einen anderen Staat Druck auszuüben, um ihn zur Aufhebung vergleichbarer Maßnahmen zu veranlassen154. Im ganzen aber erweist sich der Smithianer Kraus, wie nicht anders zu erwarten, als entschiedener und überzeugter Anhänger des Freihandels.
151 Vgl. ebenda, 334 (§ 626): „Die Ungleicheit der Grundabgaben ist ein Uebel [ . . . ]. Genießen in einem Lande gewisse Grundstücke Befreyungen; so bringt dieses insbesondere dadurch Nachtheil, daß entweder die übrigen Grundstücke desto mehr belastet werden müssen, oder, vermeidet man dieses, daß eine viel unbequemere Steuer gewählt werden muß, um den gehörigen Antheil von dem Vermögen der steuerfreyen Grundherren zu ziehen“. 152 C. J. Kraus, Staatswirthschaft (Anm. 136), Bd. 5, 176. 153 Vgl. L. H. Jakob, Grundsätze der Policeygesetzgebung und der Policeyanstalten (Anm. 127), 535 (§ 209): „Freyheit des Handels muß die Regel in einem Staate seyn. Einschränkungen dieser Freyheit und Ausnahmen, welche da gemacht werden, wo diese Freyheit offenbar zum Nachtheil des Landes oder zum Schaden mehrerer Bürger gemißbraucht werden“; vgl. auch ebenda, 535 – 544 (§ 210). 154 Vgl. C. J. Kraus, Staatswirthschaft (Anm. 136), Bd. 4, 85 ff., 109 ff.
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IV. Wie sahen nun, so ist jetzt zu fragen, die finanzpolitischen Auffassungen bestimmter Autoren aus, die in deutlicher Opposition, in unübersehbarer Konkurrenz zu den um 1800 in Preußen vorherrschenden politischen Ideen und wirtschaftlichen Theorien standen? Nur zwei Denker sollen in diesem Zusammenhang etwas näher in den Blick genommen werden: Zuerst Johann Gottlieb Fichte155, der im Jahr 1800 seine recht merkwürdige Utopie eines radikalen ökonomisch-politischen Autarkiemodells publizierte; er gab ihr den Titel „Der geschlossne Handelsstaat“156 und widmete sie in einer langen (oft übersehenen) Vorrede ausgerechnet dem Staatsminister von Struensee157. Fichte verstand sich darin, wie er selbst sagt, als „speculativer Politiker“, der bemüht war, in dieser Skizze ein „reines Staatsrecht“ auf abstrakt-rationaler Grundlage zu konstruieren158, der damit also, um es anders zu formulieren, zwar ein so radikal wie möglich entworfenes Theoriemodell, jedoch keineswegs einen im Maßstab 1:1 umsetzbaren Entwurf für eine politische Ordnung vorlegen wollte. Und zweitens Adam Müller, der Vordenker der politischen Romantik159, der 1809 in Berlin seine zweibändigen Vorlesungen über die „Elemente der Staatskunst“ veröffentlichte160 und sich kurz darauf – vor allem mit seinen Artikeln in Heinrich von Kleists „Berliner Abendblättern“ – als vehementer Kritiker der preußischen Wirt155 Zu Fichtes ersten Berliner Jahren vgl. u. a. Fritz Medicus, Fichtes Leben, 2. Aufl. Leipzig 1922, 144 ff. 156 Erneut abgedruckt in: Johann Gottlieb Fichte, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. 3, Berlin 1845; Ndr. 1971, 387 – 513; vgl. dazu u. a. F. Medicus: Fichtes Leben (Anm. 155), 181 – 187; Nico Wallner, Fichte als politischer Denker. Werden und Wesen seiner Gedanken über den Staat, Halle / Saale 1926, 120 – 137; Bernard Willms, Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie (Staat und Politik, 10), 105 ff. u. a.; Jakob Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft (Die Herdflamme; Ergänzungsbände, 4), Jena 1931, 102 – 116. 157 J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 3 (Anm. 156), 389 – 394. 158 Ebenda, 390. 159 Vgl. immer noch grundlegend: Jakob Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration, Jena 1930; sodann Gisela von Busse, Die Lehre vom Staat als Organismus. Kritische Untersuchungen zur Staatsphilosophie Adam Müllers, Berlin 1928; J. Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft (Anm. 156), 164 ff., 214 ff., Georg Polter, Adam Müllers Kritik am Liberalismus, wirtschaftswiss. Diss. Frankfurt a. M. 1936; Benedikt Koehler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980; zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung siehe auch H. Winkel, Die deutsche Nationalökonomie (Anm. 110), 57 – 61; mit unverhohlener Abneigung hat sich vom Standpunkt der neueren ökonomischen Dogmengeschichte J. A. Schumpeter, History of Economic Analysis (Anm. 110), 421 f. über „A. Müller’s speculations“ (ebenda, 422) ausgelassen. 160 Im folgenden zitiert nach der Neuausgabe: Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, hrsg. v. Jakob Baxa (Die Herdflamme, 1), Bde. 1 – 2, Wien / Leipzig 1922.
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schaftsreformen unter Hardenberg zu profilieren versuchte161, indem er offen den Anspruch erhob, „der deutschen Sekte des Adam Smith in den Weg zu treten“162, womit zuerst und vor allem Christian Jakob Kraus und dessen Schülerkreis gemeint waren163. Das Geld erklärt Fichte ausschließlich vom Staat her – nicht primär von dessen ökonomischer Funktion und schon gar nicht in bezug auf den Metallwert der Münzen164. Auch der von ihm entworfene autarke Modellstaat, den er ausdrücklich als „Vernunftstaat“ bezeichnet165, benötigt Geld, allerdings eines, dessen Wert, wie er sagt, „unwandelbar seyn wird, wenigstens sich nicht verwandeln kann ohne die Veranstaltung des Staates selbst, der auch hierüber festen Grundsätzen zu folgen hat“166. Der Staat bestimmt also nicht nur die Art des Geldes, er kontrolliert auch die Menge des Geldumlaufs. Dringend erforderlich ist nach Fichte zudem der Ersatz des „Weltgeldes“ – so nennt er das Edelmetall – durch ein vom Staat ausgegebenes „Landesgeld“, das aus wertlosem Material bestehen sollte, also aus minderwertigem Metall oder auch aus Papier167. Seine ausschließliche Gültigkeit wäre „dem neuen Landesgelde dadurch zu verschaffen und zuzusichern, daß die Regierung [ . . . ] allein in diesem Gelde Zahlungen annähme“168, und ebenfalls dürfe dieses neue Geld „durch keinen anderen Menschen noch irgend eine andere Regierung nachgemacht werden können“169. In der Beschränkung auf eine ausschließlich im eigenen Land gültige Währung, deren Stabilität aber von der Regierung in jedem Fall garantiert sein muß170, sieht Fichte die wichtigste finanzpolitische Voraussetzung einer konsequenten, auf alle auswärtigen Kontakte verzichtenden Autarkie. 161 Müllers Aufsätze in den „Abendblättern“, die sich besonders gegen den Einfluß von Christian Jakob Kraus auf die preußischen Staats- und Wirtschaftsreformer aussprachen, sind erneut abgedruckt in: Adam Müller, Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. v. Jakob Baxa (Die Herdflamme, 19), Jena 1931; vgl. dazu auch J. Baxa, Adam Müller (Anm. 159), 141 – 179. 162 A. Müller, Ausgewählte Abhandlungen (Anm. 161), 84. 163 Vgl. W. Treue, Adam Smith in Deutschland (Anm. 2), 127 ff. 164 Vgl. J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 3 (Anm. 156), 431 – 439. 165 Ebenda, 397 u. ö. 166 Ebenda, 432; vgl. zu Fichtes Geldtheorie auch J. Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft (Anm. 156), 110 f. 167 Vgl. J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 3 (Anm. 156), 484 – 489. 168 Ebenda, 485. 169 Ebenda, 487. 170 Vgl. ebenda, 487: „Die Regierung muss für ewige Zeiten diesem von ihr ausgegebenen Gelde seinen Werth, d. h. denjenigen Werth gegen Waare, den es zur Zeit der Einführung erhält, versichern. Mit der Einführung des Landesgeldes muss daher eine [ . . . ] Festsetzung der Waarenpreise eingeführt werden, [ . . . ] welche fortdauernd zu halten ist“.
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Adam Müller definiert das Geld gewissermaßen als die Verdichtung von Dauer und Wandel, von Wertbewahrung und ökonomischer Bewegung171. Schon in seiner Kritik an Smith und Kraus hat Müller den „isolierten“ – d. h. hier: den geschützten – Charakter einer nationalen Wirtschaft betont, wenn er sich gegen „die wissenschaftliche Applikation des Adam Smith und seiner Konsorten auf die Verwaltung von Staaten“ wandte, „die sich durch Kunst und innere Kraft erst isolieren sollen, und nicht durch Natur und innere Kraft bereits isoliert sind, wie der Britische“172. Und eine gewisse Nähe zur Position Fichtes ergibt sich ebenfalls daraus, daß auch Müller den national definierten Charakter des Geldes nachdrücklich unterstreicht: „Da nun eine Münze eine durch und durch nationale Angelegenheit ist und im großen Welthandel [ . . . ] die edlen Metalle vielmehr als Waare, denn als Geld, entriren: so ist der eigentliche Real-Werth der Münze das, was sie in den Augen der ganzen Nation, und nicht bloß der einzelnen Kaufleute, ist“173. Ja, er geht sogar soweit, der Münzverschlechterung und der Einführung von Papiergeld konsequent positive Seiten abzugewinnen – mit dem Argument, durch das notwendige Vertrauen der Staatsbürger auf die Wertbeständigkeit gerade dieser Geldarten werde der Zusammenhalt zwischen Souverän und Volk gestärkt174. Sehr ähnlich betrachtet Müller anschließend auch die Staatsschuldenfrage – zu der sich Fichte übrigens nicht äußert, denn im vollkommen autarken Staat, in dem die politische Führung die gesamte Wirtschaftstätigkeit kontrolliert und lenkt sowie Außenkontakte strikt unterbindet, kann es selbstverständlich keine Staatsschulden geben. Müller plädiert in dieser Frage zuerst für Schuldentilgung durch Einführung von Papiergeld und sodann vor allem für Staatsanleihen, in denen er zugleich „ein Zeichen von nationaler Festigkeit“175 sieht, weil sich darin das Vertrauen der Unterta-
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Vgl. A. Müller, Die Elemente der Staatskunst (Anm. 160), Bd. 1, 400 ff. A. Müller, Ausgewählte Abhandlungen (Anm. 161), 83. 173 A. Müller, Die Elemente der Staatskunst (Anm. 160), Bd. 1, 420; weiter heißt es: „Läßt sich eine Regierung durch jede Veränderung des auswärtigen Courses zu einer Veränderung des Münzfußes verführen; macht sie das Finanz-Geschäft aus einem Staatsgeschäft zu einem Banquier-Geschäfte: so nimmt sie selbst ihrem Gelde die nationale Bedeutung, kraft deren es eigentliches Geld, und keine blosse Waare, ist“. – Eine ausführliche Darstellung der Müllerschen Lehre vom Geld findet sich noch einmal in: Adam Müller, Versuch einer neuen Theorie des Geldes (1816), hrsg. v. Helene Lieser (Die Herdflamme, 2), Jena 1922. 174 Vgl. A. Müller, Die Elemente der Staatskunst (Anm. 160), Bd. 1, 451: „In dem gegenwärtigen Zustand der Dinge werden in einem Lande, wo nur die erste Bedingung alles politischen Daseyns, nationaler Sinn und innere Verknüpfung und Verschränkung des vaterländischen Interesse [sic], Statt findet, Mangel und Schlechtheit des Geldes ein neues Bindungsmittel für die Nation“; vgl. auch die Ausführungen zum Papiergeld, ebenda, 452 ff. 175 Ebenda, Bd. 1, 464. 172
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nen in die Dauerhaftigkeit und damit auch in die Zukunftsfähigkeit eines Staates manifestiere. In einem anderen Kapitel seines im allgemeinen nicht systematisch angelegten Werkes bewertet er die Anleihen freilich kritischer, da sich unter bestimmten Umständen „eine Classe von Rentenieren“ bilden könne, „die das gesammte, dem Staate vorgestreckte Geld allmählich als bloßes, absolutes Capital anzusehen lernen, welche die eigene Bewirthschaftung des Capitals [ . . . ] allmählich verlernen“176. Stattdessen plädiert Müller für eine vorübergehende spezielle Kriegssteuer. Fichte hat im „Geschlossnen Handelsstaat“ sich nur sehr kurz über die Frage einer angemessenen Besteuerung ausgelassen. Natürlich ist die Staatstätigkeit durch Abgaben zu finanzieren, insofern handelt es sich bei diesen lediglich um einen „unvermeidliche[n] Abbruch an dem Wohlstande aller, den der öffentliche Beamte selbst ebensowohl mit tragen muss, als alle übrigen Bürger“177. Er sieht einen weiteren Hauptzweck in der Erhebung von Abgaben durch den Staat darin, daß eben hierdurch, wie er sich ausdrückt, „das Gleichgewicht gehalten und die öffentliche Gerechtigkeit behauptet“178 werde, denn: „Dieser Abbruch an dem öffentlichen Wohlstande trifft alle arbeitenden Stände, und jedes Individuum derselben, [ . . . ] in gleichem Maasse, sowie allen die Vortheile der Regierung, des Unterrichts und der Vertheidigung in gleichem Maasse zu statten kommen. Jeder bezahlt seinen Antheil, wie er soll“179. Der „Vernunftstaat“ wird jedenfalls, dessen ist Fichte gewiß, von seinen Bürgern weniger Abgaben fordern als dies in der Gegenwart der Fall ist180. Müller wiederum definiert Steuern in der ihm eigenen Weise aus dem Blickwinkel einer sehr weiten historisch-politischen Perspektive, indem er sie als „die Zinsen des geistigen unsichtbaren Capitals von Kraft“181 bezeichnet, das sich in der Tätigkeit vergangener und gegenwärtig wirkender Generationen einer ökonomisch tätigen Nation niedergeschlagen habe. Wenn Steuern und Abgaben gezahlt werden – und zwar freiwillig gezahlt werden –, dann vor allem deshalb, weil es sich um den Ausdruck einer persönlichen positiven Identifikation jedes Bürgers mit der nationalen Gemeinschaft und mit dem Monarchen als dem Souverän handelt, in welcher 176
Ebenda, Bd. 2, 111; vgl. zum Zusammenhang auch ebenda, 110 ff. J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 3 (Anm. 156), 425. 178 Ebenda, Bd. 3, 427. 179 Ebenda, Bd. 3, 426. 180 Vgl. ebenda, Bd. 3, 507: „Die Regierung wird wenig Abgaben zu erheben haben, denn sie wird wenig bedürfen. Zwar hat sie fortdauernd eine Menge Geschäfte, Berechnungen und Aufsichten zu führen, um das Gleichgewicht im öffentlichen Verkehr, und im Verhältnisse aller zu allen unverrückt zu erhalten, welche die gegenwärtigen Regierungen nicht haben. Aber es ist nicht zu glauben, daß ihr Personale auch nur so zahlreich seyn werde, als es bei der hergebrachten Lage der Dinge ist“. 181 A. Müller, Die Elemente der Staatskunst (Anm. 160), Bd. 2, 55. 177
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der einzelne existiert und mit der er sich besonders in Krisenzeiten identifiziert182. Die diesen Ausführungen zugrundeliegende politische Idee der gewissermaßen historisch gewachsenen und verbürgten, gewissermaßen schicksalhaften Gemeinschaft aller Angehörigen einer Nation stammt von Edmund Burke183, und Müller scheut sich denn auch nicht, am Schluß seiner Erörterungen über die Bedeutung der Abgaben die Ideen der beiden großen Briten Smith und Burke gegeneinander auszuspielen184. Über Zölle und Handel hat sich lediglich Fichte geäußert, und auch dies nur mit dem Zweck der Untersuchung des einzigen ihn in diesem Zusammenhang interessierenden Problems: nämlich auf welchem Wege und mit welchen Mitteln der Handel eines Staates mit anderen Ländern sukzessive – ohne die Wirtschaft jenes Staates nachhaltig zu schädigen – verringert und schließlich vollständig unterbunden werden kann, „um die Nation ganz unabhängig und selbständig zu machen“185. Nur eine einzige Ausnahme ist für ihn denkbar: Sollte ein bestimmtes Produkt, etwa der Wein, aus klimatischen Gründen in einem bestimmten Land nicht produziert werden können, dann wäre ein gegenseitiger staatlicher Tauschhandel mit festgesetzten Quoten (etwa Wein gegen besonders hochwertiges Korn) denkbar – jedoch ohne wechselseitige Geldzahlungen und schon gar nicht unter Beteiligung privater Händler186. – Immerhin stimmen die beiden, in mancher Hinsicht sehr verschiedenen Autoren darin überein, daß sie eine strikt nationale, also auf den Einzelstaat und dessen Bedürfnisse bezogene Perspektive einnehmen und den von Adam Smith und bereits vorher ebenfalls von den Physiokraten postulierten Standpunkt eines nach Möglichkeit vorzunehmenden Abbaus aller Handelsschranken konsequent verneinen187. 182 Vgl. ebenda, Bd. 2, 55: „Alle einzelnen Capitalien wirken ein großes, mittleres, geistiges National-Capital von Zutrauen und Glauben, welches Regierung und Suveräne repräsentiren, von denselben also auch die Zinsen dieses Capitals gezogen und verwaltet werden müssen; und diese Zinsen, generisch verschieden vom physischen Capitals-Gewinnst, generisch verschieden von der Landrente und dem Arbeitslohne, sind die Abgaben“. 183 Vgl. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, hrsg. v. Conor Cruise O’Brien, Harmondsworth 1982, 194 f. 184 Vgl. A. Müller, Die Elemente der Staatskunst (Anm. 160), Bd. 2, 57: „Hätte Adam Smith die große Schule unserer Zeit erlebt; hätte der große Mann, der unvergleichliche Gelehrte, die Staatswirthschaft aus Deutschen Gesichtspunkten betrachten können; hätte er die furchtbare Theilung Deutscher Arbeit und Deutschen Lebens gesehen und erlebt – : so würde ihm selbst alles klar geworden seyn; die revolutionäre, levellistische Richtung seines Werks hätte er zuerst verdammt: er wäre ein göttlicher Apostat geworden, wie Burke“. 185 J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 3 (Anm. 156), 500; vgl. ebenda, 494 ff., sowie J. Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft (Anm. 156), 113 ff. 186 Vgl. J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 3 (Anm. 156), 505. 187 An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, daß bereits im Jahr der Publikation von Fichtes „Geschlossnem Handelsstaat“ ein anderer preußischer Autor, Fried-
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V. Die Resultate des im vorangehenden ausgeführten Rückblicks auf die wichtigsten finanzpolitischen Ideen im kameralistischen und staatswissenschaftlichen Diskurs in Preußen vor und um 1800 lassen sich in vier Punkten knapp zusammenfassen: 1. Während des 18. Jahrhunderts unterscheiden sich die von preußischen Kameral- und Staatswissenschaftlern geäußerten Auffassungen zu zentralen finanzpolitischen Themen und Fragen in keinem wesentlichen Aspekt von denjenigen im außerpreußischen Deutschland. Von einem „spezifisch preußischen“ Kameralismus kann jedenfalls, was die inhaltlichen Aspekte anbetrifft, nicht die Rede sein; lediglich die besonders intensive Diskussion bestimmter Detailprobleme, wie etwa des Themas der Münzverschlechterung oder der Frage nach dem Sinn und Zweck der Anlage eines Staatsschatzes, verweisen auf eine im engeren Sinne preußische Thematik. Immerhin übten die Kameralwissenschaften auch in Preußen „die Funktion einer Leitwissenschaft des deutschen Absolutismus“188 aus. 2. Es gibt in Preußen – neben dem Kurfürstentum Hannover mit seiner Landesuniversität Göttingen – allerdings eine vergleichsweise frühe Rezeption der Ideen von Adam Smith, die nicht nur von Gelehrten und Professoren entdeckt, rezipiert und diskutiert werden, wie etwa von Kant, Kraus und Garve, sondern auch von Politikern wie Hertzberg. Wohl nicht zufällig erscheint die erste präzise und vor allem vollständige Übersetzung von Smiths umfangreichem Hauptwerk in Breslau, übersetzt von keinem Geringeren als immerhin Christian Garve. 3. Um und auch noch kurz nach 1800 kann man jedoch noch nicht von einer eindeutigen Dominanz der Smithschen Lehre im preußischen staatsund kameralwissenschaftlichen Diskurs sprechen. Kraus und Jakob haben sicherlich eine keineswegs geringe Bedeutung vor allem für die Ausbildung künftiger Staatsbeamter gehabt, doch Jakobs erstes ökonomisches Lehrrich Gentz, in seiner Schrift „Über den ewigen Frieden“ jener Fichteschen Idee scharf entgegengetreten ist; vgl. Friedrich Gentz, Über den ewigen Frieden (1800), neu abgedruckt in: Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg / München 1953, 461 – 497, hier 472 – 477; Gentz bemängelt darin nicht nur „die absolute Unausführbarkeit dieses kühnen Isolierungssystems“, sondern hebt (durchaus noch in der Tradition des Aufklärungsoptimismus stehend) den Aspekt einer gemeinsamen menschlichen Kultur hervor, wenn er bemerkt: „Die durchgängige Gemeinschaft unter den Bewohnern dieser Erde ist die oberste Bedingung aller wahrhaft menschlichen Kultur. So wie diese Gemeinschaft fortschritt, entwickelten sich auch die edelsten Kräfte unseres Wesens: Nur von dem Augenblick an, wo durch Schiffahrt und Handel die entferntesten Punkte miteinander in Verbindung traten, wurde das menschliche Geschlecht auf immer gegen jeden Rückfall in eine allgemeine Barbarei gesichert“ (die Zitate ebenda, 475). 188 So vom Bruch, Der Kameralismus in Preußen (Anm. 12), 43.
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buch erscheint erst 1805, während Kraus wiederum bekanntlich zu Lebzeiten kaum etwas publiziert, sondern nur durch seine – allerdings bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts fast legendären – Königsberger Vorlesungen gewirkt hat. Dagegen verfügen Autoren mit traditionell kameralistischer Ausrichtung und physiokratischem Ansatz wie Struensee, Krug oder Schmalz durchaus noch über einen beträchtlichen Wirkungskreis in Preußen. Hinzu kommt, daß mit Fichte und etwas später auch mit Adam Müller wortmächtige und intellektuell einflußreiche Autoren auftreten, von denen die liberale Wirtschaftstheorie aus der Schule Adam Smiths entschieden bekämpft wird – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Argumenten und politischen Zielsetzungen. 4. Viele Details der finanz- und wirtschaftspolitischen Reformen, die in Preußen ab 1807 ins Werk gesetzt wurden, sind teilweise bereits lange vor diesem Jahr vorausgedacht worden, und zwar – dies muß im Gegensatz zu Treues Thesen von 1951 festgehalten werden – nicht nur von den Anhängern der Lehren Smiths, sondern z. T. auch von eher traditionell orientierten Kameralisten und von den Vertretern physiokratischer Positionen. Die Rezeptionswege dieser Ideen sind im einzelnen nicht mehr präzise zu rekonstruieren – Ausnahmen bilden allerdings der Freiherr vom Stein, dessen in der Cappenberger Bibliothek erhalten gebliebenes, von seinem Besitzer mehrfach durchgearbeitetes Privatexemplar von Adam Smiths Hauptwerk in der englischen Originalfassung bereits mehrere Male das Thema wissenschaftlicher Studien, etwa von E. Botzenhart189 und G. Schmölders190, gewesen ist, – und Theodor von Schön, dessen Mitschriften der von ihm Ende der 1790er Jahre in Königsberg gehörten Vorlesungen von Kraus und Schmalz ebenfalls erhalten geblieben sind191. Immerhin reicht zur Begründung dieser Zusammenhänge die früher eher leichthin, etwa von Fritz Hartung, vorgebrachte These, vor allem die Lehren von Kraus und Kant hätten die preußischen Reformer „zu Gegnern der altpreußischen Regierungsmethoden erzogen“, und diese hätten auf diesem Wege „gelernt, daß selbst eine väterlich wohlwollende Bevormundung des Individuums der größte denkbare Despotismus sei“192, sicher nicht mehr aus. 189 Erich Botzenhart, Die Bibliothek des Freiherrn vom Stein. Zugleich ein Beitrag zur Analyse seiner volkswirtschaftlichen Anschauungen, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 22 (1929), 331 – 372, hier 352 – 367; vgl. hierzu auch W. Treue, Adam Smith in Deutschland (Anm. 2), 109, Anm. 37! 190 G. Schmölders, Stein und Adam Smith (Anm. 7), passim, mit einem aufschlußreichen Faksimile aus Steins Handexemplar von Smiths „Inquiry“ (zwischen 136 und 137). 191 Sie befinden sich in Schöns Nachlaß im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz / Berlin-Dahlem. GStA PK Berlin-Dahlem XX. Hauptabteilung, Rep. 300, Nr. 80 ff.. 192 Fritz Hartung, Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, in: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, hrsg. v. ders., Berlin 1961, 178 – 344, hier 236.
