Katastrophe und Gedächtnis 9783110307559, 9783110337631


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German Pages 452 Year 2014

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Table of contents :
Einleitung
D’une catastrophe épistémologique ou la catastrophe génocidaire comme négation de la mémoire
Der Engel der Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Gedächtnistheoretische Umschreibungen der Katastrophe (Frankreich, Mexiko, Italien)
Im Nervenzentrum der Katastrophe. Die Großstadt als traumatischer Gedächtnisraum in Döblins Berlin Alexanderplatz
Erinnerung in extremis oder: Die Schreibweisen des Entsetzens. Reflexionen über Krieg und Kunst
Eine Chronik des Exils. Erinnerungsarbeit in Anna Seghers’ Transit
Höllenfahrt ohne Auferstehung. Die Unterweltsreise als Narrativ katastrophischen Erinnerns
Topographien der Auslöschung. Cayrol, Resnais, Lanzmann
»[…] en contournant le quartier juif […]«. Verdrängung und Erinnerung in Albert Camus’ La Chute
Umschreiben und Erschreiben. Das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald
»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben«. Zur Leistung des Ich-Erzählers im Spannungsfeld von Katastrophe und Gedächtnis (Jorge Semprún, Imre Kertész, Norbert Gstrein)
Literatur und Überleben. Die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi
»Wofür nur das alles?« Zur literarischen Shoah-Darstellung in der DDR
»Auf das Wo komme es eigentlich an«. Memory, Catastrophe, and Society in Lanzmann, Rousseau, and Goethe
»Anekdoten wie Mandelblättchen«. Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoahliteratur von Frauen
Liebesleuchten und Lynchings. Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated (2002) und Philip Roths The Plot against America (2004) im Kontext der jüdisch-amerikanischen Holocaustliteratur
Trauma und Sinnstiftung im englischen Gegenwartsroman am Beispiel Kazuo Ishiguros
Der Augenzeuge und das Unsagbare. Narrative der Shoah in 9/11-Romanen
»Wozu klagen, Spätgeborner?« Die Zerstörung Dresdens in der deutschen Literatur nach 1989
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Katastrophe und Gedächtnis
 9783110307559, 9783110337631

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Katastrophe und Gedächtnis linguae & litterae

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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Frauke Janzen

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De Gruyter

Katastrophe und Gedächtnis Herausgegeben von Thomas Klinkert und Günter Oesterle

De Gruyter

ISBN 978-3-11-030755-9 e-ISBN 978-3-11-033763-1 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

V

Inhalt

Thomas Klinkert und Günter Oesterle Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Aurelia Kalisky D’une catastrophe épistémologique ou la catastrophe génocidaire comme négation de la mémoire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Vittoria Borsò Der Engel der Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Gedächtnistheoretische Umschreibungen der Katastrophe (Frankreich, Mexiko, Italien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alexander Honold Im Nervenzentrum der Katastrophe. Die Großstadt als traumatischer Gedächtnisraum in Döblins Berlin Alexanderplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angelika Corbineau-Hoffmann Erinnerung in extremis oder: Die Schreibweisen des Entsetzens. Reflexionen über Krieg und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Lutz Winckler Eine Chronik des Exils. Erinnerungsarbeit in Anna Seghers’ Transit . 148 Günter Butzer Höllenfahrt ohne Auferstehung. Die Unterweltsreise als Narrativ katastrophischen Erinnerns . . . . . 167 Silke Segler-Meßner Topographien der Auslöschung. Cayrol, Resnais, Lanzmann . . . . . 191 Peter Kuon »[…] en contournant le quartier juif […]«. Verdrängung und Erinnerung in Albert Camus’ La Chute . . . . . . . 223 Rolf G. Renner Umschreiben und Erschreiben. Das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

VI

Inhalt

Monika Neuhofer »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben«. Zur Leistung des Ich-Erzählers im Spannungsfeld von Katastrophe und Gedächtnis (Jorge Semprún, Imre Kertész, Norbert Gstrein) . . 257 Marisa Siguan Literatur und Überleben. Die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Thomas Schmidt »Wofür nur das alles?« Zur literarischen Shoah-Darstellung in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Claudia Brodsky »Auf das Wo komme es eigentlich an«. Memory, Catastrophe, and Society in Lanzmann, Rousseau, and Goethe . . . . . . . . . . . 320 Bettina Bannasch »Anekdoten wie Mandelblättchen«. Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoahliteratur von Frauen . . . . . . . . . 333 Michael Butter Liebesleuchten und Lynchings. Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated (2002) und Philip Roths The Plot against America (2004) im Kontext der jüdisch-amerikanischen Holocaustliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Dorothee Birke Trauma und Sinnstiftung im englischen Gegenwartsroman am Beispiel Kazuo Ishiguros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Ursula Hennigfeld Der Augenzeuge und das Unsagbare. Narrative der Shoah in 9/11-Romanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Gesa von Essen »Wozu klagen, Spätgeborner?« Die Zerstörung Dresdens in der deutschen Literatur nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Einleitung

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Thomas Klinkert und Günter Oesterle (Freiburg/Gießen)

Einleitung

I. Es besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Literatur an der Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses entscheidend mitwirkt.1 Dies gilt nicht nur in archaischen Zeiten, in denen die res gestae dem Gedächtnis künftiger Generationen anvertraut werden, sondern es gilt auch für die Moderne, in der literarische Texte Teil eines Traditionszusammenhangs sind, mittels dessen eine Gesellschaft sich selbst eine kulturelle Identität zuschreibt. Insbesondere jene Elemente gesellschaftlicher Interaktion, die normativen Erwartungen ausgesetzt sind (beispielsweise Liebeskonzeptionen, Umgang mit Emotionen wie Freude, Trauer, Hass, Haltung, die man zu sich selbst einnimmt, Positionierung des Einzelnen in der Gesellschaft, Bildung usw.), werden Gegenstand bewahrenswerter Kommunikation und können dadurch als aktualisierbarer Sinn (bzw. Semantik im Luhmann’schen Verständnis)2 jederzeit verwendet werden. Eine so verstandene Konzeption des kulturellen Gedächtnisses beruht auf dem Gedanken der Kontinuität. Im Extremfall wird solche Kontinuität durch Rituale oder durch die Religion über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten bzw. es wird suggeriert, dass es eine solche Kontinuität gebe. Diese Kontinuität überschreitet auch den Tod des Einzelnen. Was aber geschieht, wenn aufgrund einer Katastrophe eine ganze Gesellschaft vernichtet wird?3 In der Literaturgeschichte gibt es berühmte Fälle, in 1

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Vgl. z. B. Friedrich Ohly, Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, München 1992; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. Vgl. Niklas Luhmann, »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (1980), Bd. 1, Frankfurt a.M. 1993, S. 9–71, hier S. 19, wo er unter Semantik »einen höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn« versteht. Der »semantische Apparat« einer Gesellschaft ist der »Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln«. Unter Katastrophe sei hier und im Folgenden gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch ein destruktives Ereignis großen Ausmaßes verstanden, welches nicht nur einzelne Mitglieder eines Kollektivs, sondern das Kollektiv insgesamt betrifft. Dabei kann es sich sowohl um Naturereignisse (Erdbeben, Überschwemmungen,

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Thomas Klinkert und Günter Oesterle

denen ein literarischer Text in einem engen, geradezu konstitutiven Zusammenhang mit einer Katastrophe steht. Man denke an Boccaccios Decameron, welches seinen Ausgangspunkt in der verheerenden Pestepidemie von 1348 hat. In der Rahmenhandlung des Decameron wird erzählt, wie die Pest in Florenz nicht nur über hunderttausend Opfer fordert, sondern wie die zivilisatorischen Errungenschaften der Florentiner Gesellschaft angesichts des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung weitgehend aufgegeben werden. Die Menschen verlieren ihr Schamgefühl, die Toten werden nicht mehr bestattet, die Gesellschaft versinkt im Chaos. Dieser Katastrophe entziehen sich die zehn Protagonisten des Decameron, indem sie sich auf ein Landgut begeben und dort eine narrative Gegenordnung errichten, die im Modus der Erinnerung die untergegangene Welt wieder aufleben lässt. Andere historische Beispiele könnten hier genannt werden, etwa die Literatur, die vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges entstand (Grimmelshausen, Gryphius) oder die Literatur, die sich mit den Folgeerscheinungen der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege befasst (Foscolo, Chateaubriand, Stendhal). Zu nennen sind im 20. Jahrhundert der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution, der Spanische Bürgerkrieg, der italienische Faschismus, der deutsche Nationalsozialismus, der Stalinismus, der Vietnamkrieg, der jugoslawische Bürgerkrieg, die Genozide in Kambodscha und Ruanda und vieles mehr. Auch sie wurden und werden vielfach literarisch dargestellt und reflektiert. Solche Katastrophen hatten komplexe Ursachen, und sie sind keineswegs in jeder Hinsicht miteinander vergleichbar. Wenn sie hier in einer Reihe genannt werden, soll auch keineswegs unterstellt werden, dass die damit verbundenen Verbrechen auf einer Stufe stehen. Es geht vielmehr um die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Literatur und kulturellem Gedächtnis unter dem Eindruck solcher Katastrophen jeweils verändert hat. Denn bei allen Unterschieden ist doch festzuhalten, dass ein gemeinsames Merkmal der genannten menschengemachten Katastrophen insbesondere des 20. Jahrhunderts, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren möchten, die Vernichtung der sozialen Rahmenbedingungen des Gedächtnisses ist.4 Der Extremfall ist hier die (weitgehende) Auslöschung eines ganzen Volkes, wie des jüdischen Volkes durch die Nationalsozialisten. Zu denken ist aber auch an die soge-

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Seuchen) als auch um menschenverursachte Ereignisse (Krieg, Bürgerkrieg, Vernichtungsaktionen) handeln. Eine begriffsgeschichtliche Diskussion und Problematisierung des Konzepts der Katastrophe findet sich in dem Beitrag von Aurelia Kalisky im vorliegenden Band. Vgl. hierzu Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire (1925), Paris/La Haye 1976.

Einleitung

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nannten ›ethnischen Säuberungen‹, die ›Umsiedlungsaktionen‹ in der Sowjetunion oder in Osteuropa. All diese und viele andere politische Entscheidungen hatten u. a. zur Folge, dass Kommunikationsbedingungen, die zur Identität einer sozialen Gruppe in einem konstitutiven Verhältnis standen, zerstört wurden. Wie kann die Literatur auf solche Situationen reagieren? Gibt es eine ungebrochene Kontinuität in Bezug auf die Gedächtnisfunktion der Literatur oder muss diese sich diesbezüglich völlig neu definieren? Die Frage stellt sich umso dringlicher, als bekanntermaßen die Literatur des 20. Jahrhunderts zumindest in ihren radikalen, avantgardistischen Ausformungen das Verhältnis zur kulturellen Tradition fundamental infrage stellt. Es genügt, an die anti-traditionalistischen Einstellungen der Futuristen zu erinnern, die beispielsweise programmatisch die Schönheit eines stinkenden Automobils über die einer antiken Statue gestellt haben. Dieser Befund lässt sich auch auf die Entwicklungen der Musik oder der Malerei des 20. Jahrhunderts ausdehnen. Auch hier kommt es zu radikalen Brüchen mit der Tradition, etwa im Kubismus oder in der Zwölftonmusik. Wenn nun auf der einen Seite die Literatur am kulturellen Gedächtnis partizipiert, wenn sie andererseits vor der Herausforderung steht, das kulturelle Gedächtnis angesichts historischer Katastrophen und Traditionsbrüche völlig neu definieren zu müssen, und wenn sie drittens aufgrund ihrer eigenen Entwicklung im 20. Jahrhundert dem ästhetischen Ideal der Negativität verpflichtet ist, dann stellt sich die Frage, ob dies alles miteinander zu vereinbaren ist und wenn ja, dann wie.

II. Das Dilemma der Beziehung zwischen Katastrophe und Gedächtnis lässt sich folgendermaßen beschreiben: Das Gedächtnis braucht einerseits Distanz zur Katastrophe, um überhaupt auffassen, begreifen, wiederholen und ›ausagieren‹ zu können; andererseits ist die Distanz des Gedächtnisses nicht so beschaffen, dass es unbeeindruckt vom Katastrophischen bleiben kann – gleichsam eine mnemotechnische Registratur oder ein neutrales Archiv –, nein, die in die Katastrophe verwickelte Erinnerung ist selbst katastrophisch infiziert, sie ist ›punktiert‹. Jean Paul hat im Postskript zum Quintus Fixlein diese aus dem Mittelalter auch emblematisch bekannte ›Punktuation‹ auf die griffige Formel gebracht: »Und da der Stachel des lang vergangnen Unglücks noch in der Erinnerung sticht, wie der ausgerissene Stachel einer zerquetschten Wespe«.5 Friedrich Nietzsche hat in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral 5

Jean Paul, »Leben des Quintus Fixlein«, in: ders., Werke, Bd. 1, Norbert Miller (Hrsg.), München/Wien 1988, S. 7–260, hier S. 259 (Postskriptum).

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Thomas Klinkert und Günter Oesterle

diesen Sachverhalt noch drastischer zu formulieren gewusst: »[N]ur was nicht aufhört wehezutun bleibt im Gedächtnis«.6 Die im Blick auf Katastrophen festgestellte Zweigesichtigkeit des Gedächtnisses – einerseits distanziert, andererseits affiziert zu sein – ermöglicht fünf Aspekte zu unterscheiden und zu differenzieren: einen kulturanthropologischen, einen medialen, einen narratologischen, einen identitären und einen zeitdiagnostisch modernen. Paul Valéry hat die distanzschaffende Funktion der Erinnerung mit einer anthropologischen »Insuffizienz des Menschen« erklärt, die die strukturelle Nachträglichkeit der Erinnerung als Verarbeitungsinstanz der zu schnellen Sinneswahrnehmungen braucht. Der Mensch sei nicht in der Lage, die plötzlichen und überraschenden »Eindrücke« sofort zu verarbeiten. Die Erinnerung sei »die Elementarerscheinung […], um die Zeit zur Organisierung der Reizaufnahme zu gönnen, die uns zuerst gefehlt hat.«7 Diese erinnerungskonstitutive Nachträglichkeit angesichts des Katastrophischen korrespondiert aufs Genaueste dem von Jean Paul und Nietzsche benannten Schmerzstachel der Erinnerung. Das Wechselreiten zwischen beidem, dem Echo des Schmerzes als Impuls und der durch Nachträglichkeit gewährten Distanz, stellt die anthropologische Voraussetzung für das Erzählen dar. Die verschiedenen Erinnerungsstrategen und Erzähltheoretiker gewichten die beiden Seiten unterschiedlich. Krikor Beledian hat angesichts des Genozids an Armeniern die partielle Sistierung des Katastrophischen als Bedingung der Möglichkeit für ein Narrativ erklärt: »Die Erinnerung muß die Katastrophe in dem Moment leugnen, in dem sie sich ihr öffnet. So wird die Katastrophe als Erinnern durch das Unerinnerbare bestimmt werden.«8 Diesem Unerinnerbaren geht Lyotard nach, indem er das Nicht- und Niebewältigbare der Katastrophe als einen Stachel des »unvergeßlich Vergessene[n]« thematisiert.9 Das heißt, die Darstellung der Katastrophe muss das Undarstellbare als ihr Anderes latent mit sich führen.

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Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), München/Berlin/New York 1999, S. 295. Paul Valéry, Analecta, Paris 1935, S. 264. Vgl. Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, S. 605–653, hier S. 614. Krikor Beledian, »Die Katastrophe und die Erfahrung sprachlicher Grenzen in der armenischsprachigen Literatur«, in: Mihran Dagab/Antje Kapust/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 297–316. Jean-François Lyotard, Heidegger und ›die Juden‹, Peter Engelmann (Hrsg.), Wien 1988, S. 38.

Einleitung

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Daraus lässt sich dreierlei folgern: Erstens ist die Erinnerung einer Katastrophe nie abschließbar, sie bleibt unendlich. Walter Benjamin hat das Bodenlose und Abgründige an Prousts Erinnerungsarbeit studiert und ins Bild gebracht: Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche […] und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten ins Winzige und immer gewaltiger wird was ihm in diesem Mikrokosmos entgegenspringt.10

Die Forschung hat zweitens beispielhaft an Uwe Johnsons Jahrestagen zeigen können, wie sich ein spezifisches Narrativ angesichts des Erinnerns des Katastrophischen entwickelt, welches darin besteht, das »Verschwiegene mitzuerzählen«.11 Das hat schließlich drittens zur Folge, dass alle traditionellen, kollektiv verbindlichen Zeitschemen und Zeitrituale kollabieren.12 Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Erinnerung von Katastrophen legt das Prekäre des identitären Gedächtnisses offen. Paul Valéry hat hellsichtig davor gewarnt, die identitäre Funktion des Gedächtnisses überzustrapazieren: »Das Gedächtnis gilt im herkömmlichen Sinne als identitätsstiftend, täuscht indes nur habituell die Identität eines Gegebenen vor, das de facto variant und invariant zugleich ist.«13 Die Reflexion über Erinnerung von Katastrophen eröffnet die Möglichkeit, den dadurch ausgelösten Identitätszerfall des kollektiven Gedächtnisses und seiner Neuformierung zeitdiagnostisch zu analysieren. In einem 2001 erschienenen Aufsatz hat Andreas Langenohl zwei für miteinander unvereinbar gehaltene Forschungsrichtungen analysiert, eine solche, die die vergemeinschaftende identitäre Wirkung kollektiven Erinnerns in den Vordergrund rückt, und eine andere Forschungsrichtung, die sich auf die dissoziative Wirkung von Phänomenen des kollektiven Gedächtnisses beziehen lässt. Freilich könnten in modernen Gesellschaften, in denen »praktisch zu jeder Deutung der Vergangenheit eine Gegendeutung erwartbar und beobacht10

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Walter Benjamin, Berliner Chronik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1991, S. 467f. Vgl. Günter Butzer, Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1998; Christian Elben, »Ausgeschriebene Schrift«. Uwe Johnsons »Jahrestage«: Erinnern und Erzählen im Zeichen des Traumas, Göttingen 2002. Vgl. Thomas Schmidt, Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses, Göttingen 2000. Hans Robert Jauß, »Die Kritik der Erinnerung in Valérys Cahiers«, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hrsg.), Memoria – Vergessen und Erinnern, München 1993, S. 425–429, hier S. 426. Jauß paraphrasiert hier einen Gedanken aus Valérys Cahiers.

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Thomas Klinkert und Günter Oesterle

bar sei«, »die dissoziativen von den integrativen Effekten kollektiver Erinnerung nicht mehr systematisch getrennt werden«. Häufig sei es sogar so, dass »die integrativen Tendenzen sich erst aus den dissoziativen ergeben« würden.14 Ein solcher Fall liegt vor in der Beobachtung Ernest Renans, dass moderne Staaten ihre Herkunftsidentität nicht mehr auf heroisch errungene Siegestaten, sondern auf selbstverursachte Katastrophen gründen. Die Bundesrepublik Deutschland ist dafür keineswegs das einzige, wenn auch ein herausragendes Beispiel. In diesem Kontext beschreibt Reinhart Koselleck eine im Nachkriegsdeutschland beobachtbare Umbesetzung von einem heldisch-offensiven Opfer, das fürs Vaterland gestorben ist, zu einem passiven Opfer, das bloß gelitten hat. Zu dieser ›Umbuchung‹ moderner Erinnerungskulturen vom Sieg zur Katastrophe passt ein wahrnehmungstheoretischer Befund in der Moderne. Der amerikanische Psychologe James Pennebaker führte eine Umfrage in der Bevölkerung durch, um herauszufinden, welche epochalen Ereignisse aus dem 20. Jahrhundert erinnert würden. Es stellte sich folgendes überraschende Ergebnis heraus: Nicht mehr Sieg oder Niederlage gelten als Merkzeichen für Erinnerungswürdiges, sondern Ereignisse, die die kollektive Wahrnehmung am nachhaltigsten verändert haben.15 Aus der Perspektive der Überlegungen Renans und Pennebakers lassen sich historisch konkrete unterschiedliche Erstreaktionen auf kriegerische Katastrophen durch die Regierungen Nazideutschlands und der Vereinigten Staaten benennen. Nach der Niederlage in Stalingrad versprach sich Goebbels einen Therapieeffekt davon, dass während der dreitägig anberaumten Nationaltrauertage im Radio permanent in deutscher, italienischer und rumänischer Sprache Ich hatt’ einen Kameraden abgespielt wurde. Nach der Rückmeldung über die Stimmung in der Bevölkerung wurde dieses Ritual freilich abgebrochen und durch Hitlers Verbot, das Wort ›Stalingrad‹ fortan auszusprechen, ersetzt. Im Gegensatz dazu steht die Reaktion Roosevelts auf die Katastrophe des japanischen Überfalls auf Pearl Harbor. Nach anfänglichen Bedenken entschloss er sich, die furchtbaren Bilder der Zerstörung und des Todes in die Kinos zu bringen – mit dem Erfolg, dass der Widerstandswille in der Bevölkerung stieg. Zu dieser medialen und performativen Wirkmächtigkeit passt Frank Trommlers Einschätzung, dass nach Katastrophen weniger Mahnmäler und Dokumentationsstätten, als vielmehr affektintensivierende Kunstwerke einen Wiederanschluss unterbrochener Kommunikation ermöglichten. 14

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Andreas Langenohl, »Erinnerungskonflikte und Chancen ihrer Hegung«, in: Soziale Welt, Bd. 52/2001, Heft 1, S. 71–91, hier S. 71f. Vgl. James Pennebaker u. a. (Hrsg.), Collective Memories of Political Events. Social Psychological Perspectives, Hillsdale, New Jersey 1997.

Einleitung

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III. Als ein literarisches Beispiel, an dem sich der Zusammenhang von Katastrophe und Gedächtnis besonders deutlich ablesen lässt, möchten wir im Folgenden kurz den Roman Suite française von Irène Némirovsky (1903–1942) betrachten. Die Autorin war russisch-jüdischer Herkunft und hatte sich seit den späten zwanziger Jahren in Frankreich als französischsprachige Autorin etabliert. Obwohl sie sich 1939 taufen ließ, gehörte sie aufgrund ihres Status als Ausländerin im Rahmen der nach der Okkupation durch die Deutschen eingeführten Judengesetzgebung zu den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen. In den Jahren 1941 und 1942 lebte sie mit ihrer Familie in Issy-l’Evêque und schrieb unter erschwerten Bedingungen an dem Roman Suite française, der ursprünglich auf fünf Teile angelegt war, in seiner endgültigen, unvollendeten Form aber nur aus zwei – immerhin 500 Seiten umfassenden – Teilen besteht. Der erste Teil trägt den Titel Tempête en Juin, der zweite ist mit Dolce überschrieben. Die Autorin, die am 13. Juli 1942 verhaftet, interniert und schließlich nach Auschwitz deportiert wurde, wo die Nationalsozialisten sie am 17. August ermordeten, hat ihr Manuskript vor ihrer Deportation ihren Töchtern anvertraut, die beide den Krieg überlebten. Der Roman erschien postum im Jahr 2004. Die Besonderheit von Suite française besteht darin, dass hier eine Autorin, die sich keinerlei Illusionen über das den Juden von den Nationalsozialisten zugedachte Schicksal machte, die zeitgeschichtlichen Ereignisse aus der Erlebnisperspektive beobachtete und diese Beobachtung in eine Fiktion transformierte. Im ersten Teil des Textes werden im Wesentlichen Ereignisse erzählt, die in den Monaten Juni und Juli 1940 stattfinden. Anhand mehrerer Einzelfiguren, die pars pro toto die französische Gesellschaft repräsentieren, werden die chaotischen Bedingungen dargestellt, die nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich herrschten. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die großbürgerliche Familie Péricand, der Schriftsteller Corte, das kleinbürgerliche Ehepaar Michaud und der Porzellanhändler Langelet. Sie alle sind gezwungen, Paris zu verlassen und vor den herannahenden deutschen Truppen in den unbesetzten Teil Frankreichs zu fliehen. Bei dieser Massenflucht kommt es zu tumultartigen Szenen: Die Straßen sind blockiert, Lebensmittelvorräte und Kraftstoff reichen nicht für die anströmenden Massen, es kommt zu Plünderungen, Mundraub und Gewaltausbrüchen bis hin zum Mord, und das alles vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen, die auch die Zivilbevölkerung gefährden. Ein besonders eindringliches Beispiel für den Rückfall von der Zivilisation in die Barbarei ist die Geschichte von Philippe Péricand, einem katholischen Priester, der eine Gruppe von Waisenkindern auf der

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Thomas Klinkert und Günter Oesterle

Flucht von Paris in den Süden begleitet. Sein Großvater unterstützt das Waisenhaus finanziell, und Philippe hat sich selbstlos bereiterklärt, die schwierige Mission zu übernehmen. Auf der Reise kommt es zu einem Zwischenfall, bei dem einige der Waisenkinder, während die anderen unter freiem Himmel übernachten, in ein verlassenes Anwesen eindringen. Der Priester folgt ihnen und will sie daran hindern, Gegenstände aus dem unbewohnten Haus zu entwenden. Dabei schlagen sie ihn bewusstlos und ertränken ihn in einem Teich, um ungestört das Anwesen plündern zu können. An einer anderen Stelle des Textes ist von einem Streit zwischen Mme Péricand und ihren jüngeren Kindern Jacqueline und Bernard die Rede, bei dem die Mutter, weil ihre Kinder sich verbotenerweise an den mitgenommenen Vorräten zu schaffen gemacht haben, in rasende Wut gerät, was offenbar für sie sehr untypisch ist: La charité chrétienne, la mansuétude des siècles de civilisation tombaient d’elle comme de vains ornements révélant son âme aride et nue. Ils étaient seuls dans un monde hostile, ses enfants et elle. Il lui fallait nourrir et abriter ses petits. Le reste ne comptait plus.16

Anhand des Soldaten Jean-Marie Michaud wird der Zusammenhang von Trauma und Gedächtnis thematisiert. Jean-Marie, der Sohn des Bankangestelltenehepaars Michaud, ist bei einem der Gefechte schwer verletzt worden und wird nun in einem Bauernhaus in Bussy gepflegt. Als er aus seinen Fieberträumen erwacht, fällt sein Blick als erstes auf einen Kalender, der eine Szene aus dem Ersten Weltkrieg darstellt. In den Gesprächen, die die Bewohner des Hauses miteinander führen, ist ständig die Rede von Ereignissen des Ersten Weltkrieges (Verdun, Charleroi, La Marne, Mulhouse usw.), während über den aktuellen Krieg so gut wie gar nicht gesprochen wird: »De la guerre présente, de la défaite, on parlait peu, elle n’avait pas encore pénétré les esprits, elle ne prendrait sa forme vivante et terrible que des mois plus tard, peut-être des années […].«17 Dieser Gedanke enthält eine implizite Theorie des kollektiven Gedächtnisses bzw. der ihm innewohnenden spezifischen Zeitstruktur. Einschneidende Ereignisse wie Krieg und Besatzung benötigen offenbar eine bestimmte Latenzzeit, um gedächtnisfähig zu werden. Es ist kein Zufall, dass der Text in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass Jean-Marie im Ersten Weltkrieg geboren wurde. Durch diesen Hinweis wird der zeitliche Abstand zwischen den beiden Kriegen markiert, und es wird klargemacht, dass die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg als ein Ereignis, welches prägend für eine ganze Generation von Menschen war, den zeitlichen Abstand einer Generation voraussetzt. 16 17

Irène Némirovsky, Suite française, Paris 2006, S. 99. Ebd., S. 203f.

Einleitung

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Ein zweiter wichtiger Punkt, der in diesem Kapitel thematisiert wird, ist die Diskrepanz zwischen der privaten und der politischen Erinnerung. So wird etwa gesagt, dass Jean-Maries Eltern sich an das Jahr 1914, also den Beginn des Ersten Weltkrieges, in erster Linie als an das Jahr ihrer eigenen Vermählung erinnern. »›1914? C’est l’année où nous nous sommes mariés, ton père et moi. Nous avons été très malheureux pour finir mais très heureux pour commencer.‹ Et pourtant cette sinistre année avait été adoucie, colorée par le reflet de leur amour.«18 Die private Perspektive auf die Ereignisse der Vergangenheit weicht also markant von der politischen Perspektive ab. Daraus lässt sich folgern, dass eine kollektive Erinnerung immer Ausdruck einer Konventionalisierung ist, dass man sich, mit anderen Worten, nach einer bestimmten Zeit im Kollektiv darauf geeinigt hat, welche Elemente der Vergangenheit besonders privilegiert erinnert werden. Dieser Schritt zur Bildung eines kollektiven Gedächtnisses ist im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg schon vollzogen worden, während er im Hinblick auf den gerade stattfindenden Zweiten Weltkrieg, dessen Konsequenzen, wie wir heute wissen, noch viel gravierender waren als die des Ersten, erst noch bevorsteht. Eine wichtige Voraussetzung für die Bildung eines kollektiven Gedächtnisses ist das Erzählen von Geschichten. Insofern wirkt der Text, der uns diese Geschichte erzählt, also Suite française, selbst an der erst noch zu leistenden sozialen Konvention hinsichtlich der Ausprägung eines kollektiven Gedächtnisses mit. Genau dies bzw. das damit verbundene Scheitern reflektiert der Text an dieser und auch an vielen anderen Stellen. Zu nennen ist hier insbesondere der Schriftsteller Corte, dessen großbürgerlich komfortable Welt durch den Exodus aus Paris genauso zerbrochen ist wie die vieler anderer der im Roman dargestellten Figuren. Als er endlich ein Hotelzimmer in der Provinz erreicht hat und erstmals zum Nachdenken über die Ereignisse der letzten Tage kommt, wird ihm bewusst, dass eine radikale Veränderung stattgefunden hat und dass dies Auswirkungen auf seinen Stellenwert als Schriftsteller haben wird. Bei seiner Flucht führt er ein Romanmanuskript bei sich, von dem er nun meint, dass es für die Zukunft überhaupt nicht mehr tauglich sei. Il pensa à son roman, à ce manuscrit sauvé du feu, des bombes, et qui reposait sur une chaise. Il éprouva un intense découragement. Les passions qu’il décrivait, ses états d’âme, ses scrupules, cette histoire d’une génération, la sienne, tout cela était vieux, inutile, périmé. Il dit avec désespoir: périmé!19

18 19

Ebd., S. 205. Ebd., S. 245.

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Thomas Klinkert und Günter Oesterle

Cortes Überlegungen zielen somit genau auf jene Erfahrung des Bruchs, der Diskontinuität, des Zerbrechens einer alten Ordnung, welche in Némirovskys Suite française insgesamt dargestellt wird. Die Frage, die Corte sich stellt, ist auch die Frage, mit der Némirovsky sich auseinandersetzen musste, nämlich wie man angesichts einer zerbrechenden Gesellschaftsordnung ein Kunstwerk schaffen kann, das für eine Zukunft von Lesern geeignet ist, deren Erinnerungsmodi noch völlig unbekannt sind. Kommunikationstheoretisch gesprochen gilt für jeden Text, dass er ein Stück Vergangenheit in die Zukunft projiziert. Denn ein Text ist ja nichts anderes als die Basis für eine Kommunikationshandlung im Rahmen einer ›zerdehnten Sprechsituation‹,20 d. h. der Text fungiert als Umschaltstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, und beide Zeitdimensionen sind gleichermaßen konstitutiv für seine Existenz. Das Problem, das sich hieraus ergibt, besteht in der Notwendigkeit, für das Verständnis unabdingbare Kontextbedingungen für den künftigen Rezipienten des Textes bereitzustellen. Ein geschriebener Text muss daher expliziter sein als ein mündlicher Kommunikationsakt. Will ein Text von einer Vergangenheit Zeugnis ablegen, die, wie Corte es treffend diagnostiziert, abgelaufen ist (»périmé«), dann muss er also mehr an Kontextbedingungen liefern, als wenn das imaginierte Zielpublikum in einer kulturellen Kontinuität zu der Vergangenheit steht. Genau dies unternimmt Némirovskys Text, der die vor den Augen der Autorin zerbrochene Gesellschaftsordnung ausführlich rekonstruiert und zugleich das Zerbrechen dieser Ordnung vorführt. Damit situiert sich der Text genau in jenem Spannungsverhältnis zwischen Destruktion und Restitution, welches in den Beiträgen des vorliegenden Bandes aus unterschiedlichen Perspektiven und anhand unterschiedlicher historischer Zusammenhänge untersucht wird.21 20

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Vgl. Konrad Ehlich, »Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung«, in: Aleida Assmann/Jan Assmann/ Christof Hardmeier (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis, München 1983, S. 24–43, hier S. 32. Die meisten der hier versammelten Beiträge sind aus Vorträgen hervorgegangen, die anlässlich eines Kolloquiums gehalten wurden, das am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) vom 25. bis zum 27. Juni 2009 stattfand. Die Herausgeber dieses Bandes sind der sprach- und literaturwissenschaftlichen Abteilung des FRIAS, zu dessen Fellows sie damals zählten und dem sie viele anregende Begegnungen verdanken, und insbesondere dem Leiter dieser Abteilung, Werner Frick, zu großem Dank für die finanzielle und logistische Unterstützung verpflichtet. Ebenfalls möchten wir uns bei Dorothee Gomille bedanken, die als damalige Doktorandin des Romanischen Seminars der Universität Freiburg bei der Konzeption und Durchführung des Kolloquiums tatkräftig mitgewirkt hat. Ihre Dissertation, aus der sie im Rahmen des Kolloquiums ein Kapitel vorstellte, wurde

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IV. Eingeleitet wird der Band durch zwei theorieorientierte Aufsätze. Aurelia Kalisky stellt zu Beginn die für alle hier vorgelegten Beiträge grundlegende Frage nach den epistemologischen Konsequenzen, welche sich aus den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts für das Archiv und damit für das kulturelle Gedächtnis ergeben. Kalisky vertritt die These, dass sich die spezifischen Formen kollektiver Gewalt bis hin zum Genozid im 20. Jahrhundert tendenziell als Vernichtung des Archivs vollziehen, da ihre Urheber darauf bedacht seien, die den von ihnen begangenen Taten eingeschriebenen Gewaltspuren auszulöschen. Es handle sich mithin um sich selbst negierende Verbrechen. Dadurch erwachse der individuellen Zeugenschaft und der persönlichen Erinnerung Einzelner eine besondere Bedeutung, die zugleich aber im Zeitalter des Archivs, in dem historische Faktizität nur dann anerkannt werde, wenn sie sich auf Dokumente des Archivs stützen könne, einen grundsätzlich fragwürdigen Status besitze. Die Prekarität individueller Zeugenschaft werde indes teilweise supplementiert durch literarisch transformierte Darstellungen der Katastrophen, beispielsweise im Fall des Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, insbesondere aber im Zusammenhang mit der Shoah. Die epistemologische Dimension von Walter Benjamins gedächtnistheoretischen Überlegungen in den Geschichtsphilosophischen Thesen untersucht Vittoria Borsò, indem sie Benjamins Thesen im Lichte der seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eingetretenen historischen Katastrophen neu liest. Sie vertritt die These, dass sich die Kunst des Gedächtnisses bei Benjamin in der Zäsur zwischen Bild und Kommentar, zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit, manifestiere. Anhand einiger Beispiele zeigt sie auf, wie Benjamins Thesen in Frankreich (Didi-Huberman, Rancière), Lateinamerika (Bolívar Echeverría) und Italien (Magris) sowohl auf der Ebene der Theoriebildung als auch auf der Ebene ästhetischer Praxis weitergedacht wurden. Auf die beiden Grundsatzbeiträge zur Theoriebildung folgt eine Reihe von Fallstudien zu unterschiedlichen historischen Katastrophen des 20. Jahr2011 abgeschlossen und ist unter dem Titel Den Holocaust erzählen. Untersuchungen zum erinnernden Schreiben in Giorgio Bassanis »Romanzo di Ferrara« im Netz veröffentlicht worden (vgl. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/8568/pdf/ Diss_DGomille.pdf). Bei der Organisation des Kolloquiums wurden wir seitens des FRIAS von Christine Rühling, Ursula Menne und Kristina Huch unterstützt. Unser Dank geht auch an Simone Baum und Marion Wenzel, die bei der Durchführung des Kolloquiums im unermüdlichen Einsatz waren, sowie an Johanna Gropper, Anna Pevoski und Frauke Janzen, die uns zusammen mit Simone Baum bei der redaktionellen Gestaltung des Manuskripts geholfen haben.

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hunderts. Zunächst geht es um den Ersten Weltkrieg. In einer intensiven Lektüre von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz zeigt Alexander Honold, dass diesem Text durch Zitate, Allusionen und Verschlüsselungen das Gedächtnis an den Ersten Weltkrieg unterschwellig eingeschrieben ist. Der Protagonist Franz Biberkopf erscheint in Honolds Lektüre als an einer Kriegsneurose leidende Figur, die unter einem Wiederholungszwang steht. So deutet Honold die Fahrt des aus dem Gefängnis entlassenen ehemaligen Häftlings Biberkopf mit der Linie 41 (eine Umkehrung von 14) zurück in die Stadt als Verschlüsselung eines Wunsches, ins Jahr 1914 zurückzukehren. Der Roman bilde die Unfähigkeit des Traumatisierten nach, über sein Trauma sprechen zu können, indem er die Analogie von Biberkopfs Großstadterfahrungen mit den Erlebnissen im Schützengraben zwar nahelege, aber nicht ausspreche, sodass ein blinder Fleck entstehe. Somit sei der Roman eine Schrift gegen die Abwesenheit des Krieges. Der Erste Weltkrieg bildet auch den Gegenstand von Angelika Corbineau-Hoffmanns Beitrag, der anhand des Malers Otto Dix und der Autoren Henri Barbusse und Wilfred Owen verschiedene Modi der Auseinandersetzung mit dem Kriegserlebnis untersucht. Für den Weltkriegsteilnehmer Dix sei der Krieg nicht nur eine persönliche Erfahrung gewesen, sondern auch eine künstlerische Herausforderung. Die Darstellungen des Krieges trügen somit die »doppelte Signatur von Erfahrung und Experiment«. Die epochale Bedeutung von Dix’ Kriegsbildern habe schon der französische Autor Henri Barbusse erkannt, der, seinerseits Weltkriegsteilnehmer, ein Vorwort zu einer Buchausgabe von Dix’ Zyklus Der Krieg verfasst hat. In seinem eigenen Buch Le feu stelle Barbusse seinerseits das Neuartige der Kriegserfahrung dar, indem er die Einschreibung derselben in die Wahrnehmung der Natur sichtbar mache. Auch die Lyrik von Wilfred Owen wird von Corbineau-Hoffmann als eine Variante der Darstellung des Kriegserlebnisses betrachtet, in der das Kriegstrauma durch Wiederholung und Erinnerung zu einer Katharsis gebracht werde. Eine zentrale Phase des 20. Jahrhunderts, in der Katastrophe und Gedächtnis in einen Zusammenhang gebracht werden, ist die NS-Zeit, welche in mehreren Beiträgen behandelt wird. Lutz Winckler untersucht den Zusammenhang von Exil und Erinnerungsarbeit am Beispiel von Anna Seghers’ Roman Transit, dessen Ich-Erzähler als Teil der Romanhandlung zugleich Zeuge der dargestellten Wirklichkeit und Doppelgänger eines toten Schriftstellers ist und somit zum Beispiel einer für traumatische Phänomene laut Freud charakteristischen Ich-Verdoppelung wird. Der Roman von Anna Seghers setzt sich aus heterogenen Elementen zusammen und verweist, so Winckler, durch die daraus resultierende Hybridität auf die historische Kri-

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sensituation, in der er entstanden ist. Bedroht sind, wie Wincklers Lektüre zeigt, nicht nur die kulturelle Überlieferung und die Literatur, sondern auch die individuelle Erinnerung. Eine zentrale Rolle spielt im Zusammenhang mit den Überlegungen des vorliegenden Bandes die von vielen Interpreten als unsagbar oder undarstellbar bezeichnete Auslöschung der Juden durch die Nationalsozialisten. Diese historische Erfahrung stellte die wenigen Überlebenden vor besondere Darstellungsprobleme, die teilweise im Rekurs auf die kulturelle Überlieferung zu lösen versucht wurden. Ein von manchen Autoren verwendetes Narrativ katastrophischen Erinnerns ist die in der kulturellen Tradition präformierte Unterweltsreise, welche Günter Butzer in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt. Nachdem er im ersten Teil seines Beitrags eine historische Typologie von Unterweltsreisen erstellt hat, untersucht er am Beispiel von Primo Levis Se questo è un uomo und von Werner Warsinskys Kimmerische Fahrt zwei Verwendungsweisen der Unterweltsfahrt im Zusammenhang mit der Darstellung von Krieg und Shoah. Levis Text verwendet den Topos der Unterweltsfahrt auf aporetische Art und Weise, denn aus dem von ihm als Hölle dargestellten Konzentrationslager gibt es keinen Weg zurück. In Warsinskys Text wird die Unterweltsfahrt zur Darstellung einer Kriegsneurose verwendet und, wie schon bei Döblin, zur Inszenierung eines traumatischen Wiederholungszwangs. Silke Segler-Meßner vergleicht in ihrem Beitrag zwei filmische Auseinandersetzungen mit der Shoah: Nuit et brouillard von Jean Cayrol und Alain Resnais sowie Shoah von Claude Lanzmann. Beide Filme problematisieren die Darstellung von ›Auschwitz‹ und erscheinen als exemplarische Dokumente einer »Krise filmischer Zeugenschaft«. Trotz der radikal unterschiedlichen ästhetischen Strategien, die in diesen Filmen verwendet werden, vermag Segler-Meßner Echo-Effekte und Korrespondenzen zwischen ihnen nachzuweisen, welche sie als Zeichen für die Komplementarität dieser Filme deutet. Cayrols narratives Werk interpretiert sie als Modell einer Ästhetik ›nach Auschwitz‹, bevor sie dann Resnais’ Film, zu dem Cayrol das Drehbuch schrieb, als in der Kontinuität der von Cayrol entwickelten »lazarenischen Ästhetik« stehend deutet und schließlich Shoah von Lanzmann als »halluzinatorische Erfahrung der Auslöschung« und damit als angemessene künstlerische Reaktion auf das Fehlen von Archivdokumenten liest. Peter Kuon analysiert Albert Camus’ Roman La Chute als einen Text, in dem Strategien des Verschweigens und des Verdrängens der Judenvernichtung inszeniert werden, denen eine unterschwellige Präsenz der verdrängten historischen Ereignisse im Text selbst entgegengestellt werde. Mit den Freud’schen Begriffen der Deckerinnerung und des Traumas operierend,

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vermag Kuon zu zeigen, auf welche Weise die Erinnerung an die Deportation und an die Vernichtungslager im Text chiffriert wird. Camus’ Roman greife dabei auch auf danteske Modellierungsverfahren zurück, welche er refunktionalisiere. Durch die Inszenierung der Shoah als eines ›leeren Ortes‹ stelle Camus das kollektive Versagen der frühen Nachkriegsgesellschaft dar, der es nicht gelang, ein nicht auf Verdrängen gegründetes Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg zu erzeugen. Den komplexen Zusammenhang zwischen imaginatio und memoria untersucht Rolf G. Renner am Beispiel von Jorge Semprún und W. G. Sebald. Der Buchenwald-Überlebende Semprún hat, wie Renner zeigt, in seinen Texten die Erinnerung an die tatsächlich erlebte Gewalt von Deportation und nationalsozialistischem Schreckensregime im Konzentrationslager mit ästhetisch gestalteten, sich aus fremden Texten und Medien speisenden Bildern der Gewalt montageartig kombiniert. Dies entspricht dem Leitprinzip von Semprúns Schreiben, d. h. der Transformation, dem Um-Schreiben der erlebten Traumata. W. G. Sebald dagegen kann auf keine selbst erlebte Erfahrung aufbauen, wenn er in seinem Roman Austerlitz durch intertextuelle und intermediale Konfigurationen die von seinem Protagonisten erlebte Gewalterfahrung imaginativ rekonstruiert. Die beiden Autoren verhalten sich mithin zueinander so wie die Begriffe des ›Um-Schreibens‹ und des ›Erschreibens‹. Anhand der drei Autoren Jorge Semprún, Imre Kertész und Norbert Gstrein stellt Monika Neuhofer die Frage, welche poetischen Transformationen der durch Katastrophen geprägten Wirklichkeit erfolgen können und wie diese poetischen Entwürfe auf das kollektive Gedächtnis von historischen Katastrophen zurückwirken. Erkenntnisleitende Funktion hat für Neuhofer die Ich-Erzählsituation und die damit verbundene besondere Form der Gedächtnisleistung, welche es gestattet, mit literarischen Mitteln davon zu schreiben, »worüber nicht gesprochen werden kann«. Die Untersuchung der drei Autoren kommt zu dem Ergebnis, dass sich mit der mnemonischen Leistung von Ich-Erzählungen eine kritische Reflexion über die Bedingtheit und Mittelbarkeit und damit letztlich über den Konstruktcharakter von Gedächtnis verbindet. Gegenstand des Beitrags von Marisa Siguan ist die überlebensstiftende Funktion der literarischen memoria bei Autoren, die wie Ruth Klüger, Jean Améry, Jorge Semprún und Primo Levi Opfer und Überlebende der NS-Verfolgung waren. So zeigt sie, dass bei diesen Autoren das Einbeziehen fremder literarischer Texte in das eigene Werk eine grundlegende Gemeinsamkeit ist, welche darauf ziele, die erfolgte Identitätsauslöschung durch einen literarisch fundierten Gegenentwurf des Ichs zu konterkarieren. Literatur werde

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dergestalt zur Überlebenshilfe, und dies nicht erst bei der späteren literarischen Bearbeitung der Erfahrung, sondern zum Teil auch schon im Lager selbst. Alle Autoren verbinde außerdem eine Kritik an der realistischen Darstellungsweise, obwohl sie alle über real erlebte Erfahrungen schreiben. Ein besonderes Kapitel der literarischen Shoah-Darstellung wurde in der Literatur der DDR geschrieben, welcher sich Thomas Schmidt widmet, indem er Romane von Peter Edel, Jurek Becker und Fred Wander untersucht. In Edels Die Bilder des Zeugen Schattmann zeige sich der Widerspruch zwischen dem offiziellen antifaschistischen Selbstbild der DDR und der Zeugnis-Intention des Autors, der die staatlich geforderte Instrumentalisierung von ›Auschwitz‹ als einem imperialistischen Verbrechen nicht nachvollziehen wolle und stattdessen ›Auschwitz‹ zum Symbol sozialistischer Solidarität umwidme. In Wanders und Beckers Romanen dagegen fänden sich von Beginn an Momente der Selbstreflexivität des Erzählens, welche der Begründung einer autonomen literarischen Rede über den Genozid dienten. In dem Beitrag von Claudia Brodsky wird ein Nexus zwischen Lanzmanns Shoah, Rousseaus zweitem Discours und Goethes Wahlverwandtschaften hergestellt. Ausgangspunkt ist der Moment reiner deiktischer Referenzialität in Shoah, in dem einer der von Lanzmann befragten Zeugen die spurlos verschwundene Grenze zwischen dem Innen und dem Außen des Lagers Sobibór gestisch markiert. Diese deiktische Markierung des Unsichtbaren bezieht Brodsky auf Rousseaus Kritik des Eigentums im zweiten Discours, welche sich an der Urszene der Grenzmarkierung zwischen Eigentum und Nicht-Eigentum entzündet. Die Katastrophe der Geschichte bestehe für Rousseau in der spurlosen Löschung der eigentumsbegründenden willkürlichen Grenzziehung. In ähnlicher Weise werde in Goethes Wahlverwandtschaften die kulturelle Erinnerung an die Toten durch Charlottes zeichenlöschende Aktivität zerstört. Lanzmann greife also zur Darstellung der nicht-darstellbaren Katastrophe auf literarisch präformierte Verfahren zurück. Eine wichtige historische Schwelle wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten erreicht, in denen zunehmend Texte entstehen, welche sich mit der historischen Wirklichkeit der Shoah aus der Perspektive der Nachgeborenen und damit zwangsläufig aus der Perspektive der Fiktionalisierung beschäftigen. Bettina Bannasch untersucht Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoah-Literatur von weiblichen Autoren. Ausgehend von der »Um-Schreibung« des Narrativs der Mittäterschaft von Frauen in Ruth Klügers autobiographischem Text weiter leben, der ähnlich wie die zeitgenössischen feministischen Bekenntnistexte den Opferstatus hinter sich lassen wolle, untersucht Bannasch Texte von Autorinnen der ›zweiten‹ und

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›dritten Generation‹. Am Beispiel von Gila Lustiger, Eva Menasse und Minka Pradelski zeigt sie, dass diese Schriftstellerinnen, die sich auf der Schwelle des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis situieren, durch Verfahren der Mythisierung das Wissen um die Shoah an die Nachwelt zu überliefern versuchen. Vor dem Hintergrund der jüdisch-amerikanischen Shoah-Literatur untersucht Michael Butter zwei im letzten Jahrzehnt entstandene Romane von Jonathan Safran Foer und Philip Roth. Foers Everything Is Illuminated liest Butter als einen Text, der – entgegen der häufig formulierten Annahme, die Shoah sei nicht repräsentierbar – sich gemäß seiner eigenen impliziten Poetik die Aufgabe stellt, die Lebensgeschichten der Ermordeten zu rekonstruieren, und sei es um den Preis der Fiktionalisierung. Roths The Plot against America, eine alternate history, wird dagegen gedeutet als ein Text, der zeige, dass durch die in den USA sehr prominent betriebene Erinnerung an den Genozid der europäischen Juden eine andere Katastrophe verdeckt werde, nämlich die Geschichte der Sklaverei. Dass der literarische Diskurs um Katastrophe und Gedächtnis in der Gegenwart nicht mehr ausschließlich von der Shoah geprägt ist, zeigen die drei abschließenden Beiträge des Bandes. Dorothee Birke beschäftigt sich mit Kazuo Ishiguros Romanen A Pale View of Hills und When We Were Orphans, in denen – teilweise am Beispiel von Hiroshima – Traumatisierung, Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten mit experimentellen Erzähltechniken gestaltet werden. Dabei werde die ambivalente Rolle des Erzählens im Hinblick auf die Verarbeitung erlittener Traumata deutlich, etwa wenn in When We Were Orphans das kohärenzstiftende Erzählen als illusionär erscheine und unklar bleibe, ob der Protagonist aus seiner Geschichte eine neue, ihn stabilisierende Rolle ableiten könne. Ursula Hennigfeld untersucht die Art und Weise, in der Narrative der Shoah auf die Ereignisse des 11. September 2001 übertragen werden. Betrachtet werden u. a. Texte von Antonio Muñoz Molina, Juan Manuel de Prada, Luc Lang, Serge Joncourt, Frédéric Beigbeder und Don DeLillo. In diesen und anderen Texten zeige sich ein direktes Anknüpfen an Shoah- und Traumadiskurse und an den Diskurs der (unmöglichen) Zeugenschaft. Diese Aktualisierung der literarischen Shoah-Diskurse habe unter anderem die Konsequenz, dass die These von der Unvergleichbarkeit der Shoah negiert und dass durch das Ereignis des 11. September die Shoah rückwirkend anders wahrgenommen werde. Mit literarischen Darstellungen der Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg beschäftigt sich Gesa von Essen. Sie betrachtet Texte von Walter Kempowski, Durs Grünbein und Marcel Beyer. Kempowski fügt dokumen-

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tarisches Material aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu einer Textcollage zusammen; dabei verzichte er zwar auf jede distanzierende Kommentierung, bringe aber implizit ein teleologisches Verfahren zum Einsatz, bei dem der Autor als allwissender Arrangeur auftrete, indem er etwa Zerstörung und Wiederaufbau Dresdens sinnstiftend miteinander in Bezug setze. Grünbein dagegen stelle in seiner poetischen Gestaltung des Untergangs seiner Heimatstadt, den er altersbedingt nicht persönlich erlebt hat, den Phantomschmerz und die Leerstellen der Gedächtnisräume in den Mittelpunkt. Beyer schließlich schreibe aus noch größerer Distanz über die Zerstörung jener Stadt, mit der ihn biographisch nichts verbindet, außer dass er 1996, aus Westdeutschland kommend, in sie übergesiedelt ist; in seinem Roman Kaltenburg erscheine Dresden als ein symbolischer Ort, an dem sich »stets zwei Sinnhorizonte überschneiden«, nämlich das reale Dresden der Gegenwart und das magisch-imaginäre der Vergangenheit. Freiburg und Gießen, im Frühjahr 2013

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Aurelia Kalisky

Aurelia Kalisky (Paris/Berlin)

D’une catastrophe épistémologique ou la catastrophe génocidaire comme négation de la mémoire

Si l’on considère la multiplication des catastrophes historiques liées à la violence politique au cours de la seconde moitié du XXe siècle, il semble évident, au moins depuis le génocide des Tutsi du Rwanda, qu’il n’est désormais plus possible de parler d’«unicité» de la Shoah et des camps nazis. Le génocide des Juifs n’était ni le premier, ni le dernier, et en son amont comme en son aval il s’inscrit dans une époque, celle de la répétition d’une certaine forme de violence – concentrationnaire, génocidaire – infligée aux hommes par d’autres hommes, au nom d’une idée abstraite prétendant réglementer l’appartenance à l’humanité, et pour la première fois administrée par les instances mêmes censées protéger les populations visées: l’Etat, armé d’une force légitimée par le droit. On a d’ailleurs parlé depuis d’«Etat criminel».1 Le droit, en s’internationalisant, a voulu nommer ces crimes parfois commis en son nom: «crime de lèse humanité» ou «crime contre l’humanité» et «génocide». En noms communs issus du vocabulaire juridique, ces catégories sont insatisfaisantes à bien des égards. Mais elles permettent désormais de désigner ces crimes propres à la modernité et de penser certaines des caractéristiques communes de ce que l’on appelle communément la «violence politique», en particulier celle qui les définit comme crimes perpétrés par des Etats pratiquant une politique d’hégémonie idéologique et visant leur propre population.2

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C’est Yves Ternon qui emploie ce terme en le définissant comme négation radicale de ce que Max Weber avait nommé la «domination légale» (legale Herrschaft) propre à l’Etat de droit. Yves Ternon, L’Etat criminel. Les génocides au XXe siècle, Paris 1995. Les crimes contre l’humanité et le génocide en particulier sont indissociables de la structure juridico-politique de l’Etat-nation et de sa mise en crise, qui suppose que les «droits de l’homme», pourtant conçus comme sacrés et inaliénables, «se trouvent privés de sens à partir du moment où il n’est plus possible de les configurer comme droits des citoyens d’un Etat», comme le formule très justement Agamben en creusant une piste déjà explorée avant lui par Hannah Arendt dans un chapitre de L’Impérialisme intitulé «Le déclin de l’Etat-nation et la fin des droits de l’homme». Giorgio Agamben, «Au-delà des droits de l’homme», in: id., Moyens sans fins. Notes sur la politique, Paris 1995, p. 25–37, ici p. 30.

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Cependant, malgré la répétition des crimes contre l’humanité, c’est avant tout le génocide des Juifs qui semble conserver le statut d’événement paradigmatique pour penser les relations entre l’événement catastrophique et la mémoire. En considérant l’incroyable lenteur avec laquelle la mémoire de cet événement, dans les décennies d’après-guerre, a finalement réussi à se frayer un chemin dans l’espace public, on aperçoit rétrospectivement le terrible danger encouru par la mémoire humaine lorsqu’elle est visée par une telle catastrophe. Et davantage que sa prétendue «unicité», c’est peut-être l’invraisemblable disparité qui existe entre la démesure du crime et le secret qui entoura sa perpétration d’une part, d’autre part le contraste entre la lenteur du processus de mémoire, liée aux efforts déployés par les bourreaux pour maintenir le secret du crime, et son caractère aujourd’hui massif, qui font de la Shoah un événement fondateur. Parvenant à contrer partiellement les forces qui s’opposaient à elle, la mémoire de la Shoah s’est constituée puis imposée à partir de plusieurs vecteurs à la fois – l’histoire, le droit, la littérature – et c’est ce processus même qui, en plus de la singularité du crime, a conféré à l’événement un statut à part en ouvrant ce que l’on a depuis appelé l’«ère» ou «âge» «du témoignage»3, l’«ère du témoin» ou le «temps des témoins»4 et, plus largement, l’«ère de la mémoire».5 Deux des principaux phénomènes qui caractérisent la Shoah – démesure d’un meurtre de masse maintenu secret, difficultés de la mémoire de ses victimes pour pénétrer l’espace public – sont liés à la nature d’un crime qui implique sa propre dénégation. La difficulté que connaît de ce fait sa mémoire pour se transmettre et prendre une forme collective capable de transcender la communauté des victimes est intimement liée à la pratique du secret d’Etat, à travers la manipulation ou la destruction de ses archives. Or si ces phénomènes se sont révélés de manière particulièrement frappante à l’issue de la Shoah, ils semblent caractériser la plupart des catastrophes historiques du XXe siècle, et ce pour une raison simple: le XXe siècle est à la fois l’âge de l’archive et celui de l’apparition de formes inédites de violence étatique. L’âge de 3

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«A l’âge du témoignage» est le titre que choisit Claude Lanzmann en 1990 pour traduire un texte fondateur que Shoshana Felman avait écrit à l’occasion de la publication d’un collectif sur son film: «The Return of the Voice: Claude Lanzmann’s Shoah» («Le retour de la voix: Shoah de Claude Lanzmann»), in: Bernard Cuau/Michel Deguy (dir.), Au sujet de Shoah. Le film de Claude Lanzmann, Paris 1990, p. 55–145. Annette Wieviorka, L’Ere du témoin, Paris 1998; Claude Burgelin, «Le temps des témoins», in: Cahiers de la Villa Gillet n° 3, novembre 1995, p. 79–89. C’est à Susan Suleiman que l’on doit cet élargissement de la notion d’«ère du témoin» élaborée par Wieviorka à celle d’«ère de la mémoire». Voir Susan Suleiman, Crises of Memory and the Second World War, Cambridge/ London 2006, p. 8.

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l’archive, celui d’une modernité inscrite sous le triple signe de l’Etat bureaucratique, du savoir archivé et de la preuve scientifique, est celui qui a vu progressivement dominer depuis le XIXe siècle l’histoire puis le droit comme modes de rationalisation et de véridiction privilégiés pour établir les faits du passé et interpréter leur sens.6 Objectivant la vérité subjective du témoignage, établissant les faits et interprétant les récits, jugeant les crimes et analysant les responsabilités, le droit et l’histoire représentent par là même une tentative de se distancer des formes subjectives de la mémoire collective. On pourrait même dire que l’historiographie dite scientifique ainsi que le droit international (en particulier à l’issue du procès de Nuremberg puis de la convention de 1948 sur les génocides), tous deux fondés sur l’archive, sont devenus ce qui permet à l’humanité d’attester à ses propres yeux que la réalité passée, le contenu même de sa mémoire, a été. C’est pour cette raison que l’attaque de l’archive, un des fondements du récit historique et de la possibilité même du jugement par le droit, ébranle très profondément le statut même de la factualité historique, et, avec lui, toutes les formes mémorielles liées à un événement. Une fois l’archive manipulée, comme c’est le cas dans nombre de crimes contre l’humanité, ou détruite, comme c’est le cas lors d’un génocide, non seulement le témoignage des victimes peut être contesté sans qu’il ne dispose jamais des moyens suffisants pour se défendre de cette manipulation/négation, mais c’est la possibilité même d’établir les faits, de fonder en autorité une mémoire historique de l’événement et de dire son sens qui est mise à mal, voire détruite. Le discours juridique et le discours historiographique, renvoyés dos-à-dos, sont alors voués à tenter de s’étayer l’un l’autre, sans jamais pouvoir véritablement contrer la négation de ce qui est leur fondement même pour établir les faits: l’archive et le témoignage. C’est avec la Shoah qu’on a pour la première fois commencé de comprendre cette forme de destructivité spécifiquement moderne qui se déchaînait à l’encontre de l’archive, la «longue ombre» de l’événement ayant conditionné la plupart des discours et imprégné les notions et les formes de réception liées à d’autres événements catastrophiques, y compris ceux qui lui étaient

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Voir Paul Veyne, Comment on écrit l’histoire. Essai d’épistémologie, Paris 1971; Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart 1991; Wolfgang Hardtwig (dir.), Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, en particulier le texte de Hardtwig, «Geschichtsstudium, Geschichtstheorie und Geschichtswissenschaft in Deutschland von der Aufklärung bis zur Gegenwart», p. 13–57; Paul Ricœur, La Mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000.

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antérieurs.7 La catastrophe juive, comparable à une gigantesque déflagration brisant l’unité du genre humain, la continuité entre les générations aussi bien que la perception d’une continuité historique, a déployé son ombre sur l’ensemble de l’histoire et de la culture occidentales. Ainsi, malgré l’antériorité des génocides des Héréros, de l’univers concentrationnaire soviétique et du génocide des Arméniens, ce n’est qu’au lendemain de l’extermination des Juifs d’Europe que s’est manifesté pour la première fois de manière aussi claire aux yeux du monde ce phénomène caractéristique de plusieurs autres catastrophes historiques du XXe siècle: leur aspect de catastrophes mémorielles. Or, même si les comparaisons abondent, et que la Shoah constitue une sorte de paradigme scientifique, la mémoire de cet événement reste malgré tout, qu’on le veuille ou non, enfermée dans son statut d’«unicité excluante» au lieu d’être envisagée dans son «unicité englobante ou exemplaire»,8 soit dans une singularité dégagée à partir d’une comparaison véritablement assumée au plan de la pensée. Ainsi le «devoir de mémoire» est-il à bien des égards devenu une «amnésie ritualisée»9 par les Etats, et au plan des savoirs, la remise en question de la démarche historiographique dans ses rapports avec d’autres formes de discours mémoriels comme le témoignage est restée rivée à cet objet particulier qu’est la Shoah, sans que les implications – pourtant radicales – de la mise en danger du fait historique lui-même par la négation génocidaire n’aient été pensées. Parallèlement, on voit pourtant la répétition mortifère des crimes contre l’humanité donner à ces questions une forme d’actualité politique qui confère plus que jamais aux enjeux scientifiques et culturels à la fois une pertinence politique et une urgence éthique. Il est donc aussi urgent que nécessaire d’envisager l’«ère du témoin» ou du témoignage au-delà du paradigme de la Shoah, en essayant de dégager la spécificité d’une catégorie d’événements historiques que nous proposons de nommer «catastrophes mémorielles» et qui, au plan des faits historiques, peuvent être ramenés aux catégories juridi7

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Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, p. 15 s. Avant elle, Uwe Backes, Eckhard Jesse et Rainer Zitelman avaient déjà consacré un collectif à cette question en usant de la métaphore de l’«ombre» du passé national-socialiste, cette fois uniquement dans son influence sur les procédures de la discipline historique: Der Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Berlin 1990. Geoffrey Hartman avait ensuite repris cette métaphore dans Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999. Bertrand Ogilvie, «Comparer l’incomparable», in: Multitudes n° 7, «Hors-champs», décembre 2001, p. 134. George Bensoussan, Histoire de la Shoah, Paris 1997, p. 124.

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ques de «crimes contre l’humanité» et de «génocides», mais qui requièrent de nouvelles catégories de pensée au plan philosophique et critique parce qu’ils endommagent irrémédiablement les procédures mêmes d’établissement de ces faits et de leur vérité en ce qu’ils visent, à travers l’archive et le témoignage, les fondements même de la mémoire culturelle d’une société. Ces nouvelles catégories doivent nous permettre de penser l’événement et ses effets sur la mémoire, afin non pas de reconduire d’autres «devoirs de mémoire», ni de contrer frontalement la négation en la combattant avec cela même qu’elle tend à détruire, mais plutôt de désamorcer la puissance négative de cette dernière, en parvenant à envisager les limites de la rationalité historienne et juridique et en valorisant d’autres fonctions mémorielles à côté de l’histoire. Ces fonctions sont celles de la transmission du sens de l’expérience du rescapé, et celle du deuil des disparus à travers la forme littéraire. Les catastrophes historiques que nous proposons de nommer «mémorielles» ont en effet bouleversé tous les systèmes cognitifs et les modes de symbolisation, à commencer par le récit historiographique, qui constitue peut-être le principal d’entre eux en tant que forme de mémoire se voulant objective dans ses rapports avec des formes explicitement subjectives (politique/sociale/communautaire, communicative, littéraire). L’affectation des formes de la mémoire et leur tentative de destruction sont à appréhender à partir de nouveaux paradigmes: ceux du témoignage et de sa négation. Ce changement de paradigme suppose de prendre conscience du fait que les effets de la catastrophe historique sur la mémoire, loin d’être un épiphénomène, sont à penser dans leurs répercussions sur l’ensemble des modes d’établissement du savoir historique et des modalités de transmission de la mémoire, en particulier par l’art, et que ces effets conditionnent désormais la culture occidentale de manière déterminante en ce qu’ils reconfigurent nécessairement les relations entre le cognitif, l’éthique et le politique. Au-delà de la question du statut de l’écriture historiographique, c’est seulement au sein d’une démarche globale, à la fois comparatiste et interdisciplinaire, où l’historien, le juriste, le philosophe, le critique littéraire et le Kulturwissenschafler pourront dialoguer, réfléchir leurs disciplines respectives et surtout éclairer les points aveugles de chacune d’entre elles, que les rapports entre mémoire et événement catastrophique pourront être pensés avec les nuances requises. La catastrophe mémorielle est ce qui bouleverse l’«ordre topique des cultures mémorielles»10 proposé par Marcus Sandl en plaçant en son centre

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Marcus Sandl, «Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche

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l’impact de l’événement catastrophique. Les cultures mémorielles à l’issue d’une catastrophe historique sont dès lors à envisager comme de véritables champs de forces où se croiseraient différents vecteurs de puissance discursive, et dont le centre, à la fois incontournable et éminemment fragile, serait le témoignage interne à la catastrophe. Dans le cadre limité de cet article, nous voudrions engager le travail de clarification préalable indispensable à l’établissement de la singularité de ce vecteur de mémoire qu’est le témoignage, en particulier lorsqu’il devient littéraire, en essayant de comprendre ce qui peut le menacer au cours de ce que nous appellerons «catastrophe mémorielle». Ce travail préalable nous semble absolument nécessaire en vue de permettre de saisir ensuite ce qui est propre à l’art: non seulement son mode de véridiction singulier, mais aussi son aspect réflexif et critique à la fois par rapport aux autres formes de la mémoire et à la littérature elle-même. Penser les relations entre la catastrophe et la mémoire nécessite tout d’abord de clarifier le concept de catastrophe historique, puis de dégager la spécificité des «catastrophes mémorielles» propres au XXe siècle du point de vue de l’intention de la violence mise en œuvre (I. Les catastrophes historiques à l’âge de l’archive). Dans un second temps, nous allons nous intéresser à ce qui singularise les «catastrophes mémorielles», mais cette fois en aval du crime perpétré, ce qui revient à considérer les effets de la catastrophe sur la mémoire non seulement du groupe ou du collectif visé, mais aussi la mémoire de l’événement au sens large telle qu’elle intègre (ou non) la mémoire culturelle. Ceci nous conduira à une interprétation du témoignage en tant que centre et origine de toute mémoire liée à une catastrophe historique. L’introduction du couple notionnel antagoniste que représentent le témoignage et sa négation pour penser les effets de la catastrophe historique en tant que catastrophe mémorielle implique donc nécessairement un changement de paradigme essentiel entraînent une lecture nouvelle de la formation et de l’évolution de la mémoire collective, en particulier à travers l’analyse de ce cas limite de destruction du témoignage que nous nommons «catastrophe épistémologique». Pour aborder ces questions complexes, nous serons amenées à présenter les réflexions de quelques auteurs qui augurent selon nous des avancées décisives pour penser les formes contemporaines de violence politique. Nous verrons comment le fait de penser la catastrophe mémorielle peut nous amener à remettre en question «l’ordre des savoirs» décrit par Michel Foucault, et à

Gedächtnisforschung», in: Günter Oesterle (dir.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, p. 89–119, ici p. 100.

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radicaliser les questionnements nés de la confrontation entre l’histoire en tant que discipline et les autres formes d’une culture mémorielle donnée (II. La catastrophe épistémologique et l’ordre des savoirs).

I.

Les catastrophes historiques à l’âge de l’archive

Malgré son imprécision et l’amplitude de son champ d’application, le concept de «catastrophe» tend à prendre la place d’autres notions et à les englober, ce au prix d’un certain nombre de confusions. Depuis deux décennies environ, on a pu voir fleurir le terme (parfois utilisé sans adjectif) ainsi que son champ sémantique dans des contextes relatifs à des phénomènes aussi variés que les génocides, les famines, les crises économiques, les ouragans, inondations, tremblements de terre et autres tsunamis, les «catastrophes» nucléaires ou pétrolières, le 11 septembre… Récemment, on a vu la notion acquérir une pertinence nouvelle et une légitimité scientifique qui la situe aux côtés de concepts proches et issus de registres aussi hétérogènes que le droit («génocide» et «crime contre l’humanité»), la psychanalyse, la critique littéraire et la philosophie (expériences de l’«extrême»,11 du «trauma», de l’«atrocité», du «désastre»12 et de l’«inhumain» liés à l’univers concentrationnaire et à la violence génocidaire) sans pour autant se limiter à aucun d’entre eux, la notion pouvant également désigner des événements de type guerrier. Outre que le terme, lorsqu’il est employé pour désigner un événement lié à la violence politique – et donc sécularisé en son sens –, n’est pas sans évoquer la traduction du terme hébreu «Shoah» en un sens théologique tel qu’on la trouve sous la plume de chercheurs anglo-saxons comme David Roskies (qui emploie également la notion d’«Apocalypse»),13 il peut aussi faire référence

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On doit d’abord à Terrence De Pres puis à Tzvetan Todorov l’usage de cette notion, respectivement dans The Survivor: an anatomy of life in the death camps, New York/Oxford 1976 (siehe Fußnote 67, S. 54), dans Face à l’extrême (1991), Paris 1994. L’historien Eric Hobsbawm a de son côté envisagé un XXe siècle court situé entre 1914 et 1989 dans L’Age des extrêmes (1994), Paris 1999. Nous discutons un peu plus bas la pertinence de cette notion, voir note 28. Alain Brossat, L’Epreuve du désastre. Le XXe siècle et les camps, Paris 1996. L’auteur cherche, à partir d’un corpus de textes relevant de la littérature testimoniale issue des camps de concentration, à poser les jalons d’une «anthropologie de la catastrophe» en pensant au plan philosophico-politique l’impossible transformation de «l’épreuve» en «expérience» à l’aide du concept d’«extrême». David Roskies, Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Literature, Cambridge, Massachusetts/London 1984; id., The Literature of Destruction. Jewish Responses to Catastrophe, Philadelphia 1988.

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au concept théologico-politique de Walter Benjamin.14 Avant de nous pencher sur les relations problématiques entre «catastrophe historique» et «mémoire» (culturelle et/ou collective), il semble donc nécessaire de soumettre la notion de «catastrophe» à une lecture critique de type généalogique qui en dégage les origines et la spécificité, afin de déterminer la pertinence de son application et de circonscrire son usage. Ceci nous amène à effectuer une série de distinctions. Il faut d’abord bien voir que l’adjectif a son importance. Car une première distinction, fort simple, s’impose d’emblée: celle qui différencie la «catastrophe historique» de la «catastrophe naturelle». Cette dernière, qu’elle soit une épidémie, un tremblement de terre ou un ouragan, a longtemps été interprétée comme un châtiment divin indirectement engendré par l’action humaine.15 Si la distinction entre «catastrophe naturelle» et «catastrophe historique», directement «causée par l’action des hommes» semble évidente aujourd’hui, sa perception dans l’imaginaire collectif et la mémoire culturelle occidentale est relativement récente: c’est seulement au XVIIIe siècle que l’on voit apparaître le terme même de «catastrophe» en tant que désignant non plus un «signe» (de châtiment) mais un enjeu (social, politique, médiatique)16 et qu’à ce titre les 14

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Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Band II.1 (Aufsätze, Essays, Vorträge), Frankfurt a.M. 1977. Dérivé du grec (katastrophê: bouleversement, fin, dénouement mais aussi dénouement de l’intrigue au théâtre), le terme latin catastropha (IVe siècle) qui donne le français «catastrophe» (1552) est souvent ressenti au XVIe et XVIIe comme métaphore du sens théâtral. Et c’est le dénouement toujours malheureux des tragédies classiques qui l’infléchit en «événement fâcheux» et «malheureux» (1690). C’est de là que proviendrait le sens moderne de «désastre brusque et effroyable». A partir du XVIIIe siècle et les progrès du rationalisme scientifique, la «catastrophe naturelle» est bien appréhendée dans sa «naturalité» et indépendamment de la religion (pour une approche historique de ce tournant, voir Anne-Marie MercierFaivre/Chantal Thomas, L’Invention de la catastrophe au XVIIIe siècle. Du châtiment divin au désastre naturel, Genève 2008. Voir aussi René Favier/Anne-Marie GranetAbisset, Récits et représentations des catastrophes depuis l’Antiquité, Grenoble 2005). Ainsi sous la plume de Montesquieu dans les Lettres persanes (1721) (lettre 112, Paris 1973, p. 255) mais déjà en 1719, dans son Projet d’une Histoire de la Terre tant ancienne que moderne (Œuvres complètes, t. VIII, p. 183 s.) étaient distinguées les catastrophes «générales» (évolutions parfois assimilées à des «révolutions», et souvent imperceptibles à l’échelle d’une vie humaine car accomplies au long cours) des «particulières», soit celles directement causées par l’homme et relevant d’une intention identifiable dans le temps. Les violences engendrées par l’apparition des religions monothéistes, ou encore la colonisation romaine du bassin méditerranéen comptaient pour Montesquieu au nombre de ces dernières: où l’on voit que la notion de «catastrophe historique» telle qu’elle est employée aujourd’hui n’était déjà pas si étrangère à la «catastrophe particulière» pensée par le philosophe fran-

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deux types de catastrophes sont distingués. C’est au même moment qu’on la voit émerger en tant qu’objet esthétique dont l’œuvre d’art, en particulier littéraire, est susceptible de rendre compte y compris sous une forme qui présente déjà certains traits «testimoniaux».17 Ainsi donc, si la distinction entre «catastrophe naturelle» et catastrophe «historique» «causée par l’action des hommes» devient nettement plus compliquée aujourd’hui sous l’effet des bouleversements écologiques et climatiques indissociables de l’action des hommes sur leur environnement,18 on peut néanmoins dire qu’elle reste un acquis pour penser notre objet. Il est ensuite nécessaire d’établir une distinction au plan philosophique non plus seulement en termes de «causalité» mais aussi concernant la nature de l’action humaine dont elle résulte. Le critère déterminant pour distinguer la catastrophe naturelle de la catastrophe historique est dès lors celui de la violence exercée par l’homme sur ses semblables. Il semble que la notion de violence exercée soit d’ailleurs le trait commun des «catastrophes» énumérées dans l’argumentaire du colloque qui nous a rassemblés: les deux guerres mondiales, la guerre d’Espagne, la «guerre civile» en ex-Yougoslavie, la Shoah. Pourtant, il existe à l’évidence une forme de contradiction entre une telle prétention synthétique et objective de la notion, et son contenu, toujours déjà à la fois trop subjectif et trop variable selon les événements. Il semble par conséquent essentiel de la mieux cerner encore, sans quoi les événements dits «catastrophiques» risquent de ne plus avoir pour point commun que le

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çais, impliquant la notion de violence (coloniale et guerrière) ainsi que celle de domination (politique et religieuse) sous-tendue par celle-ci. Le tremblement de terre de Lisbonne joua ici un rôle fondateur dans toute l’Europe occidentale, et l’on vit pour la première fois la presse contribuer à faire de la catastrophe un événement public. Ainsi on peut constater que la «catastrophe naturelle» tend de nouveau à être attribuée depuis le milieu du XXe siècle à une «faute collective» de l’humanité, faute qui aurait en quelque sorte remplacé l’incrimination au plan religieux où la société humaine était envisagée comme un homme moral et singulier. C’est en tout cas la lecture que propose François Walter dans Catastrophes. Une histoire culturelle XVIe– XXIe siècle, Paris 2008. Le fait est que les évolutions récentes au plan écologique tendent désormais à brouiller les limites de la notion, claire au départ, de catastrophe «naturelle», à l’intérieur d’un discours «catastrophiste» lié au changement climatique et à la multiplication des catastrophes environnementales liées à l’exploitation des ressources ou au nucléaire. Sur la notion de «catastrophe» dans le discours contemporain, on se reportera entre autres aux travaux de: Jean-Pierre Dupuy, Pour un catastrophisme éclairé. Quand l’impossible est certain, Paris 2002; Frédéric Neyrat, Biopolitique des catastrophes, Paris 2008. Voir aussi Susanna M. Hoffman/ Anthony Oliver-Smith, Catastrophe and Culture. The Anthropology of Disaster, SantaFe/Oxford 2002.