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5. Trotz aller notwendigen Differenzierungen ist dennoch zu konstatieren, daß sich letzten Endes die damals modernste Wirtschaftslehre, die sich mit dem Namen von Adam Smith verbindet, im Denken und Handeln der meisten und vor allem der bedeutendsten Reformer durchgesetzt hat. Die scharfen Angriffe, die Adam Müller und von anderer Warte Johann Gottlieb Fichte gegen die liberale Wirtschaftstheorie unternommen hatten, konnten auch im akademischen Bereich letztlich erfolgreich abgewehrt werden. Fichte wurde zwar an die 1810 neu begründete Berliner Universität berufen, doch er hatte sich dort ausschließlich auf sein eigentliches Fach zu beschränken, die Philosophie. Und eine Berufung Müllers auf den staatswissenschaftlichen Lehrstuhl der neuen Hauptstadtuniversität – die, wie es scheint, von den preußischen Smith-Anhängern zeitweilig befürchtet worden ist – konnte erfolgreich abgewehrt werden, indem der Kraus-Schüler Johann Gottfried Hoffmann, der seinem Lehrer 1807 auf dessen Königsberger Lehrstuhl gefolgt war, im Rahmen eines ausgesprochen negativen Gutachtens im Vorfeld der Berliner Gründung erfolgreich vor Müllers Ideen warnte; Hoffmann wurde schließlich 1810 selbst auf den nunmehr wichtigsten staatswissenschaftlichen Lehrstuhl in Preußen berufen193. Freilich konnte er wiederum nicht verhindern, daß mit dem Juristen Theodor Schmalz, der ebenfalls zur Gründungsmannschaft der Friedrich-WilhelmsUniversität gehörte, gleichzeitig ein ausgesprochener Anhänger der Physiokratie nun ebenfalls noch einige Jahre lang Vorlesungen über Kameralwissenschaften abhielt194. Die Frage des inneren Zusammenhangs zwischen wissenschaftlich-publizistischem Denken einerseits und politisch-ökonomischem Handeln andererseits, zwischen Theorie und Praxis, läßt sich dennoch auch hier nicht restlos auflösen, nicht vollkommen befriedigend beantworten195. Bereits im 18. Jahrhundert reagierten viele der behandelten Autoren auf Entwicklungen in der Praxis, wie andererseits wiederum von bestimmten Denkern und deren Theorieentwürfen, vor allem eben von Smith und seinen Anhängern, bedeutende Anregungen und damit wenigstens mittelbare, manchmal sogar unmittelbare Wirkungen auf die Politik der Reformer ausgingen, auch wenn diese Tatsache keineswegs immer im Detail zu belegen sein dürfte. Diesen doppelten Zusammenhang, diese unaufhebbare Interdependenz, 193 Vgl. hierzu besonders Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1, Halle a. S. 1910, 250 ff.; W. Treue, Adam Smith in Deutschland (Anm. 2), 128 ff.; Norbert Waszek, Die Staatswissenschaften an der Universität Berlin im 19. Jahrhundert, in: Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937 – 1986), hrsg. v. Norbert Waszek, St. Katharinen 1988, 266 – 301, hier 275 ff. 194 Vgl. H.-C. Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (Anm. 77), 247 ff. 195 Vgl. dazu bereits die wichtigen Bemerkungen und Beobachtungen von K. H. Kaufhold, „Wirtschaftswissenschaften“ und Wirtschaftspolitik (Anm. 13), 70 – 72.
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diese beständige Wechselwirkung allerdings gilt es stets im Blick zu behalten, wenn man sich ein so zentrales und folgenreiches Ereignis der deutschen Geschichte wie die preußischen Reformen unter Stein und Hardenberg erneut vergegenwärtigt.
Statistik und brandenburg-preußischer Staat, 1650 – 1850: Organisation und Entwicklung Von Karl Heinrich Kaufhold, Göttingen Fragestellung Die Statistik hat es unter den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht leicht. Zwar ist sie als Fach in deren Kreise anerkannt, doch nicht selten wird sie nur als Hilfswissenschaft oder als Propädeutikum eingeschätzt. In der Praxis von Wirtschaft und Verwaltung ist sie überall etabliert: In Deutschland, zum Beispiel, ist sie Lehr- und Prüfungsfach an Universitäten, und es gibt eine Vielzahl von Ämtern, die sich mit ihr beschäftigen. Alle diese Einrichtungen produzieren eine Flut von Publikationen, ein wahres Meer von Zahlen, in dem auch der Interessierte zu ertrinken droht. Schauen wir von der Gegenwart aus zurück, vermindert sich allerdings der Umfang der quantitativen Angaben, bis er an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zu einem schmalen Rinnsal geworden ist, das schließlich ganz versiegt. So weit, so gut, so scheint es wenigstens. Fragt man nämlich nach der Einschätzung der Statistik außerhalb des relativ engen Kreises der in und mit ihr Arbeitenden, hört man wenig Positives. Zahlreiche Spottworte und nicht immer geistvolle Witze laufen über sie um; ihre Arbeitsergebnisse gelten als nüchtern und trocken, im Grunde lediglich dem Fachmann nützlich. Die Statistiken aus der Vergangenheit („Historische Statistik“) finden, von Ausnahmen abgesehen, bei Historikern meist kein Interesse, und die Quellenpublikationen verstauben in den Regalen1. 1 Ein Beispiel: Die DFG förderte ein umfangreiches Schwerpunktprogamm „Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland“ mit dem Ziel, vor allem bisher unveröffentlichte Statistiken aus den Quellen zu erschließen und zu edieren – mit Erfolg, denn die aus dem Programm hervorgegangene gleichnamige Schriftenreihe brachte es bisher auf 25 großformatige Bände zu verschiedenen Sachgebieten (vgl. Anm. 45 und 70). Dennoch werden in vielen historischen Arbeiten diese quellengenerierten Angaben nicht genutzt, sondern weiterhin Zahlen entweder ganz vermieden oder solche aus der älteren Literatur verwendet. Literatur zum Schwerpunktprogramm: Nils Diederich u. a., Historische Statistik in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe Forum der Bundesstatistik, 17), Stuttgart 1990; Wolfram Fischer / Andreas Kunz (Hrsg.), Grundlagen der Historischen Statistik von Deutschland. Quellen, Methoden, Forschungsziele (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, 65),
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Eine solche Meinung verkennt den Wert, den eine geschichtlich orientierte Statistik für die historische Arbeit haben kann. Dieser Beitrag soll daher am Beispiel von Brandenburg-Preußen danach fragen, welche Rolle Statistik bei der Entstehung und dem Ausbau dieses Staates gespielt hat. Das soll in drei Schritten geschehen, erstens zur Einführung in den Themenkreis in einem auf die Grundlinien begrenzten Blick auf das Verhältnis von Statistik und Staat in der Untersuchungszeit (I.), zum zweiten recht ausführlich mit einer Darstellung der Entwicklung der Statistik in Brandenburg-Preußen (II. und III.) und schließlich mit Überlegungen über die Rolle der Statistik innerhalb der Staatswirtschaft im 18. und bei der Herausbildung der Wirtschaftswissenschaften im Übergang zum 19. Jahrhundert (IV.). I. Statistik und Staat im 18. Jahrhundert Eine erste Annäherung zwischen Staat und Statistik ergibt sich über beide Begriffe. Das Wörterbuch von Grimm definiert2 „Statistik“ als eine „Abstraktbildung“ zu „Statist“, das heißt „Staatsmann“ oder ähnlich, bisweilen mit einem üblen Nebensinn als Intrigant. Der Begriff ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisbar. Zedlers Universallexikon3 verweist zu „Statistik“ auf die Lemmata „Staats-Klugheit“ oder „StaatsLehre“4 und stellt damit eine unmittelbare Verbindung zum Staat und zur Staatswissenschaft her. Etymologisch gingen also die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts von einer engen Beziehung der Statistik zum Staat aus und sahen sie entsprechend als einen Bestandteil der Lehren vom Staate an. Ein Blick auf die realen Beziehungen beider im 17. und 18. Jahrhundert bestätigt das5. Sie waren reich an Verzweigungen und Wandlungen und sind daher nicht ohne weiteres in einen bruchlosen Zusammenhang zu bringen. Für unser Thema interessieren in erster Linie zwei Entwicklungsstränge: Statistik als Instrument der staatlichen Politik und Verwaltung und Statistik als Bestandteil der Staatenkunde, also der Lehre vom Zustand einzelner Staaten und ihrer Ressourcen („Staatskräfte“) im weit verstandenen Opladen 1991; Wolfram Fischer / Andreas Kunz, Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland (Schriftenreihe Ausgewählte Arbeitsunterlagen zur Bundesstatistik, 26), Wiesbaden 1992. 2 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 17, Leipzig 1919, Sp. 951; zu „Statist“ ebd., Sp. 949 f. 3 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 39, Leipzig u. Halle 1744, Sp. 1286. 4 Ebd., Sp. 650 – 652 (Staats-Klugheit), Sp. 707 f. (Staats-Lehre). 5 Eine neuere ausführliche Gesamtdarstellung fehlt. Für die ältere Zeit ist daher immer noch mit Gewinn heranzuziehen Viktor John, Geschichte der Statistik, Tl. 1. Von dem Ursprung der Statistik bis auf Quetelet (1835), Stuttgart 1884.
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Sinne. Obwohl diese beiden Richtungen in der Regel nicht zusammenarbeiteten, ja sich oft als Gegensätze verstanden, wirkten sie doch in eine Richtung, nämlich den Aufbau und Ausbau des Fürstenstaates ihrer Zeit. Dieser führte statistische Erhebungen vor allem über die Bevölkerung und die materiellen Ressourcen (Landwirtschaft, Gewerbe) des Landes durch, um sich über seine „Staatskräfte“ zu unterrichten. Kenntnis und Analyse dieser Kräfte sowie ihr Vergleich über Raum und Zeit waren auch die Erkenntnisziele der staatswissenschaftlichen Statistik, meist als „Universitätsstatistik“ bezeichnet6. Damit bildeten aus heutiger Sicht beide Zweige der Statistik des 17. und 18. Jahrhunderts ungeachtet ihrer im einzelnen oft unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden eine auf den zeitgenössischen Staat bezogene Einheit. Die Universitätsstatistik geht nach herrschender Meinung auf den Universalgelehrten Hermann Conring (1606 – 1681)7 zurück, der an der Universität Helmstedt 1660 erste Vorlesungen über Staatenkunde (examen rerum publicarum) als neues akademisches Fach (noticia rerum publicarum) hielt. Sie umfaßte einmal eine systematisch-theoretische Staatskunde, zum anderen Beschreibungen einzelner Staaten, zusammen „ein geschlossenes System der Staatenkunde“8. Überlegungen dieser Art lagen allerdings in der Luft, denn Arno Seifert hat in seinem Beitrag über Staatenkunde als neue Disziplin9 auf mindestens zwei Vorläufer Conrings, Bartholomäus Keckermann und Johann Andreas Bose, hingewiesen. Conring hat sein „Examen“ übrigens nicht selbst drucken lassen, so daß es nur als Vorlesungsnachschrift in einem von ihm nicht autorisierten Text von 167510 und definitiv nach seinem Tode in seinen von Johann Wilhelm Goebel 1730 edierten „Opera“11 vorliegt. Trotz dieser Mißlichkeiten hat sich die Staatenkunde als akademisches Fach an den Universitäten etabliert und wurde dort nach Conring (oder
6 Horst Kern, Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München 1982, 19 – 27. 7 Michael Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606 – 1681). Beiträge zu Leben und Werk, Göttingen 1983. Für die hier behandelte Fragestellung vor allem Reinold Zehrfeld, Hermann Conrings (1606 – 1681) Staatenkunde. Ihre Bedeutung für die Geschichte der Statistik unter besonderer Berücksichtigung der Conringschen Bevölkerungslehre, Berlin / Leipzig 1926. 8 R. Zehrfeld, Hermann Conring (Anm. 7), 67. 9 Arno Seifert, Staatenkunde – eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort, in: Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit: vornehmlich im 16. – 18. Jahrhundert, hrsg. v. Mohammed Rassem / Justin Stagl (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik, 1), Paderborn usw. 1980, 217 – 248, hier 217 – 219. 10 Philipp Andreas Oldenburger, Thesaurus rerum publicarum, Bd. 1, Genf 1675. 11 Hermann Conring, Opera, ed. J. W. Goebel, Bd. 4, Braunschweig 1730.
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nach auf ihn zurückgehenden Arbeiten) gelehrt12. Großen Aufschwung erhielt sie, als sie von Gottfried Achenwall (1719 – 1772) an der jungen Universität Göttingen ab 1748 zum Gegenstande seiner grundlegenden Veröffentlichungen und seiner Lehrtätigkeit gemacht wurde13. Obwohl Achenwall selbst diese Ehre zutreffend Conring zuerkannte, ernannte ihn sein Nachfolger August Ludwig Schloezer 1804 zum „Vater der Statistik“14, ein Titel, der ihm seither zumindest in einem Teil der Literatur geblieben ist. In seiner Nachfolge haben aber auch andere Gelehrte an der Georgia Augusta zum Ausbau und zum Ansehen der „Göttinger Universitätsstatistik“ beigetragen15 bis hin zu dem eben genannten Schloezer16 und seiner „Theorie der Statistik“17, mit der sie ihren Höhepunkt erreichte, dem ein baldiges Auslaufen folgte. Doch verbreitete sich die neue Disziplin auch an anderen Hochschulen, fügte sie sich doch gut in die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufblühenden staatswissenschaftlich-kameralistischen Studien ein. Zugleich dehnte sich der andere Zweig der zeitgenössischen Statistik, die Verwaltungsstatistik der Behörden, aus, denn sie wurde für die wachsende Staatstätigkeit zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel. Diese Entwicklung wird im folgenden Teil für Brandenburg-Preußen dargestellt. II. Die Statistik in Brandenburg-Preußen bis 1805 / 0618 1. Die folgende Darstellung der Geschichte der Statistik in BrandenburgPreußen beginnt mit dem Regierungsantritt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm (regierte 1640 – 1688), des Großen Kurfürsten, und geht bis zum Ende des alten Preußen 1806. In dieser Zeit entstand aus kleinen, unsystematischen Anfängen, die hier übergangen werden19, ein umfassendes Tabellen12 A. Seifert, Staatenkunde (Anm. 9), passim; R. Zehrfeld, Hermann Conring (Anm. 7), 76 f. 13 Gottfried Achenwall, Notitiam rerum publicarum akademiis vindicatam, Göttingen 1748; ders., Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundriß, 6. Aufl. Göttingen 1781. 14 August Ludwig Schlözer, Theorie der Statistik, Göttingen 1804. 15 Übersicht bei Karl Heinrich Kaufhold / Wieland Sachse, Die Göttinger „Universitätsstatistik“ und ihre Bedeutung für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft. Methoden, Inhalte und soziale Prozesse im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Georg Herrlitz / Horst Kern (Göttinger Universitätsschriften, Serie A, 4), Göttingen 1987, 72 – 95. 16 Horst Kern, Schlözers Bedeutung für die Methodologie der empirischen Sozialforschung, in: Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft (Anm. 15), 55 – 71. 17 Wie Anm. 14. 18 Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905. 19 Sie werden ebd. 1 – 70 dargestellt.
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werk, das nahezu alle Bereiche des Staatswesens erfaßte und in mühsamer Kleinarbeit von den Behörden zusammengetragen wurde. Es ist in den Archiven nur in Bruchstücken erhalten, denn viel kam im Laufe der Zeit abhanden oder wurde kassiert. Statistiken sind platzraubend, ihr den Tag überdauernder Sinn wurde lange nicht eingesehen, und so lag ihre Vernichtung nahe. Diese Einstellung gehört der Vergangenheit an, und wenn auch heute noch mancher Historiker einen Bogen um die Zahlen macht – an den Reißwolf denkt er deswegen nicht. Die Statistik wurde von den Monarchen und ihren Regierungen als ein Herrschaftsinstrument verstanden und eingesetzt, und daher förderten sie auch deren Aufbau. Besonders sind hier nach dem Großen Kurfürsten die Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., der Große, zu nennen. Da die Zahlen einen tiefen Einblick in die „Staatskräfte“ erlaubten, gehörten sie auch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den ohnehin weitgezogenen Arkanbereich des Staates und waren lediglich im Ausnahmefalle mit behördlicher Genehmigung zugänglich. Daher war die quantitative „Tabellenstatistik“, wie sie im Gegensatz zur Universitätsstatistik genannt wurde, im wesentlichen eine staatliche Veranstaltung. Häufig wird die Frage nach der Zuverlässigkeit der amtlichen Statistik, die der neueren Forschung vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte als Quelle dient, gestellt, oft mit einer gehörigen Portion Skepsis. Sie läßt sich nicht generell beantworten, doch werden im folgenden dazu einige Hinweise gegeben werden. Grundsätzlich gilt die Selbstverständlichkeit der Quellenkritik hier in besonderem Maße, doch ist nach meiner langjährigen Erfahrung ein gewisses Grundvertrauen durchaus vertretbar. Freilich sollte man nicht moderne Maßstäbe an Vollständigkeit und Genauigkeit anlegen, denn der Umgang mit Zahlen war in deren Erhebungszeit oft ein anderer, sagen wir großzügigerer als heute. Im Ergebnis bieten die damaligen Statistiken aber von Ausnahmen abgesehen ein verwendbares Bild, in dem zwar nicht alle Einzelangaben korrekt sind, wohl aber die Dimensionen und Proportionen stimmen und informativer sind als pauschale Erwägungen. 2. Der vom Flächeninhalt her große Staat, dessen Regierung Friedrich Wilhelm 1640 antrat, bestand bekanntlich aus einer Mehrzahl von zum Teil weit auseinanderliegenden Territorien, von denen lediglich die Kurmark / Neumark und das Herzogtum Preußen größere Einheiten bildeten. Entsprechend unterschiedlich lagen auch die wirtschaftlichen Verhältnisse. Der Dreißigjährige Krieg hatte mit Ausnahme des Herzogtums Preußen überall schlimme Folgen hinterlassen; besonders die Bevölkerungsverluste waren hoch. Am stärksten war das Kernland des Staates, die Kurmark, betroffen. Es lag daher nahe, sich als Grundlage des Wiederaufbaus einen Überblick über die Bevölkerungs- und die Finanzverhältnisse zu schaffen, an dem es
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durchaus fehlte. Selbst die Spitzen des Staates verfügten über keine zusammenhängenden Informationen. Dem sollte eine umfangreiche Erhebung über den Zustand von Bevölkerung und Wirtschaft abhelfen, die Geheimrat Curt Bertram von Pfuel20 im Oktober 1647 seinen Kollegen im Geheimen Rat vorschlug, den diese aber mit ihrem Gutachten vom 26. Juni (5. Juni) 1648 scharf zurückwiesen21. Sie sollte in 43 Fragenkomplexen ein umfassendes Bild des Kurfürstentums bis in die Einzelheiten hinein ergeben, und sie wäre eine gute Grundlage für die Verwaltungsarbeit gewesen. Die neuere Literatur schätzt sie daher positiv ein und kritisiert die ablehnende Haltung des Geheimen Rates. Diese Kritik übersieht, daß die Beantwortung der zum Teil sehr ins einzelne gehenden Fragen die Erhebungsmöglichkeiten der Zeit überfordert hätte. Es fehlte an geeigneten Methoden, vor allem aber fehlte es an geeignetem Personal, ein Defizit, das die statistische Arbeit übrigens noch lange behinderte22. Dafür ein Beispiel: Zur Gewinnung einer einfachen statistischen Übersicht im Amt Lenzen wurde 1648 eine Kommission eingesetzt, die aus einem Geheimrat und mehreren Amtsräten bestand, die ihre Aufgabe aber nicht erfüllen konnte. Das führt zu der Frage, wie Regierung und Verwaltung überhaupt an Angaben über die Verhältnisse im Staate kamen. Sie ist meines Wissens noch nicht systematisch untersucht worden, und daher ist das Folgende als vorläufig anzusehen. Die nachgeordneten Behörden waren meist zu schwach besetzt, um selbst vor Ort Erkundigungen einzuziehen. Daher waren sie für Berichte „nach oben“ auf ihre Akten angewiesen, oder sie beauftragten (anscheinend der Regelfall) die örtlichen Verwaltungsstellen, ihnen zu berichten. Dies waren die Amtmänner mit den ihnen zugeordneten Beamten (Landreiter, Forstmeister, Zöllner u. a.), für die Städte Bürgermeister und Rat (später auch die Kriegsräte), für die Dörfer die Schulzen. Ob und inwieweit die Geistlichen besonders auf dem Lande herangezogen wurden, ist nicht ganz klar. Was sich hier einfach liest, funktionierte in der Realität nicht so leicht. Zwar kannten die nachgeordneten Stellen die Verhältnisse in ihrem Bereich im allgemeinen gut, doch hatten sie nicht selten Probleme damit, darüber in angemessener Form zu berichten. In den Akten finden sich immer wieder Klagen, auch über mangelnde Zuverlässigkeit, vor allem bei Zahlen. Man 20 Gerhard Oestreich, Kurt Bertram von Pfuel 1590 – 1649. Leben und Ideenwelt eines brandenburgischen Staatsmannes und Wehrpolitikers, in: FBPG 50 (1938), 201 – 249. 21 Dazu ausführlich O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 74 f. und Anlage 2. Vgl. auch Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 2 Bde., Göttingen / Frankfurt / Zürich 1971 / 1978 und Ludwig Hüttl, Friedrich Wilhelm von Brandenburg: der Große Kurfürst 1620 – 1688. Eine politische Biographie, München 1981, 105 – 108. 22 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 75. Das Beispiel ebd., Anm. 6.
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darf nicht vergessen, wie wenig die meisten Zeitgenossen mit den dem juristischen Denken entstammenden abstrakten Begriffen der Bürokratie vertraut waren; es handelte sich um eine weithin fremde Welt, anders als die Alltagserfahrungen. So hatte die Verwaltung oft erhebliche Schwierigkeiten, an ihr Material zu kommen. Die „Universitätsstatistik“ hatte es da leichter, da sie sich in der Regel auf der Ebene gelehrter Kollegen, leitender Beamter und deren Veröffentlichungen bewegte. Überdies machte das Scheitern der Pläne Pfuels eine Konstante sichtbar, die die Statistik bis heute begleitet, das Mißtrauen der „Gezählten“ in die Verwendung der Zahlen. Meist war und ist es die Sorge, sie diene als Grundlage für einen staatlichen Eingriff in die eigenen Verhältnisse, besonders mit Steuern und Abgaben, und denkt man an deren für den Staat (gleich welcher Form) nicht immer ruhmreiche Geschichte, wird man dafür Verständnis haben. Im Ergebnis überrascht es nicht, daß aus der Regierungszeit Friedrich Wilhelms relativ wenige Statistiken überliefert sind. Diese beziehen sich zu einem großen Teil auf die Staatsfinanzen, die sich als Folge des großen Krieges in einem elenden Zustand befanden. Die Einnahmen hatten sich drastisch vermindert und stiegen nach dem Friedensschluß nur langsam wieder an, denn der Wiederaufbau des ruinierten Landes benötigte Zeit. Die Bevölkerungsverluste, die Günther Franz für die Kurmark auf etwa die Hälfte des Vorkriegsstandes schätzt23, ließen sich trotz der lebhaften Zuwanderungen nur allmählich ausgleichen. Die Wirtschaftspolitik des Kurfürsten war daher zu einem großen Teile Finanzpolitik mit dem Hauptziel, die Staatseinnahmen zu steigern, ein Ziel, das er bis zum Ende seiner Regierungszeit auch erreichte. Er kannte sich auf dem Felde der Wirtschaft und der Finanzen aus, denn er hatte bei seinem Aufenthalt in den Niederlanden 1634 bis 163824 die ökonomischen Verhältnisse dieses damals auf diesem Gebiet führenden Landes schätzen gelernt, und er sah sie daher als Vorbild seiner Wirtschaftspolitik an – mit Erfolg, wie sich zeigte. Eine Reihe von tüchtigen Beamten unterstützte ihn dabei, und nicht zuletzt gab ihm ein Gutachten Conrings sachkundige Unterstützung25. Auch die Statistik scheint eine wirksame Hilfe gewesen zu sein, wenn auch das Scheitern der Pläne Pfuels ihre Grenzen zeigte. Die Arbeit sollte hier am falschen Ende anfangen, denn eine brauchbare Statistik setzte einen dafür leistungsfähigen Verwaltungsapparat voraus und nicht umgekehrt. 3. Die Nachfolger auf dem Thron haben einen solchen dann Schritt für Schritt geschaffen. Dabei blieb die von Friedrich Wilhelm begründete Ver23 Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte (Quellen u. Forschungen zur Agrargeschichte, 7), 4. Aufl. Stuttgart 1979, 17. 24 L. Hüttl, Friedrich Wilhelm (Anm. 21), 51 – 65. 25 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 78 f.