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fait de résulter, au sens très large, de la violence exercée par des hommes sur d’autres hommes. Pour proposer une définition de l’objet qui nous occupe, on peut tenter de partir de ce qui est évoqué dans l’argumentaire comme étant un aspect commun aux catastrophes énumérées, toutes situées au XXe siècle: celui d’être des «mnémocides» caractérisés par la «destruction des cadres sociaux de la mémoire collective». A première vue, ce critère ne suffit pas pour rassembler des événements aussi hétérogènes que ceux de la série de «catastrophes» évoquées, qui comprend à la fois des guerres et des événements où la violence a pu prendre des traits qui la distinguent radicalement de la violence guerrière. Or lorsqu’il y a mutation de la violence guerrière en violence généralisée à l’encontre des populations non-combattantes ou, pour employer un terme qui s’est lui aussi répandu ces dernières décennies, lorsqu’il y a violence dite «politique» et «extrême», ses effets sur les cadres sociaux de la mémoire diffèrent de façon radicale. Critère commun, la destruction des cadres sociaux de la mémoire ne l’est finalement qu’en apparence dans la mesure où elle doit être pensée à travers la violence qui vise la mémoire de manière spécifique (ou pas). Ceci a pour conséquence qu’une différenciation des catastrophes selon l’intensité de la destruction des cadres mémoriels ne suffit pas. Il faut non seulement qu’elle soit fondée sur la qualité mais que cette «qualité» soit précisément définie. Car c’est de la nature même de la violence exercée que dépend le processus de destruction de la mémoire, c’est-à-dire son sens même, ses enjeux, ses effets au long cours. Et réciproquement, c’est de la nature de l’événement que découlent les formes de la mémoire qui essaient de s’élaborer malgré la violence impliquée, et parfois précisément contre elle. Avant d’analyser de plus près les effets des différents types de catastrophes sur la mémoire, encore faut-il nous entendre sur les termes employés. Pour articuler un raisonnement sur les relations entre mémoire et catastrophe à partir d’apports issus de disciplines différentes, nous sommes en effet confrontées à la difficulté de trouver une terminologie consensuelle se rapportant aux phénomènes liés à la mémoire. Il s’agit de prendre en compte à la fois des disciplines différentes (l’histoire, la littérature, les «sciences de la culture» et la philosophie), issues de traditions scientifiques distinctes au plan national et, au-delà (ou transcendant) les traditions nationales, il s’agit aussi de rendre compte de traditions intellectuelles parfois divergentes au point de s’opposer sur ces notions. La notion de mémoire et celles qui lui sont corrélées (mémoire collective, culturelle, sociale, communicative…) représentent une pierre d’achoppement entre la réflexion historiographique (qui avait globalement tendance à opposer histoire et mémoire mais constate depuis une dizaine d’années la nécessité de réviser une distinction trop rigide) et les

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sciences de la culture. Ces dernières maintiennent – quelles que soient par ailleurs leurs divergences internes – une distinction entre histoire et mémoire, mais à l’intérieur d’un système global permettant de penser l’histoire en tant que forme mémorielle participant de la mémoire collective, en particulier à travers son instrumentalisation politique et identitaire et, au-delà, en tant que forme à part entière de la mémoire culturelle comprise au sens large. Pour notre part, nous nous situons plutôt du côté de la terminologie propre aux sciences de la culture, et choisissons ici de considérer l’histoire non pas en tant qu’opposée à la mémoire mais, au contraire, en tant que constitutive d’une «culture historique»19 à l’intérieur d’une «culture mémorielle»20 donnée. La distinction entre «Gedächtnis» et «Erinnerung» ne recoupant pas celle existant en français entre «mémoire» et «souvenir», nous choisissons ici le sens de «mémoire culturelle» comme désignant l’ensemble de représentations et de significations, de symboles, de rites et d’objets culturels auquel tout événement historique donne lieu, histoire comprise, ainsi que la fonction et le processus mémoriels, liés à une sélectivité de la mémoire, que cette mémoire implique. Ce choix de considérer la discipline historiographique comme forme mémorielle à part entière relève d’une distinction pratiquée au sein des théories de la culture entre un sens restreint et un sens plus englo19

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C’est à un théoricien de l’histoire, Wolfgang Hardtwig, que l’on doit la notion, également employée par Jörn Rüsen, de Geschichtskultur définie comme ensemble des formes à travers lesquelles le savoir historique est présent au sein d’une société donnée. Voir note 6. La notion reprend certains traits de celle de «conscience historique» proposée par Amos Funkenstein en tant que troisième instance émergeant au point de rencontre entre «histoire» et «mémoire». Le savoir historique peut être analysé comme «analytique-imaginatif» à l’intérieur d’un «ordre des savoirs» et des discours donné, visualisable au sein d’un «ordre topique des cultures mémorielles» (Marcus Sandl). Renvoyons ici aux textes de Funkenstein «Collective Memory and Historical Consciousness», in: History & Memory n° 1, I, 1989, p. 11; id., Jüdische Geschichte und ihre Deutungen (Perceptions of Jewish History, 1993), Frankfurt a.M. 1995, mais aussi aux travaux fondateurs de Yosef Yerushalmi Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis (1982), Berlin 1988. Jacques Le Goff avait déjà parlé de «culture» et «mentalité historiques» d’une société dans Histoire et mémoire, Paris 1977. Pour une synthèse récente sur ces questions, voir Enzo Traverso, Le passé, modes d’emploi. Histoire, mémoire, politique, Paris 2005. La notion de Erinnerungskultur a été développée dans le cadre du travail de l’équipe de l’université de Gießen SFB (Sonderforschungsbereich) «Erinnerungskulturen» et proposée par Günther Lottes (voir «Forschungsprogramm ‹Erinnerungskulturen›», in: Günther Lottes, «Erstantrag des Sonderforschungsbereichs 434 ‹Erinnerungskulturen›», Gießen 1996, p. 9–23; et id., «Erinnerungskulturen zwischen Psychologie und Kulturwissenschaft», in: Günter Oesterle (dir.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen, p. 163–184).

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bant de la notion de «mémoire». En suivant Astrid Erll nous utiliserons donc parfois le terme englobant de «mémoire culturelle» (cultural memory) pour remplacer celui, trop controversé, de «mémoire collective» (collective memory).21 Notre appréhension du concept même de «mémoire» relève d’une approche critique de l’histoire qui remet en question l’antagonisme entre mémoire et histoire. Nous considérons avec Michel de Certeau que le savoir historiographique, dans la mesure «où il combine le ‹pensable› et l’origine, conformément au mode sur lequel une société se comprend»22 – c’est-à-dire le récit historiographique en tant que mémoire collective – peut prendre valeur de mythe fondateur, voire de mythe des origines en étant investi au plan idéologique.23 21

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Cf. Astrid Erll, «Cultural Memory Studies: An Introduction», in: id./Ansgar Nünning (dir.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin/New York 2005, p. 4. Voir aussi la définition par Erll et Nünning de la «mémoire culturelle» au sens large («kulturelle Erinnerung») distinguée de «kulturelles Gedächtnis» dans «Literatur und Erinnerungskultur. Eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorieskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts», in: Günter Oesterle (dir.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen, p. 185–210: la première, incluant le second, est conçue comme «Sammelbegriff für alle denkbaren Relationen zwischen Kultur und Erinnerung bzw. Gedächtnis»: «Kulturelle Erinnerung bezieht sich daher sowohl auf die kulturell geprägte individuelle Erinnerung als auch auf das metaphorisch zu verstehende Erinnern im Rahmen sozialer Gruppen und Gesellschaften. Inhalte und Paradigmen kultureller Erinnerungsakte speisen sich aus verschiedenen kollektiven Gedächtnissystemen (die in der neueren Theoriebildung mit Begriffen wie kommunikatives, kulturelles oder soziales Gedächtnis beschrieben werden)» (p 185). Erll et Nünning se réfèrent ici à la distinction proposée par Aleida Assmann, qui invite dans plusieurs de ses travaux à employer la notion de mémoire (Gedächtnis) à travers trois déclinaisons – neuronale, sociale, culturelle – plutôt que de parler de «mémoire collective» (cette dernière étant plutôt assimilée à une composante de la mémoire sociale, la mémoire politique), chacune des trois dimensions de la mémoire comportant des aspects «collectifs» (famille, proches, générations…). Ils plaident cependant pour une révision des concepts proposés par les époux Assmann dans le sens d’une théorie des mémoires culturelles (kulturelle Gedächtnisse), là où les Assmann ont élaboré un modèle où domine une mémoire culturelle (fût-ce à travers ses trois déclinaisons) et où Jan Assmann avait d’abord très nettement distingué entre la mémoire (Erinnerung) et l’histoire (Geschichtswissenschaft), l’historiographie ne produisant pour lui qu’un savoir fondé sur l’établissement des faits passés et non sur leur interprétation en vue d’un sens en fonction du présent. Sur ce dernier point, Aleida Assmann se distancie de la lecture dualiste de Jan Assmann, en maintenant la distinction histoire/mémoire, mais en constatant la complexité de leurs interactions et leur complémentarité à travers les notions de Funktionsgedächtnis et de Speichergedächtnis. Michel de Certau: L’Ecriture de l’histoire (1975), Paris 2007, p. 38. Voir ibid., p. 70–76, «L’histoire comme mythe».

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Même s’il a été détrôné du sommet hiérarchique de l’«ordre des savoirs» (Foucault) où il avait été élevé par la philosophie des Lumières, il reste au centre de la culture historique des sociétés occidentales en disant le passé et son sens pour le présent, et l’on peut dire que les mémoires nationales des Etats-nations reposent sur une intégration, toujours problématique et sélective, de l’histoire de leur passé.24 Ceci étant posé, revenons à notre tentative de distinction entre différents types de destruction de la mémoire et de ses cadres. Compte tenu des différences entre les formes de violence en jeu, la destruction de la mémoire doit selon nous être à chaque fois rapportée à une anthropologie différentielle qui permette de rendre compte de l’hétérogénéité des processus en jeu. Dans le cas de que l’on désigne depuis les années 1960 par «crimes de masse» ou depuis les années 1990 (c’est-à-dire grosso modo depuis l’émergence d’une réflexion comparatiste sur les «crimes contre l’humanité») la «violence politique», la destruction est le résultat d’un rapport de forces tronqué, profondément asymétrique, qui oppose la plupart du temps l’Etat en tant que détenteur de la force légitime (et, depuis le XIXe siècle, bureaucratiquement organisé et donc en mesure de contrôler ses populations, à la fois par le recensement, l’identification et la production d’archives) à un groupe humain donné ou idéologiquement défini par l’Etat qui le prend pour cible. L’asymétrie du rapport de force qui caractérise la violence politique nous permet déjà de mettre le doigt sur une différence essentielle qui la sépare de 24

La dimension politique de la mémoire des événements historiques et son rapport au mythe, en particulier à travers la question de son instrumentalisation qu’une notion comme les «lieux de mémoire» ne permet pas de cerner dans toute son ampleur, est incontestablement l’un des grands chantiers de recherche sociologique, historique et culturel à défricher dans les années à venir. Concernant la Shoah, ce chantier a été déjà largement exploré depuis les années 1980 et il est fort intéressant de mener des études comparatistes sur ce sujet. En RFA par exemple, la Vergangenheitsbewältigung, équivalent de la notion française de «devoir de mémoire», a été d’emblée structurée par une réflexion sur la culpabilité morale et la responsabilité politique (qui n’a certes pas empêché la continuité entre le nazisme et l’aprèsguerre dans la classe politique et économique dirigeante), tandis qu’en France, la formule dépolitisée et universalisable du «devoir de mémoire» a longtemps permis de passer totalement sous silence la responsabilité directe de Vichy et la culpabilité des dirigeants français. Voir ici Aurelia Kalisky, «‹Ces morts innombrables sont notre affaire à tous›. La mémoire de la Shoah en France, entre ‹travail› et ‹politique›», in: Catherine Coquio/Carol Guillaume (dir.), Des crimes contre l’humanité en République française (1990–2004), Paris 2006, p. 81–140, en ligne sans appareil de notes à l’adresse: http://aircrigeweb.free.fr/ressources/shoah/Shoah_Kalisky_ crimes.html (4 mars 2013). Voir aussi les travaux de Henry Rousso, Le Syndrome de Vichy, Paris 1987; id. (avec Eric Conan), Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris 1994.

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la guerre interétatique, qui, elle, met aux prises des entités semblables au plan philosophico-politique. Car même lorsque la guerre entre deux Etats prend un aspect total, en particulier dans son usage des armements modernes, depuis le gaz moutarde de la Première Guerre jusqu’à la bombe nucléaire en passant par les bombardements intensifs, le but de la violence reste la victoire sur l’ennemi et sur l’Etat adverse qui est en quelque sorte à égalité au plan philosophico-politique défini par le jus publicum europeanum25. Il faut également distinguer la violence politique de la notion complexe et souvent instrumentalisée de «guerre civile», bien que cette dernière crée un contexte qui lui est favorable.26 La violence politique est bien d’une nature spécifique en ce qu’elle voit s’affronter des entités non équivalentes et qu’elle peut obéir à des logiques différentes, de la domination jusqu’à l’éradication d’un groupe humain décidée par l’Etat-nation comme lors d’un génocide. En effet, pour s’unifier et préserver une unité fantasmatique, les Etats-nations mettent en œuvre des formes de violence politique dite «extrême»27 accompagnées d’un phénomène 25

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Sur la distinction au plan philosophique entre guerre et génocide, nous renvoyons au texte fondamental de Philippe Bouchereau, «Discours sur la violence (sauvage, guerrière, génocidaire)», in: L’Intranquille n° 2/3, 1994, p. 7–76. Les guerres civiles sont des situations d’anomie liées à une violence généralisée caractérisée par l’absence de «règles» (définies par le droit de la guerre), la non distinction, dans les pratiques de destruction, entre civils et combattants et la disjonction entre l’armée et l’Etat avec l’apparition de groupes paramilitaires (voir ici Jean-Clément Martin, «La guerre civile, une notion explicative en histoire», in: Espaces-Temps n° 71–73, 1999, p. 84–99). Selon ses usages par les historiens, les médias ou les politiques, la notion de guerre civile peut cependant recouvrir des réalités hétérogènes, qu’il faut essayer de décrire et de penser aussi rigoureusement que possible, et en tenant compte des jugements rendus par la justice internationale, ceci en dépit du caractère insatisfaisant, parce qu’inadéquat et parfois même inopérant des catégories juridiques. C’est pourquoi on ne saurait parler uniquement de «guerre civile» concernant l’ex-Yougoslavie sans mentionner le fait qu’elle fut aussi la toile de fond de crimes contre l’humanité, l’Etat ayant exercé une violence à l’encontre des civils avec l’appui de groupes paramilitaires tout en se réclamant de l’autorité légitime ayant planifié les crimes, comme ce fut le cas en Bosnie où la violence côté serbe et côté armée fédérale prit des aspects exterminationnistes et génocidaires. Le terme d’«extrême» doit être manié avec précaution dans la mesure il ne peut qu’être ambigu et même contradictoire: supposant une hiérarchie des formes de violences exercées, de la guerre au crime de guerre, puis du crime de guerre au crime contre l’humanité et enfin au génocide, il révèle rapidement ses limites heuristiques non seulement par sa relativité, mais aussi par son arrimage paradoxal aux catégories juridiques ou philosophiques. Car l’adjectif implique une gradation et une graduation des crimes qui se réfère soit aux concepts juridiques, soit à des

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de dénégation. L’organe exécutif de la violence d’Etat, fonctionnant alors davantage comme une force de police, ne remplit plus seulement une fonction administrative d’exécution du droit, il est là pour exécuter un droit devenu «criminel».28 Et lorsque ce droit ne suffit pas, il peut à tout moment agir en vertu d’un «droit d’exception» devenu la règle et remplit alors une fonction sécuritaire qui ne se soucie plus de l’autorité conférée à l’exécutif par le législatif.29 La confusion entre la violence souveraine et le droit peut être observée dans tout processus où la souveraineté de l’Etat s’exerce en vue d’une domination partielle ou totale, ce qui les fait alors entrer dans une inquiétante relation d’interchangeabilité. Lorsque la violence devient but en soi, la «violence politique» adopte une forme paradoxale en ce qu’elle implique in fine la destruction même du politique et ne relève alors plus d’une logique de domination. C’est ce qui se produit lorsqu’un Etat souverain décide de l’extermination d’une partie de sa population: le génocide ne relève plus d’aucune

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notions morales qui sont à repenser entièrement lorsque l’on envisage les comportements humains dans le cadre d’un génocide ou de crimes contre l’humanité. De plus, le terme devrait en toute logique n’être applicable qu’au génocide: il s’agirait là de la violence pour ainsi dire ultime, en ce que ce qui est visé est l’éradication pure et simple. La question qu’il faut dès lors se poser est: qu’est-ce qui est «extrême», et par rapport à quoi? Si une terminologie précise des formes de violence manque encore, les outils conceptuels à notre disposition restant soumis aux contradictions propres aux champs disciplinaires dont ils sont issus, le terme d’«extrême» doit en attendant être pris pour ce qu’il est: un terme employé faute de mieux parce que les catégories pertinentes font encore défaut. Pour une discussion sur les limites de la notion d’«extrême» et les malentendus résultant de son usage, voir Catherine Coquio, «L’extrême, le génocide, l’expérience concentrationnaire: productivité et apories de trois concepts», in: Critique, mai 1997, p. 339–364. Voir aussi id., «Du malentendu», in: (dir.), Parler des camps, penser les génocides), Paris 1998, p. 17–86. Même si les règles du droit criminel relevant de «lois du mouvement» ne cessent de changer et sont par essence arbitraires en tant qu’unilatéralement promulguées par le pouvoir, on peut néanmoins reprendre les termes avec lesquels Hannah Arendt tenta de définir le régime de légalité totalitaire: «La légalité totalitaire, qui met en œuvre les lois de la Nature ou de l’Histoire, ne se préoccupe pas de leur traduction en normes du bien et du mal à l’usage des individus, mais elle les applique directement à l’,espèce’, c’est-à-dire à l’humanité.» Hannah Arendt, La Nature du totalitarisme, Paris 1990, p. 98 s. Pour un remarquable bilan sur la notion de «totalitarisme», qui connut un grand nombre d’interprétations et suscita l’un des débats-clés du XXe siècle autour de la comparaison entre nazisme et communisme, nous renvoyons à Enzo Traverso (dir.), Le Totalitarisme. Le XXe siècle en débat, Paris 2001, ainsi qu’à Bernard Bruneteau, Le totalitarisme: origines d’un concept, naissance d’un débat 1930–1942, Paris 2010. Voir ici Giorgio Agamben, «La police souveraine», in: Moyens sans fins, p. 115–119.

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raison d’ordre politique (comme l’est encore la domination en vue du contrôle d’un territoire, par exemple) hormis la réalisation d’un pouvoir unifié, au nom de l’idée d’Un. Il semble en tout cas que le type singulier de la violence «génocidaire» soit absolument spécifique au XXe siècle: le génocide inaugure une scission de l’humanité d’avec elle-même qui a certes toujours été présente dans l’histoire de l’humanité (à travers la violence religieuse, ethnocidaire ou coloniale, l’esclavage, et même certains rapports sociaux-économiques de classes) mais qui pour la première fois est réalisée par l’appareil étatique et bureaucratique, via une pratique de la violence qui passe par le système juridico-politique où l’exception est devenue la règle, à travers une idéologie cohérente dont le but est cette fois l’extermination d’un groupe à travers ses naissances et sa descendance (le genos),30 cette extermination n’étant pas un moyen au service d’un but politique mais représentant à elle-même sa propre fin. Les critères de définition du groupe ciblé par la violence politique sont évidemment en étroite relation avec la nature de la violence et son «but» (domination ou extermination), mais force est de constater au plan empirique que la «logique» étatique (souvent irrationnelle mais néanmoins logique dans la mesure où elle possède une forme de cohérence interne) entremêle au XXe siècle les logiques de domination et d’extermination, si bien que seule une approche au plan philosophique et anthropologique est susceptible de la saisir. Le groupe humain visé par la violence politique peut s’opposer lui-même à l’Etat et se définir, lui et son opposition armée, selon des critères politiques – c’est souvent le cas dans les guerres civiles, où la violence peut être dans une certaine mesure réciproque – mais, la plupart du temps, la cible de la violence étatique est un groupe non armé, auquel tous ses supposés mem30

L’étymologie commune au genre humain et au génocide rappelle la dimension collective des naissances: la naissance d’un homme à l’humanité représente à la fois la naissance d’un individu unique à un groupe, et son appartenance à une pluralité de groupes, à l’intersection de plusieurs collectifs (familial, religieux, social, culturel). Le génocide abolit cette complexité par l’homogénéisation d’une humanité réduite à l’appartenance étatique identifiée à des appartenances plus ou moins imaginaires comme la race, l’ethnie ou la religion, et détruit la vie intime et privée, productrice de singularités individuelles, tout comme la vie publique, productrice, elle, d’identités et de cultures singulières. L’extermination décidée par l’Etat vise alors non pas, comme l’ethnocide, l’éradication d’un groupe en tant que tel (c’està-dire en tant qu’Autre) comme le proclame la raison juridique, mais plutôt l’extermination d’un groupe en tant qu’humanité, cette dernière étant visée dans son unité par-delà sa diversité fondatrice. C’est d’ailleurs bien en cela que l’appellation juridique de «génocide», «entérinant la race comme fiction efficiente» (Coquio), est hautement problématique.

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bres ne se sentent pas forcément appartenir puisqu’il a été arbitrairement défini au nom d’un critère de «race», de religion, d’«ethnie», voire même un critère «politique» qui joue comme catégorie essentialisante. L’Etat cible donc un groupe dont certains critères de définition préexistent à son délire idéologique, mais y ajoute des critères fantasmatiques qui fonctionnent comme raison justifiante de la violence exercée. Une raison justifiante qui possède sa logique interne mais qui, en toute rigueur au plan philosophico-politique, doit bien être qualifiée d’irrationnelle et de «sans raison».31 Ainsi, lors du génocide des Arméniens, les Jeunes-Turcs en détruisant le peuple arménien n’ont-ils pas seulement détruit une minorité devenue nation potentielle, encore moins ont-ils détruit en lui un peuple qui menaçait leur territoire: ils ont voulu anéantir un modèle fantasmatique d’humanité «civilisée» mais considérée comme étrangère à la culture orientale, anéantissement qui visait l’ensemble de la population, femmes et enfants compris, mais qui pouvait aussi passer par le métissage (à travers le rapt des femmes arméniennes et l’enlèvement des enfants). Quant aux «épurateurs» serbes, ils n’ont pas exterminé les «Musulmans» seulement comme accaparant indûment leur territoire (c’est la logique de l’épuration ethnique), ni même parce qu’ils pratiquaient une religion différente: en eux étaient détruits les héritiers de l’ancien oppresseur turc, emblèmes à ce titre d’une humanité citadine et métissée, qu’il fallait remétisser à l’envers dans les camps de viol ethnique.32 La sidérante inadéquation entre le sentiment d’appartenance ou précisément son absence chez les victimes, et la définition irrationnelle des bourreaux d’un «groupe» racialisé à exterminer, se retrouve à plus ou moins fort degré dans tous les génocides. L’arbitraire de la désignation dans la logique 31

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Concernant la «définition» du «groupe» humain visé par la persécution ou l’extermination, soit la question de l’«appartenance justifiante», Philippe Bouchereau a essayé dans un texte intitulé «Le génocide est sans raison» de mettre en évidence les contradictions internes à la raison juridique. Car le droit définit l’idéologie génocidaire comme intention d’exterminer un groupe «en tant que tel», c’est-à-dire qu’elle suppose in fine que le groupe a une existence objective, et partant de là que l’appartenance de la victime à ce groupe constitue une raison à son extermination. Or ce qui fait du crime de masse un génocide au sens à la fois juridique et philosophique, c’est non pas l’identité du groupe cible mais la racialisation d’un groupe érigé en cible. Le groupe indéfinissable d’une «race» qui n’existe pas n’est pas génocidé pour ce qu’il fait (au plan politique), ni même pour ce qu’il est, mais pour ce qu’il n’est pas: une race mentale selon une expression d’Adolf Hitler lui-même. Philippe Bouchereau, «Le génocide est sans raison», in: L’Intranquille n° 6/7, Paris, 2001, p. 279–297. Voir à ce sujet Giorgio Agamben, «Qu’est-ce qu’un camp», in: id., Moyens sans fins, p. 47–56.

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génocidaire est particulièrement visible lorsqu’elle prétend devenir «politique», comme ce fut le cas lors du génocide cambodgien où la «sociologie» criminelle des Khmers rouge ne visait pas des «ethnies» ou des «classes», mais des tranches de population racialisées et fantasmées en «ennemis politiques». On peut également songer à la Grande famine planifiée par Staline en Ukraine où la catégorie à exterminer, les «koulaks», représentait une notion mixte à la croisée de l’ethnique, du politique (à travers la catégorie de «nationalisme» ukrainien engendrant des «ennemis politiques» de l’URSS) et du socio-économique (les «paysans riches»). La confusion entre le racial et le politique, que l’on observe à plus ou moins fort degré dans toute idéologie exterminationniste, révèle ainsi les limites de la définition juridique du génocide dans sa distinction, formulée par le droit, avec le crime contre l’humanité.33 En considérant les décalages entre le sentiment d’identité collective d’un groupe (toujours lié à une mémoire collective ou culturelle partagée) et les critères de définition du groupe par l’idéologie qui le vise, puis, en aval du crime, l’éventuelle culture mémorielle commune pouvant se forger à partir de la mémoire de l’événement catastrophique en créant un nouveau sentiment d’appartenance au groupe, différents niveaux de réflexion se dessinent et se distinguent, permettant à la pensée de mener une critique de la logique juridique au nom de définitions philosophiques et anthropologiques, en complétant la nomenclature juridique et en différenciant, selon l’idéologie criminelle, non plus seulement entre «génocide» et «crime contre l’humanité», mais plutôt 33

La Convention de 1948 définit le crime de génocide à l’aide du principe d’«intention» exterminatrice et de quatre critères définissant le groupe à «exterminer»: ethnie, nation, race, religion. L’éviction du critère politique (réintroduit par le droit pénal français en 1992 et partiellement par la définition adoptée par la Cour pénale internationale) se comprend comme volonté de préserver la spécificité du crime dans son caractère racialement destructeur en ce qu’il touche une population de manière non pas seulement horizontale mais verticale à travers ses naissances et sa filiation. Mais il faut rappeler qu’en 1948, cette réduction de la définition juridique s’explique aussi par la volonté de certains Etats de s’assurer l’impunité de crimes en cours, en URSS et dans certains pays d’Amérique du sud. Et devant la complexité des crimes, il est difficile de maintenir une telle distinction entre crime «motivé» (soit politiquement fondé, où les gens sont tués pour ce qu’ils font), et crime «immotivé» (racialement fondé, les gens sont tués pour ce qu’ils sont). Car on se voit bien souvent confronté à l’impossibilité de démêler l’écheveau des motivations criminelles, participant d’une conception paranoïaque du corps social comme organisme à purifier sans fin, y compris à travers une purgation de l’appareil étatique lui-même, et où la définition des groupes selon l’être ou le faire tendent finalement à se croiser, voire même à se confondre. Voir Coquio, «Du malentendu», p. 47.

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entre «ethnocide», «crime contre l’humanité», «génocide» et «génocide-humanicide».34 On le voit, la nature de l’intention d’un Etat criminel est toujours difficile à définir, et il serait selon nous imprudent de vouloir établir une sorte de correspondance directe en termes conceptuels entre l’intention et la mémoire du groupe visé, comme le suggère Dan Diner en confondant les notions d’ethnocide et de génocide.35 Il faut impérativement distinguer ici les diffé34

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Aux définitions juridiques qui posent problème en ce qu’elles entérinent la perversion du politique par l’ethnique, Philippe Bouchereau oppose des définitions philosophiques en distinguant entre la guerre, l’ethnocide et le génocide d’une part, entre la nature du génocide et celle de la violence totalitaire d’autre part. La violence génocidaire est qualifiée par lui de «décidément moderne» et est définie pardelà la confusion du terme juridique, qui confond ethnocide et génocide (Bouchereau, «Discours sur la violence», p. 72). La visée raciale contenue dans la logique génocidaire revient à se poser en arbitre de ce que doit être la réalité de l’humanité. Cette visée est délirante, et par conséquent irréalisable. Ce qui est pensé comme le moyen de sa réalisation, à savoir l’extermination d’un groupe particulier retranché de l’humanité, devient alors sa propre fin. C’est sa différence d’avec le crime contre l’humanité. Alors que dans l’ethnocide ou le racisme de l’apartheid, l’humanité de l’autre est niée à partir d’une réduction de sa singularité au particulier à retrancher d’une humanité Une, le génocide est négation immédiate de l’universel, donc de l’humanité même. Bouchereau propose d’appeler «génocide-humanicide» la pure intention d’exterminer un groupe en tant que tel, mais sans raison. Nous renvoyons ici à Bouchereau ainsi qu’à Pierre Clastres, Recherches d’anthropologie politique, Paris 1980; Françoise Héritier, De la violence (I et II), Paris 1996 et 1999; Coquio, «Du malentendu», en particulier p. 46 et suiv.; id., «‹Raisons› du crime et raison du droit: race et politique»; id., «Violence sacrificielle et violence génocidaire», in: Quasimodo n° 8, «Corps en guerre. Imaginaires, Idéologies, destructions. Tome 1», printemps 2006, Montpellier, p. 193–230; id./Aurelia Kalisky, «Avant-propos» à l’anthologie L’Enfant et le génocide. Témoignages sur l’enfance pendant la Shoah, Paris 2007, p. VII– XCVI; Marc Nichanian, «L’Empire du sacrifice», in: L’Intranquille n° 1, 1992. Diner propose une définition du crime génocidaire fondée non pas sur la définition juridique, ni sur le paradigme de la négation de la mémoire, qu’il ne pense pas en tant que telle, mais sur celui de la destruction à travers l’annihilation physique et symbolique d’une culture mémorielle (Erinnerungskultur), elle-même fondée sur ce qu’il nomme «ethnos», l’«ethnie» devant s’entendre comme communauté mémorielle («Gedächtniskollektiv», voir Dan Diner, «Über Schulddiskurse und andere Narrative», in: Gertrud Koch (dir.), Bruchlinien: Tendenzen der Holocaustforschung, Köln/Weimar/Wien 1999, p. 61–84, ici p. 81 et id., «Gedächtnis und Institution», in: id. (dir.), Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin 1995, p. 115–120). C’est d’ailleurs ce qui différencie chez lui le génocide ou (selon lui) l’«ethnocide» – en l’occurrence la Shoah, dont il réaffirme l’unicité à partir de plusieurs critères – d’un crime contre l’humanité comme le nettoyage ethnique. Ce dernier, visant une communauté «ad hoc» définie selon des critères «socio-politiques» et qui ne dispose à cet égard que d’une culture mémorielle récente ou peu constituée, se diffé-

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rents niveaux de la réflexion sous peine de confondre l’idéologie du bourreau et le sentiment – toujours subjectif – d’appartenance des victimes: celui de la mémoire d’un groupe constitué d’une part, qui peut fonder son sentiment identitaire en amont de la catastrophe, et, en aval, celui de la mémoire de l’événement d’autre part, qui diffère nécessairement de la première en ce que le groupe réel et le groupe fantasmé par le bourreau ne sauraient être superposables. Paradoxale, la catastrophe détruit donc la mémoire d’un groupe, mais peut aussi en constituer ou en consolider l’identité en étant commémorée, voire même être fondatrice d’une mémoire transmise et donc d’une culture mémorielle, comme Jan Assmann ou Yosef Yerushalmi l’ont différemment démontré concernant la culture mémorielle juive. On le voit bien, une grande rigueur conceptuelle s’avère dès lors nécessaire pour penser les formes de violence propres au XXe siècle et saisir les phénomènes qu’elles engendrent en termes de «mémoire ». Si l’on considère à la fois empiriquement et théoriquement l’étendue du spectre couvert par les formes de la violence spécifiques à ce que le droit nomme les «crimes contre l’humanité», il apparaît en tout cas d’emblée que la destruction des cadres de la mémoire opérée par les formes de violence politique ne saurait avoir le même statut du point de vue de l’intentionalité que celle pouvant se rencierait ainsi d’un crime visant un groupe qui forme une culture mémorielle ancienne comme celle des Juifs et donc une tradition constituée de modèles et de canons formels (soit de formes symboliques héritées). Or, selon nous Diner ne pose pas la nécessaire distinction entre les critères de définition du groupe ciblé selon le bourreau et selon le groupe lui-même en vertue de son éventuel sentiment d’appartenance. Par conséquent, non seulement Diner confond ici ethnocide et génocide, mais il confond également le processus de définition et d’identification du groupe par le bourreau, dont témoigne par exemple la logique folle des lois biopolitiques nazies, et le sentiment d’appartenance éventuellement présent à l’intérieur d’un groupe à plus ou moins fort degré. Il simplifie ainsi à outrance l’historicité des processus socio-culturels et mémoriels (tous les Juifs européens étaient loin de se sentir «juifs» et se percevaient souvent avant tout comme italiens, français, allemands, polonais, tchèques …). Sa définition de la «culture mémorielle» ne permet donc pas de penser les relations entres mémoire et catastrophe, ni même d’établir des distinctions claires entre les formes de violence. Cette impasse montre la nécessité de penser la violence génocidaire en dehors de la référence à la Shoah (par exemple à partir de l’exemple du le massacre exclusif des hommes en Bosnie, dont le Tribunal pénal international pour l’ex-Yougoslavie a conclu qu’il relevait bien d’une intention de détruire tout le groupe, les femmes devenant la cible de viols systématiques dans des camps prévus à cet effet, et ce, au-delà de leur dimension de crime de guerre reconnu par le droit international en 1996, afin de pénétrer l’«ethnie» bosno-musulmane tout en saccageant l’intimité et les liens des plus fondamentaux).

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produire dans le cadre d’une guerre. Certes, il y a bien dans un cas comme dans l’autre des formes de destruction matérielles touchant aux villes, bâtiments, monuments, bibliothèques. Mais lors d’une guerre, elles n’ont pas le même statut au plan symbolique car elles ne font pas partie d’un programme de destruction systématique.36 Dans le cas d’une catastrophe historique guerrière, quand bien même s’agirait-il d’une guerre aux proportions aussi gigantesques que la Première Guerre mondiale, on peut distinguer une volonté et, partant, une intentionalité étatique (présente dans toutes les nations impliquées) de manipulation de la mémoire en vue de consolider des identités collectives nationales autour de l’institution de formes de deuil collectif et d’héroïsation du vécu des combattants. A bien des égards, la Première Guerre représente également une rupture dans l’histoire de la violence humaine en ce qu’elle voit se disloquer définitivement le jus publicum europeanum37 avec la criminalisation de l’ennemi de guerre et des populations civiles, jusque là encore «protégés» par le droit et les coutumes de la guerre. C’est d’ailleurs ce qui a pu faire parler d’elle en termes de «guerre civile»38 ou de «guerre totale».39 Elle ouvre indiscutable-

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Bien qu’il faille ici penser la spécificité de certains crimes de guerre à l’encontre de populations civiles et de monuments, bibliothèques, etc., visant à détruire la nation ennemie dans son ensemble (en tant que distinguée du peuple), dans une indistinction entre l’armée et les civils (en quoi il s’agit bien de crimes de guerre), y compris à travers les supports de sa mémoire culturelle, les actes guerriers restent cependant pensables à l’intérieur d’un cadre et selon la catégorie d’un but politique défini, inscrit dans la logique guerrière, fût-elle une «guerre d’extermination» (bellum internecinum, voir sa définition chez Emmanuel Kant, «Vers la paix perpétuelle. Esquisse philosophique», in: id., Vers la paix perpétuelle et autres écrits, Paris 1991, p. 80). Les bombardements intensifs des villes allemandes à la fin de la Seconde Guerre, de même que la décision de rayer une ville entière de la carte comme ce fut le cas avec Hiroshima, prétendent s’inscrire dans une logique guerrière en ce qu’ils visent la reddition sans condition de la nation et la soumission de l’Etat, tous deux considérés comme criminels. Mais en réalité ce type de destruction reste à penser dans sa spécificité au plan philosophique et au plan juridique (comme de nombreux «crimes de guerre», cette catégorie juridique un peu «fourre-tout» étant souvent inadéquate pour désigner son objet), en particulier dans le cas d’Hiroshima à travers la menace que la bombe nucléaire fait courir non plus seulement au genre humain mais bien aussi à l’espèce humaine. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europeanum, Berlin 1974. C’est Ernst Jünger qui fut le premier à employer le terme de «guerre civile» à propos de la Première Guerre. Voir ici: Roman Schnur, Revolution und Weltbürgerkrieg. Studien zur Ouverture nach 1789, Berlin 1983; Gabriele Ranzato (dir.), Guerre fratricide. Le guerre civili in età contemporanea, Torino 1994.

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ment une ère nouvelle, inaugurant un rapport particulier au deuil lié à l’apparition de la mort de masse engendrée par les armes modernes. Elle a également pu être qualifiée de «catastrophe originelle»40 dans l’histoire de l’Occident, et a sans conteste représenté un «gap in history»41 qui a eu des conséquences importantes sur la mémoire collective. Mais si la mémoire a été manipulée à des fins nationalistes et militaristes, sa destruction n’a pas été, c’est un point décisif, intentionnellement visée. A travers les luttes mémorielles qu’elle fait naître, la violence guerrière engendre incontestablement et dans tous les cas un bouleversement des cadres sociaux de la mémoire et, partant, leur reconfiguration. Mais ce bouleversement n’est pas irrémédiable car la mémoire n’est pas visée en tant que telle, le but de la guerre étant avant tout la domination en vue de laquelle la manipulation de la mémoire représente un moyen parmi d’autres. La domination n’est pas la destruction et l’extermination. Elle suppose bien que soient étouffées certaines mémoires collectives – comme celles des combattants de première ligne bien souvent devenus antimilitaristes – au profit d’autres mémoires – comme celles des gradés militaires et des hommes politiques –, l’enjeu en étant la fixation d’une mémoire unifiée par le biais de l’écriture historiographique qui représentera alors la mémoire «officielle» d’un événement au détriment de la mémoire des «vaincus» ou des acteurs d’en-bas. Mais elle ne vise pas l’effacement total des traces d’un événement historique et de l’existence même d’un groupe humain à travers la destruction de sa mémoire. Ainsi la Première Guerre mondiale n’a-t-elle pas été l’occasion, sauf exception, de destructions ciblées du patrimoine culturel ou des cultures mémorielles des nations combattues, ce sont bien plutôt les actes de destruction du patrimoine culturel dont l’ennemi se rendait coupable qui étaient censés prouver sa «barbarie» – c’est du moins ce que les stratégies de propagande voulaient faire croire aux populations.42

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Pour une histoire du concept de «guerre totale», voir Hans-Ulrich Wehler, «‹Absoluter› und ‹totaler› Krieg. Von Clausewitz zu Ludendorff», in: Politische Vierteljahresschrift, 10/1969, p. 220–248. George Kennans, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875–1890, Frankfurt a.M. 1981. Samuel Hynes, A War Imagined. The First World War and English Culture, London 1990, Introduction, p. xi. Voir par exemple Klaus H. Kiefer, «Die Beschießung der Kathedrale von Reims. Bilddokumente und Legendenbildung – Eine Semiotik der Zerstörung», in: Thomas F. Schneider (dir.), Kriegserlebnis und Legendebildung. Das Bild des «modernen» Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, vol. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg/Der Erste Weltkrieg, Osnabrück 1999, p. 115–152.

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Comme le fait remarquer Astrid Erll dans son étude consacrée aux Gedächtnisromane anglais et allemands issus de cet événement, il semblerait même erroné de parler de «destruction des cadres mémoriels». Si tout un système de valeurs et de représentations a été brisé, les cadres sociaux de la mémoire, eux, ont été touchés de façon très diverse: la «mémoire culturelle» (au sens restreint) comme la «mémoire communicative» et «sociale» ont indéniablement été bouleversées,43 mais l’on serait presque tenté de dire que les cadres sociaux sont d’une certaine manière sortis renforcés du conflit. Une fois réorganisés et reconfigurés autrement, ils sont acquis des traits indiquant au contraire une «collectivisation» de la mémoire encore plus forte qu’auparavant, consacrant l’apparition de cultures mémorielles nouvelles. La catastrophe historique bouleverse certes la mémoire collective, mais l’alimente et la renforce tout autant. Si bien que, plutôt que de «destruction», il serait plus juste de parler de «rupture», les années 1920 pouvant selon A. Erll presque mériter le nom de «décennie de la mémoire collective».44 Il en va tout autrement de la mémoire d’un événement comme l’univers concentrationnaire soviétique, ou d’une catastrophe génocidaire comme la Shoah, où les cadres sociaux de la mémoire, ayant fait l’objet d’un acharnement spécifique, ont mis bien plus de temps à se reconfigurer, et où la mémoire a été définitivement abîmée à travers le processus de manipulation des archives et des récits et par la négation de l’expérience des survivants. Si la mémoire de ces catastrophes peut aujourd’hui apparaître comme fondatrice d’une nouvelle ère, en particulier en ce qui concerne la Shoah, c’est paradoxalement par son aspect toujours déjà réflexif de mémoire survivante obligée de contrer le secret d’Etat et la négation. La Première Guerre a incontestablement ouvert une «ère de la mort de masse», mais c’est seulement à la suite du génocide des Juifs et de la découverte des crimes nazis que s’est ouverte en Occident «l’ère du témoin». 43

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Et même cette affirmation doit rester prudente, car il faut aussi distinguer de fortes lignes de continuité entre l’avant et l’après-guerre, à travers le modernisme artistique et notamment les courants futuriste et expressionniste, ce que Samuel Hynes a appelé les «guerres avant la guerre» (Samuel Hynes, «The Wars before the War», in: id., A War Imagined, p. 3–24). Si bien qu’il faut donner raison à Astrid Erll lorsqu’elle affirme: «Der Erste Weltkrieg ist also nicht als Ursache, sondern vielmehr als ein Motor des modernen Umgangs mit dem kulturellen Gedächtnis zu bewerten.» Astrid Erll, Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, Trier 2003, p. 108. «Bei dem sense of a gap in history als Phänomen kollektiver Mentalitäten […] haben wir es also, auf der kulturhistorischen Beschreibungsebene, mit einem gap in cultural memory, einem Bruch im kollektivautobiographischen Gedächtnis zu tun». Erll, Gedächtnisromane, p. 107.

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Une ère durant laquelle les différentes dimensions du phénomène testimonial ont été amenées à se superposer dans la «figure» du témoin déporté politique et du déporté juif revenus des camps nazis, cette figure nouvelle du témoin étant précisément une forme de réponse à la tentative de destruction de l’archive et à la négation du témoignage. Avant d’aller plus loin, arrêtons-nous sur la notion d’«archive». En français, les archives au pluriel désignent au sens courant toute collection de documents anciens, et peuvent à ce titre être soit privées, soit publiques. En ce dernier cas, elles sont constituées et contrôlées par l’institution, tout en devenant un lieu de recherche privilégié pour l’historien qui y traque les événements du passé à travers leurs traces, surtout depuis que l’histoire s’est donnée des règles et des méthodes de recherche scientifiques au sein desquelles l’archive prend une place essentielle. Pour qu’il y ait «archive» – média du Speichergedächtnis selon la terminologie proposée par Aleida Assmann – il faut donc qu’il y ait un lieu institutionnel soumis à une autorité ainsi qu’à des principes (d’archivage) définis, servant l’intention conservatoire.45 C’est en instaurant toujours une topique des archives, un cloisonnement entre ses éléments et donc un tri, indissociables du processus de consignation, que l’institution se donne les moyens – par la loi – de contrôler la communication des pièces dont elle a la garde. Ces opérations de tri puis de communication sélective de l’archive caractérisent surtout les archives du pouvoir, les archives d’Etat, d’abord rassemblées et conservées dans une optique administrative ou judiciaire, et qui sont autant de traces du fonctionnement même de l’appareil bureaucratique. Ce sont ces archives-là que l’«Etat criminel» prend soin de détruire ou de manipuler dans le cas des «catastrophes mémorielles», afin que ne subsiste aucune trace de son crime. Dans le cadre de la violence politique dictatoriale ou totalitaire, il s’agit donc d’éviter la production même des traces mémorielles en pratiquant par exemple des politiques de «disparition forcée»,46 et toute trace subsistante doit ensuite être camouflée ou détruite, en particulier, en cas de génocide, les documents attestant l’ordre d’exterminer un groupe.47 La manipulation de la mémoire se prolonge ensuite à travers son 45

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Comme le rappelle l’étymologie du mot formé à partir de arkhéion (résidence des hauts magistrats de la cité), arkhé (autorité, le verbe arkhein signifiant commander) devenus arkhéia (lieu où l’on conserve les documents officiels). La disparition forcée consiste, lorsqu’elle est pratiquée par un Etat, à assassiner ou séquestrer une personne ou un groupe de personnes tout en le niant. Elle constitue un crime contre l’humanité selon le statut de la CPI depuis le 1er juillet 2002. Voir à ce sujet Harald Weinrich, Léthé. Art et critique de l’oubli (1997), Paris 1999, p. 148–153, Weinrich s’arrête sur l’exemple de la pièce Thermidor de Victorien Sar-

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détournement idéologique, comme on le voit exemplairement à l’œuvre en ce qui concerne les violences coloniales, présentées comme relevant d’une mission civilisatrice et répondant à une logique du déni,48 ou par la négation et l’effacement purs et simples. L’amplitude de la catastrophe mémorielle se révèle et se mesure dès lors en aval du crime, dans la difficile élaboration de la mémoire de l’événement. Dans le cas de la violence totalitaire, comme celui de l’URSS, on sait à quel point les vecteurs de mémoire que sont l’histo-

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dou, œuvre exemplifiant selon lui l’importance nouvelle, sous le régime de la Terreur, de l’archive comme instrument d’un pouvoir judiciaire devenu meurtrier. Catherine Coquio remarque au sujet de la transposition des catégories analytiques aux phénomènes collectifs que s’il est «vain ou déplacé de vouloir recourir aux explications psychanalytiques pour rendre compte de la production des catastrophes historiques, qui mettent en jeu des réalités d’abord politiques», cela n’interdit en rien de recourir, pour déchiffrer les discours où il est question de ce réel-là, à la distinction logique utilisée par Freud entre la négation active (Verneinung), dont relève la dénégation (Leugnung), et le déni (Verleugnung). La négation est en quelque sorte la pointe, le sommet de l’iceberg que représentent les phénomènes de dénégation. Dans la théorie freudienne, la négation consiste en une opération d’aveu inversé qui révèle l’acceptation intellectuelle de l’inconscient par le Moi. Il s’agit d’un acte conscient et actif du bourreau qui se caractérise par «une saisie du réel verbale et consciente, mais inversée, et génératrice d’un jugement». Si le crime a été jugé et a fait l’objet d’un discours historiographique et testimonial rendu public, «[l]e jugement négateur suppose […] une norme positive à transgresser – juridique, historiographique, testimoniale». Catherine Coquio, «A propos d’un nihilisme contemporain», in: id. (dir.), L’Histoire trouée. Négation et témoignage, Nantes 2004, p. 29–89, ici p. 24. La colonisation et la «décolonisation» du continent africain font l’objet d’un mélange ambigu de mémoire et d’oubli, aujourd’hui contemporain de nouvelles formes de violence dans les pays anciennement colonisés. Une ambiguïté dont le flou juridique qui entoure les phénomènes coloniaux au plan du droit international est un des symptômes, et qui entraîne avec elle, à travers la non-sanction des crimes, une multitude de mémoires en souffrances et d’histoires non écrites. Voir à ce sujet Monique Chemiller-Gendreau, «Colonialisme et droit», in: Coquio (dir.), Parler des camps, p. 349–355. Les enjeux de la mutation de la simple euphémisation au déni ou à la négation sont particulièrement visibles à partir d’un exemple, celui de l’extermination des Hereros en Namibie. Le crime présente déjà la plupart des traits qui le constituent en génocide mais s’y mêlent également des traits spécifiques d’une autre catastrophe historique, celle de la colonisation, qui a ses propres stratégies d’effacement de la mémoire, reposant davantage sur le déni (qui n’est pas la négation consciente mais une manière de reconnaître le crime dans tous ses aspects tout en lui déniant sa signification de crime), et où la négation de l’événement et la destruction du témoignage ne jouent pas le même rôle dans la mesure où la parole et la mémoire des colonisés est toujours déjà marginalisée, inaudible et considérée comme négligeable au sein d’une culture non écrite. Le génocide des Héréros a pour ainsi dire radicalement réussi, les témoignages ayant été détruits et rendus doublement impossibles dès le départ.

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riographie et le droit ont été manipulés: destruction et manipulation d’archives, endoctrinement précoce des populations via une histoire «officielle», contrôle absolu et répression de la mémoire communicative parfois à travers une attaque des liens intergénérationnels, faux procès. Dans le cas d’un génocide, la destruction diffère encore: c’est la nature même de la violence génocidaire et du processus de négation qu’elle engendre qui explique l’incroyable difficulté que connaît la mémoire d’un génocide sous toutes ses formes pour se faire entendre et reconnaître dans l’espace public. De tout ceci résulte que la destruction de vies humaines, aussi immense soit-elle, ne revêt pas le même sens en termes de mémoire selon les types d’événements envisagés. Dans cette perspective, on peut distinguer les «catastrophes historiques» liées à des formes de violence politique impliquant le plus souvent la perpétration de ce que le droit nomme les «crimes contre l’humanité» et qui sont toujours des «catastrophes mémorielles», d’autres formes de «catastrophes historiques» procédant, elles, de la violence guerrière. Les catastrophes historiques liées à la violence politique relevant de ce que nous appelons des «catastrophes mémorielles» résultent toujours d’une violence exercée à l’encontre d’un groupe défini selon des critères qui peuvent être objectifs ou fantasmés, et visant une culture de groupe, ce qui implique évidemment sa mémoire. La violence qui est mise en œuvre dans les crimes contre l’humanité est une volonté ciblée de destruction de la mémoire elle-même à travers la dénégation du crime, utilisant pour cela, et c’est un point décisif, tous les moyens techniques de l’Etat moderne. Le processus de dénégation est en marche dès la réalisation même du crime, l’Etat criminel allant jusqu’à manipuler et instrumentaliser les savoirs institués en vue d’établir sa version des faits historiques au détriment de la mémoire des disparus. La destruction de la mémoire se produit donc ici à travers la destruction directe de vies humaines et par le détournement et la manipulation de ses cadres, en particulier la destruction de l’archive. Ceci permet de différencier les catastrophes où la mémoire subjective de l’événement – sous la forme du témoignage – est marginalisée, voire même activement niée et combattue, cette lutte contre la mémoire faisant partie du processus même de la violence, des autres, celles où la marginalisation éventuelle des témoignages, leur éclatement, leur relativisation est une sorte de «dommage collatéral» au processus habituel d’historicisation et d’inscription de l’événement dans la mémoire collective. La différence fondamentale que nous venons d’établir dans l’intentionalité de la destruction de la mémoire et de ses cadres impose donc de différencier trois groupes de catastrophes historiques au plan théorique: la catastrophe guerrière, nommée «catastrophe» parce qu’elle est perçue comme l’expérience à la fois intime et collective d’une violence sans précédent qui entraîne chez le

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survivant l’impression de ne plus pouvoir saisir de sens à l’Histoire; la catastrophe historique concentrationnaire et/ou totalitaire, dictatoriale, coloniale ains que celle, plus complexe et désignant des réalités parfois hétérogènes, de guerre civile, où la destruction de la mémoire et de ses cadres est une composante importante du processus même de la violence; enfin la catastrophe historique génocidaire, où la destruction de la mémoire fait partie intégrante du processus d’extermination et en constitue même une des conditions, la potentialisant et la portant tout à la fois à son achèvement en inachevant le deuil des survivants comme des descendants des victimes. Seule la catastrophe génocidaire est une catastrophe historique «au carré», une guerre frontale contre la mémoire, au sens où l’événement lui-même, qui constitue d’abord une rupture radicale au même titre que toute catastrophe historique, est redoublé puis répété et amplifié dans le temps, vouant le deuil à se prolonger indéfiniment dans les mémoires toujours déjà empêchées. Les mémoires sont ainsi condamnées à commémorer un événement programmé pour ne jamais avoir eu lieu, nié, et donc absent, la possibilité du deuil étant par là même annihilée. La mémoire de la communauté visée est doublement détruite, à travers le meurtre de ses membres puis à travers l’empêchement et la négation du témoignage – donc de la mémoire – des survivants. En considérant les événements destructeurs pour un groupe humain qui ont eu lieu au XXe siècle et en prenant en compte les distinctions que nous avons essayé d’établir entre eux, nous suggérons en tout cas de limiter le terme même «catastrophe mémorielle» («Katastrophe des Gedächtnisses») aux deux derniers groupes de catastrophes historiques (soit à ce que le droit nomme les «crimes contre l’humanité» et les «génocides»), la notion n’apparaissant pas tout à fait pertinente dans le cas d’une guerre, fût-elle mondiale. Si l’on a pris conscience de cette destructivité particulière à l’occasion de la découverte des crimes du national-socialisme, elle semble tout autant pouvoir s’appliquer à des cas antérieurs tels que les génocides des Héréros, des Arméniens, mais aussi l’univers concentrationnaire soviétique. Penser les formes passées et contemporaines de violence politique implique d’ailleurs d’ajuster la pensée à l’empirisme de l’approche de la violence, et de savoir reconnaître les formes constitutives de crimes contre l’humanité qui avoisinent le génocide. Comme l’a justement formulé Coquio, «la connaissance et la pensée n’ont pas ici pour seule fin le concept, ni le procès, ni même le jugement, mais la saisie, individuelle et collective, des productions politiques de l’inhumain. […] La rigueur conceptuelle doit donc aller de pair avec la critique du concept, et la pensée critique s’adosser au droit sans s’y fondre.»49 49

Coquio, «Du malentendu», p. 56.

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Dès lors, quand s’entrelacent éléments de définition «raciaux» et «ethnicisants» et éléments «politiques», les catégories juridiques inventées par le droit international, pourtant incontournables car devenues «vecteur de mémoire» à part entière en étant reprises par l’historiographie, s’avèrent profondément insatisfaisantes et deviennent l’enjeu de luttes mémorielles d’autant plus acharnées que le spécialiste de droit international, l’historien et le rescapé ne semblent pas pouvoir s’entendre sur des termes communs. C’est dans ce cas que la catastrophe mémorielle révèle toute sa destructivité: les cadres de la mémoire sont endommagés, et cela affecte à la fois les outils conceptuels et les discours mêmes qui sont censés rendre compte de cette destructivité.

II. La catastrophe épistémologique et l’ordre des savoirs Toutes les dimensions de la mémoire ne sont pas détruites par la violence politique lors de ce que nous appelons une «catastrophe mémorielle», mais elles sont en tout cas toutes bouleversées et durablement altérées. Cette destructivité particulière est due à la configuration des savoirs propre à l’époque moderne. Si le pouvoir politique, longtemps adossé à l’autorité religieuse, a toujours peu ou prou influencé ou même décidé de ce qui était destiné à intégrer la mémoire publique ou de ce qui devait au contraire en être écarté, parfois en manipulant ses cadres au plan politique et culturel, cette manipulation prend un aspect absolument nouveau à l’époque moderne. Cette nouveauté est due á la conjonction de deux phénomènes à vrai dire indissociables, l’un conditionnant l’autre, et qui forment pour ainsi dire une constellation spécifique: avec les catastrophes historiques modernes, on observe une mutation de la nature de la violence exercée en tant que visant directement la mémoire à travers l’archive, et, parallèlement, une mutation des cadres de la mémoire désormais en grande partie fondée sur l’archive comme «prothèse» de formes de mémoire plus vivantes, qui, du même coup, prêtent autrement le flanc à la violence en jeu. Avec le règne de l’archive et l’accentuation de la bureaucratisation du pouvoir, à la fin du XVIIIe, l’archive est en effet devenue un élément essentiel dans l’exercice du pouvoir politique et juridique, ce qui a fait parler Jacques Derrida et, à sa suite, Marc Nichanian d’un «âge de l’archive».50 50

Marc Nichanian use de ce terme dans plusieurs de ses travaux (voir en particulier La Perversion historiographique, Paris 2007) et travaille lui-même à partir de la notion d’«archive» (au singulier) telle que la développe Jacques Derrida dans Mal d’archive – Une impression freudienne, Paris 1995, livre dont le propos est par ailleurs de proposer l’analyse certaines thèses freudiennes à partir de la problématique de l’archive (notamment de sa topique pouvant éclairer de manière métaphorique celle de l’appareil psychique de l’individu). En employant le terme au singulier, Jacques Der-

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C’est bien de cette façon que l’on peut éclairer la nature inédite des crimes génocidaires: leur modernité consiste en leur organisation en secret d’Etat, l’ordre d’exterminer étant avant tout passé de bouche en bouche tout le long de la structure hiérarchique, et se traduisant au bas de l’échelle d’exécution par une relative liberté d’initiative laissée aux acteurs. Le crime, pourtant bureaucratiquement organisé, exploite le fait que ses traces seront d’autant mieux effacées qu’il semble ne pas avoir été planifié. Ainsi ne reste-t-il du génocide des Arméniens en tant que crime intentionnel et décidé par le pouvoir que quelques télégrammes.51 Du génocide des Juifs, seul subsiste le procès-verbal de la conférence de Wannsee qui réunit un groupe de fonctionnaires de police. Avec cette évolution, l’archive devient dans le même temps un des fondements du savoir: elle est le support en quelque sorte le plus pur du Speichergedächtnis et se trouve au fondement du fait historique en ce que ce dernier est établi par l’historien. De son côté, l’historien est en quelque sorte le gardien du fait, et de son sens: il dit ce qui a été, et tente de l’expliquer et de l’interpréter. On peut même affirmer à la suite de Marc Nichanian, que compte tenu de la place centrale occupée par l’histoire depuis le XIXe siècle dans la mémoire collective et dans la manière d’interpréter et de penser un événement passé, il s’est produit au siècle suivant une sorte de «mainmise historiographique»52 sur l’événement historique, dont on peut déjà observer les effets à l’issue de la Première Guerre mondiale à travers la durable marginalisation de toute considération sur la vérité de l’événement en dehors de la version adoubée par l’histoire militaire et diplomatique.53 On voit donc que

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rida et Michel Foucault tentent de penser pour lui-même le fait social de la constitution des archives qui est à la base de toute société historique. L’emploi du singulier permet de dégager d’emblée la notion de la mainmise exclusivement historiographique, afin de la penser comme phénomène social, culturel, philosophique. Comme les faits sont moins connus que pour la Shoah, il semble utile de citer ici le texte du télégramme de Talaat Pacha à la préfecture d’Alep, en date du 29 septembre 1915: «Il a été précédemment communiqué que le gouvernement […] a décidé d’exterminer entièrement tous les Arméniens habitant en Turquie […]. Sans égard pour les femmes, les enfants et les infirmes, quelque tragiques que puissent être les moyens de l’extermination […] il faut mettre fin à leur existence». Talaat donne ensuite l’ordre «que soient déportés tous les enfants en âge de se souvenir». Nichanian, La Perversion historiographique, p. 20. Certains comme Richard Terdiman n’ont d’ailleurs pas hésité à parler d’une véritable crise de la mémoire à la veille de la Première Guerre, une crise qui fit de la guerre davantage un révélateur ou un «précipité», presque au sens chimique du terme, de phénomènes déjà enclenchés depuis longtemps (Richard Terdiman, Present Past. Modernity and the Memory Crisis, Ithaca, NY 1993). C’est ce que tente de penser Walter Benjamin dans certains essais écrits dans les années 1930 qui con-

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si tout événement catastrophique engendre différentes manières de se souvenir et de le commémorer, et que certaines sont inévitablement amenées à dominer les autres, l’histoire est vouée à dominer la mémoire collective au plan institutionnel et politique depuis le XIXe siècle et la théorisation du positivisme historique. Non seulement cette domination se fait sentir dans les cultures mémorielles issues des catastrophes historiques du XXe siècle, mais accentue encore l’effet délétère de la violence sur les mémoires. Ayant pour enjeu l’établissement des faits puis leur interprétation en tant qu’événement historique singulier (éventuellement en vue de leur qualification au plan juridique), l’historiographie a engendré une restriction des critères cognitifs, si bien qu’elle a nécessairement réduit la mémoire vivante, le témoignage interne à l’événement déjà forcément partiel et subjectif, à sa dimension factuelle et véridictionnelle. L’archive est une prothèse de la mémoire que l’on voulait plus fiable, mais qui s’avère en réalité hautement destructible, sa destruction faisant alors imploser sur elle-même la connaissance des faits. Comme l’a formulé Derrida, l’archive est «le lieu de défaillance originaire et structurelle de la […] mémoire [et de l’anamnèse en leur expérience spontanée, vivante et intérieure]».54 L’origine même de l’opération historiographique montre déjà comment elle s’ancre dans la mémoire en ses formes subjectives tout en prétendant s’en délier.55 Sa dialectique propre la fait par conséquent toujours osciller entre deux pôles contradictoires: d’une part, l’histoire prétend résulter d’une prise de distance à l’égard de la mémoire en tant que rapport au passé lié à une identité (quelle qu’elle soit) à travers une méthodologie particulière. Mais d’autre part, la discipline historique s’avère une forme de restitution toujours quand même sélective, inscrite dans un «ordre du discours» qui l’inféode – souvent à son insu – à une «mé-

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cernent aussi bien la rupture dans la mémoire communicative (à travers la notion d’«appauvrissement» de l’expérience mise en relation avec la révolution industrielle et surtout l’expérience des tranchées) que dans la mémoire culturelle (à travers la notion de «crise du roman», l’irruption de la presse, et, justement, la mutation achevée du discours historique en historisme positiviste). Derrida, Mal d’archive, p. 26. Aleida Assmann a insisté à juste titre sur l’ambiguïté constitutive du geste historiographique en rappelant comment Hérodote, en voulant également consigner les «hauts faits» des barbares et non plus uniquement ceux de leurs vainqueurs hélènes, inventa l’opération cognitive qui allait être à l’origine de l’écriture de l’histoire et permettrait de la détacher de la mémoire liée à une communauté en lui donnant la forme d’un récit distancié et «objectif», distinct de ce qui faisait jusque-là office de mémoire historique, à savoir la chronique ou l’épopée. Aleida Assmann, «Exkurs: Gedächtnis und Geschichte», in: id., Der lange Schatten der Vergangenheit, p. 43–51.

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moire des vainqueurs» liée au pouvoir politique (soit à une politique de la mémoire), voire même à une lecture encore mythique de l’événement. Pour employer les termes usités dans les théories de la mémoire allemandes et anglo-saxonnes dans le sillage du cultural et du linguistic turn, l’histoire comme discipline fait toujours déjà partie d’une culture mémorielle donnée, elle fait partie intégrante de la mémoire sociale. Le mode de sa domination depuis le XIXe se trouve étroitement lié à la puissance de l’archive propre à la modernité. Le statut de la mémoire d’un événement au sein de la mémoire collective, y compris au plan juridique, est toujours à teneur hautement politique. Ainsi le mot d’Heinrich Himmler, qui déclara dans un de ses discours secrets que l’extermination des Juifs était une «page d’histoire» glorieuse destinée à n’être jamais écrite,56 résume peut-être à lui seul la manière dont se condensent dans l’écriture de l’histoire tous les enjeux symboliques et politiques liés à la signification d’un événement: c’est bien pour ne pas avoir à rendre compte de son crime devant la justice des hommes qu’Himmler savait déjà que le fait historique lui-même devait être tenu secret, et ne devait donc pas être écrit, précisément pour qu’il n’accède ni au statut d’événement historique (ce statut passant par le récit historiographique, nourri à la fois de l’archive et du témoignage), ni au statut d’événement juridique (également lié à l’établissement et à la qualification des faits à partir des archives et témoignages), ni, enfin, à celui d’événement pour la communauté des victimes et, au-delà, pour l’humanité entière (ce dernier statut passant par l’opération spécifique de représentation et de symbolisation langagière telle qu’elle est pratiquée dans les formes testimoniales qui ne sont pas uniquement destinées à servir de source historiographique ou de preuve juridique). Du point de vue d’un Etat criminel, il faut donc mettre en place toutes les conditions pour que jamais les faits ne puissent accéder au statut d’événement,57 afin qu’ils puissent 56

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«Vous, dans votre majorité, vous devez savoir ce que c’est que 100 cadavres, l’un à côté de l’autre, ou bien 500 ou 1000. D’avoir tenu bon, et en même temps, à part quelques exceptions causées par la faiblesse humaine, d’être restés des honnêtes hommes, c’est ce qui nous a endurcis. C’est une page de gloire de notre histoire qui n’a jamais été écrite et qui ne le sera jamais». Heinrich Himmler, Discours secrets, Paris 1978, Discours du 4 octobre 1943 à Posen, p. 165. Il nous faut préciser ici ce que nous entendons par «événement». Tout comme la notion de «fait» ce concept est en effet sujet à des définitions variables et parfois opposées non seulement selon les penseurs mais aussi selon les disciplines (histoire, droit, philosophie; voir ici le récent bilan théorique de François Dosse, Renaissance de l’événement. Un défi pour l’historien, entre sphinx et phénix, Paris 2010). Pour notre part, nous choisissons pour parler de ces deux notions la perspective adoptée par Jacques Rancière dans sa tentative d’analyse d’une poétique de l’histoire (Les Noms de l’histoire – essai de poétique du savoir, Paris 1993): le «fait» est pour nous le

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être niés et qu’à partir de cette négation l’ensemble des manifestations de la mémoire – objectives comme subjectives – soient entravées. La destruction de l’archive apparaît ainsi comme une condition de la «réussite» d’un programme génocidaire: Adolf Hitler, qui demanda ironiquement à la veille de la mise en place de la Solution finale «qui se souvient encore des Arméniens?», le savait mieux que quiconque.58 Si la crise du témoignage ne s’est révélée dans l’espace public qu’à l’occasion de la découverte des crimes nazis dans le cadre des procès de Nuremberg, on voit pour la première fois s’accomplir cette destruction méthodique de la mémoire collective à travers la fragilisation et l’implosion de ses cadres sociaux lors du génocide à l’encontre des Arméniens de l’Empire ottoman en 1915/1916. A partir de l’exemple de ce génocide, il apparait clairement comment la disqualification, et donc la disparition du témoignage, ont été programmées dès la naissance de l’intention génocidaire, puis prolongées de façon méthodique par une négation organisée.59 En ayant été continuellement et jusqu’ici victorieusement combattue par un négationnisme d’Etat secondé par ses «historiens» officiels, la mémoire de l’événement peine encore aujourd’hui à s’exprimer, et ce tant sous ses formes objectives, notamment historiographique, que sous celles de la transmission testimoniale et littéraire. Le vœu de Himmler concernant la Shoah s’est donc déjà vu réalisé dans le cas du génocide des Arméniens: la «page glorieuse» de l’histoire de l’Etat Jeune-Turc programmant la destruction des

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plus proche du référent, de «ce qui s’est produit». Il est certes déjà médiatisé (comme tout phénomène) par sa représentation langagière, mais il n’est pas encore soumis à une interprétation qui l’inclut dans une séquence. Quant à l’événement, il n’est pour nous pas réductible aux faits, ni à un enchaînement ou une séquence de faits, mais suppose toujours la production d’un système de significations qui marque une sorte de seuil entre un «avant» et un «après». Avec les mots de Jacques Rancière, cela revient à définir l’événement historique comme «la conjonction d’un ensemble de faits et d’une interprétation qui désigne cet ensemble de faits comme événement singulier» (Jacques Rancière, «Les énoncés de la fin et du rien», in: Georges Leyenberger/Jean-Jacques Forté (dir.), Traversées du nihilisme, Paris 1994, p. 78). Voir ici Vahakn Dadrian, Histoire du génocide arménien Paris 1996 (pour la traduction française), en particulier la partie consacrée aux «Considérations sur le génocide arménien comme un précédent et un précurseur de l’Holocauste» (dans l’annexe de la septième partie «Une perspective comparatiste», p. 627–638): «La célèbre déclaration de Hitler sur l’annihilation des Arméniens» (p. 629), et «Le cas spécial du Dr Erwin von Scheubner-Richter» (p. 653). Voir aussi Yves Ternon, «Comparer les génocides», in: Claire Mouradjan (dir.), Ailleurs, hier, autrement: connaissance et reconnaissance du génocide des Arméniens. Revue d’histoire de la Shoah, n° 177/178, Paris 2003, p. 40 s. Voir à ce sujet Yves Ternon, Enquête sur la négation d’un génocide, Marseille 1989.

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Arméniens n’a jamais été écrite, et n’a donc pas été jugée, ni devant une cour de justice, ni devant le tribunal de l’histoire.60 Par crainte de ces «non-sciences» que seraient la littérature et les récits mémoriels issus de l’événement historique, l’histoire a engendré une mémoire trouée, en proclamant sa domination et son contrôle sur son élément le plus essentiel, le témoignage lui servant essentiellement de preuve dans la phase documentaire de l’opération historiographique. On pourrait même affirmer que la lutte entre la mémoire en tant que conservation des souvenirs et commémoration de l’événement, et l’«histoire» en tant que discipline, explique en grande partie le fait que les catastrophes historiques du XXe siècle soient devenues des catastrophes mémorielles. Car cette lutte, cette concurrence au sein de la mémoire collective, a rendu la mémoire plus poreuse, plus perméable, chaque forme mémorielle revendiquant au détriment des autres la «vérité» de l’événement. Si la «prothèse» de la mémoire vivante qu’est l’archive est atteinte, alors même que son autre support essentiel, le témoignage, est nié, c’est donc l’ensemble de la mémoire qui est entraîné dans sa chute. A travers la manipulation et/ou la destruction de l’archive et l’étouffement ou la négation du témoignage, le type de violence mis en œuvre dans les crimes contre l’humanité implique donc toujours un aspect «vertical» et diachronique de destruction symbolique dans le temps qui s’ajoute à leur dimension «horizontale» et synchronique de domination ou d’élimination physique d’une communauté ou d’un groupe visé. Cet aspect entraîne un certain nombre de conséquences, qui ne sont pas nécessairement toutes présentes mais qui se retrouvent néanmoins dans la plupart des cas: interdiction du deuil, déni de la signification de l’événement, marginalisation de la mémoire des individus ayant eu à subir la violence allant parfois jusqu’à la négation pure et simple de la mémoire du groupe visé. Le génocide (et dans une moindre mesure l’ethnocide) occupent une place à part, ces aspects étant au centre même de leur «logique» folle en ce qu’ils visent la descendance (d’où l’acharnement sur l’enfant et le corps maternel), et l’ascendance (d’où la destruction des monuments, de la mémoire écrite, et plus généralement de toute forme de mémoire culturelle). L’effacement du crime à travers l’oblitération du témoin et la destruction de l’archive constituent ici une dénégation originaire, qui ap60

Il faudrait ici nuancer ces affirmations en nous attardant sur les procès de Constantinople, sur toutes les «reconnaissances» officielles qui sont intervenues durant les dernières décennies, ainsi que sur l’historicisation croissante du génocide: autant d’éléments qui concourent à un véritable travail de mémoire non seulement arménien mais aussi turc et international.

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partient à l’essence même de l’événement programmé pour n’avoir jamais eu lieu. L’âge des génocides est bien celui de «l’entrée de l’archive sur la scène de la mémoire».61 La mémoire détruite autant qu’interdite empêche ainsi toute identification du groupe ailleurs que dans le meurtre, pourtant effacé et nié dès le départ, c’est-à-dire dès la perpétration du crime. En ce sens, le génocide s’inscrit dans un processus de destruction qui se joue sur trois temps: destruction du passé dans le présent, ce en vue d’empêcher tout avenir. C’est précisément cette dimension portant atteinte aux fondements de l’humanité à travers ses invariants anthropologiques (impossibilité du deuil des disparus, mutation du statut même de la mort) qui a fait employer à Adorno le terme de «Catastrophe» (Katastrophe) au sujet du génocide des Juifs d’Europe. Hormis les victimes, qui employèrent cette notion dès la perpétration du crime, il fut ainsi l’un des premiers à lui conférer une portée philosophique en désignant par là la singularité de la violence génocidaire au plan anthropologique.62 La dénégation génocidaire est une dénégation redoublée et paradoxale, puisque l’événement nié est non seulement un ensemble de faits mais la dénégation elle-même, située au cœur de l’événement par la loi de l’archive. Lors d’un génocide, la mort est ainsi profondément altérée et abîmée, l’absence et la négation des preuves du crime rendant le deuil impossible. Le témoin est alors dépossédé de sa mémoire, et l’on assiste à «une transformation grave et sans doute irrémédiable du récit ‹mnémogène› en discours de preuve».63 L’histoire est par conséquent confrontée à une grande difficulté pour contrer la négation, en ce qu’elle ne peut plus s’appuyer ni sur l’archive pour documenter l’intention des bourreaux, ni sur le témoignage que sa méthodologie propre amène inévitablement à vouloir vérifier et contester. La destruction de l’archive est la destruction de cela même qui constitue la condition de possibilité pour qu’une destruction catastrophique devienne un fait historique. La mémoire peut-elle néanmoins résister à cette destruction sous la forme du témoignage de l’événement? Y a-t-il une place pour le témoignage artistique dans une mémoire où l’histoire est appelée à exercer son contrôle sur les savoirs et sur la «vérité» des faits? Comment résoudre la concurrence dé61

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Marc Nichanian, «L’Europe et l’Empire», in: Jean Gillibert/Perel Wilgowicz (dir.), L’Ange exterminateur, Bruxelles 1994, p. 39. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. (1951) 1994, p. 65. Nichanian, La Perversion historiographique, p. 53.

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loyale entre l’histoire comme discipline et le témoignage? Et enfin quel rôle échoit à la mémoire de l’événement lorsqu’elle passe par le témoignage littéraire, et en particulier lorsque la forme choisie par le témoin est par exemple un roman, ou un poème, soit une «fiction» recourant à l’imagination, et que la «vérité» du témoin ne se transmet pas forcément à travers une représentation «véridique» des faits? Pour répondre à ces questions, il faut nécessairement examiner d’un peu plus près le processus même de négation du témoignage et de destruction de l’archive, ainsi que celui de la destitution du fait historique tels qu’ils se produisent lors d’un génocide. C’est en nous penchant sur ce cas extrême de destruction des cadres de la mémoire que nous pourrons peut-être établir quelques conclusions qui auront également une validité pour d’autres catastrophes mémorielles que les catastrophes génocidaires. Toute catastrophe historique représente un point d’impact, un choc dans le continuum historique de l’humanité, définissant nécessairement un «avant» et un «après». Les «crimes contre l’humanité» sont les premiers crimes dans l’histoire à avoir méthodiquement organisé leur oubli en instrumentalisant le partage des savoirs propre à l’âge moderne. Parmi eux, les génocides ont été jusqu’à programmer leur propre négation. Ces catastrophes historiques particulières que nous proposons de qualifier de catastrophes «mémorielles» impliquent du coup une mémoire qui pourrait être décrite comme la chambre d’écho d’une gigantesque déflagration. La mémoire des victimes de catastrophes mémorielles se heurte en effet toujours d’abord à des remparts qui renvoient les accusations des survivants, et contre lesquels vient échouer la plainte des disparus. Confrontée à l’incrédulité ou à l’indifférence du monde extérieur, la victime d’un «crime contre l’humanité» est retranchée de ses semblables humains. La chambre d’écho, coupée du monde, devient le huis clos d’un meurtre silencieux, un cri sans voix où les plaintes des victimes ne sont renvoyées qu’à elles-mêmes, échouant presque toujours dans un premier temps à se transmettre vers l’extérieur. Comment expliquer que le fonctionnement et la structure mêmes de la mémoire de l’événement soient à ce point abîmées, si ce n’est par une atteinte directe de la capacité des humains à transmettre leur expérience? Pourtant le témoignage de ceux qui ont traversé une catastrophe historique (et ce quelle qu’elle soit) apparaît comme la seule source directe du savoir susceptible de se constituer à partir de l’événement, ce qui fait que l’on peut finalement le connaître et comprendre ses effets sur l’humain. Pris au sens général, en suivant la définition qu’en donne le sociologue Renaud Dulong, le témoignage est «un récit autobiographiquement certifié d’un événement passé, que ce récit soit effectué dans des circonstances informelles ou for-

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melles».64 Si l’on consent à mettre de côté l’aspect trop restrictif de sa nature postulée de «récit» ou de «narration», qu’il faut forcément remettre en cause lorsqu’on a affaire à des textes non narratifs, on peut retenir que le témoignage met en relation l’assertion d’une réalité factuelle (il est un acte de mémoire de type déclaratif, par là même un geste) et l’authentification de cette assertion par l’expérience de son auteur. La séparation entre réalité et fiction y est précisément garantie par cette expérience, «la distinction entre témoigner et raconter une autre histoire – fiction imaginée, texte mémorisé, etc. – réside dans l’opération de factualisation, l’affirmation de la référence à un événement du monde réel, laquelle passe, à moins de faire appel à un autre témoin, par l’attestation biographique du narrateur».65 Du coup, l’aspect déclaratif de l’acte ou du geste testimonial est inséparable d’une autodésignation, du type: «j’ai vu/vécu cela». Cette autodésignation, que Renaud Dulong qualifie de «moment inaugural» où commence l’existence publique du témoin et au cours duquel il est «institué dans l’espace public», implique ensuite une situation dialogique: quelqu’un reçoit, entend le témoignage et y croit (y accorde foi). Toujours selon Dulong, cette foi dans le témoignage est rendue possible par son caractère d’ «institution naturelle», et c’est cette même confiance qui est au fondement de son institution juridique.66 La configuration testimoniale au sein de laquelle le témoin et son destinataire se trouvent en relation est fondée sur une confiance dans le témoignage et une reconnaissance de l’autorité du témoin, mais cette confiance et cette autorité connaissent des différences à la fois de degré et de nature en fonction des situations dans lesquelles le témoignage est reçu. Dans le cas d’une catastrophe liée à la violence politique, la structure épistémologique du témoignage, déjà constitutivement fragile, est menacée par la nature même du crime et du témoignage qui en est issu. En effet, le témoin rescapé de ce type particulier de catastrophe témoigne toujours de l’humain en reste lorsque l’individu a été soumis à un processus de déshumanisation, 64

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Renaud Dulong a proposé cette définition simple du témoignage dans Le Témoin oculaire, les conditions sociales de l’attestation oculaire, Paris 1998, p. 43. Elle a été reprise par Ricœur, La Mémoire, l’histoire, p. 203 s. Dulong, Le Témoin oculaire, p. 12. Dans Le Vocabulaire des institutions européennes, sorte d’anamnèse généalogique qui relie l’origine linguistique à des pratiques sociales et à des pragmatiques institutionnelles, le linguiste Emile Benveniste a montré que le témoignage juridique définissait un premier type de rapport entre parole, écriture et vérité, et était à rapporter à l’étymologie latine des termes de «témoin» et de «témoignage» à travers ceux de «testis» et «terstis». Emile Benveniste, Le Vocabulaire des institutions européennes, tome 2, livre 3, chap. 7, Paris 1969 (voir p. 119–122, 173–175, 273, 279).

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l’acte du témoignage étant la manifestation de ce reste, quand bien même il affirmerait sa propre destruction. L’aspect éthique du témoignage réside précisément dans la capacité du témoin à réfléchir – en une quête de sens qui passe par sa forme même lorsqu’il se fait écrivain – les limites de l’humain, c’est-à-dire sa destructivité (subie au cours de l’expérience de la violence ellemême) et, tout à la fois, son irréductibilité (à travers le retour du rescapé à l’humanité par le témoignage). Ces limites sont évidemment différemment mises à l’épreuve selon l’expérience vécue, qu’il s’agisse de celle de la persécution raciale et de la destruction génocidaire, ou de la déportation en camp. Mais que la victime ait eu à subir la violence pour des «motifs» «raciaux» ou «politiques», la transmission testimoniale requiert toujours d’abord d’entrer avec le destinataire dans une constellation liée au geste testimonial reposant sur une non-coïncidence des expériences qui implique que le témoin puisse transmettre quelque chose de la sienne sous la forme d’un récit ou d’un texte. Ensuite, dans ce cas singulier qu’est la catastrophe historique liée à la violence politique, le fait que le témoignage du rescapé se dérobe au partage (Mitteilung) en raison du fait que nul autre que le témoin n’ait vécu la même expérience, ne signifie pas qu’il ne puisse devenir le vecteur d’une transmission (Vermittlung). Mais la constellation testimoniale impliquée est problématique en elle-même: la transmissibilité de l’expérience est dans le même temps une question perpétuellement ouverte, qui appelle une forme qui l’interroge et un destinataire sans lequel elle est impossible. Par conséquent, la constellation testimoniale qui caractérise les violences politiques extrêmes est très particulière: où la faille ouverte par la non-coïncidence entre l’expérience du témoin et celle de son destinataire, cette faille propre à toute situation testimoniale, y recoupe une fracture d’humanité qui la redouble, creusant l’écart entre le rescapé et ceux qui l’écoutent/la lisent. Le caractère dès lors transmissible, mais rigoureusement non partageable, de l’expérience individuelle, qui suppose une structure irrémédiablement subjective du savoir du témoin et va souvent de pair avec un caractère non vérifiable, exige plus que jamais de son destinataire d’accepter de former avec le rescapé une «communauté morale» en accordant foi au témoignage transmis. Fondée sur la confiance dans le témoin, la croyance dans l’événement rapporté est impérative pour qui recueille le témoignage et devient ainsi témoin «second» ou «témoin secondaire»,67 et signifie donc bien davantage qu’une 67

Terrence des Pres dans The Survivor: Anatomy of Life in the Death Camps, op. cit., puis Lawrence L. Langer dans Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory, New Haven 1991, sont les premiers à avoir théorisé le statut du «témoin secondaire». Plusieurs critiques se sont depuis saisi des questions du caractère éventuellement transgéné-

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simple instance de ratification. Le témoignage «moral» ou «éthique» des victimes et des rescapés de formes de violence politique extrêmes doit être compris et reçu dans une configuration testimoniale différente de celles propres à la scène juridique ou la démarche historiographique, soit non plus selon des critères de fiabilité, mais dans une reconnaissance inconditionnelle de l’autorité du témoin et une confiance accordée à ce dernier en vertu de son engagement éthique, lié à la traversée d’une expérience singulière dont il cherche à transmettre le sens. La double irréductibilité de l’expérience du rescapé, l’une pour ainsi dire constitutive de tout témoignage, l’autre spécifique au témoignage de la violence politique extrême, expose donc doublement son témoignage au risque d’être contesté et soupçonné d’être faux. Or, c’est précisément en cet endroit éminemment fragile de la situation testimoniale, talon d’Achille de la structure épistémologique de tout témoignage, que la violence négatrice vient faire son lit, menaçant de faire imploser sur lui-même le discours du témoin et de détruire la source même de la mémoire de l’événement catastrophique. Voyons de plus près comment opère cette véritable machine de guerre anti-mémorielle. Suite à ce que nous nommons une catastrophe mémorielle, les cadres sociaux de la mémoire, à commencer par l’histoire et le droit, sont mis à contribution de façon tout à fait inhabituelle. Ce sont eux en effet qui sont amenés à devenir les discours garants de la réalité des faits. C’est un rôle que l’on voit de plus en plus clairement se dessiner depuis 1945, avec d’une part l’émergence du droit international, et d’autre part l’historicisation des crimes contre l’humanité de la Seconde Guerre et les débats qu’elle a entraîné autour de l’interprétation et donc de la qualification à la fois juridique et historiographique des faits, en particulier à travers la fameuse «querelle des historiens» au sujet de la Shoah à la fin des années 1980 et l’émergence dans les années 1990 des démarches comparatistes concernant «totalitarisme» (stalirationnel et indirect du témoignage à travers les notions de «mémoire transgénérationnelle», de «témoignage intellectuel» (Geoffrey Hartman, «Shoah and Intellectual Witness», in: Partisan Review, automne 1998), mais aussi à partir du paradigme issu des réflexions de Shoshana Felman sur la notion de «l’art comme témoin», elle-même née de sa réflexion sur le statut du témoignage dans le film de Claude Lanzmann, Shoah: «A l’âge du témoignage: Shoah de Claude Lanzmann», in: Les Temps Modernes, juin 1989, repris l’année suivante dans Bernard Cuau/Michel Deguy (dir.), Au sujet de Shoah, voir note 3. C’est à Avishai Margalit que l’on doit les notions de «témoin moral» et de «témoin par procuration» développées dans L’Ethique du souvenir, Paris 2006. L’un des critiques les plus pertinents et les plus lucides sur ces questions reste James E. Young dans son ouvrage fondamental et précurseur Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation, Bloomington 1988.