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bindung zwischen ihr und der Staatsverwaltung bestehen. Die Verwaltungs- und die Finanzstatistik erfüllten dabei mehrere Funktionen: Sie lieferten Angaben für eine ausgebaute Kenntnis des Landes („Staatskräfte“), sie gaben die Grundlage für Eingriffe in die Verhältnisse der Untertanen, boten damit das Fundament für die Arbeit der Verwaltung und dienten ihr als Kontrollinstrument: Kontrolle durch Verwaltung und Kontrolle der Verwaltung. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die statistischen Erhebungen auf immer mehr Gebiete ausgedehnt. Hier sind vor allem die Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. zu nennen, die in ihren langen Regierungszeiten auch in diesem Bereich viel bewirkt haben. Besonders Friedrich II. schätzte die Statistik26 und ließ sich laufend über Bevölkerung und Wirtschaft seines Staates durch eine Vielzahl von Tabellen unterrichten, die die Verwaltungsstellen oft erheblich belasteten. So entstanden große Datensammlungen, die zu einem Teil in den Archiven und auch durch zeitgenössische Publikationen (dies wegen der Geheimhaltung freilich in engen Grenzen) überliefert und zu wertvollen Quellen für die moderne Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte geworden sind27. Die Organisation der behördlich erhobenen Statistik änderte sich im 18. Jahrhundert im Grundsatz nur wenig. Die Angaben wurden lokal durch die Land- und in den Städten durch die Steuerräte erhoben, in den seit 1723 bestehenden Kriegs- und Domänenkammern für deren Amtsbezirke zusammengefaßt und dem 1722 / 23 eingerichteten Generaldirektorium vorgelegt, das eine eigene statistische Abteilung besaß28 und seinerseits dem König berichtete. Zeitgenossen und Literatur sind sich darüber einig, diese Organisation habe auch bei gutem Willen der Beteiligten (von dem aber nicht immer ausgegangen werden darf) Mängel und Schwächen nicht ausgeschlossen, so daß es sich im Zweifel empfiehlt, die überlieferten Zahlen als Näherungswerte zu betrachten, wie schon einleitend gesagt. Die Genauigkeit, die sie suggerieren und die auch in die modernen Editionen übernommen werden muß, wenn diese nicht willkürlich werden sollen, ist meist nur eine scheinbare, auch wenn die Angabe im Regelfalle der Realität zumindest nahekommen dürfte. 4. Die Regierungszeit beider Könige bezeichnet auch den Höhepunkt der preußischen Statistik im 18. Jahrhundert. Es empfiehlt sich daher, an dieser Stelle einen knappen Überblick über die wesentlichen von ihr erhobenen Sachgegenstände zu geben29. 26
Ebd.,158. Das in Anm. 1 genannte Schwerpunktprogramm stützte sich in seinen einschlägigen Teilvorhaben zu einem beachtlichen Teil auf diese Statistiken. 28 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 170. 29 In Anlehnung an die Angaben ebd. 27
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An erster Stelle ist die Bevölkerungsstatistik zu nennen. Sie wurde (nicht nur in Preußen) als grundlegend für die Kenntnis der Staatskräfte angesehen, denn die Mehrzahl der zeitgenössischen Schriftsteller hielt eine zahlreiche und gut qualifizierte Bevölkerung für das beste und sicherste Fundament des Staates. In Preußen war ihre Statistik nach den schweren Verlusten im Dreißigjährigen Krieg besonders wichtig als Information über das noch Vorhandene und als Gradmesser für die Ergebnisse des Aufbaus, zeitgenössisch der Peuplierungspolitik, der die besondere Aufmerksamkeit des Landesherren galt. Auf diesem Gebiet ergaben sich schon unter Kurfürst Friedrich Wilhelm Kontakte zur Wissenschaft, die sich ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigte. Hermann Conring hatte in einem vom Kurfürsten bestellten Gutachten 1652 als Mittel zur Verbesserung der Staatsfinanzen unter anderem die Vermehrung der Bevölkerung als notwendig empfohlen30, und Samuel von Pufendorf, seit 1688 in Berlin, vertrat ähnliche Auffassungen. Auch Leibniz setzte sich, freilich nicht in brandenburgischen Diensten, für eine Bevölkerungsstatistik ein. Nach der – allerdings anscheinend lückenhaften – Überlieferung ließ der Kurfürst seit 1683 Angaben über die Zahlen der Geburten, Heiraten und Sterbefälle zusammenstellen. Er war dabei auf die geistlichen Behörden und die von diesen geführten Kirchenbücher angewiesen31. Hier stieß er gelegentlich auf Widerstand32, denn mancher Pfarrer sah es nicht als seine Aufgabe an, Statistik zu erstellen und fühlte sich damit überfordert. Zusammenhängende Nachrichten liegen erst seit 1688 vor. Sie wurden vor allem unter Friedrich II. verbessert und zu „Generaltabellen“ für den ganzen Staat nach Provinzen gegliedert33 alljährlich dem König vorgelegt, der sie mit großem Interesse zur Kenntnis nahm. Dieses Verfahren wurde unter Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III. bis 1805 fortgesetzt. Daneben fanden seit 1748 jährlich Volkszählungen statt, deren Ergebnisse zum großen Teil erhalten und veröffentlicht sind34. Doch blieb auch das Verfahren bestehen, die Bevölkerungszahl aus den Angaben über Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle zu schätzen35, das wegen deren größerer Genauigkeit als zuverlässiger als die Zählungen galt. Daneben sind die Statistiken der Wanderungen, konkret der Einwanderungen, zu nennen. An ihnen bestand besonderes Interesse, denn das bevölkerungsarme Land 30
Wie Anm. 25. Über die danach notwendige Zusammenarbeit der Geistlichen mit den kurfürstlichen Behörden ist Näheres nicht bekannt, wie überhaupt die Erhebungsverfahren weithin im Dunkeln liegen. Hier könnte sich eine lohnende Fragestellung für die Lokalforschung eröffnen. 32 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 133. 33 Ebd., 443 – 453 sind diese Tabellen zusammengestellt und veröffentlicht. 34 Die Ergebnisse sind ebenfalls ebd., 455 – 462 publiziert. 35 Ebd., 148. 31
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nahm bekanntlich zahlreiche Zuwanderer auf und setzte sie vor allem auf dem Lande als Kolonisten an. Bevölkerungsfragen beschäftigten nicht nur Herrscher und Verwaltung, sondern auch die Wissenschaft. 1741 erschien in Berlin von Johann Peter Süßmilch (1707 – 1767) „Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen“, gewidmet dem König Friedrich36. Diesem Buch, das bis 1798 in mehreren erweiterten Auflagen erschien, ging es „um nichts Geringeres als um einen Gottesbeweis auf der Grundlage der Demographie“37. Es war in mehrfacher Hinsicht bedeutend: Einmal stand es am Beginn der demographischen Forschung in Deutschland, begründete also hier die Bevölkerungswissenschaft als ein wichtiger Zweig der Sozialwissenschaften. Der Statistik brachte es eine Fülle von Material für die Bevölkerungsentwicklung, denn Süßmilch standen dank königlicher Entscheidung die amtlichen Unterlagen darüber zur Verfügung. Methodisch übernahm das Buch die Verfahren der „politischen Arithmetik“, die in England von John Graunt (1620 – 1674) und von William Petty (1623 – 1687) entwickelt worden waren und die quantitative Daten mit mathematischen Methoden bearbeiteten, um zu exakten Ergebnissen zu kommen38. Also ein völlig anderer Ansatz als die Universitätsstatistik, die nicht quantifizierte, sondern im Gegenteil das Arbeiten mit Zahlen ablehnte. Süßmilch fand denn auch bei aller Bewunderung kaum Nachfolger für seine Methode. Schon der zweite bedeutende Statistiker, der in dieser Zeit in Preußen wirkte, Anton Friedrich Büsching (1724 – 1793)39, verfolgte einen anderen Ansatz, die politisch-statistische Methode, die der Universitätssta36 Nachdruck der 1. Auflage: Düsseldorf 2001. Dazu ein Kommentarband ebd. Aus der reichen Literatur sind an neueren Arbeiten zu nennen: Wolfgang Neugebauer, Johann Peter Süßmilch. Geistliches Amt und Wissenschaft im friderizianischen Berlin, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1985, 33 – 68; Ders., Johann Peter Süßmilch, in: Berlinische Lebensbilder: Theologen, hrsg. v. Gerd Heinrich (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60), Berlin 1990, 183 – 200; Herwig Birg (Hrsg.), Ursprünge der Demographie in Deutschland. Leben und Werk Johann Peter Süßmilchs (1707 – 1767) (Forschungsberichte des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik, Universität Bielefeld, 11), Frankfurt am Main / New York 1986. 37 W. Neugebauer, Süßmilch (Anm. 36), 189. 38 H. Kern, Sozialforschung (Anm. 6), 27 – 36. 39 Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. v. der Historischen Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 – 56, (München) Leipzig 1875 – 1912, fortan zitiert nach der Bandzahl, hier ADB, Bd. 3, 644 f.; Neue deutsche Biographie, hrsg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 – 27, München 1953 – 2007 fortan zitiert nach der Bandzahl, hier NDB, Bd. 3, 3 f.; Wilhelm Roscher, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, München 1874, 465 f. Ob man Büsching als Statistiker im hier verwendeten Sinne bezeichnen kann, läßt sich in Zweifel ziehen.
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tistik nahestand. Er wirkte von 1767 bis zu seinem Tode als Direktor des Gymnasiums im Grauen Kloster in Berlin, das 1767 auf Anregung von Süßmilch entstanden war40. Sein Hauptwerk ist eine „Neue Erdbeschreibung“, die ab 1754 erschien und von der er bis 1792 elf Bände verfaßte41. Im ganzen Jahrhundert fand von allen statistischen Aufnahmen die der Bevölkerung das größte Interesse und war Gegenstand auch zahlreicher Privatstudien. In der öffentlichen Diskussion spielten diese Fragen eine große Rolle, vor allem nachdem Thomas Robert Malthus 1798 mit seinem „An Essay on the Principle of Population“42 eine pessimistische Prognose über den Fortgang der Entwicklung vorgelegt hatte. Pessimistische Voraussagen, wenn sie im Gewande der Wissenschaft einherkommen, fanden und finden ihr Publikum, damals wie heute. Die Wirtschaft des Landes war vielgestaltig, bedingt schon durch seine über den ganzen deutschen Norden reichenden Provinzen mit ihrer stark voneinander abweichenden Wirtschaftsstruktur. Man kann daher von der Wirtschaft des Gesamtstaates nur in einer ganz allgemeinen Formulierung sprechen: agrarisch-kleingewerblich orientiert mit einigen gewerblichen Verdichtungsgebieten mit größeren Verlags- und Manufakturunternehmen. Preußen nahm damit eine mittlere Lage zwischen den vor allem gewerblich höherentwickelten Staaten im Westen Europas und den nahezu rein agrarisch strukturierten im Osten ein. Dabei darf für diese Zeit „landwirtschaftlich orientiert“ nicht ohne weiteres mit „unterentwickelt“ gleichgesetzt werden, denn im Reich wie auch in Preußen gab es agrarisch bestimmte Regionen, die wirtschaftlich florierten und wohlhabend waren. Erhebungen über den Stand der Landwirtschaft43 fanden in Brandenburg auf Anordnung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm 1643 und 1650 statt, um die durch den Krieg verursachten Schäden zu ermitteln und um Informationen für den Aufbau zu gewinnen; sie sind bis auf geringe Reste nicht überliefert. Eine brauchbare Landwirtschaftsstatistik wurde erst unter Friedrich Wilhelm I. geschaffen und von seinem Sohn erweitert und verbessert. Sie war Verwaltungsstatistik, die von den königlichen Domänen ausging und diese in den Vordergrund stellte. Die von den Königen angeforderten Berichte waren breit angelegt und differenziert; sie umfaßten von der 40 Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten, und der umliegenden Gegend, Bd. 2, 3. Aufl. Berlin 1786, 736 – 741. 41 Anton Friedrich Büsching, Neue Erdbeschreibung, Teil 1 – 11 (Abt. 1), Hamburg 1754 – 1792 (mehrere Auflagen). 42 In demselben Jahre erschien die letzte Auflage von Süßmilchs Hauptwerk. 43 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 208 – 293. Breiter angelegt ist die Gesamtdarstellung von Hans Wolfram Graf Finck v. Finckenstein, Die Entwicklung der Landwirtschaft in Preußen und Deutschland 1800 – 1930, Würzburg 1960 (mit umfangreichen statistischen Angaben).
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Witterung über die Bestellung der Felder, den Ausfall der Ernte, den Absatz einschließlich der Getreidepreise bis hin zum Viehstand den ganzen Bereich agrarischer Tätigkeiten, Aufwendungen und Erträge. Gesammelt wurden die Angaben in dem schon erwähnten statistischen Bureau im Generaldirektorium44. Eine Besonderheit vor allem der Kurmark und der Neumark bildeten die ausgedehnten Naßflächen (Sümpfe, Brüche, Überschwemmungsgebiete), die nicht oder nur eingeschränkt land- oder forstwirtschaftlich nutzbar waren. Eine umfangreiche Literatur unterrichtet darüber, wie die Könige hier durch Meliorationen kulturfähiges Land schaffen ließen. Auch diese Arbeiten wurden statistisch erfaßt, doch ist davon viel verloren gegangen. Die landwirtschaftliche Statistik stieß bei ihrer Erhebung auf erhebliche Schwierigkeiten, die teils in ihrem Gegenstande, teils in Mängeln ihrer Durchführung begründet waren. Bernd Kölling hat sie am Beispiel der Provinz Brandenburg und deren Vorgängerterritorien im einzelnen dargestellt45; manches davon dürfte auch auf andere Provinzen zutreffen. Allerdings ist bei solchen Analogieschlüssen Vorsicht geboten, denn eine der Schwierigkeiten der Agrarstatistik bestand in der großen Verschiedenheit der agrarischen Verhältnisse in natürlicher wie in rechtlicher Beziehung. Hinzu kam der erhebliche Umfang der Flächen und der übrigen Größen, mit denen sie umzugehen hatte. Totalerhebungen waren daher lediglich für kleine Einheiten möglich, etwa für ein Dorf oder für ein Gut46. In der Regel begnügte man sich daher mit Teilerhebungen (Stichproben), etwa bei der Getreideernte aus Probedrusch, oder mit Schätzungen, etwa der Ernteerträge des Getreides aus den Aussaattabellen (Anbauflächen). Als Multiplikator diente dabei der aus dem Probedrusch gewonnene Wert („das 2. bis 7. Korn“). Auch Sonderkulturen wurden statistisch erfaßt, wobei der von beiden Königen geschätzte Seidenbau sich großer Aufmerksamkeit erfreute (den Erwartungen entsprach er bekanntlich nicht)47. Eng mit der Agrarstatistik verbunden war die der Getreidepreise48, beruhend teils auf Aufzeichnungen der Marktpreise, teils auf den obrigkeit44
O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 170, 213. Bernd Kölling (Hrsg.), Agrarstatistik der Provinz Brandenburg 1750 – 1880 (Quellen und Forschungen zur Histosrischen Statistik von Deutschland, 25), St. Katharinen 1999. 46 Ebd., Mikrostatistik, 422 – 515. 47 Gustav Schmoller / Otto Hintze, Die preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen (Acta Borussica), 3. Bde., Berlin 1892, mit umfangreichen statistischen Angaben. 48 Zu den mit der Preisstatistik verbundenen Problemen jetzt grundsätzlich HansJürgen Gerhard / Alexander Engel, Preisgeschichte der vorindustriellen Zeit. Ein Kompendium auf Basis ausgewählter Hamburger Materialien (Studien zur Gewerbeund Handelsgeschichte der vorindustriellen Zeit, 26), Stuttgart 2006. Vgl. auch „Do45
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lich festgesetzten Preistaxen. Die Erhebungen über diese Preise waren eine wichtige Grundlage für die Getreidehandelspolitik des Staates49, die unter anderem der Preisregulierung diente und daher mit der Magazinpolitik verbunden war. Auch die Wissenschaft beschäftigte sich mit dem Thema, wie die Arbeit von Johann Friedrich Unger „Von der Ordnung der Fruchtpreise und deren Einflüsse in die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens“ (Göttingen 1752)50 zeigt. In einem mit Süßmilch methodisch verwandten Denkmodell erkannte er im Auf und Ab der Preise das Wirken der göttlichen Vorsehung, die freilich durch eine gute Politik zugunsten einer Versorgung der Menschen positiv beeinflußt werden kann, ihrerseits aber eine leistungsfähige Preisstatistik voraussetzt. Für deren Gestaltung machte er praktische Vorschläge. Bemerkenswert für seine Zeit war auch Ungers Beobachtung, die Preise des Getreides, die anderer Güter und die Löhne bewegten sich in etwa gleichsinnig. Die neuere preisgeschichtliche Forschung hat das freilich widerlegt51. Die Statistik des Viehstandes52 scheint sich erst spät und langsam entwikkelt zu haben. Eine Ausnahme machte die weit verbreitete Schafhaltung, die den Rohstoff für das von Friedrich Wilhelm I. besonders geförderte Wollgewerbe und damit für die Militärtuche lieferte; hier finden sich Angaben über die im Lande erzeugte Wolle bereits seit 1717. Unter Friedrich II. wurden auch diese Erhebungen ausgedehnt. Doch wahrscheinlich gab es erst ab 1776 regelmäßig aufgestellte Tabellen des Viehstandes, die 1798 für die Provinzen vereinheitlicht wurden. Falls sie tatsächlich ordnungsgemäß vorgelegt wurden, waren sie (nach Behre) bereits anfangs des 20. Jahrhunderts nicht mehr vollständig vorhanden, denn die von ihm zusammengestellten Listen für die Zeit von 1756 bis 1805 weisen zahlreiche Lücken auf53. Sie
kumentation der Sammlungen zur Preis- und Lohngeschichte Mitteleuropas“ (reicht über Preußen hinaus) bei Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 3. Aufl. Hamburg / Berlin 1978, 311 – 318. 49 Acta Borussica. Getreidehandelspolitik, 4 Bände, Berlin 1896 – 1931 (Neuausgabe im Auftrag der Hist. Komm. zu Berlin v. Wilhelm Treue mit einer Einleitung von Karl Heinrich Kaufhold, Frankfurt am Main 1986 / 87); Lars Atorf, Der König und das Korn. Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburg-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 17), Berlin 1999. 50 Johann Friedrich Unger, Von der Ordnung der Fruchtpreise und deren Einflüsse in die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens, Göttingen 1752. 51 W. Abel, Agrarkrisen (Anm. 48), passim hat für die von ihm bearbeitete Zeit sog. Preisscheren nachgewiesen, also gegenläufige Bewegungen von Preisgruppen (z. B. steigende Preise von Agrarprodukten bei fallenden Preisen gewerblicher Erzeugnisse). 52 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 280 – 293. 53 Ebd., 288. Die von ihm zusammengestellten Tabellen 463 – 468.
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bieten aber für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts einen annähernden Überblick über die Bestände an Pferden, Rindvieh, Schafen und Schweinen in den einzelnen Provinzen. Bei aller Unvollkommenheit im einzelnen macht der überlieferte Bestand der Landwirtschaftsstatistik den Aufstieg der preußischen Agrarwirtschaft im Jahrhundert der „agrarischen Revolution“ deutlich54. Dieser Begriff scheint freilich für Preußen überakzentuiert, zumal der Siebenjährige Krieg kräftige Rückschläge brachte. Denn der Entwicklungsstand des Agrarwesens war in den einzelnen Provinzen des Staates zu unterschiedlich, um ein (positives oder negatives) Gesamtbild zu entwerfen. Bergbau, Hütten und Salinen55. Preußen war nicht reich an Bodenschätzen; das änderte sich erst durch die Gebietserwerbungen nach 1815 vor allem im Westen. Entsprechend entwickelte sich die Montanstatistik nur allmählich und nahm bis 1806 keinen großen Umfang an. Östlich der Elbe wurde in der Kurmark und in der Neumark stellenweise Raseneisenstein zu einem meist minderwertigen Eisen verhüttet, und es gab ebenso wie im Herzogtum Magdeburg einige Salinen. Die westlichen Provinzen besaßen ebenfalls Salinen; wichtig war dort der Steinkohlenabbau in der Grafschaft Mark und in Tecklenburg. Im 18. Jahrhundert kam Schlesien hinzu mit Steinkohlen und Metallhütten, doch wurde sein Montanwesen erst ab 1780 verstärkt ausgebaut. Bemerkenswert war noch die Grafschaft Mansfeld mit ihrem bedeutenden Kupferschieferbergbau (ab 1780 endgültig beim Staat). Beide Könige förderten das Berg- und Hüttenwesen und organisierten es auf den Staat hin, was auch der Statistik zugute kam. Friedrich erließ für die drei wesentlichen Reviere Bergordnungen und richtete 1768 für das Berg- und Hüttenwesen ein eigenes Departement, das siebte, des Generaldirektoriums ein. Der Bergbau unterstand nach den Bergordnungen dem Direktionsprinzip, also der Verwaltung auch der privaten Werke durch die Bergbehörde. Von den dabei entstandenen Akten ist leider nur wenig überliefert56; am 54 Eine knappe, doch instruktive Übersicht über die Agrargeschichte der frühen Neuzeit bei Walter Achilles, Landwirtschaft in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Gedichte, 10), München 1991. 55 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 312 – 325. Die überlieferten Statistiken zusammengestellt in Karl Heinrich Kaufhold / Wieland Sachse (Hrsg.), Gewerbestatistik Preußens vor 1850. Bd. 1: Das Berg-, Hütten- und Salinenwesen (Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland, 5), St. Katharinen 1989. 56 Angaben über die Silber- und Kupferproduktion in der Grafschaft Mansfeld seit 1688 in: Die Geschichte des Mansfeld’schen Kupferschieferbergbaues und Hüttenbetriebes. Festschrift zur Feier des 700jährigen Jubiläums. . . 1900, Eisleben 1900, 67 – 75.
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meisten noch für den Steinkohlenbergbau in Schlesien57, Tecklenburg, Minden-Ravensberg und der Grafschaft Mark58. Bergamtliche Aufzeichnungen über die Hüttenproduktion fehlen für das 18. Jahrhundert nahezu ganz; sie liegen lediglich für einzelne Werke in Berlin (Königliche Eisengießerei), in der Kurmark, der Neumark, in Oberschlesien (Friedrichshütte, Tarnowitz) und in Mansfeld59 vor. Gewerbe bedeutete im 18. Jahrhundert auch in Preußen überwiegend Handwerk. An zweiter Stelle folgte das Heimgewerbe, das vor allem im Textilbereich bedeutend war. Eng mit ihm benachbart und nach der Quellenlage manchmal nicht sauber von ihm zu trennen war der Verlag, ebenfalls mit Schwerpunkt in der Textilherstellung. Im Laufe des Jahrhunderts gewann die Manufaktur als erste großgewerbliche Betriebsform an Boden, blieb aber quantitativ eine Randerscheinung. Das Handwerk saß hauptsächlich in den Städten und war dort zum großen Teil zünftig organisiert. Denn der gewerbepolitische Grundsatz, die Handwerke auf die Städte zu beschränken und auf dem Lande nur solche zuzulassen, die dort unentbehrlich waren (seit 1653: Schmiede, Schneider, Garnweber, Rademacher, Zimmerleute) beherrschte das preußische Gewerberecht. Die vom König erlassenen „Principia Regulativa“ von 171860 legten die Begrenzungen für das Landhandwerk noch einmal fest und verwiesen die außerhalb der genannten Berufe auf dem Lande ansässigen Handwerker in die Städte. Allerdings gelang es zu keiner Zeit, diese Grundsätze vollständig durchzusetzen. Statistische Erhebungen zum Gewerbe61 sollen bereits vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm veranstaltet worden sein, doch scheinen sie verloren gegangen zu sein. Die nachweisbare gewerbestatistische Überlieferung beginnt mit Friedrich Wilhelm I. und den unter ihm angefertigten Historischen Tabellen, die auch Angaben über die Gewerbstätigkeit in Stadt und seit 1722 Land enthalten. Dabei wurde der Kreis der erfaßten Gewerbe nach 57 Hans-Wilhelm Büchsel, Rechts- und Sozialgeschichte des Oberschlesischen Berg-und Hüttenwesens 1740 bis 1806, Breslau / Kattowitz 1941. 58 Michael Fessner, Steinkohle und Salz. Der lange Weg zum industriellen Ruhrrevier (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum 73), Bochum 1998, 20 – 28; Tabellen 377 – 397. 59 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 314 f. 60 Moritz Meyer, Die Handwerkerpolitik König Friedrich Wilhelm’s I. (1713 – 1740), Minden 1888, 28 – 31. 61 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 325 – 361; Karl Heinrich Kaufhold, Inhalt und Probleme einer preußischen Gewerbestatistik vor 1860, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im saekularen Wandel. Festschrift für Wilhelm Abel zum 70. Geburtstag (Schriftenreihe Ländliche Sozialfragen, 70), Bd. 3, Hannover 1974, 707 – 719; Wieland Sachse, Bibliographie zur preußischen Gewerbestatistik 1750 – 1850 (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 6), Göttingen 1981.
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und nach erweitert: Am Beginn stand das Wollgewerbe62, das wegen der Montierung der Soldaten dem König besonders wichtig war; andere Gewerbe folgten, wobei die Herstellung und Verarbeitung von Textilien einen Schwerpunkt bildeten. Am Ende des 18. Jahrhunderts umfaßte die Tabelle schließlich 462 Rubriken und überstieg damit die Grenze des Sinnvollen. 1804 wurde sie, die sich zu einer Belastung für die erhebenden Stellen entwickelt hatte, auf Veranlassung von Friedrich Wilhelm III. radikal vereinfacht63 und damit wieder handhabbar gemacht. Leider ist von den Historischen Tabellen viel verloren gegangen, und ihre Überlieferung wird erst ab den 1780er Jahren so dicht, daß sich aus ihnen längere Zeitreihen ohne große Lücken bilden lassen. Friedrich II. förderte das Gewerbe intensiv und baute dabei das sogenannte Fabriksystem auf und aus64. Es sollte seinen gewerbepolitischen Grundsatz verwirklichen, den Bedarf des Landes soweit wie möglich im Lande selbst zu decken (gewerbliche Autarkie). Grundlage dafür war eine detaillierte Kenntnis des Bedarfs, soweit er aus dem Ausland gedeckt wurde, und der gewerblichen Produktion. Beide Angaben sollte die Statistik liefern, und entsprechend wurden die Gewerbe- und die Außenhandelsstatistik ausgebaut. Friedrich hatte bei seinem Regierungsantritt 1740 ein eigenes Departement für Kommerzien und Fabriken (sogenanntes Fabrikendepartement) eingerichtet65, das ab 1747 die Fabrikentabellen zusammenstellte, die eine möglichst vollständige Übersicht über die Produktion für den überörtlichen Bedarf geben sollten (die örtliche Versorgung blieb Sache des Handwerks). Ergebnis waren die jährlich dem König vorgelegten „General-Tableaux“ für das gesamte Königreich, wobei allerdings Schlesien wegen seiner eigenen Provinzialverwaltung66 nicht aufgenommen wurde. Diese Tableaux wurden von Friedrichs Nachfolgern fortgesetzt und endeten erst 1804. Sie sind für die Jahre von 1784 bis 1797 und von 1802 bis 1804 erhalten und bilden eine wertvolle gewerbestatistische Quelle. 62 Carl Hinrichs, Die Wollindustrie in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. Darstellung mit Aktenbeilagen (Acta Borussica), Berlin 1933. 63 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 358 f. 64 Otto Hintze, Friedrich der Große nach dem Siebenjährigen Kriege und das Politische Testament von 1768, in: ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hrsg. v. Gerhard Oestreich, 2. Aufl. Göttingen 1967, 448 – 503, hier 492 – 494; Karl Heinrich Kaufhold, Das Gewerbe in Preußen um 1800 (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2), Göttingen 1978, 433 – 436, 441 – 444. 65 Fabriken im zeitgenössischen Sinne, also gewerbliche Produktion für den überörtlichen Bedarf im Gegensatz zum Handwerk, das die lokale Nachfrage befriedigte. Der Begriff darf nicht mit den Fabrikenbegriffen des 19. und 20. Jahrhunderts verwechselt werden. 66 Es ressortierte bekanntlich nicht im Generaldirektorium.