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nisme) et national-socialisme. Or, au cours de ce processus, l’histoire tout comme le droit n’ont eu de cesse de souligner la fragilité épistémologique du témoignage. On peut dire que depuis qu’ils existent dans l’histoire du monde occidental, les discours historiographique et juridique tentent en effet de contrôler cette fragilité par une garantie de véridicité. C’est pourquoi les traditions juridiques juive et romaine refusent la validité d’un jugement ne reposant que sur un seul témoin, et que la logique juridique occidentale repose entièrement sur un principe de vérification du témoignage selon la devise bien connue testis unus, testis nullus.68 Dans le contexte juridique tel qu’il a progressivement prévalu depuis l’Antiquité, la problématicité éventuelle du témoignage s’articule autour de trois notions s’impliquant mutuellement et déterminant l’autorité et donc la validité du témoignage: celle de présence (comment le témoin a-t-il été présent?), de distance (à quelle distance spatiale et/ou temporelle témoigne-t-il?) et d’implication (comment le témoin est-il impliqué, a-t-il «part» à la chose jugée, est-il partial?). Ces trois notions et les questions qui leur sont afférentes ont trouvé un cadre théorique dans le développement de la science expérimentale appelée psychologie judiciaire, une évolution que Renaud Dulong a analysée en montrant comment s’élaborent, du XVIIIe au XIXe siècle, les procédures d’expertise scientifique du témoignage.69 Dans le cadre du procès, le témoignage est dès lors sans cesse molesté et menacé car contesté dans son autorité. Réduit à un transfert d’informations aussi fiable que possible, il doit idéalement répondre à un modèle que l’on peut résumer sous le paradigme de l’«enregistreur».70 Quant à l’histoire occidentale en tant que discipline, si Carlo Ginzburg a montré qu’elle différait de la logique indiciaire de la preuve en ce qu’elle peut prendre en compte un témoignage unique (soit le testis unus), et en misant précisément sur un état d’ignorance liminaire devenu exigence méthodologique,71 elle est tout de même naturellement amenée à contester le témoignage. A partir du moment où elle a prétendu devenir une science au XIXe siècle, au 68 69

70 71

Voir ici Carlo Ginzburg, Un seul témoin, Paris 2007. Renaud Dulong consacre une grand part de son analyse à cette expertise scientifique du témoignage née en Allemagne à la fin du XIXe siècle (Le Témoin oculaire), et avant lui c’est à Elizabeth F. Loftus que l’on doit les ouvrages de référence en la matière, voir id./Katherine Ketcham, Witness for the Defense: The Accused, the Eyewitness, and the Expert Who Puts Memory on Trial, New York 1991. Dulong, Le Témoin oculaire, p. 28. Carlo Ginzburg, Le Juge et l’historien. Considérations en marge du procès Sofri, Paris 1997. Voir aussi id., A distance. Essais sur le point de vue en histoire, Paris 2001; id., Rapports de forces, Paris 2003.

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nom de l’objectivité de sa démarche et de par sa volonté de se fonder sur des «preuves» et des «documents», l’histoire a fixé un certain nombre de critères auxquels tout témoignage doit se soumettre sous peine de ne pas être recevable. La validation du récit testimonial, pour être acquise, requiert un recours à l’archive. Comme l’a rappelé Paul Ricœur dans La Mémoire, l’histoire, l’oubli, le récit historique est bien ce «procès épistémologique qui part de la mémoire déclarée, passe par l’archive et les documents, et s’achève sur la preuve documentaire».72 Tout au long de l’opération historiographique, l’écriture de l’histoire reste donc soumise au régime de la preuve documentaire, censée garantir sa référentialité même, sa visée de vérité en tant que «discours vrai». Pour intégrer le récit historique, le témoignage doit devenir objet du savoir, si bien que l’aspect subjectif de l’expérience du sujet victime et témoin, sa dimension la plus corporelle et intime, «n’arrivent jusqu’à la page écrite qu’à travers l’absence, par l’intermédiaire des documents que l’historien a pu voir sur la plage d’où s’est retirée la présence qui les y a laissés, et par un murmure qui fait entendre, mais de loin, l’immensité inconnue qui séduit et menace le savoir».73 Ainsi pourrait-on dire qu’à l’âge moderne occidental qui est le nôtre, caractérisé par le règne de la rationalité historienne et juridique, c’est en quelque sorte l’historiographie et le droit qui, décidant de la validité du témoignage, sont garants de la vérité historique. C’est seulement à condition d’être validés par l’historiographie au cours de la phase «documentaire» que les «faits» relatés dans le récit testimonial pourront prétendre au statut de «réalité». Et il va de soi que dans ce recours à l’archive en tant que preuve, le discours historique est souvent amené, on l’a dit, à réduire et à contester le témoignage. Quant au droit, il apparaît très vite, dès les procès de Nuremberg, mais aussi à l’occasion des procès des années 1950 concernant la nature concentrationnaire du système de répression soviétique, qu’il est avant tout fondé sur le recours aux archives des bourreaux, archives face auxquelles le seul témoignage des victimes, aussi nombreuses soient-elles, ne suffit jamais à faire preuve et reste, là encore, éternellement contesté. Pour écrire l’histoire ou juger le crime, non seulement l’historien du génocide et le juge d’un procès pour crime contre l’humanité doivent utiliser ce qui les met en défaut (la bureaucratie des décideurs et exécutants, qui a effacé les traces de son crime), mais ils ont affaire à des réalités (massacres de masse, camps de concentration et d’extermination) dont les témoignages sont peu nombreux. Là où les archives sont inexistantes ou ne fournissent 72 73

Ricœur, La Mémoire, l’histoire, l’oubli, p. 201 s. De Certeau, L’Ecriture de l’histoire, p. 15.

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presque aucune information, l’historien et le juge ne peuvent donc tirer leur savoir que des rares témoins. Le témoignage de victimes de violences politiques est par conséquent un des restes les plus exposés à l’oubli organisé, d’abord en amont par l’Etat criminel, puis en aval de la catastrophe, par un processus de reconstruction mémoriel privilégiant les discours historiographique et juridique. A l’atteinte inédite des cadres de la mémoire collective qu’entraîne toute catastrophe mémorielle, s’ajoute donc le phénomène singulier que nous proposons de nommer «catastrophe épistémologique», et qui se caractérise par une forme d’autodestruction, d’auto-implosion de la mémoire: les discours juridique et historiographique, qui devraient être à l’écoute du témoignage en vue de former une communauté morale, se retournent au contraire contre lui et la vérité qu’il prétend transmettre au nom de leur visée de véridicité. La «catastrophe épistémologique», qui menace toujours la structure du témoignage dans le cas d’une catastrophe mémorielle, se réalise pleinement à la suite d’un génocide, principalement en raison de la nature même de la violence exercée et du processus qu’elle met en œuvre. Les rares témoignages dont disposent le juriste et l’historien, soit les seules traces qui restent de la destruction massive des individus, ont été touchés par le processus génocidaire en leur structure épistémologique. Cette atteinte du témoignage a fait parler Shoshana Felman d’«événement-sans-témoin» à propos de la Shoah,74 le génocide consistant «en une déstructuration de la perception, en un éclatement de l’acte même du témoignage». Cet éclatement, et c’est peut-être là le fait décisif, «dissout la possibilité de toute communauté de témoignage»75 non seulement entre l’intérieur de la catastrophe (ses témoins internes, directs) et l’extérieur (les témoins tiers puis les témoins seconds, ou témoins indirects), mais aussi à l’intérieur même de la catastrophe entre les différents témoins internes. Tout se passe comme si la violence génocidaire, poussant au paroxysme le paradoxe qui se trouve au cœur de la structure testimoniale, et qui veut que tout témoignage soit irréductiblement subjectif et à ce titre non partageable, non objectivable, indissociable des affects et de la vision subjective d’un témoin, révélait du même coup la fragilité épistémologique de l’ensemble de l’institution testimoniale, faisant imploser son caractère soi-disant «naturel» et mettant à jour la contradiction toujours déjà existante dans le témoignage en-

74

75

Shoshana Felman, «Au sujet de Shoah de Claude Lanzmann», art cité. p. 63. Voir aussi la reprise de cette notion par Dori Laub dans l’ouvrage co-écrit avec Felman: «An event without a withness: truth, testimony and survival», in: Shoshana Felman/ Dori Laub, Testimony. Crises of witnessing in Literature, Psychoanalysis and History, New York 1987, p. 194–212. Ibid.

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tre le «survivant comme témoin» (superstes) et le «témoin comme tiers» (le testis en tant que terstis). On pourrait donc dire que toute catastrophe génocidaire non seulement empêche, mais détruit durablement la possibilité d’une «communauté morale» fondée sur le partage d’une expérience avec l’humanité non atteinte, et ce y compris sur plusieurs générations en aval du crime perpétré. C’est de cette terrible dissolution de toute communauté de témoignage que se sont emparé, chacun à sa façon, les philosophes Giorgio Agamben et Jean-François Lyotard en partant du paradigme de la Shoah, et en particulier de ce qu’Agamben à nommé le «paradoxe de Levi»,76 ce qui fonde chez l’un comme chez l’autre un constat d’impuissance du discours historiographique, mais surtout de la logique juridique.77 On retrouve le même constat de dissolution de toute possibilité de communauté du témoignage chez Sigrid Weigel qui, reprenant la notion d’«événement sans témoin» élaborée par Shoshana Felman et Dori Laub, met explicitement en relation la destruction du témoignage avec la destruction de la mémoire, chaque témoin ne pouvant plus témoigner que de sa propre expérience (une expérience qu’aucun tiers ne saurait attester, le tiers témoin (terstis) non impliqué dans l’événement génocidaire n’existant pas). Dans le cas d’un génocide, les trois notions déterminant l’autorité, et donc la validité du témoignage (présence, distance et degré d’implication), sont affectées au 76

77

C’est Primo Levi qui, avec la lumineuse intelligence qui le caractérise, a abordé dès son premier texte (appendice de Si c’est un homme, 1947) le terrible paradoxe qui fait de la figure du musulman le «véritable» témoin des camps, paradoxe dont il a essayé de tirer les conséquences – radicales – dans Les Naufragés et les rescapés (1986), à travers sa réflexion sur le musulman en tant que celui qui ne peut témoigner tout en étant le seul vrai témoin qui aurait «touché le fond». Giorgio Agamben a posé comme distinction préalable à la profonde réflexion menée dans Ce qui reste d’Auschwitz la différence entre le testis en tant que terstis, pris au sens juridique du tiers, d’une part, et d’autre part le superstes, survivant d’une épreuve qui fait du témoin le modèle du sujet «éthique». Mais chez Agamben, contrairement à chez Dulong, la structure même du droit voue justement la justice à ne pas accorder sa confiance au témoignage et à le récuser, et le testis se révèle finalement inconciliable avec le superstes. C’est en poussant le paradoxe formulé par Levi de l’impossibilité du témoignage du musulman, pourtant seul témoin de qui a touché le fond, qu’Agamben, partant de l’idée d’absence d’autorité du témoignage du survivant, récuse d’emblée toute instrumentalisation de ce dernier par l’histoire ou le droit, en faisant du témoignage du musulman le modèle extrème du sujet éthique «après Auschwitz». Ce qu’il appelle «paradoxe de Levi» est dès lors l’idée que le témoin intégral (le musulman des camps), qui est le seul vrai témoin, ne saurait témoigner de lui-même, ce qui représenterait la seule réfutation possible des arguments négationnistes (Giorgio Agamben, Ce qui reste d’Auschwitz. L’archive et le témoignage, Paris 1999, p. 216 s.).

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point de rendre problématique la notion même d’autorité du témoignage. Le témoignage d’une expérience collective et, avec lui, la fondation d’une mémoire collective, sont par conséquent contrariés par l’expérience du génocide et de la constellation testimoniale à laquelle elle donne lieu.78 La violence génocidaire fait ainsi non seulement exploser la charge qui mine toute configuration testimoniale, et que l’autorité traditionnellement accordée à certains témoins avait jusque là permis de suspendre – autorité de l’homme illustre pour le témoin antique ou du croyant témoignant de sa foi et de l’existence divine pour le témoin chrétien –, mais elle y ajoute une charge encore infiniment plus puissante: celle de la négation du réel à travers la destruction du fait. Car ce qui est mis en crise avec le génocide n’est rien de moins que les modes d’établissement mêmes du fait par les discours historiographique et juridique, ce qui entraîne un effondrement de l’autorité du réel. Dès lors, il faudrait peut-être envisager la catastrophe génocidaire comme une catastrophe de nature anthropologique, marquant la destruction irrémédiable du témoignage comme «institution naturelle» et la fin du consensus même à la faveur duquel un «fait» peut s’établir. Si les témoignages des victimes et des rescapés des camps nazis et de la Shoah ont tout de même fini par être entendus dans l’espace public, c’est, on l’a dit, en grande partie en vertu des procès organisés à partir des années 1960 et grâce au travail – et aux controverses – des historiens. Depuis 1945, la justice internationale et ses procédures pénales pour génocide et crime contre l’humanité sont devenues, qu’on le veuille ou non, à la fois ce lieu hautement spécialisé où s’affrontent différentes conceptions du droit, et un lieu investi d’une charge symbolique et politique considérable, où se sanctionne et s’écrit le récit qui intégrera la mémoire collective nationale aussi bien qu’ internationale. Car c’est bien en ce lieu qu’est publiquement qualifié le crime et que sont désignés le criminel et la victime. En cela, le droit international, sorte de laboratoire in vivo des luttes mémorielles, est devenu un vecteur incontournable de la mémoire collective, son imperfection n’étant que le reflet de l’immense difficulté pour la mémoire à intégrer l’événement catastrophique. Ce vecteur du droit est à son tour indissociable du récit historiographique: non seulement la décision de justice et la qualification juridique du crime vont nourrir le récit historiographique et parfois même en tenir lieu, mais à l’inverse, 78

Sigrid Weigel, «Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von ‹identity politics›, juristischem und historiographischem Diskurs», in: Einstein Forum Jahrbuch, 1999, p. 111–135, ici p. 118 s. En tant que relevant du geste (Gestus des Bezeugens selon Weigel), le témoignage des rescapés se distingue en effet du témoignage au sens historiographique et juridique et se démarque d’emblée de la structure discursive et sémantique de la preuve.

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l’historien se voit désormais souvent convoqué par les tribunaux nationaux et internationaux en tant qu’expert. La répartition claire des tâches entre le droit et l’histoire impliquée par l’«ordre des savoirs» (Foucault) ne saurait tout à fait empêcher leur collision. Certes, l’histoire explique les faits, et le droit juge les actes. Mais les sources (archives, témoignages) sur lesquelles ils se fondent sont bien les mêmes, et appellent, dans un cas comme dans l’autre, la qualification du fait. Ce parallélisme, et même cette conjonction entre le droit et l’histoire, apparaissent comme d’autant plus sensibles dans le cas de la qualification d’une catastrophe historique, en particulier d’un génocide: il s’agit toujours pour l’historien de tenter d’expliquer un phénomène historique, ce qui revient à se prononcer sur les responsabilités des individus comme des entités politiques (et donc sur leur éventuelle culpabilité ), sur les origines et les causes du phénomène (à rapporter à une série d’autres phénomènes sociaux-économiques et historiques). L’historien s’interroge sur ce qui a rendu pensable une séquence de faits. Et en cherchant l’explication à un phénomène, l’opération historiographique tente in fine d’en trouver une cause, voire même une raison. On voit bien l’importance que confère cette fonction à l’historien dans la sphère publique. Le caractère problématique des relations entre histoire (comme discipline) et mémoire (au sens restreint) est par conséquent à la fois porté à son paroxysme et véritablement dévoilé après une catastrophe historique génocidaire, où le témoignage de ceux qui l’ont traversée doit affronter le discours de ceux qui leur contestent toute autorité. La question qui se pose dès lors à nous est de savoir s’il est possible de tenter de remédier à cette catastrophe épistémologique en effectuant un retour sur les procédures d’établissement de ce que nous appelons le «réel», ce qui suppose de réviser nos modes de conceptualisation et de véridiction concernant à la fois l’expérience humaine et le récit historiographique. Marc Nichanian, partant de l’«exemple» arménien et reprenant, d’une part les réflexions d’un Agamben sur le témoignage du musulman comme seul témoignage capable de témoigner de sa propre impossibilité, et, d’autre part, la notion élaborée par Laub et Felman d’«événement-sans-témoin», a parlé à propos de la destruction épistémologique (et donc éthique et politique) du témoignage, de «mort du témoin».79 Constatant que l’histoire en tant que discipline et en son versant positiviste est structurellement condamnée à devenir potentiellement complice du processus de négation, il a nommé «perversion historiographique» l’opération consistant à réduire le témoignage de la catas79

Dans un texte encore inédit intitulé justement La mort du témoin. Pour une politique du reliquat qui nous a été communiqué par l’auteur.

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trophe historique à une archive tout en lui déniant précisément les critères qui lui permettraient de répondre aux règles de l’objectivité scientifique censée établir les faits. A travers l’accusation de «perversion» adressée à l’historien et le décret quelque peu provocateur de la «mort du témoin», il s’agit pour lui de tenter de refonder la pensée du témoignage par-delà son instrumentalisation historiographique et juridique, en lui restituant sa fonction la plus importante: celle d’un deuil des disparus effectué à travers le témoignage devenu forme artistique. Mais avant de pouvoir penser le témoignage en tant que libéré de toute obligation de prouver ou de documenter le crime, encore faut-il essayer de convaincre le droit et l’historiographie de fonctionner autrement que sous le pur régime de la preuve. Car le droit et l’histoire devraient aussi assumer la fonction de fixer, d’asseoir, et ainsi d’apaiser la mémoire tourmentée d’une catastrophe, et de se faire les protecteurs de la vérité – non seulement la vérité historique et juridique, mais surtout la vérité subjective du témoin. Le rescapé ne saurait en effet réclamer justice en accusant ses bourreaux au nom de l’autorité de son témoignage de victime et de son statut de rescapé: la destruction épistémologique de la structure même du témoignage rend impossible la superposition entre le testis, le terstis et le superstes. C’est pourquoi le droit lui-même devrait préalablement revoir ses procédures de vérification du témoignage, et réviser ses concepts, afin d’articuler la preuve aux faits sans, d’une part, remettre en question le vécu traumatique des victimes et, d’autre part, sans exiger d’elles la neutralité et l’objectivité du terstis qu’elles ne sauraient être. Selon Sigrid Weigel, il s’agirait là d’un véritable défi au droit international, qui devrait à terme se montrer en mesure d’éviter de replacer les témoins dans la position de victimes, en se faisant chambre d’écho de leur plainte (Klage) tout en assumant à leur place la difficile tâche de la mise en accusation des bourreaux (Anklage).80 Ceci supposerait de remettre en cause la sacro-sainte norme de la neutralité axiologique en matière de droit. Pour Shoshana Felman, un tel tournant éthique du droit se senait déjà produit à l’occasion du procès Eichmann au cours duquel le témoignage des victimes fut placé, pour la première fois, «au centre narratif de l’histoire».81 Mais reste que la logique juridique demeure profondément inadéquate pour remplir la fonction qu’on lui assigne en termes mémoriels. 80 81

Weigel, «Zeugnis und Zeugenschaft», p. 122. Shoshana Felman, «Théâtres de justice: Hannah Arendt à Jérusalem. Le procès Eichmann et la redéfinition du sens de la loi dans le sillage de l’Holocauste», in: Les Temps Modernes, n° 615–616, septembre/novembre 2001, p. 40. Texte repris dans son livre The juridical Unconscious. Trials and traumas in the twentieth century, Cambridge 2002.

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Pour que le droit et l’histoire deviennent de véritables instruments d’une forme de «justice» mémorielle, le juriste et l’historien devraient accepter de réviser les concepts mêmes qui règlent leur champ d’exercice, comme par exemple celui d’«intention». Le juriste dispose des témoignages des victimes et parfois des archives «trouées» de l’Etat criminel, mais rarement des documents qui prouveraient l’intention et qui lui permettraient d’interpréter le sens de la décision génocidaires. Il continue donc bien souvent d’arguer de l’absence de document susceptible de fournir la preuve de l’intention de l’extermination chez les bourreaux. La spécificité de la violence à l’œuvre est fondée sur une pratique systématique du secret et de la négation qui rend toute «preuve» de l’«intention» définitivement impossible, sinon dans la reconstitution d’un ensemble de faits montrant le caractère systématique de la destruction. L’impossibilité de juger un crime sans preuves et la multiplicité des interprétations historiques qui s’y rapportent témoignent donc toujours de l’impuissance de l’histoire et du droit à penser une nouvelle forme de violence, directement dirigée contre les modes de véridiction du discours scientifique. De cette situation résulte un tel écart, d’une part entre les faits qui constituent l’événement, et d’autre part un sens totalisable à partir d’eux, que l’historien et le juriste se doivent de réviser non pas les faits mais leur propre mode opératoire, sans quoi ils risquent de rater le sens de l’événement, un sens que seuls les témoins sont à même de transmettre. Comme le remarque Catherine Coquio, plutôt que de tenter de faire la preuve de l’intention, le binôme conceptuel opératoire des historiens et des juristes devrait devenir celui de l’intention-décision: «l’analyse critique commande de distinguer entre les deux dans l’ordre du concept, alors que la logique fataliste de la ‹nécessité› propre à l’idée-force génocidaire les fait s’enchaîner l’une à l’autre dans les faits. Le travail sur la ‹preuve› de la ‹décision› doit être relayé par le travail d’‹interprétation› concernant l’‹intention›. Alors que le premier s’applique aux archives des criminels, le second peut et doit utiliser les témoignages des rescapés.»82 Si les témoignages sont, à l’inverse, toujours soupçonnés au nom de l’objectivité et de la scientificité des démarches historiographique et juridique, la négation peut sans crainte se cacher derrière la rigueur de l’homme de loi et la méthodologie de l’historien, notamment en arguant de la «liberté d’interprétation» de ce dernier. Et tout se passe alors «comme si l’intention et la planification n’étaient pas une réalité, mais une interprétation due à la version des victimes». Or, ajoute Coquio, «Faire ainsi passer la qualification de ‹génocide› pour une interprétation parmi d’autres, c’est noyer la teneur éthi-

82

Coquio, «Du Malentendu», p. 75.

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que et juridique des faits en tant qu’actes commis par des sujets responsables et un Etat criminel.»83 Dans le cas de la Shoah, les faits et leur interprétation ont donné lieu à un consensus dont le caractère public et international fait entre-temps l’objet d’une «politique de la mémoire». L’impératif du souvenir de la Shoah, d’abord familial et communautaire, s’est progressivement transformé en un «devoir de mémoire» laïc et internationalisé. Mais la Shoah, érigée en paradigme, constitue à cet égard une sorte d’exception: tous les autres génocides restent sujets à «controverse» concernant la qualification même du crime. Ainsi le génocide des Arméniens continue d’être publiquement nié – en particulier par l’Etat turc –, et sa qualification impunément «discutée» par certains historiens. Cette destitution du fait historique par la dénégation génocidaire à travers une négation continue des faits, y compris par certains historiens reconnus comme l’islamologue Bernard Lewis ou l’ottomaniste Gilles Veinstein,84 ainsi que l’absence d’une reconnaissance juridique unifiée au plan international, masquent un phénomène que l’on retrouve, avec plus ou moins d’intensité, dans tout processus génocidaire.85 L’«ère du témoin», ère de la multiplication des catastrophes mémorielles, semble donc indissociable d’une «ère de la négation»,86 et ce sur tous les 83 84

85 86

Ibid., p. 36. En janvier 1994, un procès fut intenté en France à l’universitaire américain Bernard Lewis, négateur du génocide arménien, sur la base de l’article 1382 du code civil et de la loi Gayssot. Des thèses comparables à celles de Bernard Lewis qui remettent en question la qualification de génocide pour les événements de 1915–16, même si elles ne répondent pas aux mêmes motivations, ont été soutenues par d’éminents historiens comme Eric Hobsbawm ou Jay Winter, et, en France, Annette Becker et Stéphane Audoin-Rouzeau. Jay Winter et Annette Becker ont depuis consacré des travaux au génocide arménien, mais sans jamais, à ma connaissance, être revenus sur leurs propos antérieurs. Quant à Gilles Veinstein, il a été soutenu à l’époque de ses déclarations controversées ses le génocide (1999) entre autres par Pierre Vidal-Naquet et Jacques Derrida. Voir Yves Ternon, Du négationnisme. Mémoire et tabou, Paris 1999; Philippe Bouchereau, «Les habits neufs du négationnisme», «Lettre ouverte à Vidal-Naquet». Nichanian consacre les chapitres II et III de La Perversion historiographique au procès intenté à Lewis et à l’«affaire» Veinstein. Il a, tout comme Bouchereau, écrit une lettre à Pierre Vidal-Naquet. Les deux lettres sont restées sans réponse. «La mort du témoin. Pour une politique du reliquat», voir note 30. Voir ici Coquio, «A propos d’un nihilisme contemporain», «La négation comme Catastrophe». Coquio rappelle dans ce passage de son texte les propos de Robert Redecker au sujet du révisionnisme, qui ont ensuite été repris à leur compte par les révisionnistes eux-mêmes: «Le révisionnisme, n’est pas une théorie comme les autres, il est une catastrophe, ainsi qu’il s’en produisait dans les théogonies de l’antiquité grecque, ou comme chez Platon qui dans la Politique en fait le récit. Une

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plans. Raison pour laquelle c’est la cour de justice qui devient un des cadres sociaux centraux de la mémoire, le droit étant amené à trancher entre le témoignage et sa négation, et à dire la «vérité» de l’Histoire en vue de pouvoir juger le crime, et afin de protéger les victimes et leurs héritiers de la «violation» de leur mémoire et de celle de leurs proches.87 Il s’agit de préserver la vérité de l’Histoire des soi-disant vérités de l’histoire en tant que discipline. Cette situation a amené Marc Nichanian a formuler une proposition aussi paradoxale et radicale en apparence, que logique en réalité, en particulier lorsque l’on comprend les mécanismes du négationnisme auto-proclamé «révisionnisme historique»: «Seul le droit peut dire le fait». La mémoire est ainsi condamnée à errer sous forme scindée, éclatée en différentes vérités concurrentes et modes de rationalité séparés (juridique, historiographique, testimonial, littéraire…), une multitude de «mémoires de groupe» (nationales, communautaires ou générationnelles), ainsi que différentes mémoires historiographiques se disputant sur telle ou telle qualification juridique. Dès lors, seul le droit force tout citoyen d’un Etat devenu sujet de discours rendu public à prendre acte d’une obligation de reconnaissance juridique d’un fait historique à travers sa qualification juridico-historique. Le statut de contre-pouvoir mondial du droit international permettant de contrer l’arbitraire juridique et criminel de tel ou tel Etat particulier oblige donc désormais l’histoire à préciser ses relations avec lui, ce qui implique une réflexion de la discipline historique sur ses propres procédures de véridiction, et d’autre part une reconsidération des notions mêmes de «réalité historique» et de «témoignage» dans leur relation avec celle de «vérité» à la lumière de la violence génocidaire, soit en prenant en compte le phénomène de négation qui lui est constitutif. Si le génocide implique, comme nous venons de le voir, une mise en crise non seulement du témoignage, toujours contesté et menacé de destruction, mais, avec lui, une mise en crise concomitante de la factualité historique, c’est l’ensemble de nos manières d’appréhender les phénomènes liés à l’histoire et à la mémoire qui est à reconsidérer. Comme le remarque Sigrid Weigel, il y a donc une forme de fracture qui sépare désormais deux logiques historiographiques. Si la première reste attachée coûte que coûte à la visée de vérité de son discours, l’autre a pris conscience de son statut mémoriel.88

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catastrophe est un changement d’époque […] La catastrophe est cette ère nouvelle qui, balayant un terrain, fait advenir une ère nouvelle». Robert Redecker, «La catastrophe du révisionnisme», in: Les Temps modernes, novembre 1993, p. 1–6, c’est nous qui soulignons. Frédéric Worms, «La négation comme violation du témoignage», in: Coquio (dir.), L’Histoire trouée, p. 95–101. Weigel, «Zeugnis und Zeugenschaft», p. 124.

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Si l’on veut prendre acte des nouveaux paradigmes de la négation et du témoignage pour repenser le rôle du droit et de l’histoire en tant que cadres sociaux de la mémoire collective au lendemain d’une catastrophe historique mémorielle, il faut donc résolument prendre le parti d’une démarche s’inscrivant dans les théories de la mémoire (Gedächtnistheorien) pour lesquelles l’histoire en tant que discipline est un mode de rationalisation du passé parmi d’autres. L fait qu’elle prétende à une capacité d’objectivation et à une autorité supérieures dans son rapport à la «vérité» de ce passé ne l’empêche pas de s’inscrire dans un ensemble de formes mémorielles qui participent toutes d’une culture mémorielle ou d’une culture historique. En tant que telle, elle relève d’une subjectivité, celle de l’historien, qui tente de se prononcer objectivement sur les faits passés, tout en essayant de les expliquer et de les interpréter. Ce qui nécessite de penser l’opération historiographique comme toujours affectée de déterminismes, dépendante d’un lieu et d’un temps donnés, et pour laquelle le réel lui-même devient un objet mouvant dans la mesure où il n’est plus donné par des objets (narrés ou reconstitués par l’historien) mais le résultat d’une création de modèles destinés à rendre ces objets pensables. Il est donc nécessaire de repenser la dialectique entre histoire et mémoire d’une part, et celle entre mémoire et oubli d’autre part à la lumière de l’ombre catastrophique, ce qui suppose de repenser leur éventuelle opposition à partir des notions de la négation et du déni en tant que visant la forme la plus fragile – car la plus subjective – de mémoire, celle du témoignage. Nous l’avons déjà dit: l’histoire a vocation, tout comme le droit, à faire office de discours tiers qui, s’interposant entre la victime témoignante et le bourreau négateur, permet, une fois les faits historiquement interprétés et juridiquement qualifiés, de libérer le témoin de la tâche écrasante de sans cesse documenter et de faire preuve des faits; mais si l’on peut reconnaître à l’histoire un rôle essentiel dans le processus de deuil, comment envisager le «tournant moral» annoncé par certains, aussi vertueux soit-il, quand aucun historien ne semble à l’abri du piège que représente la demande de preuve historiographique?89 En ce qui concerne les Kulturwissenschaften et les Cultural Studies, force est de constater que jusqu’à présent la dialectique nouvelle entre la mémoire et l’histoire instaurée à l’ère de la négation a surtout été envisagée à travers des 89

Aleida Assmann a par exemple annoncé un «tournant épistémologique» dans l’approche scientifique de la Shoah qui serait aussi un «tournant moral» («moralische Wende») après lequel les formes de la mémoire coexisteraient et se compléteraient sans heurt, l’histoire renouvelée à la suite de ce tournant éthique se montrant désormais capable d’éviter les pièges du positivisme (Assmann, Der lange Schatten, p. 47).

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catégories classiques de l’oubli (Harald Weinrich, Aleida Assmann), de la sélectivité intrinsèque à tout processus mémoriel (liée à la distinction entre Funktionsgedächtnis et Speichergedächtnis et celle entre Kanon et Archiv), ou encore dans le cadre hérité des théories freudiennes de l’approche psychanalytique du trauma. En restant pensés dans le cadre classique du fonctionnement de la mémoire individuelle et mis au même plan que tous les phénomènes qu’Assmann regroupe sous le terme d’«oubli», les phénomènes liés à la dénégation des crimes contre l’humanité ne sont véritablement envisagés ni dans leur signification politique, ni dans leurs implications épistémologiques. Or la négation réclame d’être pensée pour elle-même en sa dimension tant consciente et volontaire qu’active, résultant d’une décision d’ordre politique, à travers la destruction de la mémoire qu’elle entraîne, sans quoi la destruction de la mémoire reste condamnée à n’être jamais pensée en tant que telle. De plus, l’établissement des faits en histoire et le jugement du crime par le droit sont des conditions d’un travail de deuil, mais ne sauraient en aucun cas remplacer ce dernier. Si la démarche de l’historien visant à établir, expliquer et interpréter les faits est absolument essentielle, comme le montre précisément l’évolution de l’historiographie de la Shoah, elle ne saurait pourtant suffire à dire le deuil de la disparition irrémédiable, sans reste et sans retour. C’est donc plutôt vers des penseurs essayant d’échapper d’emblée à la logique historiographique et juridique qu’il faut, pour finir, nous tourner. C’est précisément pour éviter d’employer le terme juridique de «génocide», qui en plus d’avoir intégré dans son nom même la fiction idéologique de la «race» (genos), donc du crime qu’il sert à dénoncer, implique toujours déjà son attestation et sa preuve au plan historiographique, que Marc Nichanian a choisi de parler de la catastrophe arménienne comme «Catastrophe». L’usage de ce mot par l’écrivain Hagop Oshagan signifiait déjà une mise hors circuit de l’historien et de son discours de réfutation: du terme arménien Aghed, signifiant «catastrophe», oshagan fit un nom propre écrit avec une majuscule.90 Il s’agissait d’affirmer par le nom propre lui-même le fait que la 90

Trois ans après la fin du génocide, en 1919, le nom propre de l’événement était Yeghern, un terme qui dans sa forme commune signifie «pogrome». Le terme désignait déjà les massacres précurseurs du génocide de 1915, programmés sous le règne d’Abdul-Amid et perpétrés en 1894–96 en Anatolie, puis les massacres commis en 1909 dans la région d’Adana. L’origine étymologique du nom Yeghern (le terme «événement», soit «ce qui fut») disait quelque chose d’essentiel en affirmant que «cela» fut par le nom lui-même, indiquant éventuellement par là qu’il n’y aurait pas à fournir de preuve supplémentaire de l’événement autre que ce nom attribué par les victimes. Mais cette origine était toutefois brouillée par le terme historiquement marqué de «pogrome». Dans le contexte familial (soit à l’intérieur de ce que

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subjectivation de l’événement, la mémoire de son vécu telle qu’elle se transmet à l’intérieur comme au-dehors de la communauté atteinte, échappent précisément à toute logique de revendication de la qualification du crime comme à toute compulsion d’en faire preuve. Prolongeant l’intuition d’Oshagan, Marc Nichanian a mené une réflexion sur la violence génocidaire en retransformant ce nom propre ou emblématique en un nom partiellement commun. Sous la plume de Nichanian, la Catastrophe désigne donc l’événement génocidaire tel qu’il fut perçu et pensé par ses victimes arméniennes, et, par contiguïté et à l’intérieur du discours philosophique, tout événement génocidaire. La Catastrophe y nomme par conséquent non seulement le crime de génocide en tant qu’extermination physique de millions d’hommes sans raison, mais aussi en tant que destruction de l’archive et négation du témoignage. La Catastrophe est pour ainsi dire le concept philosophique permettant de rendre à la fois les notions de catastrophes mémorielle et épistémologique. C’est un concept qui, comme la notion de génocide-humanicide proposée par Philippe Bouchereau,91 tente de proposer une interprétation philosophique de la violence génocidaire. Ecrire la notion de catastrophe historique génocidaire avec un C majuscule crée une nomenclature pour ainsi dire intermédiaire permettant de nommer une notion au croisement des disciplines (philosophie, anthropologie, histoire et droit), et située en quelque sorte entre la catégorie – impliquant un trait commun à plusieurs événements – et le nom propre, qui, lui, désigne chaque événement dans sa singularité. La notion de Catastrophe est le nom emblématique des génocides, en ce qu’elle vise précisément, et au même titre que l’éradication et l’extermination du groupe humain, la destruction de la mémoire et de ses cadres à travers la tentative de destruction de l’archive et, avec elle, la négation du témoignage, soit sa destruction en tant qu’«institution naturelle». Le nom commun d’origine juridique de «génocide» permet de désigner les catastrophes historiques génocidaires comme ensemble de faits qu’il faut chercher à établir, et comme crimes qu’il faut attester au plan juridique. La notion de «Catastrophe» telle que propose de l’employer Marc Nichanian désigne a contrario l’événement en tant que catastrophe mémorielle, c’est-à-dire en tant que lutte sans merci entre la force négatrice constitutive du crime et les modes de subjectivation et de symbolisation du passé qui, ne cherchant plus à faire preuve, essaient plutôt de faire sens en s’inscrivant

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les théories de la mémoire allemandes appellent la «mémoire communicative»), le terme utilisé fut souvent Ak’sor (qui signifie «exil» ou «déportation»). Puis à partir de 1931 est apparu le terme Aghed, mot commun pour «catastrophe». Voir note 35.

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dans la mémoire commune de l’humanité. Ainsi, les Catastrophes seraient d’une certaine façon les traductions aux plans culturel et mémoriel des génocides.

Conclusion: l’œuvre testimoniale Dans le sillage d’une destruction génocidaire, les rapports entre l’archive, la preuve et le témoignage apparaissent comme entièrement reconfigurés: l’historien est contraint de prendre conscience d’une double dépendance à l’égard du témoignage comme du droit; le droit, de son côté, doit prendre acte de la singularité de la destruction opérée et de la nature du crime, dont la logique est de viser, à travers le témoignage, ce qui permet précisément à la justice humaine de fonctionner en tant qu’institution; quant au témoignage, prétendant échapper à la logique de l’accusation et de l’établissement de la preuve des faits, il ne peut pourtant totalement se détacher de ses dimensions historiographique et juridique, sous peine de ne plus avoir aucune autorité.92 Or dans le cas de la Shoah, la vérité du récit testimonial et la vérité de la représentation artistique (soit les formes les plus subjectives de la mémoire communicative et de la mémoire culturelle) sont parvenues à se transmettre contre la négation, et en dépit du monopole sur la vérité exercé par l’histoire et le droit. Mais elles sont d’autant mieux parvenues à se transmettre que l’histoire et le droit, s’étant prononcé sur les faits, avaient au préalable unanimement qualifié l’événement de «génocide». Dans le cas de la Shoah, en somme, différents modes de véridiction du passé et, avec eux, différentes formes mémorielles, après s’être partiellement dressés les uns contre les autres, ont fini par s’accorder. Outre le fait que la qualification et la condamnation de l’idéologie nazie ont donné lieu à une forme de consensus international, il y a plusieurs raisons qui expliquent la forme de «victoire» (tardive) qu’a connue la mémoire de la Shoah dans la lutte contre la négation. La principale est assurément l’existence et la spécificité d’une tradition mémorielle juive.93 92

93

Voir Catherine Coquio, «Génocide: une vérité sans autorité. La négation, la preuve, le témoignage», in: Limites – transgressions – politique (Actes du colloque organisé par l’ARPAS, Paris, 21–24 octobre 1999), Revue PTAH, 11/12, 1999, p. 163–182. On pourrait ici parler avec Hartmut Bergenthum d’une «Erinnerungssubkultur» au sein de la culture mémorielle occidentale (voir id., «Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen. Bemerkungen zur neuen Theoriedebatte», in: Oesterle (dir.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen, p. 121–162, ici p. 128), et pour laquelle l’oubli (en particulier l’oubli de la catastrophe) représente une catastrophe redoublée. Il faut bien évidemment rappeler le statut fondateur de la Torah: la foi elle-même est

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Ce qu’il faut peut-être penser, dès lors, est non l’«unicité» de la Shoah, mais plutôt, selon l’expression de Catherine Coquio, son exceptionnel mode de singularité «où se conjuguent avec une intensité inouïe des traits d’unicité distincts et interdépendants de nature théologique (le peuple juif visé comme ‹peuple de l’esprit› ou ‹peuple élu› concurrent du modèle allemand d’humanité aryano-païenne purifiée), métaphysique et géographique (le projet de remodelage de l’humanité par une extermination planétaire), technologique (les chambres à gaz), et enfin culturelle (l’exceptionnel degré de conscience et d’élaboration écrite de la catastrophe, due à la puissante tradition lettrée du peuple juif, à la radicalité du crime et à sa centralité en Europe)».94 La modélisation des mémoires de catastrophes historiques à partir de la Shoah est aussi due, on l’a vu, à l’évolution du droit international, dès lors qu’à l’issue du procès de Nuremberg la convention de 1948 définissait le crime de génocide à partir de cet événement. Peu à peu, les juridictions nationales ont intégré les concepts du droit international, et si ce processus est toujours en cours, il a pour le moment avant tout porté ses fruits concernant les procédures contre les criminels nazis et la qualification du crime de génocide pour désigner la Shoah. Ainsi, et contrairement à ce qui s’est par exemple passé pour les Arméniens, dont le génocide avait pourtant lui aussi donné lieu à une première théorisation juridique en tant que crime de «lèse humanité», les modes de véridiction propres à la démarche historiographique ont pu être complétés et même appuyés au besoin par la décision judiciaire (comme avec la loi Gays-

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liée à la mémoire de l’Alliance. Voir le Deutéronome, 5,6 et 4, 31 et, à ce propos, Jan Assmann, «Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik», in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (dir.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, p. 337–355 ainsi que l’auvrage, désormais classique, de Yosef Hayim Yerushalmi, ‹Zachor›: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin (1982) 1988. Il faut donner raison à Harald Weinrich lorsqu’il affirme que «le génocide des Juifs européens se distingue fondamentalement des autres génocides de l’histoire par au moins une dimension: celle de la mémoire culturelle. Car il a souvent été dit, et à juste titre, que les Juifs en tant que peuple, dans leur religion et leur culture, sont plus que tout autre peuple de l’histoire liés par une mémoire commune […] et sont, selon une formule de Jacques Le Goff, ‹par excellence le peuple de la mémoire›» (Weinrich, Léthé, op. cit., p. 255). Cette singularité culturelle juive explique en partie le grand degré d’élaboration écrite de la catastrophe. C’est bien pourquoi l’établissement même d’un paradigme à partir de cette singularité pose problème, en particulier lorsque l’événement se produit dans le cadre d’une culture non écrite. Catherine Coquio, «Hurbinek à Babel. Parler au camp, parler des camps», version inédite d’un texte publié ensuite dans id. (dir.), Parler des camps, penser les génocides, p. 609–648.

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sot)95, ainsi que par la diffusion des témoignages des victimes. Les formes les plus subjectives de la mémoire ont dû préalablement traverser toutes les strates de la mémoire. Ces formes mémorielles subjectives ont dû pénétrer plusieurs sphères de savoir, et, avec elles, divers modes de rationalisation comme de symbolisation, pour parvenir à transmettre une forme de vérité propre au témoin. En entrant dans l’espace public, ces témoignages, parfois devenus œuvres littéraires, ont ensuite fini par être lus non plus uniquement dans leur dimension d’attestation (historiographique, juridique) mais aussi dans leurs autres dimensions testimoniales: œuvres littéraires, textes à portée philosophique, les textes testimoniaux issus de l’événement catastrophique sont aussi à saisir en tant qu’objets de pensée, de transmission et de deuil. A travers la prise en compte de plusieurs déclinaisons de la vérité de l’événement selon les différents supports de la mémoire, c’est dès lors la notion même de vérité, que l’on avait jusque-là tendance à considérer comme unifiée, qui nous apparaît dans toute sa complexité. Mais en réfléchissant à la confrontation entre les concepts de «mémoire» et de «catastrophe», on constate l’insuffisance de cette remise en question au sein des sciences humaines, les notions de témoignage et de négation n’ayant pas encore été pensées dans toutes leurs conséquences. Si de Catherine Coquio concernant les en France on a pu voir ces dernières années se constituer un véritable pôle de réflexion interdisciplinaire autour, questions liées à la violence politique extrême,96 il semble pourtant que les paradigmes nouveaux de la négation et du témoignage n’aient pas encore pénétré dans les différents champs disciplinaires concernés, y compris dans les sciences de la culture en Allemagne, qui ont pourtant vocation à s’engager dans des démarches réflexives et interdisciplinaires. Les distinctions, qui découlent de ces paradigmes, entre les notions juridiques et historiographiques (par exemple les «crimes contre l’humanité» et les «génocides»), d’une part, et des notions philosophiques et anthropologiques (par exemple celles de «catastrophe mémorielle» et de «Catastrophe»), d’autre part, permettraient pourtant de renouveler de manière fructueuse le champ de recherche sur la «mémoire» devenu indissociable de celui consacré aux «catastrophes historiques» liées à la violence politique contemporaine. 95

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Dans la législation française, la loi dite Gayssot du 13 février 1990 vise la répression pénale de la négation des crimes nazis (loi n° 90–615 du 13 juillet 1990 tendant à réprimer tout acte raciste, antisémite ou xénophobe, Journal officiel, 14 juillet 1990). En particulier à travers les travaux de l’Association Internationale de Recherches sur les Crimes contre l’humanité et les Génocides qu’elle a fondée en 1997 et qu’elle préside (AIRCRIGE: http://aircrigeweb.free.fr).

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Pour qui essaie de se mettre à l’écoute de l’écho de cette mémoire singulière qu’est la mémoire au lendemain d’un crime contre l’humanité et de réfléchir aux questions de transmission qu’elle soulève, s’impose selon nous la nécessité de réenvisager le fonctionnement même des cultures mémorielles issues d’un événement catastrophique. Comme nous l’avons vu, c’est à travers la tentative ciblée de destruction du témoignage et de l’archive que les catastrophes mémorielles déploient leurs effets, et la terrible déflagration ainsi causée par la catastrophe mémorielle a des effets délétères sur l’ensemble des discours du savoir. Saisir ce processus dans sa complexité nécessite donc des instruments théoriques particuliers que nous avons essayé de dégager dans ce travail, et si l’on voulait remplacer, comme le suggère Günther Lottes, la notion de «mémoire culturelle» par celle de «culture mémorielle» (Erinnerungskultur),97 dont le mode d’organisation serait visualisable à l’intérieur d’un modèle topologique tel que l’a proposé Marcus Sandl,98 ce modèle devrait alors inévitablement prendre en compte le champ de forces que constitue la mémoire d’un événement catastrophique. Globalement configuré par l’opposition entre la mémoire – sous toutes ses formes – et l’oubli – également sous toutes ses formes –, ce champ connaîtrait une zone de perturbation intense après une catastrophe mémorielle où le couple antithétique du témoignage et de sa négation serait à l’origine de forces opposées, leur affrontement formant une sorte de champ magnétique à l’intérieur du champ de forces mémoriel. Le champ magnétique perturbe le champ de forces mémoriel en répondant à des lois physiques différentes. Et dans ce champ de forces de la mémoire post-catastrophique, le vecteur de l’art – au sens physique du terme – figure à lui seul une ligne de force qui, en tentant de préserver la mémoire, d’opérer le deuil et de transmettre un sens, est à la fois désespérément fragile et extrêmement puissant. Car lorsqu’il passe par l’art, et en particulier par la littérature, le témoignage représente une tentative de dégagement du piège négateur. Pour échapper à la force magnétique de la négation qui le ramène toujours au «trou noir» de l’événement en le forçant continuellement à en fournir la preuve, il doit parvenir à puiser la force nécessaire pour se dégager du piège. Naissant parfois à la source même de la mémoire catastrophique, le témoignage interne du présent de la catastrophe tente de s’ancrer à l’endroit même 97

98

Selon la définition simple qu’en donnent Erll et Nünning: «Erinnerungskulturen sind die historisch und kulturell variablen Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses» (Erll/Nünning, «Literatur und Erinnerungskultur», p. 185). Sandl, «Historizität der Erinnerung», voir schéma 1, «Topologie der Erinnerungskulturen», p. 100.

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du point d’impact, ce «ground zero» où s’est produit le choc événementiel qui a rompu le continuum historique et humain, afin de faire passer vers l’extérieur et l’avenir quelque chose du sens de l’expérience traversée par le témoin interne aux héritiers de l’«après», et, à travers eux, à l’humanité à venir. Autour de ce point d’impact, dont les traces sont le plus souvent des notes griffonnées avant la mort, des journaux intimes, des lettres, mais parfois des poèmes et des œuvres littéraires ou des témoignages déjà collectés par un témoin afin de constituer des «archives»,99 se déploient ensuite, comme par cercles excentriques, les différentes «strates» mémorielles, définies par leur vecteur discursif spécifique (le droit, l’art, l’écriture de l’histoire). Ces vecteurs peuvent tantôt agir les uns contre les autres, par exemple lorsque le droit ou l’historiographie doutent du discours testimonial, ou, au contraire, se seconder, ce qui est le cas lorsque la démarche historiographique permet d’objectiver une histoire en tout point mortifère et de qualifier le crime, le droit devenant ensuite un régime d’énonciation libérateur pour le témoin qui n’est plus astreint à faire preuve une fois que le bourreau a été jugé et le crime qualifié. La sphère dessinée par le vecteur testimonial, s’éloignant à la fois dans l’espace et le temps du point d’impact catastrophique, s’étend jusqu’à atteindre la sphère du témoignage indirect ou secondaire, c’est-à-dire les textes de ceux qui, n’ayant pas traversé eux-mêmes l’expérience de la catastrophe, sont dans une relation généalogique objective avec la communauté atteinte (on parle alors de deuxième, troisième générations) et enfin les textes et réflexions de ceux qui, ne faisant pas partie de la communauté atteinte, tentent néanmoins de penser l’événement et de transmettre sa mémoire, qu’ils soient écrivains, historiens, intellectuels… Le rôle de ces «témoins seconds» (ou «secondaires»), jouant le rôle de tiers témoin (terstis) consiste souvent à seconder la force fragile du témoignage interne à la Catastrophe, en essayant de révéler sa spécificité, de désentraver ses forces et de potentialiser sa forme, de sorte qu’une mémoire des catastrophes puisse se transmettre malgré la puissance mortifère de la négation. Les formes littéraires mémorielles, que nous avons proposé de nommer ailleurs les «œuvres testimoniales», s’opposent par leur existence même à la négation du témoignage, et peuvent lui résister à condition de lutter sur un autre terrain qu’elle. Là où la négation et la destruction de la mémoire et de la factualité historique se traduisent au plan politique et pseudo-scientifique par une remise en question des faits historiques, l’œuvre testimoniale, revendiquant sa subjectivité et transformant l’expérience vécue et le donné histo99

On relira ici l’étude fondatrice de Michel Borwicz, Ecrits des condamnés à mort sous l’occupation nazie (1939–1945), Paris 1996.

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riquement déterminé dans et par le langage, peut se dégager de la nécessité d’attester des faits, et remplir avant tout une fonction de transmission du sens de l’expérience et de la mémoire de l’événement catastrophique pour l’humanité menacée. Ainsi l’œuvre testimoniale peut-elle même basculer vers la fiction et ne pas faire directement référence aux faits constitutifs du crime, sans perdre pour autant sa qualité de littérature de la Catastrophe, ou de «littérature testimoniale». Les destructions engendrées par les catastrophes mémorielles modernes nécessitent donc de repenser la notion même de témoignage à la lumière de sa fonction de transmission du sens ou, pour reprendre l’expression de Marc Nichanian, à l’aune de sa fonction «monumentale». Pour cela, il faut tenter de définir ce que le philosophe appelle une «poétique du reliquat», capable non seulement de lire le témoignage comme reste, mais surtout de lire ce qui reste du témoignage quand le témoignage lui-même a été détruit en sa possibilité par la dénégation génocidaire. Cette poétique du reliquat implique, entre autres, de libérer le «pacte éthique du témoin» des limites étroites du pacte autobiographique, et de tenter de redéfinir un «pacte testimonial» indépendamment de sa fonction référentielle. Elle implique aussi d’envisager enfin, à la suite de Michael Rothberg, le caractère profondément «multidirectionnel»100 de la mémoire, ce qui peut selon nous se traduire par une «multidimensionnalité» des œuvres testimoniales issues des catastrophes mémorielles contemporaines.

100

Michael Rothberg, Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009.

Gedächtnistheoretische Umschreibungen der Katastrophe

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Vittoria Borsò (Düsseldorf)

Der Engel der Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gedächtnistheoretische Umschreibungen der Katastrophe (Frankreich, Mexiko, Italien)

Ein Blick auf die Etymologie des griechischen  aus altgriechisch  – Präfix für eine Umkehr oder Abwärtsrichtung – und  – »Wendung«, »Kurve«, »Drehung«, »Biegung« – zeigt, dass das Verstehen von Katastrophe im Sinne eines historischen Unglücks mit dem hermeneutischen Rahmen einer eschatologischen und teleologischen Fortschrittsgeschichte nicht zwingend notwendig ist. Entgegen diesem Verständnis in der politischen Geschichte ist Katastrophe z. B. für die Physik ein Wechselpunkt zwischen zwei verschiedenen Modi, somit eine Gabelung oder eine Trajektorie, und auch chaostheoretisch sind Katastrophen produktiv und meinen etwa das plötzliche Umspringen von einem Zustand in einen anderen. Systemtheoretisch können schließlich Katastrophen autopoietische Prozesse einleiten. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um gewahr zu werden, dass das Verständnis der Katastrophe als Bedrohung des teleologischen Verlaufs der Geschichte kontingent ist. Katastrophe heißt Gabelung und beschreibt damit den Moment der Entscheidung, nämlich jenen Augenblick, in dem die Ereignisse zum Schrecken führen oder einen ganz anderen Verlauf nehmen könnten. Was heißt dies für das Gedächtnis der Katastrophe? Zerstörungen in der Vergangenheit sind zwar gewiss, gleichwohl sind die Formen der Erinnerung ungewiss, die der historischen Katastrophe angemessen sind. Denn zur Erinnerung an das Geworden-Sein gehört die Kontingenz des Geschehens selbst, d. h. die Erinnerung an die Potenz, an die Möglichkeit des Nicht-Geschehens. Genau in dieser Gabelung ist das Unvergessliche enthalten, mit dem sich das Erinnern an Katastrophen konfrontiert sehen muss. Wie die Apokalypse die Parousia verspricht und den Schrecken des Endes in Kauf nimmt, so sind Katastrophen Kollateralschäden der Heilsgeschichte. Dies ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist ebenso wahr, dass die Geschichte des Abendlandes (und nicht nur diese) als eine Serie von Katastrophen gelten muss. Bedenkt man aber, dass der Wendepunkt

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eine Gabelung und nicht ein linearer Weg zur Katastrophe hin ist, so lässt sich folgern, dass die Stürze in die Abgründe der Zerstörungen die Signatur bestimmter historischer Entscheidungen sind, nämlich derjenigen, deren teleologisch begründete Logik die Perfektibilität des Lebens war, eine religiös oder technologisch angestrebte Verwaltung des Lebens und des Menschen. Weil es diese Matrix gibt, werden Katastrophen produziert. In dieser von mir intendierten performativen Akzentuierung der Implikationen, die dem Begriff der Katastrophe innewohnen, ist die von Walter Benjamin in den Geschichtsphilosophischen Thesen1 formulierte Kritik der Fortschrittsgeschichte ebenso erkennbar wie ihre Umschreibung über die biopolitischen Schlussfolgerungen von Giorgio Agamben. In letzteren verflicht sich das Denken von Benjamin und Michel Foucault in einer für unser Thema kongenialen Form,2 auf die später einzugehen sein wird. Wenn ich in diesem Kontext auf Benjamins Geschichtsphilosophische Thesen abermals zurückkomme, tue ich dies gewiss nicht im Glauben, angesichts der intensiven internationalen Benjaminforschung etwas Neues zur Exegese seiner Schriften zu sagen. Meine Überlegungen haben vielmehr ein anderes Ziel: Es steht außer Zweifel, dass in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts Benjamin die Katastrophe ahnte, deren Ausmaß alle Rahmungen des Denkbaren und Sagbaren sprengen sollte, und es ist deshalb auch kein Zufall, dass Benjamins Ahnungen und Formulierungen über das Gedächtnis der Katastrophe eine Herausforderung für die aktuellen Arbeiten zu diesem Thema sind. So können Benjamins implizite gedächtnistheoretische Überlegungen in den Geschichtsphilosophischen Thesen – als Vorwort zum Projekt der Passages de Paris vorgesehen – und in den Schriften nach 1933, etwa in Berliner Kindheit, heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im Wissen der historischen Katastrophen neu gelesen werden. Dies gilt insbesondere für die Allegorie des Engels der Geschichte in der 9. These,3 der ich mich im Folgenden widmen werde. Mehr oder weniger offene Verweise, Spuren oder Konvergenzen mit Benjamins impliziter Gedächtnistheorie sind in aktuellen Ansätzen zu beobachten, die versuchen, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts für ein offenes 21. Jahrhundert zu bedenken.

1

2

3

Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 21978, S. 693–704. Siehe hierzu auch: Vittoria Borsò, »Benjamin – Agamben – Biopolitik und Gesten des Lebens«, in: dies./Vivian Liska/Claas Morgenroth/Bernd Witte (Hrsg.), Benjamin – Agamben. Politics, Messianism and Kabbalah, Würzburg 2010, S. 35–48. Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 697f.

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Infolge des Zweiten Weltkrieges hat man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Modellen gesucht, die mit einem anthropologischen Verständnis des Gedächtnisses eine Rehumanisierung der Erinnerung nach der Shoah leisten sollten. Jan und Aleida Assmanns Begriff des Kulturellen Gedächtnisses und eine seiner Dimensionen, die Gedächtnisorte, waren solche Modelle. Die Katastrophe der Shoah und der Historikerstreit hatten zwar auch zur notwendigen kritischen Befragung der großen teleologischen Erzählungen der Geschichte geführt, nicht jedoch zur Problematisierung der anthropologischen Implikationen der Theorie des kulturellen Gedächtnisses und von dessen politischer Funktion. Vielmehr bot das kulturelle Gedächtnis Zuflucht vor den in Benjamins Kritik analysierten politischen Implikationen von Aufbewahrungsformen der Vergangenheit. Das Unbehagen am Politischen des Gedächtnisses wurde tatsächlich auf dem Weg der Anthropologisierung der Gedächtnisleistung kompensiert. Die notwendige Frage, inwieweit ein solches Gedächtnismodell eine politische Entscheidung darstellt, wurde ausgelassen.4 Auf ihre Weise auch Pierre Noras Lieux de mémoire, aber insbesondere Aleida Assmanns Thesen des Gedächtnisses und seiner Medien als mächtige, sich unerbittlich optimierende Funktionsgedächtnisse haben jene Operationen naturalisiert und unsichtbar gemacht,5 die nicht nur Benjamin, sondern auch Maurice Halbwachs als ein Konstrukt, vielleicht sogar als eine Prothese für die Gemeinschaftsbildung konzipiert hatten. Entgegen der allzu glatten Interpretation durch Assmann bringt Halbwachs nämlich die Elemente der Verbindung von subjektiver Erinnerungsproduktion und kollektiver Erinnerungsvernunft als spannungsreichen Artikulationsraum ins Spiel.6 In diesem Artikulationsraum von individueller Erinnerung und Gruppengedächtnis hat Halbwachs die Differenzen und Verhandlungen zwischen sozialem und historischem Gedächtnis, zwischen der Arbeit des Traums und der Vernunft usw. buchstabiert und dabei betont, dass diese 4

5

6

Vgl. die an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf abgeschlossene, von Bernd Witte betreute Dissertation: Claas Morgenroth, Das Politische der Erinnerung in der Prosa der Gegenwart (im Druck); siehe auch Janine Böckelmann/Claas Morgenroth, Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart, Bielefeld 2008. So z. B. Aleida Assmann, »Speichern oder Erinnern? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon«, in: Moritz Csàky/Peter Stachel (Hrsg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs. Die Systematisierung der Zeit, Wien 2001, S. 15–29. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1994 (1925). Zur Analyse der arbiträren Setzung einer sozialen Vereinbarkeit von individueller Erinnerung und sozialem Gedächtnis vgl. auch Rudolf Heinz, »Maurice Halbwachs’ Gedächtnisbegriff«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 23/1969, S. 73–85.

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Spannungen nur durch kollektive Erinnerungskonventionen getilgt werden können. Die These der gesellschaftlichen Rahmen des individuellen Gedächtnisses ist in Halbwachs’ Konzept des kollektiven Gedächtnisses weniger interessant als der Interaktionsraum, in dem gesellschaftliche Konventionen des Erinnerns verhandelt werden. Dieses produktive und erforschenswerte Moment wird in heutigen Konzepten des sozialen und kulturellen Gedächtnisses aus den Augen verloren. Es würde sich deshalb lohnen, methodisch stärker auf die Spannungen zwischen den vielfältigen Dimensionen einzugehen. Das Potential dieses Artikulationsraums wäre in der Dynamik der materiellen Entscheidungen zu suchen, die aus der Vielfalt der Möglichkeiten bestimmte Konstellationen des Gedächtnisses hervorbringen.7 Genau ein solcher Artikulationsraum wird in der 9. These von Walter Benjamin inszeniert, was in das Feld der Theorie des 21. Jahrhunderts in verschiedener Form eingegangen ist.

I.

Die Politik des Ästhetischen und die Kunst des Gedächtnisses – Benjamins impliziertes Gedächtnismodell in den Geschichtsphilosophischen Thesen

Benjamins kritische Befragung der Operationen des Gedächtnisses aus Sicht des Politischen in den Geschichtsphilosophischen Thesen ist präzise: Die Aufgabe des Gedächtnisses ist die Konfrontation mit dem Unzitierbaren, denn – so in der 3. These – »[…] erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden«.8 Erinnern ist das Erinnern an das Vergessene, und Benjamin verbindet das Vergessene mit dem Unsagbaren, das erst im Zusammenhang der Katastrophe aufscheint: »Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«, so Benjamin in der 6. These.9 Deshalb ist das Erinnern eine Trauerarbeit, wie die 7. These mit Bezug auf Gustave Flaubert zeigt: »Peu de gens devineront 7

8 9

Vgl. Vittoria Borsò, »Medialität und Gedächtnis II: Für die Plastizität des Medialen – wider die unerbittlichen Medien des Gedächtnisses«, in: Bernd Witte/Sonja Klein/Vivian Liska/Karl Solibakke (Hrsg.), Gedächtnisstrategien und Medien im interkulturellen Dialog, Würzburg 2010, S. 107–124. Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 694. Es sei die Aufgabe des historischen Materialismus, den Benjamin in der 6. These abermals vom Historismus absetzt, »[…] ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.« Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 695. So etwa, wenn in der 6. These die Erinnerung definiert wird, die im Kontrast zu historistischen Vergangenheitsbildern steht, vgl. ebd., S. 695.

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combien il a fallu être triste pour ressusciter Carthage«.10 Die Melancholie, die Flaubert tatsächlich in Salammbô vorführt, befähigt zur kritischen Arbeit an der Kultur, die Michel Foucault das mit Flaubert beginnende »böse Auge« nannte,11 und die Benjamin in der 7. These explizit als diejenige Kraft bezeichnet, die dazu führe, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«,12 weil sie den Mut verleihe, dem ambivalenten und grausamen Gang des Zivilisationsprozesses ins Gesicht zu schauen: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein«.13 Und in der 8. These treffen wir auf eine Schlussfolgerung, der Agamben die Trilogie über den Homo Sacer14 widmen wird: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist.«15 In der 11. These prophezeit Benjamin schließlich die utopische Degeneration der Sozialdemokratie als Erlöserin zukünftiger Generationen. Benjamin spricht zwei verschiedene Typen von Gedächtnis an: das utopische, das die Vergangenheit zugunsten einer an die Zukunft delegierten Perfektibilität interpretiert, und das messianische, das in der Jetztzeit die Funken der Öffnungen sät, durch die der Messias jederzeit kommen könnte. Benjamins Gedächtnis impliziert also auch die Materialität des Alltäglichen im Eingedenken der Transzendenz des Messianischen. Theologie und historischer Materialismus schließen sich nicht wechselseitig aus. Das Messianische ist dabei schwach; es ist nur der Augenblick, in dem sich der Raum der Gegenwart zum Anderen hin öffnet. Der Messias könne deshalb niemals zu einem Agenten der Geschichte werden; tue er das, so verwandle er sich in einen An10 11

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15

Ebd., S. 696. Mit seiner Huldigung an die sadistische Fantasie von Delacroix in Der Tod des Sardanapal, des vom Gemetzel träumenden Blutherrschers, im Gedicht Les phares gilt Baudelaire als der Erfinder des Bösen. Nach Baudelaire, Flaubert und Nietzsche wird aber im nicht diskursiven Denken der Kunst ein Vermögen identifiziert, das anders als das Bewusstsein ist und »böses«, irritierendes Wissen produziert. Vgl. auch Karl Heinz Bohrer, Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München 1988, S. 132. Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 697. Überdies heißt es: »Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist […] von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.« Ebd., S. 696. Ebd. Giorgio Agamben, Homo sacer, Torino 1995; ders., Quel che resta di Auschwitz, Torino 1998; ders., Stato d’eccezione, Torino 2003. Vgl. den Beginn der 8. These, Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 697, der wie folgt fortgesetzt wird: »Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.«

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tichrist, wie Benjamin präzise in der 6. These ausführt, ein Moment, das im 20. Jahrhundert auf fatale Weise unbeachtet blieb. Wenden wir uns jedoch der 9. These zu, dem Engel der Geschichte. Die Besonderheit dieser These ist, dass sie in Form der Ekphrasis eines Gemäldes von Paul Klee aus dem Jahre 1920 vorgetragen wird, das Benjamin 1921 erworben hatte. Der Diskurs beschreibt den rätselhaften Engel als der Vergangenheit zugewandt, mit dem Blick auf eine »einzige Katastrophe«, »die unablässig Trümmer auf Trümmer anhäuft und sie ihm vor die Füße schleudert.«16 Weiter heißt es: Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark bläst, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann […]. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.17

Benjamin beschreibt die Unentrinnbarkeit aus den Katastrophen und die Ohnmacht einer Geschichte, deren Transzendentalität im Fortschrittsdiskurs gefangen ist. Der Engel wird in der Textallegorie zu einem Modell des Kollapses des Gedächtnisses, das überschüttet ist von der Katastrophe der Geschichte. Zwischen Vergangenheit und Zukunft gespannt, fegt der Sturm des Fortschritts die Jetztzeit hinweg. Das Aufblitzen des Messianischen und die Öffnung der Gegenwart auf die Andersheit der Geschichte sind verloren gegangen. Die Allegorie des Engels in diesem Text ist Benjamins Diagnose der ankommenden Katastrophe. Das rätselhafte Bild von Klee wird in der Regel als allegorische Illustration von Benjamins Text gelesen, ohne die Differenz zu beachten, die erst bei der gleichzeitigen Betrachtung beider Teile der Ekphrasis, Visualität und Diskurs, offensichtlich wird. Dabei ist nirgendwo die Unvereinbarkeit von Bild und Text evidenter. Worin besteht diese Zäsur? Der Kommentar zum Bild von Klee durch Benjamin bindet die Visualität des Bildes an eine kognitive Rahmung und eine diskursive These, die das schließt, was durch die Unbestimmtheit und die interne Mobilität des Bildraums im Gemälde von Klee eine Reihe offener Momente enthält. Betrachten wir das Bild, ohne den allegorischen Sinn des Diskurses als Rahmung zu übernehmen, so können wir zwar Benjamin in der Beschreibung des Gesichtsausdrucks zunächst folgen: starrer Blick, aufgerissener Mund. Doch müssen wir den Kommentar in dieser Richtung radikalisieren. Die expressive Geste des Gesichtes ist kontextlos; sie lässt nur erahnen, dass die Figur etwas Schreckliches gesehen haben muss, das nicht darstellbar ist. Das Schrecken zeigt sich im Ausdruck, ohne 16 17

Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 697. Ebd., S. 697f.

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dem Betrachter als souveränem Subjekt einen erlösenden Sinn zu vermitteln. Diese Exteriorität des Gesehenen, so möchten wir mit Emmanuel Levinas’ prägnanter Beschreibung des Antlitzes sagen, ist kein Außenraum, der noch nicht dargestellt wurde und in die Darstellung, in den Bildraum integriert werden könnte.18 Vielmehr begrenzt die Exteriorität dessen, was die Figur des Engels sieht, die Sicht des Betrachters, weil das Rätsel des Gesehenen nicht im Bildraum aufgelöst werden kann. Das Gesehene lässt sich nicht einfangen; es behauptet sich vielmehr autonom als Exteriorität und Andersheit. Für diese Interpretation spricht die Richtung des linken Auges der Figur, die den Rahmen in ein off verschiebt, die Grenze der Sichtbarkeit markiert und auf das Unsichtbare und Unsagbare im Bild verweist. Das Ereignis der Visualität ist aber auch im anderen Auge gegeben, denn dieses richtet sich an den Betrachter, holt den Blick des Betrachters in das Bildfeld hinein, wie Velázquez es mit Las Meninas getan hat. Wir sehen uns sehen und können auch über die Ohnmacht des Blickes reflektieren, dem sich das gesehene Ding entzieht. Gerade im Blick des Engels im Gemälde von Klee erkennen wir die Zäsur zwischen dem in der offenen Topologie des Bildraums unbestimmten, visuellen Ereignis und der topographischen Festlegung durch Benjamins Kommentar. Die Figur ist im Gemälde topologisch schwebend, wohingegen Benjamin ihre Position festlegt. Diese Festlegung ist arbiträr, wie auch Adornos Interpretation der Figur als Maschinen-Engel zeigt, der das Publikum anschaut und ermahnt. Benjamins Festlegung der Richtung der Bewegung (auf die Zukunft) und der Position des Körpers (rückwärts gewandt) ist also in Bezug auf die Visualität des Bildes arbiträr und informiert primär über den Blick und die Position des Betrachters bzw. Kommentators. In der Offenlegung der Arbitrarität des Kommentars liegt gerade im Benjaminschen Sinne die Methode des Gedächtnisses, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten, denn die Einsicht in die Arbitrarität fordert auch die politische Positionierung heraus. Genau diese lässt sich in den unterschiedlichsten Umschreibungen von Benjamins Kommentar feststellen. Etwa die Engel-Gedichte von Heiner Müller scheinen in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich:19 18

19

Zur Exteriorität des Anderen vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von Wolfgang N. Krewani, Freiburg 1987, französisches Original: Emmanuel Levinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, Paris/La Haye 1961. Zu den Implikationen für Visualität und Ethik vgl. z. B. Vittoria Borsò, »Die Exteriorität des Blickes oder die Ethik der Rahmenverschiebungen (Calvino, Levinas)«, in: Claudia Öhlschläger (Hrsg.), Narration und Ethik, München 2009, S. 127–144. Heiner Müller, »Der glücklose Engel« (1958), in: ders., Die Gedichte, Frank Hörnigk (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1998, S. 53.

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Vittoria Borsò DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeitlang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehen, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsam wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.

Bei Heiner Müllers Engeln20 fallen verschiedene Verschiebungen in Bezug auf Benjamins Kommentar auf: Die Position des Engels wird umgekehrt, denn im Rücken ist das Anschwemmen der Vergangenheit, vor ihm steht die angestaute Zukunft. Nach der Shoah, mitten im 20. Jahrhundert, ist dieser glücklose Engel traumatisiert. Die Geschwindigkeit des Fortschritts ist der Erstarrung gewichen. Die Darstellung zeigt die Agonie des Engels nach der historischen Katastrophe, die zugleich die Position des Verfassers verrät, nämlich die der Melancholie nach dem Verlust der heroischen Hoffnung. Gerade in der unähnlichen Ähnlichkeit zwischen Bild und Kommentar liegt also die Produktivität der Ekphrasis in Bezug auf die Position des Kommentators im Verhältnis zum Rätsel der Zeiten. Die unähnliche Ähnlichkeit der Ekphrasis von Benjamin macht aber auch eine grundlegende Zäsur bewusst, nämlich die Zäsur zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit. Benjamin weiß um die Arbitrarität, mit der er einen Bezug zu den Katastrophen seiner Zeit herstellt. Es heißt nämlich »Der Engel der Geschichte muss so aussehen.«21 Aber die Zäsur ist notwendig. Erst die Inhomogenität von Visualität des Bildes und diskursiver Allegorie kommt dem Konzept des dialektischen 20

21

Siehe auch: Heiner Müller, »Ich bin der Engel der Verzweiflung« (1979), in: ders., Die Gedichte, S. 212: »Ich bin der Engel der Verzweiflung. Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust und Qual der Leiber. Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei. Im Schatten meiner Flügel wohnt der Schrecken. Meine Hoffnung ist der letzte Atem. Meine Hoffnung ist die erste Schlacht. Ich bin das Messer mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt. Ich bin der sein wird. Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von Morgen«; Heiner Müller, »Glückloser Engel 2« (1991), in: ders., Die Gedichte, S. 236: »Zwischen Stadt und Stadt / Nach der Mauer der Abgrund / Wind an den Schultern die fremde / Hand am einsamen Fleisch / Der Engel ich höre ihn noch / Aber er hat kein Gesicht mehr als / Deines das ich nicht kenne«. Benjamin, »Begriff der Geschichte«, S. 697.

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Bildes von Walter Benjamin näher und führt uns weiter zu den Bedingungen der Umschreibung der Katastrophe, nämlich der Reflexion über den Standpunkt, von dem aus die historische Erinnerung vollzogen wird. Die Einsicht in die Sprengkraft dieser Zäsur erfordert einen Exkurs in die Topologie von Gilles Deleuze, das Kapitel seines Foucault-Buchs, das Deleuze »Topologie: ›Anders denken‹«22 nennt. Bei der Analyse des Verhältnisses von Sichtbarkeit und Sagbarkeit anhand der Archäologie von Michel Foucault bringt Deleuze die Naturalisierung des Sichtbaren durch das Sagbare ins Spiel. Das Sichtbare und Sagbare sind zwar heterogene Bereiche, die aber durch die nachträgliche und kontingente Konfigurierung diskursiver Ordnungen aufeinander bezogen und verähnlicht werden. So wird eine unsichtbare Szenographie produziert, die die Ordnung der Sichtbarkeit als natürlich erscheinen lässt. Sichtbarkeit und Sagbarkeit sind sich also wechselseitig äußerlich, d. h. sie stehen zueinander im Verhältnis der Nicht-Isomorphie und kommen nur diskursiv in eine Relation der Ähnlichkeit. Die Nicht-Isomorphie wird von der modernen Kunst zum Ereignis gemacht, wie Foucault in seiner Analyse von Magrittes Ceci n’est pas une pipe23 gezeigt hat. Erst die moderne Ästhetik reflektiert selbstreferentiell über diese Verflechtung. Mit der Ekphrasis von Klee und der Differenz von Bild und Text hat Benjamin eine derartige ästhetische Erfahrung der Differenz von Sichtbarem und Sagbarem, der Nicht-Isomorphie dieser Ordnungen, erzeugt.24 Erst wenn wir die Zäsur zwischen dem Bild von Klee und dem Kommentar von Benjamin betrachten und die Überkreuzung des Differenten (nämlich des Sichtbaren und Sagbaren) analysieren, so werden wir des Visualitätsereignisses gewahr, das durch Angleichung an die diskursive Allegorie des Kommentars verloren gehen würde. Das ästhetische Moment der Zäsur 22

23

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Gilles Deleuze, »Topologie: ›Anders Denken‹«, in: ders., Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 69–172, S. 85ff. Zu diesem Themenkomplex verweise ich auf meine Analyse: Vittoria Borsò, »Audiovisionen der Schrift an der Grenze des Sagbaren und Sichtbaren: zur Ethik der Materialität«, in: Roger Lüdeke et al. (Hrsg.), Poetische Gerechtigkeit (im Druck). Magrittes Gemälde ist eine provokative Betonung des Rahmens, der Bild und Referenz trennt, die stillschweigende Annahme der Ähnlichkeitsbeziehung durchstreicht und die Nicht-Beziehung oder die Heterogenität dessen betont, was in der realillusionistischen Ökonomie der Diskurse durch das Sagbare verähnlicht wurde. Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, München 1974, S. 43f. und S. 31, wo Foucault den Ausdruck »Nicht-Beziehung« von Maurice Blanchot aufnimmt. Vgl. Besprechung durch Deleuze, »Topologie«, S. 89. Das Sichtbare wird durch die Verflechtung mit dem Sagbaren in der Ordnung des Diskurses in Form naturalisierter Szenographien unsichtbar, vgl. Deleuze, »Topologie«, S. 95.

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zwischen Bild und Kommentar zeigt bei Benjamin die Kunst des Gedächtnisses, weil sie im Sinne des dialektischen Bildes eine reflexive Politik der Erinnerung provoziert.

II. Transformationen des Engels der Geschichte in Frankreich: von Georges Didi-Huberman zu Jacques Rancière Wir werden bei Agambens Begriff des Archivs die Relevanz dieses Momentes für das Gedächtnis erkennen. In der französischen Philosophie ist neben Stéphane Mosès Georges Didi-Huberman einer der interessantesten Exegeten Benjamins, der aus der Zäsur von Sichtbarkeit und Sagbarkeit Konsequenzen für die Bildwissenschaft und für das Gedächtnis der Katastrophe zieht.25 Die Ekphrasis Benjamins als dialektisches Bild dient Didi-Huberman zur Definition der Kunst eines Gedächtnisses, das sich als Widerstreit von Katastrophe und Fortschritt darstellt und nach dem Prinzip der Collage arbeitet: »mouvement suspendu qui figure à la fois, qui démonte et qui monte […] la continuité d’un geste et son irrévocable interruption«26. Die Kunst des Gedächtnisses hat ein doppeltes Regime, das widerstreitende Tätigkeiten abverlangt: Zergliederung und Zusammensetzung, das Ins-Spiel-Bringen und das Unterbrechen. Aufstieg und Fall sind die gleichzeitigen Bewegungen dieser Kunst.27 Genau damit konstruiert das Gedächtnis gleichzeitig das Gebäude und den Ruin der Vergangenheit, was Didi-Huberman anhand von Godards historischem Filmessay exemplifiziert.