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An Kritik an der preußischen Gewerbestatistik hat es nicht gefehlt. Sie wurde schon von den Zeitgenossen geübt, denn für die aufnehmenden Beamten war sie „geradezu eine Plage“67. Leopold Krug hat sie umfassend und überwiegend negativ kommentiert68. Doch ist ihr umfangreicher Bestand zu informativ (und auch nicht durch Anderes zu ersetzen), um von der Forschung vernachlässigt zu werden. Im Rahmen des Schwerpunktprogramms der DFG zur Historischen Statistik69 hat daher eine Forschungsgruppe am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Göttingen unter meiner Leitung den wesentlichen Teil der erhaltenen Angaben in vier starken Bänden ediert70. Als regionale Veröffentlichung kommt eine auch das Gewerbe behandelnde Statistik der preußischen Provinz Ostfriesland von 1744 bis 1806 hinzu71. Außerhalb des genannten Programms entstand die umfangreiche und detaillierte Gewerbestatistik Westfalens um 1800 von Stephanie Reekers72. Für dieselbe Zeit liegt eine aus den Quellen gearbeitete Darstellung des preußischen Gewerbes vor73, die in ihrem statistischen Teil versucht, das gesamte preußische Gewerbe dieser 67
O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 345. Leopold Krug, Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats und über den Wohlstand seiner Bewohner, Berlin 1805, Tl. 2, 379 – 381. Die Tabellen erfassen nur einen Teil der gewerblichen Produktion und sind untereinander nicht immer voll vergleichbar. Aus meiner Sicht kommen noch erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der Fabrikationswerte hinzu: vgl. K.-H. Kaufhold, Gewerbe (wie Anm. 64), 475. 69 Vgl. Anm. 1. 70 Karl Heinrich Kaufhold / Ulrike Albrecht (Hrsg.), Gewerbestatistik Preußens vor 1850. Bd. 2: Das Textilgewerbe (Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland, 6), St. Katharinen 1994; Karl Heinrich Kaufhold / Ulrike Albrecht / Bernd Holschumacher (Hrsg.), Gewerbestatistik Preußens vor 1850. Bd. 3: Ausgewählte Gewerbe: Bau und Ausbau, Bekleidung, Leder, Metallverarbeitung, Holzverarbeitung, Nahrung und Genuß, Mühlen (Quellen und Forschungen zur Histosrischen Statistik von Deutschland, 21), St. Katharinen 2000. 71 Karl Heinrich Kaufhold / Uwe Wallbaum (Hrsg.), Historische Statistik der preußischen Provinz Ostfriesland 1744 – 1806 (Quellen zur Geschichte Ostfrieslands, 16), Aurich 1998. 72 Stephanie Reekers, Quellen zur statistischen Erfassung der industriellen Gewerbe Westfalens im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen. Teil 1 Paderborn und Münster 17 (1964), 83 – 176; Teil 2 Minden-Ravensberg, in: a. a. O. 18 (1965), 75 – 130; Teil 3 Tecklenburg-Lingen, Reckenberg, Rietberg u. Rheda, in: a. a. O. 19 (1966), 27 – 78; Teil 4 Herzogtum Westfalen, in: a. a. O. 20 (1967), 58 – 108; Teil 5 Grafschaft Mark, in: a. a. O. 21 (1968), 98 – 161; Teil 6, in: a. a. O. Grafschaft Limburg u. Reichsstadt Dortmund 23 (1971), 75 – 106; Teil 7 Wittgenstein u. Siegen, in: a. a. O. 25 (1973), 59 – 167; Teil 8 Vest Recklinghausen, in: a. a. O. 26 (1974), 60 – 118; Teil 9 Lippe und Lippstadt, in: a. a. O. 29 (1978 / 79), 24 – 118; Teil 10 Die Gewerbe in den Städten Westfalens unter besonderer Berücksichtigung der Textilgewerbe, in: a. a. O. 34 (1984), 87 – 158; Teil 11 „Sonstige“ industrielle Gewerbe, in: a. a. O. 36 (1986), 25 – 111. 73 K.-H. Kaufhold, Gewerbe (Anm. 64). 68
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Zeit quantitativ zu erfassen. Alles zusammengenommen verfügen wir über den Umfang, die Struktur und die Entwicklung des preußischen Gewerbes spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, gemessen an den Möglichkeiten der Überlieferung, über gute quantitative Informationen. Sie machen den bemerkenswerten Aufstieg des preußischen Gewerbes in dieser Zeit deutlich. Entsprechend den wirtschaftspolitischen Grundsätzen besonders des Königs Friedrich richtete sich ein starkes Interesse auf den Außenhandel. Statistisch wurden soweit wie möglich Import, Export und die Handelsbilanz des Staates erfaßt, wobei diese positiv sein sollte, um das Ziel, Vermehrung der Wirtschaftskraft des Landes, zu erreichen. Die Außenhandelsstatistik wurde damit ein unentbehrlicher Bestandteil der Handels- und der Wirtschaftspolitik des Staates. Sie zu erheben, war allerdings aufwendig und stellte auch methodisch erhebliche Anforderungen. Die älteste ist (nach Behre74) aus dem Jahre 1753 erhalten und wies einen Ausfuhrüberschuß von rund 5,6 Millionen Rth. aus. Solche „Balancen“ wurden auf der Grundlage der Akzise-Register für jedes Jahr aufgestellt75; sie fanden das besondere Interesse Friedrichs, der auf ihrer Grundlage die Anlage neuer oder die Erweiterung bestehender Gewerbezweige entsprechend den Prinzipien seines Fabriksystems dort anordnete, wo ihm die Einfuhr zu hoch erschien und er daher nachbessern wollte. Auf den ganzen Staat gesehen war die Handelsbilanz, soweit zu erkennen, durchgängig positiv76, wozu vor allem Schlesien mit seinem starken Export beitrug. Unter den Nachfolgern Friedrichs wurde die Außenhandelsstatistik weiter erhoben, freilich wegen der mehrfachen umfangreichen Gebietsänderungen unter erheblichen Schwierigkeiten und Unsicherheiten. Von den Tabellen scheint nicht viel erhalten zu sein – bedauerlich, denn ihren Aufzeichnungen ließen sich wertvolle Nachrichten über die Wirtschaftsstruktur des Königreichs entnehmen, wie ein Tableau für 1795 / 96 zeigt77. In ihm tritt die nach wie vor große Bedeutung des Textilgewerbes in der Ein- und vor allem der Ausfuhr klar hervor. Hingewiesen sei noch auf den Seehandel, obwohl Preußen kein „Seestaat“ war. Bis zum Erwerb Ostfrieslands 1744 verfügte es lediglich über einige schwach ausgebaute Ostseehäfen, von denen Königsberg und Stettin die wichtigsten waren. Der Seehandel wurde zum größten Teil über das Ausland, vor allem über Danzig (seit 1793 preußisch), Hamburg und Bremen durch Holländer und Engländer abgewickelt. In Ostfriesland war der bedeutendste Hafen über das Land hinaus Emden, daneben Leer. Eine 74 75 76 77
O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 338 f. Ebd., 346 – 349. Ebd., Tabelle 115, 348. Ebd., Tabelle 119, 356 f.
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eigene Statistik der See- und Flußschiffahrt seit den 1750er Jahren78 gibt darüber Auskunft und zeigt, wie stark die preußische Seefahrt nach 1780 zurückging – mit der Ausnahme Emdens, dessen Flotte sogar wuchs. 5. Schon dieser auf die Grundlinien reduzierte Gang durch die amtliche Statistik Preußens zeigt ihren großen Umfang und ihre Detailliertheit, beide so ausgeprägt, daß der kritische Beobachter danach fragt, ob hier nicht des Guten zu viel getan worden ist. Bereits 1763 mußten dem König über das Generaldirektorium jährlich 34, halbjährlich 2, vierteljährlich 10 und monatlich 1, zusammen 47 Tabellenwerke vorgelegt werden79. Friedrich Wilhelm III. plante, diese Überzahl zu reduzieren und setzte dazu die sogenannte Finanzkommission ein, der er eine umfangreiche, der Statistik neue Wege zeigende Instruktion mit auf den Weg gab80. Eine radikale Vereinfachung unter Beschränkung auf das Wesentliche war dabei ebenso wenig vorgesehen wie eine Änderung des Verfahrens. In diesem Zusammenhang übte das Generaldirektorium gegenüber den Kammern Kritik wegen Mängeln der Tabellen81 und verlangte Abhilfe. Die Gründe für die Kritik waren altbekannt: Sorge der Untertanen, zu fiskalischen Zwecken ausgeforscht zu werden, Erhebungen vor Ort durch unqualifizierte Subalternbeamte, laxe Bearbeitung in den Kammern, die Ergebnisse oft „ein Produkt des Schlendrians“82. Ob diese Beanstandungen zu Recht bestanden, läßt sich heute kaum noch nachprüfen; sie zwingen aber zur Vorsicht gegenüber den Erhebungen. Die amtliche Statistik war also um 1800 in die Diskussion geraten, und die Auffassung, sie bedürfe einer Neuordnung, war verbreitet. Einiges kam hier zusammen: das eben angedeutete Ungenügen an den bisherigen Erhebungen, die als zu umfangreich, zu unsystematisch und damit als im Ergebnis ungenügend angesehen wurden; die Kritik an der kameralistischen Wirtschaftslehre, die mit der Einmischung des Staates in nahezu alles und jedes zunehmend als unzeitgemäß galt; die neuen, liberal orientierten staatswirtschaftlichen Lehren, die aus Frankreich und Großbritannien nach Deutschland kamen und hier mehr und mehr Anhänger fanden. Ein Unbehagen am Bestehenden und der Wunsch, sich aus dem Wust absolutistischen und kameralistischen Denkens und daraus folgenden Handelns zu lösen83, fanden in den maßgebenden politischen und intellektuellen Kreisen bis hin zum König ein stärkerwerdendes Echo.
78 79 80 81 82 83
Ebd., 340 – 342. Ebd., 363 f. Abdruck ebd., 365 – 373. Ebd., 373 f. Ebd., 374. Hier stark vereinfacht formuliert.
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Selbstverständlich stand bei dieser Kritik nicht die Statistik im Mittelpunkt, doch sollte ihre Rolle dabei auch nicht unterschätzt werden. Der Oberkammerpräsident der westlichen Provinzen, Reichsfreiherr vom und zum Stein, seit Oktober 1804 in der Funktion eines Ministers für Handel und Gewerbe, hatte ihren Nutzen erkannt und in seinen Provinzen praktisch mit Erfolg erprobt. So lag es für ihn nahe, die verstreuten Zuständigkeiten für das statistische Berichtswesen in einer Behörde zusammenzufassen, dem mit Kabinettsordre vom 28. Mai 1805 als Annex des Generaldirektoriums eingerichteten Königlichen Statistischen Bureau84. Sein Leiter wurde der Geheime Registrator Leopold Krug (1770 – 1843), der durch eine Reihe statistischer Arbeiten seine Befähigung bewiesen hatte. Krugs Hauptwerk, „Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats, und über den Wohlstand seiner Bewohner“85, aus amtlichen Quellen geschöpft, war ein neuartiger Versuch, modern gesprochen das Volksvermögen und das Volkseinkommen zu schätzen. Krug folgte dabei den ökonomischen Lehren der Physiokraten, einer hauptsächlich in Frankreich vertretenen Denkrichtung, die allein der Natur die Kraft zuschrieb, wirtschaftliche Werte zu schaffen. Entsprechend galten ihr Landund Forstwirtschaft sowie der Bergbau als produktive Zweige; Gewerbe und Handel wandelten die von diesen geschaffenen Stoffe lediglich um. Das Werk enthält eine Vielzahl quantitativer Angaben, die Krug teils aus Zählungen, teils aus Schätzungen zusammenstellte und die es bis heute für den Wirtschaftshistoriker unentbehrlich machen. Krug steht hier als herausragendes Beispiel für die zahlreichen Autoren, die um 1800 statistische Arbeiten veröffentlichten. Von ihnen sei nur noch Friedrich Wilhelm August Bratring genannt, dessen Hauptwerk „Statistisch-topographische Beschreibung der gesamten Mark Brandenburg“ in drei Bänden erschien86 und das für die Kenntnis der Mark in dieser Zeit wertvoll ist. Nahezu zeitgleich kam es zu einer weiteren Aufwertung der Statistik: Mit Zirkular vom 25. Februar 1806 wurde sie ein Gegenstand der Staatsprüfung für den Verwaltungsdienst87. Überhaupt ging die Zeit der Geheimhaltung der Statistik schnell zu Ende, zumal die Öffentlichkeit an ihren Publikatio84 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 379 – 386; Abdruck der Kabinettsordre 381, der Instruktion für das Amt 381 – 384. Vgl. die Darstellung bei Richard Boeckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen Statistik des preußischen Staates, Berlin 1863. 85 L. Krug, National-Reichthum, Tl. 2 (Anm. 68). 86 Friedrich Wilhelm August Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung der gesamten Mark Brandenburg. Für Statistiker, Geschäftsmänner, besonders für Kameralisten, Berlin 1804 – 1809. Kritisch durchgesehene und verbesserte Neuausgabe von Otto Büsch und Gerd Heinrich (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 22, Bd. 2), Berlin 1968. 87 O. Behre, Geschichte der Statistik (Anm. 18), 416.
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nen großes Interesse zeigte. Zugleich bedeutete das den endgültigen Sieg der „Tabellenstatistik“ über die verbale Universitätsstatistik. Statistik ist seitdem mit quantitativen Größen, mit Tabellen und mit mathematischen Methoden unlöslich verbunden. Dem Statistischen Bureau war kein langes Leben beschieden. Der militärische Zusammenbruch Preußens im Oktober / Dezember 1806 machte auch ihm ein Ende, und die Entlassung Steins im Januar 1807 verhinderte seine umgehende Wiederaufrichtung. 6. So endete mit dem alten Preußen 1806 auch seine amtliche Statistik, wenigstens vorläufig. Sie war im wesentlichen eine Veranstaltung seiner Herrscher gewesen, die sie begründet und ausgebaut hatten. Sie hatte viel geleistet und hinterließ ein ansehnliches Erbe, das für die heutige wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung eine wichtige Quelle darstellt. In ihrer Zeit war sie für die Staatsverwaltung und für den Herrscher ein unentbehrliches Informations- und Führungsinstrument. Am deutlichsten wurde diese Funktion bei Friedrich II., der sie konsequent einsetzte, ausbaute und auch zur Kontrolle nutzte. Ohne Statistik wäre ihm manches in seinem Staat fremd geblieben. Sie wurde aber auch für die Wissenschaft zur Grundlage ihrer staatskundlichen Arbeiten und spielte vor allem am Ende des 18. Jahrhunderts dabei eine bedeutende Rolle. Nicht zufällig erschienen in dieser Zeit zahlreiche „historisch-topographisch-statistische“ Beschreibungen einzelner Staaten, Landesteile, Städte, deren statistische Angaben heute eine wertvolle Quelle für die Landeskunde und die historische Geographie sind. III. Statistik in Preußen 1810 bis 184988 Die Unterbrechung der amtlichen statistischen Arbeit dauerte nicht allzu lange, denn bei den Diskussionen über den Neuaufbau des Staates wurde auch eine zweckmäßigere Organisation des „Tabellenwesens“ gefordert. Mit Verordnung vom 24. Oktober 1808 entstand das Statistische Bureau neu. Es ressortierte beim Innenministerium und ab 1812 unmittelbar beim Staatskanzler. Die Leitung übernahm 1810 der Staatsrat und (seit 1807) Professor für praktische Philosophie und Kameralwissenschaft an der Universität Königsberg, Johann Gottfried Hoffmann (1765 – 1847)89. Er hatte bereits 1806 in einem Gutachten einen Plan für eine Neuordnung der amtlichen 88 Ebd., 387 – 391. Ferner R. Boeckh, Die geschichtliche Entwickelung (Anm. 84) und Hugo Klinckmüller, Die amtliche Statistik Preußens im vorigen Jahrhundert (Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des Staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. d. S., 2. Bd., 6. Heft), Jena 1880. 89 Eine Biographie fehlt. Vgl. ADB (Anm. 39), Bd. 12, 598 – 604 und NDB (Anm. 39), Bd. 9, 398 f.
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Statistik Preußens vorgelegt, den er nun verwirklichte. Zugleich wurde er als Professor der Staatswissenschaften an die neugegründete Universität Berlin berufen. Er schuf unter radikaler Vereinfachung der bisherigen Regelungen praktisch eine neue amtliche Statistik, die sich auf die für die Regierung und Verwaltung zentralen Daten beschränkte; mit der bisherigen Tabellenflut war es zu Ende. Er wollte Übersichten erhalten, die wenige, aber einfach und zuverlässig zu erhebende Daten enthielten. Das entlastete zugleich die mit der Sammlung der Angaben beschäftigten Behörden. Eine ungestörte Aufbauarbeit war Hoffmann aber zunächst nicht möglich, denn er wurde 1814 und 1815 als Sachverständiger zu den Friedensverhandlungen in Paris und zum Wiener Kongreß herangezogen und lieferte einen erheblichen Teil der dabei benutzten statistischen Unterlagen. Auch an der Vorbereitung des Zollgesetzes von 1818, der Klassensteuer 1820 und des Münzgesetzes 1821 war er maßgebend beteiligt, wie er überhaupt in vielfältiger Weise öffentlich wirkte. Hoffmann blieb bis zu seinem Ruhestand 1844 im Dienst und baute in dieser langen Zeit das Statistische Bureau zu einer leistungsfähigen Einrichtung aus, die über Preußen hinaus als vorbildlich angesehen wurde. Sein Schüler Carl Friedrich Wilhelm Dieterici (1790 – 1859)90 trat seine Nachfolge an, so daß eine – allerdings fortbildungsfähige – Kontinuität gegeben war. Eine solche Fortbildung war erforderlich, denn bekanntlich änderten sich die ökonomischen und sozialen Verhältnisse in und ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vergleichsweise kurzer Zeit weitgehend. Wollte die Statistik ein einigermaßen treffendes Bild dieser Entwicklung zeichnen, mußte sie diesem Wandel folgen. Am deutlichsten zeigte sich das im Gewerbe, in dem die heute unter dem Sammelbegriff der Industrialisierung zusammengefaßten Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft am ausgeprägtesten waren. In ihm wurden die Zählungen seit 1816 in der sogenannten Gewerbetabelle zusammengefaßt und alle drei Jahre fortgeschrieben91. Sie enthielt zunächst nur die wichtigsten Gewerbe und vor allem die darin tätigen Personen. Von den zahlreichen Veränderungen, die sie im Laufe der Zeit erfuhr, seien hier lediglich zwei größere genannt: Ab 1837 wurden wichtige Fabriken besonders im Textilgewerbe und die Dampfmaschinen gezählt, und ab 1846 wurde nach den Beschlüssen der 6. Zollvereinskonferenz von 1843 die Gewerbetabelle in eine Handwerker- und eine Fabrikentabelle geteilt. Damit war ein Problem geschaffen worden, das die Gewerbestatistiker bis in die 1870er Jahre verfolgte, in denen die Trennung wieder aufgegeben wurde, nämlich die Definitionen von Handwerk und Fabrik. Darüber ist 90
ADB (Anm. 39), Bd. 5, 159 – 163; NDB (Anm. 39), Bd. 3, 673. K.-H. Kaufhold / U. Albrecht / B. Holschumacher, Gewerbestatistik (Anm. 70), Einführung; K.-H. Kaufhold, Inhalt und Probleme (Anm. 61). 91
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viel geschrieben und gestritten worden92, ohne daß es zu einer befriedigenden Lösung kam. Allerdings war dies nur ein Teilproblem (freilich das bedeutendste) eines Fragenkreises, der sich bei einer kritischen Betrachtung der Statistik dieser Zeit stellt93: die Begriffe, mit denen bei den Erhebungen gearbeitet wurde. Sie waren nicht immer eindeutig und wechselten auch im Laufe der Zeit zum Teil. Beides führt zu Zweifeln an der Vergleichbarkeit der Angaben und gelegentlich auch an der Richtigkeit der Tabellen, die sich aber aus dem erhaltenen Material in der Regel nicht klären lassen. Sie generell den damaligen Statistikern anzulasten, wäre freilich falsch, denn sie waren zumeist in der Sache begründet. Der sozialökonomische Bereich ließ und läßt sich nicht immer in eindeutige Definitionen fassen, und die Begriffe, mit denen die Wissenschaft dabei arbeitet, wandeln sich wie die Sache selbst, freilich nicht immer gleichzeitig und gleichsinnig. Was selbst heute in unserer bisweilen überstark geregelten wirtschaftlichen und sozialen Welt gilt, galt noch mehr für die Periode des Übergangs von der „alteuropäischen“ zur „modernen“. Nehmen wir als ein Beispiel die zentrale Kategorie des Berufs, die heute zumeist in Rechtsregeln und unbestrittenen sozialen Gewohnheiten fixiert ist, die damals aber wesentlich lockerer begriffen wurde. Denn Erwerbstätigkeit in mehreren „Berufen“ (Polyfunktionalität des Erwerbs) war eher die Regel als die Ausnahme. Wie sollte sich der Statistiker da entscheiden? Auch wenn es den heutigen auf Präzision bedachten Historiker entsetzen mag – bei der Interpretation solcher Statistiken empfiehlt sich eher das Modell der Bandbreite als das des Punktes. Bei der Arbeit mit den Erhebungen des Statistischen Bureaus gibt es aber noch ein weiteres Problem. Zwar hatte, wie schon gesagt, die amtliche Statistik um 1800 ihren Arkancharakter weithin abgestreift, doch bedeutete das nicht uneingeschränkte Publizität ihrer Ergebnisse. Um nur ein in der zeitgenössischen Diskussion darüber genanntes Argument zu erwähnen: Viele befürchteten, die „nackten Zahlen“ würden vom in dieser Hinsicht ungebildeten Publikum nicht oder falsch verstanden werden, mit üblen Folgen für die öffentliche Meinung. Hoffmann ging daher einen Mittelweg. Er veröffentlichte keine Tabellenwerke, teilte aber Ergebnisse seiner Arbeit in kleinen, sachbezogenen Abhandlungen kommentiert und interpretiert vor allem in Zeitschriften mit. Eine Reihe dieser Studien veröffentlichte er kurz 92 Knappe, instruktive Zusammenfassung bei Otto Büsch (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin / Brandenburg (Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, 6), Berlin 1971, 4 – 14 mit weiterer Literatur. 93 Dazu wichtig Antje Kraus (Bearb.), Quellen zur Berufs- und Gewerbestatistik Deutschlands 1816 – 1875: Preußische Provinzen (Quellen zur Bevölkerungs-, Sozialund Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815 – 1875, hrsg. v. Wolfgang Köllmann, Bd. 2 = Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte 2 / II), Boppard 1989, 8 – 17.
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vor seinem Tode in einem Sammelband94, doch lohnte sich wahrscheinlich auch eine neue Publikation der anderen. Private Statistiken größeren Umfangs gab es wegen des Umfangs der notwendigen Erhebungen kaum. Zu nennen sind aber zwei halbamtliche Arbeiten des Königlich Preußischen Geheimen Ober-Finanzrates Carl Wilhelm Ferber95, die zu Gewerbe und Handel aufschlußreiche Angaben „aus amtlichen Quellen“ enthalten. Hoffmanns Veröffentlichungspraxis ließ Teile (oft größere) der Tabellen unpubliziert, so daß wir heute auf die handschriftlichen Aufzeichnungen der Zeitgenossen zurückgreifen müssen. Sie finden sich in den Archiven, doch leider nicht vollständig. Aus der Zeit bis 1840 sind erhebliche Lücken zu beklagen. Ob sie sich durch weitere Forschungen schließen lassen werden, ist fraglich. Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, seit 1844 Leiter des Bureaus, brach mit der bisherigen Praxis der auswählenden Veröffentlichungen. Schon 1845 publizierte er die Ergebnisse der Erhebung von 184396. Die Zählungen von 1846 erschienen in zwei Teilen97, und für 1849 kamen die ersten vollständigen und tief gegliederten „Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat“ heraus98, die für 1852, 1855 und 1858 fortgesetzt wurden. Von den sonstigen größeren statistischen Arbeiten Dietericis seien die über den Volkswohlstand und über Verkehr und Verbrauch in Preußen genannt99. 94 Hoffmann selbst gab eine Sammlung seiner kleinen Schriften heraus: Nachlaß kleiner Schriften staatswirthschaftlichen Inhalts, Berlin 1847, die aber nicht vollständig ist. 95 C. W. Ferber, Beiträge zur Kenntniß des gewerblichen und commerciellen Zustandes der preußischen Monarchie. Aus amtlichen Quellen, Berlin 1829; ders., Neue Beiträge zur Kenntniß des gewerblichen und commerciellen Zustandes der Preußischen Monarchie. Aus amtlichen Quellen, Berlin 1832. 96 Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, Statistische Tabellen des preußischen Staates nach der amtlichen Aufnahme des Jahres 1843, Berlin 1845. 97 Ders., Die Bevölkerung des preußischen Staates nach der amtlichen Aufnahme des Jahres 1846, Berlin 1848. 98 Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat für das Jahr 1849. 6 Bde., Berlin 1851 – 1855. 99 Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, Der Volkswohlstand im Preußischen Staate. In Vergleichungen aus den Jahren vor 1806 und von 1828 bis 1832, sowie aus der neuesten Zeit, nach statistischen Ermittlungen und dem Gang der Gesetzgebung aus amtlichen Quellen dargestellt, Berlin / Posen / Bromberg 1846; ders., Statistische Übersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate und im deutschen Zollverbande, in dem Zeitraum 1831 bis 1836. Aus amtlichen Quellen dargestellt, Berlin / Posen / Bromberg 1838; ders., Erste Fortsetzung 1837 bis 1839, ebd. 1842; ders., Zweite Fortsetzung 1840 bis 1842, ebd. 1844; ders., Statistische Übersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im deutschen Zollvereine. Aus amtlichen Quellen dargestellt. Dritte Fortsetzung 1843 – 1845, Berlin / Posen 1848; ders., Vierte Fortsetzung 1846 bis 1848, Berlin 1851; ders., Fünfte Fortsetzung 1849 bis 1853, Berlin 1857.
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Außerdem begründete er die „Mittheilungen des statistischen Bureau’s in Berlin“, die seit 1848 jährlich erschienen und neben einer Vielzahl kleinerer statistischer Nachrichten auch Rezensionen des staatswissenschaftlichen Schrifttums enthalten. Nach Dietericis Tod übernahm Ernst Engel (1821 – 1896)100 von 1860 bis 1882 die Leitung des Bureaus. Er kam aus Sachsen und galt als einer der führenden Statistiker, ein Ruf, dem er in Berlin gerecht wurde. Auch später genoß die preußische Statistik ein gutes Ansehen. Ihre umfangreichen Veröffentlichungen bildeten eine der empirischen Grundlagen für eine Reihe von Studien zur preußischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, von denen beispielhaft die Arbeiten Gustav (von) Schmollers und seiner Schüler sowie aus der neuesten Zeit die Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin, vor allem von Otto Büsch und Wolfram Fischer genannt seien, die sich der Auswertung der Historischen Statistiken widmeten.
IV. Statistik, Staatswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften 1. Der Durchgang durch die Entwicklung der amtlichen Statistik in Brandenburg-Preußen machte deutlich: Sie war ein Geschöpf des Staates, der sich ihrer zur Information bei der Vorbereitung seiner (modern gesprochen) Wirtschaftspolitik sowie zur Lenkung und zur Kontrolle bei deren Durchführung bediente. Aus bescheidenen Anfängen unter dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm wurde sie mehr und mehr ausgebaut, bis sie unter Friedrich II., dem Großen, an die Grenzen des Leistbaren und sinnvoll Auszuwertenden stieß. Die Reorganisation der Statistik beim Neuaufbau des Staates nach 1806 vereinfachte die Erhebungen und machte sie dadurch wahrscheinlich auch zuverlässiger. Allerdings zwang die zunehmende Modernisierung und Differenzierung der Wirtschaft, besonders des Gewerbes, seit den 1830er Jahren zu einer erneuten Ausweitung und Spezialisierung. Neben der behördlichen Statistik gab es in Preußen eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Fragestellungen, Gegenständen und Methoden der Statistik. Sie verfolgte dasselbe Ziel wie die Behördenstatistik, Kenntnis der menschlichen und der sachlichen Ressourcen, über die der Staat verfügte („Staatskräfte“). Im materiellen Bereich entstammten diese der Wirtschaft, und sie fanden Niederschlag vor allem und zunehmend in den Finanzen des Staates. Darin spiegelte sich der grundlegende Wandel der Wirtschaft seit dem späten Mittelalter, indem die naturalwirtschaftlichen Elemente mehr und mehr zurücktraten und die geldwirtschaftlichen an ihre Stelle rückten. 100
NDB (Anm. 39), Bd. 4, 500 f.