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26

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So gibt es zwei Modi, Bilder zu sehen: als Träger eines diskursiven Sinns (vision) oder als Ereignis der Visualität, Ereignis des Blicks und der Heterogenität der Zeiten, die eingeschrieben sind. Der erste Modus gründet das Regime der Sichtbarkeit, der zweite jenes der Visualität. Siehe zuletzt Vittoria Borsò, »Audiovisionen der Schrift«. Georges Didi-Huberman, Devant le temps. Histoire de l’art et anachronisme des images, Paris 2000, S. 126f. In kritischer Distanzierung von der Unterordnung des Traums unter den Traumgedanken durch Freuds Traumdeutung bezeichnet Michel Foucault in seiner Einleitung in die existentialistische Traumtheorie von Ludwig Binswanger die Bewegung des Traums als »Trans-descendenz«. Zentrales Moment ist dabei die Tatsache, dass wegen des Kompromisses mit der Realität und der Zensur des Unbewussten das Traumbild den ständigen Zusammenbruch der Imagination riskiert. Michel Foucault, »Einleitung«, in: Ludwig Binswanger, Traum und Existenz, Übersetzung und Nachwort von Walter Seitter, Bern/Berlin 1992, S. 7–93. Vgl. Vittoria Borsò, »Foucault und Binswanger – der Traum, der Tod und der Andere«, in: Rudolf Heinz/Wolfgang Tress (Hrsg.), Traumdeutung. Zur Aktualität der deutschen Traumtheorie, Wien 2001, S. 117–128.

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Si Godard fragmente les récits, disloque l’ordre placide des chronologies et la succession des événements, c’est pour faire sourdre, par télescopages, ces arrêts et ces reprises d’histoire: il re-monte le passé, par fulgurance, en le faisant surgir comme image, une image entendue comme phénomène originaire de présentation de l’histoire.28

Dieses Gedächtnis leistet Verschiedenes: Neben einer kritischen Reflexion über die Gleichzeitigkeit von Utopie und Katastrophe29 vollzieht es auch die Potenz der Geschichte (im Fall Godards auch der Filmgeschichte). Unmöglichkeit und Möglichkeit des Werdens blitzen dabei im Augenblick größter Gefahr auf, nämlich im Kontext des Sturmes des Krieges, wo auch das Medium Film zum Zeugen des Unsagbaren wird. Zentral ist dabei die 7. These Benjamins, nämlich dass das Erinnern die Tätigkeit eines Subjekts in Gefahr ist, und erst mit diesem Modus des Erinnerns werden auch in Zeiten des Friedens die Spuren des Sturms nicht getilgt. Es ist Jacques Rancière zufolge eine doppelte Bewegung des Vorwärtsschreitens und Zurückgehens.30 Aber diese paradoxale Bewegung verlangt eine ästhetische Deformation des Sinns der Bilder und der Klänge, die verletzen sollen, damit der Schrecken, den Godard serialisiert und der in Auschwitz gipfelt, dem Zuschauer Schmerzen zufügt. Erst dadurch zeigt sich der Schmerz des Schreckens nicht als bloße Darstellung, sondern als Verletzung des Zuschauers. Godard erreicht auf diese Weise, dass das Schrecken den Zuschauer affiziert und nicht bloß als eine dem Zuschauer externe Emotion dargestellt wird, ein Objekt für das souveräne Ich des Betrachters.31 Genau dies ist auch die Lehre der Visualität im Ausdruck des Engels der Geschichte, nämlich die Produktion von Affekten im Betrachter und in dessen Erinnerung an die Katastrophe. Der Engel, so Didi-Huberman, ist deshalb die Grundlage der Thesen der Geschichte, weil er das (schwache) messianische Moment enthält. Messianisch ist für den französischen Bildwissenschaftler die Möglichkeit, dem Anderen einen Raum zu geben, der sich der Chronologie entzieht. Nicht die teleologische und monodirektionale Geschichte, sondern jene intermittierende, zufällige und netzwerkartige Form der Erinnerung kann als eine Politik des Gedächt28 29

30 31

Didi-Huberman, Devant le temps, S. 124. In der vierten Episode zitiert Godard aus Clio. Dialogue de l’histoire et de l’âme païenne (1909) von Charles Pierre Péguy, Mitglied der französischen sozialistischen Partei und Unterstützer von Zola in der Dreyfus-Affäre: »L’histoire, sombre fidélité pour les choses tombées«, Didi-Huberman, Devant le temps, S. 22. Siehe hierzu Jacques Rancière, La fable cinématographique, Paris 2001, S. 228f. Judith Butler, »Folter und die Ethik der Fotografie«, in: Linda Hentschel (Hrsg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 203–228.

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nisses angestrebt werden, in die das Subjekt sinnlich eingespannt ist. Aufgabe der Kunst ist dabei, das Gedächtnis angesichts der Katastrophe solchermaßen umzuschreiben. Die Konvergenz französischen Denkens mit den Geschichtsphilosophischen Thesen von Benjamin war im Frankreich des späten 20. Jahrhunderts stärker, als direkte Bezüge es vermuten lassen würden. Diese Konvergenzen lassen sich gewiss aus dem Archiv französischer Künstler und Literaten erklären, aus dem Benjamin Einsichten bekommt, wie dies nicht zuletzt in der Passagenarbeit offensichtlich wird. Unter den kongenialen Ansätzen wäre die Konzeption einer Politik des Ästhetischen zu erwähnen, wie sie von Jacques Rancière vertreten wird. So distanziert sich zwar Rancière einerseits vom Benjamin des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und des Destruktiven Charakters,32 insbesondere wegen der im letzteren Essay bestehenden Ambivalenz von Kritik und Bejahung des entsetzenden Moments der surrealistischen Ästhetik, ist jedoch andererseits Benjamin sehr nahe, wenn er die utopische Rezeption der These zur Politisierung der Kunst im Sinne privilegierter pädagogischer Schemata zurückweist. Rancières Ansinnen, die pädagogische Logik von Bildern zugunsten der Erfahrung neuer Beziehungen sowie anderer Perzepte und Affekte umzudeuten, oder auch die Suche nach neuen Fähigkeiten des Einzelnen, diesen Beziehungen Ausdruck zu verleihen, ist eminent politisch.33 In neuen Formen der Sichtbarkeit kann sich nämlich auch eine mögliche Erneuerung der Politik finden, nämlich die, Gemeinschaft als ein sinnliches Gewebe zu denken, das den Raum der Macht und der Gesetze transgressiv durchkreuzt. Das ästhetische Regime einer kritischen Kunst führt eine Lücke in die Abhängigkeit des Sichtbaren vom Sagbaren, des Visuellen vom Diskurs ein. Erst dies führe zu einer anderen Verteilung des Sinnlichen. Entgegen den Banalisierungseffekten, die durch die Unterwerfung der Bilder unter das Wort der Meister entstehen, will die Politik des Ästhetischen die Aufteilung der Rollen durcheinander bringen, die das Visuelle zum Los der Massen macht und das Verbale zum Privileg einiger weniger. Die Politik der Installationen besteht z. B. darin, die Beziehung zwischen dem Visuellen und dem Verbalen neu zu verteilen, wie auch eine Politik des Ästhetischen den Ort der Körper, ihre Sichtbarkeit und die Weise des Zeigens verändern will. Es geht darum, Dissens zwischen den Formen der Sichtbarkeit der Körper, dem ihnen zugewiesenen Ort und dem 32

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Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, S. 431–470; ders., »Der destruktive Charakter«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV,1, S. 396–398. Jacques Rancière, Le partage du sensible: esthétique et politique, Paris 2000.

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Wort zu stiften, das ihnen Rechnung trägt. Dissens heißt dabei die Unterbrechung einer normierten und hierarchischen Verteilung des Sinnlichen. Darin könnte eine kongeniale Interpretation der Frage Benjamins nach der politischen Funktion von Kunst liegen, jedenfalls aber auch eine Konvergenz mit den Schlussfolgerungen, die Georges Didi-Huberman aus Benjamins Engel der Geschichte zieht.

III. Die Subversivität des Engels der Geschichte in Mexiko: Bolívar Echeverría Lateinamerika hat in expliziter Weise die Geschichtsphilosophie Benjamins als Fundament der Frage nach dem historischen Gedächtnis aufgenommen. Die Kritik des Fortschritts, aber auch speziell die 6. These zur Verschränkung von Barbarei und Zivilisation ist erwartungsgemäß auf fruchtbaren Boden gefallen. Noch interessanter für unsere Fragestellung ist die Präsenz Benjamins bei der Frage nach einem Gedächtnis der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, das der Verantwortung für die Konfigurierung des 21. Jahrhunderts angemessen ist. Im Cono Sur, nämlich in der Region Chile und Argentinien, werden etwa geschichtstheoretische Ansätze auf der Basis des Allegoriekonzeptes des Trauerspiel-Buchs narrativ und diskursiv formuliert – maßgeblich ist hier beispielsweise Idelber Avelar.34 Allegorie, Ruine und Melancholie erscheinen als notwendige Modi der Erinnerung an die Katastrophe der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, weil sie die Präsenz des Schmerzes und des Verlustes ausdrücken und damit gegen das Vergessen des Vergessens kämpfen,35 das dagegen von den sich nach 1983 (Argentinien) und nach 1990 (Chile) jeweils etablierenden neoliberalen Regimes gepflegt wird. Benjamins Engel der Geschichte hat darüber hinaus in Mexiko vielfältige kulturelle Ausdrucksformen provoziert, von geschichtstheoretischen Publi34

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Von dem brasilianischen Argentinienforscher Idelber Avelar, zur Zeit an der Tulane University, New Orleans, ist in diesem Kontext u. a. zu erwähnen: »O Pensamento da Violência em Walter Benjamin e Jacques Derrida”, in: Fabio A. Durão/ Alcides C. Santos/Maria das Graças Gomes Villa da Silva (Hrsg.), Desconstrução e Contextos Nacionais, Letras 7, Rio de Janeiro 2006, S. 239–256; ders., The Untimely Present: Postdictatorial Latin American Fiction and the Task of Mourning, Durham/London 1999; ders., The Letter of Violence: Essays on Narrative, Ethics, and Politics, New York 2004. Vgl. hierzu auch das an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in Arbeit befindliche Dissertationsprojekt von Karolin Viseneber zu zeitgenössischen argentinischen Romanen über die desaparecidos der letzten argentinischen Militärdiktatur und die im Juni 2011 in Düsseldorf abgeschlossene Dissertation von Antonia Torres, Las trampas de la nación.

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kationen bis hin zu popularkulturellen Performances, u. a. im Internet, in denen eine indirekte oder direkte Form des in Mexiko seit der Kolonialzeit bestehenden subversiv-spielerischen Umgangs mit der Figur des Engels erkennbar ist. Interessante geschichtstheoretische Anregungen, die von einer Interpretation der Ekphrasis Benjamins in der 9. These stammen, kommen von Bolívar Echeverría, dessen Begegnung mit Benjamin unter anderem im Zusammenhang mit der neobarocken Deutung der Kultur im 20. Jahrhundert zusammenhängt.36 Mit dem Titel La mirada del ángel37 publizierte Echeverría einen Sammelband zu einer von Benjamin inspirierten Gedächtnistheorie zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer längeren Einleitung und einem eigenen Essay. Bedeutsam in diesem Essay ist die Umschreibung der Katastrophe, d. h. Benjamins biographischer Katastrophe als Katastrophe der Politik, sowie die Umschreibung des Engels der Geschichte selbst. Echeverría sieht die Ohnmacht Benjamins, seine Exzentrik gegenüber jeder Ordnung, als Ausdruck einer aktiven Form der Infragestellung von Chrono- und Ethnozentrismen oder Universalismen. Wie die littérature mineure von Kafka in der Deutung von Gilles Deleuze und Félix Guattari38 ist Benjamins Exzentrik, wie die jedes Migranten, für die exkludierenden, nationalen Identitätsentwürfe und topographischen Ordnungen irritierend. So werden bei Echevarría der Engel der Geschichte und die Biographie Benjamins homologisiert und fungieren als kritischer Spiegel, den Amerika gegen das sich im Schengener Abkommen abschottende, aktuelle Europa richtet. Benjamins Denken und sein Leben werden damit zur Signatur diasporischer Formen der Identität, aus denen Bolívar Echeverría eine politische Position gegen universalistische Ontologisierungen von Kultur gewinnt. Für gedächtnistheoretische Ansätze interessant ist die klare Gegenüberstellung von Utopie als starkem Begriff und Messianismus als schwacher Kategorie. Utopie ist dem (christlich tradierten) Gedächtnis eigen, das als bewahrendes Dispositiv in einem auf die Zukunft bezogenen Perfektibilitätsmodell dient. Messianismus ist dagegen eine schwache, fragile und instabile Form des Gedächtnisses, ein Gedächtnis, das nicht in der Souveränität des Subjektes, sondern bei den Dingen der Welt, ihrer Kontingenz und Variabilität sowie Diversität liegt.39 Das hier skizzierte Gedächtnismodell vollzieht nomadische Bewegungen, die geschlossene Narrative transzendieren, ihre Formen in Frage 36 37

38 39

Z. B. Bolívar Echeverría, La Modernidad de lo barroco, México 1998. Bolívar Echeverría, La mirada del ángel, México 2005. Echeverría ist Professor für Philosophie an der Universidad Autónoma de México. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka. Pour une littérature mineure, Paris 1975. Echevarría, La mirada del ángel, S. 19.

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stellen und zum Verschwinden bringen. In einer Zeit politischer Verdrossenheit ist die politische Dimension einer ›ex-zentrischen‹ Arbeit des Gedächtnisses nicht zu unterschätzen, denn eine exzentrische Annäherung an das Politische führt die Inadäquatheit mancher Gedächtniskonzepte vor Augen. Unter diesen Prämissen ist Gedächtnis kein ›natürliches‹ oder ›organisches‹ Vermögen, wie die anthropologischen Implikate der Theorie des kulturellen Gedächtnisses und der Gedächtnisorte postulieren. Es markiert vielmehr eine Differenz zum Kontext, die Kontingenz jeder Erinnerungsform und damit die Möglichkeit der Veränderung von Gesellschaft. Unter diesen allgemeinen Prämissen greift Echeverría auf die 9. These zurück: Auch er geht auf die Diskrepanz zwischen Bild und Text ein, insbesondere zwischen der dramatischen Beschreibung im Kommentar und der enigmatischen Figur im Bild, die ruhig in der Luft schwebt. Nach Echeverría ändert Benjamin nicht nur den Namen des Angelus Novus, des Bildes von Klee, sondern auch die Bildreferenz. Diese findet Echeverría im 18. Jahrhundert. Es ist der Engel der Geschichte von Hubert-François Bourguignon, bekannt als H. F. Gravelot, und Charles-Nicolas Cochin, die Grafik, die den Namen Histoire (1791) trägt,40 zu der Benjamins Kommentar zwar eine strukturelle Ähnlichkeit unterhält, von der er sich aber auch erkennbar unterscheidet. So ist in beiden, der Grafik und dem Text Benjamins, die Geschichte durch den Engel als Mediator zwischen Gott und den Menschen repräsentiert. In dieser Grafik ist der Blick des Engels tatsächlich auf die Vergangenheit gerichtet – eine Szene der Zerstörung und des Ruins. In beiden, der Grafik und Benjamins Kommentar, ist der Engel vom Fluss der Zeit getragen. Die sprachliche Allegorie Benjamins respektiert jedoch das Hauptelement der Grafik nicht, nämlich die kontemplative Distanz des Betrachters, der zugleich Geschichtenerzähler ist und der Thukydides sein könnte, dessen Buch in der Szene enthalten ist. Ebenso wenig übernimmt Benjamin die Form der Zeit und deren Personifizierung durch den alten Mann, auf dessen Rücken gestützt der Engel die Geschichte im Lichte der Aufklärung schreibt. Die Verzeitlichung der Geschichte, eine Erkenntnis des 18. Jahrhunderts, wird hier ebenso repräsentiert wie die transzendentale Aufgabe der Histoire, das Vergehen aufzuhalten. Bei Benjamin wird die Form der Zeit mit dem Fortschritt und dessen unaufhaltsamer Zerstörung identifiziert; sie entspricht gewiss dem Modernisierungsprojekt und der kritischen Haltung Benjamins zu diesem. Denn in seiner Textallegorie kehrt der Engel dem Fortschritt den Rücken. Genau dies 40

Ebd., S. 24f.; vgl. H. F. Gravelot (Hubert François Bourguignon)/Charles-Nicolas Cochin, Iconologie par figures ou traité complet des allégories, emblêmes, etc. à l’usage des artistes, en 350 figures, Bd. II, Nachdruck der Ausgabe Paris o. J., Genève 1972, S. 7.

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liest Echeverría als politische Botschaft, die den Weg für das 21. Jahrhundert aufzeigen soll. Denn der mexikanische Intellektuelle sieht im Engel einen Rebellen gegen die Zukunftsorientierung der Sozialdemokratie,41 die den modernen Arbeiter in das Kontinuum des Fortschritts integriert hat. Der Engel hat dieser Sozialdemokratie und ihrer metaphysischen Selbstlegitimierung den Rücken gekehrt. Doch ist, wie Echeverría zu Recht postuliert, der Ekphrasis damit noch nicht hinreichend Rechnung getragen. Gegen das Zeitregime der Sozialdemokratie habe Benjamin mit seinem Verweis auf Klee ein anderes Zeitregime eingeführt. Denn während in der aufklärerischen Allegorie von Gravelot und Cochin die Zeit dem Subjekt extern ist, befindet sich im Angelus Novus von Klee die Zeitlichkeit im Subjekt; sie ist die Zeit der eigenen Erfüllung, eine Jetztzeit, die nur durch das subjektive Handeln zum Ereignis wird. Dies ist entscheidend für die Umschreibung des Engels der Geschichte durch Echeverría im Sinne eines schwachen Messianismus, nämlich einer Potenz in der Gegenwart des Subjekts, welches der Vergangenheit begegnet, um diese in der Gegenwart zu verändern. Die Zeit ist in dieser Allegorie zwar durch die Katastrophe definiert, die der Engel mit seinen erschreckten Augen betrachtet und die er mit seinen Flügeln, seinem Körper erfährt; sie ist aber durch den Widerstand des Engels vollendet, durch seinen Körper, der den Strom des Sturmes unterbricht, ja sich diesem widersetzt. Die Theologie der Geschichte, durch die Benjamin in der 1. These den historischen Materialismus durchkreuzt, ist hier das messianische Moment einer Gegenwart, die als das gefährliche Moment der Gabelung zu einer notwendigen Entscheidung erfahren wird. So lautet die politische Umschreibung des Engels der Geschichte in Lateinamerika.

IV. Italienische Metamorphosen des Engels der Geschichte: Claudio Magris Bruno Arpaia, ein neapolitanischer Journalist und Schriftsteller, publizierte als vierten Roman L’angelo della storia.42 Der Roman behandelt die letzten Tage im Leben Benjamins: In den Pyrenäen, in der Nähe von Port Bou, trifft 41

42

Benjamin folgt Karl Korsch, den er möglicherweise am 12. Juli 1934 in Svendborg bei Brecht kennengelernt hatte (vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 526) und mit dessen Kritik an der Fortschrittsmetaphysik des Marxismus er sich fortan beschäftigte (ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 605–608). Bruno Arpaia, L’angelo della storia, Milano 2001. Der Text ist 2006 auf Englisch erschienen und ist in einer neuen Ausgabe in Italien zu einem Erfolgsroman geworden. Der historische Roman Il passato davanti a noi. Per una sinistra reazionaria, Milano 2006, bezieht sich auf die Jahre zwischen 1973 und 1980.

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Benjamin Laureano Mahoio, einen Kämpfer der spanischen guerra civil, der nun Schmuggler zwischen Port Bou und Port Vendres geworden ist. Auch dieser Roman, wie andere so genannte historische Romane, gründet auf der Verflechtung paralleler Geschichten und unterschiedlicher Schicksale. Vor seinem Selbstmord übergibt Benjamin sein Manuskript Laureano mit der Bitte, es nach New York zu Adorno zu schicken. Laureano kann entkommen und erzählt nun mit 78 Jahren seine Geschichte. Idealistisch, kämpferisch, passioniert, vitalistisch, ist Laureano ein Kontrapunkt zum meditativen, melancholischen, pessimistischen Benjamin. Problematisch an diesem Roman ist die dichotomische Konzeption, die die Paradoxie von Utopie und Kritik, von Messianismus und Skepsis auflöst, die z. B. Echevarría in der ex-zentrischen Persönlichkeit Benjamins zu Recht sieht. Bei Arpaia wird vielmehr das Moment der widerständigen Aktivität des Exzentrikers nicht auf Benjamin, sondern auf die ideologische Figur von Laureano Mahoio, Vertreter der Utopie der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg, bezogen. Arpaias Roman setzt somit die alte Polarisierung des 20. Jahrhunderts zwischen starker Utopie und Katastrophe fort und bietet keinen Ausweg daraus. Auch die netzwerkartigen Formen des Gedächtnisses Laureanos, der als Exilspanier in Mexiko lebt und durch seine Erinnerungen einander fremde Intellektuelle des 20. Jahrhunderts transnational verbindet, werden durch die dichotomischen Charakterzüge der Protagonisten weitgehend aufgelöst. Die Unbestimmtheit des Engels der Geschichte wird dagegen für Agamben zum Ausgangspunkt der Umschreibung des Archiv-Begriffs, für dessen Konzeption er auf die Diskursarchäologie von Michel Foucault zurückgreift.43 Das Archiv markiert sowohl Gesagtes als auch das Nicht-Gesagte im Sinne des ausgeschlossenen Unsagbaren und Undenkbaren. Wie Deleuze setzt auch Agamben an der Verknüpfung von Sichtbarkeit und Sagbarkeit an, auch er sucht das Offene im Geschlossenen, die Spur des Unsagbaren und Unsichtbaren an der Grenze des Gesagten. Es sind die Unbestimmtheitszonen im ›tödlichen‹ Gedächtnis von Auschwitz, die die Matrix zum Stottern bringen, welche das Sagbare und das Sichtbare homologisieren. Damit werden alle verbürgten Begriffe und Gewissheiten erstmals aufs Spiel gesetzt, und gerade darin besteht die Kraft der Zeugenschaft des Unsagbaren. In Quel che resta di Auschwitz44 sind es die Grauzone des Sonderkommandos und die Orte im Lager, in denen die Banalität des Schreckens herrscht, beides Zeugen, die in der Ordnung des Diskurses keine Zeugenschaft ablegen können. Sie sind das Unsagbare an der Grenze des Gesagten, so Agam43 44

Michel Foucault, L’Archéologie du savoir, Paris 1969. Giorgio Agamben, Quel che resta di Auschwitz, Torino 1998.

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bens Interpretation des Archivs. Diese Zone verändert den Blick. Der Blick ist weder auf die Vergangenheit gerichtet, wie in der Antike, noch auf die Zukunft, wie im Christentum oder im Kommunismus aber auch im Modernisierungsprojekt, sondern auf das messianische Moment der Gegenwart. Jeder Augenblick könnte die kleine Tür zur Erscheinung des Messias öffnen. Jeder Augenblick ist eine Anrufung, sich aufs Spiel zu setzen. Dies ist gelebte Politik, auch Erinnerungspolitik – eine Erinnerung, die im Monument die Bipolarität des Unvergesslichen und des Denkwürdigen materialisiert, wie die Stelen des Holocaustmahnmals von Peter Eisenmann in Berlin. Nähern wir uns den Begriffen, die Agamben als Spur zu einer neuen Konzeption des Politischen gegen den Bann der Biopolitik angedeutet hat. Benjamins dialektisches Bild wird als bipolare Bewegung zwischen Erinnern und Vergessen, Enthüllen und Verbergen weiterentwickelt – eine Bipolarität, die Agamben »Schwelle« nennt.45 Die Überwindung von Freuds pathologischer Deutung der Melancholie durch Benjamins unwillkürliches Eingedenken rückt das Unvergessliche als eine Erinnerungsform in den Blick, die nicht danach trachtet, Vergessenes zu erinnern, die Vergangenheit vor dem Vergessen zu retten, sondern das Erinnern des Vergessens, die Rettung des Unrettbaren und des Unvergesslichen anzustreben. Dieser Umschlag ist nicht gering, führt er doch zu einem anderen (dem nach der Shoah einzig möglichen) Verständnis der Dialektik zwischen Kontingenz und deren Negation durch die absolute Notwendigkeit im Sinne der Errettung des Nicht-Gewesenen. Die Errettung des Nicht-Gewesenen ist – so Agambens Bezug zu Heideggers Sein-zum-Tode – eine Potentialität des Sprechens. Ist der Ort des dialektischen Bildes sprachlich (Benjamin), so verweist die Sprache auf eine sprachlich nicht übersetzbare Visualität. Die Visualität wird durch die Linearität des Textes unterbrochen; die Bilder unterbrechen ihrerseits die Linearität der Sprache. So tritt nach der irreduziblen Beschädigung des Subjekts durch das Trauma die aufgehobene Zeit – im Sinne simultaner Zerstörung und Bewahrung des Aufgehobenen entsprechend dem »unwillkürlichen Eingedenken« – an die Stelle der wiedergefundenen Zeit. Ausgehend vom Benjamin’schen Begriff des Kristallsplitters, in dem als Vermutung die Signatur des Gesamtgeschehens eingeschrieben ist, konturiert Agamben das letzte Zeitkonzept:46 Restzeit, die nicht-apokalyptische Zeit des Endes, die zwischen dem messianischen Ereignis und seiner Erfüllung bleibende Schwelle, die die Zeitlichkeit erscheinen lässt. Die Restzeit ist potentiell in jedem Moment der profanen Zeit als Splitter enthalten. Die Literatur 45 46

Vgl. hierzu Borsò, »Benjamin – Agamben« (siehe Fußnote 2). Vgl. Giorgio Agamben, Il tempo che resta, Torino 2000.

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sei messianisch ohne Messianismus. Für Agamben ist die Zeit des Endes der Sprache als Machtdispositiv messianisch, weil sie den Weg zur unheimlichen Bedeutsamkeit der Differenzen öffnet. Die Sprache vollendet sich insofern, als sie über sich hinausgeht und indirekt vom Unbezeugbaren zeugt. Mit dem Anhalten des Bedeutungsprozesses materialisiert sie die Mauern des Vergessens und lässt diese zur Präsenzerfahrung des Ausschließens werden. Die Indifferenzschwelle des Muselmannes und die radikale Kontingenzerfahrung des heterotopen Ortes sind die Figuren eines rettenden tödlichen Gedächtnisses. Das tödliche Gedächtnis der Katastrophe bringt so aber auch die Potenz, die Potentialität der Geschichte, hervor. Es ist eine emergente Potentialität, die ebenso Macht wie Vermögen sein könnte. Die gemeinsame etymologische Wurzel der italienischen Begriffe macht dies besonders deutlich: potere und potenza. Anders als potere (Macht) bedeutet potenza (Vermögen), die Fähigkeit oder auch die Freiheit, nicht zu entscheiden. »Nicht das Denken, sondern die Potenz zu denken; nicht die Schrift, sondern das weiße Blatt ist es, was sie [die Erfahrung des Möglichen] um keinen Preis vergessen will«,47 dies ist die Aufgabe des Erinnerns. Und dies ist das Messianische in Il tempo che resta, nämlich das Vermögen, die Gegenwart als messianische Schwelle zur Potenz, gerade angesichts der Katastrophe der Geschichte, zu begreifen. Und auf dieser Grundlage greift Agamben in Quel che resta di Auschwitz auf den Foucault’schen Archiv-Begriff zurück, um ihn jedoch umzudeuten, denn anders als Foucault betont Agamben die Unentscheidbarkeit des Archivs. Nur angesichts des Unentscheidbaren können die Demarkationen des Archivs als konkrete historische Entscheidungen der Absonderung und der Zerstörung von Leben beobachtet werden. Erst angesichts des Unentscheidbaren bezeugen sie auch die konkrete historische Entscheidung zur Todespolitik. In der Unentscheidbarkeit des Archivs liegt die Potenz der parole als Geste des Sagenkönnens. Es ist die Geste als Vermögen, auch dort Zeugenschaft des Lebens zu geben, wo die Biomacht das Leben brutal genommen hat. Diese These, die Agamben am Ende von Quel che resta di Auschwitz präsentiert, entfaltet er in Der Autor als Geste weiter.48 Wie und wo sind diese Gesten zu finden? Diese Frage führt erneut in den Bereich der Ästhetik und ihrer Politik. Diese Geste ist nicht vorgegeben; sie obliegt der subjektiven Aneignung im Gebrauch des Mediums, von dessen 47

48

Giorgio Agamben/Gilles Deleuze, Bartleby, la formula della creazione, Macerata 1993, S. 23. Giorgio Agamben, »Der Autor als Geste«, in: ders., Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, S. 57–69.

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Materialität, wo Begriffe zu Ideen werden können, oder im Prozess der medialen Übersetzung humoristisch gebraucht werden und dadurch ›Luft zum Atmen bekommen‹. Profanierung ist die Praxis des Mediums, die sich vom Zweck emanzipiert und reine Medialität wird, oder, um mit Benjamin zu argumentieren, die Praxis der reproduktiven Aneignung, die die Möglichkeiten des Mediums taktil werden lässt. Die Fiktion, die die politische Realität durch das Bild unterbricht, ist die kommende politische Funktion heutiger Sprachund Medienästhetik: »Wo die Sprache endet, beginnt nicht das Unsagbare, sondern der Stoff der Worte«49 – so die erste Miniatur von Idee der Prosa; anderswo geht es um die Stimme als das indexikalische Moment des materiellen Körpers.50 In Italien hat Claudio Magris, dem 2009 der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen wurde, mit Alla cieca,51 einem Roman, den man in die Gattung der neuen historischen Romane einreihen kann, ein herausragendes Beispiel für diese Ästhetik des Gedächtnisses angesichts der Katastrophe geliefert. Die Politik dieser Ästhetik steht ganz und gar in der Tradition von Walter Benjamin52 und führt wieder zu der ausgehend von der 9. These be49 50

51

52

Giorgio Agamben, Idee der Prosa, Frankfurt a.M. 2003, S. 17. Erst wenn sich die politische Philosophie bzw. Epistemologie der Ontologie öffnet, kann der politische Körper dem glücklichen Leben weichen, so Agamben: »Dann wird das glückselige Leben auf jenem Terrain liegen, auf dem sich der biopolitische Körper des Abendlandes bewegt.« Was Benjamin noch als Metaphysik bezeichnet, deutet Agamben zur Immanenz um. Spinoza, Nietzsche, Foucault und Deleuze sind die Philosophen der Immanenz, die Agamben literarisch verkörpert sieht. Spinozas »Idee der Glückseligkeit«, die »daran gebunden« ist, »sich selbst als immanente Ursache zu erfahren«, wird in eine Reihe mit den Prozessen der Subjektivierung nach Foucault oder mit Deleuzes Immanenz des Begehrens als »Begehren seiner selbst« gebracht. Hier kann man den Begriff Leben wagen, sagt Agamben: »In dieser neuen Dimension [der Immanenz] ist es nicht nur sinnlos zwischen organischem und animalem Leben zu unterscheiden, sondern auch zwischen biologischem und kontemplativen Leben, zwischen nacktem Leben und dem Leben des Geistes.« Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, Berlin 1998, S. 127. Claudio Magris, Alla cieca, Milano 2005, dt. Ausgabe: Blindlings, übersetzt von Ragni Maria Gschwend, München 2007. Magris hat das Vorwort zur italienischen Übersetzung von Stadtbilder geschrieben: Vgl. Walter Benjamin, Immagini di città, Enrico Ganni (Hrsg.), übersetzt von Giorgio Backhaus, Marisa Bertolini, Gianni Carchia, Enrico Ganni, Hellmut Riediger, Torino 2007. In der Laudatio auf Claudio Magris anlässlich der Preisverleihung 2009 heißt es: »Es gibt einen politischen Claudio Magris, und bei diesem kann man lesen: ›Die Schwachen müssen lernen, den Starken Angst zu machen.‹ Das ist die politische Lesart des Satzes von Benjamin: ›Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.‹« Adolf Muschg, »Laudatio auf Claudio Magris«,

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sprochenen Zäsur zwischen Sagbarem und Sichtbarem. Der Titel – auf Deutsch Blindlings – spielt auf die Blindheit der Geschichte an, die die Diversität des Lebens ausschließt, Menschenleben zerstört, ausgrenzt und zum Verschwinden bringt. Auch die Ästhetik dieses Romans konfrontiert den Betrachter mit der Unbestimmtheit des Lebens und mit dem Punkt, an dem sich die Schicksale kreuzen und die Wege verzweigen, um Jorge Luis Borges’ Erzählung über die in der Erinnerung verzweigten Zeiten und entstehenden parallelen Welten zu zitieren.53 Erst durch diese Ästhetik zeigt sich die Blindheit trennender Ordnungen in der politischen oder historischen Verwaltung des Lebens. Der Roman entfaltet die Verzweigungen, Parallelitäten, Überschneidungen und die Zweideutigkeiten des Lebens, auch des vergangenen Lebens, welche nicht definitiv aufzulösen sind. Vor diesem Hintergrund werden die gravierenden Folgerungen eines epistemologischen und politischen Regimes deutlich, das Differenzen setzt und zwischen Freunden und Feinden trennt. Dieses Regime trägt den Keim der Katastrophe in sich, nämlich die Blindheit desjenigen, der – weil er das Fernrohr ans verbundene Auge anlegt, wie Nelson in der Seeschlacht von Kopenhagen – die weiße Flagge nicht sieht. Deshalb ist die von einem solchen Regime geschriebene Geschichte mit Kriegen und gescheiterten Utopien gefüllt, wobei die Logik der Setzung von Differenzen nahtlos in den Totalitarismus jedweder Couleur umkippen kann, von Westen oder von Osten kommend – so die Signatur einer schrecklichen Seite in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Alla cieca ist die Diagnose dieser strukturellen oder topologischen Blindheit der Geschichte und lässt zugleich die durch das verbundene Auge im Dunkel gebliebenen möglichen Verzweigungen und Verflechtungen aufscheinen, die von der Doppelgänger-Struktur der Protagonisten und ihrem Ineinanderverschmelzen verkörpert werden. Anders als bei Bruno Arpaia in L’angelo della storia verflechten sich hier die Protagonisten, nämlich der engagierte, kommunistische Idealist Salvatore Cippico – Cˇ ipiko – Cipico nach dem Zweiten Weltkrieg und die kontrapunktische Figur des dänischen Abenteu-

53

www.leipzig.de/…/2001_adolf_muschg_laudatio_claudio_magris.pdf (Stand: 08. 06. 2010). Borges’ Erzählung El jardín de senderos que se bifurcan etwa impliziert eine solche topologische Analyse der Gewalt. Geschrieben 1941, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, hat diese Analyse mit dem direkten Bezug auf das Bombardement der französischen Stadt Albert durch die Deutschen im Ersten Weltkrieg ein kritisches Ethos; vgl. hierzu Vittoria Borsò, »Topologie als literaturwissenschaftliche Methode. Die Schrift des Raums und der Raum der Schrift«, in: Stephan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 279–296.

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rers Jorgen Jorgensen im 19. Jahrhunderts, insbesondere dessen heitere und anti-ideologische Humanität. Im Angesicht der Komplexität dieser Biographien, denen sich der Schriftsteller mutig aussetzt wie dem Antlitz der gefährlichen Medusa, erstarrt die Logik der Geschichte politischer Regimes der Macht in der Pose der blinden Fortuna, die kopflos zwischen Freunden und Feinden trennt. Der Triestiner Raum als Grenzstadt ist dabei ein herausragendes Laboratorium und eine Herausforderung für das Gedächtnis der Katastrophe.54 Denn in diesem Raum setzt der Souverän Grenzen und vernichtet die Mehrdeutigkeit des Lebens. Claudio Magris gelingt damit eine ebenso differenzierte wie fundamentale Diagnose, deren zentrale Momente im Folgenden zusammengefasst werden: Ein jedenfalls für die Moderne geltendes Paradigma wird erkennbar, welches das gesamte 20. Jahrhundert charakterisiert, jedoch auch in mythischen Archetypen herrscht. Blind gegenüber dem, was sie ausschließt, bringt die Logik der Grenzsetzungen das Ausgeschlossene zum Verschwinden oder buchstäblich zum Erlöschen – durch neue Formen des totalen Weltkriegs, durch Konzentrationslager, grauenvolle Folter und Gefängnisse oder auch Präventivkriege. Diese wiederkehrende Logik einer abendländischen Geschichte der Moderne, die von der Serialität der Doppelgängerfiguren aus dem 19. und 20. Jahrhunderts demonstriert wird, verleiht dem Roman von Claudio Magris auch die Erhabenheit einer historischen Tragödie, mit der sich gewiss im Text auch eine ironisch-groteske Seite paart. Aber die Politik der Ästhetik betrifft hier auch direkt die Politik der Erinnerung. Der alten aristotelischen Debatte zwischen Geschichte und Mythos eine komplexere Gestalt verleihend, stellt das historisch fokussierte Narrativ der ›Garten der sich verzweigenden Pfade‹ vielleicht die schwierigste Frage an das Gedächtnis: Von welchem Punkt im zeiträumlichen Kontinuum aus blickt man auf die Vergangenheit? Welches ist das geeignete Verhältnis von Nähe und Distanz, welche die richtige Einstellung? Für den Schriftsteller ist der Raum der Vergangenheit nicht wie für den Historiker durch die Grenzen 54

Ich verweise auf die Argumente von Claudio Magris zur Kultur der Grenzen, aber auch zum Denken und Schreiben an der Grenze: »La scrittura lavora ai confini e al loro slittamento, al momento del loro sfumare e trapassare. […] In questo senso si lotta contro dei confini, ma per instaurarne degli altri«. Claudio Magris, »Dall’altra parte. Considerazioni di Frontiera«, in: ders., Utopia e disincanto. Storie speranze illusioni del moderno, Milano 1999, S. 51–65, hier S. 62f. Vgl. Vittoria Borsò, »Claudio Magris’ Alla cieca: Blindheit und Erfindungskraft der Geschichte. Überlegungen zur Transkulturation des Historischen«, in: dies./Heike Brohm (Hrsg.), Transkulturation. Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt, Bielefeld 2007, S. 45–61.

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des Erkennbaren eingezäunt. Vielmehr ist dieser Raum durch eine unhintergehbare Exteriorität, nämlich die Alterität des Lebens, durchzogen, verstanden im Sinne von Emmanuel Levinas, auf den ich mich schon bei der Besprechung des Angelus Novus bezogen habe. Die Literatur sucht das Antlitz der Vergangenheit. Magris hat Galionsfiguren als genealogische Idee für den Roman Alla cieca gewählt. Sie sind zugleich vorgefundenes Material, deren Ornamentik die Erfindungskraft der Wirklichkeit vor Augen führt, welche den Schriftsteller übersteigt. Ihnen ist die Vergangenheit, aber auch ein prophetischer Blick auf die Zukunft eingeschrieben. Zugleich sind sie Bilder der delirierenden Phantasie des Schriftstellers, der unterwegs zum Unbekannten ist. Ein Vergleich der Bildkonstellation der Galionsfigur, insbesondere des starren Blicks in die Zukunft, mit dem durch den Wind in die Zukunft katapultierten, rückwärtsgewandten Benjamin’schen Engel der Geschichte ist produktiv.55 Am Schiff angekettet, schaut die Galionsfigur das Meer der Zukunft. Doch ist Magris’ Galionsfigur das Relikt dieser Rolle. Als Relikt ist sie das retardierende Moment der Erinnerung bei der Bewegung in die Zukunft. Tatsächlich definiert Magris Utopie nicht als eine Aufgabe und als Hingabe an das Vorgegebene, sondern als eine Motivation für den Kampf gegen die Vergangenheit, damit die Dinge sind, wie sie sein sollten. Utopie heißt »anche non dimenticare quelle anonime vittime, i milioni periti nei secoli in violenze indicibili e scomparsi nell’oblío, non registrati negli Annali della Storia universale.«56 Deshalb muss die Enttäuschung angesichts der vergangenen Katastrophe die Utopie begleiten: Il disincanto deriva dalla consapevolezza che la parusia non ci sarà, che i nostri occhi non vedranno il Messia, che l’anno prossimo non saremo in Gerusalemme, che gli dèi sono in esilio. L’Occidente vive all’insegna di questo disincanto che Max Weber ha ritratto in pagine mirabili e definitive, descrivendo la gabbia di ferro che ha imprigionato il mondo nelle maglie di una razionalizzazione inesorabile, che lo avvia e lo spinge su un binario obbligato.57

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56 57

So die Beschreibung dieser Urszene von Alla cieca durch Claudio Magris: »Der erste, unbestimmte Einfall geht auf das Jahr 1988 zurück. Ich war in Antwerpen, um ein Übersetzung von Danubio zu präsentieren, und da beeindruckten mich stark einige Galionsfiguren, die ich gesehen hatte, mit diesen jenseits gewandten, weit geöffneten Blicken, als sähen sie Katastrophen, die andere nicht sehen können«. Claudio Magris, »Alla cieca«, in: Borsò/Brohm (Hrsg.), Transkulturation, S. 23–43. Magris, Utopia e disincanto, S. 11. Ebd., S. 13.

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Die Ankunft des Messias ist ebenso wie die Apokalypse problematisch geworden. Magris lehnt das Versprechen der Erlösung oder der Entelechie von Kultur ab und schreibt den Begriff von Apokalypse um: »Apocalissi, in greco, significa rivelazione, scoprire e rendere manifeste le cose nascoste«.58 Parusie, Revelation, ist nur noch bezogen auf die Schrecken der Geschichte. Das Gedächtnis hat also die Aufgabe, das Unvergessliche vor dem Vergessen zu schützen, Bildkonstellationen zu suchen, an deren Rändern das Unsagbare aufscheint. Diese Wanderung des Engels der Geschichte durch verschiedene Kulturen zeigt etwas, das für das Thema dieses Bandes Katastrophen und Gedächtnis eminent relevant ist: Der Bindestrich zwischen Gedächtnis und Katastrophe ist nicht ›natürlich‹. Ihre Verbindung impliziert eine Politik des Gedächtnisses, die das verbindet, was von einer unhintergehbaren Differenz getrennt ist. Die verschiedenen Modelle, die wir skizziert haben, konvergieren trotz unterschiedlicher Wege, Kontexte und Positionierungen zu einem Moment, das uns vielleicht hoffen lässt: Es könnte sein, dass der Engel von Benjamin im 21. Jahrhundert nicht mehr zwischen einer vergangenen Serie von Katastrophen und einer utopischen Zukunft zerrissen ist. Dieser Engel hat einen eigenen Körper, hört seinen eigenen Rhythmen zu, ist vielleicht facettenreich fähig, in den Katastrophen der Vergangenheit die Krisen und Chancen der Gegenwart zu erkennen. Die Politik des Ästhetischen verlangt dem Subjekt gewiss Trauer, Leiden und Exzentrik ab. Aber erst die kritischen Epiphanien einer derartigen Kunst des Gedächtnisses befähigen vielleicht die Kultur zur Potenz, in der Gegenwart Entscheidungswege zu erkennen, die Widerstand und Öffnungen im Geschlossenen möglich machen.

58

Ebd., S. 17.

Die Großstadt als traumatischer Gedächtnisraum

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Alexander Honold (Basel)

Im Nervenzentrum der Katastrophe Die Großstadt als traumatischer Gedächtnisraum in Döblins Berlin Alexanderplatz

»Die Dinge in diesem Buch Berlin-Alexanderplatz vom Schicksal Franz Biberkopfs sind richtig, und man wird sie zweimal und dreimal lesen und sich einprägen, sie haben ihre Wahrheit, die zum Greifen ist.« (414)1 Worin aber besteht diese Wahrheit Franz Biberkopfs, auf die uns die auktoriale Geste des Erzählers zu Beginn des Neunten Buches so vehement hinweist? Sie scheint etwas zu sein, das erst nach wiederholter Lektüre ans Licht tritt, obwohl es doch zum Greifen nahe ist – das fordert den hermeneutischen Zirkel heraus. Etwas, das sich beim Lesen einprägt, zweimal, dreimal, und einen tiefen Abdruck, eine ebenso offenbare wie geheime Spur hinterlässt – das wiederum ruft die Analyse auf den Plan. Und doch muss das Deuten und Analysieren nicht auf eine ›eigentliche‹ Bedeutung hinter oder unter dem Roman spekulieren. Denn die gesuchte Wahrheit, so verstehe ich Döblins philologische Ermunterung zum mehrmaligen Lesen, Runde um Runde über den Alexanderplatz, diese Wahrheit ist in die ästhetische Faktur des Textes eingebettet. Sie liegt, wenn wir diesem Hinweis Glauben schenken, nicht zuletzt in der Repetition, in den vielerlei Vorgängen des Wiederholens und Durcharbeitens, denen sich nicht nur die Hauptfigur zu unterziehen hat, sondern auch der oder die Lesende. Die Geschichte selbst steckt voller Zitate und Wiederholungen. Manche historischen Ereignisse, so hat Marx in seiner Schrift über den 18. Brumaire des Louis Bonaparte eine Bemerkung Hegels aufgenommen, spielen sich zweimal ab, einmal als Tragödie, und ein zweites Mal als Farce.2 In Döblins Wallenstein ist zu lernen: Die Geschichte setzt ein, nachdem die Schlachten geschlagen sind. Denn dann beginnt ihre Wiederholung. »Nachdem die Böh1

2

Textgrundlage: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Kommentierte Gesamtausgabe, Werner Stauffacher (Hrsg.), München 2001; Zitate werden fortlaufend im Haupttext nachgewiesen. Karl Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852)«, in: Marx Engels Werke, Bd. 8, Internationale Marx Engels Stiftung (Hrsg.), Berlin 1978, S. 111–207, hier S. 115.

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men besiegt waren, war niemand darüber so froh wie der Kaiser.«3 Dieser erste Satz, ein Nukleus der Döblin’schen Wallenstein-Phantasie,4 bricht in seiner dezidierten Nachträglichkeit mit den Konventionen des Historismus. Er nähert sich der Tragödie aus der Perspektive ihrer Wiederholung als Farce. Döblin schlägt einen Erzählton an, der den Wiederholungs-, ja den Zitatcharakter der Geschichte von Beginn an als Index mit sich führt. Nach dem Krieg auf den Schlachtfeldern beginnt der in den Köpfen. Ein vierjähriger Ausnahmezustand ist zu Ende, der den Helden fernab der zivilisierten Welt festgehalten hatte, im Kasernenton unter Männern einer abstumpfenden Monotonie ausgesetzt, deren Nachhall er nun mit sich herumträgt: »In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los.« (15) Dabei sollte es doch nun eigentlich nicht losgehen, sondern zu Ende sein. »Die Geschichte vom Franz Biberkopf« beginnt, nachdem er seine Haftzeit in Tegel abgesessen hat und in die Stadt zurückkehren kann: »[D]ie vier Jahre waren um«. Es folgt allerdings ein Satz, der die Zeitverhältnisse auf den Kopf stellt und am Anfang eines mehr als vierhundertseitigen Romans von bemerkenswerter Selbstironie seitens des diensthabenden Schriftstellers zeugt: »Die Strafe beginnt.« Die Strafe, ihrerseits als juristische Replik das Echo eines Verbrechens, sollte dem Delinquenten im Gefängnis ausgiebig Gelegenheit zum reuevollen Durcharbeiten seiner Tat bieten, deren Wiederholung allerdings gerade vereiteln. Nun steckt freilich die Geschichte Franz Biberkopfs, das verrät schon ihr Anfang, voller Wiederholungen. Auf das Absitzen der Gefängnisstrafe folgt ihre Wiederkehr als Farce, die sogenannte Freiheit. Doch bleibt Biberkopfs Weg in die Freiheit, auf dem der Held mit aller Gewalt von den Tentakeln der Großstadt eingezogen wird, geradezu starrsinnig fixiert auf das, was er hinter sich hat: »Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses.« (15) 3 4

Alfred Döblin, Wallenstein, Walter Muschg (Hrsg.), München 1983, S. 9. Rhetorisch gesehen handelt es sich um eine hysteron-proteron-Struktur, denn das in Vorzeitigkeit Geschehene wird auf eine erst nachträglich nachzuvollziehende Weise vorausgesetzt. Dazu Axel Hecker: »Weder ›die Böhmen‹ noch ›der Kaiser‹ sind durch das Vorstehende (Titel und Inhaltsangabe) eingeführt; der bestimmte Artikel scheint an einen vorausgehenden Kontext anzuschließen, der de facto nicht besteht. Obendrein ist die Stellung mehr als ungewöhnlich: Die Eröffnung eines Satzes durch einen temporalen Nebensatz mit ›nachdem‹ ist nur dann üblich, wenn diese Beziehung explizit ›thematisierend‹ ist, das heißt ein durch den Kontext vorbereitetes und dann, mit dem betreffenden Satz, abgerufenes Ereignis induziert«. Axel Hecker, Geschichte als Fiktion. Alfred Döblins Wallenstein – eine exemplarische Kritik des Realismus, Würzburg 1986, S. 190; zur Textgenese des Wallenstein vgl. ebd.

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Über kurz oder lang werden andere Anstalten sich den Entlassenen holen. Unter solchem ›Wiederholungszwang‹ scheinen Haft- und Heilanstalten besonders stark zu leiden. Und erst recht Franz Biberkopf selbst. Die Wiederholung ist in seiner Geschichte omnipräsent und als Textphänomen selbst bei erstmaliger Lektüre unübersehbar. Was auf den ersten Seiten steht: die roten Mauern von Tegel, die Dächer und blanken Scheiben, die von den Häusern zu stürzen scheinen – das bleibt eben dort nicht stehen. An den Traufkanten der Berliner Mietskasernen halten sie zwar, diese Dächer, doch rutschen sie stattdessen scheinbar unkontrolliert durch die erzählte Geschichte. In einem Straßenbahnwagen der Linie 41, vom Tegeler Gefängnis bis zum Rosenthaler Platz, fährt Biberkopf durch die Stadt, die Stadt aber fährt mitten durch ihn: Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen grade. (17)

An Rilkes Malte Laurids Brigge ist bei solchen Passagen zu denken, dem die Straßenbahnen durch Hirn und Stube jagen, an das Weltende-Gedicht Jakob van Hoddis’, an Ludwig Meidner und andere, auf deren Großstadtbildern über kleinen, verängstigten Menschenleibern zerfließende Straßenschluchten zusammenschlagen. Ob der Beobachter stillhält und die Stadtkulisse an ihm vorbeirauscht, oder umgekehrt, ist kaum zu unterscheiden. Ihr Verhältnis ist nicht kontemplativer Art, sondern eines der Resonanz; ein Abgeben und Aufnehmen von Schwingungen, von überfallartigen akustischen Innervationen, deren Gewalt mit dem Begriff »Lärm« nur unzureichend beschrieben ist. In Biberkopf drinnen hallt es, da dröhnen tumultuarische Klangprozessionen von Befehlen, Ausrufen, Sinnsprüchen, unterlegt mit der obstinaten Rhythmik militärischer Marschmusik. Dieses Dröhnen muss aus ihm heraus, muss der Stadt zurückgegeben werden, da kommen ihm die engen dunklen Hinterhöfe der Sophienstraße gerade recht. In sie flüchtet Biberkopf vor dem Straßenlärm, um seine eigene Lärmschlacht zu schlagen: »Und plötzlich sang er schallend los, sang die Wände an.« Was in Biberkopf tönt und klingt, das wird umgestülpt, nach außen gekehrt, bis es die ihn peinigenden Häuserfronten zum Erzittern bringt: Von den Wänden kam der Ton wieder. Das war gut. Seine Stimme erfüllte seine Ohren. Er sang mit so lauter Stimme, wie er im Gefängnis nie hätte singen dürfen. Und was er sang, daß es von den Wänden widertönte? »Es braust ein Ruf wie Donnerhall.« Kriegerisch fest und markig. Und dann: »Juvivallerallera« mitten aus einem Lied. (18)

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Sein Singen ist »schallend«, was keineswegs tautologisch zu verstehen ist, sondern darauf abhebt, dass der Zweck unmittelbarer physischer Affektion durch die Druckwellen intentional mit dem gewählten musikalisch-poetischen Programm verbunden ist. Es geht um Bewegung, um Erschütterung von Mensch, Haus und Hof durch die schiere akustische Wucht des Biberkopf-Gesangs. Nicht von ungefähr bedient er sich patriotischen Liedgutes,5 das im zitierten Vers einen Ruf wie Donnerhall brausen lässt, d. h. auf metareferentieller Ebene die eigene akustische Rezeptionswirkung thematisiert. Marschieren und kräftig Ausschreiten lässt es sich zur Wacht am Rhein obendrein, ebenso zu dem geschmetterten Juvivallerallera-Refrain von Schwarzbraun ist die Haselnuss. Die auch im Falle Biberkopfs betonte »kriegerische« Bedeutung seiner gegen die Hauswände gerichteten Sangeskraft erinnert an die berühmte biblische Geschichte der Posaunen von Jericho. Dieses früheste schriftlich verbürgte Straßenkonzert war der belagerten Stadt in der militärischen Absicht dargeboten worden, ihre Befestigungsmauern durch den Schalldruck der eingesetzten Blechblasinstrumente zum Einsturz zu bringen. Manchmal, so belegt dieses Beispiel, sind Sang und Klang von einer Vehemenz, deren man sich nur schwer zu erwehren vermag.6 Biberkopfs Singen trifft naturgemäß nicht auf ungeteilte Zustimmung: »Laß ihn schrein, soviel er will. Laß ihn tun und machen. Aber nicht bei mir.« (20) Biberkopf singt nicht freiwillig. Wie ein gutes Jahr später sein tage- und nächtelanger Schreikrampf im Festen Haus der Psychiatrischen Klinik von Berlin-Buch, so hat auch das Singen im Hinterhof eine sowohl traumatische wie therapeutische Dimension. Er singt, weil es im Gefängnis hieß: »Alles Singen, Pfeifen, Lärmen ist verboten.« (19) Zugleich aber singt er, auf eine paradoxe Weise, auch vom Gefängnis:

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Zur Entschlüsselung der angespielten Lieder – Volks- und Marschlieder, aber auch populärer Operetten und zeitgenössischer Unterhaltungsmusik – haben Werner Stauffachers Werkkommentar und Gabriele Sanders Erläuterungen (Gabriele Sander (Hrsg.), Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1998) eine Fülle von wichtigen Hinweisen gegeben; allerdings findet sich der zum »Juvivallerallera«-Refrain gehörende Titel Schwarzbraun ist die Haselnuss in beiden Kommentaren nicht verzeichnet. Die Szene des Gesangs im Hinterhof hat Döblin in seinem Berlin-Feuilleton Östlich um den Alexanderplatz des Jahres 1923 zuerst geschildert. Sie ist eine motivische »Initialzündung« des Romans, wie Müller-Salget in seiner Studie zur Entstehungsgeschichte herausgearbeitet hat (Klaus Müller-Salget, »Zur Entstehung von Berlin Alexanderplatz«, in: Matthias Prangel (Hrsg.), Materialien zu Alfred Döblin »Berlin Alexanderplatz«, Frankfurt a.M. 1975, S. 117–135, hier S. 121).

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Der Entlassene saß allein. Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall. Er fuhr mit der Elektrischen, blickte seitlich hinaus, die roten Mauern waren sichtbar zwischen den Bäumen […]. Die Mauern standen vor seinen Augen, sie betrachtete er auf dem Sofa, betrachtete sie unentwegt. Es ist ein großes Glück, in diesen Mauern zu wohnen, man weiß, wie der Tag anfängt und wie er weiter geht. (19)

Weil die roten Mauern nicht aufhören wollen, sondern immer wieder erscheinen, und ihr disziplinär geregelter Tageslauf so viel mehr Halt gegeben hat als die Freiheit und die hohen Dächer der Großstadt – deshalb muss Biberkopf singen. Seine Lieder hat man ihm einst in einem vierjährigen Ausnahmezustand eingebläut, dessen Wirkungen tiefer sitzen als die vier Jahre Tegel. Es sind »Kriegslieder« (20), die Biberkopf singt. Weil sich aber die eingängigen Liedzeilen aus der Wacht am Rhein (1870) oder vom Uhlandschen Guten Kameraden7 aus dem Gedächtnis nicht verdrängen lassen, so oft Biberkopf auch versucht, sie hinauszusingen, durchziehen ihre Auftritte den Roman nicht minder penetrant als die Erinnerungen an Tegel. Später kommt noch die Weise vom Schnitter Tod hinzu und anderes Zitatengut. »Leitmotive«, so könnte man ihre beharrliche Wiederkehr auf den Begriff bringen, wenn es sich um ein Werk aus der Feder des bekennenden Wagnerianers Thomas Mann handeln würde. Aber in Berlin Alexanderplatz geht es nicht um die Kunst der Charakterzeichnung und ihre mehr oder minder subtilen dramaturgischen Anschubwirkungen; und auch nicht darum, einem unüberschaubaren Gewirr von Nebenfiguren für ihre weitgestreuten Auftritte jeweils ein Glöckchen umzuhängen, an dem sie dann wiederzuerkennen sind. Die Wiederholungseffekte in Döblins Roman sind von gänzlich anderer Art. Sie sind nicht beiherlaufende ästhetische Signale, welche als Lesehilfen die eigentliche Handlung kommentieren und vereinfachen. Nein, die Wiederholungen sind ein Teil des Geschehens selbst, sie strahlen auf die Figuren des Romans zurück, werden von ihnen selbst erlitten oder gar verursacht. Das Gesetz der Wiederholung ist es, das den entlassenen Biberkopf in die Ackerstraße treibt, zur Schwester jener Ida, die er vor Jahren totschlug im Affekt. Und wieder braucht er Gewalt: »Minna kann ihre Hand nicht loskrie7

Das am meisten gesungene Soldatenlied der ersten Kriegswochen bestand aus Dichtung und Volkes Stimme gleichermaßen. Den Beginn bildeten die ersten Zeilen aus Der gute Kamerad von Ludwig Uhland (1809 entstanden); aus dem Geist der Stunde dagegen wurde der Refrain hinzugesetzt, der in der zweiten und dritten Strophe gleich lautet: »Ich hatt’ einen Kameraden, / Einen bessern find’st du nit, / Die Trommel schlug zum Streite, / Er ging an meiner Seite. Gloria, Gloria, Gloria, Viktoria! / Mit Herz und Hand fürs Vaterland, fürs Vaterland!«

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gen, […] da kann man nichts machen, solche Männerarme sind aus Eisen, Eisen. Ich schrei Hilfe. Sie schrie. […] Und – sie hat richtig gesehen. Jetzt weiß sie, sie ist die Schwester von Ida, so hat er manchmal Ida angeschaut.« (39) Das nämliche Prinzip waltet in Reinholds nach gleichbleibendem Muster ablaufenden Frauengeschichten, und sogar noch in seinen schließlichen Durchbrechungen dieses Stereotyps. Mit Cilly, die er wie andere abgelegte Geliebte vor ihr an Biberkopf weitergeschoben hatte, plant Reinhold plötzlich eine »Reprise«. Bei Mieze, der neuen und so anhänglichen Freundin Biberkopfs, will Reinhold den Frauentausch in umgekehrte Richtung wiederholen und begeht dabei eine Reprise des von Biberkopf verübten Verbrechens. Dass schließlich Biberkopf wiederholt zu Reinhold zurückkehrt, der ihn erst um seinen rechten Arm, dann um die Geliebte brachte, ist nicht allein treuherziger Naivität geschuldet, sondern ebenfalls dem Prinzip, dass sich Täter wie Opfer alles zwei- und dreifach sagen lassen müssen. Und immer wieder durch dieselben Straßen laufen, an denselben Ecken stehen, in den gleichen Kneipen hängenbleiben. Die ganze Stadt ist nichts anderes als eine unendliche Wiederholung und Kopie ihrer selbst. Trotz seiner Größe ist in diesem Berlin jeder fast jederzeit wiederzufinden. »Und Franz fängt an, die Stadt zu betrachten wie ein Hund, der eine Fußspur verloren hat. Was ist das für eine Stadt, welche riesengroße Stadt, und welches Leben, welches Leben hat er schon in ihr geführt.« (387) Hier hat man keinen Lebenslauf, sondern eine topographische Legende; mit festen Markierungen im Stadtplan an jenen Plätzen und Punkten, die Zeugen früherer Abschnitte der Handlung waren: »Am Stettiner Bahnhof steigt er aus, dann zieht er die Invalidenstraße lang, da ist das Rosenthaler Tor. Fabisch Konfektion, da hab ick gestanden, ausgerufen, Schlipshalter vorige Weihnachten. Nach Tegel fährt er mit der 41.« (387) Franzens Fahrt nach Tegel nach dem Tod von Mieze ist schon eine Wiederholung der Wiederholung. Ein früheres Mal bereits war er mit der 41 nach Tegel hinaus-, oder besser gesagt: zurückgefahren, wie zur Selbstvergewisserung. Nach allem, was ihm inzwischen in der Freiheit widerfahren war, den Schicksalsschlägen durch Lüders und Reinhold, zieht die Wiederbegegnung mit Tegel eine Art Bilanz: Und Franz marschiert, er weiß nicht was er will, auf den Rosenthaler Platz zurück und steht vor Fabisch an der Haltestelle, gegenüber Aschinger. Und wartet. Ja das will er! Er steht da und wartet und fühlt wie eine Magnetnadel – nach Norden! Nach Tegel, Gefängnis, Gefängnismauer! Da will er hin. Da muß er hin. Und dann geschieht es, daß die 41 kommt, hält, und Franz steigt ein. Er fühlt, das ist richtig. Abfahrt, und fährt, und die Elektrische fährt ihn nach Tegel. […] Brunnenstraße, Uferstraße, Alleen, Reinickendorf, es ist wahr, das gibt es alles, da fährt er hinein, es steht da. (283)

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Sein höchstpersönlicher Stadtplan von Berlin ist genordet, ist auf Tegel geeicht. Auch wenn dort nur der schon hinlänglich bekannte Anblick der roten Mauern auf ihn wartet, hat die Wiederbegegnung einen Wert. Immerhin sind es Außenmauern, die er abfährt in seiner Straßenbahn; immer noch ist er frei: Und wie die roten Mauern auftauchen, links die roten Mauern, die schweren Eisentore, ist Franz stiller. Das ist von meinem Leben, das muß ich betrachten, betrachten. Die Mauern stehen rot, und die Allee zieht davor lang, die 41 fährt dran vorbei, General-Pape-Straße. West-Reinickendorf, Tegel, Borsig hämmert. (387)

Die wiederholte Rückkehr zur Strafanstalt, man könnte sie im Sinne einer erfolgreichen Resozialisierung als intensive Auseinandersetzung mit dem begangenen Unrecht deuten, und tatsächlich fällt Biberkopfs Blick dort auf das versammelte Böse: An allen Fenstern stehen Gefangene, stoßen die Köpfe gegen die Stangen […]. Da stehn Mörder, Einbruch, Diebstahl, Fälschung, Notzucht, die ganzen Paragraphen, und klagen mit grauen Gesichtern, da sitzen sie, die Grauen, jetzt haben sie Miezen den Hals eingedrückt. (388)

Weil hier das geballte juristische Regelwerk in tristen Verbrechervisagen Spalier steht, ist das Tegeler Gefängnis im Gefüge der Großstadt ein exterritorialer Raum. Es ist ein Ort der Verbringung, Verwahrung und Verdrängung und gleicht darin anderen Disziplinarmächten wie der Schule, dem Militär oder den psychiatrischen Kliniken. Je unüberwindlicher und unbeugsamer sie sich gerieren, umso länger tragen die Menschen diese Institutionen mit sich herum: »Ich – träume von der Schule wie ein anderer nach einem Unfall!« vertraute Döblin in einem autobiographischen Abriss von 1928 seinen Lesern an.8 Und aus genau diesem Grunde melden sich auch Tegels rote Mauern immer wieder zu Wort. Nicht nur als Schauplatz oder Motiv, sondern öfter noch als Chiffre eines unbestimmten Leidens, das auf ein traumatisches Erlebnis zurückgeht und dessen Auftreten mit kleinen, unkontrollierbaren Flashbacks verbunden ist: »Das Zittern läuft über ihn, ohne daß ers will. Er ist wo beim Alex auf dem Einbruch, es ist alles weg von ihm, das muß mit dem Unfall zusammenhängen, das sind die Nerven.« (296) Der Unfall jedoch, bei dem Biberkopf vom Auto überrollt wurde und anschließend seinen rechten Arm verlor, ist nicht Auslöser, sondern symptomaler Bestandteil in einer Verkettung und Verschiebung von Wiederholungsfiguren. Biber8

Alfred Döblin, »Erster Rückblick«, in: ders., Im Buch – Zu Haus – Auf der Straße, vorgestellt von Alfred Döblin und Oskar Loerke (1928), mit einer Nachbemerkung von Jochen Meyer, Marbach 1998, S. 7–126, hier S. 78.

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kopfs Neigung, dasselbe nochmals zu tun unter anderen Vorzeichen, folgt widerstreitenden Impulsen; es ist der Versuch, eine schmerzhafte Vergangenheit zu berühren, ohne ihr wirklich nahekommen zu müssen. In seinem psychiatrischen Gutachten wird ihm attestiert: »Alles wehrt sich in dem Mann, diesen Weg zurückzugehen. Der ist wie versperrt. […] Es war ein psychisches Trauma.« (445) Den Weg zurückzugehen, mit der Linie 41 retour, das bedeutet – wenn wir die Kriegsgesänge Biberkopfs ernst nehmen – eine Lektüre in Gegenrichtung: alles zurück auf die 14, zum Augusterlebnis der Mobilmachung und den vier Jahren danach. Biberkopfs Trauma ist, so haben Wolfgang Schäffner und Armin Schäfer festgestellt, nichts anderes als eine Kriegsneurose.9 In drei großen Romanen, so Schäffner, habe Döblin sein psychiatrisches Wissen dazu genutzt, Protagonisten mit traumatischen Kriegsschäden darzustellen: […] den Kriegsneurotiker Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz, der seit dem Grabenkrieg bei Arras an Anfällen leidet; Oberleutnant Friedrich Becker, der in November 1918 nach einer Granatssplitterverletzung regelmäßig in Delirien verfällt; Edward Allison, der in Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1946) einen Kamikaze-Angriff im Zweiten Weltkrieg mit hartnäckigen kriegstraumatischen Symptomen überlebt.10

Auch kleinere Prosaarbeiten wie die Ermordung einer Butterblume oder Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord bringen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zur Anschauung, die als lehrreiche Störfälle des psychiatrischen und juristischen Normalisierungsdrucks angelegt sind. Anders als empirische Personen, die sich durch Kategorien wie diejenige der verminderten Zurechnungsfähigkeit jederzeit einordnen lassen müssen, können literarische Figuren im Eigensinn ihres bizarren Erlebens verharren – und von diesem Privileg machen sie bei Döblin reichlichen Gebrauch. Auch an Robert Musils Frauenmörder Moosbrugger ist in diesem Kontext zu erinnern, wie Biberkopf ein Geschöpf der zwanziger Jahre, in dessen Krankenakte sich die verschiedensten und widersprüchlichsten Definitionen psychosozialer Devianz ein Stelldichein geben und um Moosbruggers Seele spielen.11 9

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Armin Schäfer erwähnt in seiner Untersuchung über die Anthropologie Hanns Henny Jahnns beiläufig auch Franz Biberkopf, »dessen Kriegsneurose man auf ein Gastrauma und eine Verschüttung im Graben zurückführen kann« (Armin Schäfer, Biopolitik des Wissens. Hanns Henny Jahnns literarisches Archiv des Menschen, Würzburg 1996, S. 296, Anm. 114.). Wolfgang Schäffner, Die Ordnung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin, München 1995, S. 360f. Vgl. Alexander Honold, Die Stadt und der Krieg. Raum und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München 1995.

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Immer wieder reflektiert Döblin an exemplarischen Fallgeschichten und Modellstudien die dramatischen Veränderungen auf dem Feld der klinischen und forensischen Psychiatrie. Vor 1900 hatte sich die psychologische Forschung vorrangig mit Phänomenen der Hysterie, die psychiatrische dagegen hauptsächlich mit Paranoia beschäftigt, aus deren höchst verschiedenartigem Formenkreis Kraepelin und Bleuler alsbald die neuen Ätiologien der Dementia praecox und der Schizophrenie ausgliederten.12 Döblin, der in Regensburg und Berlin mehrere Jahre in psychiatrischen Kliniken gearbeitet hatte, war mit dem Stand der Debatte bestens vertraut. In Berlin-Buch konnte er zwischen 1906 und 1908 auf einer Beobachtungsstation für Kriminelle Krankheitsformen und Behandlungsmethoden studieren, die dann als literarisches Material wiederkehren. Später waren es vor allem die sogenannten Materialschlachten an der Westfront, die Nervenärzte mit massenhaften pathologischen Befunden wie Tremor, Lähmungserscheinungen, Sprach- und Wahrnehmungsstörungen versorgten. Kriegsbedingte Neurosen, so manifest sie waren, wurden keineswegs von allen Psychiatern als Krankheitsgrund akzeptiert, im Gegenteil.13 Die nervlichen Schädigungen wurden, statt auf starke mechanische und psychische Erschütterungen etwa durch Granatexplosionen, vorzugsweise auf Fehlbildungen oder Fehlverhalten der Soldaten selbst zurückgeführt – und entsprechend forsch behandelt. Da nicht etwa Heilung, sondern die erneute Kriegsverwendungsfähigkeit oberstes Ziel war, kam es weniger auf Ursachenforschung an als darauf, die Therapie für den Patienten nicht angenehmer erscheinen zu lassen als den Fronteinsatz. Tatsächlich führten die verabreichten Elektroschocks, Hypno12

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In der 1893 erschienenen vierten Auflage von Kraepelins Lehrbuch Psychiatrie wird erstmals der Begriff der »Dementia praecox« eingeführt (vgl. Schäffner, Die Ordnung des Wahns, S. 61), der Begriff »Schizophrenie« bei Bleuler um 1908. »Die neuen psychiatrischen Verfahren und Praxen formen das ganze Material um: Die Klassifikationsgruppen ›Dementia praecox‹ bzw. ›Schizophrenie‹ übernehmen nahezu vollständig die große Anzahl der Paranoiker, die noch in den 80er Jahren die Anstalten bevölkerten.« (Ebd., S. 351). Erst bei der Kriegstagung der deutschen Psychiater 1916 in München wurde die psychogene Natur der Neurosen mehrheitlich bejaht; denn »unter dem Druck massenhafter Kriegsneurosen und dem Erfolg der hypnotischen Gewalttherapien« versprach allein diese Erklärung, die krankmachenden Verhältnisse selbst unangetastet zu lassen. Dagegen hatte Hermann Oppenheims Erschütterungstheorie des Traumas die Funktionsstörungen im zentralen Nervensystem durch ein Zusammenwirken psychischer mit mechanischen Faktoren erklärt. Dadurch wäre es möglich gewesen, »einen direkten Zusammenhang zwischen Granatexplosion, Schock und neurotischen Symptomen herzustellen, wie es das maschinale Dispositiv des Schocks nahelegt.« (Schäffner, Die Ordnung des Wahns, S. 366f.).

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sen, Scheinoperationen oder quälendes Zwangsexerzieren dazu, dass die solcherart Behandelten lieber in die Lebensgefahr der Schützengräben zurückflüchteten.14 Während der Krieg mit seinen technophysischen Effekten in der Ätiologie der Neurosen zunehmend verdrängt wurde, zog er in die Therapie selbst ein; die Behandlungsmethoden, so nochmals Schäffner, wurden »dem Geschehen auf den Schlachtfeldern immer ähnlicher.«15 Um 1920, also im psychopathologischen Nachfeld des Krieges, beschäftigen sich die Arbeiten Sigmund Freuds (Das Unheimliche, Jenseits des Lustprinzips) mit den Manifestationen von Wiederholung und Zwang, mit Stereotypen und Automatismen. Die starre Wiederholung fixierter Handlungsmuster oder die zwanghafte Wiederkehr halluzinierter Sinneseindrücke, so erkannte er, haben oft einen traumatischen Erlebniskern zum Inhalt, dessen pathogene Energien durch das beständige Umkreisen und Aufrufen zum Abklingen gebracht werden sollen. Im Zusammenhang damit entwickelte Freud eine Theorie des Schocks als plötzlicher und gewaltsamer Durchbrechung des vom Bewusstsein errichteten Reizschutzes.16 Psychischer oder habitueller Wiederholungszwang können helfen, diesen Schutzschild wiederaufzubauen; einen vergleichbaren Trainingseffekt, so ergänzte Walter Benjamin, haben die gesteigerten Wahrnehmungsintensitäten der Großstadt oder des Kinos.17 Dass es vor allem die im Weltkrieg erlittenen, schockhaften Erlebnisse waren, die zu schwersten psychischen Schädigungen führten und von ihren Patienten imaginär immer wieder durchlaufen und wiederholt werden mussten, hat Döblin in seinem bereits erwähnten autobiographischen Essay von 1928 ausführlich dargelegt: Im Krieg sind viele erkrankt nach Erschütterungen, Granatexplosionen, Bombenabwürfen. In ihren Träumen trat immer diese Situation vor sie; beängstigte sie. Warum? Es sind keine Mörder. Die Leute sucht im Traum wieder die Situation heim, die sie überrascht hat. Das ist die Gegenreaktion ihrer Seele. Sie ist erkrankt, weil sie sich damals nicht wehren konnte […]. Jetzt zaubert sie sich im Traum die Situation vor, geht sie von neuem an, und allmählich erstarkt sie daran. Der

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»Den massenhaften psychischen Störungen der Soldaten wie Tremor, Lähmungen, Aphonie, Sensibilitäts- und Sehstörungen vor allem seit dem Stellungs- und Grabenkrieg an der Westfront versuchten die Psychiater mit verschiedensten Gegenmaßnahmen zu begegnen: Hypnose, Scheinoperationen, Ströme.« (Ebd., S. 370) Ebd., S. 378. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips. Studienausgabe, Bd. 3, Alexander Mitscherlich (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1982, S. 241. Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1972/1989, S. 605–653.

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Schock heilt aus, das Gleichgewicht zwischen innerer Kraft und äußerem Stoß wird wieder hergestellt.18

Döblin selbst attestiert sich einen solchen traumatischen Wiederholungszwang für die familiäre Katastrophe des 1888 nach Amerika getürmten Vaters,19 dessen Geschichte in gleich drei divergenten Versionen repetiert wird,20 und für die jahrelangen Demütigungen während seiner Berliner Schulzeit. Das hier im autobiographischen Kontext Entwickelte hat Döblin, so meine Vermutung, durchaus im Hinblick auf die gleichzeitige Arbeit an Berlin Alexanderplatz formuliert. Die ihn zeitlebens prägende Erfahrung seiner Ankunft in Berlin nennt Döblin »gewissermaßen eine Nachgeburt«,21 und als symbolischen Vorgang einer »zweiten Geburt« hat man auch die Anfangsszene des Romans verstanden, in der die blutroten Mauern ihren Schützling entlassen und in die Stadt austreiben.22 Ein entborgenes Leben, eine Strafe beginnt. Traumatische Fixierungen lässt Biberkopf erkennen, der zwar de iure ein verurteilter Totschläger ist, de facto aber als Kriegsneurotiker in immer neuen Anläufen seine Erlebnisse im Grabenkrieg durchzuarbeiten versucht – und dies bis fast ans Ende des Romans vergeblich. Der Held selbst bringt die Gefängnis- und die Kriegsjahre als die entscheidenden Bruchstellen seines Lebens ausdrücklich in einen Zusammenhang: »Erst bei de Preußen im Graben und dann in Tegel.« (36) Doch erst mit Biberkopfs Zwangstherapierung in der Irrenanstalt Buch lockert sich die Blockade. Ein offenes Wort unter Ärzten:

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Döblin, »Erster Rückblick«, S. 78f. »Die verräterische Flucht des Vaters blieb eine nie ganz heilende Wunde, zugleich aber eine nie versiegende Quelle der Phantasie.« (Dietmar Voss, Ströme und Steine. Studien zur symbolischen Textur des Werkes von Alfred Döblin, Würzburg 2000, S. 65.) In dieser traumatischen Erfahrung des Vaterverlustes sieht Voss eine mit dem Topos des offenen Meers liierte ambivalente Faszination angelegt, die sich später in der Poetologie des Autors unbewusst Geltung verschafft habe als dominante Symbolik des Strömens, Flutens und Fließens. Trotz der negativen Besetzung des vom Vater zurückgelegten Meeres (das »väterliche« ist das »dämonische Fluidum«) verheißt das Medium des Wassers elementare Geborgenheit; »in Döblins imaginativem Universum [ist] ein Schweben in tragenden, vertrauenerweckenden Strömen die maßgebliche Figur des Glücks« (ebd. S. 68). »Du mußt ran, zum drittenmal. Du sollst noch einmal davon sprechen. – Aber was denn? Von dieser Sache? Ich hab es schon zweimal gesagt. Warum denn? – Du wirst es schon sehen, du weißt es schon, fang nur an.« (Döblin, »Erster Rückblick«, S. 28). Ebd., S. 11. Bernd Widdig, Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne, Opladen 1992, S. 160.

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Sehen Sie, Elektrizität ist schon gut, schon besser wie das Gequatsche. Aber nehmen Sie einen schwachen Strom, so nützt der nichts. Und nehmen Sie einen starken, dann können Sie was erleben. Kennt man ausm Krieg, Starkstrombehandlung, Mann Gottes. Das ist nicht erlaubt, moderne Folter. (426)

Biberkopf also darf sich mit Recht in die Schreckenswelt von 1914ff. zurückversetzt fühlen: »Und Rollen von Eisenbahnen, Kanonen krachen, Platzen der Handgranaten, Sperrfeuer, Chemin des dames und Langemarck, Lieb Vaterland magst ruhig sein, lieb Vaterland magst ruhig sein. Die Unterstände verschüttet, hingesunken die Soldaten.« (443) Die schwere Kriegsneurose durch Verschüttung des Grabens nach Granateinschlägen ist in seinem Fall unschwer zu rekognoszieren, da im Text fast schulmäßig durchgeführt. Ihr offenbares Geheimnis steht allerdings in merkwürdigem Kontrast zu der geringen Beachtung, die der Erste Weltkrieg als Hintergrund des Romangeschehens bislang erfahren hat. Es ist, als hätte die Logik der Verdrängung die Aufmerksamkeit auf allerlei bedeutsame Begleitumstände des Biberkopfschen Traumas gelenkt: sei es die schwierige Resozialisierung Haftentlassener oder die politische Polarisierung unter dem Druck der Arbeitslosigkeit, die Entwertung des Individuums im Moloch Großstadt oder die Unfähigkeit des Mannes zu gewaltfreien Liebesbeziehungen. Dass es aber für viele Sonderbarkeiten in Biberkopfs Symptomkatalog eine gemeinsame Ursache gibt, scheint dabei ein wenig aus dem Blick geraten. Dabei war der große Krieg, wie er in Europa allgemein genannt wurde, in der Literatur der späten zwanziger Jahre präsenter denn je. Die »Kriegsbücher«, Frontmemoiren und Romane über den Ersten Weltkrieg sind ein Phänomen der späten Weimarer Republik. Nachdem eine erste Welle nationalistischer Kriegsromane und Erinnerungen bereits abgeebbt war und mit Arnold Zweig (Der Streit um den Sergeanten Grischa) und Ludwig Renn (Krieg) zwei Darstellungen aus dezidiert antimilitaristischer Perspektive vorlagen, erschien im Januar 1929 mit Remarques Im Westen nichts Neues ein weiterer Roman über die Fronterfahrungen, der zum »Weltbestseller in Millionenauflagen«23 avancierte. Der Kulminationspunkt der literarischen Kriegsthematik lag also, wenn man die Vorabdrucke aus Berlin Alexanderplatz einbezieht, annähernd zeitgleich mit dem öffentlichen Auftritt Franz Biberkopfs. Ins weitere Umfeld gehören die anderen großen Zeitromane der klassischen Moderne, die auf den Epochenbruch von 1914 fokussiert sind, und zwar meist so, dass sie, wie das paradigmatisch im Zauberberg oder im Mann ohne 23

Bärbel Schrader, »Vorbemerkung« zu: dies. (Hrsg.), Der Fall Remarque. »Im Westen nichts Neues«. Eine Dokumentation, Leipzig 1992, S. 5–15, hier S. 5.