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2. Mit der Herausbildung des frühmodernen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, auf die hier nicht einzugehen ist, entstand auch in einem allmählichen, nicht immer widerspruchsfreien Prozeß die später zusammenfassend so genannte Kameral- oder Staatswissenschaft, zu der auch die Statistik zählte. So wenig die Staatsbildungen einheitlich verliefen, so wenig galt das für die Entstehung dieser Fächer. Sie spiegelt sich in einer umfangreichen, hochdifferenzierten und gelegentlich auch kontroversen zeitgenössischen Literatur, die das Interesse der neueren Forschung gefunden hat, die ihrerseits besonders in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg eine Vielzahl von Untersuchungen zu diesen Themen vorlegte101. Am Ende der hier behandelten Zeit bildeten sich die Wirtschaftswissenschaften heraus, ausgelöst nicht zuletzt durch die tiefgreifenden Wandlungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die unter dem Begriff der Industrialisierung (und deren Folgen) diskutiert werden. Aus diesem weiten Feld werden hier, dem Thema gemäß, die Statistik und ihre Beziehungen zu benachbarten Wissensgebieten herausgegriffen, wobei der Schwerpunkt zeitlich auf der Periode der Kameralwissenschaft liegt. Das neuzeitliche Wirtschaftsdenken, das in enger Verbindung auch mit der Statistik entstand, hatte drei Elemente im Zusammenhang zu untersuchen: die realen Erscheinungen der Wirtschaft und der Finanzen (über die der Bezug zum Staat hergestellt wurde), ihre Beschreibung in empirischen Studien (das Feld der Statistik), die theoretische Reflexion darüber. Den „staatswissenschaftlichen“ Autoren war es nicht oder lediglich in Ansätzen gelungen, diese Elemente zu einer in sich stimmigen Denkfigur zusammenzuführen; bei einigen von ihnen entsprach es auch nicht ihrer Fragestellung. Während der Staat ungeachtet aller Differenzierungen in der Literatur zunehmend als Einheit gesehen wurde, blieben im wirtschaftlichen Bereich dessen Teile (Landwirtschaft, Gewerbe, Handel u. a.) isoliert, so, wie sie sich in der Realität zeigten. Die ihnen gemeinsamen Elemente zu erkennen, bedurfte es einer beachtlichen Abstraktionsleistung, die erst allmählich und zeitweise nach Phasen begrifflicher Verwirrung zustande kam. Eine methodisch entwickelte Statistik hätte hier (vielleicht) Hilfestellung geben können, indem sie über den Einzelfall hinaus tragfähige Begriffe zur Verfügung stellte. Doch das konnte sie noch nicht und mußte, wie in Teil II. dargestellt, damit zufrieden sein, Teilbereiche zu erfassen. 101 Es überstiege den Rahmen dieses Beitrages bei weitem, diese beiden sehr umfangreichen Gebiete auch nur in Umrissen darzustellen. Einen Einstieg in die neuere Diskussion bieten Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. München 1980 und Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts (Münchener Studien zur Politik, 27), München 1977.
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Im Bereich der (modern gesprochen) Wirtschaftslehre gelang in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Einstieg in eine Vereinheitlichung der Terminologie und in den Aufbau einer Systematik, also der erste Schritt hin zur neueren Wirtschaftswissenschaft. Darüber ist viel geschrieben worden; es mag aber genügen, hier einen aus meiner Sicht besonders ergiebigen Ansatz vorzustellen. Er ist von Johannes Burkhardt in mehreren Beiträgen vorgelegt worden102. Ich stelle ihn knapp vor, nicht zuletzt, um die Verbindung mit der von Burkhardt nicht thematisierten Statistik nicht zu locker werden zu lassen. Burkhardt knüpft in einigen Punkten an die Überlegungen von Otto Brunner an103, der die Volkswirtschaft und die Volkswirtschaftslehre in Verbindung mit dem modernen Staat entstehen sieht, mit dem „Denken vom Markt her“ als Kennzeichen. Damit begann für ihn das Ende der alteuropäischen „Ökonomik“, deren Merkmal seit der Antike die Konzentration des Lebens und Arbeitens auf das „ganze Haus“ gewesen war. Marktbeziehungen hatte es zwar gegeben, doch sie blieben gegenüber dem „Haus“ zweitrangig und galten, falls sie allein dem Gewinn dienen sollten, sogar als verächtlich. Burkhardts Ansatz geht von der zeitgenössischen Literatur aus und gewinnt dadurch starke Nähe zur Realität. Denn deren Autoren schrieben zumeist aus der Praxis für die Praxis; erst allmählich flossen abstrakte Begriffe und Systeme in größerem Umfange ein. So geben sie ein Bild der Wirklichkeit, das freilich nicht selten von Ermahnungen und Belehrungen meist religiös-moralischer Art überlagert wird und daher mit Vorsicht ausgewertet werden muß. In der Vielzahl der Autoren unterscheidet Burkhardt (hier vereinfacht gesagt) zwei große Gruppen von ökonomischen Schriftstellern, die sich jeweils um einen zentralen Gegenstand der damaligen Wirtschaft gruppierten: einmal die landwirtschaftlich dominierte „alteuropäische Ökonomik“ (als Beispiel dient die sogenannte Hausväterliteratur)104, zum anderen Handel und Markt, für die die Kaufmannshandbücher stehen105.
102 Die wichtigsten einschlägigen Arbeiten: Johannes Burkhardt, Wirtschaft I, IV – VIII, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1992, 511 – 513, 550 – 592; Geschichte der Ökonomie (Bibliothek der Geschichte und Politik, 21), hrsg. von Johannes Burkhardt und Birger P. Priddat, Frankfurt am Main 2000; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648 – 1763 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 11), 10. Aufl. Stuttgart 2006. 103 Otto Brunner, Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, 103 – 127, hier besonders 103. 104 Zur „Hausväterliteratur“: Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612 – 1688, Salzburg 1949.
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Beide Bereiche näherten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend an, wobei der Staat eine verbindende, vermittelnde und fördernde Rolle spielte. Denn er benötigte in seinem Bereich beide, einmal besonders zur Verwaltung seiner Domänen die Regeln der (alten) Ökonomik, zum anderen mit wachsender Bedeutung der Steuern und Abgaben für seine Finanzen106 Kenntnisse zur Förderung von Gewerben, Handel und Markt. Dazu kam als weiterer Bereich die effektive Verwaltung seiner eigenen Finanzen, die mit deren zunehmendem Umfang und wachsender Differenzierung anspruchsvoller wurde und eigener Regeln bedurfte. Die Wissenschaft nahm sich dieser Fragen an und legte zu den einzelnen Sachgebieten meist praxisbezogene Monographien vor. Sie unternahm aber auch Zusammenfassungen zu Systemen aller drei Bereiche der nun so genannten „Kameralwissenschaften“107, von denen die von Johann Heinrich Gottlob (v.?) Justi (1720? – 1771)108 und von Joseph v. Sonnenfels (1732? – 1817)109 einflußreich waren. Zu den Kameralwissenschaften gehörte, wie schon gesagt, auch die Statistik110, und sie hatte, wie in Teil II. dargelegt, darin eine erhebliche Bedeutung: Sie lieferte für die staatlichen Aktivitäten, be105 Markus A. Denzel / Jean Claude Hocquet / Harald Witthöft (Hrsg.), Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom späten Mittelalter bis zum beginnenden 20. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 163), Stuttgart 2002. 106 In die frühe Neuzeit fällt bei den Einkünften des Staates schlagwortartig verkürzt der allmähliche Übergang vom Domänen- zum Steuerstaat. 107 Dieser, von der fürstlichen Schatzkammer (camera) als dem zentralen Bestandteil der auf den Staat bezogenen Aktivitäten (besonders der Finanzen) hergeleitete Begriff, war und ist wohl der am häufigsten verwendete. In der Literatur finden sich aber auch andere. 108 Johann Heinrich Gottlob (von) Justi, Kurzer systematischer Grundriß aller Oeconomischen und Cameralwissenschaften, in: ders., Gesammelte Politische und Finanzschriften, Bd. 1 und 2, Kopenhagen / Leipzig 1761 (zusammengefaßt abgedruckt in: J. Burkhardt / B. P. Priddat (Hrsg.), Geschichte (Anm. 102), 216 – 324). 109 Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Policey, Handlung und Finanzwissenschaft, zum Gebrauch seiner akademischen Vorlesungen, hier die Ausgabe: München 1787. 110 Aus der Literatur seien neben Burkhardt (Anm. 102) genannt: Rüdiger vom Bruch, Zur Historisierung der Staatswissenschaften. Von der Kameralistik zur historischen Schule der Staatswissenschaften, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8 (1985), 131 – 146; Ferdinand Felsing, Die Statistik als Methode der politischen Ökonomie im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1930; H. G. Herrlitz / H. Kern, Göttinger Sozialwissenschaften (Anm. 15); Pasquale Pasquino, Politisches und historisches Interesse. Statistik und historische Staatslehre bei Gottfried Achenwall (1719 – 1772), in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Erich Bödeker u. a., 2. Aufl. Göttingen 1992, 144 – 168; Gabriella Valera, Statistik, Staatengeschichte, Geschichte im 18. Jahrhundert, in: ebd., 119 – 143; M. Rassem / J. Stagl, Staatenkunde (Anm. 9); Norbert Waszek (Hrsg.), Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937 – 1986), St. Katharinen 1988.
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sonders bei den Finanzen, die empirische Grundlage. Ein Beispiel bietet das Fabriksystem von Friedrich II., das auch auf der Gewerbe- und der Außenhandelsstatistik beruhte. Die Kameralwissenschaften differenzierten sich im Laufe des Jahrhunderts stark aus und bildeten so ein „Fächersystem“111, aus dem im 19. Jahrhundert bis heute bestehende selbständige Einzelfächer (darunter Statistik) entstanden. Einen neuen Ansatz brachten um 1800 die Lehren von Adam Smith. Sie lagen auch in Deutschland im Zuge der Zeit und wurden daher erstaunlich schnell übernommen112. Allerdings verdrängten sie die Kameralwissenschaften nicht völlig. In den Lehrbüchern und in der Forschung lebten sie, freilich meist in Verbindung mit den neuen Lehren, weiter und bildeten einen wesentlichen Teil des „deutschen Weges“ der Volkswirtschaftslehre im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. 3. Für Preußen bemerkte Burkhardt eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Entwicklung der Ökonomie hin zu einer relativ einheitlichen Wissenschaft und dem Weg der preußischen Verwaltung zwischen um 1650 und um 1800113. Eine Betrachtung der preußischen Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte in dieser Zeit bestätigt das114. Die großen Wirtschaftszweige Landwirtschaft, Gewerbe, Handel und die Staatsfinanzen waren bestimmten Behörden zugeordnet, und diese entfalteten bisweilen einen Ressortegoismus, der dem Ganzen gefährlich zu werden drohte. In der Zusammenfassung zum Generaldirektorium 1722 / 23 sieht Burkhardt eine Entsprechung zu den auf Vereinheitlichung gerichteten Tendenzen in den Kameralwissenschaften, hält allerdings eine genauere Untersuchung für nötig115. Auch mir scheint eine solche sinnvoll, denn Korrespondenzen zwischen dem wissenschaftlichen und dem realgeschichtlichen Bereich gehören 111 Hans Erich Bödeker, Das staatswissenschaftliche Fächersystem im 18. Jahrhundert, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1985, 143 – 162. Dazu auch: Keith Tribe, Governing Economy. The Reformation of German Economic Discourse 1750 – 1840, Cambridge 1988. 112 Harald Winkel, Adam Smith und die deutsche Nationalökonomie 1776 – 1820. Zur Rezeption der englischen Klassik, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie V, hrsg. v. Harald Scherf, Berlin 1986, 81 – 109; Wilhelm Treue, Adam Smith in Deutschland. Zum Problem des „Politischen Professors“ zwischen 1776 und 1810, in: Deutschland und Europa. Festschrift für Hans Rothfels, Düsseldorf 1951, 101 – 133. Vgl. auch den Beitrag von Hans-Christof Kraus in diesem Band. 113 J. Burkhardt, Vollendung (Anm. 102), 179 – 181. 114 Wolfgang Neugebauer, Zur Staatsbildung Brandenburg-Preußens. Thesen zu einem historischen Typus, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 49 (1998), 183 – 194; ders., Zur neueren Deutung der preußischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert in vergleichender Sicht, in: Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1947. Eine Anthologie, hrsg. v. Otto Büsch und Wolfgang Neugebauer, Bd. 2, Berlin / New York 1981, 541 – 597. 115 J. Burkhardt, Vollendung (Anm. 102), 180 f. (mit Anm. 31).
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zu den diffizilen Problemen, bei denen Vorsicht am Platze ist und Fehldeutungen leicht möglich sind116. Bei der Diskussion dieser Fragen darf der agrarisch geprägte Charakter der preußischen Wirtschaft in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm I. nicht übersehen werden117. Er führte geradezu zwangsläufig zu einer Betonung der Landwirtschaft in Verwaltung und Wissenschaft und ließ ein Gleichgewicht mit Gewerbe und Handel nicht entstehen (deren Stunde schlug erst unter Friedrich II.). Auch die mit Recht oft hervorgehobene Einrichtung von Lehrstühlen für „Oeconomie, Policey und Cammer-Sachen“ in Halle und Frankfurt / Oder118 kann nur eingeschränkt als Gegenargument gelten, denn an ihnen stand die Ausbildung für den Dienst als Amtleute auf den Domänen und für andere überwiegend agrarische Tätigkeiten im Vordergrund. So betonte der Kanzler der Universität Halle, Johann Peter (v.) Ludewig (1670 – 1743) in seiner Rede auf die neue Professur119 die Landwirtschaft als Lehrinhalt, während Gewerbe und Handel eher am Rande blieben. Der erste Inhaber des Lehrstuhls in Halle, Simon Peter Gasser (1676 – 1745), stellte in seinen ersten Veröffentlichungen120 die Domänen und deren Verwaltung und Bewirtschaftung in den Mittelpunkt. Sein Kollege in Frankfurt, Justus Christoph Dithmar (1678 – 1737)121, legte dagegen ein umfassenderes System vor, das den Gesamtbereich der Kameralia ansprach. Das entsprach der weiteren Entwicklung dieser Wissenschaft122, in der ihre Ursprünge 116 Karl Heinrich Kaufhold, „Wirtschaftswissenschaften“ und Wirtschaftspolitik in Preußen von um 1650 bis um 1800, in: Karl Heinrich Kaufhold / Bernd Sösemann (Hrsg.), Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung in Preußen. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Preußens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 148), Stuttgart 1998, 51 – 72 bietet einen Beleg für diese Probleme. 117 Zum ebenfalls agrarisch bestimmten Denken des Königs immer noch lesenswert: W. Roscher, Nationalökonomie (Anm. 39), 359 – 371. 118 Ebd., 371 – 376, 431 f.; J. Brückner, Staatswissenschaften (Anm. 101), 60 – 73; J. Burkhardt, Vollendung (Anm. 102), 181. 119 J. Burkhardt / B. P. Priddat, Geschichte, Textauswahl 143 – 180, Kommentar 777 – 795. Zu Ludewig: NDB Bd. 15, 293 f. 120 Simon Peter Gasser, Programma publicum oder Nötiger Vorbericht von der von Ihro Kgl. Majestät in Preußen auf der Universität Halle fundierten Profession über die oeconomischen Cameral- und Policeywissenschaften, Halle 1728; ders., Einleitung zu den Oeconomischen, Politischen und Cameral-Wissenschaften, worinnen für dieses Mal die Oeconomica-Cameralia von den Domänen- oder Kammergütern auch anderen Gütern, deren Administration und Anschlägen, sowohl des Ackerbaus als anderer Pertinentien halber, samt den Regalien angezeiget und erläutert werden, Halle 1729; J. Brückner, Staatswissenschaften (Anm. 101), 66 f. 121 J. Brückner, Staatswissenschaften (Anm. 101), 67 – 73; von ihm: Entwurff der königlich Preußischen und Chur-Brandenburgischen Staatswissenschaft zu mehrerer Erklärung der darüber haltenden Lextionen, Frankfurt / O. 1750; Einleitung in die Oeconomische Policey- und Cameral-Wissenschaften, Frankfurt / O. 1748. 122 Sein in Anm. 121 genanntes Lehrbuch erlebte sechs Auflagen.
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mehr und mehr verschmolzen123, während auf der anderen Seite, wie oben gesagt, Spezialisierungen in und auf Teilgebieten nicht ausblieben. Die Statistik spielte in diesem Prozeß eine bedeutende Rolle, die freilich nach außen hin nicht stark hervortrat und daher in der Literatur meist nur am Rande erwähnt wird. Auch in der Praxis von Studium und Prüfung für den Staatsdienst stand die Statistik nicht im Vordergrund, sondern spielte nach Straubel124 die Rolle einer „Hilfswissenschaft“. Die Mehrzahl der späteren preußischen Räte hatte Jura studiert, oft in Verbindung mit Kameralistik oder Philosophie. Dagegen belegten von 275 Studenten, für die Angaben vorliegen, lediglich 20 Statistik. Nicht auszuschließen ist freilich, daß im Rahmen des Kameralistikstudiums auch statistische Veranstaltungen besucht wurden, doch ist darüber nichts Näheres bekannt. Über die Bedeutung der Statistik für die Wissenschaft und vor allem für den Staat sagt das wenig aus. Denn für jede ernsthafte Beschäftigung mit wirtschaftlichen Themen war sie unentbehrlich, wenn man nicht im Unbestimmten und Spekulativen bleiben wollte. Sie war ein – allerdings gelegentlich unvollkommener – Spiegel der Realität, ohne den die Herrscher nicht aus ihrem Kabinett heraus regieren konnten. So trug sie zur „inneren Staatsbildung“ Preußens, die wegen dessen Vielgestaltigkeit in jeder Hinsicht schwierig war, einen wesentlichen Teil bei. Der einleitend zitierte sprachliche Zusammenhang zwischen Staat und Statistik wurde hier gelebt, in der Praxis von Herrscher und Verwaltung, doch auch in der Wissenschaft. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts wandelte sich die Statistik zunehmend zu einer eigenständigen Wissenschaft, die zwar weiter dem Staat diente, die aber ihre Frage- und Aufgabenstellungen auch und zunehmend aus sich selbst gewann. Sie blieb empirisch orientiert, schuf sich aber wachsend verfeinerte und leistungsfähigere Methoden. Im Kreise der „wirtschaftlichen Staatswissenschaften“, um den Begriff des 19. Jahrhunderts zu verwenden, wurde sie damit ein unentbehrliches Glied, das Arbeits- und Wissensfelder erschloß, die sonst verborgen geblieben wären125. Bis dahin war es ein weiter Weg gewesen, den sie gemeinsam mit dem frühmodernen Staat und der werdenden Wirtschaftswissenschaft gegangen war. 123 Zu diesem differenzierten Prozeß klar und knapp H. Maier, Staats- und Verwaltungslehre (Anm. 101), besonders 170 – 181. 124 Rolf Straubel, Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverläufe, Entscheidungsprozesse (1763 / 86 – 1806) (Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 2), Potsdam 1998, 50 – 56, Zitat 55. Vgl. auch Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972. 125 H. Kern, Sozialforschung (Anm. 6), passim.
Preußische Außenpolitik vor 1806 und ihre finanziellen Dimensionen Von Peter Baumgart, Würzburg
Eine ursachenanalytische Erörterung der preußischen Außenpolitik im Vorfeld der Katastrophe bei Jena und Auerstedt (14. Oktober 1806) muß sicherlich bis zum Frieden von Basel (5. April 1795), wohl aber noch weiter bis zum Abschluß der für die Zeitgenossen überraschenden Konvention von Reichenbach (27. Juli 1790) als einem Wendepunkt preußischer Außenpolitik zurückgreifen, sie sollte mehrperspektivisch und multikausal angelegt sein. Keinesfalls lässt sie sich auf eine bloße Finanzhistorie reduzieren, sofern denn die finanziellen Dimensionen quellenmäßig überhaupt durchgehend faßbar sind. Dies ist offenbar nur in sehr begrenztem Umfang, nur punktuell der Fall, wie sich nach meinen allerdings bisher nur partiellen Recherchen in den Beständen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz ergibt. Man kann sich nicht auf die zwar reichlich überlieferten und meist penibel geführten, aber doch nur sehr begrenzt aussagekräftigen Rechnungsbücher, auf die Aufstellungen der Kosten für die diversen Mobilmachungen und den Unterhalt ganzer Armeen oder einzelner Truppenkontingente während der Koalitionskriege und der polnischen Feldzüge seit 1792 (zur Sicherung der neuen Ostprovinzen aus den Teilungen) beschränken1. Es ist auch nicht zureichend, das rasche Schrumpfen des preußischen Staatsschatzes (Tresors) seit der spätfriderizianischen Zeit und die oft vergeblichen Bemühungen um Inlands- wie Auslandskredite zur Finanzierung der bekanntlich außerordentlich hohen Heeresgesamtkosten zu verfolgen2. Will man sich also 1 Durchgesehen wurden in Berlin Akten aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) mit den Signaturen: II. Hauptabt. (HA) Generaldirektorium (GD), Abt. 4 Generalkassensachen, Titel 59 Hauptfeldkriegskasse Nr. 2, 3, 4, 6; Titel 61, Nr. 1, 2, 3, 10; Titel 67 Generalkriegskasse Nr. 1, 2, 3, 5; Titel 54 a, Nr. 1, 2, 3; Titel 55, Nr. 1, 2; Titel 58, Nr. 22, 23; Titel 60 Ordres-Bücher an die Hauptfeldkriegskasse, Nr. 1, 2, 3; Titel 61, Nr. 10; Titel 65, Nr. 42. 2 Durchgesehen wurden dazu Akten aus dem GStA PK I. HA, Rep. 163 Tresorakten und Rechnungen, I Nr. 181, Nr. 188, Nr. 198, III Nr. 39; dazu GStA PK, I. HA Rep. 151 Finanzministerium, IC Nr. 2785, Nr. 2786, Nr. 2787; ferner GStA PK I. HA Rep. 96 Geheimes Zivilkabinett, ältere Periode (bis 1797), Nr. 255 J1, Nr. 258A, Nr. 258B (Akten des Kabinetts Friedrich Wilhelms II.); Rep. 96 A Geheimes Zivilkabinett, ältere Periode (ab 1797), Nr. 68 S5, Nr. 68 D u. a.
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nicht mit derartigen Rechenoperationen und Zahlenbilanzen begnügen, sondern einen quellengestützten Nachweis des Zusammenhangs zwischen Finanzproblemen des preußischen Staates und konkreten Weichenstellungen seiner Außenpolitik im Untersuchungszeitraum führen, so scheint dies (nach dem bisherigen Kenntnisstand) nur punktuell aufgrund einzelner Quellenfunde möglich zu sein. Die Arcana der Außenpolitik sowohl unter Friedrich Wilhelm II. wie unter seinem Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm III. blieben in aller Regel einem engen Kreis ausgewählter Berater, darunter Kabinettsbeamten und Militäradjutanten, vorbehalten, zu dem die Fachminister des Auswärtigen nicht unbedingt gehörten. Und in diesem Zirkel, dem Bereich der neuerdings so genannten „high politics“ (B. Simms)3, in dem Finanzfragen nur eine nachgeordnete Rolle spielten, blieben die beiden Monarchen ängstlich misstrauisch auf ihre letzte Entscheidungsgewalt bedacht. Eine auf die Finanzierung der Außen- und der korrelierenden Militärpolitik beschränkte Interpretation lässt sich unter derartigen Bedingungen und von der gegebenen Quellenbasis her – soweit ich sehen kann – nicht oder allenfalls bruchstückhaft realisieren. Sie ist aber ebenso von der Sache her als „Reduktionshistorie“ nicht zu rechtfertigen4: Zwar ist es eine methodische Selbstverständlichkeit, die preußische Außenpolitik vor und nach 1800 nicht isoliert zu betrachten, sondern unter Beachtung der schon von Otto Hintze hervorgehobenen Interdependenz zwischen Staats- und Heeresverfassung ihre Möglichkeiten auszuloten5; aber dabei bleibt zu beachten, daß die außenpolitischen Handlungsspielräume der regierenden Monarchen keineswegs allein oder vorrangig von den finanziell-materiellen Ressourcen ihres Staatswesens bestimmt wurden. Vielmehr gelangten dabei andere subjektive wie objektive Faktoren zur Geltung, die bei der Analyse zu berücksichtigen sind: Dazu gehören zumal im politischen System des Spätabsolutismus die besondere Persönlichkeitsstruktur des regierenden Monarchen wie seiner maßgeblichen Berater, ferner unter den objektiven Bedingungen des Staatswesens die zumeist wenig beachteten geopolitischen 3 Brendan Simms, The impact of Napoleon. Prussian high politics, foreign policy and the crisis of the executive, 1797 – 1806, Cambridge 1997, 12 ff., der zugleich „the primacy of foreign policy“ betont, die eben im „antechamber of power“, das nicht umgangen werden konnte, diskutiert und ausformuliert wurde. Zur Rolle der Kabinettsminister vgl. auch Reinhold Koser, Die preußische Politik von 1786 bis 1806, in: ders., Zur preußischen und deutschen Geschichte. Aufsätze und Vorträge, Berlin 1921, 202 – 268 ff., hier 220 ff. 4 Typisch dafür Eckart Kehr (Bearb.), Preußische Finanzpolitik 1806 – 1810. Quellen zur Verwaltung der Ministerien Stein und Altenstein, hrsg. v. Hanna Schissler und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1984. 5 Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung (1906), in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1970, 52 – 83.