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Eigenschaften realisiert ist,24 sich der Chiffre 1914 in einem Modus des Indirekten nähern. Die feine Tischgesellschaft im Schweizer Sanatorium, der Wiener Hofadel mit seinen auf 1918 terminierten Jubiläumsverlegenheiten: Sie alle befinden sich im Vorlauf zum Kriegsausbruch, dessen »Donnerschlag« ihre Geschichte beenden wird.25 In diesen panoramatischen Werken, die sich als Anatomie einer ganzen Gesellschaft verstehen, ist die Anwesenheit des Krieges nicht auf thematischer, sondern auf symptomatologischer Ebene zu suchen. Denn die Beziehung der gesellschaftlichen Lage zum Kriege ist ebenso unabweisbar wie kompliziert, kein Fall für einsträngige Ursachenforschung oder Täterermittlung. Kunstvoll orchestrierte Vorzeichen stigmatisieren die Vorkriegsgesellschaft als moribund, nicht minder vielfältig sind die Folgespuren dieses Epochenbruchs. Die Kultur pflegt, solange sich der Krieg leise grollend in ihrem Epizentrum befindet, zu seiner Nennung und Darstellung ein tangentiales Verhältnis. Kaum irgendwo dürfte man dieses eleganter und zugleich treffsicherer ausgedrückt finden als in Hugo von Hofmannsthals 1917 entstandenem Lustspiel Der Schwierige. Dort ist nicht die schwitzende, zappelnde, derbe Spielart des Kriegsneurotikers zur Besichtigung freigegeben, sondern die subtil neurasthenische Variante. Der Protagonist Hans Karl Bühl ist ein in der misanthropischen Tradition stehender Eigenbrötler und Hagestolz, der sich beharrlich allen Versuchen seiner Verheiratung zu entziehen vermag, bis er am Ende – schließlich sind wir in der Komödie – eben doch unters glückliche Ehejoch tritt. Dieser Herr Karl nun verdankt seine mangelnde Umgänglichkeit, die ihn zum »Schwierigen« stempelt, dem Umstand, etliche Jahre »draußen« gewesen zu sein. Von seinen Kriegserlebnissen ist nie anders die Rede als in der leersten aller Paraphrasen. (Auch bei Döblin fällt mehrfach dies Schlüsselwort anathematischer Fronterfahrungen.)26 »Nach allem«, was er »draußen durchgemacht« hat, gilt Hans Karl der stets amüsierbereiten Gesellschaft teils als Spielverderber, teils als Hypochonder. Seine

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26

Ähnlich auch Josef Roths Kapuzinergruft und Hermann Hesses Demian; vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg. Zur Analogie des Zauberberg-Schlusses mit dem Alexanderplatz vgl. Helmut Koopmann, »Der Schluß des Romans Berlin Alexanderplatz – eine Antwort auf Thomas Manns Zauberberg«, in: Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien, Münster/Marbach 1989/1991, S. 179–191, der allerdings ungenau bei Döblin von der Vorahnung eines kommenden Krieges spricht. So, wenn sich Biberkopf über die Kritik seitens sozialdemokratischer Kneipenkumpane erregt: »Da habt ihr gar nichts zu sagen zu mir, […] dafür sind wir nicht draußen gewesen und haben im Graben gelegen, daß ihr hetzt« (94).

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Schrullen versteht man nicht, denn er sei schließlich, wird ihm vorgehalten, »in einer so ausgezeichneten Verfassung zurückgekommen«.27 Genau das aber ist das Problem: die Unsichtbarkeit und demzufolge Unkommunizierbarkeit mancher Kriegsfolgen; im Schwierigen nimmt die daraus resultierende Diskrepanz erheiternde Formen an. Komisch ist hier, und zwar im vollsten Sinne des Wortes, dass und wie plötzlich ein Abstand, eine Erfahrungskluft in der Gesellschaft aufreißt, die um keinen Preis überbrückt, ja auch nur besprochen werden kann. »Nach einem unglücklichen Krieg müssen Komödien geschrieben werden«, bemerkt Hofmannsthal 1921 in dem Essay Die Ironie der Dinge.28 Die Komödie ist nicht nur ein effektvolles Gegengift zum heroischen oder tragischen Pathos der Kriegsverlautbarungen und ihrem sprichwörtlichen »Ernst der Lage«, sie bringt auf verträglich-heitere Weise auch die verstörenden Aspekte der Kriegserfahrung zu Bewusstsein und gewährt durch ihre Ironisierung einen comic relief. Bei Döblin geht es offenkundig nicht ganz so heiter zu, doch auch ihm gerät die Hervorkehrung evidenter Kriegsfolgen stellenweise zur Burleske, in der Hypochondrie oder Hochstapelei das Sagen haben. Der Vater eines vermeintlich falsch oder zu spät behandelten Kindes, das im Krankenhaus verstarb, erregt sich: »Ich bin ein Krüppel, wir haben im Feld geblutet, uns läßt man warten, mit uns kann man machen.« (115) Kriegskrüppel, und solche, die es scheinen wollen, bilden durch den Roman eine Parade von derber und drastischer Komik. Da ist der schlimme Reinhold, der als Stotterer im Soldatenmantel eingeführt wird, und da ist die »Schicksalstragödie des Fliegers Beese-Arnim«, der einmal aus 1700 Metern »heruntergeschossen« wurde, so richtig aber erst nach dem Krieg abstürzt, Geld und Familienehre verliert und am Ende eine Prostituierte erschießt (303). Da sind jede Menge als Statisten auftretende Kriegsinvaliden, und da ist der durch einen Unfall gelähmte Johann Kirbach, der auf selbstfabriziertem Fahrgestell mit seinen Bildpostkarten auf Mitleidstournee geht und sein Schicksal mit dem »Ausbruch des Weltkrieges« (246) in ursächliche Verbindung bringt. Ein junger Bursche, den dieser Fall exemplarisch dünkt, redet sich in Rage:

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Hugo von Hofmannsthal, »Der Schwierige«, in: ders., Dramen IV, Bernd Schoeller (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1979, S. 337, 336. Hugo von Hofmannsthal, »Die Ironie der Dinge« (1921), in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. 2, Bernd Schoeller/Ingeborg Beyer-Ahlert (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1979, S. 138–141, hier S. 138.

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Und fängt nun im Lokal ein Geschrei darüber an und was sie auch mit seinem Vater gemacht haben, der hat einen Brustschuß, und jetzt hat er knappe Luft, aber mit einmal soll das bloß Nervenleiden sein, und die Rente haben sie ihm gekürzt, und nächstens kriegt er gar keine mehr. (246)

Unter der Last steigender Sozialausgaben werden die Folgen des Kriegs psychologisiert, individualisiert, bagatellisiert. Was einst im kollektiven Taumel der allgemeinen Mobilmachung begann, wird für die bewegungsunfähigen Krüppel plötzlich zu einer Frage der Selbstbeteiligung. Die Kneipenrunde allerdings ist sich uneins, je nach Grad der eigenen Betroffenheit: ›Puh! Die Krüppel – für die sollten sie überhaupt keinen Sechser geben.‹ ›So siehste aus. Erst rausholen inn Krieg und dann nicht zahlen.‹ ›Gehört sich ooch so, Mensch. Wenn du woanders ne Dummheit machst, kriegste du ooch nich noch was druff gezahlt.‹ (247)

Widerfahrenes Schicksal oder selbstverschuldetes Unglück, da muss man sich gar nicht entscheiden, denn für Biberkopf kommt eins zum anderen. »Die Häuser, die rutschenden Dächer, ein hoher finsterer Hof, es braust ein Ruf wie Donnerhall, juvivallerallera, so hat es angefangen.« (225) Als er dies überlegt, »ist er ein Krüppel«; wie in lapidarer Bilanz vermerkt wird: »Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen, man hat ihm einen Stoß vor die Brust gegeben, dann hat man ihn durch die Tür vor ein Auto geworfen. Das hat ihn überfahren. Sein Arm ist weg.« (226) Schon bald nach der Amputation wird Franz lernen, mit den Scherzen über seinen fehlenden Arm die Frauen zum Lachen zu bringen. Dieser negative Bildungsroman steht nicht an, den Verlust sogar als Fortschritt zu verbuchen. Denn zum verborgenen Trauma hat Franz jetzt die manifeste Verstümmelung und obendrein noch, gut sichtbar, »für besondere Feierlichkeiten« (254) ein Eisernes Kreuz, mit dem sein Leiden erstmals und vollständig als kriegsbedingt Anerkennung findet. Biberkopf ist, um hier die schöne Formulierung Ernst Blochs zweckentfremdet sarkastisch zur Geltung zu bringen, als einarmiges Kriegsopfer endlich zur Kenntlichkeit entstellt. Denn wie im Falle des Schwierigen lagen auch Biberkopfs Schwierigkeiten (und die der Gesellschaft mit ihm) hauptsächlich darin, Krieg und Trauma nicht in eine schlüssige Verbindung bringen zu können. Der Text wiederum evoziert diesen blinden Fleck dadurch, dass er die Analogie von Biberkopfs Großstadterfahrungen mit der traumatischen Zeit im Schützengraben zwar immer wieder suggeriert, aber eben nicht ausspricht. Zu den unterschwelligen Hinweisen gehört beispielsweise die Vierjahresfrist, die vom historischen ›Ereignis‹ abgelöst ihr Eigenleben führt: »Vier Jahre nach achtzehn war ich in Berlin. Länger hat vorher der ganze Krieg nicht gedauert, stimmt

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doch.« (85) Die quantitative Koinzidenz beweist nichts und ist doch ein relevantes ästhetisches Merkmal. Der von Biberkopf gezogene Vergleich indes bleibt stumpf und offenbart seine Unfähigkeit, aus den im Krieg geopferten Jahren soziale Anerkennung zu ziehen: Na, und haben wir hier was von Arras gemerkt […]? Haben gehabt Inflation, Papierscheine, Millionen, Billionen, kein Fleisch, keine Butter, schlimmer als vorher, das haben wir alles gemerkt, […] und wo ist Arras gewesen, kannst du ausrechnen an deinen eigenen Fingern. Nichts war da, wo denn? Sind bloß rumgelaufen und haben den Bauern Kartoffeln geklaut. (85)

Das ziellose Herumlaufen, dessen Motorik auch die sprunghafte Wahrnehmungsweise und den Erzählton bestimmt, charakterisiert einen depravierten Kriegsheimkehrer, der seiner Vorkriegsexistenz entfremdet ist und nirgends mehr hingehört. Mit dem rapiden Wandel der Verhältnisse, der in der Inflationszeit zusätzliche Dramatik erhielt, war den Kriegsteilnehmern der Boden unter den Füßen entzogen. Eine ähnliche Verbindung zwischen Inflation, Ortlosigkeit und Geschichtsverlust hat Walter Benjamin in seinem Erzähler-Aufsatz 1936 gezogen. Die Entwertung und Enteignung von Erfahrungen, wie sie Benjamin an der deutschen Nachkriegszeit abliest, betrifft vor allem den Umgang mit den Kriegserlebnissen selbst, in denen Erfahrungsbildung als solche grundlegend erschüttert worden war: Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber.29

Die Abwesenheit des Krieges im renormalisierten Wirtschafts- und Gesellschaftsleben macht es so schwierig, seiner traumatischen Spätfolgen habhaft zu werden. Gerade in dem Sinne ist der Krieg verloren, dass mit dem Wissen der Opfer auch seine Gewaltdimension für die Weimarer Republik abhanden gekommen ist: »Einen Krieg gewinnen oder verlieren, das greift, wenn wir der Sprache folgen, so tief in das Gefüge unseres Daseins ein, daß wir damit auf Lebenszeit an Malen, Bildern, Funden reicher oder ärmer geworden sind.«30 Die Konsequenz dieses Gedankens liegt, aus heutiger Sicht zumindest, auf der Hand: Wer den Krieg in der von Benjamin gemeinten Weise »verlo29

30

Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), S. 438–465, hier S. 439. Walter Benjamin, »Theorien des deutschen Faschismus«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), S. 238–250, hier S. 242f.

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ren« hat, der muss ihn wiederholen. Die politische Ästhetik des Döblin’schen Romans aber zielt darauf, ihn wiederzuholen, ins kulturelle Gedächtnis zurück. Berlin Alexanderplatz ist, als Großstadtroman, zugleich eine Schrift gegen die Abwesenheit des Krieges. Das betrifft nicht nur die Angstträume Biberkopfs, in deren Metaphernbestand ganze Panzerschlachten geschlagen werden: Die Welt ist von Eisen, man kann nichts machen, sie kommt wie eine Walze an, auf einen zu, da ist nichts zu machen, da kommt sie, da läuft sie, da sitzen sie drin, das ist ein Tank, Teufel mit Hörnern und glühenden Augen drin, sie zerfleischen einen, sie sitzen da, mit ihren Ketten und Zähnen zerreißen sie einen. (210)

Wichtiger, und auch strukturell belastbar, ist Döblins Entdeckung des Krieges im Großstadtbetrieb selbst; in Gestalt eines Schlachtfeldes, auf dem das Töten nie aufgehört hat: Die Eldenaer Straße entlang ziehen sich die schmutziggrauen Mauern, oben mit Stacheldraht. […] Gelbe Verwaltungsgebäude, ein Obelisk für Gefallene aus dem Weltkrieg. Und rechts und links langgestreckte Hallen mit gläsernen Dächern […]. Die Rinderhalle, die Schweinehalle, die Schlachträume: Totengerichte für die Tiere, schwingende Beile, du kommst mir nicht lebend raus. Friedliche Straßen grenzen an, Straßmannstraße, Liebigstraße, Proskauer, Gartenanlagen, in denen Leute spazieren. Sie wohnen warm beieinander, wenn einer erkrankt und Halsschmerzen hat, kommt der Arzt gelaufen. (136f.)

Inmitten der friedliebenden bürgerlichen Sekurität gibt es ein Areal, das nicht nur mit seinem stummen Kriegerdenkmal an den Weltkrieg erinnert. Es ist der ganz normale Schlachtbetrieb, der in seiner Logistik den Vergleich mit Mobilmachung und Truppentransporten, mit Materialschlacht, Schützengräben und Massensterben förmlich erzwingt, sieht man ihn mit den Augen dieser Schilderung: Aus den Provinzen rollt das Vieh ran, Exemplare der Gattung Schaf, Schwein, Rind, aus Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Westpreußen. Über die Viehrampen mähen, blöken sie herunter. Die Schweine grunzen und schnüffeln am Boden, sie sehen nicht, wo es hingeht, die Treiber mit den Stecken laufen hinterher. In die Ställe, da legen sie sich hin, liegen weiß, feist beieinander, schnarchen, schlafen. Sie sind lange getrieben worden, dann gerüttelt in den Wagen, jetzt vibriert nichts unter ihnen, nur kalt sind die Fliesen, sie wachen auf, drängen an andere. […] In Furcht klettert eins über die Leiber der andern, das andere klettert hinterher, schnappt, die unten wühlen sich auf, die beiden plumpen herunter, suchen sich. (137)

Zuletzt, als das massenhafte Töten vollbracht ist, bleibt nurmehr das reflexhafte eigenmotorische Zucken der Körperteile – auch den Ärzten der Kriegsneurotiker wohlbekannt –, während von einem Ichbewusstsein, wie es die

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kantianische Rechtsphilosophie unterstellt, bei jedweder Art von Schlachtvieh nicht die Rede sein kann: […] das Beil ist heruntergesaust, getaucht in das Gedränge mit der stumpfen Seite auf einen Kopf, noch einen Kopf. […]. Das zappelt unten. Das strampelt. Das schleudert sich auf die Seite. Das weiß nichts mehr. Und liegt da. Was machen die Beine, der Kopf. Aber das macht das Schwein nicht, das machen die Beine als Privatperson. (139)

Mehr noch als die anderen Bilder, Stimmen und Rhythmen der Stadt findet dieses Grauen von der Eldenaer Straße in Biberkopfs Angstvisionen einen Widerhall, denn er hat es selbst erlebt. Sein Delirium im Außenposten Berlin-Buch ist aus ästhetischer Sicht ein Zitat des Schlachthofs, symptomatologisch dagegen eine Wiederkehr des Schlachtfeldes: Da blitzt ein Beil durch die Luft. […] Es blitzt, es fällt, es fallbeilt im Halbbogen vorn vor durch die Luft, schlägt ein, schlägt ein, ein neues saust, ein neues saust, ein neues saust. Schwing hoch, fall nieder, hack ein, schwing hoch, schlag nieder, hack ein. (431)

Der industrialisierte Tötungsakt, d. h. die massenhafte und mechanische Verwandlung von Lebewesen in tote Waren, gibt auch bei der psychiatrischen Zurichtung von Körper und Geist den Takt vor: »Es werden auf dem Block geschlagen von seinem Körper Stück um Stück. Sein Körper schiebt sich automatisch vor, muß sich vorschieben, er kann nicht anders.« (390) Diese Reprise des Schlachthofs in einer Anstalt mit dem sprechenden Ortsnamen »Berlin-Buch« erhebt die Zerstückelung des Menschen zu einem Signum der Großstadtkultur, ja der Moderne schlechthin. Üblicherweise läuft, was hier in krudester Form ausphantasiert wird, viel alltäglicher ab, etwa bei der Einführung automatisierter Produktionstechnologien. Denn durch die funktionale Zerlegung seiner Gliedmaßen und seines Aktionsrepertoires wird der Mensch unblutig den Zielen einer fordistischen Produktionsweise eingepasst. Womit wir bei einem anderen Kriegsschauplatz der zwanziger Jahre sind. Im Zuge der Maschinisierung von Arbeitsabläufen waren schematisierte Verhaltensweisen, die in psychologischer Hinsicht als Indizien reduzierter Geistestätigkeit zu gelten hatten, durchaus erwünscht. Die Montage-Technik, als innovative Qualität der Biberkopfgeschichte vielfach hervorgehoben, kam dort, wo sie industriell angewandt wurde, durchaus nicht »mit Kleister und Schere«31 aus. Bekanntlich bestimmt das Fließband die arbeitsphysiologischen Standards der modern times, 31

So der Titel eines Aufsatzes von Jürgen Stenzel, der sich mit Döblins Arbeitsweise beschäftigt (»Mit Kleister und Schere. Zur Handschrift von Berlin Alexanderplatz«, in: Text und Kritik, 13/14: Alfred Döblin/1966, 21972, S. 39–44).

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indem es die stumpfsinnige Wiederholung immergleicher Handgriffe verlangt. Solcherart verlässliche Monotonie findet ihr romaninternes Sinnbild im dumpfen »Rumm rumm« der Dampframme am Alexanderplatz: Rumm rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. […] Rumm rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz. […] Ein Mann oben zieht immer eine Kette, dann pafft es oben, und ratz hat die Stange eins auf den Kopf. […] Viele Menschen haben Zeit und gucken sich an, wie die Ramme haut. (165)

Weil sie arbeitslos sind, können sie dem Schauspiel ihrer Ersetzung beiwohnen und bestaunen, wie im repetierten Zusammenprall von Metallgewicht und Eisenstange stellvertretend auch die Physiognomie des Menschen gezüchtigt wird: »Da stehen die Männer und Frauen und besonders die Jungens und freuen sich, wie das geschmiert geht: ratz kriegt die Stange eins auf den Kopf.« (165) Erst die brutale Vereinfachung komplexer Bewegungen sichert ihre abweichungsfreie und endlose Wiederholbarkeit. Sie rüstet den Menschen nach den Erfordernissen der Maschinenarbeit zu. Zwischen organischem Leib und maschinellen Standards vermittelt im Falle Biberkopfs vornehmlich die »Psychotechnik« des Marschierens,32 mit der das Subjekt, vermeintlich auf traditionelle Rituale des Exerzierens und der soldatischen Haltung zurückfallend, sich zur industriellen Disposition hält und damit in einen leibhaftigen Modernisierungseffekt verwandelt. Biberkopf marschiert, »mit festem Schritt, links rechts, links rechts, keine Müdigkeit vorschützen« (291f.), und unterstellt sich damit den elementaren Rhythmen mechanischer Impulse und metallischer Gebärden. Wenn der eigene Körper als Zugriffsobjekt der Maschinengewalt erlebt wird, so lassen sich umgekehrt die Baustellen des technisierten Stadtraums als Operationen an einer schmerzempfindlichen Extension des kollektiven Leibes verstehen. Besonders der Alexanderplatz, mit den Ausschachtungsarbeiten für die U-Bahn, der Verbreiterung der S-Bahn-Viadukts und der Demolition ganzer Häuserzeilen zugunsten moderner Bauquader, kann als Zentralstelle der Amputation gelten. Selbst der Volksmund macht mit und beginnt vorsorglich schon den Namen des Platzes zu amputieren: »Wind gibt es massenhaft am Alex, an der Ecke von Tietz zieht es lausig. Es gibt Wind, der pustet zwischen die Häuser rein und auf die Baugruben.« (166) Der Hölderlin-Leser Döblin aber weiß: Wo Zerfall und Leere, da wächst das Nährende auch. »Aschinger hat ein großes Café und Restaurant. Wer keinen

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Schäffner, Die Ordnung des Wahns, S. 338.

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Bauch hat, kann einen kriegen, wer einen hat, kann ihn beliebig vergrößern.« Indem er Platz schafft für Neues, entleibt der Stadtraum sich ständig selbst: An der Ecke Landsberger Straße haben sie Friedrich Hahn, ehemals Kaufhaus, ausverkauft, leergemacht und werden es zu den Vätern versammeln. […] Wo Jürgens war, das Papiergeschäft, haben sie das Haus abgerissen und dafür einen Bauzaun hingesetzt. […] Ein Müllhaufen liegt vor uns. Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du wieder werden, wir haben gebauet ein herrlich Haus, nun geht hier kein Mensch weder rein noch raus. (167)

Als Baron Haussmann in Paris brutale Schneisen durch den mittelalterlichen Stadtkern schlagen ließ, um dem rebellischen Volk die Errichtung von Barrikaden zu erschweren, inspirierte das den Dichter Baudelaire zu seiner Bestimmung der Moderne als stets transitorischen Augenblick. Auf halber Strecke zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit angesiedelt sah Baudelaire auch das Wesen der poetischen Allegorie. Döblin hatte seinen Roman zunächst mit der Haussmannisierung Berlins eröffnen wollen, dem Blick auf die Bauwut am Alexanderplatz und jene Ikone des anthropomorphen, des mythischen Berlin, die während der Niederschrift der neuen Zeit weichen musste: »Alles ist mit Brettern belegt. Die Berolina stand vor Tietz, eine Hand ausgestreckt, war ein kolossales Weib, die haben sie weggeschleppt. Vielleicht schmelzen sie sie ein und machen Medaillen draus.« (165) Nur konsequent wäre es, wenn der Umbau des Platzes die allegorische Schutzfigur in einen Rohstoff für Gedenk- oder Tapferkeitsmedaillen verwandeln würde. Wir wissen – es herrscht immer Krieg in den Städten: »So ist kaputt Rom, Babylon, Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh, denkt daran.« (167) Die Erdaushebungen erinnern nicht nur an Schützengräben, auch sie fordern ihre Opfer – jenes Pferd beispielsweise, das in der Brunnenstraße aus dem für die U-Bahnlinie angelegten Schacht befreit werden muss (241). »In den Boden rin, in die Erde rin, wo es finster ist« (21), dorthin fühlt sich auch der Kriegsneurotiker wie magisch gezogen, ohne diesem elementaren Schutzreflex nachzugeben: Mit Genugtuung wanderte Biberkopf weiter. […] Aber dann glitten seine Blicke im Ruck die Häuserfronten hoch, prüften die Häuserfronten, versicherten sich, daß sie stillstanden und sich nicht regten, trotzdem eigentlich so ein Haus viele Fenster hat und sich leicht vornüber beugen kann. Das kann auf die Dächer übergehen, die Dächer mit sich ziehen; sie können schwanken. Zu schwanken können sie anfangen, zu schaukeln, zu schütteln. Rutschen können die Dächer, wie Sand schräg herunter, wie ein Hut vom Kopf. Sind ja alle, ja alle schräg aufgestellt, die ganze Reihe lang. (131)

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Sieht Franz Biberkopf Gespenster? Jedenfalls steht er damit nicht allein da. »Warum ist alles so schlecht gebaut, daß bisweilen hohe Häuser einstürzen, ohne daß man einen äußeren Grund finden könnte.«, fragt der Protagonist einer kleinen Prosaskizze Franz Kafkas. Ich klettere dann über die Schutthaufen und frage jeden, dem ich begegne: »Wie konnte das nur geschehn! In unserer Stadt – ein neues Haus – das ist heute schon das fünfte – bedenken Sie doch.« Da kann mir keiner antworten.33

Die Begegnung von Mensch und Stadt ist ein Schock, und ihr Schauplatz ein Schlachtfeld. »Als ich mich zum Schreiben niedersetzte«, berichtet Kafka über die Entstehung der Erzählung Das Urteil, »wollte ich […] einen Krieg beschreiben, ein junger Mann sollte aus seinem Fenster eine Menschenmenge über die Brücke herankommen sehn, dann aber drehte sich mir alles unter den Händen«.34 Dieser Krieg, der so schlecht sich erzählen lässt, wird nicht von ungefähr in die Großstadt verlegt, denn in ihm kommen jene Verwerfungen zum Tragen, die das Wahrnehmungsgefüge der Menschen von Grund auf in Frage stellen. Mit den Worten Walter Benjamins: Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.35

Für Franz Biberkopf aber liegt das gemeinsame Dritte von Stadt und Krieg im unverdrossenen Marschieren, immerfort, solange die Häuserfront halten wird und die Erde ihn nicht verschlingt: »Und Schritt gefaßt und rechts und links und rechts und links, marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg, […] dem einen gehts grade, dem andern gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm« (454f.).

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Franz Kafka, »Gespräch mit dem Beter«, in: ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 1, Hans-Gerd Koch (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1994, S. 299–306, hier S. 305. Franz Kafka, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Erich Heller/Jürgen Born (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1976, S. 394 (02. 06. 1913). Benjamin, »Der Erzähler«, S. 439.

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Angelika Corbineau-Hoffmann (Leipzig)

Erinnerung in extremis oder: Die Schreibweisen des Entsetzens Reflexionen über Krieg und Kunst*

Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung. (Jüdische Glaubensweisheit)

Als die Journalistin Marta Hillers anonym ihre Tagebuchaufzeichnungen vom Einmarsch der sowjetischen Soldaten in Berlin publizierte,1 erfuhr eine erschrockene Leserschaft erstmals von jenen kollektiven Vergewaltigungen, denen deutsche Frauen aller Altersstufen seitens der Siegertruppen ausgesetzt waren. Die Verfilmung folgte,2 und das Entsetzen wuchs. Lässt sich dieser Vorgang als eine sehr verspätete Aufarbeitung der Kriegsereignisse verstehen, bedeutete die Lektüre des Buches bzw. das Anschauen des Films auch einen Impuls für das Sprechen: Erstmals wagten auch andere Frauen, ihr Schicksal, das von furchtbarer Ähnlichkeit mit dem der Autorin gewesen war, öffentlich zu verbalisieren.3 Zumal im Kontext sexueller Intimität provoziert der Schrecken nur selten den Aufschrei, sondern zumeist ein durch das Tabu induziertes Schweigen; Erinnerungen dieser Art gelangen nicht zur Sprache. Als Alexander und Margarethe Mitscherlich 1967, inmitten der Sättigungen des Wirtschaftswunders, die »Unfähigkeit zu trauern« diagnostizierten,4 * Die folgenden Überlegungen verdanken sehr viel mehr, als sich durch Zitate und konkrete Bezugnahmen aufweisen ließe, der in Deutschland (zu) wenig bekannten Schrift von Maurice Blanchot mit dem Titel: L’écriture du désastre, Paris 1980. Sie wurde erst 2005, zwei Jahre nach dem Tod des Autors, unter demselben Titel (Die Schrift des Desasters, München) von Gerhard Poppenberg und Hinrich Weidemann ins Deutsche übersetzt. Das Buch verdiente, im Zusammenhang mit den Katastrophen insbesondere des 20. Jahrhunderts, eine eigene Darstellung. 1 Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt a.M. 2003. 2 Der Film von Max Färberböck mit Nina Hoss in der Hauptrolle kam 2008 in die Kinos. 3 Vgl. Stern, Ausgabe 44/2008. 4 Alexander Mitscherlich/Margarethe Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967.

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trafen sie den Nerv der Nation. Die Feststellung, dass in der jungen Bundesrepublik die Verdrängung der Vergangenheit gleichsam generalstabsmäßig erfolgte und jede tiefere Auseinandersetzung mit Naziherrschaft und Holocaust unmöglich machte,5 betraf indes nicht nur die Faktizität der Geschichte; der Befund wies vielmehr auch auf eine Verkümmerung des Seelenlebens, einen »psychische[n] Immobilismus« hin,6 der in der Folge die Gegenwart verstellte und die Zukunft verfehlte – eine Konsequenz, kaum minder fatal als der Verdrängungsprozess selbst. Dass die Nachkriegsliteratur ihr Schweigen über den Krieg nur vergleichsweise selten brach, Heinrich Böll seinen Erstlingsroman Der Engel schwieg wegen dessen zersetzender (und doch nur den Zerstörungen einer Stadt, nicht einmal dem Geschehen auf dem Schlachtfeld geltender) Thematik nicht veröffentlichen konnte,7 wirft ein entlarvendes Licht auf die allgemeinen Strategien der Verdrängung. Ohnehin scheint das Traumatische des Zweiten Weltkrieges von einem noch größeren Trauma, dem Holocaust, übertroffen zu werden. So entstand jene aemulatio terroris, auf die Adorno mit seinem berühmten Diktum reagierte, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben.8 Es spricht für die Redlichkeit Adornos, dass er diesen Satz zurücknahm; doch letztlich vermochte er nicht, ihn auszulöschen: gesagt ist gesagt, und der ursprüngliche Ausspruch erwies sich gegenüber seiner Korrektur durch den Autor als weitgehend resistent. Im Vergleich zu dieser kollektiven Verdrängung nach 1945 bieten Literatur und Kunst bei der Bewältigung des Ersten Weltkrieges ein anderes, geradezu gegenteiliges Bild. Von diesem ersten Massenkrieg der Geschichte (in Frankreich schlüssig als Grande Guerre bezeichnet) mit seiner schon damals hoch technisierten Vernichtungsmaschinerie legen zahlreiche Kunstwerke 5

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Die Autoren sprechen von einer systematischen »Derealisierung« der Naziherrschaft (ebd., S. 35 u. ö.), um die eigene Schuld nicht anerkennen zu müssen. Die narzisstische Besetzung des ›Führers‹ verhinderte die Trauerarbeit und hätte in Melancholie einmünden müssen, wäre dem nicht, als zweifelhafter seelischer Schutzmechanismus, die »kollektive Verleugnung der Vergangenheit« (ebd., S. 40) zuvorgekommen. In diesem Zusammenhang erscheint die quasi manische Phase des Wiederaufbaus nach dem Krieg als Ersatzhandlung für die nicht vollzogene Trauerarbeit. Ebd., S. 38; auch von einer »autistischen Haltung« ist hier die Rede und mithin sogar von einem Krankheitsbild. Der Roman erschien erst 2000 bei Kiepenheuer und Witsch in Köln. Zu Adornos Ausspruch, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, seinen Implikationen und Revisionen vgl. Dieter Lamping, »Gedichte nach Auschwitz, über Auschwitz«, in: Gerhard R. Kaiser (Hrsg.), Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, S. 237–255, hier S. 240.

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mit unterschiedlichen Einstellungen Zeugnis ab – wobei freilich die Musik gegenüber der Literatur und den bildenden Künsten zurücktritt. Die fast schon zwanghafte Tendenz, sich der Erinnerung auszusetzen und das Erlebte für kommende Generationen zu bewahren, kann indes das solchem Bemühen innewohnende Risiko nicht vergessen machen. Adornos problematischer Satz gewinnt retrospektiv neue Relevanz, denn ob sich ein Trauma künstlerisch bewältigen und in eine ästhetische Form zwingen lässt, ohne dabei seine Authentizität einzubüßen, begleitet als skeptische Frage untergründig nahezu alle Bemühungen um Erinnerungsarbeit in den Künsten.9 Bei der Thematisierung des Grauens drängt sich immer der Eindruck auf, dass hier die erlebte Wirklichkeit alle Kunstfertigkeit hinfällig werden lässt, die Kunst durch die Realität überfordert ist. Und doch: dürfen die Künste schweigen? Wenn man, in Umkehrung von Adornos Diktum, gerade nach Auschwitz Gedichte schreiben muss, schließt sich die Frage an: Kann man es überhaupt, und wenn ja, auf welche Weise? Traumatische Erfahrungen versagen sich tendenziell der Erinnerung, werden verdrängt und verharren im Schweigen. Was die individuelle Seele möglicherweise schützt, schadet gleichwohl der kollektiven Erinnerung, die damit wichtiger Zeugnisse verlustig geht.10 Gelangen solche Erfahrungen dennoch zur Sprache, wird ihre künstlerische Gestaltung nicht selten zum Problem – sei es, dass in Anbetracht des Schreckens hierfür die Kraft fehlt, oder sei es, dass Ästhetisierung den Verdacht jener auch Adorno bewussten Beschönigung nährt, die das Entsetzliche solcher Erfahrungen kunstfertig zu bemänteln droht. Authentizität gerät im Bereich solch extremer Erinnerungen leicht in Widerspruch zur Kunst. Dass es sich dabei um eine inadäquate Alternative handelt, dass vielmehr die Kunst gerade durch die besonderen Mittel ihrer Ästhetik das Überleben der individuellen Erinnerung im kollektiven Gedächtnis gewährleistet, möchten die kommenden Darlegungen zeigen. Wie schwer traumatische Erlebnisse zur Sprache finden, welche diffizile Aufgabe aber auch der Literatur daraus erwächst, Ungesagtes, am Rande des Unsagbaren Befindliches dennoch der (be)lastenden Stille zu entreißen, lässt bereits die älteste uns überlieferte Tragödie erkennen, Die Perser von Aischylos. Die Seeschlacht bei Salamis, für die Griechen ein triumphaler Sieg, in 9

10

Freud zufolge besteht die Trauerarbeit darin, dass alle Libido vom verlorenen Objekt abgezogen und damit die Welt jenseits des Verlusts wieder erfahrbar werden kann. Vgl. Sigmund Freud, »Trauer und Melancholie«, in: ders., Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917, Anna Freud (Hrsg.), Frankfurt a.M. 61986, S. 429–446, hier S. 430. Vgl. Walter Kempowski, Das Echolot. Fuga furiosa, Bd. I–IV, München 1999; ders., Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch, München 2002.

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welchem die wendigen Schiffe der attischen Krieger die schwerfälligen Galeeren der Perser vernichteten, bildet für Aischylos nicht Anlass, die erfolgreiche eigene Strategie zu feiern, sondern die Folgen der Niederlage bei den Persern zu beleuchten. Dieser Blick der Sieger auf die Verlierer11 zeigt das Leiden der geschlagenen Gegner und thematisiert zugleich die Problematik, über extreme Erfahrungen zu sprechen. Wenn die Tragödie, ihrem kunstvollen Aufbau und der Würde dieser Gattung zum Trotz, im verzweifelten Stammeln ihrer Figuren am Schluss zur Auflösung tendiert, sich das Ordnungsprinzip der Sprache, so wie es im Konzept des logos immer mitgemeint ist, am Ende als so ineffizient wie hilflos erweist, entsteht ein weiter Bogen von der Kriegserfahrung des Aischylos12 bis in unsere nahe Vergangenheit. Nicht nur bei den Opfern, auch bei den Tätern gehören Kriegserinnerungen zu jenem traumatischen Soldatengepäck, das viele Kämpfer lebenslang bei sich tragen; die meisten vermögen kaum darüber zu sprechen. Wenn die Literatur dennoch, in mehr oder weniger kunstvoller Weise, solche Erinnerungen thematisiert, nimmt sie damit eine Surrogat- und zugleich Entlastungsfunktion wahr: Sie spricht, nicht minder als im eigenen, auch in fremdem Namen und kann auf dem Wege einer Verschiebung vielleicht jene seelisch entlasten, denen im Schmerz die Sprache versagt. Denn: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide«, lässt Goethe seinen Tasso sagen,13 und Hölderlin verkündet: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«14 Ob sich indes die nun zu behandelnden Autoren – Henri Barbusse und Wilfred Owen – als ›Dichter‹ bezeichnet und sogar ihr Schreiben als ›Göttergabe‹ gefeiert hätten, ist nichts weniger als ausgemacht. Auch Vorstellungen von einer solcherart genialen Größe und gesicherten Transzendenz gehören zu den Opfern der Weltkriege, verursachen zwar keinerlei körperlichen Schmerz, aber ihr Verlust kann dennoch, als indirekte Folge der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, ebenso beklagt werden wie die konkreten Konse11

12

13

14

Es handelt sich bei den Persern zugleich um den ersten imagologischen Text der Literaturgeschichte. (Zum komparatistischen Arbeitsgebiet der Imagologie vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann, Einführung in die Komparatistik, Berlin 22004, S. 195–211.) Von Erfahrung kann insofern die Rede sein, als Aischylos mit Sicherheit bei Marathon, möglicherweise auch bei Salamis und Platäa, mitkämpfte. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., 1. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 5: Dramen 1776–1790, Dieter Borchmeyer (Hrsg.), München 1988, S. 833. Friedrich Hölderlin, »Andenken«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2: Gedichte nach 1800, Friedrich Beissner (Hrsg.), Stuttgart 1953, S. 198.

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quenzen der kriegerischen Zerstörungen von Mensch und Material. Wer über die endlosen Kriegsgräberfelder im Norden und Osten Frankreichs geht, die internationalen Soldatenfriedhöfe unterhalb der Kathedrale von Orvieto oder bei Monte Cassino besucht, sieht Verlust und Erinnerung in beklemmender Gleichzeitigkeit beieinander. Über das Leiden der Kriege sprechen zu wollen bedeutet ob seiner alles Maß übersteigenden Dimensionen eine Herausforderung an die Künste. Gerade im Angesicht des Leidens müssen diese tun, was sie eigentlich nicht tun können: das Leiden aufzeichnen, es in ihrem jeweiligen Medium festhalten, damit es nicht, wie die individuelle Erinnerung, mit dem Betroffenen stirbt, sondern der kollektiven Memoria zugeführt werden kann. Diese bewahrende Funktion der Kunst ist in und nach Zeiten der Katastrophe unverzichtbar für Mit- und Nachwelt gleichermaßen. Wenn die Künste angesichts von Katastrophen tun müssen, was sie eigentlich nicht tun können, provoziert diese paradoxe Aufgabe zugleich die Frage, auf welche Weise sie das Unmögliche realisieren – mithin die Frage nach dem methodischen Instrumentarium, das diese Vorgänge zu erfassen imstande ist. Geht es aktuell um die Transformation von Geschehenem, Gewesenem, in Sprache und Schrift, bietet sich ein Begriff an, der trotz oder eben wegen seiner Unschärfe Konjunktur hat: Foucaults Diskurs. Ihm den Status eines wissenschaftlichen Konzepts im Bereich der Künste zu verweigern, gibt es viele Gründe, darunter vor allem, dass Diskurs institutionalisierte Redeformen bezeichnet, über deren Reinheit Machtstrukturen und -apparate wachen.15 Obschon die Künste sich solchen Zwängen nicht generell widersetzen (können), gilt doch für ihre zeitresistenten Zeugnisse, dass sie eher Brechungen von Diskursen als deren Anwendung bzw. Bestätigung darstellen. Foucault selbst, wenngleich in Kunstdingen wenig bewandert, fasst denn auch die Literatur als contre-discours auf.16 Ein anderer Begriff, von einem mit Kunst Vertrauten geprägt, erscheint geeigneter, die spezifische Individualität künstlerischer Produktion zu erfassen: Barthes’ écriture. Trotz der Begriffsschwankungen im Barthes’schen Œuvre17 kristallisiert sich der systematische Ort der écriture durch ihre Posi15

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17

Hierzu vor allem Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, Kap. II: »Die diskursiven Regelmäßigkeiten« (S. 31–112). Die Unschärfe des Diskursbegriffs kritisiert zu Recht Manfred Frank, »Zum Diskursbegriff bei Foucault«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hrsg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 25–43. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, S. 76f. Vgl. hierzu: Richard Brütting, Écriture und Texte. Die französische Literaturtheorie nach dem Strukturalismus, Bonn 1976, S. 59–72.

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tion zwischen dem ganz persönlichen ›Stil‹ eines Autors und dem Regelwerk der Sprache (mit Saussure: »langue«) heraus. Eingerahmt von der weitgehend ungehemmten Freiheit des Stils auf der einen, den verpflichtenden Normen der Sprache auf der anderen Seite, entsteht das Zwitterwesen écriture, das sowohl individuellen Ausdruck als auch die gleichsam gebundene, durch Traditionen und Regeln mitbestimmte Rede ermöglicht: Langue et style sont des formes aveugles; l’écriture est un acte de solidarité historique. Langue et style sont des objets; l’écriture est une fonction: elle est le rapport entre la création et la société, elle est le langage littéraire transformé par sa destination sociale, elle este la forme saisie dans son intention humaine et liée ainsi aux grandes crises de l’Histoire.18

Und wenn Barthes fortfährt: »l’écriture est […] essentiellement la morale de la forme«,19 wird der Bezug zu unserer Fragestellung vollends evident. Falls es kein die écriture steuerndes Paradigma gibt, treten persönliche Erfahrungen mit Spuren oder Ingredienzien künstlerischer Traditionen zusammen, um gleichsam im Verein die Synthese des Verschiedenen herbeizuführen. Für die Verfasstheit einer solchen écriture sollen die nun zu behandelnden Zeugnisse ein Beispiel bilden. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs, die Jahre unmittelbar davor und danach eingeschlossen, stellt sich die Kunst der Realhistorie und ist mit der Lebensgeschichte der Künstler aufs Engste verwoben – nicht ohne Folgen, verliert doch durch diesen Pakt der Kunst mit der Wirklichkeit Kants Konzept der »Interesselosigkeit des Wohlgefallens« ebenso an Bedeutung wie die seit der Spätaufklärung tragende Vorstellung von der Autonomie der Kunst: die Kunsttheorie wird durch die Realitätserfahrung überholt. Für die Literatur, in ihrer belletristischen Ausformung weitgehend durch die Fiktion definiert,20 führt ein solches Gewicht des Wirklichen zu einer Infragestellung ihrer Grundlagen: Ist angesichts der Katastrophe und im Zeichen authentischer Erinnerungskultur die Fiktion noch zu halten? Oder muss sie nicht ihren Kunstanspruch an die Wirklichkeit abtreten mit der Folge, dass er in sich zusammenfällt? Die aufgeworfenen Fragen, nur zwei von vielen möglichen, sollen die folgenden Überlegungen leiten; dass dabei nicht nur die Literatur im Fokus der Fragestellung steht, sondern auch die ›anderen‹ Künste, Male18

19 20

Roland Barthes, »Le degré zéro de l’écriture«, in: Œuvres complètes, Bd. I: 1942–1965, Éric Marty (Hrsg.), Paris 1993, S. 139–187, hier S. 147. Ebd., S. 147f. Genette versteht die Fiktion als performativen Sprechakt und sieht in der Literatur die Erschaffung imaginärer Welten am Werk – zumindest in diesem Verständnis ist die Kriegsliteratur nicht der Fiktion zuzurechnen. (Vgl. Gérard Genette, Fiktion und Diktion, München 1992, bes. S. 41–65: »Die Fiktionsakte«.)

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rei und Musik, mit befragt werden, wirft schon jetzt ein bezeichnendes Licht auf die Herausforderungen der Thematik. Bei Otto Dix kann von einer écriture allenfalls im weitesten Sinne die Rede sein. Wenn der Krieg ins Bild gesetzt wird – als Erfahrung und Erinnerung – ist es bei Dix weniger die Schrift als jene Technik in Schwarz-Weiß, die sowohl die frühen, noch während des Krieges entstandenen Zeichnungen als auch die grafische Folge Der Krieg, bestehend aus fünfzig Radierungen in fünf Mappen, prägt. Zusammen mit Gemälden wie Schützengraben (das Bild ging im Zweiten Weltkrieg verloren), Die Kriegskrüppel oder dem Triptychon Der Krieg (1929–32) bildet dieser 1924 entstandene Zyklus das Zentrum der Dix’schen Anstrengungen, das Kriegstrauma durch künstlerische Gestaltung zu bewältigen: »Die Trümmer waren fortwährend in meinen Träumen«, schrieb er.21 Aus den Datierungen ist ersichtlich, welch langen Zeitraum diese Bewältigung einnahm. Dix hatte sich freiwillig als Soldat gemeldet, um das »elementare Ereignis Krieg« nicht zu versäumen, kam im Grabenkrieg Nordfrankreichs zum Einsatz und wurde mehrfach verwundet. 1917 kämpfte er in Russland, im Herbst 1918, kurz vor Kriegsende, meldete er sich noch zur Luftwaffe. Das Weihnachtsfest desselben Jahres feierte er dann zu Hause in Gera. Dix hat den Ersten Weltkrieg bis zum Ende durchgemacht und während dieser Zeit auch Porträts von Kriegskameraden gemalt sowie das Leben im Felde zeichnerisch festgehalten. Für Dix war der Krieg nicht nur eine persönliche Erfahrung als Soldat, sondern auch eine künstlerische Herausforderung, die dem jungen Künstler die Beschränkungen seiner bisherigen Techniken bewusst machte. Die Darstellungen aus dem Krieg tragen die gleichsam doppelte Signatur von Erfahrung und Experiment; beides kann in nahezu gleichem Maße als existenziell verstanden werden. Die Situation des Krieges fordert zu ihrer künstlerischen Umsetzung rasch einsetzbare und unkomplizierte Techniken: Dix verfügt seiner Natur nach über eine stupende Begabung als Zeichner, seiner Ausbildung nach aber kaum über die dem Gegenstand ›Krieg‹ angemessenen Ausdrucksmittel. Seine Gouachen wie z. B. Leuchtkugeln von 191722 (Abb. 1) zeigen zwar jene Zerrissenheit der Darstellung, die der Kriegsthematik adäquat ist, sind aber ihrem technischen Ansatz nach der extremen Gewalt des Gegenstandes nicht gewachsen.

21

22

Zit. bei Fritz Löffler, Otto Dix. Leben und Werk, Dresden 1982 (erw. Ausgabe der Erstauflage Dresden 1960), S. 68. Löffler, Otto Dix, Abbildungsteil, Nr. 14.

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Abb. 1: Otto Dix, Leuchtkugeln (1917)

Die Gemälde Das Geschütz (1914)23 (Abb. 2) oder Selbstbildnis als Mars (1915)24 stehen deutlich unter dem Einfluss des Futurismus, der im Hinblick auf Krieg und (Waffen-)Technik, anders als Dix, geradezu euphorische Bewertungen vornahm und zwar ideologisch, aber offensichtlich nicht technisch als Vorbild versagt. Der junge Maler muss weiterlernen, um das sowohl persönliche als auch künstlerische Kriegstrauma zu bewältigen: Während seiner Ausbildung an der Dresdner Kunstakademie entdeckt er den Expressionismus. Wenn Dix 23 24

Ebd., Nr. 8. Ebd., Nr. 9.

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Abb. 2: Otto Dix, Das Geschütz (1914)

erst jetzt zu einer größeren Arbeit über den Krieg ausholt, verbinden sich damit Entdeckung und Erinnerung. Die zahlreichen Bleistiftskizzen aus dem Krieg bilden Gedächtnisprotokolle für eine Serie von Zeichnungen, die Dix 1923/24 aus der Erinnerung anfertigt und die ihrerseits Vorstudien sind für das Radierungswerk Der Krieg. Entgegen allen Erwartungen – es herrscht Inflation, Dix ist noch weitgehend unbekannt – wird die Veröffentlichung von Der Krieg in fünf Mappen mit je 10 Radierungen ein großer Erfolg; vor allem die Buchausgabe findet weite Verbreitung. Es ist nicht nur die künstlerische Qualität des Werkes oder die publizistisch kluge Entscheidung, es in Auswahl als Buch preisgünstig auf den Markt zu bringen, die zum Erfolg führt; auch die Rahmenbedingungen scheinen der Rezeption günstig zu sein, ist doch in Deutschland die Problematik des verlorenen Krieges noch keineswegs be-

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wältigt. Für unsere Frage nach der künstlerischen Gestaltung der Kriegsgräuel und den Bedingungen dafür, dass bestimmte Zeugnisse nicht nur als Dokumente, sondern auch als Kunstwerke Erinnerungsfunktion innehaben, ist die Reaktion der Süddeutschen Zeitung auf die Publikation von Der Krieg besonders signifikant: Aus der zeitgenössischen Kunst gibt es keine Schöpfung, die das apokalyptische Gesicht und die nackte Grimasse des Krieges mit gleicher Intensität und Unmittelbarkeit gestaltete. Das Stoffliche dieser Gesichte wäre unerträglich, hätte nicht eine große Gestaltungskraft das Grauen in künstlerische Formen gebannt.25

Bei allem Schrecken des Dargestellten ist Lob der Gestaltung klar vernehmlich und führt in der Folge zu der Behauptung, dass allererst die »Gestaltungskraft« in der Lage sei, das Unerträgliche der Thematik zu sublimieren. Dieser Gedanke setzt die sich aufdrängenden und oftmals formulierten Bedenken, Kunst könne angesichts ihrer notwendig ästhetischen Ausrichtung nicht anders, als auf letzthin unredliche Weise den Schrecken des Krieges zu verharmlosen, außer Kraft: Offenbar bedarf es im Gegenteil gerade der künstlerischen Gestaltung, damit der Mensch jenem Entsetzen ins Gesicht sehen, seine Erinnerung an das Furchtbare überhaupt ertragen kann. Selbst für eine Nachwelt, die den Krieg nicht aus eigener Erfahrung kennt, wird diese Leistung der Kunst keineswegs obsolet. Führt die bloße Konfrontation mit dem Entsetzlichen entweder zur Desensibilisierung oder dazu, dass der Leser oder Betrachter sich abwendet, weckt dessen künstlerische Gestaltung auch bei jenen Interesse, die über entsprechende Erfahrungen nicht verfügen. Zwar wäre die These, allein die Kunst ermögliche die Erinnerung der Nation(en), allzu kühn; dennoch haben die Künste einen erheblichen Anteil daran, dass eine kollektive Memoria überhaupt entsteht. Denn sie bewahren das Geschehene nicht nur – sie gestalten es auch. Um anzudeuten, auf welche Weise dies bei Dix erreicht wird, sollen hier exemplarisch einige Blätter untersucht werden. Der Krieg lässt die Menschen, aber auch die Natur gegenüber der gewohnten Art anders erscheinen. Auf dem Titel der Buchausgabe ist, beherrschend im Vordergrund, ein durch eine Gasmaske geschützter Soldat zu sehen, der wie zum Schlag die rechte Hand erhoben hat (Abb. 3). Ein Kriegsheld? Kaum, ist doch das durch die Maske weiß erscheinende Gesicht mit den leeren Augenhöhlen zur Fratze entstellt, der wie zur Bekräftigung im Hintergrund zwei weitere, ebenfalls mit Gasmasken versehene Soldaten beigegeben sind. Die Formation der Truppe bleibt ebenso unkenntlich wie die 25

Zit. ebd., S. 71.

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Abb. 3: Otto Dix, Titelblatt von Der Krieg (1923/24), Ausschnitt aus Blatt 23

Handlung selbst – Maschinerie des Krieges oder, mit einer zynischen Formulierung, Menschen-Material. Der nur am rechten Bildrand zu erkennende dritte Soldat ist weniger entfernt als vielmehr schon nahezu ausgelöscht, der hinter dem Helm des ersten ebenfalls nur im Umriss dargestellte Arm erscheint wie abgetrennt, gehört vielleicht einem anderen. Bei der soeben kommentierten Darstellung handelt es sich um einen Ausschnitt aus Blatt 23, vom originalen Quer- auf das Hochformat des Titels gebracht (Abb. 3). Primär mögen pragmatische Erfordernisse die Veränderung des Blattes bewirkt haben – und doch ist sie signifikant. Der Ausschnitt akzentuiert die Sinnlosigkeit der Kampfhandlung, stilisiert die Soldaten vollends zu Statisten eines grotesken Szenarios und steht damit exemplarisch für die Konzeption des Werkes insgesamt. Fragmentarität, Zersetzung und Ent-

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Abb. 4: Otto Dix, Verwundeter (1916)

stellung bilden die traumatischen Leitmotive des Zyklus26 und reflektieren die in concreto wechselnden, ihrer schrecklichen Natur nach aber stets identischen Erscheinungsformen des Leidens im Krieg. Der Sterbende Soldat (Blatt 2) hat Einheit und Zusammenhang eines Körpers eingebüßt: In die rechte Gesichtshälfte wurden drei Löcher gerissen, der rechte Arm, perspektivisch übergroß dargestellt, trägt eine tiefe Wunde und erscheint wie abgelöst vom Rest des Körpers. Das Schwarz-Weiß der Radierung hebt die noch intakten Teile hell hervor, während die dunkel gestalteten Verletzungen gleichsam zurücktreten und sich mit der nur schemenhaft angedeuteten Umgebung (Blätter am rechten Bildrand) verbinden. Die im Zyklus allenthalben bemerkbare Signatur des Schauders, deutlich auch in der Darstellung Verwundeter (Herbst 1916 bei Bapaume), kann als Folge jenes Erschreckens gedeutet werden, das die Welt zerschellen lässt oder sie im Zustand des Zerrissenseins wahrnimmt (Abb. 4). Aus den Teilen ergeben sich indes auch neue Konstellationen und künstlerische Aussagen über die historisch-konkreten Gegebenheiten hinaus. So zeigt Blatt 20, Totentanz Anno 1917 auf Höhe Toter Mann, eine Szenerie, die 26

Trotz der oftmals unreflektierten Übernahme des musikalischen Terminus Leitmotiv wird der Begriff hier verwendet, weil ihm ähnliche dramaturgische Funktionen zukommen wie im Musikdrama Wagners.

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erst auf den zweiten Blick als Ansammlung von Körpern erkennbar ist. Entgegen dem mit der Vokabel »Totentanz« aufgerufenen Modell27 findet weder ein Reigentanz statt, noch tritt der Tod als Tänzer auf; die historische Reminiszenz bleibt schwach, geht es doch um etwas anderes als die Wiederaufnahme eines tradierten Paradigmas, nämlich um die Übertragung, Überhöhung des Kriegsgeschehens in eine tendenziell abstrakte Hell-Dunkel-Komposition, deren scharfe Kontraste an die Leuchtfeuer des Krieges erinnern. Dix gelingt es in zahlreichen Blättern des Zyklus, zwischen Motiv und Darstellung gleichsam eine Bruchlinie zu legen, so dass ein glattes Hin- und Herschalten zwischen beiden nicht mehr gelingt. Die Zerstörung des Krieges betrifft auch das Verhältnis der Kunst zu ihren Gegenständen, das nicht harmonisch ist, sondern in sich gebrochen und dissonant. Dennoch kündigt sich auch eine Versöhnung an. Das letzte Blatt der Buchausgabe, Tod und Auferstehung, zeigt einen gefallenen Soldaten wie auf dem Totenbett liegend; im Hintergrund sieht man Blumen wachsen. Das Hinmorden des Krieges gewinnt hier eine andere, transzendente Dimension, den Trost der Auferstehung. Doch nicht nur der Hinweis auf die christliche Erlösungsgewissheit transponiert die Darstellung des Toten auf eine andere Ebene, sondern auch die im Hintergrund aufragenden Pflanzen. Wo der Mensch Zerstörung sät, garantiert die Natur stete Erneuerung. Für die Buchausgabe von Der Krieg verfasste Henri Barbusse ein nicht paginiertes, dem Band beigelegtes Vorwort. »Man sage nur nicht,« schreibt er darin, »dass er [sc. Dix] übertreibe. […] Man kann den Krieg gar nicht übertreiben.« Dessen Schrecken, Grauen oder Gräuel – so die Worte von Barbusse – finden die Form einer Sprache der Gewalt,28 welche als letzte Konsequenz den Wahnsinn, mithin das ›Versagen‹ der Vernunft hervorbringt. Denn was Dix gestaltet, ist kein individueller Angsttraum, sondern die kollektive Wahrheit der Erfahrung. Damit sie überhaupt fassbar und in einem elementaren Sinne erträglich wird, muss sie von der Kunst gestaltet und ipso facto sublimiert werden. Als Erfahrung allein bliebe die furchtbare Wirklichkeit des Krieges »unsagbarer noch als diese tragische Reihe von Bildern«. Begriffe wie versagen und zerbrechen suchen ein Geschehen zu benennen, das die lebendigen Leiber der Soldaten »zerquetscht, verschüttet«, zerreißt, deren 27

28

Einen interdisziplinär ausgerichteten Überblick über dieses Genre vermittelt der Band von Franz Link (Hrsg.), Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Berlin 1993. Hierzu Angelika Corbineau-Hoffmann, »Die Bewaffnung der Worte. Aspekte der Sprachgewalt in moderner Lyrik«, in: dies./Pascal Nicklas (Hrsg.), Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt. Beispiele aus philologischer Sicht, Hildesheim 2000, S. 191–228.

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Waffen nicht mehr Pfeil und Schwert sind, gestaltete Gegenstände mithin, sondern »unförmige Brocken gezackten Eisens, Gas, Feuer, Gift«. Wie bei einer gigantischen Explosion hat der Krieg Natur und Mensch in Teile gerissen, Fragmente hinterlassen, wo vorher Ordnung und Ganzheit herrschten. Die Dimensionen der Zerstörung übersteigen jede Vorstellbarkeit, destruieren den menschlichen Verstand und nähern sich einer Abstraktheit an, gegen welche die Kunst, so möchte man Barbusse weiterdenken, ihrerseits ankämpft – siegreich zumindest in Teilen. Denn einige der Blätter von Dix zeigen Szenen des Krieges, die zwar bei näherem Hinsehen ihre Details erkennen lassen, als Gesamtbilder aber anmuten wie abstrakte Kompositionen: doppelte Lesart einer écriture der Tiefe.29 Das Vorwort von Barbusse in die Betrachtungen einzubeziehen bedeutet nicht nur, den Darstellungen von Dix eine prominente Lesart anzufügen, sondern auch der Geschichte einen Tribut zu erweisen, denn der Verfasser war selbst, ebenso wie Dix, Kriegsteilnehmer – auf der anderen Seite natürlich. Das verschlägt wenig, denn die Gräuel kennen keine Grenzen. Die dem Kriegsthema abgewonnene, abgerungene Sprache der Gewalt, die Barbusse bei Dix diagnostiziert, findet auch in einem noch heute berühmten Buch, Le feu, Verwendung – wenn nicht dieses Wort die Probleme verharmlost, die sich für Barbusse mit der Darstellung des Krieges verbinden. Hier und im Kontext des Werkes zeigen sich mit besonderer Deutlichkeit die Verschlingungen von Faktizität und Fiktionalität. Nachdem sich Barbusse 1914 als Freiwilliger an die Front gemeldet hatte, finden seine Erlebnisse ihren Ausdruck zunächst in zahlreichen Briefen an seine Frau.30 Inwieweit diese das Erleben authentisch wiedergeben oder nicht doch, um die Adressatin zu schonen, das Schreckliche verbrämen, kann nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden; Züge des Furchtbaren enthalten die Briefe gleichwohl: Ich bin nicht bei meiner Kompanie, die seit heute nacht auf Posten in vorderster Linie steht, sondern beim Verbandplatz hinter dieser Linie. Der Anblick der Verwundeten und Toten, diese ganze Fleischkammer des Krieges, ist fürchterlich.31

Der Roman Le feu. Journal d’une escouade, begonnen während eines Aufenthaltes im Lazarett von Chartres 1916, schon im selben Jahr erschienen und 1918 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, enthält, aus künstlerischen Gründen oder als Tribut an die Tatsächlichkeit, weitaus drastischere Schilderungen als

29

30 31

Roland Barthes, »L’imagination du signe«, in: Œuvres complètes, Bd. I (wie Anm. 18), S. 1323–1327. Henri Barbusse, Briefe von der Front, Horst F. Müller (Hrsg.), Leipzig 1987. Ebd., S. 30.

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die genannten Briefe. In einem Frontnotizbuch, das teilweise erhalten ist,32 skizziert Barbusse grob die Inhalte des Romans, dessen gattungstypische Fiktionalität er bereits durch die Verwendung des Begriffs Journal im Untertitel relativiert. Angesichts dieser komplizierten Verhältnisse drängt sich die Vermutung auf, dass es bei der Darstellung des Krieges durch jene, die an ihm teilnahmen, zu Verschiebungen der Grenzen zwischen Faktizität und Fiktionalität kommen kann, ja dass möglicherweise deren für die Literaturwissenschaft gewohnt kategorialer Unterschied zur Auflösung tendiert. Gerade traumatisierende Erfahrungen (und deren Konsequenz, statt Erinnerung zuzulassen eher die Verdrängung zu versuchen), zu denen Kriege an erster Stelle zählen, können in ihrer Eigenart durch eine an entlegener Stelle getroffene Bemerkung Freuds Erhellung finden; Kriegsneurosen entstehen durch einen Ichkonflikt: Er spielt sich zwischen den alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten ab, und wird akut, sobald dem Friedens-Ich vor Augen gerückt wird, wie sehr es Gefahr läuft, durch die Wagnisse seines neugebildeten parasitären Doppelgängers ums Leben gebracht zu werden.33

Ein ähnliches Verhältnis des Doppelgängertums besteht auch zwischen dem Ereignis selbst und dessen künstlerischer Darstellung. Nicht fiktionale Überhöhung oder Verfremdung, sondern historische Authentizität streben die Kriegsdarstellungen an, wobei das Kunstwollen, den Zeugnissen immer auch mit eingeschrieben, tendenziell mit der angestrebten Wahrhaftigkeit kollidiert. Wäre nicht die Übertragung des Freud’schen Begriffs auf die Künste eine Beleidigung der Sprache und der Sache, könnte man, analog zu Kriegsneurose, den Terminus ›Kunstneurose‹ prägen. Ein spannungsreiches Problem wirft das Thema, welche Formulierungen man auch wählt (und dies gilt für den Künstler wie für den Interpreten gleichermaßen), allemal auf. Die im Verhältnis von Untertitel (»Journal«) und Paratext (»Roman«) bemerkbare Schwankungsbreite zwischen Dokument und künstlerischer Erfindung mag für den Erfolg von Le feu mitverantwortlich sein; die hieraus resultierende Möglichkeit einer doppelbödigen Lesart, dem sowohl figürlichen als auch abstrakten Charakter mancher Radierungen aus Dix’ Der Krieg verwandt, macht die Grenze zwischen tatsächlichem Geschehen und fiktionaler 32 33

Vgl. ebd., S. 237ff. Sigmund Freud, »Einleitung zu ›Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen‹ [Leipzig und Wien 1919]«, in: ders., Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Bd. 12: Werke aus den Jahren 1917–1920, Anna Freud (Hrsg.), Frankfurt a.M. 71986, S. 321–324, hier S. 323.

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Konstruktion durchlässig, ja bereits die Grenzziehung selbst problematisch. Der Text von Le feu agiert unter einem zweifachen Anspruch: einerseits das Geschehen in all seiner elementaren Brutalität zu protokollieren, ihm anderseits aber eine künstlerisch adäquate Gestaltung angedeihen zu lassen. In dieser doppelten Perspektive überliefert Barbusse nicht nur ein bedrängendes Erfahrungsbild des Krieges, sondern bringt auch einen Diskurs der Gewalt hervor, dessen integraler Bestandteil eine Deutung des Kriegsgeschehens ist. Die Schwerpunkte dieser Interpretation, die zugleich eine Einbindung des Geschehens in größere Zusammenhänge vornimmt, sollen nun an einigen Texten exemplarisch aufgezeigt werden.34 Zur Erfahrung des Krieges gehört nicht nur das Kampfgeschehen, sondern auch der Anblick der Kriegsopfer. Wie ein allgegenwärtiges memento mori liegen die Leichname auf und neben den Schlachtfeldern, in der kruden Gegenwart eines Sterbens, das ohne jede Beschönigung beschrieben wird: Il en est qui montrent des faces demi-moisies, la peau rouillée, jaune avec des points noirs. Plusieurs ont la figure complètement noircie, goudronnée, les lèvres tuméfiées et énormes: des têtes de nègres soufflées en baudruche. Entre deux corps, sortant confusément de l’un ou de l’autre, un poignet coupé et terminé par une boule de filaments. D’autres sont des larves informes, souillées, d’où pointent de vagues objets d’équipements ou des morceaux d’os. Plus loin, on a transporté un cadavre dans un état tel qu’on a dû, pour ne pas le perdre en chemin, l’entasser dans un grillage de fil de fer qu’on a fixé ensuite aux deux extrémités d’un pieu. Il a été ainsi porté en boule dans ce hamac métallique, et déposé là. (197)

Kaum anderswo als auf dem Schlachtfeld zeigt der Tod solche Zerstörungen wie die beschriebenen, die den Menschen entwürdigen und ihn, in etwas anderem Sinne als das Wort von den ›Materialschlachten‹ meint, ›materialisieren‹. Der Text von Barbusse erspart dem Leser nichts von den Schrecken des Todes, der Zersetzung und Verwesung; vielmehr erscheint die schonungslose Detailliertheit der Beschreibung wie die Rache der Literatur an den Tätern. Das Bild der im (Soldaten-)Leben wie im Tod ›auf dem Feld der Ehre‹ Geschundenen setzt all jenen ein Denkmal, denen im Leben die Sprache fehlte und die in den Mega-Erzählungen der Historiographie keine Stimme haben. Bei diesem Bestreben von Barbusse kommt es immer wieder zu Symbolisierungen. Wenn im oben zitierten Text eine abgerissene (wörtlich: »abgeschnittene«) Hand zwischen zwei Soldaten liegt und jedem von beiden gehören kann, zeigt sich darin, dass der Krieg seiner indifferenten Natur 34

Die Texte werden nach folgender Ausgabe zitiert: Henri Barbusse, Le Feu, Paris 1965. Die Seitenangaben im Text hinter den Zitaten beziehen sich auf diese Ausgabe.

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gemäß alle Unterschiede verwischt. Entsprechend tendiert auch die Differenz zwischen Mensch und Natur zur Auflösung: La route blafarde qui monte au milieu du bois nocturne est bouchée et obstruée d’ombres, étrangement. Il semble que, par enchantement, la forêt y déborde et y roule, dans l’épaisseur de la ténèbre. C’est le régiment qui marche, en quête d’un nouveau gîte. (93)

Es sind mithin nicht nur die atmosphärischen Bedingungen der Nacht, die in metonymischer Verbindung das Regiment als Verlängerung des Waldes erscheinen lassen; vielmehr eignet dem Krieg selbst, wie schon aus den Darstellungen von Otto Dix hervorging, die Tendenz zur Vermischung der Phänomene: Die Welt ist aus der Ordnung geraten, die Nacht hat das Licht verschluckt, und die Erscheinung der Dinge gewinnt apokalyptische Züge: La gare prend alors un aspect fantastique. Des formes incompréhensibles surgissent et plaquent le bleu noir du ciel. Des amoncellements s’ébauchent, vastes comme les ruines d’une ville. On perçoit le commencement de files démesurées de choses qui s’enfoncent dans la nuit. On devine des masses profondes dont les premiers reliefs jaillissent d’un gouffre inconnu. (133)

Was Barbusse hier beschreibt, trägt alle Züge eines Bildes und könnte in eine graphische Darstellung übersetzt werden. Die Epitheta »incompréhensibles«, »vastes«, démesurées« und »inconnu« lassen die Unfähigkeit erkennen, die Szenerie in die üblichen Kategorien des Bekannten oder Gewohnten einzuordnen. Wenn Hügel (wörtlich: »Aufhäufungen«) in ihrer Ausdehnung mit den Ruinen einer Stadt verglichen werden, erweist sich das Unübliche, die Dimension des Ruinenhaften, als Einschreibung der Kriegserfahrung in die Wahrnehmung der Natur: Die Ordnung und Geschlossenheit gerät zur Zerrissenheit des Fragmentarischen. Das anonyme »On perçoit« verweist auf die Depersonalisation, auf das gegenüber den gewohnten Maßstäben Inkommensurable des sich bietenden Bildes. Der Krieg sprengt indes nicht nur die Kategorien des Denkens und die Dimensionen des menschlichen Fassungsvermögens, sondern bezieht selbst die Natur in sein Zerstörungswerk ein. Es wird dem sprachlichen Bild und dem Vergleich aufgegeben, diese Ausweitung der Destruktion nachzuzeichnen und auch die Natur als Kriegsopfer erscheinen zu lassen: Des arbres sont là: une file de troncs de saules écorchés, quelques-uns larges comme des faces, d’autres creusés, béants, semblables à des cercueils debout. Le décor au milieu duquel nous nous débattons, est déchiré et bouleversé, avec des gouffres et des ballonnements sombres, comme si tous les nuages de la tempête avaient roulé ici-bas. Par-dessus cette nature suppliciée et noire, la débandade des troncs se profile sur un ciel brun, strié, laiteux par places et obscurément scintillant – un ciel d’onyx. (346f.)

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Der Text spricht von einer »Reihe enthäuteter Weidenstämme«. Wenn diese Stämme »breit wie Gesichter« sind, artikuliert sich darin die Ambivalenz von »écorcher«, das eigentlich das Abschälen der Rinde, aber im Weiteren auch das Abziehen der Haut meint. Die Wendung von der »nature suppliciée« ist die Folge dieser Weiterführung der Leidensspur in die Natur hinein. Ähnlich aufrechtstehenden Särgen, verweisen die Weiden wiederum auf ihre Bestimmung, im Krieg das Sargmaterial zu stellen. Eine künstlerische Sublimierung erfährt demgegenüber der Himmel, zum »Onyxhimmel« geworden; doch zeigt sich hier erneut die Perturbation aller Ordnungen, gehört doch das Gestein in die Tiefe der Erde. Zu den Gesetzen des Krieges rechnet auch die Überbietung des an sich schon Grauenhaften. Indem Leichen von gefallenen Soldaten erneut unter Beschuss geraten, gewinnen sie auf phantasmagorische Weise Lebendigkeit: Les balles qui écorchaient la terre par raies droites en soulevant de minces nuages linéaires, trouaient, labouraient les corps rigidement collés au sol, cassaient les membres raides, s’enfonçaient dans des faces blafardes et vidées, crevaient, avec des éclaboussements, des yeux liquéfiés et on voyait sous la rafale se remuer un peu et se déranger par endroits la file des morts. (280f.)

Der Krieg hebt nicht nur alle Ordnungen auf, sondern führt auch Szenarien herbei, die trotz allen Schreckens eine makabre Faszination entfalten, ähnlich jener, die, freilich ohne den bei Barbusse gegebenen Bezug zur Realität, heute auch in Horrorfilmen anzutreffen ist. Hat sich jene Tötung der bereits Toten mit der paradoxen Wendung ins Lebendige tatsächlich wie beschrieben ereignet, lässt sie den Schluss zu, im Krieg sei die Wirklichkeit allemal furchtbarer als jede Vorstellung. Indem die Beschreibungen in Le feu auf dieses Überbietungsprinzip des Krieges selbst hinweisen, machen sie verständlich, warum das Geschehen, zum Thema der Künste geworden, deren Darstellungsmedien bis zum Äußersten treibt. Ob die Kunstmittel die Wirklichkeit einholen oder sich diese nicht vielmehr der Kulturprozessen immer schon inhärenten Objektivierung entzieht, können letztlich nur die Augenzeugen entscheiden – sofern sie nicht vor dem Furchtbaren die Augen verschließen. Das Kriegsgeschehen ansehen, über die Leiden sprechen zu wollen führt die Soldaten, aber auch die Künstler an den Rand des Möglichen oder sogar darüber hinaus: – Quand on parle de toute la guerre, songeait-il tout haut, c’est comme si on n’disait rien. Ça étouffe les paroles. On est là, à r’garder ça, comme des espèces d’aveugles… (414)

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Le Feu von Barbusse erlangte auch dadurch Berühmtheit, dass hier erstmals in der französischen Literatur – von den fernen Zeugnissen Villons einmal abgesehen – das Argot Verwendung findet, und zwar in jener spezifischen Form, die als Umgangssprache der Soldaten an der Front entstand. Reale Rede wird Literatur, und die écriture reproduziert das Sprechen in seiner krudesten Form. François Rivière erkennt das Typische von Le feu als »›écriture‹ hachée, scènes rapides d’un réalisme cru«, sieht in der Darstellungsweise des Romans eine »série de tableaux«35 und kommentiert den Text insgesamt mit den Worten: »Ce projet est celui d’un voyant«.36 So wird der Sehende zum Seher, die konkrete Erfahrung zur Vision. Bei Barbusse geht das Geschehen nicht nur in eine Dokumentation ein, sondern erfährt auch eine imaginäre Überhöhung – paradoxer Vorgang voll immanenter Widersprüchlichkeit, allein dem Inkommensurablen des Krieges geschuldet. Die Nähe zu Otto Dix ist unverkennbar. Kennzeichnet die Überschneidung von Sichtbarkeit und Vision auch die Kriegslyrik von Wilfred Owen, die nun als letztes Beispiel für die écriture des Entsetzens zur Darstellung kommen soll? Wilfred Owen, aufgrund seiner Homosexualität und bestimmter Lebensumstände marginalisiert,37 hatte sich schon als Lyriker hervorgetan, bevor er seine Kriegserfahrungen in Gedichtform artikulierte. Seine Texte zeichnen von Anfang an eine Leidensspur nach, die sich in den Kriegsgedichten allerdings verstärkt und dort mit größerem existentiellem Ernst versehen ist. Obschon es einer Verharmlosung gleichkäme, allein von Kontinuität sprechen zu wollen, sind Merkmale von Verstörung, Leid und Zerstörung in den meisten Gedichten, auch jenen aus der Zeit vor dem Krieg, anzutreffen. Wie Dix und Barbusse zog auch Owen als Freiwilliger in den Krieg, erlitt seelische Verwundungen, bestand aber darauf, nach einem Lazarettaufenthalt, bei dem er durch die Begegnung mit Sassoon zu seiner Sprache als Lyriker fand, wieder an die Front geschickt zu werden. Anfang November 1918, nur we35

36

37

François Rivière, »Préface«, in: Les grands romans de guerre 14–18, Paris 1994, S. I–VII, hier S. III. Diese Formulierung unterstreicht den gattungstypologisch hybriden Charakter des ›Tagebuches‹ von Barbusse. Ebd. Rivière bezieht sich hier wahrscheinlich auf Rimbauds so genannte »Lettre du voyant« (am 15. 05. 1871 an Paul Demeny gerichtet), die Rimbauds Gedicht »Chant de guerre parisien« enthält und im Weiteren eine Poesie der Zukunft entwirft, in welcher der Dichter ein Seher sein werde. Vgl. Arthur Rimbaud, Œuvres, Suzanne Bernard (Hrsg.), Paris 1960, S. 344–347. Zur Biographie von Owen, auf die hier nicht im Einzelnen rekurriert werden kann, vgl.: Joachim Utz, »Einleitung«, in: Wilfred Owen, Gedichte, Zweisprachig. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Joachim Utz, Heidelberg 1993, S. 1–44. Die Gedichte von Owen werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert (Seitenangaben in Klammern).

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nige Tage vor dem Ende des Krieges, fiel er, zusammen mit vielen seiner Kameraden, bei dem Städtchen Ors in Nordfrankreich; auf dem dortigen Gemeindefriedhof wurde er bestattet. Während Owen, viel länger als üblich, wegen seines Kriegstraumas in mehreren Hospitälern behandelt wurde, las er Le feu von Henri Barbusse. Trotz des Unterschiedes der Gattungen wird der Vergleich der Kriegsdarstellungen beider Autoren zwingend, und im Hinblick auf Owen die auch Adorno bewegende Frage virulent, ob nicht der gegenüber einem Prosatagebuch in Romanform, wie es bei Barbusse vorliegt, weitaus stärkere Kunstanspruch der Lyrik das Grauen der Thematik nur verbrämt und auf falsche, möglicherweise sogar scheinheilige Weise beschönigt. Was sich im Gedicht The Show (100) in nahezu narrativer Weise dem Blick des sprechenden Ich und jenem des personifizierten Todes darbietet, nimmt Muster der Dante’schen Höllendarstellung auf. Zwar hatte sich ›Dante‹ selbst in den Höllenschlund hineinbegeben und die Verdammten nicht aus der Höhe betrachtet – andernfalls hätten sie kaum zu jenem Sprechen gefunden, das als Rede der Betroffenen, aber auch als Idiom des Dichters den Text ausmacht –; doch bereits der Blick auf die Geschundenen offenbart eine Lage ohne Hoffnung: Across its beard [sc. der Bart eines »sad land«], that horror of harsh wire, There moved thin caterpillars, slowly uncoiled. It seemed they pushed themselves to be as plugs Of ditches, where they writhed and shrivelled, killed.

Die Verfremdungen, Soldaten in Raupen (mithin eine Ekelreaktionen auslösende Spezies) verwandelnd, zeigen den Krieg, gegenwärtig durch die Gräben und den Tod, in seiner den Menschen entwürdigenden Wirkungsweise. Wie bereits Barbusse, greift auch Owen sowohl auf literarische Vorbilder (dort Zola, hier Dante) als auch auf die moralisch indifferente Natur zurück, um dem Schrecken Gestalt zu geben. Wenn das Szenario im Weiteren die wechselseitige Vernichtung der Raupen als Fressen und Gefressenwerden darstellt, verschwinden die Unterschiede der ›Fronten‹. In die Indifferenz wird am Ende auch die lyrische Ich-Instanz hineingezogen, die, fallend, den eigenen Kopf frisch abgetrennt erblickt, und sogar der Tod in persona findet sich, gefallen »like a deepening moan«, auf dem Schlachtfeld wieder. War Dantes Commedia ein Werk der Vision, so hat bei Owen die Wirklichkeit längst alles Vorstellbare eingeholt und noch überboten. Den Schrecken ins Visionäre zu wenden und ihn als tertium comparationis zwischen tödlichen Unfällen im Bergwerk einerseits, den Gefallenen des Krieges andererseits einzusetzen, kennzeichnet Owens poetisches Verfah-

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ren in dem Gedicht Miners (78). Es bezieht sich auf eine Explosion im Bergwerk von Halmerend am 12. Januar 1918, bei der hundertvierzig Männer ihr Leben verloren. Das sprechende Ich schildert freilich nicht die Katastrophe selbst, sondern lässt das Herdfeuer von ihr erzählen – eine Situation wie im Märchen und doch gar nicht märchenhaft. In der Mitte des Gedichts wendet sich die akustische Wahrnehmung ins Optische, als nämlich die Kohlen von den Opfern sprechen: But the coals were murmuring of their mine, And moans down there Of boys that slept wry sleep, and men Writhing for air. And I saw white bones in the cinder-shard, Bones without number. And the muscled bodies charred, And few remember.