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Gegebenheiten der preußischen Monarchie, eines auch nach den Erwerbungen von 1803 (der „Entschädigungslande“) wenig homogenen Staates in geographisch ungeschützter Mittellage zwischen den östlichen und westlichen Flügelmächten Europas6. Diese Gesichtspunkte sollten daher neben einer bloßen Kosten-NutzenAnalyse der preußischen Kriegsführung im Ersten Koalitionskrieg und bei den wiederholten teuren Mobilmachungen im Zeichen einer strikten Neutralitätspolitik während des darauf folgenden Jahrzehnts bis 1805 / 06, jedenfalls bis zur Wende von Austerlitz, im Vordergrund der nachfolgenden Überlegungen stehen. Unter derartigen Prämissen möchte ich mein Referat dreifach untergliedern, nämlich in einen Abriß der preußischen Außenpolitik zwischen der Reichenbacher Konvention von 1790 und dem Ersten Koalitionskrieg 1792 bis 1795, der in eine quellennahe Analyse des Zusammenhangs der Finanzkrise der Jahre 1794 / 95 und des umstrittenen Baseler Friedensschlusses mündet; dabei kann konkret der Nachweis geführt werden, dass eine weitreichende außenpolitische Richtungsentscheidung, nämlich Preußens Ausscheren aus der inzwischen großen antirevolutionären Koalition der alten europäischen Monarchien wesentlich durch die Finanzlage ausgelöst wurde. Dem schließt sich ein Überblick der strikten Neutralitätspolitik Friedrich Wilhelms III. bis 1805 / 1806 an, und zwar unter Beachtung der gerade skizzierten Gesichtspunkte. I. Die preußische Außenpolitik nach 1786, am Vorabend der Französischen Revolution, stand zunächst noch ganz im Zeichen spätfriderizianischer Grundsätze und Ziele: Ewald Friedrich Graf (seit 1787) Hertzberg (1725 – 1795), der bei Friedrich Wilhelm II. anfangs eine dominierende Beraterstellung einnahm, verkörperte als Kabinettsminister (Außenminister) in seiner antiösterreichischen und im Grunde frankophilen, der Revolution gegenüber zunächst aufgeschlossenen Haltung den bisherigen Kurs, obschon er das flüchtige kurzzeitige preußisch-englische Bündnis vom August 1788 herbeiführte. Sein auf preußischen Territorialgewinn in Polen (Danzig und Thorn) abzielender „großer Tauschplan“, der neben Österreich auch das Rußland Katharinas II. und das mit ihnen im Kriegszustand befindliche Osmanische Reich einbezog, trug allerdings stark chimärische Züge7. Als 6 Geopolitische Akzente bei B. Simms, The impact of Napoleon (Anm. 3), 8 ff.: „a remarkable renaissance in recent years“, u. a. auch in Deutschland, etwa bei Gregor Schöllgen, Die Macht in der Mitte Europas. Stationen deutscher Außenpolitik von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart, München 1992. 7 Vgl. etwa mit weiterer Literatur Harm Klueting, Ewald Friedrich von Hertzberg – preußischer Kabinettsminister unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II.,
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außenpolitischer Chefberater wurde er jedoch zunehmend verdrängt durch den Rosenkreuzer und königlichen Generaladjutanten Johann Rudolf von Bischoffwerder (1741 – 1803), der seit dem Regierungsantritt Leopolds II. in Österreich im Februar 1790 die Verbindungen nach Wien knüpfte8. Leopold II. betrieb während seiner kurzen Regierung eine weitaus pragmatischere und flexiblere, nüchtern interessenbezogene Außenpolitik als sein Bruder Joseph II. und der langjährige Staatskanzler Fürst Kaunitz, schon mit Rücksicht auf die enormen innenpolitischen Probleme der Habsburgermonarchie, die sein staatsdoktrinärer Vorgänger hinterlassen hatte. Unter Verzicht auf bisherige Zielsetzungen gegen das Osmanische Reich war er deshalb auch zu einer Normalisierung der Beziehungen zum preußischen Hauptgegner bereit. Im Juli 1790 (27.7.) kam es deshalb bekanntlich zu der für die zeitgenössischen Beobachter überraschenden Konvention von Reichenbach. Sie sollte jedenfalls vorübergehend den kriegerischen Dualismus der beiden deutschen Vormächte durch ein friedliches Miteinander ersetzen, und zwar unter Abkehr von den bisherigen Allianzen und Politikern. Allerdings dauerte es bei schwierigen Verhandlungen unter andauerndem Mißtrauen beider Seiten noch bis zum Februar 1792, ehe aus dieser Annäherung eine Defensivallianz der beiden Mächte entstehen konnte9; diese trug nunmehr angesichts der zunehmenden Radikalisierung in Frankreich und der massiven Gefährdung des Throns der Bourbonendynastie deutlich antirevolutionäre Züge. Indessen wollten weder Preußen noch Österreich zu diesem Zeitpunkt einen Krieg gegen das revolutionäre Frankreich führen, schon gar nicht aus in: Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen, hrsg. v. Johannes Kunisch (Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte, Bd. 9), Köln / Wien 1988, 135 – 151 ff., bes. 145 ff.; daneben die eigenwillige Interpretation bei Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776 – 1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 38), Wiesbaden 1967, bes. 212 ff., 240 ff. 8 Vgl. R. Koser, Die preußische Politik (Anm. 3), 212 f., 229 f., 226 f., zur Rolle Bischoffwerders schon Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, Berlin 1915 u. ö., 406; Grundzüge der Außenpolitik ebd., 414 ff. – 1791 wurden neben Hertzberg und dem langjährigen Minister Grafen Finck von Finckenstein Friedrich Wilhelm von der Schulenburg und Philipp Karl von Alvensleben zu Kabinettsministern ernannt; im Sommer des Jahres zog sich Hertzberg von den auswärtigen Geschäften gänzlich zurück. 9 Willy Real, Von Potsdam nach Basel. Studien zur Geschichte der Beziehungen Preußens zu den europäischen Mächten vom Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. bis zum Abschluß des Friedens von Basel, Basel 1958, hier 21 ff.; Würdigung schon bei O. Hintze, Hohenzollern (Anm. 8), 416; knappe, aber prägnante Charakteristik bei Kurt von Raumer, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Deutschland um 1800: Krise und Neugestaltung. Von 1789 bis 1815 (Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 3 / 1), Wiesbaden 1980, hier 80 f. u. 83 ff., dort auch zu Hertzberg, der die Reichenbacher Verhandlungen noch führte.
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ideologischen Gründen, obschon gerade dem ritterlichen Kavalier Friedrich Wilhelm II. Gefühle der monarchischen Solidarität im alten Europa nicht abgesprochen werden können10. Die Verteidigung des Legitimitätsprinzips besaß bei ihm Vorrang vor der antiösterreichischen Tradition. Aber dieses alte Europa verweigerte sich dem Aufruf zur Solidarität. Die Pillnitzer Erklärung vom 27. August 1791 blieb ohne Resonanz, während die Aufmerksamkeit der beiden notfalls zum Kriege entschlossenen Mächte unterdessen wieder auf den ostmitteleuropäischen Schauplatz gelenkt wurde11. Dort intervenierte Kaiserin Katharina II. nach der Einführung der Mai-Verfassung 1791 in Polen, um die labile Adelsrepublik vollends russischer Herrschaft zu unterwerfen, während die kaum minder interessierten Bündnispartner im Westen gebunden blieben. Denn nicht Österreich und Preußen, sondern das girondistisch gelenkte Frankreich ließ nach einem vorausgehenden Ultimatum durch König Ludwig XVI. dem „König von Böhmen und Ungarn“, inzwischen schon Franz II., am 20. April 1792 den Krieg erklären12. Dieser erste Koalitionskrieg stand ähnlich wie die folgenden antirevolutionären und antinapoleonischen Kriege eigentlich von Beginn an im Zeichen der Uneinigkeit über die Ziele und der Nichtsolidarität unter den Alliierten. Er war geprägt vom Misstrauen der beiden kriegführenden Mächte untereinander wie gegenüber Rußland, das sich statt in Frankreich in Polen engagierte, aber auch gegenüber der Seemacht England. Der schlecht vorbereitete Krieg wurde mit unzureichenden Kräften auf breit auseinander gezogenen Fronten ohne wirkliche Koordination geführt13. Preußen bot dafür nur etwa ein Viertel seiner Streitkräfte auf, das preußische Kontingent umfaßte anfangs ca. 46.000 Mann Kampftruppen, während die gegenseitigen Hilfeleistungen der Bündnispartner sich nach 10 Zu den Motiven der Monarchen und den Kriegsgründen zusammenfassend K. v. Raumer, Deutschland um 1800 (Anm. 9), 81 f., 84 ff., 87 ff.; biographische Skizze zuletzt von David E. Barclay, Friedrich Wilhelm II. (1786 – 1797), in: Preußens Herrscher, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, Taschenbuchausgabe München 2006, 179 – 196. 11 Ebd., 86 f.; zur Situation in Polen neben der Interpretation von Michael G. Müller, Die Teilungen Polens 1772. 1793. 1795, München 1984, nach wie vor Gotthold Rhode, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965, 306 ff., bes. 315 ff.; daneben die in Polen selbst geschätzte knappe Darstellung des Engländers Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, 2. Aufl. der deutschen Übersetzung München 2001, 277 ff. 12 Nach dem frühen Tod Kaiser Leopolds am 1. März 1792; relativ positive Charakteristik des Nachfolgers bei Walter Ziegler, Franz II. 1792 – 1806, in: Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918, hrsg. v. Anton Schindling / Walter Ziegler, München 1990, 289 – 306, hier 293 f. 13 Vgl. W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 41 ff.; aus preußischer Perspektive Curt Jany, Geschichte der Königlich Preußischen Armee bis zum Jahre 1807 (3 Bde., Berlin 1928 / 29), hrsg. v. Eberhard Jany, Bd. 3, 2. Aufl. Osnabrück 1967, 236 ff.
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den Verträgen sogar auf je 20.000 Mann beschränkten. Den Oberbefehl über die Invasionsarmee erhielt der eher zögerlich und konzeptionslos agierende 58jährige Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig (1735 – 1806), dessen militärische Qualitäten wohl allseits überschätzt wurden, während er selbst wie die Verbündeten allgemein den französischen Gegner und seine zunehmend revolutionäre Kriegführung unterschätzte14. Die „klassische“ Manöverstrategie des Braunschweigers mündete bekanntlich nach der berühmten Kanonade von Valmy (20. 9. 1792) in einen Rückzug. Dieser brachte zwar noch keine Entscheidung, wohl aber leitete er eine Wende des Feldzugs ein, der nun in einen langwierigen, zermürbenden und kostspieligen Ermattungskrieg überging, der ungeachtet vorübergehender Erfolge der Verbündeten immer aussichtsloser wurde. Die Franzosen konnten rasch eine Reihe von Kriegserfolgen erzielen, und zwar nicht nur in Belgien, den bisherigen österreichischen Niederlanden, oder in Savoyen, sondern auch auf Reichsboden, in der Pfalz, am Mittel- und Niederrhein, während das militärische Engagement der Verbündeten deutlich nachließ und die übrigen betroffenen Reichsstände weitgehend passiv blieben, das Reich insgesamt sich überhaupt erst auf preußisch-österreichisches Drängen im März 1793 zum Reichskrieg gegen das revolutionäre Frankreich verstand15. Unterdessen machte Preußen erneut Entschädigungsansprüche auf polnisches Territorium geltend und leistete so unter Abkehr von älteren Vertragsverpflichtungen gegenüber der Adelsrepublik16 den Teilungsplänen Katharinas II. Vorschub. Der Petersburger Traktat vom 23. Januar 1793 leitete die Zweite Teilung Polens ein, bei der Österreich zunächst übergangen wurde. Dieser unfreundliche Akt gegenüber Franz II. als Rivalen in Polen löste eine tiefgreifende Entfremdung zwischen den Alliierten aus, deren Armeen wenig koordiniert an der Rheinfront operierten. 14 Kurze Charakteristik bei K. v. Raumer, Deutschland um 1800 (Anm. 9), 92 f.; zugleich für das Folgende C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13), Bd. 3, 252 ff.; speziell zu Valmy: Hermann Voges, Die Kanonade von Valmy am 20.IX.1792, in: Jahrbuch des Braunschweigischen Geschichtsvereins 2. Folge, 3 (1930), 39 ff.; auch Johannes Ziekursch, Zur Geschichte des Feldzugs in der Champagne von 1792, in: FBPG 47 (1935), 20 ff.; Selma Stern, Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission Hannover u. a., Bd. 6), Hildesheim / Leipzig 1921. 15 Neben W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 69 f., sehr ausführlich K. O. Frhr. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich (Anm. 7), 262 ff., der von einem „Eroberungskrieg Preußens und Österreichs gegen Frankreich“ spricht (!); nach K. O. Frhr. v. Aretin ist es zu einer förmlichen Reichskriegserklärung gar nicht gekommen (273)! 16 Preußisch-polnisches Bündnis vom 29. 3. 1790, das ein Ende der Kooperation der Teilungsmächte zu bringen schien, aber durch die Reichenbacher Konvention vom Juli für Preußen sofort wieder bedeutungslos wurde. Vgl. G. Rhode, Kleine Geschichte Polens (Anm. 11), 319 f.
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Die Verschlechterung der Beziehungen, die ein baldiges Ende des mühsam seit 1790 errichteten Allianzsystems erwarten ließ, spiegelte sich im Verlauf des Feldzugs des Jahres 1793 deutlich wider17. Dieser brachte den Verbündeten zwar Teilerfolge, u. a. die wesentlich unter preußischer Beteiligung erfolgte vorübergehende Rückeroberung der Reichsfeste Mainz im Juli. Dann aber reüssierten die inzwischen reorganisierten, auf die Gewinnung der Rheingrenze fixierten französischen Revolutionstruppen, nicht zuletzt wegen der langsamen und unflexiblen Operationen des Herzogs von Braunschweig, dem von österreichischer Seite Verschleppung und Verzögerung vorgeworfen wurden. Erschwerend kam jetzt hinzu, daß die preußische Seite auf diplomatischer Ebene von den Verbündeten finanzielle Unterstützung für die weitere Teilnahme ihrer Truppen an den Feldzügen verlangte und sich andernfalls auf ein Vertragskontingent von 20.000 Mann als bloße „Hilfsmacht“ beschränken wollte. Preußen forderte also Subsidien zur Fortsetzung des Krieges, dazu zwang den Monarchen die inzwischen außerordentlich prekäre Lage der Staatsfinanzen18. Friedrich Wilhelm II., der auf monarchische Solidarität und Bündnistreue setzte, zögerte lange, ehe er sich zu diesem Schritt entschloß, aber er mußte sich schließlich den Argumenten seiner außen- und finanzpolitischen Berater beugen, die ihm mit dem Staatsbankrott drohten. Um ein Ausscheiden Preußens aus der inzwischen erweiterten Koalition dennoch zu verhindern, erklärte sich die britische Regierung schließlich im Frühjahr 1794 nach zähen Verhandlungen doch noch zur Zahlung von Subsidien bereit, knüpfte sie aber an die Bedingung, daß die preußischen Armeen auf den von den Seemächten bestimmten Kriegsschauplätzen „im Norden“, also am Niederrhein und in Belgien, operieren müßten, statt wie bisher am Mittelrhein und in Westfalen. Dies jedoch lehnte der inzwischen anstelle des auf eigenen Wunsch ausgeschiedenen Herzogs von Braunschweig zum Oberbefehlshaber ernannte Feldmarschall Wichard Joachim Heinrich von Möllendorff kategorisch ab, sowohl aus strategischen wie aus „reichspatriotischen“ Gründen19. Der österreichische Verbündete in Wien, wo inzwischen der dezidiert antipreußische Minister Thugut den eher ausgleichsbereiten Philipp Grafen Cobenzl in der Staatskanzlei abgelöst hatte, lehnte derartige Subsidien an Preußen entschieden ab; er verwies den Partner an das Reich und den 17
Vgl. C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13) Bd. 3, 259 ff., 264 ff., 270 ff. W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 85 ff., dort auch zu den Staatsfinanzen, genaueres weiter unten; Haltung des Monarchen bei Paul Bailleu, Friedrich Wilhelm II. und die Genesis des Friedens von Basel, in: HZ 75 (1895), 237 – 275. 19 Zu den langwierigen Subsidienverhandlungen W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 86 ff., ferner C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13) Bd. 3, 282 ff., bes. 286 f. 18
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Reichstag in Regensburg20, wo der preußische Gesandte Graf Görtz über die Zahlungen von Verpflegungskosten für die preußische Rheinarmee verhandelte. Unterdessen sollte der Minister für die fränkischen Territorien, Graf Hardenberg, in Frankfurt am Main mit den Vertretern der sechs Vorderen Reichskreise konferieren und ihnen ein Neutralitätsabkommen mit der Französischen Republik schmackhaft machen, mithin preußische Reichspolitik gegen Österreich betreiben, das seinerseits neben der hartnäckigen Verfolgung seiner bayerisch-belgischen Tauschpläne Entschädigungsansprüche auf Ansbach-Bayreuth geltend gemacht hatte. Die Nachricht vom Befehl zum Abmarsch der preußischen Truppen vom Mittelrhein21 nach Westfalen (11. / 13. März 1794) alarmierte die Reichsstände in Regensburg, jedoch führten die mühseligen Verhandlungen über eine Teilfinanzierung des preußischen Kontingents ebenso wenig zu einem befriedigenden Ergebnis wie die Beratungen über eine tatsächliche Bereitstellung der vom Reichstag zum Reichskrieg bewilligten Mittel. Allerdings konnte die weitere preußische Teilnahme an der Kampagne des Jahres 1794 vorerst doch noch durch die Bewilligung britischer Subsidien in Höhe von umgerechnet ca. 10,5 Mill. Friedrich d’or durch den Haager Traktat vom 19. April gesichert werden22. Möllendorffs Hauptarmee, deren Abzug bereits am 30. März gestoppt worden war, blieb jedoch ungeachtet der Subsidienbedingungen am Mittelrhein stehen. Auf beiden Frontabschnitten gleichzeitig zu operieren, überstieg die preußischen Kapazitäten: Statt der geforderten 100.000 wurden nur ca. 62.000 Mann gestellt. Die Krise wurde mithin nur vertagt, nicht beseitigt, zumal der Ausbruch des „polnischen Aufstandes“ im Frühjahr eine neue kostspielige Front im Osten eröffnete, die einen unerwarteten Truppeneinsatz erforderte23. König Friedrich Wilhelm persönlich begab sich daher im Frühsommer 1794 an die 20 Vgl. K. O. Frhr. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich (Anm. 7), 274 ff. auch zu den österreichischen Entschädigungsforderungen; Cobenzl wurde am 27. 3. 1793 von Johann Amadeus Freiherr von Thugut abgelöst, dessen Charakteristik durch K. O. Frhr. v. Aretin: „Insbesondere für das Reich war das Dreigestirn Kaiser Franz – (Franz Graf) Colloredo – Thugut von verheerenden Folgen“ (276); Regensburger Verhandlungen auch übersichtlicher bei W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 89 ff. 21 C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13), Bd. 3, 284 ff. 22 Vgl. P. Bailleu, Friedrich Wilhelm II. und die Genesis (Anm. 18), 244 f.; die Verhandlungen im Haag führte Graf Haugwitz, siehe auch Anm. 19; ferner Martin Philippson, Geschichte des preußischen Staatswesens vom Tode Friedrich des Großen bis zu den Freiheitskriegen, Bd. 2, Leipzig 1882, 93 ff. 23 Vgl. G. Rhode, Kleine Geschichte Polens (Anm. 11), 323 ff.; dazu W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 99 ff. Aus der Sicht des damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (III.) Schilderung des Feldzugs in Polen bei Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, 90 ff., vorher im Westen 60 ff.
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Weichselfront, während er den westlichen Kriegsschauplatz ganz dem Feldmarschall v. Möllendorff überließ. Dieser blockierte die von den Alliierten dort für das Jahr 1794 geplanten umfangreichen Operationen, überwarf sich mit den Mitbefehlshabern und fädelte ohne vorheriges Einverständnis seines Monarchen eigenmächtig Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit den französischen Revolutionären ein24. Der damals bereits 70jährige General und Habsburggegner machte sich damit zum Fürsprecher einer mächtigen Friedenspartei auch im Heer, wo es infolge der schleppenden und planlosen Kriegführung im Offizierkorps ohnehin gärte, während die Mißstimmung bei den Mannschaften wegen der teilweise katastrophalen Verhältnisse beständig zunahm. Die Friedenspartei plädierte für eine rasche Beendigung des Krieges im Westen25; er schien keine Perspektiven zu bieten, während im Osten große, obschon problematische Territorialgewinne winkten. Die Militärs wußten sich dabei in voller Übereinstimmung mit den zahlreichen Friedensfreunden in Berlin unter den Ministern, Dynasten und hohen Beamten, die, in friderizianischer Tradition frankophil und habsburgfeindlich eingestellt, die österreichische Allianz und den Kriegseintritt gegen Frankreich ohnehin mit großer Reserve begleitet hatten und nun ihre Skepsis voll bestätigt fanden. Sie traten deshalb für einen alsbaldigen Friedensschluß ein, sei es in Form eines Reichsfriedens, sei es als preußischer Sonderfrieden mit den französischen Revolutionären. Aber für einen derartigen, die Anerkennung der Revolution implizierenden Frieden, der ein Präzedenz im monarchischen Europa schuf, wollte sich Friedrich Wilhelm II. vorerst nicht gewinnen lassen. Daran hinderten ihn die für ihn selbstverständlichen Prinzipien der Legitimität und monarchischen Solidarität, seine Bündnis- und Reichstreue sowie ein drohender Ansehensverlust im Reich wie in Europa, schließlich sein persönliches Ehrgefühl. Deshalb sträubte sich der ansonsten Eingebungen seiner Umgebung eher leicht zugängliche Monarch lange gegen eine derartige außenpolitische Wende. Er konnte so auch seinen stets gehüteten monarchischen Letztentscheidungsanspruch behaupten. Erst die schier unlösbaren Finanzprobleme seines Staatswesens zwangen ihn schließlich zu einer Sinnesänderung 26. 24
Dazu C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13), Bd. 3, 288 ff. Ebd., 282 f., auch P. Bailleu, Friedrich Wilhelm II. (Anm. 18), 237 ff., 245 f. u. ö. – Zur Friedenspartei gehörten die Generäle v. Kalckreuth und v. Manstein, aber ebenso der nach seinem Rücktritt als Oberbefehlshaber in Berlin noch immer sehr einflußreiche Herzog von Braunschweig. 26 Haltung des Monarchen bei P. Bailleu, Friedrich Wilhelm II. (Anm. 18), 239, 247, 251 f. – Finanzkalamität: Neben W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 118 ff., ders., Die preußischen Staatsfinanzen und die Anbahnung des Sonderfriedens von Basel 1795, in: FBPG N.F. 1 (1991), H.1, 53 – 100 mit ausführlichem Aktenreferat der einschlägigen Überlieferung im GStA PK, I. HA, Nr. 258B (Akten des Kabinetts 25
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II. Im Eröffnungsjahr des Krieges gegen Frankreich 1792 bereitete die Finanzierung den Verantwortlichen offenbar noch keine größeren Probleme: Zwar lagen die reinen Einnahmen des Staatshaushalts mit über 18 Millionen Talern unter denen am Ende der Regierung des großen Vorgängers27, aber sie bildeten das Rückgrat auch der Kriegsfinanzierung, die von Friedrich Wilhelms Ministern Anfang 1793 auf 18 Mill. Tlr. pro Jahreskampagne geschätzt wurden28. Davon brachte die Generalkriegskasse 1792 mehr als 12 Mill. Tlr. auf, die um weitere 4,1 Mill. Tlr. aus der Generaldomänenkasse, der zweiten Hauptkasse für die Zivileinkünfte, aufgestockt werden mußten, wie dies schon regelmäßig vorher der Fall gewesen war. Weitere Zuschüsse sollten aus der von dem königlichen Günstling und Rosenkreuzer Johann Christoph Wöllner (1732 – 1800) geführten Dispositionskasse kommen, die auch unter Friedrichs II. Nachfolger eine zentrale Bedeutung behielt und deren genauen Bestand Wöllner geheim zu halten suchte29. Friedrich Wilhelms II.), die 1991 noch in Merseburg lagerten, die von mir jetzt (2006) im GStA PK eingesehen wurden; aus der älteren Literatur zur Finanzproblematik noch besonders M. Philippson, Geschichte des preußischen Staatswesens (Anm. 22), bes. Bd. 1, 392 ff., Bd. 2, 93 ff.: Der Krieg, die Staatsfinanzen und die ökonomische Frage. Die zweite polnische Erwerbung. 27 Nach der Tabelle bei Adolph Friedrich Riedel, Der Brandenburgisch-Preußische Staatshaushalt in den beiden letzten Jahrhunderten, Berlin 1866, Beilage Nr. XIX, lag „das gesamte reine Einkommen“ im Rechnungsjahr 1792 / 93 bei 18.194.879 Tlrn., 1793 / 94 bei 18.783.765 Tlrn.; demgegenüber wies der Staatshaushalt am Ende der Regierung Friedrichs II. knapp 20 Mill. Tlr. aus (1786 / 87 bei 19.689.144 Tlrn.) Beilage XIV, dazu 132. – Alle Zahlen müssen als Näherungswerte betrachtet werden. 28 Bericht der Minister Blumenthal, Heinitz u. Struensee an Friedrich Wilhelm II., Berlin 5. 2. 1793, (GStA PK I. HA Rep. 96 Geheimes Zivilkabinett, ältere Periode (bis 1797), Nr. 258B), Generalleutnant von Schulenburg habe „die außerordentlichen Kosten der Campagne“ auf monatlich 1 1/2 Mill. veranschlagt (vgl. dessen Bericht an den König, Berlin 20. 1. 1793), ebd.: Es werde „Oekonomie dazu gehören, wenn 1 1/2 Millionen monatlich reichen sollen“, seine Schätzung ein „ohngefährer Überschlag nach den Kosten der vergangenen Campagne“, die Kosten der „Campagne“ betrugen nach Schulenburg bis einschließlich Januar 1793 rund 13 Mill. Tlr. 29 Die Minister berichten, Minister Woellner als Verwalter des Dispositionsfonds habe ihnen zugesagt, „daß sie am Ende des Etatjahres auf 2 Millionen rechnen könnten“. Dazu Woellner an Friedrich Wilhelm II., Berlin 6. 2. 1793, ebd., kritisiert Schulenburg, empfiehlt dessen Ersetzung als Direktor des Kriegskommissariats sowie den Abzug des Monarchen mit dem größten Teil der Armee aus dem Westen „unter dem Vorwand näher an Pohlen zu sein“, „denn mit dem Leben des Königs von Frankreich hat das persönliche Interesse aufgehöret“. Dazu auch M. Philippson, Geschichte (Anm. 22), Bd. 2, 101 ff.: Woellner widersetzt sich einer Überprüfung der Dispositionskasse durch die Ministerkommission: „Das Geheimnis von Staatsüberschüssen“ muß gewahrt bleiben; der Staatshaushalt kann daher auch nicht gründlich reformiert werden. Jetzt auch: Rolf Straubel, Carl August von Struensee. Preußische Wirtschafts- und Finanzpolitik im ministeriellen Kräftespiel (1786 – 1804 / 06), Potsdam 1999, 361 f.
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Nach diesem Etat und der aktuellen Kassenlage blieb ein Rückgriff auf den bekanntlich von Friedrich Wilhelm I. gebildeten, unter Friedrich II. dann systematisch ausgebauten Staatsschatz (Tresor) für alle außerordentlichen Militär- und ebenso Zivilausgaben unabweislich, zumal wenn sich ein Krieg unversehens verlängerte oder, wie im vorliegenden Fall, sich durch die Unruhen in Polen und den Teilungsgebieten von 1793 / 95 neue militärische Aufgaben ergaben. Friedrich der Große hatte seinem Nachfolger 1786 einen Staatsschatz in der außerordentlichen Höhe von wohl über 51 Mill. Tlr. hinterlassen30; davon waren jedoch bis 1792 bereits über 40 Mill. Tlr. ausgegeben, allein für den kurzen niederländischen Feldzug 1788 runde 6 Mill. Tlr., noch viel höhere Summen verschlangen die Mobilmachungen gegen Österreich und Rußland 1790. Regelmäßige Aufstockungen des Schatzes erfolgten aber seit 1786 wohl nicht mehr31. Tatsächlich ermittelte eine dreiköpfige Ministerkommission Anfang Februar 1793 einen Bestand von noch 19 Mill. Tlr., „wovon aber die Hälfte in Scheidemünzen bestehet, die blos zu inländischen . . . Zahlungen . . . gebraucht werden kan(n)“; im Mai 1794 war der Tresor dann vollständig erschöpft32. Im September 1792 konnte der von Friedrich Wilhelm als sein Finanzberater bevorzugte, von ihm nobilitierte Minister und Direktor der Seehandlung Karl August von Struensee (1735 – 1804) seinen Monarchen davon abraten, jetzt ausländische Anleihen zur Stabilisierung des Staatshaushalts aufzunehmen, da die Zinsbedingungen in Amsterdam gegenwärtig ungünstig seien. Bei dieser Annahme ging er noch davon aus, „daß selbst auf den Fall zweyer noch folgender Campagnen keine außerordentliche Geldquellen erforderlich sind,“ und „dieses gantze Geschäft“ daher als „bloße Speculation“ zu behandeln sei33. Noch im Februar 1793 versicherte die eigens zur 30 Unterschiedliche Angaben in der Literatur: Nach Albert Naudé, Der preußische Staatsschatz unter König Friedrich Wilhelm II. und seine Erschöpfung, in: FBPG 5 (1892), 203 – 256 ff., hier 212 ff., dazu Tabelle 242; ihm folgt Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen, Berlin 1903, hier 99; anders A. F. Riedel, Staatshaushalt (Anm. 27),120 f. u. ö., der 55 Mill. Tlr. angibt; ähnlich M. Philippson, Geschichte (Anm. 22), Bd. 2, 395. – Zur Dispositionskasse Naudé, 224 ff., deren Einnahmen 1786 ca. 8 Mill. bzw. 5,75 Mill. Tlr. betrugen. 31 Kontroverse Interpretation der Verwendung des Staatsschatzes und der Dispositionskasse bei A. F. Riedel, Staatshaushalt (Anm. 27), 189 ff., und demgegenüber bei A. Naudé, Staatsschatz (Anm. 30), 227 ff., der z. B. die Verwendung für den niederländischen Feldzug 1787 bestreitet und Woellner als Hauptverantwortlichen für das Dahinschwinden des Schatzes benennt, der dann im Mai 1795 (richtig: 1794) vollständig erschöpft war (235). 32 Wie Anm. 28, vgl. auch Anm. 36 (Erschöpfung des Tresors im Mai 1794). 33 Bericht Struensees an Friedrich Wilhelm II., Berlin 10. 9. 1792 (GStA PK I. HA Rep. 96 Geheimes Zivilkabinett, ältere Periode (bis 1797), Nr. 258B): Beim Bankhaus Cohen u. Co in Amsterdam seien keine Anleihen unter 4,5% zu erhalten, bittet um Resolution, ob er eine Anleihe von 10 Mill. holländ. fl. dort jetzt oder zu günstigerem Zeitpunkt aushandeln soll. – Vgl. R. Straubel, Struensee (Anm. 29), 361 ff.
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Überprüfung aller Kassenbestände der Monarchie gebildete Kommission, wiederum unter Beteiligung Struensees, v. Heinitz’ und v. Blumenthals „mit wahrscheinlicher Überzeugung“, daß die bei geschätzten außerordentlichen Monatskosten von 1,5 Mill. erforderlichen „18 Millionen zu einer Campagne gewis herbey geschaffet werden können, ohne zu lästigen und gewaltsamen Operationen Zuflucht nehmen zu müssen“; sie plädierte allerdings dafür, nunmehr gegen Garantie Geld in Frankfurt über die Seehandlung aufzunehmen sowie durch Struensee Darlehen in Amsterdam oder Genua aushandeln zu lassen.34 Tatsächlich wurden dann noch 1793 Anleihen in Frankfurt bei dem Handelshaus Johann Ludwig Willemer u. Co. (ca. 4 Mill.) und bei Cohen u. Co. in Amsterdam (ca. 5 Mill. zu 5 %) aufgenommen, weitere zu ungünstigeren Konditionen und schwieriger zu platzierende folgten dann 1794, insgesamt ca 10 Mill. Tlr. bis zum Ende des Etatjahres35. Indessen spitzte sich die Finanzsituation ungeachtet aller Einzelvorschläge zur Einsparung und zur Aufnahme weiterer Kredite etc. im Jahre 1794 dramatisch zu: Im Juli erklärten sich die Minister Struensee und v. Blumenthal außerstande36, weitere Gelder im Ausland aufzunehmen oder im Inland aufzutreiben, wo großer Geldmangel herrsche (durch Abfluß ins Reich), der Handel gestört sei und die Zinsen stiegen, so daß Gefahr bestünde, daß dadurch die Banque und die Seehandlung über den Haufen geschmissen werden könnten: „Wenn der Krieg noch ferner dauern sollte und vor Jahresende kein Friede zu Stande kommt“ wüßten sie nicht, „woher die grosse Geld Bedürfnisse zum Kriege herkommen sollen“. Dabei gingen sie davon aus, daß die britischen Subsidien in Höhe von ca. 10,5 Mill. Fr.d’or tatsächlich gezahlt würden, um die Kalkulation für dieses Jahr einhalten zu können, zumal daraus vorschußweise bereits beträchtliche Anweisungen erfolgt seien und der eigene Tresor bereits im Mai (1794) „völlig erschöpft gewesen“ sei. Ihnen sei jedoch bewußt, daß „es nicht zu unserer Competenz gehöret, ratione der jetzigen KriegesUmstände uns in die politischen Affairen wegen Krieg und Frieden zu meliren“. Die „politischen Affären“ fielen eben nicht in ihre Kompetenz, sondern blieben dem Monarchen und seinem engeren Beraterkreis, dem Bereich der „high politics“ vorbehalten. Dennoch hielten sie es für ihre Pflicht, dem König die Lage ungeschönt darzulegen. „Diese in der Wahr34
Bericht der Kommission wie Anm. 28. Detailliert dazu W. Real, Staatsfinanzen (Anm. 26), 68 ff., 74 ff.; Anleihen und Operationen mit Scheidemünzen schon bei A. F. Riedel, Staatshaushalt (Anm. 27), 192 ff.; auch M. Philippson, Geschichte (Anm. 22), 100 ff. 36 Bericht an Friedrich Wilhelm II., Berlin 26. 7. 1794 (GStA PK I HA, Rep. 96, Nr. 258B); vgl. auch R. Straubel, Struensee (Anm. 29), 363. – Nach einem späteren Bericht der Staatsschuldenverwaltung betrugen die bis Oktober tatsächlich gezahlten englischen Subsidien immerhin 7.951.012 Rtlr. 35
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heit beruhenden Umstände machen einen baldigen Frieden nöthig“, lautete ihre klare Schlußfolgerung. In derselben Weise argumentierte Struensee in seinem „auf Wahrheit und Thatsachen“ gegründeten Bericht vom 8. August 179437: Die Lage habe sich gegenüber der ersten Jahreshälfte gründlich geändert, die damaligen Finanzkalkulationen seien jetzt nicht mehr gültig: Die Armee am Rhein erfordere monatlich 1 Mill. Tlr., die aus den bisher noch gezahlten englischen Subsidien kaum gedeckt werden. Die anfangs auf nur zwei bis drei Monate eingeschätzte „Polnische Kampagne“ dauere an und verlange ebenfalls 1 Mill. Tlr. monatlich; sie könnten nur aus den Kassen des 6. und 8. Departements im Oberkriegskollegium bestritten werden, deren Bestand zusammen noch 5,479 Mill. Tlr. ausmache, nach Abzug der Vorschüsse für die Armee in Südpreußen nur noch 4,273 Mill. Tlr. Es sei vorhersehbar, daß diese Kassen „in wenigen Monaten völlig ausgeleert sein werden“. Ende September rechnete Struensee aus allen verfügbaren Fonds noch mit einer Summe von ca. 11 Mill. Tlr. Sollten jedoch die englischen Subsidien ausfallen, so könne am Rhein „keine Campagne“ mehr stattfinden38. Minister Graf Blumenthal drängte den Monarchen nach seiner Pflicht und Treue kurz darauf eindringlich zum Friedensschluß 39: „Wie es die höchste Nothwendigkeit erfordert, an den Frieden zu denken und alle Mittel und Wege einzuschlagen, um selbigen so bald wie möglich mit Frankreich und hiernächst mit Pohlen zu Stande zu bringen“. „Kein Krieg kann ohne Geld geführet werden. Fehlt es nur einige Tage an der Löhnung für den Soldaten, so ist das größte Unglück zu befürchten, daß der gemeine Mann die Fahne verläßt und sich zerstreuet, der Feind aber solcher gestalt freie Hand hat . . .“. Wenn der Rest der britischen Subsidien ausbleibe, könne die Campagne mit den verbleibenden Mitteln „schwerlich bis Ausgangs des December Monaths“ fortgesetzt werden. Seine und Struensees diesbezügliche Kalkulation vom 26. Juli 1794 sei daher „nicht real und halten nicht Stich“. Mißwuchs und Geldmangel im eigenen Lande vermehrten die Schwierigkeiten. Als „Vater des Volkes“ habe der Monarch die Aufgabe, „dem Ungemach eines unglücklichen Krieges ein Ende zu machen“. Auch Feldmarschall Möllendorff, der Oberbefehlshaber im Westen, sehe die Nothwendigkeit des Friedens sehr wohl ein; er habe schon wiederholt für Frieden plädiert und ihn jetzt beauftragt, der Majestät „die wahre Lage der Sache vorzustellen“40. Eine nochmalige Zuspitzung ergab sich durch den Fortfall der englischen Subsidien bei dem Kassensturz, den Struensee am 13. Oktober Friedrich 37
Ebd., Nr. 258 B. „Ein kurzes Tableau von allen den Fonds“ vom 28. 9. 1794 nach einer Audienz bei Friedrich Wilhelm II. am Vortage. 39 Schreiben vom 2. 10. 1794, ebd., Nr. 258B. 40 Mit Schreiben vom 26. 9. 1794. 38
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Wilhelm unterbreitete, und zwar mit der Bitte, ein Komitee des Staatsrats möge die desolate Lage untersuchen und schleunige Maßregeln ausarbeiten41. Die durch Marginalresolution sofort eingesetzte Kommission aus allen Ressorts berichtete dem Monarchen am 18. Oktober über den Finanzstand „im jetzigen Kalenderjahr“. Sie errechnete dafür ein Defizit von ca. 1 Mill. Tlr., wies aber zugleich darauf hin, daß „für die außerordentlichen Ausgaben des kommenden Jahres“ nicht der geringste Fonds vorhanden“ sei. Sie hofften jedoch, daß „mit den vorhandenen Kassenbeständen“ unter den geschilderten Voraussetzungen die Ausgaben „noch zu bestreiten sein werden“42. Ende des Monats unterbreiteten sie ihre ausführlichen, aber insgesamt nicht sonderlich überzeugenden oder neuen Vorschläge43 für die Ausgabenfinanzierung im Folgejahr und für die Mobilisierung auswärtiger und innerer Ressourcen. Die Erhebung einer „Kriegssteuer“ wie sie in anderen Ländern „gewöhnlich“ sei, wagten sie dem König bezeichnenderweise nicht zu empfehlen oder jedenfalls nur auf „freiwilliger“ Basis „von jedem Particulier“. Die Ansichten darüber gingen in der Kommission selbst weit auseinander (Adelsbesteuerung!). Sie verbanden ihre Vorschläge mit der untertänig-dringlichen Bitte an den Monarchen, dem Volk den „so nothwendigen Frieden unter zweckmäßigen Bedingungen ie eher ie lieber zu verschaffen“, denn der Wunsch nach Frieden, „innerer wie äußerer Sicherheit“ beherrsche das ganze, im übrigen seinem König treu ergebene Volk, vorzüglich die Nation sei „gegen den französischen Krieg gestimmt“. Sie müßten in der Summe feststellen, „daß der ietzige Finanz Zustand in der dermaligen kritischen Lage äußerst beunruhigend ist“. „Die traurige Lage der Finanzen erfordert also einen schnellen und entscheidenden Entschluß“, nämlich Frieden zu schließen. Es sei „von der dringendsten Nothwendigkeit“, jetzt mit Frankreich Frieden zu schließen, „weil die Fortsetzung des Krieges ganz unmöglich ist“. Bei anhaltenden Unruhen in Polen und Südpreußen müsse allerdings der Krieg dort noch fortgesetzt werden, zur Bestreitung würden die vorhandenen Ressourcen ausreichen. Der Generalmajor v. Geusau möge einen Plan für die Kampagne in Polen entwerfen, „der unserer ietzigen Situation angemessen ist“. Aber selbst für den Fall, daß der Frieden alsbald eintrete, könnten sich die Preußischen Staaten „zwar bald“, „die Finanzen jedoch nur nach und nach erholen“, so daß „der Staat selbst“ binnen einiger Jahre für Freunde und Feinde „wieder respectabler seyn wird“. 41 Bericht GStA PK I HA, Rep. 96, Nr. 258 B. Eine Marginalresolution Friedrich Wilhelms II. bestimmte neben Struensee die Minister Werder (Generaldirektorium), Goldbeck (Justiz), Alvensleben (Auswärtiges) und Generalmajor von Geusau, dem im Juli 1792 das „Kassen- und Feldverpflegungsgeschäft der Armee“ übertragen worden war, zu Mitgliedern des „Committee aus dero Staatsrath“. 42 Ebd. 43 Vorschläge vom 26. 10. 1794, ebd.
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Eine Aufstellung des Generalmajors von Geusau schließlich, die Struensee im Januar 1795 kommentierte44, rechnete für den Unterhalt (Proviantierung) der Armeen am Rhein und in Südpreußen für die drei Monate bis März mit 5,4 Mill. Tlr., von denen aber bisher nur reichlich 2 Mill. flüssig waren, so daß für den Rest von 3,38 Mill. Kredite und Darlehen in Kassel und Frankfurt beschafft werden müßten. Struensee plädierte deshalb nochmals für „die baldige Wiederherstellung des Friedens-Zustandes“. Den vereinten Bemühungen seiner Minister und ebenso der Militärs konnte Friedrich Wilhelm auf die Dauer nicht standhalten, wollte er nicht einen finanziellen Zusammenbruch des im Felde bisher noch unbesiegten preußischen Staates riskieren. Er willigte deshalb schließlich, wohl unter der Mitwirkung seines bisher von den Staatsgeschäften systematisch ferngehaltenen Onkels, des Prinzen Heinrich45, in die von Feldmarschall Möllendorff ja bereits ohne Auftrag geführten Geheimverhandlungen mit den Pariser Revolutionären ein46. Diese wurden teils in Basel, teil in Paris geführt, zunächst ab Dezember von dem Generalmajor von der Goltz, nach dessen Tod (am 28. Januar 1795) von dem Grafen Hardenberg, der in seiner Person die Belange des Reiches mitvertreten konnte. Dafür setzte sich Friedrich Wilhelm ein, der einen Gesamtfrieden dem Sonderfrieden immer noch vorzog. Hardenberg ging es in der Schlußphase der Verhandlungen, die auf französisches Verlangen gleich auf einen Friedensvertrag statt auf einen Waffenstillstand zielten, vorrangig um die Festlegung einer Demarkationslinie47 vorrangig zur Neutralisierung ganz Norddeutschlands sowie bei einer künftigen Grenzziehung am Rhein um eine Geheimklausel wegen rechtsrheinischer Entschädigungen für die geringen linksrheinischen Gebietsverluste Preußens. Der am 5. April paraphierte Vertrag wurde bereits am 15. des Monats in Berlin ratifiziert. Dort fand er zwar die Zustimmung des Kabinettsministeriums, aber die Bedenken des Monarchen blieben bestehen; für ihn wog das 44 Bericht für den Monarchen vom 6. 1. 1795; weitere Details noch bei W. Real, Staatsfinanzen (Anm. 26), 92 ff. 45 Einschaltung des frankophilen Kriegsgegners Prinzen Heinrich schon bei P. Bailleu, Friedrich Wilhelm II. (Anm. 18) 263 f., jetzt ausführlich Eva Ziebura, Prinz Heinrich von Preußen. Biographie, Berlin 2004, 372 ff. (ohne Einzelbelege). Neben der Audienz beim König am 25. Oktober 1794 operierte Heinrich mit Denkschriften. Die Verbindung lief über den Grafen Haugwitz, er entwarf Instruktionen für den Unterhändler Grafen v. d. Goltz; der Kontakt brach ab nach der Beauftragung Hardenbergs (380 ff.). 46 Neben W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 123 ff., ausführlich ders., Der Friede von Basel, in: Baseler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 50 (1951), 27 ff. u. 51 (1952), 115 ff. 47 Spätere Festlegung durch eine Zusatzkonvention vom 17. 5. 1795, die Preußens neue fränkische Territorien einschloß, aber nicht dauerhaft war (Verzicht am 26. Oktober).
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„Odium des Koalitionsbruches“ offenbar schwerer als die militärische und zugleich wirtschaftliche Entlastung, die der Baseler Frieden Preußen brachte. Preußen war nun gänzlich isoliert, ohne Bündnispartner und wurde von seinen bisherigen Alliierten erwartungsgemäß heftig kritisiert. In Wien verurteilte Thugut das Verhalten Preußens als „skandalösen Abfall“, in St. Petersburg sprach man von einem „paix infâme“, auch im übrigen Reich wurde der Alleingang großenteils verurteilt. An ihm entzündete sich sowohl die großdeutsche wie die liberale Kritik an Preußen während des 19. Jahrhunderts48. Der innerpreußisch wie auf Reichsebene viel umstrittene Sonderfrieden zu Basel bezeichnet ohne Zweifel eine tiefe Zäsur mit weitreichenden Konsequenzen für die Preußische Außenpolitik im folgenden Jahrzehnt bis Jena und Auerstedt, aber ebenso für die letzte Phase des Alten Reiches, dessen Ende im Sommer 1806 er sicherlich einleiten half. Er war, wie die vorangehenden Quelleninterpretationen im Detail zeigen, zwar nicht allein, aber doch vorrangig durch die schwere Finanzkrise erzwungen, die in der Unmöglichkeit der Finanzierung einer abermaligen Kampagne 1795 im Koalitionskrieg kulminierte. Späteren Berechnungen zufolge bezifferten sich die preußischen Gesamtkosten des Krieges von 1792 bis 1794 auf mehr als 32 Mill. Tlr.49. Allein für die Kampagne im Rechnungsjahr 1792 / 93 (ab 15. 5. 1792) mußten nach einer Aufstellung des Tresors von Ende 1793 (12.12.) mehr als 19,9 Mill. Tlr. an Mobilmachungs- und Verpflegungskosten ausgegeben werden. Zum ersten Mal seit den eher bescheidenen Anleihen unter Friedrich I. (III.) war der preußische Staat des 18. Jahrhunderts gezwungen, im großen Stil ausländische Kredite zur Heeres- und Kriegsfinanzierung aufzunehmen, die wiederum die relativ hohe Verschuldung am Ende der Regierung Friedrich Wilhelms II. mit verursachten50. Davon entfielen allerdings ca. 12 Mill. Tlr. als Altlast auf die friderizianische Zeit (schlesische Schuld von 1742). 48 Zur zeitgenössischen und späteren Kritik am Frieden neben W. Real, Von Potsdam nach Basel (Anm. 9), 133 ff., ders., Der Frieden (Anm. 46), 186 f., der im übrigen die „Selbstisolierung“ Preußens hervorhebt („vereinsamt und entmachtet“ ohne in einer einzigen Feldschlacht entscheidend besiegt zu sein) 137; noch R. Koser, Preußische Politik (Anm. 3) 232 ff., ausgewogen K. v. Raumer, Deutschland um 1800 (Anm. 9), 107 f.; vgl. auch problematisch K. O. Frhr. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich (Anm. 7), 324 ff. („zum Handlanger des revolutionären Frankreich“ herabgesunken etc.); unter militärischen Gesichtspunkten Würdigung bei C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13), Bd. 3, 305 ff. 49 C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13) Bd. 3, 283 Anm. 75; W. Real, Staatsfinanzen (Anm. 26) 97, gibt knapp 30 Mill. an. 50 Schuldentabelle von 1797 bei O. Behre, Statistik (Anm. 30), 108, auch 104 Tabelle 34; A. F. Riedel, Staatshaushalt (Anm. 27), 196 f., auch Gustav Schmoller, Die Epochen der preußischen Finanzpolitik bis zur Gründung des deutschen Reiches, in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschafts-
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Mit einer Schuldenlast in Höhe von ca. 48 Mill. Tlr. vollzog nunmehr auch Preußen den Übergang zur Schuldenpolitik und näherte sich damit den gängigen europäischen Usancen, wenn schon nicht ihren Größenordnungen an. Trotz der Einführung eines etatmäßigen Amortisationsfonds (Tilgungsfonds) noch vor dem Regierungswechsel Ende 179751 und ungeachtet der strengen Sparsamkeit des Nachfolgers Friedrich Wilhelm III., der ohnehin zur Ausgabendisziplin neigte, aber durch eher zögerliche Reformmaßnahmen dennoch eine beachtliche Ausgabensteigerung herbeiführte, – trotz alledem gelang es seinen Bemühungen nicht, die Staatsschuld während des Neutralitätsjahrzehnts vor 1806 zu tilgen. Beim Frieden zu Tilsit 1807 wurden wiederum mehr als 53 Mill. Tlr. Schulden ausgewiesen, die teils aus ausländischen, überwiegend aus inländischen Anleihen sowie aus der Ausgabe von Tresorscheinen (Papiergeld) stammten. Zu ihnen traten nun die ungeheuren Schuldenlasten aus den Kriegsjahren 1806 / 07 mit Besatzungskosten, Kontributionen der napoleonischen Armeen etc. hinzu. Welche Dimensionen das Schuldenwesen inzwischen angenommen hatte, belegt ein wohl noch geschönter Bericht der Staatsschuldenverwaltung von 1840, der die außerordentlichen Staatsausgaben zwischen 1806 und 1815 auf mehr als 287 Mill. Tlr. berechnete, von denen allein über 144 Mill. Tlr. auf die Periode bis Anfang 1813 entfiel. Im zur Konsolidierung der Staatsschulden erlassenen Staatsschuldengesetz von 1820 wurden nur 180 Mill. Tlr. ausgewiesen statt eines tatsächlichen Schuldenstandes von ca. 217 Mill. Tlr. im Haushalt für 1820 – 2352. Die Schuldenlast von 1797 begleitete mithin auch das erste Jahrzehnt der Regierung Friedrich Wilhelms III., dessen vorsichtige und risikoscheue Außenpolitik sicherlich von dieser Hypothek belastet war, wenngleich den Monarchen sichtlich auch andere Faktoren leiteten.
geschichte bes. des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert (Leipzig 1898), Neudruck Hildesheim / New York 1974, 104 – 246, hier 188 f.; W. Real, Staatsfinanzen (Anm. 26), 99. 51 A. F. Riedel, Staatshaushalt (Anm. 27) 196 ff.; seit 1796 war speziell Struensee mit der Tilgung der Staatsschulden beauftragt, seit Ende 1795 legte der Chef des Akzisedepartements und der Seehandlung (mit Generalsalzadministration) Amortisationspläne vor, dazu R. Straubel, Struensee (Anm. 29), 367 ff.; vgl. noch Eugen Richter, Das preußische Staatsschuldenwesen und die preußischen Staatspapiere, Breslau 1869, hier 16. 52 G. Schmoller, Epochen (Anm. 50), 190 ff.; auch E. Kehr, Finanzpolitik (Anm. 4), 37, auch Ernst Klein, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 16), Berlin 1965, 94, 99.
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III. Für ein volles Jahrzehnt, zwischen 1795 und 1805, stand die preußische Außenpolitik ganz im Zeichen der Friedenswahrung beinahe um jeden Preis53, im Zeichen einer bewaffneten Neutralität für ganz Nord- und Mitteldeutschland, für die eine genaue Demarkationslinie in einer Zusatzkonvention vom 17. Mai festgelegt wurde. Preußen etablierte dadurch für sich eine Einflußzone im Alten Reich, die von Ostfriesland bis zur Mainlinie reichte, zu der auch Hessen-Kassel, die Thüringischen Staaten, Mecklenburg, nachträglich das Kurfürstentum Hannover mit seiner Brückenfunktion zu den verbliebenen Westprovinzen östlich des Rheins sowie Kursachsen gehörten, die durch preußische Vermittlung den Kriegszustand mit Frankreich beendeten, während das Reich nach längerem Schwanken doch über den Kaiser Friedensverhandlungen einleitete. Durch die alten von Österreich als Kriegsentschädigung beanspruchten fränkischen Hohenzollernterritorien Ansbach und Bayreuth reichte der preußische Einflußbereich aber ebenso in die kaiserlich-habsburgische Klientelzone hinein und erzeugte dort Reibungen, die durch die Hardenbergsche Politik in Franken (Mediatisierungen) noch potenziert wurde. Unterdessen besiegelten die russischen Verträge mit Preußen und Österreich vom 24. Oktober 1795 die staatliche Existenz Polens definitiv, nachdem sich zuvor Rußland und Österreich im Vertrag vom 3. Jan. 1795 über die weitere Aufteilung der Adelsrepublik verständigt hatten. Entgegen den Erwartungen intervenierte Preußen nicht dagegen. In seiner finanziellen Bedrängnis wurde es so von weiteren Militärausgaben entlastet. Die seit 1795 praktizierte pazifizierende Neutralitätspolitik Preußens im Reich war zwar partiell begründet durch die finanzielle Erschöpfung des Staates, vor allem durch die kostspielige Kriegsführung im zunehmend unpopulären Ersten Koalitionskrieg an der Seite Österreichs; aber ebenso basierte der strikte Neutralitätskurs auf pragmatisch realpolitischen Erwägungen und der geographisch bedingten Mittellage der Monarchie zwischen den konkurrierenden Flügelmächten im Osten und Westen des Kontinents ohne natürliche Grenzen; geopolitische Argumente verboten einen zu engen Anschluß an eine der beiden Mächte Frankreich oder Rußland ebenso wie eine zu kordiale Verbindung zwischen diesen beiden Großmächten, die es zu verhindern galt54.