Die Erinnerung wird selbst zum Thema, freilich eingeschränkt durch jene wenigen, die sich überhaupt erinnern (können). Indem der Umschlag des Sprechens oder Murmelns in das Bild erfolgt, gewinnt der Text seine visionäre Qualität und damit zugleich die Verbindung zum Geschehen im Krieg. Denn unmittelbar an die zitierten Strophen wird jene gesetzt, in welcher das Ich derer gedenkt, »that worked dark pits of War, / And died […].« Aus der Begegnung von Vergangenheit und Gegenwart, von Grubenunglück und Krieg, geht eine Zukunft ohne Erinnerung hervor; wieder summt man Lieder, denkt aber nicht an die Opfer der Vergangenheit. Kann das visionäre Potential Owens als dessen eigene Signatur innerhalb der Darstellungen des Ersten Weltkriegs gelten, sind indes auch Züge bemerkbar, die Owens Lyrik mit der Prosa von Barbusse verbinden. Mitten im Krieg, der das Leben vernichtet, meldet sich, ähnlich wie in Le feu, immer wieder die Natur. Entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung, das Leben zu perpetuieren, wird sie in den Kampf mit einbezogen und von der tödlichen Kriegserfahrung eingeholt: Watching, we hear the mad gusts tugging on the wire, Like twitching agonies of men among its brambles. Northward, incessantly, the flickering gunnery rumbles, Far off, like a dull rumour of some other war. What are we doing here? (134)

Eine Wendung wie »mad gusts« suggeriert, dass in Anbetracht des herrschenden Wahns sogar die Natur den Verstand verlor und in ihrem Elend dem Sterben von Soldaten vergleichbar wird. Wie die intertextuelle Bezugnahme auf Dante zeigen auch die zitierten Zeilen aus Exposure die Tendenz,

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die Darstellung eines schlechterdings unvorstellbaren, alle Ordnungen verhöhnenden Geschehens an Bekanntes oder Vertrautes anzugleichen. Die Anlehnung an Naturvorgänge schafft zwar Verbindendes zwischen dem von Menschen generierten Schrecken und dem Wirken der Natur, zwingt diese aber zugleich in das traumatische Schema des Krieges mit hinein: Pale flakes with fingering stealth come feeling for our faces – We cringe in holes, back on forgotten dreams, and stare, enow-dazed, Deep into grassier ditches.

Und während die Soldaten schlummern, »sun-dozed«, erscheinen ihnen die Schneeflocken wie Blütenblätter: »Is it that we are dying?« Erinnerungen an die Heimat stellen sich ein, doch deren Bilder zeigen nur das verlassene Haus mit seinen verschlossenen Türen und Fensterläden – »we turn back to our dying.« Wie der Tod im tiefen Fall das Schlachtfeld einnahm, um dort sein Werk zu tun (»Show«), ist er auch in den Vorstellungen und Ängsten der Kämpfenden allgegenwärtig. Das Strange Meeting (90) betitelte Gedicht zeigt ein Tunnelsystem im Inneren der Erde, das die Sprecherinstanz, der Schlacht entronnen, für einen sicheren Ort hält; doch selbst dort findet das Ich Tod und Sterben wieder: Yet also there encumbered sleepers groaned, Too fast in thought or death to be bestirred. Then, as I probed them, one sprang up, and stared With piteous recognition in fixed eyes, Lifting distressful hands, as if to bless. And by his smile, I knew that sullen hall, – By his dead smile I knew we stood in Hell.

Wo ein Entweichen möglich scheint, führt es, fatal, direkt in die Hölle und somit in gewisser Weise zu Dante zurück: Das Lächeln dessen, der auf die Berührung hin aufgesprungen war, stellt sich bald als ein totes heraus, doch hatte er vorher seine Hände gehoben »as if to bless«. Indem eine religiöse Komponente dem Text eingeschrieben ist – wenngleich sie nur in uneigentlicher Sprachverwendung vorkommt – erlangt das Gedicht eine andeutungsweise transzendente Dimension. Noch weitaus markanter ist die christliche Religion in Owens berühmtestem Gedicht gegenwärtig, Anthem for Doomed Youth (58): What passing-bells for these who die as cattle? – Only the monstrous anger of the guns. Only the stuttering rifles’ rapid rattle Can patter out their hasty orisons. No mockeries now for them; no prayers nor bells; Nor any voice of mourning save the choirs, –

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The shrill, demented choirs of wailing shells; And bugles calling for them from sad shires. What candles may be held to speed them all? Not in the hands of boys but in their eyes Shall shine the holy glimmers of goodbyes. The pallor of girls’ brows shall be their pall; Their flowers the tenderness of patient minds, And each slow dusk a drawing-down of blinds.

Während die Gattungsbezeichnung ›Hymnus‹ Feierlichkeit suggeriert und die Eingangswendung »passing-bells«, in den Modus der Frage gekleidet, an ein Begräbnis nach dem üblichen kulturellen (hier christlichen) Ritus denken lässt, erfolgt durch das Wort »these who die as cattle« jene Pervertierung, die alle Trostrituale des christlichen Begräbnisses ins Furchtbare verkehrt: keine Glocken, keine Gebete, keine Klagegesänge, nur »[t]he shrill, demented choirs of wailing shells«. Wo die Verneinung herrscht, kann freilich das Gesagte, auch wenn es im Modus der Negation formuliert wird, nicht einfach ausgelöscht werden. Während in pragmatischer Sprache die Verneinung das Nicht-Seiende referentialisiert, ist in der Fiktion als nicht-referentialisierender Verwendung der Sprache Verneintes so ›wahr‹ wie positiv Gesagtes: Hinter das Ausgesprochene führt nichts zurück.38 Und so ist die »verdammte Jugend«, die wie Schlachtvieh stirbt, dennoch von der Aura des Religiösen umgeben, eine Verbindung, die in folgender Zeile – mit ihrem »pallor« und dem »pall« – Sprache wird: »The pallor of girl’s brows shall be their pall«. Dass Anthem for Doomed Youth in Brittens War Requiem eingeht, ist vor diesem Hintergrund kein Zufall, sondern Fügung. Wenn Darstellungen des Krieges schwerpunktmäßig in den bildenden Künsten und der Literatur ihren Ort finden, die Musik dagegen hiervon wenig tangiert ist, zeigt diese ihren besonderen Charakter als dem Grunde nach nicht-darstellende Kunst. Die Begriffslosigkeit der Musik schließt freilich nicht aus, dass sie Worte und deren Inhalte in ihre Kunstmittel umsetzen, als Vokalmusik mitgestalten kann. In Bezug auf beide Weltkriege sowie im Hinblick auf die Schrecken der Naziherrschaft entstehen Kompositionen, die das Grauen zu bewältigen versuchen und es durch Musik sowohl emotional verstärken als auch in gewisser Weise sublimieren: der Beginn des Ersten Weltkriegs inspiriert Max Reger zu seinem Requiem op. 145a, nach seinem Ende erinnert John Herbert Foulds in A World Requiem (1918–21) an die

38

Vgl. hierzu Karlheinz Stierle, »Der Gebrauch der Negation in fiktionalen Texten«, in: Harald Weinrich (Hrsg.), Positionen der Negativität, München 1975, S. 235–262.

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zahllosen Kriegstoten auf allen Seiten.39 Luigi Nonos Il Canto sospeso (1956), der angesichts seiner Textgrundlage – letzte Äußerungen von jungen Menschen, die das Naziregime zum Tode verurteilte – geradezu den Atem anhält, überliefert der Nachwelt bedrohte und der Bedrohung geschuldete Zeugnisse des Leidens. Die traditionelle Form des Requiems mit seinen liturgisch sanktionierten, über alle konkreten Anlässe hinauswachsenden Texten der lateinischen Totenmesse bietet einen idealen Raum für die Verschränkung von historischer (Kriegs-)Situation und dem immerwährenden Naturgesetz des Sterbens. Dass die Totenmesse ein Heils- und Erlösungsversprechen enthält, führt zu einer Sublimierung des Endes aus dem Geist der christlichen Religion. Die schon mehrfach angetroffene Doppelbödigkeit von menschlichem Leiden auf der einen und dessen künstlerischer Bewältigung auf der anderen Seite gewinnt im Kriegsrequiem eine weitere, nunmehr religiös fundierte Bedeutungsebene. In Rudolf Mauersbergers Dresdner Requiem (1949), dem Titel nach auf nur einen Ort bezogen, wird der Feuersturm über der Elbmetropole, dem unschwer weitere Bombardements deutscher Städte an die Seite gestellt werden können, zum Symbol für die Sinnlosigkeit der Kriegszerstörungen generell. Während Mauersberger auf den überlieferten Text des Requiems zurückgreift und diesen durch Bibeltexte erweitert,40 geht Benjamin Britten in seinem War Requiem kühner vor. Der vertonte Text besteht einerseits aus Teilen der Totenmesse, bezieht aber andererseits Gedichte von Wilfred Owen mit ein, denen auf diese Weise, kombinations- und kompositionsbedingt, eine Quasi-Gleichwertigkeit mit den liturgischen Texten zuwächst. Durch diesen Akt der Versöhnung von Religion und Dichtung, Ewigkeit und Geschichte erfährt der Anlass des Werkes, der Wiederaufbau der im Krieg von der deutschen Luftwaffe zerstörten Kathedrale zu Coventry, eine über den Moment der Feier hinausreichende Deutung. Die Uraufführung im Rahmen der Kirchenweihe, als Tondokument erhalten, erfolgte unter der Leitung des Komponisten und war in der Tenor- bzw. der Baritonpartie mit Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau besetzt – Geste der Aussöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern England und Deutschland. Mit dem War Requiem wird indes nicht nur ein feierlicher Augenblick dokumentiert, in dem der Wiederaufbau der Kathedrale und die Versöhnung der Völker bestimmend sind, sondern auch die Erinnerung an die Zerstörungen der 39 40

Für den Hinweis auf das mir zuvor unbekannte Werk danke ich René Dobberkau. Etwa: »Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen« (Off. Joh. 21, 4–5) oder: »[S]iehe, des Gebeins lag sehr viel auf dem Felde, und sie waren verdorret« (Hes. 37).

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Kriege. Das Werk des Dichters Wilfred Owen steht in Brittens War Requiem für diese Erinnerung, und es macht keinen Unterschied mehr, ob es sich um den Ersten oder den Zweiten Weltkrieg handelt, um Sieger oder Verlierer. Ist das Requiem seiner Gattung nach nicht nur Kunstwerk, sondern vor allem liturgische Handlung, so fügen ihm im War Requiem die Texte Owens eben jene menschliche Erfahrung hinzu, deren eigentlicher Ort diese Welt, deren Gestaltungs- und Zufluchtsraum die Kunst ist. Das Vermögen, sich zu erinnern, gehört nicht zu den kognitiven Fähigkeiten des Menschen, denn die Erinnerung bedarf der Versinnlichung; nicht umsonst spricht man von ›Erinnerungsbildern‹. Wenn, wie Freud darlegt, bei traumatischen Erlebnissen der Patient die Erinnerung verweigert und diese nicht selten durch Wiederholung der Tat substituiert,41 kann durch die Verschiebung der Problematik von der Krankheit in die Kunst ein differenzierteres Bild entstehen. Der künstlerische Ausdruck des Kriegstraumas wäre in diesem Kontext zugleich Wiederholung und Erinnerung – mit der Konsequenz einer zumindest partiellen seelischen Befreiung: Katharsis des Künstlers durch die Kommunikation. Von hier aus ergibt sich nahezu zwingend die Notwendigkeit, Erinnerungen zu formulieren, zu reproduzieren, zu kommunizieren. Dies ist nicht unbedingt an die Schriftform oder sonstige Arten der Dokumentation gebunden, wird aber durch diese erleichtert. Jan Assmann unterscheidet zwischen dem kommunikativen Gedächtnis, das auf die rezente Vergangenheit ausgerichtet ist, und dem kulturellen Gedächtnis, bezogen »auf Fixpunkte in der Vergangenheit«.42 Obgleich nicht unbedingt einleuchtet, warum nicht schon die Unterscheidung in individuelles und kollektives Gedächtnis, die Maurice Halbwachs vornahm,43 die von Assmann aufgezeigten kulturellen Einschreibungen (bei Halbwachs: »cadres sociaux«) hätte aufnehmen können, ist Assmanns Bestimmung des kulturellen Gedächtnisses gleichwohl im gegebenen Zusammenhang der Kriegsdarstellungen genauer zu bedenken: Während nämlich das kommunikative Gedächt41

42

43

Vgl. Sigmund Freud, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: ders., Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917, Anna Freud (Hrsg.), Frankfurt a.M. 61986, S. 126–136. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 62007 (zuerst 1992), S. 52. Freilich mit dem Schwerpunkt auf Letzterem. Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985, bes. Kap. 5–7, wo das kollektive Gedächtnis auf verschiedene Gruppen bezogen wird. Besonders aussagekräftig ist im gegebenen Zusammenhang, dass Halbwachs die Bedeutung der Sprache für die Erinnerung betont (vgl. ebd., S. 368f.).

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nis – jenes, das wir mit unseren Zeitgenossen teilen – sich quasi von selbst ausspreche, bedürfe das kulturelle Gedächtnis »sorgfältiger Einweisungen«.44 Es folgt mithin kulturellen Codierungen und ist eng mit bestimmten Funktionen verbunden wie z. B. jenen von Schamanen, Barden und Priestern. Spätestens hier wird evident, dass Assmann mit seinen Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis auf frühe Kulturen abzielt. Gilt denn generell, dass »[d]urch Erinnerung Geschichte zum Mythos« wird?45 Wenn Assmann die mythische Urgeschichte als Begründungsfigur von Kulturen betrachtet und die Quasi-Identität von Mythos und Geschichte behauptet, bewegt er sich offenkundig im Raum alter Kulturen. Das ist legitim, engt aber ohne Not seine Konzeption des kulturellen Gedächtnisses ein. Anders und in deutlich erweiterter Form stellt sich die Frage, wenn es um die Übertragung vom kommunikativen Gedächtnis ins kulturelle geht, um jenen Prozess also, der im gegebenen Fall die exemplarisch behandelten Kriegsdarstellungen Einzelner für das kulturelle Gedächtnis verfügbar macht. Was Assmann grundsätzlich mit Recht unterscheidet – kommunikatives und kulturelles Gedächtnis – stellt im Rahmen der Kunst immer wieder die Durchlässigkeit seiner Grenzziehungen unter Beweis. Denn sowohl das (mit Halbwachs) individuelle als auch das kollektive bzw. Assmann zufolge kulturelle Gedächtnis haben teil an jener Ausformung, die historische Ereignisse der reinen Zeitgeschichte enthebt und über die Veränderungen der Epochen hinaus bewahrt – Metamorphose der Geschichte ins Mythische, wenn man so will. Das Gedächtnis aber hat, anders als es die Idee einer Metamorphose beinhaltet, gleichgewichtig an individueller und an kollektiver Erfahrung teil und gewinnt die Möglichkeit seiner Artikulation nicht zuletzt aus den kollektiv geprägten kulturellen Einschreibungen, die nicht allein und nicht einmal in erster Linie die von Assmann so genannte ›kulturelle‹ Vergangenheit betreffen. Eine ›Archivierung‹ im Assmann’schen Sinne ist nur dann nicht museal, wenn sie auch und besonders späteren Generationen die Möglichkeit eröffnet, das Überlieferte erneut in Erfahrung zu übersetzen, die ihrer Natur nach Geschichte ist und nicht Mythos. Freilich wird heute niemand den Ersten Weltkrieg noch einmal erleben wollen oder können. Das in ihm Zentrale aber, das jenseits der Fronten und über die Nationen hinaus allgegenwärtige menschliche Leid, hat exemplarischen Charakter. Diesen zur Anschauung zu bringen und nachvollziehbar zu machen obliegt der Kunst, weil nur sie individuelle Erfahrung ins Allgemeine übersetzen kann. Die hierfür notwendigen Mittel reflektierte vor allem – und mit weitaus größerer Präg44 45

Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 53. Ebd., S. 52.

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nanz, als es die Konzeption vom kulturellen Gedächtnis vermag – die Kulturtheorie in ihrer klassischen Ausprägung durch Georg Simmel. Auch und gerade jenseits traumatischer Erlebnisse, zu denen an erster Stelle Krieg, Zerstörung und Leiden gehören, ist die Erinnerung, im aktiven Sinne verstanden als individueller und kollektiver Prozess des Sich-Erinnerns, zugleich Domäne und Aufgabe der Kunst. Einem solchen Anspruch kann diese nur genügen, wenn sie Persönliches ins Allgemeine überträgt. Georg Simmel sah in der menschlichen Fähigkeit zur Objektivierung den Ursprung der Kultur überhaupt46 und den Grund für deren fortdauernde Wirkung. Die Kultur als Phänomen, das auf Wirkung oder Rezeption hin angelegt wurde, ist freilich mit dem Risiko behaftet, dass die so geschaffenen Werke sich dem Einfluss ihres Urhebers entziehen und jenes Eigenleben entwickeln, das Simmel als »Tragödie der Kultur« empfand. Cassirers Widerspruch gegen diese Sichtweise und sein Hinweis darauf, dass die Kultur gerade durch ihr Fortleben und ihr Rezeptionspotential eine Bereicherung darstelle,47 führt zu Owens Gedichten zurück. Brittens War Requiem stellt sie in einen neuen Kontext, garantiert aber eben dadurch ihre Erinnerungsfunktion über den konkreten Anlass ihres Entstehens hinaus. Gerade das Entsetzliche fordert Erinnerung, und um in sie einzugehen, ist die Formung, nicht allein die Dokumentation, eine conditio sine qua non. Die Archive der Menschheit sind ihrer Natur nach geordnet, umfassen nicht die heterogenen und kontingenten Äußerungen der Augenblicke, sondern die Gestaltungen der Zeiten. Eben dadurch wird übertragbar, was ursprünglich nur individuell erlebt wurde oder einer bestimmten historischen Konstellation geschuldet war. Barthes’ Konzept der écriture erfasst das Ineinanderwirken von persönlicher Erfahrung und kulturell tradierten Ausdrucksformen, sodass sich, ganz im Sinne Simmels, Subjektives und Objektives durchdringen. Analog zu diesem Gedanken, allerdings auf ein spezifisches Phänomen bezogen, umschreibt die écriture des Krieges in einem Vokabular der Betroffenheit die individuellen Schrecken des Erlebten, findet aber, im Rückgriff auf literarische Paradigmen, auch überpersönliche, literarhistorisch sanktionierte Formen der Gestaltung. Mit welchen Mühen und Belastungen die Relationierung von Krieg und Kunst einhergeht, wird exemplarisch an den künstlerischen Zeugnissen der ›Grande Guerre‹ ablesbar; zu ihnen gehören 46

47

Georg Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in: ders., Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 14), Rüdiger Kramme/Otthein Rammstedt (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1996, S. 385–416. Ernst Cassirer, »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: ders., Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946) = Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 24, Birgit Recki (Hrsg.), bearb. v. Claus Rosenkranz, Hamburg 2007, S. 462–486.

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auch, hier nicht behandelt, die Fragmentarisierungen und Überzeichnungen der Avantgarden, die ebenfalls ›Kriegsfolgen‹ darstellen. Das Fazit muss angesichts der schmalen Materialbasis vorläufig bleiben: Die extreme Erinnerung bedarf der Künste und ihrer Einschreibungen in Texte,48 die nicht nur ihr historisches Überleben sichern, sondern vor allem ihre immer erneute Vergegenwärtigung als empathische Erfahrung.

48

Dieser Begriff wird hier im Sinne der Postmoderne verstanden und umfasst intentional erstellte Signifikanzsysteme auch jenseits der begriffssprachlichen Zeichen. Vgl. (ein letztes Mal!) Roland Barthes, »Texte (théorie du)«, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 2, Éric Marty (Hrsg.), Paris 1994, S. 1677–1689.

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Lutz Winckler

Lutz Winckler (Berlin)

Eine Chronik des Exils Erinnerungsarbeit in Anna Seghers’ Transit 1

I. 1935 fand in Paris im Zuge des sich herausbildenden Front populaire der Internationale Kongress zur Verteidigung der Kultur statt. Es handelte sich dabei um den Versuch antifaschistischer Intellektueller aus Frankreich, Europa, der Sowjetunion und den USA im Rückgriff auf die unausgeschöpften Ressourcen der Aufklärung, einer Verbindung liberaler und egalitärer Momente der Revolutionen von 1789 und 1917, eine Dynamik freizusetzen, von der man sich die ideologische Entzauberung und die politische Entmachtung des Faschismus erhoffte. Anna Seghers sprach auf diesem Kongress neben André Gide und Aldous Huxley, André Malraux, Julien Benda und André Breton und deutschen Emigranten wie Heinrich Mann, Robert Musil, Ernst Bloch, Max Brod, Lion Feuchtwanger, Ludwig Marcuse, Ernst Toller, Johannes R. Becher, Klaus Mann, Gustav Regler und Bertolt Brecht. Das Thema ihrer Rede lautete Vaterlandsliebe – merkwürdig genug, so will es scheinen, für eine Schriftstellerin aus liberalem jüdischen Elternhaus, die seit den späten zwanziger Jahren Mitglied der KPD war. Die Rede stellt den Versuch dar, im historischen Rückblick auf die Französische Revolution einen Begriff des Patriotismus zurückzugewinnen, der auf Arbeit und Solidarität, auf Nähe und Selbstbewusstsein statt auf Krieg, Ausgrenzung und Diskriminierung der Anderen setzt. Die politische Überzeugungskraft und emanzipatorische Dynamik eines so verstandenen Patriotismus schien in den westlichen Demokratien, aber auch bei der zum Schweigen gebrachten Mehrheit in den faschistischen Diktaturen 1935 nicht infrage zu stehen. Und dennoch steht am Schluss der Rede – als historisches Fragezeichen oder erinnernde Klage? – der Blick auf die Gescheiterten: auf Georg Büchner und Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin und Karoline von Günderode, die im Wahnsinn, in der Verzweiflung, im Tod endeten und von denen Anna Seghers in 1

Dieser Beitrag ist auch erschienen in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 28/2010, S. 194–210. Der Verfasser und die Herausgeber danken dem Verlag edition text + kritik für die Erteilung der Nachdruckgenehmigung.

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einem bekannten und vieldeutigen Bild sagt: »Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wund rieben.«2 Ohne es zu wissen spielt Anna Seghers damit auf eine nicht nur geistige Krise an, die vier Jahre später in die politische Katastrophe mündet: den Krieg als europäische, die Niederlage des Antifaschismus als politische, Okkupation, Flucht und Verfolgung als persönliche und schließlich menschheitliche Katastrophe. In dieser Situation – 1940/1941 – entstand der Roman Transit. Geschrieben unter dem Eindruck einer schweren persönlichen Krise – der Flucht aus dem besetzten Paris in die von Vichy kontrollierte ›freie Zone‹, der Internierung ihres Lebensgefährten Laszlo Radvanyi, der verzweifelten Suche nach Ausreisemöglichkeiten in Richtung Übersee – stellt der Roman zugleich den Versuch dar, auf andere, nicht weniger existentielle kollektive Bedrohungen zu reagieren: als Schriftstellerin, als deutsche Jüdin und als Antifaschistin.3 Rückblickend, aber noch unter dem Eindruck der Flucht, schreibt Anna Seghers an Franz Carl Weiskopf, sie habe das Gefühl gehabt »d’être morte et hors de ce monde« (Briefe, 26. 5. 1941, 103). Da schreibt sie bereits am Roman. Aber dass die Gedächtnisarbeit literarische Form annimmt, war nicht selbstverständlich. In einem früheren Brief, vom 23. 11. 1940, ebenfalls an Franz Carl Weiskopf, hatte Anna Seghers auf die Grenzen des literarischen 2

3

Anna Seghers, Vaterlandsliebe (Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935), in: dies., Über Kunstwerk und Wirklichkeit I. Die Tendenz in der reinen Kunst, Sigrid Bock (Hrsg.), Berlin 1970, S. 63–66, hier S. 66. Über die französische Internierungspolitik sind wir durch die Forschungen Jacques Grandjoncs und seiner Forschungsgruppe gut informiert, vgl. Jacques Grandjonc/Theresia Grundtner (Hrsg.), Zone der Ungewissheit. Exil und Internierung in Südfrankreich 1933–1944, Hamburg 1993. Über die Situation in Marseille und Les Milles informiert bis in biografische und topografische Details die Untersuchung von Doris Obschernitzki (Letzte Hoffnung – Ausreise. Die Ziegelei von Les Milles 1939–1942. Vom Lager für unerwünschte Ausländer zum Deportationszentrum, Berlin 1999). – Der erste Band der Biographie über Anna Seghers von Christiane Zehl Romero (Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947, Berlin 2000, S. 270ff., S. 347–381) und die von ihr zusammen mit Almut Giesecke herausgegebenen Briefe von Anna Seghers (Christiane Zehl Romero/Almut Giesecke (Hrsg.), Anna Seghers, Briefe 1924–1952, Berlin 2008, Reihe: Anna Seghers Werkausgabe, Helen Fehervary/Bernhard Spies (Hrsg.), Bd. V,1) geben einen detaillierten Einblick in die persönliche Situation Anna Seghers’ zwischen der Flucht aus Paris, der Abreise aus Marseille und der Überfahrt nach Mexiko 1940/1941 (im Text zitiert als: Briefe). Vgl. auch den Kommentar von Silvia Schlenstedt in der von ihr bearbeiteten Anna Seghers Werkausgabe (s. o.) von Transit, Berlin 2001, S. 311–364 (Seitenzahlen zu Transit im Text beziehen sich auf diese Ausgabe).

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Verarbeitungsmusters ›Dante, Dostojewski, Kafka‹ verwiesen (Briefe, 91) und demgegenüber auf der Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrung bestanden. Ähnlich verfährt sie im Roman. In einer Schlüsselszene am Beginn des Erzählerberichts schildert der Erzähler seinen Eindruck bei der Lektüre eines im Koffer des toten Schriftstellers Weidel zurückgelassenen Manuskripts. Er schreibt von der »Verzauberung«, die die Fabel mit dem Ineinander von Traum und Wirklichkeit, von Zufall und Wahrscheinlichkeit in ihm erzeugt. Fast glaubt er in der »vertrackten Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen« seine eigene Geschichte wiederzufinden, bis er beim Wiederlesen des – übrigens unvollendeten Manuskripts – desillusioniert feststellt, dass die erfundene Geschichte die eigene Erfahrung nicht ersetzt (26f.). Die Lektüre entlässt den Erzähler aber nicht vollkommen ›ratlos‹, sondern gibt ihm – durch die Art und Weise, wie erzählt wird – einen Hinweis an die Hand, wie er seine eigene Geschichte ›lesen‹ und aufarbeiten kann: All diese Menschen ärgerten mich nicht durch ihre Vertracktheit, wie sie’s im Leben getan hätten, durch ihr blödes Auf-den-Leim-Gehen, durch ihr Hineinschlittern in ein Schicksal. Ich begriff ihre Handlungen, weil ich sie endlich einmal verfolgen konnte von dem ersten Gedanken ab bis zu dem Punkt, wo alles kam, wie es kommen musste. (26)

Ganz ähnlich hat Freud in Das Unheimliche zwischen dem Unheimlichen des Erlebens und dem Unheimlichen der Fiktion unterschieden und das fiktive Erzählen als »Instanz der Selbstbeobachtung und der Selbstkritik« dem Gewissen an die Seite gestellt, ein Gewissen der Phantasie also, das dank der Lockerung der Realitätsprüfung freier im Umgang mit der Erfahrung sei, weil fähig zu Distanz, Spiel, Komik. Es sind diese Eigenschaften, die das Erzählen zum Organ der Erinnerungsarbeit (Ricœur) werden lassen.4

II. »Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende«, damit hebt auch der Erzähler des Romans an (6). Mit der Einführung eines Erzählers folgte Anna Seghers Überlegungen Walter Benjamins, wie er sie in seinem 1936 in der Zeitschrift Orient und Okzident veröffentlichten Essay Der Erzähler angestellt hatte. Benjamin suchte darin nach Auswegen aus der 4

Sigmund Freud, »Das Unheimliche« (1919), in: ders., Studienausgabe, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1982, S. 241–274, hier S. 258; zur Rolle des Unheimlichen in der Fiktion S. 269ff.; zum Begriff der in Anlehnung an die Freud’sche Analyse und ihre Terminologie des Durcharbeitens entwickelten Erinnerungsarbeit vgl. Paul Ricœur, La Mémoire, l’Histoire, l’Oubli, Paris 2000, S. 84ff.

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Krise der Moderne, wie sie aus dem Zerfall liberaler Weltanschauungen für die ästhetische Wahrnehmung, insbesondere für den Roman und das »Ende des Erzählens« resultierte.5 Benjamins Rückblick auf die Traditionen mündlichen Erzählens, auf den Dialog, die räumliche Nähe, sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten und Verständigungsmöglichkeiten zwischen Erzähler und Hörer (bzw. Autor und Leser) wird von Anna Seghers als Narrativ ihres Romans erprobt. Seine Struktur wird in der Eingangsszene vorgestellt. Ort der Erzählung ist die Pizzeria – ein geschützter Raum, ein Interieur, auf das das Erzählen angewiesen ist.6 Der Erzähler selbst stammt aus dem Volk und spricht in der Sprache des Volks. Der Schreibvorgang wird fingiert als mündliches Erzählen, das sich an einen anonym bleibenden Hörer richtet. Es handelt sich – durchgehend im Roman (vgl. das wiederholte Auftauchen der Pizzeria, oder von Cafés als Orten des Erzählens) um die Simulation einer dialogischen Gesprächssituation. Sie hat ihre Tradition – worauf Benjamin verweist – in einer vormodernen handwerklichen Welt, in der Erzählen als Sinnvermittlung und Rat eng an eine für den Erzähler und Zuhörer überschaubare Lebenswelt bezogen bleibt. Es geht Anna Seghers nun nicht um die Wiederaufnahme dieser Tradition, sondern um die Erprobung dieses Erzählmodells im Kontext der eigenen und kollektiven Krisen- und Katastrophenerfahrung. ›Eine Geschichte von Anfang an erzählen‹ lässt sich als Anagramm der Anamnese lesen: zurückzukehren zum Anfang, zum Ausgangspunkt des Traumas. Der Erzähler blickt zurück, er erzählt seine eigene Geschichte – zur Geschichte wird die erinnerte Erfahrung aber nur in dem Maß, in dem Erzähler und Zuhörer sich in ihr wiedererkennen. Dies beschreibt sehr genau den Vorgang der identité narrative (Ricœur).7 In dem bereits zitierten Text über »Das Unheimliche« schreibt Freud den traumatischen Phänomenen der Ich-Verdopplung, Ich-Teilung und Ich-Vertauschung8 auf der Ebene der Fiktion analytische Funktionen zu. Als Elemente des Verstehens gehören sie zu den entscheidenden narrativen Figurationen der Erinnerungsarbeit. Es scheint, als habe Anna Seghers diese Möglichkeiten distanzierter und spielerischer, ja selbst komischer Aufarbeitung der Ka5

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Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/2, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1977, S. 438–465. Walter Benjamin spricht vom Interieur als »Zufluchtsstätte der Kunst« (ders., »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/1, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1982, S. 53). Über den Zusammenhang von Erzählen und Erinnerung und zur Konzeption der identité narrative vgl. Paul Ricœur, Temps et récit, Bd. 3, Paris 1985, S. 442ff. Freud, »Das Unheimliche«, S. 257.

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tastrophenerfahrung genutzt. Im Roman sind nicht nur Autor und Erzähler getrennt, sondern der Erzähler selbst zerfällt in unterschiedliche Funktionen: Er ist Zeuge, Teil der Romanhandlung und Doppelgänger des toten Schriftstellers Weidel – dazu passt, dass er einen Doppelnamen (Seidler/ Weidel) trägt, sein eigentlicher Name aber nicht genannt wird.

Exkurs: Gedächtnis – Erinnern – Erzählen Dass überhaupt erzählt werden kann, setzt nach Benjamin Gedächtnis und Erinnerung voraus: »Nur dank eines umfassenden Gedächtnisses kann die Epik einerseits den Lauf der Dinge sich zu eigen, andererseits mit dem Hinscheiden, mit der Gewalt des Todes ihren Frieden machen.«9 In Zeiten der Katastrophe ist beides: Erinnerung und Gedächtnis bedroht. Die Zerstörung der Tradition, das Herausfallen der Individuen aus dem geschichtlichen Kontinuum, das – nach Benjamin – ein Signum der Moderne ist und zur Krise des Erzählens führt, sind Erfahrungen, die sich angesichts der zeitgenössischen Katastrophe verstärken. Das Herausgerissensein aus den alltäglichen Zusammenhängen, der Verlust von Hab und Gut, die Unterbrechung und Zerstörung von Kommunikation, wie sie Krieg, Flucht und Emigration mit sich bringen, verweist einmal auf den drohenden Verlust der Archive (der kulturellen ›Gedächtnisspeicher‹); bedroht ist gleichzeitig die Erfahrung selbst, das funktionelle Gedächtnis (Aleida Assmann): die Fähigkeit wahrzunehmen, Entscheidungen zu treffen, das Erfahrene zu verarbeiten. So führt bei Anna Seghers das Fluchttrauma zu völliger Leere und Abwesenheit (Briefe, 26. 5. 1941, 101–104, hier 103). Erzählen als Erinnern hat in dieser Situation eine enttraumatisierende, identitätsstiftende, kurz ›heilende‹ Funktion – so berichtet der Sohn Pierre Radvanyi, seine Mutter habe ihm und seiner Schwester auf der Überfahrt von Marseille nach Martinique täglich Geschichten aus dem entstehenden Romanmanuskript erzählt. ›Sich die Dinge zu eigen machen‹ meint ein Verhältnis zu den Ereignissen, den Mitlebenden, zur Geschichte, in dem diese ›transparent‹ erscheinen – Anna Seghers spricht vom »Fegefeuer«, das die Erfahrungen auf dem Weg zum Aufschreiben durchqueren (27). Durchschaubar wird die Katastrophe aber nur einem Erzählen, das sich fragend, analysierend, deutend auf eigene Erfahrungen und auf die Form des Erzählens selbst bezieht. Nur so ist es möglich, die erzählte als erinnerte ›eigene‹ Geschichte und nicht als Verhängnis, 9

Benjamin, »Der Erzähler«, S. 453. Zum Folgenden: Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, insbes. S. 54ff. zum Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis.

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Schicksal, Trauma in immer gleicher Wiederholung zu erfahren. Das meint Ricœur mit dem Begriff der Erinnerungsarbeit. Ricœur hat auch darauf hingewiesen, wie eng Erinnerung und Erzählen aufeinander angewiesen sind. Der Begriff der identité narrative (Ricœur) verweist darauf, dass Gedächtnis auf Erzählen angewiesen ist, Identität ein narratives Konstrukt und daher unabgeschlossen und auf den Andern bezogen ist.10

III. Die Figur des Erzählers konstruiert Anna Seghers aus dem zeitgeschichtlichen Stoff, den ihr die Kollektiverfahrung und die eigene Erfahrung der Flucht bereitstellte: die Massenflucht der nordfranzösischen Bevölkerung vor den deutschen Invasionsarmeen, die im Chaos endet; die Internierung deutscher, spanischer, italienischer Emigranten, staatenloser polnischer Juden in improvisierten Lagern, die eigene Flucht in den unbesetzten Süden Frankreichs nach Marseille – dem »Rinnsal, in das sich der Strom der Flüchtlinge aus ganz Europa goss« (42). Frankreich mit seinen Auffanglagern und Internierungslagern, die später zu Transitlagern für die Deportation der jüdischen Flüchtlinge wurden, war für die Emigranten zum Gefängnis geworden. Als ›Zeuge‹ dieser Kollektiverfahrung ›bezeugt‹ der Erzähler zugleich Anna Seghers’ eigene Erfahrungen: Die Fluchtgeschichte des Erzählers folgt der Route von Anna Seghers’ eigener Flucht, die ihm zugeschriebenen Erfahrungen bei der Beschaffung der für die Ausreise benötigten Papiere – Aufenthaltsgenehmigungen, Visen, Transitvisen, Visa de sortie – und bei der Buchung von Schiffspassagen und der Übersendung des dafür benötigten Geldes sind Anna Seghers’ eigene Erfahrungen, nachzulesen in ihren Briefen an die Freunde in den USA, Franz Carl Weiskopf und Wieland Herzfelde, im Herbst und Winter 1940/1941 und im Sommer 1941. Die Übereinstimmungen reichen bis in Details: so der Eintrag des ›richtigen‹ Namens – nicht Anna Seghers, auch nicht Netty Reiling, sondern Netty Radvanyi (Briefe, 80, 83, 90) –, die Umbuchung der Schiffspassage von Lissabon in ein Ticket Marseille-Martinique, die Gefahr von Polizeikontrollen und Razzien der Fremdenpolizei in den Hotels (Briefe, 95f., 98), der Hinweis auf den Tod Walter Benjamins (Briefe, 23. 11. 1940, 91 und Transit, 196). Die Topographie Marseilles im Roman, Straßennamen, die Namen von Hotels und Cafés 10

Ricœur, Temps et récit, Bd. 3, S. 442ff. Erinnerung ist für Ricœur auch ein Prozess des Abschiednehmens, der Aufarbeitung eines Verlusts, der Befreiung aus einem Trauma in der Form der mémoire sereine, die ihren Frieden mit der (eigenen) Geschichte macht (Ricœur, La Mémoire, l’Histoire, l’Oubli, S. 593ff.).

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stimmen, von wenigen, bewusst vorgenommenen Ausnahmen abgesehen, mit der realen Topographie überein.11 Als ›Zeuge‹ ist der Erzähler den Ereignissen und Erfahrungen nahe genug, um ihre Echtheit zu verbürgen, als fiktive Person ist er zugleich fern genug, um Distanz zu ihnen – dem Trauma der Flucht – halten zu können. Bestimmte Züge des Erzählers, seine ›Naivität‹, seine Freude am Spiel (137), an Tricks und Zauberkunststücken (145), seine Ironie, das Fehlen jeder Todesfurcht (151), haben hier ihren Platz. Sie sind Wunschphantasien ›angstfreien‹ Verhaltens der Autorin und zugleich die Tore, die den Weg zur Erinnerung öffnen.

IV. Modellhaft wird der Prozess der Erinnerung an der Erzählerfigur selbst vorgestellt: Als Zeuge ist der Erzähler zugleich ›Erfinder‹ (109) seiner eigenen Geschichte, die identisch ist mit der Fabel des Romans – als Erzähler, der die Stimme der Autorin hat, ist er gleichzeitig Romanfigur, Teil der Fiktion – eine weitere ›Verdopplung‹ also, die das narrative Dispositiv der Erinnerung als ›Arbeit am Gedächtnis‹ bereitstellt. Ich hatte darauf hingewiesen, dass die mehrfach wiederholte Formel ›von Anfang an (zu) erzählen‹, die nicht für den Erzähler, sondern für das Erzählen überhaupt im Roman gilt (5f. (Erzähler); 214ff. (der Legionär); 165f. (Marie); 207ff. (der Mittransitär); 152 (Claudine); 79ff. (Heinz)), zu entziffern ist als Anagramm der Anamnese. Tatsächlich verbindet die Narration beide Bewegungen: Der Gang nach rückwärts, das Aufrollen der Geschichte des Erzählers (aber auch anderer Figuren des Romans) korrespondiert mit einer erzählerischen Bewegung nach vorn zum Ende der Geschichte, das zusammenfällt, das ist meine vorläufige These, mit der Auflösung des Traumas. In dieser doppelten Bewegung – dem »Entwirren« durcheinandergeratenen Garns und dem »Durcheinanderbringen« glatten Garns (21) – ist die narrative Struktur der Erinnerungsarbeit festgehalten, zugleich aber auch die Unabgeschlossenheit der zwischen Erinnern und Handeln sich konstruierenden identité narrative. Im Zentrum der Geschichte des Erzählers steht die Erfahrung des Verlusts: des Verlusts des geliebten Menschen, der beim Untergang des auf der Überfahrt befindlichen Schiffes zusammen mit allen übrigen Passagieren zu Tode kommt – des Verlusts der eigenen Person, des drohenden Identitätsverlusts, wie er sich thematisch durch den gesamten Roman als Leere (148), 11

Doris Obschernitzki, »Ortsbesichtigung. Anna Seghers in Marseille 1941«, in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, 11/2002, S. 116–133.

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Öde (254), Ziellosigkeit (238), Gleichgültigkeit (192), im spielerischen Hang zum Doppelleben (151) artikuliert – Eigenschaften, die dem ›Zeugen‹ gut anstehen, hier aber in Konflikt geraten mit der Rolle des Erzählers als Erinnerungsfigur. Die schlimmste Drohung ist daher die, die aus dem Verlust des Gedächtnisses resultiert. Die Urszene dieses Verlusts findet sich am Anfang des zweiten Kapitels an einer Stelle, an der die Erzählung in ein Selbstgespräch des Erzählers umschlägt: Irgend etwas war mir verloren gegangen, so verloren, dass ich nicht einmal mehr genau wusste, was es gewesen war, dass ich es nach und nach nicht einmal mehr richtig vermisste, so gründlich war es verlorengegangen in all dem Durcheinander. (41)

Die Erinnerungsarbeit vollzieht sich von da an schrittweise: im szenischen Dialog mit anderen Figuren des Romans – dem Arzt, Claudine, Marie, dem politischen Flüchtling Heinz. Die szenische Präsenz, das Erzählen aus der Figurenperspektive macht das Schockartige des Erinnerungsvorgangs, die ihn begleitenden Stimmungsumschwünge, aber auch das Vorläufige der jeweils erreichten Stufe des Wissens und des daraus abgeleiteten Verhaltens sichtbar. Narrativ wird die Arbeit des Erinnerns simuliert im wechselseitigen Nebeneinander und Gegeneinander von Erzähler-Ich und erzähltem Ich. Als Beispiel wähle ich die Szene der Begegnung des Erzählers mit Heinz, einem Gefährten aus dem Internierungslager, dem die Flucht nach Marseille geglückt war und dessen Spur der Erzähler verloren hatte. Das unerwartete Zusammentreffen vermittelt dem Erzähler ein Gefühl wiedergefundener Identität, das in dem Augenblick umschlägt, als ihm deutlich wird, dass die von ihm an Heinz geschätzten Fähigkeiten – »Treue, Zuverlässigkeit, unbeirrbarer Glaube« (78) – ihm selbst abgehen: Heinz sah mich aufmerksam an. Plötzlich wurde mir klar, dass es ziemlich schlecht mit mir stand. Ich machte mir nicht viel daraus, aber ich konnte vor mir selbst nicht länger ableugnen, dass es schlecht mit mir stand. Ich hatte nur diese eine Jugend, und sie ging daneben. Sie verflüchtigte sich in Konzentrationslagern und auf den Landstraßen, in öden Hotelzimmern und bei den ungeliebtesten Mädchen, und vielleicht noch auf Pfirsichfarmen, wo man mich höchstens duldete. Ich fügte laut hinzu: »Mein Leben geht ganz daneben.« (81)

Die Szene bezeichnet im Prozess der Erinnerung den Punkt, an dem die Rekonstruktion der Person des Erzählers einsetzt. Sie führt über Begegnungen und Erfahrungen mit Personen, die jeweils einen Schlüssel für die eigene Erkundung und Weiterentwicklung bereitstellen. Der Prozess der ›Selbsterfindung‹ (»selbst der Erfinder« seines Lebens sein, 109), der hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann, zielt darauf, in der Katastrophe Verhaltensweisen zu entwickeln, die es dem Erzähler ermöglichen, als ›selbst‹

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und als soziales Wesen zu überleben. Dazu gehört die Entscheidung darüber, was das ›Wichtigste‹ im Leben ist (106), d. h. das »Spiel mit den zwei Leben« (151) zu überwinden. Gemeint ist das Spiel mit dem eigenen Namen, das Spiel mit den Menschen – den wechselnden Geliebten, den Freunden, das unentschiedene Schwanken zwischen Bleiben und Abfahren –, nicht aber das Spiel ästhetischer Erfahrung, das Distanz herstellt und Angst auflöst. Anna Seghers führt diese Bewegung bis zu dem Punkt, wo Spiel in Ernst umschlägt, der Erzähler nicht mehr ›allein‹ (153) ist, sein Leben in das der ›anderen‹ mündet. Wo Eigenschaften wie Nähe, Treue, Freundschaft, Liebe wichtig werden, weil sie den Alltag und das alltägliche Leben als das Kontinuum in der Katastrophe erfahren lassen. Dazu gehört vor allem, dass der Erzähler in seine Lebensgeschichte eintritt, dass er den spontanen ›Faustschlag‹ gegen den SA-Mann und die dadurch ausgelöste Folge eher zufälliger Handlungen, Fluchten und Begegnungen als Teile eines Kontinuums und als Ausgangspunkt eines selbstbestimmten Lebens begreift, das gegebenfalls – aber dies bleibt nur angedeutet – in den Widerstand führt: »Ich will jetzt Gutes und Böses hier mit meinen Leuten teilen, Zuflucht und Verfolgung. Ich werde, sobald es zum Widerstand kommt, mit Marcel die Knarre nehmen.« (279) Der Erzähler ist bei sich selbst angekommen. Das zeigt sich auch in der Narration: Erzähler-Ich und erzähltes Ich, Erzähler-Rede und erlebte Rede fallen zusammen. Er ist an dem Punkt angekommen, in dem er in der Geschichte, die er sich und dem Hörer/Leser über sich selbst und die anderen erzählt, ›wiedererkennt‹.12

V. Der Erzähler, so Benjamin »weiß Rat«.13 Welchen Rat kann der Leser vom Erzähler als ›Zeugen‹ und als narrativem Medium und Akteur der Erinnerung erwarten? Welches ist die ›Weisheit‹, die das Erzählen vermittelt? Anders gefragt: Gelingt die narrative Integration des ›Zeugen‹ in den ›Erzähler‹ seiner eigenen Geschichte und der eigenen Geschichte in die Kollektivgeschichte des Exils? Meint die Aufarbeitung und Auflösung des individuellen Traumas auch die Auflösung der kollektiven Traumata? Und: Stellt der zeitgenössische Roman die Form dar, die die Erfahrungskrise der Moderne, die sich zuspitzt zur Erfahrung der Katastrophe, ›lösen‹ kann?

12 13

Ricœur, Temps et récit, S. 445. Benjamin, »Der Erzähler«, S. 442.

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Diese Fragen wirft Benjamin in seinem 1936 veröffentlichten Essay Der Erzähler auf. Sie finden sich wieder als verdecktes Selbstzitat in Benjamins ausführlicher Besprechung des Romans Die Rettung.14 In seiner 1938 in der Neuen Weltbühne erschienenen Kritik der Rettung attestiert Benjamin Anna Seghers, ihr Roman »streife«, wenn auch vielleicht »unbewußt«, die Problematik der Erzählkrise, wie sie »fast alle bedeutenden Romanwerke aus den letzten Jahren« charakterisiere.15 Die Antworten und Lösungen, die Anna Seghers – so Benjamin – in der Rettung anbietet, finden sich in Transit wieder. So der Rückgriff auf die Alltagssprache, die Innervation mündlichen Erzählens: Erzählen, das sich im Dialog mit dem Leser und Hörer entfaltet. Ferner: die Einführung des Erzählers als Zeitzeuge, als ›Autor‹ einer zwischen Geschichte und Fiktion vermittelnden Erinnerung. Schließlich – und das führt zum Kern der Antwort – der Rückgriff auf epische Formelemente, die dem Roman historisch vorausgehen und die Benjamin unter den Begriff der Chronik fasst. Trotz aller integrativen Anstrengungen der Autorin sind ›Zeuge‹ und ›Erzähler‹ in Transit nicht deckungsgleich. Die Zeugenberichte, wenn auch als Teil der Erinnerungsgeschichte des Erzählers konzipiert, haben ein Eigengewicht, das ihnen aus ihrer besonderen Stellung zur Ge14

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Helen Fehervary, Anna Seghers. The Mythic Dimension, Ann Arbor 2001. Sie hat als erste auf Beziehungen und Gespräche zwischen Walter Benjamin und Anna Seghers in den Dreißigerjahren in Paris hingewiesen. Diese stehen offensichtlich im Zusammenhang mit seiner Besprechung der Rettung. H. Fehervary kann sich dabei auf Hinweise in den Briefen von Walter Benjamin um die Jahreswende 1937/1938 stützen. So schreibt Benjamin an Karl Thieme am 20. 12. 1937: »Gerade neuerdings sind die in Ihrem Brief berührten Fragen [u. a. nach der Bedeutung vorliterarischer ›einfacher Erzählformen‹, L.W.] in einigen Gesprächen wieder in Fluß gekommen, die ich mit Anna Seghers über die Lage des Romanciers hatte.« (Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. V, 1935–1937, Christoph Gödde/Henri Lonitz (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1999, S. 632) Vgl. auch den bestätigenden kurzen Hinweis in einem Brief an Alfred Cohn vom 13. 01. 1938: »Anna Seghers, die ich jetzt öfter sehe…« (Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. VI, 1938–1940, Christoph Gödde/Henri Lonitz (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2000, S. 16). Dafür, dass die ›Gespräche‹ mit Anna Seghers sich über Fragen der Narratologie, der Geschichte des Romans und der Formen des Erzählens hinaus auf die von Walter Benjamin im »Erzähler« angedeuteten, aber erst in den »Thesen zur Geschichte« entwickelten geschichtsphilosophischen Aspekte ›chronikalischen‹ Erzählens erstreckt hätten, gibt es keine Belege. Fehervary ist, vor allem was ihre weiterführende These vom Einfluss Benjamins beim Nachweis chiliastischer Traditionen in Anna Seghers’ Geschichtsverständnis im Siebten Kreuz und in Transit betrifft, auf Vermutungen und intertextuelle Konjekturen angewiesen (Fehervary, Anna Seghers, S. 148–174). Walter Benjamin, »Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen. Zu Anna Seghers’ Roman Die Rettung«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, Hella Tiedemann-Bartels (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1972, S. 530–538, hier S. 536 und S. 537.

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schichte zukommt. Von diesen »merkwürdigen Geschichten«,16 die in der Chronik wie die einzelnen Stücke eines »Lesebuchs«17 aneinandergereiht sind, sagt Benjamin, sie stünden »unmittelbar« zur Geschichte. Anders als in den Formen informativer Narration in der zeitgenössischen Presse und der literarischen Montage, die als Nachricht und Kommentar die Geschichte erklären wollen, anders als im traditionellen (Bildungs-)Roman, der die Geschichte in die Darstellung der Individuen kontingent, wenn auch widersprüchlich hinein verwebt, bleibe der »Weltlauf« als gleichsam überbzw. unhistorische Kategorie außerhalb der chronikalischen Erzählung. Zum Vergleich verweist Benjamin auf frühe Formen mittelalterlicher Malerei, die die dargestellten Personen vor einen Goldgrund stellen, der als malerisches Zeichen der Heilsgeschichte zugleich Erlösung und Katastrophe bedeuten könne.18 In diesem Sinn ist Transit – wie Die Rettung – konstruiert als Chronik: als »Lesebuch« voller »kurzer Geschichten«, ungehörter und unerhörter Geschichten – historischer Anekdoten, Zwischenformen von Dokument und Fiktion. Benjamin nennt sie »Musterstücke des Weltlaufs«, die sich jeder geschichtlichen Erklärung und teleologischen Deutung entziehen.19 In den 16 17 18

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Benjamin, »Der Erzähler«, S. 444. Benjamin, »Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen«, S. 537. Ebd., S. 534f.: »Es unterscheidet die Chronik von der Geschichtsdarstellung im neueren Sinne, daß ihr die zeitliche Perspektive fehlt. Ihre Schilderungen rücken in nächste Nähe derjenigen Formen der Malerei, die vor der Entdeckung der Perspektive liegen. Wenn die Gestalten der Miniaturen oder der frühen Tafelbilder dem Betrachter auf Goldgrund entgegentreten, so prägen sich ihm ihre Züge nicht weniger ein als hätte der Maler sie in die Natur oder in ein Gehäuse hineingestellt. Sie grenzen an einen verklärten Raum, ohne an Genauigkeit einzubüßen. So grenzen dem Chronisten des Mittelalters seine Charaktere an eine verklärte Zeit, die ihr Wirken jäh unterbrechen kann. Das Reich Gottes ereilt sie als Katastrophe.« Zur Unterscheidung zwischen dem Chronisten und dem Historiker vgl. Benjamin, »Der Erzähler«, S. 451: »Der Historiker ist gehalten, die Vorfälle, mit denen er es zu tun hat, auf die eine oder andere Art zu erklären; er kann sich unter keinen Umständen damit begnügen, sie als Musterstücke des Weltlaufs herzuzeigen. Genau aber das tut der Chronist…« – Die Chronik stellt die Ereignisse nebeneinander, sie stehen als einzelne unmittelbar zur (Heils)-Geschichte; die Historik stellt die Ereignisse in einen kausalen Zusammenhang innerhalb der ›heiligen‹ oder ›profanen‹ Geschichte. Die Historie verzeichnet sinnvolle Abläufe, die Chronik verhält beim Nebeneinander. Die Chronik ist als Narrativ, neben Märchen und Sage, eine Form des ›Erzählens‹, die Historie verweist auf den Roman. Geschichtsphilosophisch verbinden sich mit den beiden narrativen Formen für Benjamin die Konzeption der »erfüllten Zeit« (Chronik) bzw. der »leeren Zeit« des Fortschritts (Historie). – In den postum veröffentlichten geschichtsphilosophischen Thesen wird das Narra-

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»kurzen Geschichten« verdichten sich individuelle Schicksale zur Geschichte, ihre Pointe beschreibt den ›Augenblick‹,20 in dem sich die Grenzen zum kollektiven, Individuen und Zeit überdauernden ›Alltag‹ öffnen, der große Weltlauf einmündet in das »Pianissimo« der Beziehungen »von Mensch zu Mensch«,21 oder aber der Blick sich schreckhaft »auf einen tiefen Abgrund öffnet«.22 Es sind Geschichten »Abgeschiedene[r]… die ihre wirklichen Leben in ihren verlorenen Ländern gelassen hatten, in den Stacheldrähten von Gurs und Vernet, auf spanischen Schlachtfeldern, in faschistischen Kerkern« (112).

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tiv der Historie zum Ausgangspunkt von Benjamins Kritik am sozialdemokratischen Geschichts- und Fortschrittsbegriff, steht das Narrativ der Chronik im Zentrum seines an die messianische Jetztzeit gebundenen Revolutionsbegriffs, in dem »Erlösung« und »Katastrophe« zusammenfallen (vgl. Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1974, S. 691–704, insbes. die 3. These zur Chronik, S. 694, und den Anhang A zu den Thesen, S. 704). Die Geschichtstheologie der Thesen, die in einer Reihe von Hinweisen im »Erzähler« vorweggenommen erscheint, bildet den Horizont, nicht aber das Thema – und hier unterscheide ich mich von Helen Fehervary – der Gespräche, die Walter Benjamin und Anna Seghers ›über den Roman‹ geführt haben (vgl. Anm. 14). Die Untersuchung der narratologischen Aspekte der Chronik, so meine These, muss der Deutung ihres theologischen Gehalts vorausgehen. Benjamin, »Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen«, S. 537. – Heinz Schlaffer verbindet die Pointe der Anekdote, im Unterschied zum Witz, mit dem »Anspruch auf Faktizität« (vgl. seinen Artikel »Anekdote« im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin 31997, S. 87–89). Die Anekdote als epische Form gehört in die Poetik ›beschreibender‹ Texte, wie sie Klaus R. Scherpe in »Beschreiben, nicht Erzählen! Beispiele zu einer ästhetischen Opposition: Von Döblin und Musil bis zu Darstellungen des Holocaust«, Antrittsvorlesung 30. 06. 1994, in: Öffentliche Vorlesungen, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultuät II, Institut für deutsche Literatur o. J., vorgestellt hat. Max Weber, »Wissenschaft als Beruf«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 554. Max Weber spricht hier von der umfassenden Bewusstseins- und Verhaltenskrise, die im Gefolge der »Entzauberung der Welt« auch die Kunst treffe. Es sei »weder zufällig, daß unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.« Webers an die Absage gegenüber jeglicher Form der Prophetie gebundene Aufforderung, ›an die Arbeit zu gehen‹, konnte noch nicht voraussehen, dass der Prozess der Entzauberung der Welt im Faschismus in die Katastrophe umschlagen würde. Benjamin, »Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen«, S. 537.

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Die Geschichte der […] kleine[n] Frau mit dem zottigen Haar, die […] immer jedem dasselbe erzählte mit immer neuem Schreck in den Augen. Wie sie ihr Kind bei der Evakuation von Paris verloren hatte. Sie hatte es auf ein Soldatenauto gesetzt, weil es müde geworden war. Da waren die deutschen Flieger gekommen, die Straße war bombardiert worden. […] Man hatte [das Kind] erst Wochen später weit ab in irgendeinem Gehöft gefunden, es würde nie mehr werden wie andere Kinder. (87)

Oder die Geschichte der jungen jüdischen Frau, die in ein »Frauenlager verschleppt« wird, »in einen Winkel der Pyrenäen«, »unter den Flüchen und dem Gejammer [ihrer] Tanten und Oheime, aus Belgien geflüchteter Juden, die sie an Kindesstatt mitgenommen hatten mit viel Treue und ungenügenden Ausweisen« (38). Oder die Geschichte des Mädchens aus dem Lager Bompard […]. Sie trug keine Strümpfe mehr, das Pelzchen, das sie zur Feier des Tages umgelegt hatte, sah räudig und zerfressen aus. Der Polizist griff ihr unter die Arme, ihr Gang war schwankend geworden. Wahrscheinlich war eben ihre letzte törichte Hoffnung gescheitert. Man würde sie wahrscheinlich schon morgen aus dem Bompard zurück in ein endgültiges Lager stecken, dort würde sie rasch vollends zerfallen. (247)

Zu den »Abgeschiedenen« zählen auch die jüdische Großfamilie, die die alte und kranke Frau, die Älteste der Familie, nicht zurücklassen will und deshalb auf die Abreise verzichtet (201f.), der Mittransitär, der nach Polen ins Ghetto zurückgeht (206–209, 260), der Legionär, der in Frankreich und in Afrika gegen Hitler gekämpft hat, nach einer Verwundung entlassen wird, und auf den »niemand wartet« (212–218). Die schwache epische Integration dieser kurzen Geschichten verweist auf die Bruchstellen individueller und kollektiver Erinnerung, mehr: auf die Grenzen erzählerischer Erinnerungsarbeit. Der Roman und die von ihm insinuierte Erinnerungsarbeit, die dem Zeugen den Erzähler an die Seite stellt und die Erzählung einem sympathisierenden Zuhörer anvertraut – dieser episch inszenierte Vorausgriff auf eine mit der Vergangenheit versöhnte Gegenwart scheitert an der Inkommensurabilität der in den kurzen Geschichten kommentarlos mitgeteilten Schicksale der »Abgeschiedenen«. Als unausgelöste Fundstücke der Erzählung wandern sie ins Archiv, aus dem sie der Chronist abruft.

VI. Die Erinnerungsmuster für die individualpsychologische und die kollektivgeschichtliche Aufarbeitung der Katastrophe, die der Roman anbietet, sind nicht kongruent. Das schlägt sich in der Struktur des Romans nieder: Transit

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ist ein unvollendeter Bildungsroman. Die historischen Zitate und Referenzen, die ihm das chronikalische Erzählen zuführt, sind »windschief«23 in die Struktur eingesetzt. Als Ganzes ist Transit eine Mischform aus erzählenden und beschreibenden Teilen. An den Bruchstellen kann sich eine an ›Grenzraumerfahrungen‹ orientierte Lektüre entfalten, die auf hybride Formen der Orientierung und Selbstvergewisserung verweist. Gerade die Sinnträger und Sinnsucher des Romans sind marginale Figuren. Das gilt für Heinz, der eine episodische Figur ist und als ›Schatten seiner selbst‹ schließlich aus dem Roman herausfällt; das gilt auch für den Erzähler, der sich nicht zufällig als »Wegelagerer« (180) bezeichnet. Ihre Geschichten sind Teil eines in den kurzen Geschichten erzählten kollektiven Schicksals, das – in der Katastrophe – den Zerfall ideologischer Gewissheiten und Identitätsmuster dokumentiert. Grenzraumerfahrungen lassen sich, nach Homi K. Bhabha, beschreiben als ständig erneuertes Aushandeln und Übersetzen von Eigenem und Fremden, Individuellem und Kollektivem, von Dauer und Gegenwart: als »Aushandeln jener Zeiten, Begriffe und Traditionen, mit denen wir unsere ungewisse, dahingleitende Jetzt-Zeit in die Zeichen der Geschichte verwandeln«.24 Im Zentralmotiv des Romans wird diese Erfahrung beschrieben: Der Mont Vertoux hatte sich dicht gefüllt. In vielen Sprachen schlug sein Geschwätz an mein Ohr: von Schiffen, die nie mehr abgehen würden, von angekommenen, gescheiterten und gekaperten Schiffen, von Menschen, die in die Dienste der Engländer gehen wollten und in die Dienste de Gaulles, von Menschen, die wieder ins Lager zurück mussten, vielleicht auf Jahre, von Müttern, die ihre Kinder im Krieg verloren hatten, von Männern, die abfuhren und ihre Frauen zurückließen. Uraltes frisches Hafengeschwätz, phönizisches und griechisches, kretisches und jüdisches, etruskisches und römisches. – Ich habe damals zum ersten Mal alles ernst bedacht: Vergangenheit und Zukunft, einander gleich und ebenbürtig an Undurchsichtigkeit, und auch den Zustand, den man auf den Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart. Und das Ergebnis: nur eine Ahnung – wenn diese Ahnung verdient ein Ergebnis genannt zu werden – von meiner eigenen Unversehrbarkeit. (273)

Transit steht als Mythos, der in vielfältiger Form im Roman präsent ist, für eine Schwellenerfahrung, die nicht nur zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch zwischen Bewusstem und Unbewusstem, Individuum und Kollektiv, zwischen Sinn, Vielfalt und Chaos vermittelt. Gemeint ist eine Erfahrung des ›Dazwischen‹, die nicht auflösbar ist und das Erzählen zu einer Gratwanderung auf dem Erinnerungspfad der eigenen und fremden, der individuellen und kollektiven Geschichte macht. 23 24

Benjamin, »Der Erzähler«, S. 443. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2007, S. 232.

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VII. Homi K. Bhabha versteht die Erfahrung des Unheimlichen nicht nur als Ausdruck individueller Krisen und Traumata, sondern deutet sie als Folge kultureller Krisen und Umbrüche.25 Die von Freud beobachteten Phänomene der Ich-Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung interpretiert Bhabha als Verhaltensweisen, mit der Ich auf das kulturell Andere und Neue reagiert. Der ›dritte Raum‹, in dem die kulturell entwurzelten Individuen agieren und miteinander kommunizieren, ist ein kultureller Hybrid. Literarische Fiktion kann unter diesem Aspekt als Form spielerischen Umgangs mit dem Schock kultureller Entfremdung und Herausforderung durch das Andere begriffen werden.26 Das Andere und Fremde ist in Transit präsent als Topographie und Stadterfahrung von Marseille. Marseille als Ort, der am Übergang Europas zur Welt liegt, als Völker-und Sprachen-Babel – in der Katastrophe als »Rinnsal« der Verfolgten und ihrer Verfolger, als »Rinne ins Meer, wo endlich für alle wieder Raum war und Friede« (42). Die Bewohner Marseilles, wie sie in Transit geschildert werden, stammen aus allen Kontinenten: Neben Franzosen und Korsen leben hier Spanier, Portugiesen, Algerier und Madagassen, Brasilianer, Mexikaner, Kubaner, Engländer und Amerikaner, Flüchtlinge aus Deutschland und Europa, deutsche Besatzer und französische Miliz. Die Erfahrung, die dieser Stadtraum vermittelt, ist schockhaft: Den Flüchtlingen wird er zur »Hölle« (209), zum »Abgrund« (S. 179), zum »Grab« (181), den Abfahrenden zum rettenden Hafen, zur Stadt am Meer, dessen »Leere und Öde«, »Spurlosigkeit« und »Unbefleckbarkeit« (43) zugleich schreckt und tröstet. Die Protagonisten – der Erzähler und Marie – erfahren Marseille als Labyrinth: Die Suche nach dem verschwundenen Weidel hat ihr Narrativ in ambulatorischen Stadtdurchquerungen, in dem sich die Motive der Suche und Erkundung verbinden mit den Motiven von Flucht und Verfolgung. In diesen repetitiven Durchquerungen wird die Stadt, werden ihre Straßen, Häuser und Plätze zugleich lokalisiert und verfremdet, vertraut und unheimlich: Wir durchquerten die Cannebière […]. Der Wind hatte völlig aufgehört. Sie lief in die Rue des Baigneurs. Ich hoffte, jetzt gleich zu erfahren, wo sie wohnte, wohin sie gehörte, unter welchen Umständen sie hier lebte. Sie lief aber kreuz und quer durch die vielen Gassen zwischen dem Cours Belsunce und dem Boulevard d’Athènes […]. Wir durchquerten den Cours Belsunce, und dann die Rue de la 25 26

Ebd., S. 16, 215. Die Charakterisierung von Transit als »diasporic work« von Helen Fehervary (dies., Anna Seghers, S. 170) enthält einen (vermutlich so nicht beabsichtigten) Hinweis auf die Offenheit der Raum- und Zeitstruktur im Sinn einer hybriden ›Grenzerfahrung‹.

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République. Sie lief durch das Gassengewirr hinein hinter dem alten Hafen. Wir kamen sogar an dem Haus vorbei, in dem Binnets wohnten. Seine Tür mit dem bronzenen Kupfer erschien mir wie eines der Stücke Wirklichkeit, die sich mit Träumen vermischen. (107f.)

Während der Erzähler mit der Erfahrung des Labyrinths spielt und zwischen Traum und Wirklichkeit, Nähe und Ferne, zwischen Bleiben und Abfahren unentschieden Distanz zur Stadt bewahrt, ist für andere Marseille Heimat und Zuflucht – ›ein Stück Wirklichkeit‹: für die Hotelbesitzer und Concierges, die Betreiber der Bistros und Cafés, die Händler auf den nordafrikanischen Märkten, für alle, die in Marseille arbeiten. Einige dieser Personen erhalten ihre Geschichte: Nadine, die Freundin und zeitweilige Geliebte des Erzählers (65f., 187f.), der schweigsame Portugiese aus dem arabischen Café am Cours Belsunce, der die illegale Überfahrt für Heinz nach Afrika organisiert (145f., 184f.), Rosali, die als Angestellte der Préfecture Maries Reisepapiere fälscht und so deren Abfahrt ermöglicht (251ff., 261). Vor allem aber die Familie Binnet: Georg, Claudine und ihr kleiner Sohn, die vom Rand der Erzählung immer mehr ins Zentrum rücken. Der Alltag, der ihr Leben bestimmt und immer wieder neu konstruiert und erzählt wird, ist hybrid.27 Seine disparaten Elemente: die nordafrikanische Heimat Claudines und ihres Sohnes, die große aus Nordfrankreich stammende und über ganz Frankreich verstreut lebende Familie Binnet, der gemeinsame Haushalt, die Sorge für den Sohn, die Arbeit – Claudine in einer Zuckerfabrik, Georg in der Mühle – verdichten sich in Gesprächen, im gemeinsamen Essen mit dem Erzähler, im provozierenden, Nähe und Freundschaft einfordernden Verhalten des Knaben zu einem ›Zwischenraum‹ einer anderen, neuen Identität, in die auch der Erzähler am Ende seiner Erzählung eintritt: Wenn die Nazis uns auch noch hier überfallen, dann werden sie mich vielleicht mit den Söhnen der Familie Zwangsarbeit machen lassen oder irgendwohin deportieren. Was sie betrifft, wird auch mich betreffen. Die Nazis werden mich keinesfalls mehr als ihren Landsmann erkennen. Ich will jetzt Gutes und Böses hier mit meinen Leuten teilen, Zuflucht und Verfolgung. (279) 27

Erklärungsbedürftig, weil widersprüchlich bleibt die wiederholte Beschwörung der deutschen Muttersprache durch den Erzähler (S. 26, S. 276). Sie steht quer zum sprachlichen und kommunikativen Medium des Romans, der von Flüchtlingen, Migranten, Ausländern, den ›kleinen Leuten‹ in Marseille handelt. In den Schilderungen und der erzählerischen Selbstartikulation dieses Milieus als Zwischenwelt, für die die Familie Binnet steht, ist der Roman über die identitären Zuschreibungen der deutschen Muttersprache hinaus. Ihre Evokation in Transit ist nicht mehr als ein erinnerungskultureller Notanker, die in die unauslotbaren Tiefen eines die Zeiten überdauernden, die Grenzen überschreitenden ›Hafengeschwätzes‹ geworfen wird.

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Ein märchenhafter Schluss. Von ihm gilt, was Walter Benjamin im Erzähler vom Märchen sagt: dass es die »Zauber« löst, die der Mythos über die Geschichte verhängt hat.28 Das chronikalische Narrativ nimmt auch diese ›kleine Geschichte‹ in das Lesebuch des Exils auf.

VIII. Anna Seghers verweist bei der Beschreibung der Texte des toten Schriftstellers Weidel auf die Gattung der ›kleinen Form‹. Die Rede ist von Weidels »kleinen, manchmal ein wenig verrückten Geschichten … so fein und so einfach, dass jedes an ihnen sich freuen konnte, ein Kind und ein ausgewachsener Mann« (276). Damit verweist Seghers nicht nur auf das chronikalische Erzählen als epische Form des Erinnerns, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf den Ort der Literatur im Gedächtnis des Exils. Thematisch führt der Roman dies am nachgelassenen Manuskript Weidels vor: es enthält, wie das Souvenir, ein »Versprechen«, eine »im Rest-Fragment nur angedeutete Geschichte ganz zu erzählen«.29 Der Erzähler rettet das Manuskript, seine Lektüre hilft ihm über die tödliche Langeweile und das Alleinsein hinweg; die Lektüre des fremden Texts weckt und befreit die Erinnerung, die fragmentarische Geschichte und die darin vorkommenden Personen – ein »Haufen verrückter Menschen, recht durchgedrehtes Volk«, »ihr Hineinschliddern in ein Schicksal« (26) erinnern den Erzähler an Menschen seiner eigenen Geschichte. Die Kunst Weidels besteht für den Erzähler darin, dass es ihm gelinge, durch die Beschreibung das Verhalten und Handeln seiner Personen verständlich zu machen: Sie erschienen »klar und lauter, als hätten sie alle schon abgebüßt, als wären sie schon durch ein Fegefeuer durchgegangen« (27). Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Weidel zugeschriebenen Formen des Erzählens: Die »grobe Fabel« (157), die Reportage (134, 210f.), das Märchen (26) sind auch die Formen, die der Erzähler im narrativen Klärungsprozess der ›eigenen‹ Erfahrungen verwendet. Aber Transit hat als Chronik des Exils nicht nur diese Stimme: Das Archiv der Erinnerung enthält neben der Geschichte der Anna Seghers und ihrer ›Aufarbeitung‹ in der Erzählung des fiktiven Zeugen und Erzählers eine Fülle ›kleiner‹ Geschichten von Flüchtenden und Verfolgten, von vorläufig Geretteten und Überlebenden, von Toten oder zum Tod Bestimmten. Diese Geschichten kommen nie zu Ende 28 29

Benjamin, »Der Erzähler«, S. 458. Günter Oesterle, »Souvenir und Andenken«, in: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Museum für Angewandte Kunst Frankfurt 2006, S. 16–45, S. 20 zum Narrativ des Zu-Ende-Erzählens.

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und wer sie erzählt oder liest, wird nicht erlöst.30 Der Zwang, sie immer neu zu erzählen, zu hören und zu lesen, begleitet das chronikalische Erzählen als literarische Form einer nicht zu Ende kommenden narrativen Erinnerungsarbeit und verweist auf das objektive Verhängnis, das auf diesen Geschichten als den chronikalischen Zeugnissen der Katastrophe liegt. Mit dem Motiv des Fortschreibens des unvollendeten Manuskripts tritt der Roman ein in die Thematik der Tradition und stellt sie sogleich neu: Bedroht in der Katastrophe ist nicht allein die kulturelle Überlieferung und die Literatur als eine ihrer Formen, sondern die Erinnerung selbst. Die Literatur als Organon der Erinnerung gegen die Drohung der Katastrophe zu retten, würde bedeuten, sie auf Erfahrungen vorzubereiten, die Flucht und Verfolgung, Tod und Selbstverlust einschließen und gleichzeitig übersteigen, und sie kompatibel zu machen für eine Erinnerung, die im tremendum horrendum 31 des kollektiven Mords ihre durch keine Erzählung zu befriedende und zu versöhnende geschichtliche und ästhetische Herausforderung hat. Wenn 30

31

Auf den »Sprossen der Erfahrung« (Benjamin, »Der Erzähler«, S. 457) hat der Mythos seinen, wenn auch nicht privilegierten Platz unter den narrativen Formen der Erinnerung. Wichtig erscheint mir gerade in Transit die Funktion des Mythos als Grenzerfahrung, die individuelle und kollektive Seiten der (zeitlichen) und (räumlichen) Erfahrung miteinander kompatibel macht und so ›Zwischenräume‹ öffnet, in denen die Narration als Erkundung der Beziehungen zwischen Eigenem und Fremdem, Individuellem und Kollektivem, Zeit und Zeitlosigkeit, Sinn und Katastrophe sich entfalten kann. Alle Versuche einer Reduzierung der Erzählweise und der erzählten disparaten Wirklichkeit auf einen sie begründenden ›Ursprung‹ und der Versuch, die Katastrophe in einer chiliastischen Heilserwartung zu ›erlösen‹ (vgl. etwa Fehervary, Anna Seghers, und dort die programmatische Überschrift des der Interpretation des Siebten Kreuzes und Transit gewidmeten 7. Kapitels: »Myth and Redemption«, S. 148ff.) unterlaufen die hier beschriebene ›Grenzerfahrung‹. Überzeugender als der Versuch, den ›Erzähler‹ in die Tradition jüdischer Propheten und Rebellen zu rücken (ebd., S. 170), erscheint mir der Vorschlag, die Autorin Anna Seghers als ›Überlebende‹ zu bezeichnen: »as a chronicler writes testimony offered to the memory of the dead« (ebd., S. 170f.). Paul Ricœur unterscheidet zwischen dem tremendum fascinosum als Gründungsmythos der Macht und dem tremendum horrendum als Erinnerungsspur der Opfer (der victimes – nicht der vaincus) der Geschichte. Am Ursprung des tremendum horrendum stehen unvergleichbar schreckliche Ereignisse wie die Shoah, die durch die Erinnerung wohl aufgearbeitet, aber nicht ›erlöst‹ werden können (Ricœur, Temps et récit, S. 339ff.). Die Arbeit der Erinnerung und die narrativen Formen ihres Vollzugs führen hier an die Bruchstellen analytischen Selbst- und Fremdverstehens. Das chronikalische Erzählen notiert diese Bruchstellen. Über seine Funktion schreibt Ricœur: »La fiction donne au narrateur horrifié des yeux. Des yeux pour voir et pour pleurer.« (Ebd., S. 341f.)

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Walter Benjamin in seiner Besprechung der Rettung Anna Seghers die Rolle einer »neuen Sheherazade«32 zuweist, dann gilt das in anderer Weise für die Autorin von Transit. Als Chronik des Exils steht Transit am Anfang einer Literatur, die unter anderer als nur individueller Todesdrohung steht.

32

Benjamin, »Der Erzähler«, S. 453.

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Günter Butzer (Augsburg)

Höllenfahrt ohne Auferstehung Die Unterweltsreise als Narrativ katastrophischen Erinnerns

Eine der Ursprungserzählungen für die Konjunktion von Katastrophe und Gedächtnis stellt die sogenannte Simonides-Legende dar, die die Entstehung der Gedächtniskunst in einem katastrophalen Ereignis begründet: dem Zusammenbruch einer Festhalle, die alle Feiernden unter sich begräbt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt – bis auf den griechischen Dichter Simonides, dem die Identifikation der Leichen und damit deren ordentliches Begräbnis durch die Rekonstruktion der Sitzordnung der Festgäste gelingt.1 Cicero und Quintilian leiten aus dieser Geschichte die Verfahren der rhetorischen Mnemotechnik ab, bei der der Redner die Elemente seines Textes in einem imaginären Raum anordnet und dort zum Abruf bereit hält. Jan Assmann unterstellt, es handle sich hier um die Urszene der individuellen abendländischen Mnemotechnik, der er das Deuteronomium als Urszene kultureller Erinnerung entgegenhält.2 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, dass es auch bei der Simonides-Geschichte – wie beim biblischen Text – um eine kulturelle Mnemonik zu tun ist, sofern die konkrete Geschichte von Tod, Identität und Bestattung handelt und – folgt man der Interpretation Stefan Goldmanns – auf griechische Begräbnisrituale rekurriert.3 Liest man 1

2

3

Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis Oratoriae Libri XII. Ausbildung des Redners, 2 Bde., Helmut Rahn (Hrsg.), Darmstadt 1972/1975, XI, 2, 11–16; Marcus Tullius Cicero, De oratore. Über den Redner, Harald Merklin (Hrsg.), Stuttgart 31997, II, 351–353. Vgl. Jan Assmann, »Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik«, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 337–355, hier S. 337. Vgl. Stefan Goldmann, »Statt Totenklage Gedächtnis – Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos«, in: Poetica, 21/1989, S. 43–66. – Diese implizite Verbindung von räumlich geordneten imagines und Totenkult wird explizit im römischen Leichenzug, der pompa funebris, bei der von den Angehörigen die Bilder der Ahnen im agmen imaginum, der Prozession der Bilder, in einer vorgegebenen Ordnung mitgetragen werden, was einerseits der Vergegenwärtigung der Verstorbenen, andererseits der Manifestation sozialer Ordnung dient. Vgl. Egon

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die Simonides-Erzählung im Kontext kultureller Mnemonik, erscheint der gewaltsame Tod als diejenige Katastrophe, die die Erinnerung motiviert; deren Leistung wiederum bestünde dann darin, die entstellten Toten zu repräsentieren und dadurch die Voraussetzung für ein symbolisches Bestattungsritual zu schaffen. Wenn es also stimmt, dass – wie Jan Assmann andernorts schreibt – das Totengedenken die »Urform kultureller Erinnerung«4 ist, dann wäre diese tatsächlich von allem Anfang an katastrophisch grundiert. Ihr Ziel wäre die Vergegenwärtigung von Toten, und diese geschieht als (realer oder imaginärer) Gang ad inferos.

I. Es gibt unterschiedliche Funktionen, die in der europäischen Literatur mit der Unterweltsreise verknüpft sind und die man nach intendierten und akzidentellen unterscheiden kann. Zunächst zu den intendierten: (1) Man fährt in den Hades, um dort seine (gerechte) Strafe zu empfangen (die Delinquenten). So werden in Hesiods Theogonie die besiegten Titanen und später auch die im Aufstand unterlegenen Giganten von Zeus in die Unterwelt verbracht, damit sie unter strenger Bewachung keine Gelegenheit mehr erhalten, die Herrschaft der olympischen Götter zu stören.5 Darüber hinaus werden alle Einzelpersonen, die sich mit den Göttern anlegen – angefangen von Prometheus über Tantalos bis hin zu Sisyphos –, in den Hades verbannt, um dort nicht nur überwacht, sondern auch bestraft zu werden, und zwar durch eine prinzipiell ewige Strafe (wie später in der christlichen Hölle). (2) Neben diesen unfreiwilligen Unterweltsreisenden, die in der Regel nicht zurück kehren, gibt es diejenigen, die aus freien Stücken bzw. im Auftrag dorthin gehen, um etwas zu holen (die Beuteholer). Hierbei handelt es sich zumeist um Heroen wie Herakles oder Perseus, die im Auftrag des Eurystheus oder des Polydektes den Höllenhund Cerberus oder die Medusa überwältigen und zu Tage fördern und bei dieser Gelegenheit gleich noch einige Gefangene – wie Herakles z. B. Theseus – befreien. Dass diese Unternehmungen auch schief gehen können, bezeugt insbesondere Orpheus, der –

4

5

Flaig, »Die Pompa Funebris. Adlige Konkurrenz und annalistische Erinnerung in der Römischen Republik«, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 115–148. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 61. Vgl. Hesiod, Theogonie, Otto Schönberger (Hrsg.), Stuttgart 1999, V. 719–819 u. 820–868.