53 Der folgende, beim Berliner Kolloquium nicht mehr vorgetragene Abschnitt beruht auf meinem Referat „Preußische Außenpolitik am Vorabend von Austerlitz und danach“, das am 26. September 2005 beim Internationalen Napoleon-Kongreß „Europa 1805“ in Brünn (Brno) vorgetragen wurde. Die Akten des Kongresses wurden herausgegeben von Jaroslav Kotuˇlan und Dusˇan Uhlirˇ, Brno 2006, hier 23 – 33. Es wird daher für das Folgende auf Einzelnachweise und Literaturangaben weitgehend verzichtet, Zitate werden jedoch nachgewiesen.
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Ein weiterer, von der Forschung lange vernachlässigter Faktor lag außerdem in der Persönlichkeit des Monarchen selbst55, der ungeachtet seiner Entscheidungsscheu zeit seiner langen Herrschaft (1797 – 1840) stets an einer absolutistischen Selbstregierung festhielt, mochte auch die anfängliche Regierung durch das Kabinett (Kabinettsräte) seit der Reformperiode ab 1807 / 08 einer Regierung mit verantwortlichen Ministern weichen. Der von mediokren Ratgebern (Generaladjutanten etc.) und bürgerlichen Kabinettsräten umgebene junge Monarch (geboren 1770) zeigte sich zwar seit Beginn seiner Regierung Ende 1797 durchaus reformwillig, aber die von ihm eingeleiteten Reformmaßnahmen, die sog. „Vorreformen“, trugen nicht sehr weit56; sie genügten nicht, um den Zusammenbruch des Staates 1806 / 07 abzuwenden: Weder das Regierungssystem selbst, noch der Finanz- und Agrarsektor oder die im Blick auf die französischen Revolutionsheere der allgemeinen Wehrpflicht und ihrer neuen Strategie und Taktik zentrale Militärorganisation wurden vor 1806 substantiell erneuert. Für diese begrenzten inneren Reformen bot die auf die labile Lage in Europa abgestimmte Neutralitätspolitik der ängstlichen Friedenswahrung57 zwischen den Lagern der Großmächte zwar eine gewisse Absiche54 Vgl. Anm. 6; B. Simms, The impact of Napoleon (Anm. 3), 9 ff., auch 71 ff., akzentuiert sehr berechtigt erneut die Problematik der „Mittellage“ und setzt den geopolitischen Ansatz einer erneuerten „science of geopolitics“ von der teils (pseudo)wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Haushofer- Schule etc. bewußt ab. 55 Nicht durchweg überzeugend bleibt die umfangreiche Biographie Friedrich Wilhelms III. von Th. Stamm-Kuhlmann (Anm. 23); weiterführend scheint mir hingegen die Konzeption von „high politics“ bei B. Simms, The impact of Napoleon (Anm. 3), 12 ff., der einen „systematic high political approach“ gerade zu Friedrich Wilhelm III. empfiehlt, um „the crucial role played by personal advisors, personal antipathy and ambition, the role of access to and favour of the king“ zu untersuchen; in der deutschen Historiographie gäbe es „no equivalent school of high politics“ vergleichbar der Vorgehensweise von Maurice Cowling u. a. 56 Außer der bekannten Synthese bei Otto Hintze, Preußische Reformbestrebungen vor 1806 (1896), in: ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hrsg. v. Gerhard Oestreich, 2. Aufl. Göttingen 1967, 504 – 529, nach wie vor keine größere zusammenfassende Darstellung; zuletzt noch Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd. 2: Dynastie im säkularen Wandel, Stuttgart 2003, 78 ff., der neben Stagnation auch „starken Wandel“ sieht. Die für die Biographie und das Wirken von Scharnhorst sehr wertvollen Bände der neuen Scharnhorst-Edition enthalten bisher wenig Material zur Militärorganisation und kaum etwas zur Heeresfinanzierung: Gerhard von Scharnhorst, Private und dienstliche Schriften, Bd. 3: Lehrer, Artillerist, Wegbereiter (Preußen 1801 – 1804), hrsg. v. Johannes Kunisch in Verbindung mit Michael Sikora, Bearb. Tilman Stieve (Veröff. aus den Archiven PK, Bd. 52,3), Köln / Weimar / Wien 2005; vgl. immerhin C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13), Bd. 3, 339 f. (Bildung der Immediat-Militärreorganisationskommission unter Möllendorff ab Nov. 1795), 398 ff. (Heeresverfassung und -verwaltung). 57 Für die Frankreich-Politik und das Verhältnis zu Napoleon bleibt grundlegend als Quellenwerk Paul Bailleu (Hrsg.), Preußen und Frankreich von 1795 bis 1807,
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rung nach außen, aber zugleich bezeichnete sie doch eine Phase der Stagnation und des Immobilismus. Bei auswärtigen Beobachtern und in der späteren Geschichtsschreibung löste sie daher teils heftige Kritik aus, wenngleich sie im Lande durchaus populär blieb. Die für die Formulierung der konkreten Außenpolitik in erster Linie verantwortlichen Kabinettsminister, neben den Grafen Finckenstein (bis 1800) und Alvensleben (bis 1802) vor allem Graf Haugwitz und sein Rivale Graf Hardenberg, hielten sich hingegen jedenfalls nach außen auffällig zurück, sobald ihre eigenen Konzeptionen beim Monarchen auf Vorbehalte stießen. Nur so konnten sie Einfluß auf Friedrich Wilhelm und seine engere Umgebung gewinnen oder bewahren und dabei ihre ausgeprägten eigenen politischen Ambitionen befördern. Die populäre Maxime der Neutralität zur Aufrechterhaltung der „Ruhe des Nordens“, die den Norden und die Mitte des Reiches vom Kriegsgeschehen ringsum in Europa ausklammerte, führte dazu, daß der preußische Monarch 1798 sowohl ein Bündnisangebot Napoleons wie ein russisches Pauls I. zurückwies. Am Zweiten Koalitionskrieg seit 1799 beteiligte er sich nicht, trotz des intensiven Werbens beider Seiten und der in Aussicht gestellten Kompensationen und Subsidien. Er nahm dabei in Kauf, daß das noch aus friderizianischer Zeit stammende Prestige Preußens als europäische Militärmacht weiter sank. Die Besetzung des Kurfürstentums Hannover im April 1801 zur Aufrechterhaltung der norddeutschen Neutralität gegen eine mögliche französische oder russische Okkupation blieb Episode. Sie endete mit der Rückgabe des deutschen Stammlandes der britischen Könige an England noch vor dem trügerischen englisch-französischen Frieden von Amiens (März 1802) im November 1801. Kurz zuvor hatte der Frieden von Lunéville (9. Februar 1801) zwischen Österreich, dem Reich und dem napoleonischen Frankreich die Weichen für eine territoriale Neuordnung großen Stils im Alten Reich gestellt. Mit der vertraglichen Abtretung leitete er eine große Säkularisationswelle auf Kosten der geistlichen Staaten wie eine Mediatisierung der Reichsstädte ein, die eine vom Reichstag einberufene außerordentliche Reichsdeputation mit dem Deputationshauptschluß im Februar 1803 sanktionieren sollte. Dabei fungierte wiederum Napoleon in Absprache mit dem russischen Kaiser als „Schiedsrichter Europas“. An diesem Gebietsschacher beteiligte sich Preußen nach Kräften. Da die eigenen Gebietsverluste am Niederrhein (Cleve, Geldern etc.) eher gering waren, hatte es schon im Mai 1802 – wie zahlreiche andere deutsche Staaten – ein Geheimabkommen mit Frankreich geschlossen. Darin erhielt es sogenannte „Entschädigungslande“ zugesprochen, die die Reichsdeputation dann bestätigen mußte. Übrigens zeigt der 2 Teile (PPrStA Bd. 8,29) Leipzig 1881 u. 1887, dazu dessen Einleitungen; ergänzend R. Koser, Preußische Politik (Anm. 8), 237 ff.; die Passagen bei Th. Stamm-Kuhlmann, Friedrich Wilhelm III. (Anm. 23), 163 ff.; dazu der ausgewogene Gesamtüberblick bei K. v. Raumer, Deutschland um 1800 (Anm. 9), nach Basel: 108 ff.
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Widerstand Österreichs gegen diese Entschädigungen, daß von der mit der Konvention von Reichenbach 1790 eingeleiteten Aussöhnung zwischen den beiden deutschen Vormächten, die dann gemeinsam den Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich begonnen hatten, 1802 / 03 nicht mehr viel zu spüren war. Der seit 1740 bestehende preußisch-österreichische Dualismus im Reich brach wieder auf, um dann offen oder latent bis 1866 anzudauern. Der abermalige Kriegsausbruch zwischen der Seemacht England und dem napoleonischen Frankreich, das den englischen Handel im „französischen“ Europa weiterhin unterband, zwang die preußische Regierung schon im Mai 1803, sich erneut zwischen dem Anschluß an die festländischen Koalitionäre Rußland und Österreich oder aber der Aufrechterhaltung der bewaffneten Neutralität zu entscheiden. Friedrich Wilhelm blieb bei seinem Neutralitätskurs. Er konnte aber nicht verhindern, daß Napoleon die Besetzung des deutsch-britischen Stammlandes Hannover im Mai 1803 anordnete. Mitten in der preußischen Neutralitätszone wurden also französische Truppen stationiert, die zunächst dem Marschall Mortier, seit 1804 dann dem milderen Regiment des Marschalls Jean Baptiste Bernadotte unterstanden. „Die Ruhe im Norden zu erhalten“, schrieb Friedrich Wilhelm 180458, wohl in Selbstüberschätzung der preußischen Möglichkeiten als mindermächtige Macht und als bewaffneter Vermittler, „ist der Hauptzweck meiner Politik; meine leidenschaftlichen Nachbarn zu bewachen, ihren Übereilungen zuvorzukommen, ist jetzt mein tägliches Werk“. Der Monarch widerstand allen verlockenden Bündnisangeboten, die Napoleon, Kaiser der Franzosen seit 1804, an seinen „Herrn Bruder“ in Berlin richtete. Als Preis für einen französisch-preußischen Zweibund bot er ihm seinerseits die Annexion Hannovers an, ein Geschenk also, das ihm gar nicht gehörte und das dem Preußenkönig nur die unerbittliche Feindschaft der britischen Krone einbringen mußte. Seine außenpolitischen Ratgeber entwickelten diverse Pläne, um die Franzosen aus Hannover zu verdrängen und in den Besitz des für Preußen geostrategisch so wichtigen Territoriums zu gelangen, es notfalls auch ohne britische Zustimmung zu annektieren, aber der skrupelhafte Monarch wollte darauf nicht eingehen, wie er alle mit Allianzangeboten Napoleons auf Kosten seiner kleineren Nachbarn im Osten verbundenen Annexionsvorschläge ablehnte. Vielmehr beschränkte er sich auch weiterhin auf eine Politik der strengen Defensive unter Wahrung einer strikten Neutralität. Daß diese Politik schwerlich auf die Dauer durchzuhalten war, mußte Friedrich Wilhelm im Herbst 1805 erfahren, als nämlich Napoleon in Vorbereitung seines Feldzugs gegen die (seit November 1804) verbündeten Öster58 Schreiben vom 20. 10. 1804 an den nach Paris entsandten General Ernst Frh. v. Knobelsdorff, P. Bailleu, Preußen und Frankreich (Anm. 57), Bd. 2, Nr. 210. Nur auf diese Weise sei „mein passives System“ zu erhalten.
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reicher und Russen unvermittelt die preußische Neutralität brach: Sein Marschall Bernadotte führte überraschend aus Hannover kommend seine Truppen durch das zur preußischen Neutralitätszone gehörige Ansbach, um sich mit der im Donauraum operierenden „grande armée“, wie sie nunmehr hieß, zu vereinen und dann die Österreicher unter General Mack bei Ulm zur Kapitulation von drei Armeekorps zu zwingen (17. 10. 1805). Der Neutralitätsbruch des Korsen veranlaßte den preußischen König zu einer scharfen Anfangsreaktion – er sprach von einem „casus belli“ – und zur Mobilmachung59. Aber zum förmlichen Anschluß an die Dritte Koalition, zu dem ihn sowohl die Briten wie die Russen drängten, konnte er sich nicht entschließen. Jedoch ging er ein sehr persönlich begründetes enges Freundschaftsbündnis mit Alexander I. von Rußland ein, obschon die tatsächlichen Beziehungen und das weitere Verhalten des Zaren dies kaum rechtfertigten. Friedrich Wilhelm schätzte den Nachfolger des ermordeten Paul I. seit einem Zusammentreffen in Memel, an der russisch-ostpreußischen Grenze, im Juni 1802. Beide Monarchen schlossen am 3. November 1805 ein von Hardenberg vermitteltes Geheimabkommen. Darin verpflichtete sich Friedrich Wilhelm zur bewaffneten Mediation zwischen den beiden Kaiserreichen; für den Fall des Scheiterns dieser riskanten Mission fand er sich zum Kriegseintritt an der Seite der Alliierten bereit. Dieser Potsdamer Vertrag, der mit einer sentimentalen Verbrüderungsszene am Grabe Friedrichs des Großen in der Potsdamer Garnisonkirche in Gegenwart der Königin Luise besiegelt wurde, entsprach zwar wohl der Neigung des Preußenkönigs, aber schwerlich den harten politischen Realitäten. Seine Modalitäten waren so formuliert, daß Napoleon sie nur „auf der Spitze des Degens“ beantworten konnte. Ihm wurde zugemutet, alle Annexionen aufzugeben, die er sich über die Friedensbestimmungen von Lunéville (1801) hinaus in Italien und anderswo angeeignet hatte. Als preußischer Unterhändler sollte Graf Haugwitz dem Korsen dieses Ansinnen unterbreiten. Er ließ sich mit der Erledigung seiner Mission reichlich Zeit, nicht zuletzt wegen der unzureichenden militärischen Vorbereitungen in Preußen für den Kriegsfall und kam Napoleons Verzögerungstaktik damit sehr entgegen. Auf dem Anmarsch zur Dreikaiserschlacht bei Austerlitz hat Napoleon den „bewaffneten Vermittler“ abgehängt, indem er den preußischen Kabinettsminister von Brünn nach Wien zu seinem Außenminister Talleyrand weiterschickte, um seinerseits zu jener Entscheidungsschlacht am 2. Dezember auszuholen, die jede weitere Vermittlung überflüssig machte. In den Tagen vor Austerlitz verspielten die Alliierten des alten Europa ihre wohl letzte Chance, den fern von seiner Machtbasis operierenden 59 Zur Mobilmachung C. Jany, Preußische Armee (Anm. 13), Bd. 3, 509 ff.; Generalmajor v. Geusau schätzte die jährlichen Unterhaltskosten auf über 30 Mill. Tlr., andere Schätzungen liegen noch höher.
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Eroberer, der zum Schein Verhandlungen mit ihnen führte, durch koordinierte diplomatisch-militärische Anstrengungen doch noch zu zähmen. Preußen blieb nach der katastrophalen Niederlage der Alliierten eine zwar militärisch noch unbesiegte, aber nach dem raschen Abzug der Russen und der Kapitulation der Österreicher vollständig isolierte Macht, die dem Sieger Napoleon kaum weniger preisgegeben war als die Verlierer selbst. Deshalb verwundert es nicht, wenn Graf Haugwitz in einer scheinbar jähen Wendung der preußischen Politik bereits am 15. Dezember 1805 in Schloß Schönbrunn bei Wien nunmehr einen förmlichen Bündnisvertrag mit Napoleon unterschrieb, der nur als Unterwerfungsvertrag bezeichnet werden kann. Er beinhaltete eine Offensiv- und Defensivallianz, die mit territorialen Veränderungen einhergehen sollte, die Preußen weitaus stärker belasten als nutzen konnten. An Frankreich abgetreten werden sollte das Herzogtum Cleve mit der Festung Wesel am Niederrhein, ferner das Fürstentum Ansbach, das Napoleon an den seit kurzem verbündeten Kurfürsten von Bayern weitergeben wollte. Dafür ging nunmehr das Kurfürstentum Hannover mit allen Besitzungen des englischen Königs im Reich an Preußen über, dessen Truppen das Territorium Hannovers nach dem Abzug der Franzosen am 26. Oktober erneut besetzten. Das Bündnis zwischen Preußen und Frankreich, äußerte Napoleon zu Haugwitz teils drohend, teils schmeichelnd, diene der Pazifikation ganz Europas! Um die Ratifikation des demütigenden Vertragswerks von Schönbrunn, das sein Urheber Graf Haugwitz nach der Rückkehr aus Wien entschieden verteidigte, wurde im Kreise der außenpolitischen und militärischen Berater Friedrich Wilhelms eine heftige Debatte geführt60, ging es doch um die Alternative zwischen Krieg oder einem völligen Politikwechsel; die abrupte Abkehr von dem gerade getroffenen Potsdamer Geheimabkommen mit Alexander I. blieb für Friedrich Wilhelm zudem mit einem moralischen Makel behaftet. Auch Hardenberg als Befürworter der Verbindung mit dem russischen Zaren plädierte für Annahme, und zwar aus ganz nüchternen realpolitischen Gründen: Österreich sei gänzlich ausgeschaltet, gegenüber England bestünden keinerlei Verpflichtungen, und Alexander von Rußland habe es dem Preußenkönig selbst freigestellt, sich mit Napoleon zu arrangieren (abandonné au roi de s’arranger avec la France); nur das Bündnis mit Frankreich könne Territorialgewinn in Hannover bringen, allerdings dürfe Preußen nicht zu einem bloßen Satelliten werden, deshalb sei eine Neuverhandlung des Vertragswerks wünschenswert, aber der Monarch selbst müsse letztlich entscheiden, „il reste maìtre de choisir“ (Haugwitz). Friedrich Wilhelm entschied, den Vertrag mit Napoleon nur unter Vorbehalt zu ratifizieren (4. Januar 1806), wählte also einen Mittelweg. 60 Ausführliches Referat der Debatte im Beraterkreis zwischen Dezember 1805 und Januar 1806 aus den Akten bei B. Simms, The impact of Napoleon (Anm. 3), 211 ff.
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Er entsandte den Grafen Haugwitz zu weiteren Verhandlungen nach Paris, wo ihn der Korse mit Kriegsdrohungen empfing. Er konnte dort nur einen noch ungünstigeren Vertrag erwirken, den Napoleon ihm praktisch diktierte (15. Februar 1806): Preußen mußte sich zur Schließung seiner Seehäfen an der Nord- und Ostsee verpflichten; dadurch wurden die englischen Handelsinteressen schwer beeinträchtigt, was zusammen mit der Annexion Hannovers einen englisch-preußischen Krieg unvermeidbar machte. Als Verbündeter Frankreichs wurde Preußen nach der raschen Ratifikation (25. Februar 1806) zum Mitgaranten des französischen Systems in Europa, das bis Neapel reichte. Dies wiederum mußte zur Feindschaft mit England führen, das sofort ein Embargo auf preußische Handelsschiffe einleitete, den preußischen Seehandel vollständig lahmlegte und am 11. Juni 1806 den Krieg erklärte. Die nur temporäre Beilegung der schweren Krise mit dem Eroberer Napoleon beinahe in letzter Minute bezahlte die preußische Politik also durch den für die eigenen Handels- und Wirtschaftsinteressen schwerwiegenden Konflikt mit Großbritannien. Die französische Bedrohung besaß für die eigene Außenpolitik aber deutlichen Vorrang vor den sehr erheblichen Wirtschaftsinteressen mit einem Exportvolumen von ca. 27 Millionen Tlrn. allein aus den Ostseehäfen (Getreideexporte nach England!)61. Überdies mußte die preußisch-französische Verständigung auch zu Spannungen mit Alexander führen, dem der isolierte Preußenkönig seine Zwangslage zu erklären und den er angesichts des napoleonischen Strebens nach einer „Universalmonarchie“ zugleich für ein erneuertes Bündnis zu gewinnen hoffte. Diesem Ziel diente die Mission des Herzogs von Braunschweig in St. Petersburg. Schon aus realpolitischem Eigeninteresse unterbreitete der Zar deshalb russische Vorschläge, über die seit März 1806 unter strikter Geheimhaltung verhandelt wurde, ohne daß das Kabinettsministerium unter Haugwitz davon erfuhr. Koordinator der Geheimverhandlungen, die über den russischen Gesandten in Berlin Magnus Graf von Alopeus und den preußischen Botschafter in St. Petersburg Graf von der Goltz liefen, war Hardenberg, der als Vertrauter des Zaren nur einen Tag nach seinem auf französischen Druck erfolgten Rücktritt als Kabinettsminister Mitte April die prekäre Mission übernahm. Lediglich ein kleiner Zirkel, in dem neben dem Monarchen und der Königin Luise nur der Generaladjutant von Rüchel und der Herzog von Braunschweig saßen, war eingeweiht. De facto betrieb der Preußenkönig also seitdem eine zweigleisige oder doppelbödige Außenpolitik: Inoffiziell zielte sie auf ein erneuertes enges 61 Friedrich Wilhelm rechtfertigt seine Entscheidung gegenüber Alexander I. mit dem Argument: „Le choix du moindre mal, c’etait la ce qui me restait“. Es waren wiederum stark geopolitische Gründe, die für die französische Allianz einen Krieg mit England in Kauf nehmen ließ, „geopolitical necessity“, wie B. Simms, ebd., 234 f. formuliert.
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preußisch-russisches Bündnis, wobei der Zar zugleich als Vermittler im Handelskonflikt mit England sowie in der Auseinandersetzung mit dem Schwedenkönig Gustav IV. tätig war, allerdings vergeblich; offiziell pflegte die preußische Diplomatie unter Haugwitz das Zweierbündnis mit Napoleon. Es war klar, daß sich auf Dauer eine derartige Zweigleisigkeit nicht durchhalten ließ. Ganz abgesehen davon, daß sie jederzeit aufgedeckt werden konnte, mußte sich Friedrich Wilhelm alsbald zwischen Rußland und Frankreich entscheiden. In einem Brief an den Monarchen brachte Hardenberg die Situation wie folgt auf den Punkt62: „Votre Majesté a été placé dans la situation singulière d’ ètre à la fois l’allié de la Russie et de la France [ . . . ] Cet état ne peut pas durer.“ Alexander verband dynastische Freundschaft mit den russischen Eigeninteressen auf dem Balkan sowie in den Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich. Nur Preußen konnte ihm dafür den Rücken in Mitteleuropa freihalten. Dessen Gegenforderung allerdings, nämlich eine russische Garantie für Hannover zu übernehmen, lehnte Alexander ab. Aber er fand sich bereit, den preußischen Verbündeten im Falle eines Konflikts mit Napoleon mit seiner Militärmacht zu unterstützen. Das Ergebnis war eine gemeinsame Deklaration vom 1. Juli 1806, die lediglich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen ihnen feststellte, so daß Preußen in einem künftigen Krieg auch weiterhin auf sich gestellt blieb. Inzwischen artikulierte sich in Preußen selbst eine für die absolutistische, auf den Monarchen fixierte Staatsführung gänzlich ungewohnte Kritik an den politischen Fehlern und Versäumnissen des Königs und seiner Umgebung. In der Armee rumorte es angesichts der ziemlich planlosen Mobilisierungen und Demobilisierungen. Ein starker Pessimismus über die zukünftige Entwicklung des Landes existierte bis in die Hofkreise hinein, Prinz Louis Ferdinand galt als Hauptexponent, und nach Austerlitz verbreitete sich eine tiefe Ratlosigkeit in der Militärführung. Nach wie vor gab es starke frankreichfreundliche Kreise in Berlin, gegen die sich wiederum eine deutsch-patriotische Opposition bemerkbar machte (Fichte), die bis nach Wien reichte (Gentz). Eine Welle von Petitionen und Immediateingaben erreichte jetzt den Monarchen, die sich nicht nur gegen seine Außenpolitik, sondern gegen das ganze Regierungssystem richtete. Die wichtigsten dieser Eingaben stammten von hohen und höchsten Beamten, darunter dem Minister Karl Freiherr vom Stein und dem damaligen Obersten Gerhard Scharnhorst. Sie dokumentierten eindringlich den Grad der Opposition im Staate, auf die Fried62 Hardenberg an Friedrich Wilhelm, 18. 6. 1806, zitiert ebd., 261; zugespitzte Charakteristik der Situation auch bei Th. Stamm-Kuhlmann, Friedrich Wilhelm III. (Anm. 23), 214 ff., dort auch über die Stimmung in Berlin.
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rich Wilhelm eher hilflos reagierte. In der opponierenden preußischen Führungsschicht, die keineswegs homogen war, gab es aber neben Revolutionsfurcht und Napoleonhaß auch solche Kräfte, die sich ein Zusammengehen mit dem Diktator vorstellen konnten. Meist waren sie zugleich Exponenten einer dezidierten Englandfeindschaft, da sie die britische Politik der Steuerung des europäischen Gleichgewichts von außen mit „Seedespotie“ gleichsetzten. In der Wahl zwischen einem universalen napoleonischen Kaisertum über Europa und einer britischen Weltherrschaft verbunden mit wirtschaftlicher Abhängigkeit hielt mancher die Eroberungs- und Unterwerfungspolitik des Korsen für das geringere Übel, das ohnehin rasch vorübergehen und enden werde. Demgegenüber stand Napoleon im Hochsommer 1806 ganz unangefochten da. Zuletzt hatte er mit der Errichtung des Rheinbundes als einer „Préfecture franc