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aus Absicht oder nicht – seine Beute Eurydike durch den Blick zurück wieder verliert. (3) Auf ähnliche Weise wie die antiken Heroen, aber mit anderer Aufgabe, fährt Jesus zwischen Karfreitag und Ostersonntag in die Hölle, nicht nur wie diese, um einige Insassen mit sich zu nehmen, sondern um den Teufel selbst zu besiegen und seiner eigenen Macht zu unterstellen und damit letztlich die gerechten Toten an seiner Erlösungstat teilhaben zu lassen (der Erlöser als Steigerung des Beuteholers).6 (4) Man fährt in den Hades, um etwas über die Vergangenheit oder die Zukunft zu erfahren (die Ratsuchenden). Die Unterweltsfahrt fungiert hier als ein Äquivalent und als Steigerung des Orakels. Wenn dieses nicht mehr weiter helfen kann, muss man die Toten befragen. So steigt in Senecas OedipusTragödie der Seher Tiresias in den Hades hinab, um den toten König Laios zu beschwören und den Namen seines Mörders zu eruieren.7 Odysseus erfährt in der für Seneca vorbildlichen Hadesfahrt des XI. Buchs der Odyssee – der sogenannten Nekyia (Totenopfer) –, dass er wohlbehalten nach Hause zurückkehren und einen ruhigen Tod im Ehebett sterben wird. (5) Schließlich hat die Unterweltsreise eine psychagogische Funktion, so, wenn Dante in der Mitte seines Lebens vom rechten Weg abkommt, sich im Dickicht einander widerstreitender Leidenschaften verstrickt und vom Seelenführer Vergil durchs Jenseits geleitet wird, um ihn wieder auf den rechten Weg (des Glaubens) zu bringen (die Heilssucher).8 Neben diesen fünf intendierten Funktionen der Hadesfahrt – der Strafe, der Bewährung, der Erlösung, dem Wissenserwerb und der Seelenführung – und den ihnen zugeordneten Figuren des Sträflings, des Beuteholers, des Erlösers, des Ratsuchenden und des Heilssuchers gibt es noch drei weitere beiläufige Funktionen, die häufig mit dieser Fahrt einhergehen, ohne dass sie 6

7

8

Überliefert sind diese Mythen, die das christliche Glaubensbekenntnis voraussetzt (»Niedergefahren in das Reich des Todes. Am dritten Tage auferstanden von den Toten«), bezeichnenderweise nicht im kanonischen Neuen Testament, sondern in apokryphen Texten. Vgl. v. a. die »Höllenfahrt Christi«, in: Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1, Tübingen 61990, S. 414–418 und die ausführliche Höllenbeschreibung der sogenannten Paulus-Apokalypse (ebd., Bd. 2, Tübingen 1997, S. 647–675). Vgl. Seneca, Oedipus, Konrad Heldmann (Hrsg.), Stuttgart 1992, V. 390–397 und 530–658. Vgl. den Beginn von Dantes Commedia, in dem der von Gott bestellte Führer Vergil Dante als Ausweg aus seinen Verirrungen den Weg in die Unterwelt weist: »A te convien tenere altro viaggio, / […] se vuo’ campar d’esto loco selvaggio« (Dante Alighieri, La Divina Commedia, übersetzt von August Vezin, Basel/Roma 1989, Inf. I, 91/93).

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von den Helden beabsichtigt oder wenigstens zugegeben werden würden. Dazu zählt in erster Linie (6) die Befriedigung der curiositas. Denn die Höllenfahrt liefert ja nicht nur ein Wissen um die diesseitige Vergangenheit und Zukunft, sie gibt zunächst in mehr oder weniger großer Ausführlichkeit eine Beschreibung unterweltlicher Gegenwart, mithin aus einem Bereich, der den Lebenden normalerweise verschlossen bleibt. Wie es denn bei den Toten zugehe, ist eine Frage, die schon die Nekyia des Odysseus beantwortet,9 die dann im sechsten Buch von Vergils Aeneis zu einer ausführlichen Topographie des Hades führt und schließlich in die umfassende Beschreibung des Jenseits in Dantes Commedia mündet, die keine Frage mehr offen lässt. In den unterweltlichen Entdeckungsreisen der Neuzeit – von Holbergs Niels Klim bis Vernes Voyage au centre de la terre – gerät die Neugier zum zentralen Motiv, doch bereits die Unterweltsfahrt des Menippos in der Erzählung Lukians nutzt diesen Antrieb für ihre parodistischen Zwecke. (7) Darüber hinaus spielt die Gefährdung des Reisenden eine bedeutende Rolle. Wer in die Unterwelt geht, steht stets in der Gefahr, nicht mehr zurück zu kommen. Das gilt schon für die griechischen Heroen, von denen Theseus bei seinem Versuch, Persephone aus dem Hades zu holen, dort festgehalten und erst von Herakles wieder befreit wird. Das gilt in gesteigertem Maße für Perseus, dessen Vorhaben, Medusa aus der Unterwelt zu rauben, von dieser selbst mit dem Tod bedroht wird, sodass Medusa schließlich zur Inkarnation der unterweltlichen Gefährdung gerät.10 Noch in Dantes Commedia ist sie es, die am Eingang der Höllenstadt Dite Dantes Reise beinahe ein vorzeitiges Ende bereitet.11 (8) Last not least – und damit sind wir wieder bei der Simonides-Geschichte angekommen – formuliert die Begegnung mit den Toten einen Anspruch an den Reisenden, der von den Toten selbst ausgeht. Dieser Anspruch 9

10 11

Die archaisch-griechische Unterwelt wird bei Homer als neblige Finsternis und Ort ohne Freude beschrieben, an dem die Toten als unberührbare Schatten hausen (vgl. Homer, Odyssee, übersetzt von Anton Weiher, Düsseldorf 132007, XI, 94, 155, 218–222). Dem entsprechend bringt der tote Achilleus gegenüber Odysseus die Unterwelt auf die trostlose Formel: »Wie nur hattest du Kraft in den Hades zu steigen? Hier wohnen / Nur verstandlose Tote, der müden Sterblichen Masken. […] / Lieber wäre ich Knecht auf den Feldern und fronte / Dort einem anderen Mann ohne Land und mit wenig Vermögen; / Lieber tät’ ichs als herrschen bei allen verstorbenen Toten« (ebd., XI, 475f., 489–91). Vgl. zur archaisch-griechischen Unterweltsvorstellung Georges Minois, Die Hölle. Zur Geschichte einer Fiktion. Aus dem Fanzösischen von Sigrid Kester, München 1996, S. 29–33. Vgl. den Schluss des XI. Gesangs der Odyssee (V. 634–637). Vgl. Dante, La Divina Commedia, Inf. IX, 55–57.

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wird in der Nekyia des Odysseus recht brachial im Versuch der Schatten zum Ausdruck gebracht, mit ihm in die Oberwelt zurück zu kehren.12 In der Aeneis erscheint er auf subtilere Weise, indem Aeneas am diesseitigen Ufer des Acheron auf eine Schar von Toten trifft, die der Fährmann Charon nicht auf die andere Seite transportieren mag; er erfährt von seiner Führerin, der Sibylle, dies seien die noch unbestatteten Toten. Aeneas erkennt unter ihnen auch etliche Gefährten, wie Leukaspis und Orontes, die unterwegs Schiffbruch erlitten, und seinen Steuermann Palinurus, der erst kürzlich während der Fahrt vom Heck ins Meer stürzte. Diese Gestorbenen sind gewissermaßen Untote, weil sie keine Ruhe im Jenseits finden können, bevor ihr Leib nicht in einem Begräbnisritual bestattet worden ist. Da die Toten selbst nichts mehr für ihre Ruhe tun können, ist es dem Hadeswanderer Aeneas aufgegeben, nach seiner Rückkehr für ihr Begräbnis zu sorgen und ihnen Frieden zu geben.13 Auch Dante wird auf seiner Reise immer wieder mit den Wünschen der Toten – nach Gedächtnis und Fürbitte – konfrontiert.14

II. Anhand dieser Skizze von Funktionen der Unterweltsreise lässt sich ein Programm formulieren, das für ein Narrativ katastrophischen Erinnerns übernommen und modifiziert werden kann. Zunächst das Grundmodell: In den Hades reist man prinzipiell, um entweder etwas zu holen (Höllenwesen selbst wie Cerberus und Medusa oder zu befreiende Tote) oder etwas zu lernen (insbesondere über die eigene Zukunft bzw. über den richtigen Weg dorthin). Dabei ergibt sich zwangsläufig aber auch ein Wissen über die Totenwelt selbst, das die Neugier des Reisenden und – mehr noch – diejenige der Leser befriedigt und das durch eine tödliche Gefährdung erkauft wird. (Insofern ist die Unterweltsreise ein Genre der Abenteuererzählung: eine Mischung aus Information und Spannung.) Innerhalb dieser Geschichte bilden die Höhepunkte die Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen und Bekannten, die oftmals als Überraschung inszeniert sind und die einen Anspruch gegenüber dem Reisenden formulieren: einen Anspruch, der sich auf die Verbesserung ihrer Situation im Jenseits bezieht und der als Pflicht oder Liebesdienst erscheint. 12 13

14

Vgl. Homer, Odyssee, XI, 632f. Vgl. Vergil, Aeneis, lat./dt., Johannes Götte/Maria Götte (Hrsg.), Düsseldorf/Zürich 91997, VI, 318–383. Vgl. Dante, La Divina Commedia, Inf. XIII, 76–78; XVI, 82–85; Purg. V, 67–72; 85–87; 130–133; VI, 10–24 (gefolgt von einem Gespräch Dantes mit Vergil über die Wirksamkeit der Fürbitte – VI, 28–45 –, mit Verweis auf Vergils Aeneis).

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In eine psychagogische Konzeption übertragen, heißt das: Die Unterweltsreise dient zunächst, wie in der Aeneis, ganz konkret der Führung der Toten über den Acheron, auf die der Trank aus der Lethe und damit das befreiende Vergessen folgen kann. Sie hat aber auch eine seelenleitende Funktion für den Helden selbst, denn wer in die Unterwelt reist, erfährt dort etwas über sich und die Seinen, über die vergangenen Katastrophen und deren Opfer sowie über das Ziel der eigenen Lebensreise. Deren Erfolg hängt nicht zuletzt von der vom Ritual geforderten Totenbestattung ab. Vor allem Dante gerät die Jenseitsreise unter der Führung Vergils und der geliebten Beatrice durch die Dominanz der psychagogischen Funktion regelrecht zum Selbstzweck. Natürlich will er auch über das Gesehene und Gehörte berichten, aber das Erleben selbst und sein Einfluss auf Dante stehen doch im Mittelpunkt der Erzählung. Es geht letztlich um die Korrektur seiner persönlichen Verirrung, die nicht durch das Wissen vom Jenseits, sondern nur durch die Erfahrung der Reise selbst erfolgen kann. Eine besondere Rolle spielen die Stationen der Gefährdung, die die affektive Betroffenheit Dantes – bis hin zur wiederholten Ohnmacht, wenn sich die Erlebnisse nicht mehr ertragen lassen – dokumentieren und dadurch einen Weg bezeichnen, bei dem die zunehmende Erkenntnis mit einer Therapie der kranken Seele einher geht. Dante soll durch die Reise konkrete Untugenden wie Hochmut (superbia) und Genusssucht (lussuria) ablegen und sich in Frömmigkeit (pietà) und Mitleid (compassio) üben – mithin als ganzer Mensch geläutert werden.15 Dantes Commedia fungiert somit als zentrale Schaltstelle zwischen dem äußerlichen Abenteuer der Unterweltsreise, wie es die antiken Heroen erleben, und deren vollständiger Verinnerlichung, wie sie für die dominante Linie der modernen Hadesfahrten typisch wird. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass Dantes Werk mit Abstand am häufigsten als Referenztext für die modernen Höllenfahrten herangezogen wird. (Darüber hinaus liefert Dante natürlich auch eine Dimension der Erlösung, wie sie die paganen Jenseitsreisen nicht bieten können.) Die Konfrontation mit sich selbst, mit den eigenen Fehlern und Ängsten sowie mit den eigenen Leichen, legt diese Internalisierung der Unterwelt nahe. Bereits in der Auseinandersetzung um Dantes Commedia in den italienischen Poetiken der Renaissance bemerkt Anselmo Castravilla in seinem Discorso […] nel quale si mostra l’imperfettione della comedia di Dante, Dantes Epos könne einem Traum verglichen werden.16 Spätestens seit 15

16

Vgl. Dina De Rentiis, Die Zeit der Nachfolge. Zur Interdependenz von ›imitatio Christi‹ und ›imitatio auctorum‹ im 12.–16. Jahrhundert, Tübingen 1996, S. 76ff. Das ist kritisch gemeint: ›Traum‹ ist ein Schimpfwort in der Renaissancepoetik und bezeichnet – im Rückgriff auf die Eingangsverse von Horaz’ Ars poetica – die

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der Romantik (also nach der Aufwertung von Phantasie und Traum) führt der Weg nach unten – ob nun geologisch, anthropologisch oder sozial konkretisiert – immer auch in die Untiefen des Selbst. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Freud der Traumdeutung das Vergil-Motto Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo voranstellt und damit die Erforschung des Traums und des Unbewussten in die Tradition der Hadeswanderung einreiht.17 Denn: »Unter dem Pseudonym des ›Unbewussten‹ wird die Unterwelt ihre wirkungsmächtigste Renaissance erleben.«18 Freud selbst macht diesen Bezug explizit, wenn er gegen Ende der Traumdeutung schreibt, es gehe hier um die Beschwörung der »Schatten der odysseischen Unterwelt, die zum neuen Leben erwachen, sobald sie Blut getrunken haben«.19 Und so lässt sich das psychotherapeutische Verfahren der Erinnerung, Wiederholung und Durcharbeitung verdrängter Erlebnisse ebenso wie dessen literarische Äquivalente als re-gressiver Gang in die Unterwelt des Unbewussten verstehen, als Begegnung mit den verschütteten Toten im eigenen Kellerloch, die deren Wieder-Holung ans Licht des Bewusstseins unternimmt, um ihnen mit Hilfe der Rede ein angemessenes Begräbnis zu stiften. Der Grabstein, das Epitaph dieser Zeremonie wäre aber nichts anderes als der literarische Text, dessen kohärente Narration als Zeichen gelungener Erinnerung firmiert, dessen Inkohärenz jedoch auf die Unmöglichkeit der Bestattung und damit auf ein Weiterleben der Toten als Gespenster und Untote verweist.20 Im Folgenden soll geprüft werden, inwieweit sich dieses

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ungeregelten, unproportionierten und damit letztlich monströsen Phantasien eines Wahnsinnigen (»vanae species velut aegri somnia«: nichtige Gebilde wie Träume von Kranken; Horaz, Ars poetica, übersetzt von Eckart Schäfer, Stuttgart 1997, V. 7f.). Zu Castravilla vgl. Bernard Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2 Bde., Chicago 1961, Bd. 2, S. 831–834. Vgl. Jean Starobinski, »Acheronta movebo«, in: Critical Inquiry, 13/Winter 1987, S. 394–407. – Starobinski schreibt über Junos Vorhaben, die Unterwelt in Aufruhr zu versetzen, die in Freuds Vergil-Zitat aus Aeneis VII, 312 zum Ausdruck kommt: »Juno subverts the very order of the world« (S. 403). Isabel Platthaus, Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004, S. 57. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: ders., Studienausgabe, Bd. 2, Alexander Mitscherlich u. a. (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1977, S. 528. Freud schreibt in einem frühen Text über verdrängte Triebregungen, dass diese »in einer Art von Schattenreich eine ungeahnte Existenz fristen, bis sie als Spuk hervortreten und sich des Körpers bemächtigen, der sonst dem herrschenden Ichbewußtsein gedient hat« (Sigmund Freud, »Ein Fall von hypnotischer Heilung«, zit. nach Platthaus, Höllenfahrten, S. 72). Das erinnert an Platons Beschreibung der Seelen unreiner Verstorbener, die zur Strafe in den Friedhöfen als Gespenster um die Gräber streichen und auf einen vorbeikommenden Körper

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Modell auf zwei paradigmatische Fälle katastrophischen Erinnerns nach 1945 übertragen lässt: die Erinnerung an die Vernichtungslager und an den Krieg.

III. Primo Levis Se questo è un uomo (1947) ist ein autobiografischer Bericht über dessen Zeit im Vernichtungslager Auschwitz, der anerkanntermaßen das Modell der Höllenreise aus Dantes Commedia verwendet. Levi beschreibt in diesem Text das Lager als verkehrte Welt, in der die Regeln menschlichen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt sind, und übernimmt damit einen Topos vom Inferno als mundus perversus.21 Im Unterschied zu vielen späteren Texten über die Judenvernichtung thematisiert er nicht das Problem einer angemessenen Erinnerung an die katastrophischen Ereignisse, sondern liefert eine auf persönlicher Erfahrung beruhende Analyse, die die perversen Regeln des Lagers auf eine fast schon soziologisch zu nennende Weise zu rekonstruieren versucht.22 Der Weg ins Lager erscheint Levi als Reise ins Inferno.23 Den Transport nennt er eine Niederfahrt in die Tiefe (»viaggio […] verso il fondo«)24 an einen jenseitigen Ort. Am Bahnhof von Auschwitz wird eine Schwelle überschritten, die die Gefangenen vollständig von der Außenwelt abschneidet. Sie sind nun auf der anderen Seite (»dall’altra parte«, 18), im Totenreich, in das sie ein »Charon« (21) geleitet. Die ironische Inschrift des Lagertors – »Arbeit macht frei« – findet ihre Interpretation in der Inschrift des Dante-

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warten, in den sie fahren können. Vgl. Platon, Phaidon, in: ders., Werke in acht Bänden, Gunther Eigler (Hrsg.), Bd. 3, Darmstadt 52005, 81c–e. Jesus entmachtet während seiner Höllenfahrt Satan und kehrt das Oberste zu unterst (vgl. »Höllenfahrt Christi«, in: Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, S. 416f.). Lukian zeigt in seiner Satire von der Höllenfahrt des Menippos die Hölle als verkehrte Ordnung, wo die Könige als Diener und die Philosophen als Herrscher auftreten. Vgl. Lukian, »Die Höllenfahrt des Menippus oder Das Totenorakel«, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, Berlin/Weimar 21981, S. 441–456, hier S. 449–454. Das belegt ein Vergleich von Levis Text mit der neueren soziologischen Studie von Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1997. Zu den Parallelen von Levis Bericht und Dantes Epos vgl. Lynn M. Gunzberg, »Down Among the Dead Men: Levi and Dante in Hell«, in: Modern Language Studies, 16/1985, S. 10–28. Primo Levi, Se questo è un uomo, mit einem Nachwort von Cesare Segre, Torino 2005, S. 16. Seitennachweise im Folgenden in Klammern im fortlaufenden Text.

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schen Höllentors: »Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate«.25 Mit dem Eintritt wechselt die Erzählung vom Imperfekt ins Präsens und markiert dadurch das Folgende als gegenwärtige Vision eines realen Alptraums, dem sich Levi – ähnlich wie Dante – sowohl als Opfer wie auch als Beobachter ausgesetzt sieht. (Erst beim Bericht der Befreiung kehrt der Text wieder ins Imperfekt zurück.) Das Lager von Auschwitz ist für Levi die moderne Hölle: Oggi, ai nostri giorni, l’inferno deve essere così, una camera grande e vuota, e noi stanchi stare in piedi, e c’è un rubinetto che gocciola e l’acqua non si può bere, e noi aspettiamo qualcosa di certamente terribile e non succede niente e continua a non succedere niente. […] è come essere già morti. (23)

Es ist ein zugleich topografischer und mnemonischer Raum, den das Ich durchschreitet, mit der Ankunft auf dem Bahnhof, der Selektion auf der Rampe, der Erfassung im Gestapo-Bereich, den Räumen für das Haareschneiden, Duschen und Desinfizieren und der Kleiderausgabe – die als »antinferno« (25) bezeichnet werden – und schließlich dem Übergang in den Blockbereich. Hier angekommen, hat es einen Prozess der Entindividualisierung durchlaufen, nach dem alle äußerlichen Kennzeichen der Person so weit wie möglich gelöscht wurden und als Erkennungsmerkmal stattdessen die eintätowierte Häftlingsnummer fungiert. Die Orientierung im Blockbereich wird beschrieben als Folge von Lektionen, die jeden Ort – Wohnblock, Appellplatz, Waschraum, den Limbus des Krankenbaus und die Latrine – mit bestimmten »riti« (38) und »cerimonie« (39) verknüpfen, deren Aneignung überlebensnotwendig ist.26 Jedoch geht man fehl, wenn man annimmt, Levi würde in seinem Text die Dante’sche Höllentopographie einfach reproduzieren. Vielmehr wechselt er im Verlauf der Erzählung von der topografischen Ordnung zu einer abstrakten, topischen Präsentationsweise, die den Text nicht mehr syntagmatischnarrativ, sondern paradigmatisch-analytisch strukturiert und auf die Rekonstruktion der Gesetze des Lagers abzielt.27 Dieser Wechsel impliziert, dass 25 26

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Dante, La Divina Commedia, Inf. III, 9. So wandert Levi von der Vorhölle des Eingangsbereichs am »limbo« (44) des Krankenbaus vorbei immer tiefer ins Inferno hinab, bis in den achten Höllenkreis mit den »diavoli di Malebolge« (96), wo im achten Graben bei den falschen Ratgebern Odysseus von Dante seinen Ort zugewiesen bekommen hat. Dazu Näheres unten. Vgl. Günter Butzer, »Topographie und Topik. Zur Beziehung von Narration und Argumentation in der autobiographischen Holocaust-Literatur«, in: Manuela Günter (Hrsg.), Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, Würzburg 2002, S. 51–75, hier S. 53–58. – Vorbereitet wird dieser Wechsel durch die von Beginn an eingestreuten Reflexionen des Erzählers, der offenbar eine Absicht verfolgt, die

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der Welt des Vernichtungslagers mit den Darstellungsmitteln eines sinnerfüllten ordo, wie er von Dante für das Jenseits entworfen wird, nicht beizukommen ist. Dantes jenseitige Ordnung ist bestimmt vom Prinzip des gerechten Urteils, das jedem die angemessene Strafe bzw. Belohnung zukommen lässt – bis hin zur inhaltlichen Analogie von Vergehen und Strafe (dem »contrapasso«), die die Sinnhaftigkeit dieser Ordnung noch verstärkt. Diese göttliche Gerechtigkeit, die bei Dante die Plätze im Jenseits zuweist, fällt bei Levi aus.28 Mit der Auflösung der topografischen Ordnung ist eine Verweigerung gegenüber der mit ihr verbundenen Sinnstiftung verbunden. Während sich bei Dante räumliche Topografie und mnemonische Topik gegenseitig bestätigen,29 klaffen sie bei Levi immer mehr auseinander: Die Hölle, die Levi ohne Führer durchwandert, hat zwar ihre Regeln, die von ihm präzise analysiert werden und gegen die zu verstoßen einem Todesurteil gleichkommt, sie hat aber keinen Sinn, weil sie jenseits alles Menschlichen und »fuori del mondo« (20) lokalisiert ist. Deshalb kann das Lager zwar in seinen Funktionsmechanismen beschrieben, aber im strengen Sinn nicht verstanden werden. Einen Gegenpol zu dieser tödlichen und zugleich sinnlosen Welt des Lagers zeigt das Kapitel »Il canto di Ulisse« (98–103), in dem das Ich seinem französischen Mithäftling Jean, genannt »Pikolo«, Dantes Commedia näher bringen will30 und spontan auf den 26. Gesang des Inferno verfällt, wo Odysseus, verurteilt als falscher Ratgeber zur ewigen Qual im 8. Höllenkreis, sein Schicksal und Scheitern berichtet. Nach einigen Erinnerungslücken ist dem Ich vor allem diejenige Passage präsent, in der Odysseus den Aufbruch mit

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über den bloßen Bericht hinausgeht und einen ›Willen zum Verstehen‹ dokumentiert, der den gesamten Text durchzieht. So schreibt Levi in einem Brief an seinen deutschen Übersetzer Heinz Riedt: »[…] jetzt kann ich, Nummer 174 517, durch Sie zu den Deutschen sprechen, kann sie an das erinnern, was sie getan haben, und ihnen sagen: ›Ich bin am Leben, und ich möchte euch verstehen, um euch beurteilen zu können.‹« (Primo Levi, »Aus einem Brief Primo Levis an den Übersetzer«, in: ders., Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, dt. v. Heinz Riedt, München 31994, S. 7f., hier S. 7). Vgl. Risa B. Sodi, A Dante Of Our Time. Primo Levi and Auschwitz, New York u. a. 1990, S. 5–29. Vgl. Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990, S. 91f. Thomas Klinkert spricht hier von einer »trasmissione di un sapere, come l’atto inaugurale di una tradizione culturale«, die auf der Fremdheit der Commedia beruhe und auf Levis eigenen Text übertragen werden könne (vgl. Thomas Klinkert, »Problemi semiotici della scrittura nei testi del dopo-lager: Primo Levi e Jorge Semprún«, in: Monica Bandella (Hrsg.), Raccontare il lager. Deportazione e discorso autobiografico, Frankfurt a.M. u. a. 2005, S. 29–42, hier S. 38).

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seinen Gefährten auf die offene See beschreibt: »Ma misi me per l’alto mare aperto« lautet der Vers, der ihm sicher vor Augen steht (»di questo sono sicuro«, 101) und den er ›Pikolo‹ auf Französisch erklärt, insbesondere die italienische Formulierung ›misi me‹. Vor allem kommt es ihm darauf an, dass ›misi me‹ nicht dasselbe meint wie das französische ›je me mis‹: »[…] è molto piú forte, e piú audace, è un vincolo infranto, è scagliare se stessi al di là di una barriera, noi conosciamo bene questo impulso« (101). Was das Ich mithin erinnert, ist der Wagemut des Odysseus und seiner wenigen Gefährten, die sich gemeinsam – »quella compagna / picciola dalla qual non fui diserto«, sagt Odysseus – über die Begrenzung menschlichen Wissens, konkretisiert in den Säulen des Herkules, hinwegsetzen. Denn, so die bei Levi zitierte Ansprache Odysseus’ an seine Begleiter: Considerate la vostra semenza: fatti non foste a viver come bruti, ma per seguir virtute e canoscenza.31

Als es diese Verse rezitiert, erfasst es das Ich wie eine Offenbarung: »Come se anch’io lo sentissi per la prima volta: come uno squillo di tromba, come la voce di Dio. Per un momento, ho dimenticato chi sono e dove sono« (102). Es ist eine Entrückung, ein raptus, der das Ich erfasst und es sich selbst und das Lager vergessen lässt – eine Botschaft, die nichtsdestotrotz alle im Lager angeht: »[…] ha ricevuto il messaggio, ha sentito che lo riguarda, che riguarda tutti gli uomini in travaglio, e noi in specie« (ebd.). Vom Ich betont wird der Appell Odysseus’ an die Menschenwürde, die er an Tugend und Erkenntnis knüpft und die ihn dadurch über die bislang geltenden Grenzen des menschlichen Raumes hinaustreibt.32 Ignoriert wird dabei jedoch der Kontext, in dem Dante den ›Gesang des Odysseus‹ situiert hat. Denn Dante führt den nicht weit von Luzifer in der Hölle leidenden Odysseus keineswegs als Vorbild, sondern als negativen Helden an und grenzt damit die eigene Jenseitsreise deutlich von der antiken ab, welche, so Dante, um des bloßen Erwerbs von Wissen willen unternommen wird, ohne 31 32

Dante, La Divina Commedia, Inf. XXVI, 118–120. Vgl. Peter Kuon, »lo mio maestro e ’l mio autore«. Die produktive Rezeption der »Divina Commedia« in der Erzählliteratur der Moderne, Frankfurt a.M. 1993, S. 116: »Im Prozeß der Erinnerung, im verzweifelten Ringen um ein paar Dante-Verse […] vermag Levi für einen Moment die durch das Lager gesetzten Grenzen innerlich zu überschreiten und das Ziel, als Mensch zu leben und, womöglich, zu überleben, klar ins Auge zu fassen.« – Kuon macht auch auf die Parallele zwischen der zitierten Rede des Odysseus bei Dante (»Considerate la vostra semenza«, Inf. XXVI, 118) und Levis Eingangsgedicht zu seinem Bericht aufmerksam, wo es heißt: »Considerate se questo è un uomo« (7).

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dass der Reisende die notwendigen Voraussetzungen und nicht zuletzt den göttlichen Beistand besitzt, um eine solche Fahrt zu bestehen. Odysseus erscheint im 26. Gesang des Inferno als von superbia und curiositas geleiteter antiker Heros, dessen Wissensdrang ihn über die Grenzen der Welt, ja über die Grenze zum christlichen Jenseits hinausführt und schließlich ohne göttlichen Auftrag und Beistand am Läuterungsberg Schiffbruch erleiden und in die Tiefe der Hölle hinabfahren lässt.33 Bezeichnenderweise erinnert sich Levis Ich sehr gut an die zitierte Passage, die den Wagemut und Entdeckerdrang Odysseus’ (in dessen eigener Rede!) darstellt, nicht jedoch an jene Stelle, in der der Preis formuliert wird, um den Odysseus dies erkauft: Né dolcezza di figlio, né la pièta del vecchio padre, né ‘l debito amore lo qual dovea Penelope far lieta, Vincer poter’ dentro da me l’ardore ch’ i’ ebbi a divenir del mondo esperto, e de li vizi umani e del valore […].34

In seinem Wissensdrang missachtet Odysseus die Pflichten, die ihm als Sohn, Gatte und Vater auferlegt sind, und macht sich dadurch schuldig. Diese Schuld hat das Ich vergessen; nur deshalb kann es die Rede des Odysseus als prophetische Mitteilung verstehen, und das tangiert auch die Interpretation der Passage, die Odysseus’ Untergang am Läuterungsberg beschreibt: Tre volte il fe’ girar con tutte l’acque; a la quarta levar la poppa in suso e la prora ire in giú, com’ altrui piacque […].35

Levis Held konzentriert sich hier auf die Formulierung »com’ altrui piacque«: wie es einem anderen gefiel. Diese gilt es, richtig zu verstehen, da der »così umano e necessario e pure inaspettato anacronismo« des Verses eine Antwort enthalte auf das »perché del nostro destino, del nostro essere oggi qui […]« (103). Die Umdeutung des fremden Willens, der das Verderben des Odysseus und seiner Gefährten bewirkt und der bei Dante natürlich der göttliche Wille ist, in eine nicht näher bestimmte anonyme Macht legt die Willkür der Strafe offen, die eben nicht, wie bei dem Dante’schen Odysseus, auf der Schuld des Bestraften beruht, sondern aus dem Nichts kommt – ebenso wie jene »intuizione di un attimo« (ebd.), die dem Ich den Sinn des eigenen Schicksals offenzulegen scheint und die kurz darauf wieder ver33 34 35

Vgl. Dante, La Divina Commedia, Inf. XXVI, 106–142. Ebd., Inf. XXVI, 94–99. Ebd., Inf. XXVI, 139–141.

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schwunden ist. Denn am Ende des Kapitels schließen sich über den Gefangenen, wie über dem Dante’schen Odysseus, die Wogen des Meeres: »Infin che ‘l mar fu sopra noi richiuso« (ebd.).36 Offenbar ist die Erzählung vom »canto di Ulisse« weniger eindeutig, als man vermuten könnte. Auch wenn es richtig ist, dass sich Levi mit seiner positiven Interpretation der Odysseus-Figur auf eine in den italienischen Schulen seiner Zeit tradierte ›romantische Lesart‹ der Commedia bezieht,37 bleibt nicht nur die Ambivalenz der Figur erhalten, sondern auch die Ambiguität ihrer Botschaft. Denn der Dante’sche Odysseus sucht ja nicht, wie Levis Held, nach den Residuen des Humanen in der Situation des Untergangs, sondern er wird nicht zuletzt auf Grund seines Pathos des Humanen, das aus christlicher Sicht als Hybris erscheint, zum Untergang verurteilt – von einer göttlichen Instanz, die Levi keineswegs für das eigene Schicksal verantwortlich machen will. Zudem steht der Gesang des Odysseus, als gescheiterter Versuch einer Sinngebung des Sinnlosen, nicht allein in Levis Text. Vielmehr durchzieht diesen ein diskursiver Strang, der immer wieder biblische Narrative der Verdammung und Errettung zitiert, ohne diese jedoch explizit in Anspruch zu nehmen. So heißt es noch im letzten Kapitel des Berichts, das von der Befreiung des Lagers durch die sowjetischen Soldaten handelt: Oggi io penso che, se non altro per il fatto che un Auschwitz è esistito, nessuno dovrebbe ai nostri giorni parlare di Provvidenza: ma è certo che in quell’ora il ricordo dei salvamenti biblici nelle avversità estreme passò come un vento per tutti gli animi. (140)

Levi unterscheidet hier sehr deutlich zwischen der Empfindung der Lagerinsassen auf der einen und der Sicht des Erzählers auf der anderen Seite. Was jenen wie ein göttliches Eingreifen erscheint, ist für diesen ein Akt der Kontingenz.38 Denn, so die Frage nicht nur Levis, sondern nahezu aller jüdischen Autorinnen und Autoren, die ein solches religiöses Interpretament in Erwägung ziehen: Wenn die Rettung auf göttlichem Eingreifen beruht, muss auch 36

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Ebd., Inf. XXVI, 142. – Klinkert bezeichnet diese Stelle als »ultima coincidenza formale e anche semantica tra il testo di Levi e quello di Dante. La morte […] viene così incorporata nel testo di Levi« (Klinkert, »Problemi semiotici della scrittura nei testi del dopo-lager«, S. 41). Vgl. Mirna Cicioni, Primo Levi: Bridges of Knowledge, Oxford u. a. 1995, S. 34. Zur Differenzierung des Ich von Se questo è un uomo in ein »naive ingénue in the camp« und den »survivor-witness« des Erzählers vgl. Rachel Falconer, Hell in Contemporary Literature. Western Descent Narratives since 1945, Edinburgh 2005, S. 63 u. 70–72. Falconer betont die Inkompatibilität der unterschiedlichen Ich-Perspektiven: »The ›university‹ of Auschwitz thus instigates an unceasing dialogue between world-views that are in many respects irreconcilable and incompatible« (S. 72).

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die Einlieferung und die Ermordung von Millionen einem göttlichen Willen zugeschrieben werden. Diese Annahme ist aber für Levi völlig unannehmbar. Und so bleibt die Zeit im Lager für ihn eine Phase seines Lebens, die ihn zutiefst geprägt und verändert, die ihm gar »Reife und ein Lebensziel gegeben hat«39 und die doch bis zuletzt unverständlich und sinnlos erscheint. Es ist diese Spannung zwischen einem Willen zum Verstehen und der Sinnlosigkeit des Geschehens, die Levis Text als ein Werk katastrophischen Erinnerns charakterisiert. Sucht man nach einer psychagogischen Funktion seiner Unterweltsreise, gerät man in eine Aporie. Der mundus perversus des Lagers steht dem Erzähler wie eine Vision gegenüber, von der kein Weg in die Gegenwart führt. (Gerade die Tatsache des Überlebens und damit der reale Weg aus dem Lager ist das Unfassbarste für Levi wie für viele Überlebende.) Eingekapselt wie eine fremde Vergangenheit ruht sie im Gedächtnis und ist keiner Bearbeitung fähig, da sie nicht verstanden werden kann. Denn was Levi darstellt, ist nicht nur eine individuelle Katastrophe, die dem Einzelnen alles Eigene und damit auch seine Identität und seine Erinnerung raubt, sondern zugleich eine kulturelle Katastrophe, der keine kulturelle Gedächtnisordnung mehr entspricht. So offenbaren gerade die Versuche der Sinngebung, wie sie im »canto di Ulisse« und im biblischen Narrativ der Errettung aufscheinen, die prinzipielle Unverständlichkeit des Geschehenen. Wie ein dem Wiederholungszwang gehorchendes traumatisches Erlebnis steht Levi seine Lagerzeit nur allzu deutlich vor Augen, und er kann sie präzise beschreiben, sie ist aber nicht mit Sinn zu belegen und damit auch nicht in die Biographie des Überlebenden zu integrieren. Vielmehr hat man den Eindruck, dass er an die eigentlichen traumatischen Erinnerungen gar nicht herankommt und seine Erfahrungen so weit wie möglich rationalisiert – was hier als Übergang von der Topografie zur Topik beschrieben wurde –, weil sie einer wie immer gearteten therapeutischen Narration nicht zugänglich sind.40 So verharren sie im wahrsten Sinn wie ein Fremdkörper im Ich: wie ein fremder Körper, den das Ich zwar bewohnt, den es sich aber nicht zu39 40

Levi, »Aus einem Brief Primo Levis an den Übersetzer«, S. 7. Die Psychotraumatologie spricht von ›emotionaler Anästhesie‹ als einer »Notfallreaktion, die emotionale Überschwemmung vermeiden soll«; dazu gehören die Spaltung von Vorstellung und Affekt, Verdrängung und Formen von dissoziativem Erleben (vgl. Gottfried Fischer/Peter Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, München, Basel 21999, S. 145). In Se questo è un uomo liegt offenbar eine Spaltung von äußerst präzisen Vorstellungen einerseits und den entsprechenden Emotionen und Affekten andererseits vor. Bedenkt man die frühe Niederschrift von Levis Text zwischen Dezember 1945 und Januar 1947, scheint eine solche Spaltung plausibel.

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schreiben kann.41 Das vergangene Ich bleibt somit, wie die anderen Häftlinge, ein Gespenst »dall’altra parte« (16), »fuori del mondo e del tempo« (138), das weder einer abgeschlossenen Vergangenheit noch der Gegenwart angehört: Es war bereits tot – »è come essere già morti« (23) – und lebt dennoch weiter.42 Als Untoter spukt es im Gedächtnis des Erzählers, der jedoch, anders als Simonides, kein Erinnerungsritual zur Verfügung hat, um ihm seinen Platz zuzuweisen und ihm damit zur Ruhe zu verhelfen.

IV. Es ist diese im Kern traumatische Struktur einer katastrophischen Erinnerung, die auch in anderen Texten der Nachkriegsliteratur auftritt und immer wieder das Narrativ der Unterweltsreise provoziert. Einen ganz anders gearteten Versuch der Funktionalisierung der Katabasis für ein katastrophisches Erinnern unternimmt Werner Warsinskys 1953 erschienener Roman Kimmerische Fahrt.43 Dieser Text lässt sich situieren innerhalb eines Spannungsverhältnisses zwischen einem zukunftsgerichteten Narrativ, das durch die Erinnerung die Loslösung von der Vergangenheit ermöglicht, und einem Sprechen aus der Gegenwart des Todes heraus, das keine produktive Lösung erlaubt. Der Text thematisiert diese Problematik in der Beschreibung eines 41

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Die traumatische Erfahrung ist nicht zuletzt, wie Laura Di Prete hervorhebt, eine entfremdete Körpererfahrung (vgl. dies., »Foreign Bodies«. Trauma, Corporeality, and Textuality in Contemporary American Culture, New York/London 2006, S. 1–22). Bei Levi heißt es am Ende des Kapitels »Sul fondo«: »[…] già il mio stesso corpo non è piú mio« (32). Vgl. Levi, Se questo è un uomo, S. 23: »Eccoci trasformati nei fantasmi intravisti ieri sera.« – Im selben Kapitel ist vom »esercito di larve« (30) der Häftlinge die Rede. – Im Kapitel »Le nostre notti« heißt es über das Gehirn im Schlaf: »[…] incapace di riposo, fabbrica fantasmi e segni terribili, e senza posa li disegna e li agita in nebbia grigia sullo schermo dei sogni« (56). Später bringt Levi den Zustand zwischen ›noch leben‹ und ›schon tot sein‹, in dem sich zunächst nur die »sommersi« zu befinden scheinen, auf den Punkt: »Della mia vita di allora non mi resta oggi che quanto basta per soffrire la fame e il freddo; non sono piú abbastanza vivo per sapermi sopprimere« (127). – Am Ende seines Berichts, am Tag vor der Befreiung, schreibt Levi: »Noi giacevamo in un mondo di morti e di larve. L’ultima traccia di civiltà era sparita intorno a noi e dentro di noi. L’opera di bestializzazione, intrapresa dai tedeschi trionfanti, era stata portata a compimento dai tedeschi disfatti« (152). Vgl. zum Folgenden Günter Butzer, »Facilis descensus Averno? Die Höllenfahrt der Erinnerung in Werner Warsinskys Roman Kimmerische Fahrt, nebst einigen seiner Prätexte«, in: ders./Joachim Jacob (Hrsg.), Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, München/Paderborn 2012, S. 323–341.

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Kriegstraumas, das nicht von außen durch einen Erzähler dargestellt, sondern durch den Betroffenen selbst aus der Innenperspektive präsentiert wird. Es geht um die Kriegserfahrungen eines deutschen Soldaten, die nach dem Modell der Unterweltsreise dargestellt werden. Im ersten Kapitel mit dem Titel »Grenzübertritt« vollzieht die Ich-Figur den Schritt über die Schwelle, die die reale Welt des deutschen Nachkriegs von einem surrealen Jenseits trennt, das als ›Kimmerien‹ bezeichnet wird. Als Charon fungiert sein Doppelgänger, der sich den Namen Omega von und zu Ende bzw. Ambrosius O., später auch Mortimer Ruhland gibt und dem er zufällig auf einer Straßenkreuzung begegnet ist. Was nun folgt, ist keine realistische Erzählung, es ist die Beschreibung einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, die belebt wird von »Schattenwesen« und lediglich durch »die dünne Haut des Augenblicks« von der Realität getrennt ist.44 Kimmerien wird »das Land der Träume oder gar des Todes« (53) genannt, und diese Ambivalenz ist programmatisch zu verstehen: Es ist eine Welt, in der zwischen Leben, Traum und Tod nicht mehr zu unterscheiden ist. Immerhin lässt sich anhand des Textverlaufs eine Basiserzählung rekonstruieren, die den Sprecher als einen vom Krieg traumatisierten und an einer weitreichenden Amnesie leidenden ehemaligen Soldaten identifiziert, der in einem Sanatorium behandelt wird und mit Hilfe von zufälligen Begegnungen und Gesprächen allmählich seine Lebensgeschichte erinnert – ein Prozess, der vor allem das zweite, mittlere Buch des dreiteiligen Romans umfasst. Zu Beginn dieses Buchs erfährt man, dass das Ich an einer »seltsamen, im übrigen gar nicht so seltenen Krankheit« (99) leide, die man früher Kriegsneurose nannte und die heute als posttraumatische Belastungsstörung firmiert. Es sind die Erfahrungen extremer Gewalt und Grausamkeit an der Ostfront – »die Schreie der Verwundeten, […] die Eindrücke fiebriger Wirklichkeiten, zerfetzten Fleisches, zerwühlter Eingeweide. Hirn und Blut und Dreck« (153) –, die Erfahrungen des Todes und des Tötens, die das Trauma mit verursacht haben. Die eigentliche Ursache der traumatischen Amnesie bleibt aber bis zuletzt im Unklaren. In einem Artikel des Lokal-Anzeigers ist die Rede von einer Verschüttung: »Demzufolge war ich im Kellerloch einer Hausruine für tot aufgefunden worden. Man führte mich dorthin, ich erkannte nichts wieder und besann mich auf nichts« (99). Doch das ist nicht die einzige Möglichkeit: »Andre sprachen von einem Verkehrsunfall, und das schien mir wahrscheinlicher« (99f.). Darüber hinaus entdeckt das Ich

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Werner Warsinsky, Kimmerische Fahrt, Stuttgart u. a. 1953, S. 18. Seitennachweise im Folgenden in Klammern im fortlaufenden Text.

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[…] am Oberschenkel gelegentlich beim Baden die ziemlich große Vernarbung einer Schußverletzung. Woher diese, nebst den übrigen, besonders die am Kopfe, rührte, wußte ich natürlich ebensowenig zu sagen wie meinen Namen. (100)

Verschüttung – Unfall – Krieg: Das sind die Faktoren, die der Text anbietet als Ursachen für einen Zustand, der für das Ich kaum zu ertragen ist: »[…] chaotische Trümmer, auf dunklen Flüssen treibend«, überwältigen es immer wieder und versetzen es in eine Sphäre »zwischen Welt und Unwelt« (99), die mit dem homerischen Namen Kimmeriens belegt wird. Dieses stellt mithin, trotz seiner detaillierten topografischen Beschreibung im ersten Kapitel des Romans, weniger eine distinkte Räumlichkeit dar als die – siehe Levi! – »andere Seite« (19) der Wirklichkeit, die in ihrer amnestischen Absenz stets präsent ist und ohne Vorwarnung immer wieder plötzlich ins Bewusstsein tritt: Neben der sinn- und haltlos gewordenen Gegenständlichkeit des Taglebens tauchte also wieder ein anderes auf, lief neben ihm eine Strecke her, durchkreuzte es in jähem Knoten, offenbar anderen Gesetzen zugeordnet, und vermischte sich plötzlich mit ihm. (129)

So entsteht jene Wirklichkeit des Traumas zwischen Wachbewusstsein, Traum und Tod, die den Text über weite Strecken dominiert und die das Resultat eines Dissoziationsprozesses bildet, der sich in der Kriegssituation als überlebensnotwendig erwiesen hat: Manches nur zu denken ist tödlich. Es dennoch gegen seinen Willen sehen müssen und nicht gelähmt sein, davor rettet nur die Weisheit der Steine. Sich vor Erschütterungen sperren, die Seele abkapseln, sich nicht vergleichen, in unverrückbarer Einsamkeit nicht lieben noch hassen, sondern seine Pflicht tun, nie außer sich sein – so versuchte ich meiner Herr zu bleiben. (140)

Was hier als »Weisheit der Steine« beschrieben wird, eine Strategie der emotionalen Anästhesierung und zugleich Selbstdistanzierung, stellt nichts anderes dar als die willkürliche Herbeiführung eines dissoziativen Zustands, der die »tödliche« Wahrnehmung zwar aus dem Bewusstsein verdrängt, ohne aber ihr schockhaftes Eindringen ins Unbewusste verhindern zu können. Ein traumatisches Erlebnis ist nach Freud […] ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normalgewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.45 45

Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders., Studienausgabe, Bd. 1, Alexander Mitscherlich u. a. (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1989, S. 274f. – Vgl. die aktuelle Bestimmung des Traumas als »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglich-

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Das traumatische Erlebnis bringt also die Seelenökonomie durcheinander, weil es nicht mit den gewohnten Mechanismen verarbeitet, ›bewältigt‹ werden kann und so zu einer tiefgreifenden psychischen Störung führt, die das Prinzip des Lebens selbst angreift. Es komme vor, so Freud, »daß Menschen durch ein traumatisches, die bisherigen Grundlagen ihres Lebens erschütterndes Ereignis so zum Stillstand gebracht werden, daß sie jedes Interesse für Gegenwart und Zukunft aufgeben und dauernd in der seelischen Beschäftigung mit der Vergangenheit verharren«.46 Dies sei kein krankhaftes, sondern ein der Schwere der Erfahrung durchaus angemessenes Verhalten. Der Betroffene ist dann so intensiv mit der Bearbeitung des traumatischen Inhalts befasst, dass die fundamentalen Lebensfunktionen außer Kraft gesetzt sind. An deren Stelle tritt der scheinbar autodestruktive, tatsächlich jedoch dem Energieabbau dienende Zwang zur permanenten Wiederholung der traumatisierenden Erlebnisse, der nach Freuds Ansicht »ursprünglicher, elementarer, triebhafter« ist »als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip«.47 Warsinskys Roman kann über weite Strecken als Inszenierung dieses traumatischen Wiederholungszwangs betrachtet werden. Sowohl auf der figuralen als auch auf der Handlungsebene existiert eine Vielzahl iterativer Strukturen, die dem Text einen fraktalen Charakter verleiht.48 Dem Prinzip der Wiederholung folgend, gerät das Erleben zum permanenten déjà vu. Daraus resultiert eine Unentscheidbarkeit, die sich aus der Überdetermination von Ereignissen, Figuren und Motivationen ergibt; diese verleiht der weitgehend inkohärenten Erzählung eine semantische Dichte und zugleich Vieldeutigkeit, die sie der Logik des Traums annähert. Es tauchen immer wieder dieselben Situationen und Personen auf: ein Krankenlager, die Frau des Arztes, eine Kriegsszene mit dem Tod des Ich, eine kurze Begegnung mit der Geliebten. Indessen sind diese Erinnerungen nicht greifbar, sie wirken wie sich ständig wiederholende Flash-backs, die sich der Kontextualisierung und damit auch dem Verständnis entziehen.

46 47

48

keiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt«, bei Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, S. 116. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 276. Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders., Studienausgabe, Bd. 3, Alexander Mitscherlich u. a. (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1989, S. 213–272, hier S. 233. Zum Zusammenhang von (medialem) Trauma und fraktalen Strukturen vgl. Günter Butzer, »Rewind. Die grausame Wirklichkeit der Medien in Akira Kurodas Roman Made in Japan«, in: Daniela Gretz (Hrsg.), Medialer Realismus, Freiburg i. Br. 2011, S. 295–310.

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Dementsprechend sind alle Figuren in Warsinskys Roman mehrfach codiert, aus der Geliebten Leonore wird die Frau Alexandra und aus dieser wiederum die Geliebte Denise,49 doch das Ganze nicht in einer linear ausgerichteten Metamorphose, sondern als vor- und rückwärts laufende Anamorphosen, die keinen Schluss mehr auf die wahre Identität der Figuren erlauben. Das gilt auch und vor allem für das Ich, dem neben dem selbst gewählten spaßhaften Namen Alpha Rommé, der wiederholt als ›Alfred Rommel‹ bzw. ›Alfred Rummel‹ missverstanden wird, der Name Reinhard Niemann (in Anspielung auf die Polyphem-Episode der Odyssee) zugesprochen und der im Textverlauf als der für tot erklärte Albrecht von Kaun identifiziert wird. Hinzu kommen die bereits erwähnten Doppelgängerfiguren Omegas und Ruhlands, die teils als eigenständige Personen, teils als Dissoziationen des Ichs beschrieben werden.50 Diese Instabilität der Figurenidentitäten geht einher mit der Erfahrung von Realität als Wiederholung von schon Erlebtem. So heißt es über eine Situation im Sanatorium: Dies ist zum Beispiel einer der Augenblicke, die ich schon zu kennen meinte, schon erlebt haben mußte. Ihr Bewußtwerden erzeugt Schwindel; man weiß, was nun kommen wird seltsamerweise. […] Jetzt kommt es, dachte ich und wartete. Derweile schoß mir allerlei durch den Kopf. Dabei hatte ich immerfort dieses dumme Empfinden, zu träumen. Nur ungern ergab ich mich der Schwäche, ich wußte freilich, daß Sträuben vergeblich war. […] Mir war auch, als hätte ich geschrien. Aber warum sollte ich denn geschrien haben? Und doch hallte ein Schrei des Entsetzens noch lange in meinen Ohren. Dann gab ich mich auf, und nun war es vollendet. Aber es löschte keineswegs aus, es ging weiter. Ob Traum, ob Wirklichkeit, wer will das richtig bezeugen! Man stirbt nicht nach eigenem Ermessen. Die Dinge müssen vollendet werden. Und dann stiegen wieder diese Bilder in mir auf. (58)

Die Verdoppelung des Geschehens im déjà vu bewirkt eine Derealisationserfahrung, die die Trennung zwischen Wirklichkeit und Traum verschwimmen 49

50

»Ich nahm entzückt ihre [sc. Leonores] Hände, umschloß sie beide mit den meinen. Wie Küchlein unter den Fittichen der Mutter lagen sie darin. O ma petite princesse! sagte ich. Da fühlte ich es zweimal kurz hintereinander auf meine Hände tropfen. Alexandra! rief ich. – Vous savez – klagte eine kleine Stimme. Und da stand Denise vor mir« (257). – Zu dieser Frauen-Serie hinzu kommt Beatrix, die Verlobte des im Krieg getöteten Freundes des Ich, die der Text – im Anschluss an Dantes Beatrice – als Erlösungsfigur aufbaut, ohne dass es jedoch zu einer Erfüllung käme. So heißt es über Omega/Ruhland: »[…] er durchdrang das Niemandsland seiner Weltverlorenheit nicht mehr. Ach, es war schmerzlich zu sehen, wie mit der freundlichen Aufhellung des Entgegenkommens zugleich jener dunkle Fluß abgründiger Verschwiegenheit sichtbar wurde, der mich endgültig von ihm abtrennte. Und diese Regung widerfuhr ihm offensichtlich wider Willen« (220).

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lässt und die Stabilität des Weltbezugs erschüttert.51 In solchen Augenblicken dringen die traumatischen Gehalte der Vergangenheit fragmentiert ins Bewusstsein des Ich und versetzen es in einen irrealen Zustand: »Was aber Traum und was Leben sei, die feinen Unterscheidungen des Vorzeichens, an denen ich die Wirklichkeit meiner Existenz sonst abgelesen hatte, dessen sollte ich nie mehr ganz sicher werden. […] Ich befand mich in dauernder Auflösung« (56). Es geht demnach in Kimmerische Fahrt nicht um die reine »Identität der Wiederholung«, die Freud als Prinzip der allmählichen Bearbeitung und energetischen Umbesetzung des traumatischen Erlebnisses hervorhebt,52 sondern um ein spezifisches Verhältnis von Identität und Differenz, das die Wiederholung des Gleichen immer auch als Verschiebung präsentiert. Es werden substitutive Serien erzeugt, die zum einen dasselbe in immer neuer Gestalt erscheinen lassen und zum andern jedes vermeintlich neue Geschehen als Wiederholung eines bereits stattgefundenen markieren. »Das gleiche und doch nicht das gleiche!« (215), lautet die Formel, auf die das Ich dieses der Verarbeitung des Traumas entgegen wirkende Prinzip bringt. Durch die Verfahren der Serialisierung und Verdoppelung von Identitäten und Ereignissen inszeniert der Roman einen Wiederholungszwang, dem die Figuren sich nicht entziehen können. Sie sind immer schon einmal dagewesen – das heißt aber auch: Sie sind immer schon einmal gestorben. Eine der wesentlichen Leistungen des Textes liegt nämlich darin, eine Welt zu beschreiben, die – wie jede Unterwelt – jenseits des Todes steht, in der sich der Tod aber immer aufs Neue wiederholt. Der eigene Tod bildet mithin den Kern des traumatischen déjà vu. In regelmäßigen Abständen reflektiert das Ich auf den eigenen Tod als ein zugleich zukünftiges und vergangenes Ereignis und behauptet damit eine im wahrsten Sinn des Wortes gespenstische Sprechsituation, von der bis zuletzt unsicher bleibt, ob sie geträumt oder real ist: »[…] ich bin kein Mensch mehr. Ich bin tot. […] Ich habe das Ende hinter mir, und mein Ziel ist der Anfang« (88) – so spricht das Ich zur (vermeintlichen) Geliebten Leonore, die es zu kennen vorgibt, woran diese sich wiederum nicht erinnern kann. Damit entwirft der Text in einer paradoxen »Inszenierung des als Sprechen unmöglichen 51

52

Zum Zusammenhang von déjà vu und Trauma vgl. Anette Schwarz, »Uncanny Strategies: Psychoanalysis and the Boundaries of a Discipline«, in: Günter Oesterle (Hrsg.), Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 219–232. – Die Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses ist konstitutiv für den gegenwärtigen Traumabegriff. Vgl. Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, S. 79. Vgl. Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 245.

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Sprechens«53 einen unmöglichen Ort der Rede, von dem aus das Trauma in seiner anwesenden Abwesenheit artikulierbar wird. Der Ort traumatischer Rede entsteht mithin durch das »unstatthafte[…] Hineinragen eines Raums in einen anderen«,54 wie er sich im déjà vu des Wiederholungszwangs konstituiert, ohne klare Konturen anzunehmen. So vollzieht der Text einen »Paroxysmus der Transgression«, indem er die Einheit von Tod und Leben »als ein unteilbares, unkombinierbares, undialektisches Ganzes«55 postuliert – einer Transgression, die zugleich einen traumatischen Einbruch des Todes in die Sprache darstellt. Nach Freud verweist der Zwang zur Wiederholung auf den Todestrieb, da jeder Trieb grundsätzlich darauf gerichtet ist, einen früheren Zustand wiederherzustellen und diesen immerfort zu wiederholen. Der frühere Zustand des Lebens aber ist der Tod, denn: »Das Leblose war früher da als das Lebende.«56 So ist für Freud das Leben ein Umweg zum Tod, und der Todestrieb bildet das Fundament auch der Selbsterhaltung, deren Ziel vor allem darin besteht zu gewährleisten, dass »der Organismus […] auf seine Weise sterben« kann.57 Wiederholung artikuliert also tatsächlich die Einheit und Ununterscheidbarkeit von Tod und Leben, sie ist das Leben als Tod und der Tod als Leben. Die Gewalt der Wiederholung stellt mithin die Instanz des Todes im Leben dar.58 Warsinskys Roman zeichnet den Weg des Ichs zum Grab nicht als geradlinige Bahn. Als der Protagonist sich am Ende des zweiten Buchs in den für ihn in der Familiengruft der von Kauns bereit gehaltenen leeren Sarg legt, ist er, wie ihm die Gedenktafel zu lesen gibt, bereits tot. So durchgeistert er als untotes Gespenst die Welt des Nachkriegs, die die Präsenz des Todes – als Täter wie als Opfer – leugnet. »Man schien alles vergessen und überwunden zu haben. Nur ich schleppte meine ganze Schicksalsfracht in törichter Schwerfälligkeit noch immer mit mir. […] Und durch diese Welt wanderte 53

54 55 56 57 58

Roland Barthes, »Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allan Poe«, in: ders., Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1988, S. 266–298, hier S. 289. Ebd. Ebd., S. 291. Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 248. Ebd., S. 249. »Demnach ist es also die Beziehung zu meinem Tod […], die hinter dieser Bestimmung des Seins als […] absolute Möglichkeit von Wiederholungen sich versteckt. […] Das Sich-selbst-Erscheinen des Ich im Ich bin ist also ursprünglich nichts anderes als die Beziehung zum eigenen möglichen Verschwinden. Ich bin will demnach ursprünglich sagen: Ich bin sterblich« (Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Aus dem Französischen von Jochen Hörisch, Frankfurt a.M. 1979, S. 108f.).

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ich nun. Welch ein hoffnungsloser Mensch war ich doch!!« (72). Der Sprecher fungiert als Wiedergänger des Todes in der Nachkriegsgesellschaft und damit als eine Art Inkarnation des Traumas in einer Welt der Verleugnung.59 Seine eigene Verkehrung verweist auf die Verkehrtheit der anderen, die invertierte Welt Kimmeriens bildet den Untergrund der Nachkriegsgesellschaft. Die Psychagogik der Erinnerung mündet aber nicht in eine abschließende Identität, sondern in einen »Friedhof voller Lebender« (282), der vom Ich angelegt und gepflegt wird. Da die Lebenden ihre Toten nicht begraben, begräbt der Tote seine Lebenden. Am Ende steht damit das Ritual, das wohl den Ursprung aller Unterweltsreisen bildet und das die Toten von Odysseus und Aeneas so dringlich einfordern: das Begräbnis. Warsinskys Text wäre somit als Epitaph zu lesen, als Grabschrift, die, wie Paul de Man anlässlich von Wordsworths Essays upon Epitaphs bemerkt hat, die Dichotomie von Leben oder Tod in ein Zugleich von Leben und Tod verwandelt, indem sie in der rhetorischen Figur der Prosopopöie, d. h. der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen Person, die dieser die Macht der Rede zuspricht, die »Fiktion der Stimme-von-jenseits-des-Grabes«60 erzeugt – das Ich in Kimmerische Fahrt ist immer schon tot gewesen – und damit die Toten zum Leben erweckt. Zugleich unterliegt jedoch alles Lebendige auf Grund der symmetrischen Struktur der Prosopopöie, die einen Dialog zwischen Abwesenden inszeniert, der Bedrohung des Todes: Wer die Toten sprechen lässt, geht selbst in die Welt der Toten über.61 Damit verharrt Warsinskys Roman in der ›Otherworld‹ (Salman Rushdie) der lebenden Toten. Auf das eingangs entworfene Narrativ der Unterweltsreise bezogen, stellt er Kimmerien als Raum der ewigen Strafe dar, in der man den eigenen (oder fremden?) Tod immer wieder neu stirbt, eine Sphäre des Untoten, die ihrer Erlösung harrt. Aus diesem Raum ist nichts zu holen, vielmehr holt er einen und zieht einen hinab in die Tiefe, wo keine Erkenntnis wartet und keine Aussicht auf Besserung. Die Funktionen der Hadeswanderung haben sich also nahezu vollständig von den intendierten auf die akzidentellen verscho59

60

61

»Unterliegen diese [sc. die Traumatisierten] der gesellschaftlichen Verdrängung, Ausgrenzung oder gar Mißachtung, weil sie durch ihr Leiden an die ›Katastrophe‹ erinnern, so ist für sie die traumatische Situation noch keineswegs beendet« (Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, S. 61). Paul De Man, »Autobiographie als Maskenspiel«, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen. Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Blasius, Christoph Menke (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 131–146, hier S. 141. Vgl. ebd., S. 142. – Als metaphorische Reflexion wird das im Roman wie folgt beschrieben: »So also wollte er in seinem heiligen Unverstand den Toten dienen, daß er ihr Licht zu retten gedachte. Und sie wärmten ihn dafür mit ihrem Licht« (283).

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ben: Im Zentrum steht die Beschreibung der Unterwelt selbst, die Begegnung mit den eigenen Toten und dem eigenen Tod, in einem Traum, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint – auch wenn der Text am Ende eine Erlösung nahe legt, indem er das Ich ins »schauerliche Nichts« (278) des Alls aufgehen lässt und die Erzählung mit der (Nicht-)Leere von vier Zeilen Punkten beschließt. Denn auch dieser Tod könnte wiederum ein geträumter Tod eines bereits Toten sein, der nichtsdestotrotz weiter lebt.

*** Vergleicht man Warsinskys Kimmerische Fahrt mit Levis Se questo è un uomo, fällt auf, wie konsequent Levi auf der Rationalität der von ihm geschilderten Unterwelt beharrt. Die Welt des Lagers ist zwar widersinnig, gleichwohl ist sie analytisch beschreibbar; der Weg durchs Inferno ist ein Weg der »lezioni«, auch wenn dieses Lernen kein Verstehen ist.62 Deshalb scheint diese Unterwelt, anders als die Kimmeriens, keine Gefährdung für das erinnernde Ich darzustellen; sie hat keinen Bezug zu seiner Gegenwart. Umso wichtiger erscheint die Feststellung einer fundamentalen Derealisation, die den Erzähler Levis ebenso wie denjenigen Warsinskys befällt. Die Zeit und der Zustand des Lagers sind für Levis Erzähler »cancellati da ogni realtà presente« (107), mithin auch nicht in die eigene Biographie integrierbar. »Oggi«, schreibt er, »questo vero oggi in cui io sto seduto a un tavolo e scrivo, io stesso non sono convinto che queste cose sono realmente accadute« (93). Damit rücken die Erfahrungen des Ich in eine ›Otherworld‹, die als Unterwelt der Erinnerung zu bestimmen ist. Wie bei Warsinsky sind es lebende Tote, die das Gedächtnis bewohnen und nicht zur Ruhe kommen können. Im Semem des Gespenstes behält die nicht begrabene Vergangenheit ihre Virulenz. So erscheint der epitaphische Diskurs, der Levis wie Warsinskys Text auf je eigene Weise bestimmt, als ein durchaus prekärer: Weil es ihnen nicht gelingt, die Toten der Vergangenheit im Grab des Texts zu bestatten, geistern sie als Untote umher.63 Dazu trägt sicherlich auch bei, dass es sich um ein einsames Ritual der textuellen Bestattung handelt, das die beiden Autoren vollführen. Denn nicht nur Warsinskys Erzähler scheitert am kollektiven Vergessen der Nachkriegszeit, auch Levi berichtet vom Alptraum der »scena 62

63

»Ne pas chercher à comprendre«/»non cercar di capire«, lautet die mehrfach wiederholte Devise der Häftlinge. Vgl. Levi, Se questo è un uomo, S. 93, 104, 124. Vgl. Manuela Günter, »Writing Ghosts. Von den (Un-)Möglichkeiten autobiographischen Erzählens nach dem Überleben«, in: dies. (Hrsg.), Überleben schreiben, S. 21–50.

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sempre ripetuta della narrazione fatta e non ascoltata« (54). (Sein Text wurde 1947 nicht rezipiert, sondern erst elf Jahre später.) So gewinnt der bloße Akt des Schreibens des Todes schließlich die Oberhand gegenüber allen anderen Erzählfunktionen. Es geht darum, dem traumatischen Erleben eine Stimme zu verleihen,64 eine Stimme, deren Adressat der Schreibende selbst ist – und die Toten, die er in sich trägt. Sowohl bei Warsinsky als auch bei Levi ist es also letztlich die Beschreibung des Infernos selbst, die im Zentrum des Textes steht – mit dem Unterschied, dass der Erste ein Inferno des Erinnerns und der Zweite ein erinnertes Inferno zur Anschauung bringt. Warsinskys Erzähler geht an diesem Inferno schließlich zu Grunde. Levis Erzähler hingegen gelingt es, das Inferno klar und deutlich als distinkten jenseitigen Raum zu erfassen – ohne die Zwei- und Mehrdeutigkeiten des Traums. Doch wir dürfen vermuten, dass gerade diese präzise Erfassung der Unterwelt auf einer Abspaltung, einer Dissoziation des Ichs beruht, das die eigentliche Katastrophe des Erinnerns noch vor sich hat.

64

Vgl. Levi, »Aus einem Brief Primo Levis an den Übersetzer«, S. 7, wo er als sein Ziel formuliert, »das deutsche Volk meine Stimme hören zu lassen«. Zur Suche nach einer narrativen Stimme, die das Trauma angemessen und wirkungsvoll artikulieren kann, vgl. Dominick LaCapra, Writing History, Writing Trauma, Baltimore 2001.

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Topographien der Auslöschung Cayrol, Resnais, Lanzmann

Lanzmanns mehrstündiger Film Shoah, der 1985 in die Kinos kam, markiert innerhalb der französischen Erinnerungskultur einen Paradigmenwechsel, der mit der Dekonstruktion des französischen Résistance-Mythos und der Fokussierung der systematischen Auslöschung der europäischen Juden einhergeht.1 Sah sich die unmittelbare Nachkriegsgesellschaft mit dem Wunsch nach Wiederherstellung einer republikanischen Nationalidentität konfrontiert, in der die Vorstellung einer französischen Beteiligung an der Auslieferung der Juden zugunsten einer Glorifizierung des nationalen Widerstands getilgt wurde, so taucht nicht zuletzt ausgelöst durch die 68er Revolution und die Aktionen von Serge und Beate Klarsfeld die Erinnerung an die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den deutschen Besatzern wieder auf.2 Anfang der 90er Jahre stellt Simone Veil in einem Rückblick auf ihre eigenen Erfahrungen im Lager heraus, dass die Mehrzahl der französischen Juden sich bis zum Transport in die Lager weigerte, den systematischen Vernichtungswillen der Nazis und die Kollaboration der französischen Regierung wahrzunehmen, da sie sich als gleichberechtigte Franzosen und nicht als Angehörige des jüdischen Volkes betrachteten.3 Der Unglaube, mit dem bereits die Neuankömmlinge im Lager auf die Erzählungen der älteren Deportierten reagierten, prägt auch die erste Phase des kollektiven Umgangs mit den zurückkehrenden Überlebenden, die von Schweigen und Indifferenz geprägt war. Zwei Gründe führt Veil an, um diese distanzierte Haltung zu erklären: Zum einen nennt sie die Hoffnung vieler Überlebender auf eine mögliche 1

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Einen ersten Überblick über die unterschiedlichen Phasen der französischen Erinnerungskultur liefert Henry Rousso, dessen Tendenz zur Verallgemeinerung heterogener Prozesse von Shmuel Trigano kritisiert wird. Vgl. Henry Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 1987; Shmuel Trigano, L’idéal démocratique. A l’épreuve de la Shoah, Paris 1999. Vgl. Geoffrey H. Hartman, »Die Stimme Vichys«, in: ders. (Hrsg.), Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, S. 116–130; Serge Klarsfeld, Vichy-Auschwitz: Le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive en France, 1942, Paris 1983. Vgl. Simone Veil, »Réflexions d’un témoin«, in: Annales ESC, 3/1993, S. 671–701.

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Rückkehr von Freunden und Verwandten, zum anderen verweist sie auf das veränderte politische Klima in Frankreich, in dem insbesondere die jüdischen Opfer zum Stachel eines kollektiven Unbehagens werden, das den nationalen Wiederaufbau überschattet. Insofern stellt die Deportation der französischen Juden einen Aspekt im kollektiven Gedächtnis Frankreichs dar, dessen Ausblendung einer Verdrängung der französischen Komplizenschaft bei der Judenverfolgung lange Zeit Vorschub leistete. Rückt in seinem Projekt die Massenvernichtung der europäischen Juden ins Zentrum, wie bereits der Titel nahe legt, so bezieht Lanzmann zugleich – insbesondere in den zahlreichen Interviews – Stellung gegen bisherige Repräsentationsformen von Auschwitz, denen es nicht gelungen ist, die Erfahrung der Auslöschung narrativ oder visuell zu vermitteln, so dass eine lebendige Vergegenwärtigung der Katastrophe möglich wäre. Mit seinem konsequenten Verzicht auf Archiv-Bilder und der Konzentration auf die Stimmen der Überlebenden erweist er sich in Analogie zur Position Lyotards als Gegner des Augenzeugendiskurses, dessen Autorität sich aus den zahleichen Zeugnissen der Überlebenden speist und auf dem Wahrheitsanspruch der erzählten Fakten insistiert.4 Auch den historisch-dokumentarischen Aufarbeitungsversuchen der Katastrophe spricht er eine transgenerationelle Vermittlerfunktion des Traumas ab, da sie zwar alle Hintergründe und Abläufe der Massenvernichtung minutiös rekonstruieren, die ethische Dimension jedoch vernachlässigen und damit die Möglichkeit einer wahrhaften Begegnung von Nachwelt und Opfer verhindert haben. Lanzmanns Rekurs auf die unmögliche Koinzidenz von Fakten und Wirklichkeit, von Beschreibung des Gewesenen und Verständnis antizipiert den Ausgangspunkt der Reflexion Giorgio Agambens in Quel che resta di Auschwitz, der nach den Konsequenzen von Auschwitz für das Miteinander in der menschlichen Gemeinschaft fragt.5 Gleichzeitig scheint seine Haltung derjenigen einer Vielzahl französischer Intellektueller zu entsprechen, die Shoah emphatisch als authentische Inszenierung eines unmittelbaren Zugangs zur Wirklichkeit der Vernichtung bejubelt haben, wie die folgende Äußerung Simone de Beauvoirs exemplarisch belegt:

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Catherine Coquio diskutiert in der Einleitung zu ihrem Band Parler des camps, penser les génocides die unterschiedlichen Konzepte im Umgang mit den Texten der Überlebenden aus den Konzentrationslagern kritisch und nimmt auch auf Lyotard Bezug, vgl. Catherine Coquio, »Du malentendu«, in: dies. (Hrsg.), Parler des camps, penser les génocides, Paris 1999, S. 17–86. Vgl. Giorgio Agamben, Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino 1998, S. 7.

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Il n’est pas facile de parler de Shoah. Il y a de la magie dans ce film, et la magie ne peut pas s’expliquer. Nous avons lu, après la guerre, des quantités de témoignages sur les ghettos, sur les camps d’extermination nous étions bouleversés. Mais, en voyant aujourd’hui l’extraordinaire film de Claude Lanzmann, nous nous apercevons que nous n’avons rien su. Malgré toutes nos connaissances, l’affreuse expérience restait à distance de nous. Pour la première fois, nous la vivons dans notre tête, notre cœur, notre chair. Elle devient la nôtre. Ni fiction ni documentaire, Shoah réussit cette re-création du passé avec une étonnante économie des moyens: des lieux, des voix, des visages.6

Beauvoirs Stellungnahme zu Lanzmanns Filmprojekt verdeutlicht zwei Aspekte, die konstitutiv für die kritische Rezeption von Shoah sind. Auf der einen Seite begünstigt Lanzmanns dezidierte Negation einer mimetischen Abbildung von Auschwitz, die er mit der grundsätzlichen Undarstellbarkeit der Shoah begründet, eine primär ethische Diskussion seines Werkes.7 Diese Tendenz innerhalb des kritischen Diskurses zu Shoah zeigt sich in Beauvoirs Gegenüberstellung von Wissen, das mit dem Postulat der Darstellbarkeit und den Zeugnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit assoziiert wird, und dem Erleben der »affreuse expérience« in der Wahrnehmung der Orte, Stimmen und Gesichter, welche die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischen. Auf der anderen Seite rückt gerade der Verzicht auf Archivbilder den nicht-darstellenden und damit den eher intuitiv-spontanen als künstlerisch-ästhetischen Charakter seines Projekts in den Vordergrund, was sich in Beauvoirs Verweis auf die unerklärliche Magie des Films dokumentiert. Anders als in der ersten Phase der Vergangenheitsbewältigung, die durch eine Rekonstruktion des Gewesenen geprägt war und allenfalls zu einer vorübergehenden Erschütterung angesichts der Gräuel in den Lagern geführt hat, wie Beauvoir darlegt, gelingt es Lanzmann, dem Publikum der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts durch den bewussten Verzicht auf Montageeffekte eine unmittelbare Begegnung mit der Katastrophe zu ermöglichen, die als leibhaftiger Dialog zwischen den Zeugen und der Nachwelt erfahren wird.8 6

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Simone De Beauvoir, »La mémoire de l’horreur«, in: Claude Lanzmann, Shoah, Paris 1985, S. 9–14, hier S. 9. Vgl. Robert Brinkley/Steven Youra, »Tracing Shoah«, in: PMLA, 11/1996, Heft 1, S. 108–127. Als aktuelles Beispiel für diese nach wie vor dominante Rezeption von Lanzmanns Shoah sei auf den Beitrag von Raye Farr verwiesen, der mit den salbungsvoll anmutenden Worten endet: »›Every human being should see this film.‹«, vgl. Raye Farr, »Some reflections on Claude Lanzmann’s approach to the examination of the Holocaust«, in: Toby Haggith/Joanna Newman (Hrsg.), Holocaust and the moving image. Representations in film and television since 1933, London 2005, S. 161–167, hier S. 166.

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Lanzmanns Insistieren auf dem Imperativ einer grundlegenden Blindheit und seine Verweigerung einer historisch-kritischen Objektivierung der Ereignisse, die in letzter Konsequenz darauf zielt, die Shoah als Teil der europäischen Geschichte in ihrer Monstrosität zu nivellieren, hat sowohl seine existentiell-phänomenologisch ausgerichtete Ästhetik als auch Anschließbarkeiten an bereits existierende Traditionen und Modelle einer Problematisierung von Auschwitz als Gegenstand künstlerischer Darstellung in den Hintergrund treten lassen.9 Insbesondere Alain Resnais’ Nuit et brouillard, der zehn Jahre nach Kriegsende im Zusammenhang mit einer Reihe von Projekten des Comité d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale entstanden ist, scheint in Lanzmanns Äußerungen als Negativmodell eines idealistischen Versuchs zu fungieren, Auschwitz in Bilder zu fassen und dem Zuschauer eine Botschaft zu vermitteln.10 Die Verbindung von Archivbildern mit einem voice-over-Kommentar, den Jean Cayrol auf Bitten Resnais’ verfasst hat, wertet Lanzmann im Zusammenhang mit der Rechtfertigung seines bewussten Verzichts auf historische Dokumente als Form positiven Wissens und einer auktorialen Manipulation des Publikums:11

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Zur kritischen Diskussion von Lanzmanns Bilderverbot und seiner Kommentare vgl. Dominick LaCapra, »Lanzmann’s Shoah. ›Here there is no Why‹«, in: Critical Inquiry, 23/1997, Heft 2, S. 231–269; Georges Didi-Huberman, Images malgré tout, Paris 2003. Zur komplexen Entstehungsgeschichte von Nuit et brouillard vgl. Sylvie Lindeperg, Nuit et brouillard. Un film dans l’histoire, Paris 2007, S. 37–55. Innerhalb der französischen Erinnerungsgeschichte markiert Nuit et brouillard einen Wendepunkt in der Darstellung der Shoah, vgl. Christian Delage, »Nuit et brouillard: a turning point in the history and memory of the Holocaust«, in: Toby Haggith/Joanna Newman (Hrsg.), Holocaust and the moving image. Representations in film and television since 1933, London 2005, S. 127–139. Diese ablehnende Haltung Lanzmanns gegenüber Archivmaterial findet sich auch in aktuellen Untersuchungen zu den filmischen Repräsentationsformen der Katastrophe wieder, die in der Regel Nuit et brouillard als Negativbeispiel einer Universalisierung von Auschwitz bezeichnen, ohne der experimentellen Montagetechnik und den filmischen Effekten Rechnung zu tragen, vgl. in diesem Zusammenhang Aline Alterman, Visage de Shoah, le film de Claude Lanzmann, Paris 2006, S. 237–238: »Et, cependant, l’impact des images demeure aliéné à un commentaire qui rapporte les Visages néantisés de la Shoah aux figures des héros, des résistants: réduisant la douleur et le non-sens des images de charniers à la rationalité d’un discours hagiographique, et cela malgré l’évidente sincérité de cette prosopopée de poète. En ce sens, le film n’explore pas la négativité de l’histoire, cherche à dégager en l’histoire un sens positif.« In meinem Beitrag werde ich aufzeigen, dass diese Interpretation einer reduktionistischen Lesart von Nuit et brouillard entspricht, die

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Il n’y avait donc pas d’archives. Et même s’il y en avait eu, je n’aime pas beaucoup les montages d’archives, je n’aime pas les voix off qui commentent des images ou des photos comme un savoir institutionnalisé: on peut dire n’importe quoi la voix off impose un savoir qui ne surgit pas directement de ce qu’on voit, on n’a pas le droit d’expliquer au spectateur ce qu’il doit comprendre.12

Trotz aller Differenzen zwischen Nuit et brouillard und Shoah, die primär den unterschiedlichen zeithistorischen Entstehungsbedingungen geschuldet sind, problematisieren beide Filme die Darstellung von Auschwitz und können als exemplarische Beiträge einer Krise filmischer Zeugenschaft verstanden werden, die sich auf den ersten Blick in scheinbar konträren ästhetischen Strategien manifestiert: Objektivität der Archivbilder versus Subjektivität der Handkamera, Narration einer unsichtbaren, auktorialen Erzählinstanz versus Stimmen der Überlebenden, die sich vor laufender Kamera erstmalig an die traumatischen Ereignisse erinnern und von ihren Emotionen eingeholt werden, die dramatisch-pathetische Filmmusik Hanns Eislers versus Beschränkung auf die Geräusche der Umgebung, Vermischung der Grenzen von Alltag und Lager versus Fehlen von Spuren der Katastrophe in der polnischen Landschaft und schließlich komplexe Montagestruktur versus demonstrativer Verzicht auf Montage.13 Bei näherer Betrachtung lassen sich jedoch eine Reihe von Echoeffekten und Korrespondenzen ausmachen, die in erinnerungsgeschichtlicher Perspektive auf ein komplementäres Verhältnis beider Filme schließen lassen.14 Auch wenn der Titel Nuit et brouillard auf mutmaßliche Saboteure, Partisanen oder Widerstandskämpfer des Dritten Reiches referiert, die ohne Spur in Nacht und Nebel verschwinden sollten, wählt Resnais als filmisches Setting die Überreste des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und lenkt bereits in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Blick auf die Deportation und Ermordung der europäischen Juden als Zentrum der nationalsozialis-

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weder dem verstörenden Zusammenspiel der unterschiedlichen Medien noch der lazarenischen Ästhetik Cayrols Rechnung trägt. Claude Lanzmann, »Le lieu et la parole«, in: Bernard Cuau (Hrsg.), Au sujet de Shoah. Le film de Claude Lanzmann, Paris 1990, S. 293–305, hier S. 297. Zu den filmischen Strategien in Nuit et brouillard vgl. Max Silverman, »Horror and the everyday in post-Holocaust France. Nuit et brouillard and concentrationary art«, in: French Cultural Studies, 17,1/2006, S. 5–18, hier S. 8f. Zu den filmischen Techniken in Shoah vgl. Alterman, Visages, S. 271–341 und Anne-Marie Houdebine-Gravaud, L’écriture de Shoah. Une lecture analytique du film et du livre de Claude Lanzmann, Limoges 2008. Zu den stilistischen Parallelen zwischen Nuit et brouillard und Shoah vgl. Vincent Lowy, L’histoire infilmable. Les camps d’extermination nazis à l’écran, Paris 2001, S. 121.

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tischen Vernichtungspolitik.15 In Analogie zu Cayrols Weigerung, einen récit de témoignage nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager Mauthausen zu verfassen, widersetzt sich auch Nuit et brouillard der eindeutigen Zuordnung zu einem Genre, da der Film ebenso wie Lanzmanns Shoah zwischen Fiktion und Dokumentation oszilliert. Beide Filme entwerfen eine Topographie der Auslöschung, die auf unterschiedliche Inszenierungsformen filmischer Zeugenschaft rekurriert.16 Versucht Resnais den Film selbst in ein Medium der Blindheit zu verwandeln und die Möglichkeit einer Figuration von Auschwitz zu erproben, die sich der Versuchung eines sublim negativen Wissens widersetzt, so zielt Lanzmanns Projekt auf eine halluzinatorisch-imaginäre Vergegenwärtigung der Katastrophe, die den Zuschauer unmittelbar involviert.17 Lanzmanns scharfe Abgrenzung gegenüber dem Diskurs der Augenzeugen und die Verteidigung seiner antirealistischen Filmästhetik gewinnen im Kontext der bereits von Cayrol direkt nach dem Krieg entwickelten lazarenischen Ästhetik an Profil, die zahlreiche Postulate Lanzmanns vorwegnimmt.18 Deshalb werde ich mich in einem ersten Schritt basierend auf Cayrols Essay Pour un romanesque lazaréen und seinen Ausführungen zum Kino in Le droit de regard mit der Frage nach der ästhetischen Konstitution eines Zeugnisses der Katastrophe beschäftigen, bevor in den folgenden Abschnitten die jeweiligen filmischen Inszenierungsstrategien in Nuit et brouillard und Shoah fokussiert werden. Die Krise filmischer Zeugenschaft, so die These, artikuliert sich in beiden Filmen in der Problematisierung und Zurückweisung einer Ähnlichkeitsrelation zwischen Auschwitz und Medium.19

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Vgl. Charles K. Krantz, »Alain Resnais’ Nuit et Brouillard: a historical and cultural analysis«, in: Sanford Pinsker/Jack Fischel (Hrsg.), Holocaust Studies Annual. Volume III: Literature, the Arts, and the Holocaust, Greenwood 1987, S. 107–120, hier S. 108. Zur Problematisierung kollektiver Bilder der Katastrophe im medialen Gedächtnis vgl. Alexander Jackob, »Jenseits der Zeugenschaft. Zur Kritik kollektiver Bilder nach Holocaust«, in: Augenblick, 36/2004: Zur neuen Kinematographie des Holocaust. Das Kino als Archiv und Zeuge?, S. 20–25. Vgl. Sara Guyer, Romanticism after Auschwitz, Stanford 2007, S. 188; Michael D’Arcy, »Claude Lanzmann’s Shoah and the intentionality of image«, in: David Bathrick/Brad Prager/Michael D. Richardson (Hrsg.), Visualizing the Holocaust. Documents, Aesthetics, Memory, New York 2008, S. 138–161. Vgl. Marie-Laure Basuyaux, Témoigner clandestinement. Les récits lazaréens de Jean Cayrol, Paris 2009, S. 96. Der Begriff »crisis of witnessing« rekurriert auf den Titel der wegweisenden Untersuchung von Dori Laub und Shoshana Felman, die Zeugenschaft als Paradigma der Literatur des 20. Jahrhunderts bestimmen, vgl. Shoshana Felman/Dori Laub, Testimony. Crisis of witnessing in literature, psychoanalysis, and history, New York/London 1992.

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I.

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Lazarenische Kunst als Modell einer Ästhetik nach Auschwitz

In seinen Ausführungen zur »Sprache und Kultur nach dem Holocaust« insistiert Geoffrey Hartman in Anlehnung an Adornos Kulturkritik in der Negativen Dialektik darauf,20 dass die Toten der Lager niemals Teil abendländischer Kultur werden können, da jeder stringente Deutungsversuch ihres sinnlosen Todes auf ideologischer Ausschließung basiert.21 Gerade in der Unmöglichkeit, die Shoah in eine einheitliche Kulturtheorie zu integrieren, sieht Hartman die Herausforderung, der sich Künstler und Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stellen haben. Jean Cayrol hat bereits unmittelbar nach dem Krieg mit seinen Essays Les rêves concentrationnaires und Pour un romanesque lazaréen Ansätze einer Ästhetik nach Auschwitz geliefert, die nach einem amimetischen Übertragungsmodus sucht und sich auf den auferstandenen Lazarus als Verkörperung des lebendigen Leichnams gründet.22 Im Gegensatz zu Orpheus handelt es sich bei Lazarus um eine vollkommen passive Figur, die durch die Stimme Jesu zum Leben erweckt wird. Das eigentliche Skandalon liegt Cayrol zufolge jedoch nicht im Faktum seiner Rückkehr aus dem Reich der Toten, sondern in dem Verwesungsgeruch, der seinem Leib anhaftet und der das Trauma des Sterbens der Nachwelt bezeugt.23 Aufgrund seiner Stimmlosigkeit rückt die Gestalt des Lazarus in die Nähe jener »morts-vivants«, die im Lager von den Deportierten als Muselmänner bezeichnet wurden. In Giorgio Agambens Definition des Zeugnisses konstituiert der Muselmann in seiner Funktion als vollkommener Zeuge paradoxerweise die Möglichkeit des Bezeugens der Katastrophe, d. h. insofern der 20

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Adorno schreibt in den »Meditationen zur Metaphysik« bezogen auf das Sterben in Auschwitz: »Theoretisch zu widerrufen wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber dessen Transfiguration zum Leichnam betrügt.« Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1975, S. 359. Vgl. Geoffrey Hartman, »Sprache und Kultur nach dem Holocaust«, in: ders., Das beredte Schweigen der Literatur, Frankfurt a.M. 2000, S. 107–148, hier S. 134. Roland Barthes gehört zu den ersten Kritikern, die den experimentellen Charakter des Werkes Cayrols erkannt haben, vgl. Roland Barthes, »Jean Cayrol et ses romans«, in: Esprit, 3/1952, S. 483–499; vgl. hierzu auch den kritischen Kommentar von Bernard Comment, »Prétextes de Roland Barthes. Camus, Cayrol, Robbe-Grillet: trois auteurs cités tour à tour en exemples par Barthes, et confrontés à des exigences qui n’étaient pas toujours les leurs«, in: Magazine littéraire, 314/1993, S. 59–63. Marie-Laure Basuyaux akzentuiert diesen Aspekt in ihrer beeindruckenden Untersuchung der lazarenischen Texte Cayrols, vgl. Basuyaux, Témoigner clandestinement, S. 88.

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Muselmann die Schwelle des Todes überschritten hat und nicht mehr in der Lage ist, das Erlebte zu bezeugen, bedarf er eines Anderen, der für ihn spricht, auch wenn dieser selbst nicht alles gesehen hat. Dieser Andere ist in Agambens Ausführungen der Überlebende, dessen Sprechen durch die Unmöglichkeit der Rede legitimiert ist. In dem Maße, in dem der Überlebende von etwas spricht, worüber er nicht sprechen kann, erfährt er die Grenzen des Zeugnisses und widerlegt jeden Versuch Auschwitz zu leugnen. Nel musulmano, l’impossibilità di testimoniare non è più, infatti, una semplice privazione, ma è divenuta reale, esiste come tale. Se il superstite testimonia non della camera a gas o di Auschwitz, ma per il musulmano, se egli parla soltanto a partire di una impossibilità di parlare, allora la sua testimonianza non può essere negata. Auschwitz – ciò di cui non è possibile testimoniare – è assolutamente e irrefutabilmente provato.24

In Cayrols Ausführungen zu den Implikationen und Konsequenzen der »expérience concentrationnaire« sind die Grenzen zwischen dem Muselmann und dem Überlebenden nicht so klar gezogen wie in Quel che resta di Auschwitz. Wie er in seinen einleitenden Bemerkungen zu den »rêves concentrationnaires« ausführt, haben sich die Deportierten selbst ab 1943 als »morts-vivants« bezeichnet, was ihre Identifikation mit Lazarus nahelegt.25 Wenn er in dem Vorwort zu Lazare parmi nous davon spricht: »C’est nous les cadavres, ne l’oublions pas.«26, dann bezieht sich dieses »nous« auf das Kollektiv der aus dem Lager zurückgekehrten Überlebenden, zu denen der Autor selbst gehört. Der historische Bezugsrahmen für Cayrols Vision eines Neubeginns der Literatur ist nicht ausschließlich die Vernichtung der europäischen Juden, sondern es sind die Konzentrationslager als Orte nationalsozialistischen Terrors, dem auch die französischen Widerstandskämpfer ausgesetzt waren. Die Gemeinsamkeit zwischen Agambens Figur des Muselmannes und Cayrols lazarenischer Gestalt liegt in dem Sprachverlust aufgrund der Erfahrung vollkommener Entmenschlichung, die von einem Dritten bezeugt werden muss. In Quel che resta di Auschwitz spricht der Überlebende an Stelle des Muselmannes, der nicht mehr aus dem Lager zurückgekehrt ist, in Lazare parmi nous wird der Literatur die Aufgabe übertragen, die Spuren der Vergangenheit in der zeitgenössischen Wahrnehmung der Gegenwart zu reaktivieren und spürbar werden zu lassen. Cayrol formuliert dabei in Analogie zu dem Paradox des Zeugnisses bei Agamben 24 25

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Agamben, Quel che resta di Auschwitz, S. 153. Vgl. Jean Cayrol, »Les rêves lazaréens«, in: ders., Lazare parmi nous, Paris 1950, S. 15–66, hier S. 18. Cayrol, Lazare parmi nous, S. 9.

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zwei Positionen, die sich nicht nur widersprechen, sondern auszuschließen scheinen: Auf der einen Seite behauptet er die Unvergänglichkeit der Lager, die sich jedem Versuch einer Integration in das kollektive Gedächtnis widersetzen, auf der anderen Seite skizziert er mögliche Formen der künstlerischen Reaktivierung, die in Lazare parmi nous zunächst auf die Literatur beschränkt sind und in Le droit de regard auf das Kino übertragen werden.27 Wie Marie-Laure Basuyaux in einer Monographie zu den lazarenischen Texten Cayrols herausstellt, besteht eine Analogie zwischen dem nach Verwesung riechenden Leib des auferstandenen Lazarus und der Situation der Literatur nach 1945, die durch die aus den Lagern zurückkehrenden Überlebenden mit dem »Gestank der Kadaver« (Adorno) kontaminiert ist.28 Die Übertragung dieses Leichengeruchs kann nach Cayrol weder der autobiographische Darstellungsmodus noch die littérature de témoignage leisten. Die Weigerung, seine eigene Lagererfahrung in einem »récit de témoignage« zu verarbeiten, hat in diesem Zusammenhang programmatischen Charakter. Mit seiner Kritik der existierenden Zeugentexte verweist er auf die Notwendigkeit einer neuen Poetik, die in der Lage ist, eine Verbindung zwischen der unerhörten Erfahrung der Lager und den literarischen Ausdrucksformen herzustellen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich seine Entscheidung für den fiktionalen Darstellungsmodus, den er für seine Roman-Trilogie Je vivrai l’amour des autres wählt. Hier schildert er die Rückkehr eines Deportierten in die französische Nachkriegsgesellschaft und seine mühsamen Versuche der Selbstbehauptung und -aneignung. Mit der konsequenten Situierung der Handlung nach dem Zweiten Weltkrieg untergräbt er auf zeitlicher Ebene eine klare Abgrenzung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In dem Maße, in dem die Wunden des Überlebenden verheilt, aber in den Narben sichtbar sind, ist auch das Lager kein abgeschlossener, abgespaltener Kosmos, sondern ragt, präsent in den versehrten Leibern der Überlebenden, in die Gegenwart hinein.29 Cayrols Ablehnung der Zeugnisliteratur geht paradoxerweise mit einer Verabsolutierung des Konzentrationslagers als Nullpunkt der Literatur einher, was zu widersprüchlichen Aussagen führt. Er entscheidet sich weder für eine rein fiktionale noch eine ausschließlich dokumentarische Ausgestaltung des Erlebten, sondern insistiert auf einem Darstellungsmodus, der historische Referentialität mit fiktionaler Ausgestaltung verbindet. An die Stelle 27

28 29

Zu dem Paradox des Zeugnisses bei Agamben vgl. Guyer, Romanticism after Auschwitz, S. 30–33. Vgl. Basuyaux, Témoigner clandestinement, S. 152f. Vgl. hierzu die einleitenden Ausführungen Cayrols zur Situation der französischen Gesellschaft nach der Befreiung der Lager in Jean Cayrol, »Pour un romanesque lazaréen«, in: ders., Lazare parmi nous, S. 69–106, hier S. 69f.

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von Wiedergabe bzw. Rekonstitution des Gewesenen tritt die ästhetische Schöpfung eines Universums nicht im Schatten der Lager, sondern eingetaucht in ihr Licht und von diesem imprägniert. Die untrennbare Verbindung zwischen Zeugnis und Fiktion, die sich in dem lazarenischen Werk Cayrols in einem intertextuellen Dialog mit der Lagerliteratur artikuliert, ermöglicht erst das Sprechen des Zeugen, der sich an die Nachwelt wendet, um Gehör für diejenigen zu erlangen, die nicht mehr sprechen können. In dem ersten Band der Trilogie, On vous parle, handelt es sich um die anonyme Erzählstimme, die ihre Worte an die französische Nachkriegsgesellschaft adressiert, um ihre Aufmerksamkeit auf den zunächst namen- und sprachlosen Protagonisten zu lenken, der aus dem Lager zurückgekehrt ist: On n’entend pas sa voix dans les rues; elle n’entre pas dans les maisons; elle ne touche pas les cœurs. Il vous a frôlé sur le trottoir; il vous a peut-être demandé du feu. Vous n’aimez pas son visage, sa façon d’allumer longuement sa cigarette à la vôtre. Peut-être avez-vous eu peur qu’il vous demande autre chose? Vous ne vous souvenez plus de lui car il n’est pas le seul à avoir ce visage au crépuscule, cette démarche sombre, ce costume.30

Der anonyme Erzähler evoziert die Erscheinung eines körperlich deformierten Subjekts, dessen unerträglicher Anblick seine Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft in Frage stellt. Seine Fremdheit referiert auf die Erfahrung der Auslöschung und weist ihn als zurückkehrenden Lazarus aus, dessen Körper von einer Welt der Vernichtung Zeugnis ablegt, die einem surrealen Traumreich gleicht, das nur mit literarischen Beschreibungsmodi evoziert werden kann, wie Cayrol es an seiner Ankunft im Lager Mauthausen verdeutlicht. Je ne veux me souvenir que de celle du camp de Mauthausen, la nuit, surgissant d’une colline sous l’éclatante lueur des projecteurs. On voyait se profiler sa muraille de Chine, sa citadelle basse et trapue, d’allure mongole. Il y avait le côté «frappant» du décor révélé par une mise en scène très «expressioniste», et surtout cette tournure cataleptique que prenait soudain ce monde absent et retiré.31

In seinen Ausführungen zu den »rêves concentrationnaires« stellt der Dichter und Widerstandskämpfer heraus, dass die Wahrnehmung des Lagers von Anfang an durch den Eindruck der Irrealität bestimmt war, der in der Folge zu einer wirksamen Überlebensstrategie der Deportierten wurde, denn durch die Überblendung der Wirklichkeit des Tages mit den Träumen der Nacht gelang es den Lagerinsassen, sich dem Terror des Alltags zu entziehen und sich als freie Menschen zu imaginieren. Diese Dopplung der Wahrnehmung hat eine Auflösung klassischer Zeit- und Raumkonzepte zur Folge, da sich Gegenwart 30 31

Jean Cayrol, Je vivrai l’amour des autres, Paris 1947, S. 9. Cayrol, »Les rêves lazaréens«, S. 12.

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und Vergangenheit untrennbar vermischen und topographische Ordnungsstrukturen wie innen versus außen an Bedeutung verlieren. In dem Maße, in dem sich der Deportierte träumend seine Existenz wiederaneignet, erscheint ihm der »univers concentrationnaire« als groteskes Zerrbild der Wirklichkeit, von dem er sich durch ein unbewusstes Verteidigungssystem distanziert. »Le prisonnier n’était jamais là où on le frappait, là où on le faisait manger, là où il travaillait.«32, schreibt Cayrol und verdeutlicht damit die Macht der Imagination als Abwehrmechanismus gegenüber einer traumatischen Wirklichkeit, die darauf zielt, den Subjektstatus der Deportierten zu negieren. Basierend auf der Schilderung der Überlebensstrategien in dem Essay zu den »rêves concentrationnaires« präsentiert Cayrol in Pour un romanesque lazaréen das Modell eines lazarenischen Erzählens, das sich einer mimetischen Abbildrelation verweigert und gleichzeitig auf die Erfahrung der Entmenschlichung in den Konzentrationslagern bezogen bleibt. Damit oszilliert sein Konzept zwischen den unbegrenzten Möglichkeiten literarisch-dichterischer Imagination und dem unmöglichen Zeugnis des Lazarus, dessen geschundener Leib vom Trauma des Selbstverlusts Zeugnis ablegt, das nicht in positive Formen von Wissen übersetzt werden kann. Cayrols Vision eines »romanesque lazaréen« realisiert sich in einer Ästhetik der Spur, die sich auf allen Ebenen des literarischen Textes manifestiert. Angefangen mit den Bildern landschaftlicher Zerstörung bis hin zu den ziellos herumirrenden Protagonisten, die vergeblich nach einer Bleibe und nach Worten suchen, zeichnet sich der lazarenische Text in Analogie zur Figur des Überlebenden durch eine grundlegende Fremdheit gegenüber traditionellen Beschreibungsformen und Erzählmustern aus, die ihn in die Nähe des Nouveau Roman rückt. Weder ist die Erzählstimme eindeutig zu bestimmen, was schon Roland Barthes als Charakteristikum einer »écriture blanche« herausgestellt hat, noch bietet sich dem Leser/der Leserin der Protagonist als Identifikationsfigur an, da er nur über Bruchstücke seiner eigenen Geschichte verfügt und in der Kommunikation mit anderen aufgrund fehlender Worte oder mangelnden Ausdrucksvermögens scheitert.33 Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Prinzip der Zerlegung, das alle linearen Ordnungsstrukturen aufbricht und die Brüche und Widersprüche aufdeckt. Mit der Verweigerung narrativer Kohärenz weist Cayrol systematisch jene Lesererwartungen der Nachkriegszeit zurück, die durch die Lektüre von Zeugentexten zu einem Verständnis der Katastrophe zu gelangen glauben. In Antizipation der Position Lanzmanns insistiert er auf der Unerklärbarkeit der Katastrophe als Ba32 33

Ebd., S. 23. Vgl. Roland Barthes, Le degré zéro de l’écriture, Paris 1972, S. 11.

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sis einer künstlerischen Verlebendigung des Gewesenen, die den Rezipienten aus seiner passiven Rezeptionshaltung aufschreckt, um ihn mit den Effekten der Auslöschung zu konfrontieren. In dem Band Le droit de regard überträgt Cayrol die Postulate des »romanesque lazaréen« auf das zeitgenössische Kino, das dem Publikum mit einem naiven Realismus die Illusion von Objektivität und Wirklichkeitsnähe suggeriert, seine revolutionäre Kraft jedoch verloren hat, insofern es die Flucht in eine Scheinwelt ermöglicht. Obwohl Cayrol zwei Filme gemeinsam mit Alain Resnais produziert hat – Nuit et brouillard und Muriel –, fokussieren sich die Kritiker fast ausschließlich auf das kinomatographische Œuvre Resnais’, das im Zusammenhang mit der Nouvelle Vague oder dem modernen Kino diskutiert wird, und blenden Cayrols Beitrag als Drehbuchautor und Kinokritiker aus.34 Die Aufwertung der Imagination als Prämisse der Verdopplung der eigenen Existenz, die zur Überlebensstrategie der Lagerinsassen avancierte, konstituiert in Cayrols Artikelsammlung zum Kino den Ausgangspunkt einer kritischen Bestandsaufnahme, die in der Forderung nach einer Filmästhetik der Verstörung kulminiert, deren primäres Ziel es ist, parallel zu der Lektüre eines lazarenischen Textes die Imaginationskraft des Zuschauers zu aktivieren.35 Ebenso wie es den Deportierten gelungen ist, kraft der imaginären Vergegenwärtigung ihrer Existenz außerhalb des Lagers, sich der Macht der Negation zu entziehen und damit Reste ihrer menschlichen Identität zu bewahren, ermöglicht der Film als ästhetisches Medium der Wahrnehmung eine Rückbesinnung auf die verstörende Macht der Bilder, die den Zuschauer mit der Fremdheit der eigenen Existenz und den Spuren der menschlichen Katastrophen konfrontieren. Der Film verdoppelt die alltägliche Erfahrung des Menschen durch die Konstruktion einer Parallelwelt, die keine idealisierte Version des Erlebten liefert, sondern das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft problematisiert. Die Forderung nach einem Droit de regard, der dem Betrachter die Rolle eines Beobachters zweiter Ordnung zuschreibt, durch die er sich ebenso von sich selbst wie von den anderen distanzieren kann, um einen ›neuen‹ Blick auf die Ordnung der Dinge zu werfen, korrespondiert einer harschen Kritik an der Gesellschaft der Sechzigerjahre, die die Kunst auf den Status eines Konsumproduktes zu reduzieren sucht. Wenn das Kino sich an die Bedürfnisse des zahlenden Publikums anpasst und vermeintlich große Gefühle inszeniert, verliert es seinen subversi34

35

Vgl. Silke Segler-Messner, »Pour une esthétique de l’imaginaire dans l’œuvre de Cayrol«, in: Peter Kuon (Hrsg.), ›Les mots sont aussi des demeures‹. Poétiques de Jean Cayrol, Bordeaux 2009, S. 99–113, hier S. 105f. Vgl. Jean Cayrol/Claude Durand, Le droit de regard, Paris 1982.

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ven Charakter und stellt sich »au service d’un amusement inerte et désincarné«.36 Die Tendenz zur Trivialisierung der Inhalte im Mainstream-Kino, die Durand und Cayrol als Dominante in der zeitgenössischen Filmlandschaft wahrnehmen und die zum Verlust der Imagination als Stimulus kritischer Selbstreflexion führt, referiert auf die historischen Entstehungsbedingungen der surrealistischen Avantgarde, die mit der Forderung nach einer Ästhetik des Schocks dem Konformismus der bürgerlichen Gesellschaft begegnete. In dem Maße jedoch, in dem die Gesellschaft den künstlerischen Protest mit Etiketten wie Bohème oder l’art-pour-l’art zu institutionalisieren und damit zu relativieren strebt, sieht sich jede Form künstlerischen Ausdrucks ihrer revolutionären und verstörenden Funktion entledigt.37 »La Société a su apprivoiser les arts qui permettaient à l’homme de lui échapper; elle a domestiqué les plus brûlantes révoltes qui sont devenues, comme en peinture, payantes.«38 In Analogie zu dem surrealistischen Projekt einer Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben zielen Cayrol und Durand in ihren Artikeln auf eine Revolution des zeitgenössischen Kinos durch die Rückbesinnung auf seine gesellschaftliche Funktion. In dem Augenblick, in dem der Film sich nicht allein über die Produktion von Wirklichkeitseffekten definiert, die in erster Linie das Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer befriedigen, wird er zu einem Medium, das in der Lage ist, den Dialog zwischen Mensch und Welt zu erneuern: Or les arts sont avant tout les seuls moyens pour nous de rester en liaison avec notre univers, avec ses singularités, ses équivalences, ses innovations, ses légendes; ils nous confient une méthode exemplaire pour capter nos sources, pour nous révéler à nous-mêmes un attachement à ces «miroirs grandioses» dont parle le poète, pour supprimer les distances entre notre pauvreté et nos privilèges. Ils nous maintiennent en état d’alerte, de réceptivité; ils nous rappellent sans fin que ce qui paraît simple, clair et familier, ce n’est qu’une illusion, ou une tentation, ou un aveuglement de nos esprits toujours prompts à croire que pour vivre, il suffit d’approuver et d’endormir ce qui en nous demeure sauvage et conquérant.39

Die Tendenz des traditionellen Kinos, alle Konflikte und Katastrophen menschlicher Existenz in kausal motivierten und nachvollziehbaren Handlungen einzuebnen, begünstigt eine Nivellierung von Differenzen und die Vorstellung einer abgeschlossenen, bewältigten Vergangenheit. Gleichzeitig 36 37

38 39

Ebd., S. 15. Vgl. Peter Bürger, Der französische Surrealismus. Studien zum Problem der avantgardistischen Literatur, Frankfurt a.M. 1971. Cayrol/Durand, Le droit de regard, S. 14. Ebd.

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reduziert sich die filmische Kommunikation im Illusionskino auf die Reproduktion von bereits bekannten und damit berechenbaren menschlichen Handlungsregistern und Reaktionen, so dass die Zuschauer kaum ihre Phantasie aktivieren müssen. Die Erfahrung der alltäglichen Kontingenz wird durch die Inszenierung einer rationalen Ordnung ersetzt, die verfälschte Bilder der historischen Wirklichkeit produziert. »Et le public a peut-être raison d’aimer dans cette forme de cinéma la répression du désordre, la lutte contre le vide et l’irréalité que le monde aujourd’hui lui propose.«40 Die filmische Etablierung eines rational geordneten Wirklichkeitsmodells hat die Unterdrückung der Imagination zur Folge, durch die der Mensch in Kontakt mit dem individuellen und kollektiven Unbewussten bleibt. Gleich zu Beginn des ersten surrealistischen Manifestes skizziert Breton die Folgen eines Lebens, das sich ausschließlich über Pflichterfüllung und Erfolg definiert. »L’homme, ce rêveur définitif, de jour en jour plus mécontent de son sort, fait avec peine le tour des objets dont il a amené à faire usage.«41 Mit seiner Definition des Menschen als »rêveur définitif« kritisiert Breton ein rein utilitaristisches Denken, das keinen Raum für Phantasie und Selbstbestimmung lässt und den Prozess der Entfremdung vorantreibt. Nur die Imagination und der Traum entziehen sich dem Zugriff der bürgerlichen Fortschrittsideologie und ermöglichen die Wiederentdeckung des merveilleux, das sich dem naiven Realismus und seiner Verwendung komplexer Charaktere mit glaubhafter Motivation entgegenstellt. Versucht Breton die Distanz zwischen Traum und Leben in dem Projekt einer »écriture automatique« aufzuheben, so avisiert Cayrol mit seiner lazarenischen Ästhetik eine künstlerische Aktivierung unsichtbarer Spuren menschlicher Dramen und Katastrophen.42 Im Zentrum steht dabei die Schöpfung von Bilderwelten, die sich einer passiven Rezeption widersetzen und den Leser bzw. Zuschauer als Komplizen des Erzählers bzw. der Kamera in die Spurensuche einbeziehen, die einen Zugang zu der verborgenen Welt individueller und kollektiver Erinnerung eröffnet. Ähnlich wie in Alain Robbe-Grillets Ausführungen zu den Prämissen des Nouveau roman befindet sich die »recherche« auch in Cayrols Essays im Zentrum einer neuen Literatur und eines neuen Kinos:

40 41 42

Ebd., S. 16. André Breton, Manifestes du Surréalisme, Montreuil 1962, S. 15. Zu den Affinitäten zwischen Surrealismus und Cayrols lazarenischer Poetik vgl. Jean-Pierre Salgas, »Shoah ou la disparition«, in: Denis Hollier (Hrsg.), De la littérature française, Paris 1993, S. 1005–1013, hier S. 1007.

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On ne peut pas accorder au cinéma ce que l’on concède, facilement ou sous contrainte, à la littérature, par lassitude aussi: le droit à la recherche, la liberté de provenance et de réminiscence, d’acquiescement aux secrets élémentaires. Et pourtant, ces deux arts ne peuvent que gagner, non seulement en cohabitant, mais encore en collaborant à l’aide de cette formule: faire que des mots et des images communs deviennent inusités.43

Die Formel »faire que des mots et des images communs deviennent insusités« impliziert keine Revolution des Kunstbetriebs, sondern die Wiederentdeckung des hermeneutischen Charakters künstlerischer Kommunikation, die einen unersetzbaren Beitrag zur Deutung menschlicher Wirklichkeitserfahrung leistet. In Cayrols Perspektive lässt sich ein Kunstwerk weder über didaktische noch über unterhaltende Intentionen definieren und damit aus dem gesellschaftlichen Leben als Bereich autoreferentieller, unproduktiver Abbildung des Realen ausgrenzen. Als Quelle eines offiziell verdrängten oder verdeckten Lebenswissens stellen die Künste in einer bewusst subjektiven Modellierung eine Verbindung zwischen Sagbarem und Unsagbarem her, die dem Menschen in der modernen Gesellschaft verloren gegangen ist: Laut Cayrol sind die Künste »les seuls moyens pour nous de rester en liaison avec notre univers, avec ses singularités.«44 Die filmische Vermittlung von Aktualität kann sich in Analogie zu dem lazarenischen Erzählen nur durch eine radikale Abgrenzung gegenüber Inszenierungsformen realisieren, die den Film als authentisches Zeitzeugnis präsentieren, das in letzter Konsequenz zur Stabilisierung ideologischer Ordnungsstrukturen beiträgt. In einer Gesellschaft des Spektakels wird der Blick des Publikums weniger auf Krisen gelenkt als auf stabile Wertgrundlagen. So besteht Cayrol zufolge das primäre Ziel des zeitgenössischen Kinos in der Befreiung von einer Erwartungshaltung des Publikums, das die Leere und Monotonie der alltäglichen Existenz mit Verdrängung und Ablenkung zu kompensieren sucht. Anstelle der Suggestion von Wirklichkeitsnähe durch den Rückgriff auf Techniken der Plausibilität gilt es die Lücken und Leerstellen aufzuzeigen, die zwischen den Menschen und den Dingen bestehen. Ziel dabei ist es, die Selbstgewissheit des modernen Menschen zu unterlaufen, um ihm seine Vergänglichkeit und grundsätzliche Heimatlosigkeit vor Augen zu führen. »[Le cinéma] doit nous faire comprendre à tous, sans exception, que l’homme est l’attentif passager d’une terre dont les clefs ont été perdues par étourderie.«45 Die Ablehnung einer transparenten Montage, die den Eindruck einer zeitlich-räum-

43 44 45

Cayrol/Durand, Le droit de regard, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17.

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lichen Kontinuität evoziert, entspricht der Ablehnung einer klar strukturierten Handlung in der lazarenischen Erzählung. In dem zweiten Beitrag aus Le Droit de regard, dessen Titel – »Remettre l’actualité dans le temps« – programmatischen Charakter hat, konkretisiert Cayrol den Bezug zwischen Bild und Wort, indem er die Arbeit des Dokumentarfilmers mit der des Cineasten vergleicht. In Antizipation der Position Lanzmanns, dessen Ablehnung von Archivbildern einem Bilderverbot gleichkommt, unterstreicht Cayrol gleich zu Beginn, dass der Dokumentarfilm außerstande ist, die Erinnerung an historische Traumata zu aktualisieren.46 All die Dokumente, Beweise, Augenzeugenberichte, Fotografien, die die Historiker zusammengetragen und in eine zusammenhängende Geschichte der Ereignisse verfugt haben, liefern nur eine Version der vermeintlichen Wahrheit des Geschehens, thematisieren aber nicht die Folgen der Katastrophe in der Gegenwart. Darüber hinaus ist der Status des Zeugnisses in einer Gesellschaft des Spektakels insofern prekär, als es unabhängig von seinem Stellenwert als zeithistorisches Dokument die Sensationslust eines Publikums bedient, das in der Betrachtung des Leidens anderer mehr und mehr abstumpft. In Il était une fois Jean Cayrol, einer fragmentarischen, autobiographischen Erzählung, problematisiert der Erzähler die ambivalente Funktion von Zeugnissen der Überlebenden der Konzentrationslager in der Öffentlichkeit. Er habe sich geweigert, diese Texte zu publizieren aus Furcht, durch die Verbreitung des Unglücks eine Relativierung des Grauens implizit zu bekräftigen. Die Anhäufung von Berichten über die Lager kann ein Publikum nur desensibilisieren, das daran gewöhnt ist, täglich Katastrophen im Fernsehen zu sehen: Je conserve, dans le plus grand secret, le dossier des témoignages que j’ai recueillis les premiers jours de la Libération par les Américains qui nous considéraient comme des pestiférés. Ce dossier fut transmis par les services compétents au procès de Nuremberg. Il est impubliable tant l’horreur est grande et les forfaits commis d’une ampleur diabolique. Aujourd’hui, la télévision nous gâte avec ses documents qui retracent cette continuité dans le malheur.47

Wie Cayrol bereits in Pour un romanesque lazaréen dargelegt hat, ist die europäische Gesellschaft von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs traumatisiert und gleichzeitig unfähig, über die Folgen der Katastrophe zu reflektieren. Besessen von dem Wunsch nach einer Wiederherstellung des gesellschaftlichen Gefüges auf der Basis eines humanistischen Wertesystems, betrachtet 46 47

Vgl. ebd., S. 19–24. Jean Cayrol, Il était une fois Jean Cayrol, Paris 1982, S. 101.

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sie die Vergangenheit als abgeschlossen. Cayrol negiert vor diesem Hintergrund nicht die aufklärerische Funktion von Dokumentationen, die eine Folge von historischen Aufnahmen präsentieren, ohne den Bezug zur zeitgenössischen Wirklichkeit herzustellen. Das, was er in Frage stellt, ist die emotionale Wirkungskraft dieser Bilder, die das Drama zwar evozieren, aber den Zuschauer unberührt lassen: »Mais ces images, rendues percutantes par le montage ou la sonorisation, évoquent le drame plus qu’elles ne le restituent. L’émotion cesse avec la dernière séquence du documentaire.«48 Wenn Lanzmann später sein Verbot der Darstellung von Auschwitz damit begründet, dass die Archivbilder als »images sans imagination«49 außerstande sind, einen intersubjektiven Austausch zwischen den Überlebenden und dem Betrachter zu begründen, zeigt sich eine auffallende Analogie zu Cayrols Kritik historischer Dokumentationen. Darüber hinaus reicht Cayrol zufolge das Bild allein nicht aus, um die Spuren der stattgefundenen Katastrophe zu vergegenwärtigen. Es bedarf der Stimme bzw. der Worte, die eine individuelle Erinnerung bezeugen und das Gesehene mit einem undarstellbaren Wissen aufladen.

II. Die filmische Figuration von Auschwitz: Nuit et brouillard Auch wenn Cayrol der Kunst grundsätzlich das Potential zuspricht, vergangene Traumata zu aktualisieren, so schließt er eine literarische oder filmische Rekonstruktion des Gewesenen, die den Leser bzw. Zuschauer in die historische Situation hineinversetzt, kategorisch aus.50 Nur durch den Rückgriff auf poetische Strategien bzw. auf die Verbindung von Bild und Wort können die Verletzungen und Wunden, die durch das Trauma verursacht worden sind, evoziert und imaginär vergegenwärtigt werden. Als Alain Resnais Cayrol bittet, sich an seinem Dokumentarfilm zur Geschichte der Deportation zu beteiligen, da er als Überlebender von Mauthausen über das notwendige Wissen eines Augenzeugen verfügt, stimmt der ehemalige Widerstandskämpfer zwar zu, hat aber im Verlauf der Produktion von Nuit et brouillard Schwierigkeiten, seiner Aufgabe nachzukommen, und bricht das Projekt sogar ab. Wie er in einem Interview darlegt, ist es der Unterstützung Chris Parkers zu verdanken, dass er den Text zu Nuit et brouillard abgeschlossen hat.51 Sein Kommentar, der von Michel Bouquet gesprochen wird, liefert, anders 48 49 50 51

Cayrol/Durand, Le droit de regard, S. 22. Lanzmann, »Le lieu et la parole«, S. 297. Vgl. Cayrol/Durand, Le droit de regard, S. 19. Vgl. Pierre Billard, »Entretien avec Jean Cayrol dans ›Dossier Muriel‹«, in: Cinéma, 63/80/1963, S. 32–64.

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als nach seinen Ausführungen zur Relation von Film und Stimme zu erwarten wäre, kein subjektives Zeugnis, das auf seine eigenen Erinnerungen referiert, sondern wählt mit dem häufig auftauchenden unpersönlichen Pronomen »on« und dem kollektiven »nous« einen distanzierenden Erzählgestus, der von seiner eigenen Erfahrung abstrahiert und eine direkte Verbindung zu seiner Vita auszusparen scheint. Cayrols Ambivalenz in Bezug auf die Möglichkeit eines direkten Zeugnisses der erfahrenen Entmenschlichung mag der fehlenden zeitlichen Distanz zu dem Erlebten geschuldet sein und verweist gleichzeitig auf die bereits skizzierte Ausgangsproblematik der Zeugenschaft, die durch das Paradox der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Übertragung der Katastrophe in Wort und Bild und der Notwendigkeit einer Reaktivierung bestimmt ist. Auch Resnais’ Film Nuit et brouillard zeichnet sich durch ein Spannungsverhältnis zwischen einer komplexen Montagestruktur, die zeitgenössische Sequenzen in hyperrealistischem Kodacolor mit schwarz-weißen Archivbildern und -filmen verbindet, und seinem Modus der Inszenierung aus, der weniger einer authentischen Vergegenwärtigung der historischen Ereignisse als einer Selbstbefragung im Hinblick auf die Grenzen der Darstellbarkeit entspricht.52 Nuit et brouillard problematisiert nicht allein die Frage der Figuration von Auschwitz zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern versucht gleichzeitig eine mögliche Definition von Auschwitz zu liefern.53 Im Zentrum der filmischen Inszenierung steht dabei das Scheitern der Wahrnehmung, d. h. Auschwitz wird als Raum der Undarstellbarkeit präsentiert, der nicht nur dem Zuschauer nichts von den stattgefundenen Gräueln preisgibt, sondern auch der Kamera stets nur Reste bzw. Relikte offenbart, die der voiceover-Kommentar und die Musik Hanns Eislers zu verlebendigen suchen. In dem Augenblick, in dem Nuit et brouillard sein eigenes Scheitern als filmisches Zeugnis offen zur Schau stellt, wird deutlich, dass Resnais die Prämisse der lazarenischen Ästhetik Cayrols teilt: Die Möglichkeit filmischer Zeugenschaft ist weder an die Wiederherstellung noch an die Negation von Referentialität gebunden, weder an die Auferstehung unmöglicher Zeugen noch an die Verabsolutierung eines sublim negativen Wissens. Die stattgefundene Auslöschung kann nicht aufgehoben und rekonstruiert werden, da Auschwitz als historischer Ort und zugleich als Figur fungiert, die über sich selbst hinaus 52

53

Vgl. Sandy Flitterman-Lewis, »Documenting the ineffable. Terror and memory in Alain Resnais’s Night and Fog«, in: Barry Keith Grant/Jeannette Sloniowski (Hrsg.), Documenting the documentary. Close readings of documentary film and video, Detroit 1998, S. 204–222, hier S. 209–211. Vgl. Guyer, Romanticism after Auschwitz, S. 189.

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auf die Monstrosität jener Gewalt verweist, die in den Konzentrationslagern stattgefunden hat. Wenn Auschwitz als Synekdoche bzw. Metonymie funktioniert, referieren die hier stattgefundenen Verbrechen auf etwas anderes als das rein Faktische. Resnais versucht eine erste Antwort darauf zu geben, indem er suggeriert, dass der Ort Auschwitz ebenso wie die Namen der anderen Lager, die der Kommentator auflistet, ein Allerweltsname ist, der nichts von dem Leid und dem Grauen offenbart.54 Durch diese Relativierung der Opposition zwischen Eigennamen und Figur verweist Auschwitz ebenso auf die spezifische Zerstörung, die im gewählten Raum von Nuit et brouillard angesiedelt ist, wie auf die Grenzen der Repräsentation. Nuit et brouillard eröffnet mit der Großaufnahme einer sonnigen, ländlichen Gegend. Die Kamera bewegt sich langsam zurück und schwenkt dabei erdwärts, so dass der Stacheldrahtzaun ins Bild kommt und damit ihre eigene Position im Lager enthüllt wird.55 In dem Augenblick, in dem die Landschaft gleichsam gerahmt von dem Stacheldraht als Stillleben erfasst ist, verharrt die Kamera, und die Kommentarstimme setzt ein: »Même un paysage tranquille […].«56 Der Film beginnt mit einer Inszenierung des Scheiterns der Wahrnehmung. Die malerische Landschaft mit ihren lebhaften Farben gehört zu einem Ort namens Auschwitz und weist paradoxerweise keine Spuren der stattgefundenen Katastrophe auf, ja scheint vollkommen unberührt von dem Massenmord an den Millionen Juden. Gleichzeitig ist diese schöne Naturaufnahme bereits von dem Raum des Lagers kontaminiert, der mit dem Stacheldraht in den Blick kommt und sich in die Erde eingeätzt hat. Die Stimme des Kommentators taucht auf und beschreibt nicht, was wir sehen, sondern evoziert ein stacheldrahtgesäumtes Feld als Raum der Stille und Reflexion. Sobald der Film die Diskrepanz zwischen Sehen und Beschreiben dramatisiert und den Zuschauer mit dem Wissen zurücklässt, dass die Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen, wendet sich die Kamera wieder der Landschaft zu, in der eine entfernte Scheune, die schwache Silhouette eines grasenden Tieres und eine Reihe von Heuhaufen auftauchen, die in ihrer Unbeweglichkeit das Tableau einer ländlichen Idylle präsentieren. In dieser zweiten Einstellung entspricht der Kommentar dem Wahrgenommenen: »même une prairie avec des vols de corbeau, des moissons et des feux

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55

56

Vgl. Jean Cayrol, Nuit et brouillard, Paris 1997, S. 18: »Le Struthof, Oranienbourg, Auschwitz, Neuengamme, Belsen, Ravensbruck, Dachau, Mauthausen, furent des noms comme les autres sur les cartes et les guides.« Vgl. André Pierre Colombat, The Holocaust in French Film, Metuchen, NJ 1993, S. 125. Cayrol, Nuit et brouillard, S. 17.

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d’herbe […].«57 Die Korrespondenz zwischen Wahrnehmung und Beschreibung erweist sich jedoch als trügerisch, da in dem rechten unteren Rand des Bildes das Netz des Lagerzaunes sichtbar bleibt, hinter dem sich die Kamera befindet. Resnais setzt nicht allein die offensichtliche Opposition zwischen Bild und Text in Szene, sondern zielt auf eine Sensibilisierung des Blicks, der bei genauerer Betrachtung Spuren der Diskrepanz erkennt und von einer unheilvollen Ahnung erfüllt wird. In einer dritten Einstellung vermischen sich Wahrnehmung und Text, als die Kamera auf eine Straße schwenkt, die diagonal den Rahmen des Tableaus durchkreuzt, während die Stimme fortfährt: »même une route où passent des voitures, des paysans, des couples […].«58 Entgegen den Worten des Kommentators bleibt die Straße vollkommen verlassen und lässt kein Zeichen menschlichen Lebens erkennen. Selbst als die Kamera ihre Position ändert, um mehr zu zeigen, wird weder ein Auto noch ein Passant oder ein Paar sichtbar. Nur der Wachturm des Lagers und die doppelte Stacheldrahtzaunreihe erscheinen, und der Kommentar vergleicht das Lager ironisch mit einer Ferienkolonie, in dem der Wachturm zu einem pervertierten Kirchturm wird: »même un village pour vacances, avec une foire et un clocher, peuvent conduire tout simplement à un camp de concentration.«59 Die Stimme beschreibt das Feriendorf, während die Kamera bereits in das Lager eingedrungen ist. Die Simultaneität der Referenz Feriendorf/Konzentrationslager verwischt die Trennung zwischen dem Dorf und dem Lager Auschwitz, das direkt an die Felder grenzt, und der Zuschauer aktualisiert jene Diskrepanz zwischen Bild und Text, mit der Nuit et brouillard beginnt. Hier handelt es sich nicht primär um die schockartige Konfrontation des Zuschauers mit einer undarstellbaren Wirklichkeit, sondern um das Kollabieren der Differenz zwischen Auschwitz und dem, was zu Auschwitz führt. In dem Maße, in dem sich die Grenzen zwischen Lager und Außenwelt auflösen, verliert der Zuschauer seine Orientierung. Er kann nicht mehr entscheiden, ob sich die Katastrophe ausschließlich im umzäunten Bereich des Lagers oder im Raum der europäischen Zivilisation ereignet hat. Giorgio Agamben entwickelt eine ähnliche Argumentation in Homo sacer, wenn er das Lager als Zone versteht, in der sich Gesetz und Faktum mischen, in der der Ausnahmezustand zur Regel wird.60 57 58 59 60

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995, S. 185–201.

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Der Kommentar Cayrols beginnt mit einem zusammenhängenden Abschnitt, der durch die Wiederholung von »même« eine poetische Struktur erhält. Skizziert die Eingangssequenz von Resnais’ Dokumentarfilm über Auschwitz ein idyllisches Szenario, so zielen Cayrols Worte auf eine Sensibilisierung der Wahrnehmung, so dass der Zuschauer die schöne Landschaft als Raum obszöner Gewalt dechiffriert. Das skandierende Auftauchen von »même« in dieser Passage verweist auf die Gleichheit von Dorf und Auschwitz, während der Film mit der Inkongruenz von Bild und Text auf der Teilung des Raumes insistiert und die Landschaft als Ort eines Missverständnisses präsentiert. Suggeriert das romantisierende Eingangstableau die Möglichkeit der Selbsterkenntnis, so sieht sich der Zuschauer nach der ersten Farbfilmsequenz mit dem Paradox filmisch inszenierter Zeugenschaft konfrontiert: Das, was er sieht, spiegelt nichts von dem, was dort passiert ist, und selbst die verbleibenden Spuren wie der Stacheldraht vermitteln allenfalls eine Ahnung der stattgefundenen Katastrophe, die auch durch die darauf folgenden Archivaufnahmen nicht mit dem Ort des Lagers verbunden werden kann, der in den Farbsequenzen auftaucht. Alles, was bleibt, sind der unsichtbare Filmproduzent, seine Kamera und die Crew: Le sang a caillé, les bouches se sont tues, les blocks ne sont plus visités que par une caméra. Une drôle d’herbe a poussé et recouvert la terre usée par le piétinement des concentrationnaires. Le courant ne passe plus dans les fils électriques. Plus aucun pas que le nôtre.61

Die zweite Farbfilmsequenz in Nuit et brouillard folgt übergangslos auf eine Schwarz-Weiß-Montage von Aufnahmen über die Machtergreifung der Nazis, den Aufbau des Lagers und die Deportation der europäischen Juden, die in einem bewegten Bild von am Tage fahrenden Zügen kulminiert, welche in der Nacht im Lager ankommen, in »la nuit et le brouillard«,62 womit der Titel des Films erstmalig genannt wird. Die Zugszene ist jedoch kein Archivmaterial, sondern ein Clip aus Wanda Jakubowskas Film Ostatni etap (La Dernière Étape), den sie 1947 in Auschwitz drehte.63 Resnais’ Rückgriff auf das Filmmaterial Jabukowskas verdeutlicht die komplexe Relation zwischen Fiktion 61 62 63

Cayrol, Nuit et brouillard, S. 18. Ebd., S. 21. Vgl. Lindeperg, Nuit et brouillard, S. 97. Bei dem Film Wanda Jakubowskas handelt es sich um eine fiktionale Präsentation der Deportation aus weiblicher Sicht, die in Auschwitz gedreht wurde. Da das Lager bei ihrer Rückkehr bereits grasüberwachsen war und kaum noch an die dort stattgefundenen Ereignisse erinnerte, entschloss sich die Regisseurin, den Appellplatz für den Dreh zu rekonstruieren, vgl. Stuart Liebman/ Leonard Quart, »Lost and found: Wanda Jakubowska’s The Last Stop«, in: Cineaste, 22/1997, Heft 4, S. 43.

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und Zeugnis, die auch Cayrol in seiner lazarenischen Ästhetik als Ausgangspunkt einer Revision künstlerischen Ausdrucks wählt. Insofern es sich bei Ostatni etap nicht um einen Dokumentarfilm handelt, stellt sich die Frage nach der Funktion des Filmclips in Nuit et brouillard. Fungiert er gerade aufgrund seiner Fiktionalität als authentisches Zeugnis oder problematisiert er das Fehlen von Archivmaterial? Die Farbsequenz, die auf den Filmclip aus Ostatni etap folgt, zeigt zunächst die Gleise, die nach Auschwitz führen, und bewegt sich in der gleichen Geschwindigkeit wie der Zug. Dabei evoziert die Kamera nicht nur das Fehlen der Züge in der Gegenwart der 1950er Jahre, sondern etabliert gleichzeitig eine Differenz zu der feststehenden, unbeweglichen Kamera der Archivbilder, die von einem fixen Standpunkt aus das Geschehen zeigen. Der begleitende Kommentar fragt nach dem Ziel der suchenden Kamera, die im Gegensatz zu der Ankunft der Deportierten bei »Nacht und Nebel« am Tage über die Gleise nach Auschwitz fährt, die mit Gras und gelben Wildblumen überwachsen sind: »Aujourd’hui, sur la même voie, il fait jour et soleil. On la parcourt lentement à la recherche de quoi?«64 Im Folgenden suggeriert der Sprecher des Kommentars, dass die Kamera die Perspektive eines Deportierten einnimmt und seinen Weg im Lager nachzeichnet: »Ou bien du piétinement des premiers débarqués […].«65 Die Kamera gleitet die leeren Gleise entlang, bis Birkenau ins Blickfeld gerät, hält inne und bricht ihre Suche ab, da sie außerstande ist, die Erfahrung der Ankunft im Lager darzustellen, sodass eine Serie von montierten Archivaufnahmen folgt. Bei der ersten Szene der folgenden Schwarz-Weiß-Sequenzen, die die Ankunft im Lager visualisiert und vor dem Tor von Auschwitz innehält, handelt es sich um eine von Resnais bei Nacht gedrehte Aufnahme in sepia-ähnlicher Qualität, deren fotografische Struktur der Gegenwart näher ist als den historischen Dokumenten.66 In Analogie zu dem eingefügten Clip aus dem Film Jabukowskas, der den Authentizitätsanspruch der Archivbilder unterläuft, dramatisiert diese Filmeinstellung den Eingang ins Lager und hebt die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf, wodurch die Wahrneh64 65 66

Cayrol, Nuit et brouillard, S. 21. Ebd. Andrew Hebard fokussiert in seinem Beitrag insbesondere die filmischen Techniken, die mit der Opposition Vergangenheit versus Gegenwart, Dokumentation versus Fiktion spielen und analysiert die Konstitution dokumentarischer Effekte, die durch die Verwendung von sepia-ähnlichem Bildmaterial, Kamerabewegungen und Pausen entstehen, vgl. Andrew Hebard, »Disruptive histories: Toward a radical politics of remembrance in Alain Resnais’s Night and Fog«, in: New German Critique, 71/1997, S. 87–113, hier S. 95f.

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mung des Zuschauers ebenso wenig zwischen Nuit et brouillard unterscheiden kann wie der ankommende Deportierte.67 Im Anschluss an diese kommentarlose Ankunftsszene vor dem Tor von Auschwitz setzt die Stimme wieder ein: »Premier regard sur le camp […]«,68 und die Großaufnahme eines abgeschnittenen Ausweisfotos wird gezeigt, das zwei weit aufgerissene Augen und eine Nase erkennen lässt. Den Blick des Zuschauers gleichsam verdoppelnd, scheint in diesen Augen der Schrecken der Deportierten spürbar zu werden, den sie beim Betreten der Lager erlebten. Da es sich bei dem Foto offensichtlich um ein Ausweisbild handelt, das bei einem Fotografen aufgenommen wurde, lässt sich der Ausdruck der Augen weniger als Schock denn als Überraschung im Moment der Aufnahme deuten, womit erneut das Oszillieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen vermeintlicher Authentizität der Archivbilder und künstlerischer Ausgestaltung als einzig möglicher Form der Vermittlung akzentuiert wird. Der eingefügte Clip aus dem Film Jabukowskas, die Farbaufnahme der überwucherten Gleise, die bei Nacht gedrehte Szene der Ankunft und das Foto mit den aufgerissenen Augen illustrieren exemplarisch die Krise der Zeugenschaft, die im Zusammenspiel von Bild und Text die Imagination der Zuschauer zu aktivieren sucht, aber an der Rekonstruktion des Gewesenen scheitert. Im Anschluss an die Unterbrechung des Films durch die Thematisierung des fremden Blicks wird das Lager als fremder Planet präsentiert. Bildern von Männern, die in einer Reihe auf die Desinfektion warten, folgen Aufnahmen von geschorenen Köpfen, tätowierten Armen und von der Lagerkleidung mit ihren unterschiedlichen Kategorien von Abzeichen, was der Kommentator zum Anlass nimmt, um eine erste Erläuterung der Lagerhierarchie zu geben. Obwohl der Film die konstitutiven Fakten in Bild und Text präsentiert, sodass der Zuschauer den Lagerkosmos identifizieren kann, endet diese Sequenz nicht mit einer Affirmation, sondern mit einer Problematisierung der dargestellten Ordnung. Der Text Cayrols beschreibt die Position des Kommandanten »tout en haut« und nimmt seine zur Schau gestellte Ignoranz zum Anlass, um allgemein nach dem Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen zu fragen: »Qui ne l’ignore pas, d’ailleurs…?«69 Mit der anschließenden Rückkehr zum Farbbild stellt der Film seine eigene Suche zur Schau, die er unter dem Vorzeichen der Undarstellbarkeit der Katastrophe unternimmt. Die Kamera dringt erneut ins Lager ein, passiert ein offenes Tor, nimmt einen Steinblock auf und hält vor einer Holzbaracke inne. Nach 67 68 69

Vgl. Agamben, Quel che resta di Auschwitz, S. 44. Cayrol, Nuit et brouillard, S. 21. Ebd., S. 23.

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einem Schwenk auf den blauen Himmel und die weißen Wolken betritt die Kamera das Innere des Blocks und streift die Reihen der Etagenbetten entlang, auf denen die Deportierten schliefen. Während der Film mit den Aufnahmen der leeren Schlafstätten seine eigene Unfähigkeit dokumentiert, das Gewesene zu rekonstruieren, beschreibt der Kommentator das einstige Leben in den Schlafbaracken, dessen wahre Dimension weder Bilder noch Texte wiedergeben können: »[A]ucune description, aucune image ne peuvent leur rendre leur vraie dimension.«70 Die »vraie dimension« ist die Erfahrung ununterbrochener Angst, die weder die genauen Zahlen der getöteten Deportierten noch die historische Analyse des nationalsozialistischen Unterdrückungsapparats veranschaulichen können. Die Stimme des Kommentators unterstreicht die Unmöglichkeit der Übertragbarkeit des stattgefundenen Grauens in ein Bild, indem sie auflistet, was der Zuschauer sich vorstellen müsste, um den Schlafsaal mit Leben zu füllen: Il faudrait la paillasse qui servait de garde-manger et de coffre-fort, la couverture pour laquelle on se battait, les dénonciations, les jurons, les ordres retransmis dans toutes les langues, les brusques entrées du S.S. pris d’une envie de contrôle ou de brimade.71

Dieser Auflistung des Nicht-Gezeigten korrespondiert das begrenzte Potential des filmischen Bildes: »De ce dortoir de briques, de ces sommeils menacés, nous ne pouvons que vous montrer l’écorce, la couleur.«72 Mit dieser Gegenüberstellung referiert der Kommentar sowohl auf das Bild der verlassenen Etagenbetten als auch auf den bedrohten Schlaf, der beschrieben wurde, aber nicht unmittelbar visualisiert werden kann. In der Verschmelzung von Bild und imaginär beschworener Nacht, von dem Rot der Ziegelsteine und der Farbe der Angst gibt der Film dem Undarstellbaren eine Dimension. Die Trennung von »nous« und »vous« verweist auf die Spaltung von Wahrnehmung und Erkenntnis, die nur in der Imagination des Zuschauers überbrückt werden kann. Insofern Resnais das Bild als Scheitern der Wahrnehmung aktualisiert, scheint die Inszenierung der Absenz auf einen unerträglichen Exzess anzuspielen. Mit dem Ende des Kommentars verweilt die Kamera in der Baracke, fährt über die leeren Schlafstätten aus Holz und Stein, bis sie an der Schwelle eines weiteren Raumes anlangt mit schwachem rostigen Licht. Sie bewegt sich auf die Tür zu und suggeriert, in das Zentrum des Lagers vorzudringen, in dem sich die Gaskammern und das Krematorium befinden. Es bleibt bei dieser Suggestion, da die Kamera nie an das 70 71 72

Ebd., S. 23. Ebd., S. 23–24. Ebd., S. 24.

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Ende des Flures gelangt bzw. aufgrund der latenten Bedrohung der Auslöschung gelangen kann, sondern stattdessen auf eine Wand und einen Luftabzug schwenkt und somit die Grenzen der Repräsentation akzeptiert.

III. Die halluzinatorische Erfahrung der Auslöschung: Shoah Resnais und Cayrol verwandeln das aufgegebene Lager Auschwitz-Birkenau in einen Resonanzraum der Vergangenheit, in dem die unsichtbaren Spuren der Zerstörung durch die scheinbar befriedete Oberfläche dringen, über die die Kamera gleitet. Das Auftauchen von vertrauten Alltagsobjekten und Räumen wird mit einer zweiten Bedeutungsebene überblendet, welche die Gegenstände und Orte mit dem Trauma der Auslöschung assoziiert. Die verstörende Wirkung, die von den ständigen Kameraschwenks ausgeht, beruht auf der Aufhebung der Trennlinie zwischen Innen und Außen, Lager und Stadt. Auschwitz erscheint hier nicht als Anders-Ort, sondern reproduziert in seiner Topographie die Raumstruktur moderner Städte mit Wohnvierteln, Krankenhaus, »quartier réservé« und sogar einem Gefängnis.73 Auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse finden sich in der industriellen Verarbeitung der menschlichen Biomasse wieder, deren Asche auf die umgebenden Felder zwecks vermeintlicher Düngung gestreut, aus deren Körpern Seife und aus deren Haut Bilder hergestellt werden.74 Die politische Dimension von Nuit et brouillard realisiert sich nicht allein in einer Problematisierung der Wahrnehmung und Erinnerung, sondern auch in einer kritischen Reflexion über die technischen Hilfsmittel, die den Prozess der Auslöschung realisierten. Wenn die Stimme des Kommentators unsere Aufmerksamkeit auf sein eigenes Unvermögen richtet, das Grauen zu erzählen, oder daran scheitert, die Liste der Alltagsgegenstände zu komplettieren, die die Nazis aus menschlichen Körpern oder Körperteilen hergestellt haben, werden dem Zuschauer die Grundlagen extremer Gewalt suggestiv vor Augen geführt: Die Verwandlung von Menschen in Figuren ist das Ergebnis einer modernen Technologie und einer mechanischen Ästhetisierung der Wirklichkeit (Benjamin).75 John Mowitt legt nahe, dass die Antwort auf die Frage am Ende des Films »Alors qui est responsable?«76 im Kino

73 74 75

76

Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. ebd., Nuit et brouillard, S. 39. Die zahlreichen Auslassungspunkte markieren das Stocken in der Stimme des Kommentators und verweisen auf die Unmöglichkeit, die stattgefundenen Grausamkeiten in Worte zu fassen. Ebd., S. 41.

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selbst zu suchen ist, das als Medium der Konstitution von Vergangenheit an dem Prozess der Entmenschlichung beteiligt ist.77 Anders als in Nuit et brouillard, der als Reaktion auf die Unzulänglichkeit der Prozesse und Säuberungsaktionen mit der Frage der Verantwortlichkeit endet, spielt dieser Aspekt in Lanzmanns Shoah keine Rolle. Der Film eröffnet die Serie von Begegnungen mit Überlebenden und Augenzeugen mit einem Zitat aus dem Alten Testament, das die Erinnerung an die ermordeten Juden ins Zentrum rückt: »Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.« (Jesaja 56,5) Die Frage der Verantwortung für die Massenvernichtung der europäischen Juden ist zu Beginn der 1980er Jahre nicht zuletzt dank der medienwirksamen Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main oder des Eichmann-Prozesses in Jerusalem beantwortet und findet sich durch die Problematik einer adäquaten Erinnerungspolitik ersetzt, die sich mehr und mehr auf die Shoah fixiert und einer »concurrence des victimes« Vorschub leistet. Erprobte Resnais die Grenzen einer möglichen Figuration von Auschwitz mit einer Reihe von modernen Kunstgriffen (wie Nebeneinanderstellen, Dissonanzen, Montage), um die Kontaminationen von Raum und Zeit in Szene zu setzen, so wandelt sich die Blindheit des filmischen Mediums in einen Imperativ, dem das apodiktische »Hier ist kein Warum« korrespondiert, das Lanzmann als Antwort auf die Frage nach den Gründen der Auslöschung der europäischen Juden formuliert hat.78 Eng verbunden mit der Zurückweisung rationaler Erklärungsversuche ist Lanzmanns bereits erwähnte Ablehnung von Archivmaterial, dessen Fehlen er mit der Undarstellbarkeit der Shoah zu begründen sucht. In Interviews hat er an unterschiedlichen Stellen betont, dass es keine Bilder von Chelmno, Sobibor oder Treblinka gibt. Die Mehrzahl der Kritiker hat diese Äußerung auf das Fehlen historischer Spuren bezogen, während Lanzmann selbst sich in seinen Kommentaren auf einen Film über die Exekution von Juden bezieht, der von deutschen Soldaten in Litauen gedreht wurde: La seule chose que j’aie trouvée – et j’ai vraiment tout vu – c’est un petit film d’une minute trente tourné par un soldat allemand qui s’appelle Wiener (que j’ai retrouvé et à qui j’ai parlé). C’est une execution de Juifs à Liepaja en Lettonie: on voit (c’est une image muette) un camion arriver, un groupe de Juifs en descendre à la course et aller dans une fosse anti-tank où ils sont abattus à la mitrailleuse. Ce n’est rien. 77

78

Vgl. John Mowitt, »Cinema as slaughterbench of History: Nuit et brouillard«, in: Journal of Communication Inquiry, 2/1985, S. 62–73, hier S. 67. Vgl. Claude Lanzmann, »Hier ist kein Warum«, in: Bernard Cuau (Hrsg.), Au sujet de Shoah. Le film de Claude Lanzmann, Paris 1990, S. 279. Lanzmann greift hier auf ein Zitat Primo Levis zurück, vgl. Primo Levi, Se questo è un uomo, Torino 2005, S. 25.

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De même que les images nazies du ghetto […] ce film ne veut rien dire, on voit ça tous les jours d’une certaine façon. J’appelle ça des images sans imagination. Ce sont juste des images, ça n’a pas de force.79

Lanzmanns Beschreibung des Dokumentarfilms als mechanische Wiedergabe einer Tötungsaktion, die dem Zuschauer nichts anderes liefert als die rein faktische Abfolge der Ereignisse, verdeutlicht, dass sein Bilderverbot nicht primär auf die Frage der Darstellbarkeit der Shoah referiert, sondern auf die Möglichkeiten, der Auslöschung ästhetisch Bedeutung zu verleihen. Die Rede von den »images sans imagination« in Verbindung mit seinen bereits zitierten Äußerungen zu den »montages d’archives« lassen sich in diesem Zusammenhang als ästhetische Strategie verstehen, mit der Lanzmann der filmischen Figuration des Undarstellbaren zu begegnen sucht. In zahlreichen kritischen Beiträgen zu Lanzmanns Filmprojekt sind die Affinitäten zwischen Shoah und den Traditionen filmischer Montage beleuchtet worden, um den avantgardistischen Charakter des Projektes zu akzentuieren.80 Insbesondere Lanzmanns experimentelle Schnitttechnik, die eine Verbindung zwischen den Stimmen der Überlebenden aus dem offscreen und den Bildern der historischen Schauplätze herzustellen sucht, durch die sich die Erzählstimme gleichzeitig bewegt, soll den Zuschauer zur aktiven Partizipation an der Konstitution eines »Monuments« der Erinnerung bewegen. Anders als in Nuit et brouillard, in dem die verstörende Wirkung der Bilder aus dem dissonanten Zusammenspiel mit dem Kommentar und der Musik entsteht, zielt Lanzmanns Intention auf eine unmittelbare, halluzinatorische Vergegenwärtigung der Vernichtung der europäischen Juden, die durch die Filmbilder ausgelöst wird und die den Zuschauer in den Status sekundärer Zeugenschaft versetzt.81 An die Stelle stummer, bedeutungsloser Archivaufnahmen tritt die imaginäre Realisierung des Stattgefundenen, deren Intensität die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufhebt.

79 80

81

Lanzmann, »Le lieu et la parole«, S. 296f. Vgl. Gertrud Koch, »Transformations esthétiques. Dans la représentation de l’inimaginable«, in: Bernard Cuau (Hrsg.), Au sujet de Shoah. Le film de Claude Lanzmann, Paris 1990, S. 157–166, hier S. 163f.; Florence Jacobowitz, »Shoah as cinema«, in: Shelly Hornstein (Hrsg.), Image and remembrance: representation and the Holocaust, Bloomington 2003, S. 7–21, hier S. 12f. Vgl. Naomi Mandel, Against the Unspeakable. Complicity, the Holocaust, and Slavery in America, Charlottesville/London 2006, S. 126f.

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Il m’arrive de rencontrer des gens, qui sont convaincus d’avoir vu des documents dans le film: qui les ont hallucinés. Le film fait travailler l’imagination. Quelqu’un m’a écrit, magnifiquement d’ailleurs: »C’est la première fois que j’entends le cri d’un enfant dans une chambre à gaz.« C’est toute la puissance de l’évocation et de la parole.82

Dem bewussten Verzicht auf die Evidenz von Archivmaterial, das mit der Passivität der Wahrnehmung assoziiert wird und damit keine Identifikation ermöglicht, entspricht die Aufwertung der Spontaneität der Imagination, die zum Gestaltungsprinzip der filmischen Verlebendigung der Vergangenheit wird. In Anlehnung an Sartres Funktionsbestimmung des Imaginären als Präsenz einer Absenz, die außerhalb des zeitlich-räumlichen Kontinuums des Bildes situiert werden muss, unterscheidet Lanzmann zwischen unterschiedlichen Formen imaginärer Irrealisierung.83 In Bezug auf die Auswahl seiner Interviewpartner bekennt er sich nicht nur zu seiner Vorliebe für die Mitglieder des Sonderkommandos, sondern betont ebenso die Notwendigkeit der Verwandlung der Augenzeugen in Schauspieler ihrer eigenen Geschichte, d. h. in dem Augenblick, in dem es den jüdischen Überlebenden gelingt, vor der Kamera das erlittene Trauma zu aktualisieren und das Erlebte auszuagieren, wird der Zuschauer zum unmittelbaren Adressaten der verdrängten Ereignisse und der unterdrückten Trauer.84 Beispielhaft sei hier auf die programmatische Funktion der Eingangssequenz von Shoah verwiesen, die den Zuschauer zum sekundären Zeugen der Auslöschung werden lässt. Der Anfang von Shoah zeigt einen Fluss, auf dem ein Kahn gleitet und ein Mann ein deutsches Soldatenlied singt: »Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die Mädchen die Fenster und Türen, ei warum, ei warum, ei nur wegen dem Tschingderassa bum«. Der Kahn fährt vorüber, die Stimme wird leiser, bis sie verhallt. Aus dem Vorspann weiß der Zuschauer: Der Mann im Kahn ist der 47jährige Jude Simon Srebnik, der als Junge im Vernichtungslager Chelmo durch Zufall der Erschießung durch die SS entgangen ist. Die symbolische Aufladung dieser Eingangsszene lässt Srebnik als Grenzgänger, als Charon erscheinen, der auf dem Fluss Styx die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich markiert. Indem Lanzmann ihn nach Polen an die nun grasüberwachsenen Vernichtungsstätten zurückbringt, durchlebt und wiederholt Srebnik seine Erfahrungen als dreizehnjähriger Junge. Die subjektive Kamera begleitet ihn zu den Resten von Grundmauern auf einer Lichtung. 82 83 84

Lanzmann, »Le lieu et la parole«, S. 297. Vgl. Koch, »Transformations esthétiques«, S. 157f. Vgl. Lanzmann, »Le lieu et la parole«, S. 294.

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»Schon damals war es so ruhig. Niemand hat geschrieen.«, sagt Srebnik sichtbar bewegt. Der Aufruhr in seinem Innern wird mit Kameraschwenks über die Bäume konterkariert, deren Rauschen das einzige Hintergrundgeräusch bildet. Die Stimme des Überlebenden wird hier gleichsam zur Pathosformel des historischen Traumas, das keine Spuren in der Landschaft hinterlassen hat und sich nur imaginär wiederholen kann.85 Damit knüpft Lanzmanns Strategie an Cayrols Entwurf einer lazarenischen Ästhetik an, die eine realistische Abbildung zugunsten einer Evokation von Resonanzeffekten ablehnt. An dem Prozess imaginärer Irrealisierung sind jedoch nicht allein die Überlebenden, Zeitzeugen und Zuschauer des Films beteiligt, sondern auch Lanzmann selbst, der im Zusammenhang mit der Beschreibung der Dreharbeiten seine eigene halluzinatorische Erfahrung der Aktivierung des Vergangenen thematisiert, die mit dem Erlebnis der Zuschauer koinzidiert. Dabei wird deutlich, dass er sich von Sartres Dualismus passive Wahrnehmung versus aktive Imagination distanziert, insofern erst die konkrete Visualisierung der historischen Orte zum Auslöser einer halluzinatorisch-imaginären Vision der Ereignisse wird, wie er im Zusammenhang mit seinem Besuch von Treblinka im Winter beschreibt: Ensuite, j’ai découvert le village de Treblinka, la gare, et la pancarte sur laquelle est marqué TREBLINKA, et ça, ça a été un choc: l’acte même de la nomination. Entre le savoir théorique – j’en étais chargé comme une bombe! – et la réalité des lieux, des noms… Il y avait une pérennité. C’est là que j’ai commencé à être halluciné.86

Die visuelle Begegnung mit dem Ort ist wesentlich für den Übergang vom »savoir théorique« zur »réalité des lieux« bzw. vom Abstrakten zum Konkreten als ästhetische Strategie von Shoah. Immer wieder hat Lanzmann auf das nicht-idealistische, nicht-abstrakte Wesen seines Filmprojektes hingewiesen und hervorgehoben, dass die Möglichkeit der imaginären Verlebendigung im Detail liege, das eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt. In Analogie zu dem Wissen, das sich Lanzmann vor Beginn seines Projekts angeeignet hat, fungiert die konkrete Wahrnehmung der histori85

86

Nelly Furman weist darauf hin, dass unter den von Lanzmann interviewten Augenzeugen kein französischer Überlebender auftaucht, was sie als Hinweis auf die Verdrängung der französischen Beteiligung an der Deportation der Juden deutet, vgl. Nelly Furman, »The languages of pain in Shoah «, in: Lawrence D. Kritzman (Hrsg.), Auschwitz and after. Race, culture, and ›the Jewish question‹ in France, New York/ London 1995, S. 299–312, hier S. 309f. Claude Lanzmann, »Les non-lieux de la mémoire«, in: Bernard Cuau (Hrsg.), Au sujet de Shoah. Le film de Claude Lanzmann, Paris 1990, S. 280–292, hier S. 288.

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schen Orte der Vernichtung als Prämisse für eine Begegnung mit dem ›Realen‹, das von der Fixierung auf die eigene Imagination zur Aktualisierung der Erinnerung der Auslöschung führt: Je me suis rendu sur les lieux, seul, et je me suis aperçu qu’il fallait combiner les choses. Il faut savoir et voir, et il faut voir et savoir. Indissolublement. Si vous allez à Auschwitz sans rien savoir sur Auschwitz et l’histoire de ce camp, vous ne voyez rien, vous ne comprenez rien. De même, si vous savez sans y avoir été, vous ne comprenez pas non plus. Il fallait donc une conjonction des deux. C’est pourquoi le problème des lieux est capital. Ce n’est pas un film idéaliste que j’ai fait, ce n’est pas un film avec les grandes réflexions métaphysiques ou théologiques sur pourquoi toute cette histoire est arrivée aux Juifs, pourquoi on les a tués. C’est un film à ras de terre, un film de topographe, de géographe.87

Lanzmanns Kommentar legt nahe, dass das Register der visuellen Wahrnehmung seinen Begriff der imaginären Irrealisierung durchdringt und Sartres Unterscheidung von spontaner Imagination und passiver Wahrnehmung unterläuft. Auch in seiner Beschreibung der Rolle des Kinozuschauers findet sich eine ähnliche Kombination von Sehen und Wissen, von Wahrnehmung und Imagination wieder. Als Modell für das Erleben des Zuschauers dient Lanzmanns eigene Erfahrung, die mittels der bewussten Zurückweisung einer manipulativen Regieführung vermeintlich direkt auf die Leinwand übertragen wird, was einer Verschleierung der ästhetischen Wirkungsmechanismen dient. Anstelle einer unmittelbaren Manipulation der Vorstellungskraft des Betrachters tritt eine subjektive Kameraführung, die zu einer Identifikation mit dem Dargestellten auffordert und zahlreiche Interferenzen zum Neorealismus, zum cinéma vérité oder zur Phänomenologie Merleau-Pontys aufweist.88 Lanzmanns Herabsetzung des Wirkungspotentials von Archivbildern, denen er die Provokation eines Schockerlebnisses abspricht, steht in enger Beziehung zu seinen Äußerungen zum fotografischen Medium, das er mit Morbidität und Tod assoziiert und in Opposition zu dem »Film des Lebens bzw. der Erinnerung« setzt. Die Gleichsetzung von Fotografie mit Repräsentation und Vergessen widerspricht jedoch seinem Engagement für einen existentiell-phänomenologischen Modus filmischer Subjektivität, die sich insbesondere auf dem Detail als Spur einer verschütteten Referenz gründet. Während er sich in Shoah darum bemüht, die subjektive Verbindung zwischen Zuschauer und Bild durch den Rückgriff auf unterschiedliche Formen indexikalischer Zeichen herzustellen – von Besitztümern der Opfer über die 87 88

Lanzmann, »Le lieu et la parole«, S. 294. Vgl. D’Arcy, Claude Lanzmann’s Shoah & the intentionality of the image, S. 145–150.

Cayrol, Resnais, Lanzmann

221

Orte bis hin zu den geschriebenen Dokumenten –, suggeriert seine Kritik an Archivbildern, dass er diese ausschließlich in ihrer ikonischen Funktion wahrnimmt und die Fotografie als Medium in ihrer Wirkungsweise reduziert. Entgegen den sich selbst widersprechenden Kommentaren Lanzmanns lassen sich zahlreiche Anschließbarkeiten zu Cayrols lazarenischer Ästhetik und zu Barthes’ Ausführungen zur Fotografie feststellen.89 Auf der einen Seite kritisiert er ebenso wie Cayrol die beschränkte Wirkungsmacht einer rein mechanischen Übertragung der Gewalt in Bilder faktischer Authentizität. Während Cayrol in Nuit et brouillard mit seinem Kommentar die Grenzen einer filmischen Repräsentationsästhetik evoziert und den Zuschauer mit seinem Nicht-Wissen konfrontiert, simuliert Lanzmann in Shoah gelebte Präsenz, um den Zuschauer an der Konstruktion des Filmbildes partizipieren zu lassen. Es geht ihm nicht darum, konkrete Bilder der Shoah zu generieren, sondern diese in der Imagination des Betrachters zu verlebendigen. Auf der anderen Seite spielt das Detail eine zentrale Rolle in Lanzmanns Ästhetik, da es in der Lage ist, als Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu fungieren: Alors, pourquoi ces détails? Qu’apportent-ils de plus? En fait je crois que c’est capital. C’est ça qui réactive les choses, que les donne à voir, à éprouver, et tout le film, pour moi, c’est précisément le passage de l’abstrait au concret.90

Lanzmanns Aufwertung konkreter Einzelheiten wie z. B. das Einblenden historischer Dokumente oder der tätowierten Häftlingsnummer stellt eine Verbindungslinie zu Barthes’ Begriff des punctum her, der die Evidenz des fotografischen Bildes an die Erfahrung der Endlichkeit und des Nichts koppelt.91 In La chambre claire versucht sich ein Ich zu erinnern: Es erfährt das Ungenügen des reinen Vergegenwärtigens und erleidet dann, ausgelöst durch das punctum, einen unwillkürlichen Schock, der zur Traumatisierung des Gedächtnisses führt, zugleich aber auch zu einem wahrhaften Eingedenken des Anderen.92 Auch in Shoah finden sich bestimmte Charakteristika, die auf die indexikalische Struktur der Bilder und damit auf die Spur des Traumas verweisen.93 Wenn Lanzmann auf Titel zurückgreift, um den Ort der 89 90 91

92 93

Vgl. ebd., S. 152. Lanzmann, »Les non-lieux de la mémoire«, S. 282. Zu dem Begriff des punctum vgl. Judith Kasper, Sprachen des Vergessens. Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken, München 2003, S. 290–292. Vgl ebd., S. 286–290. Vgl. Margaret Olin, »Lanzmann’s Shoah and the typology of the Holocaust film«, in: Representations, 57/1997, S. 1–23, hier S. 17.

222

Silke Segler-Meßner

Aufnahme zu identifizieren, wenn er die Kamera Ortsschilder aufnehmen lässt, dann nutzt er diese Authentifizierungsstrategien, um den Zuschauer davon zu überzeugen, dass die Kamera sich in einer räumlichen Relation zum Dargestellten befindet.94 Ähnliches gilt für die mit einer Handkamera gefilmten Sequenzen, die ein sich bewegendes Subjekt aufnimmt und die allein von der Präsenz der Kamera an diesem Ort künden und sich in Analogie zu Barthes’ punctum in kein übergeordnetes Narrativ einfügen. Diese Details verbinden den Film mit einer Dimension indexikalischer Vergangenheit und dienen der impliziten Erkenntnis von Kontingenz, die dem kinematographischen Medium inhärent ist. Gerade die fehlende Montage wirft in Shoah jene Fragen nach der (un-)möglichen Darstellbarkeit der Katastrophe auf, die Resnais in Nuit et brouillard bereits gestellt und Cayrol mit dem Entwurf einer amimetischen Ästhetik zu beantworten versucht hat.

94

Vgl. Brinkley/Youra, »Tracing Shoah«, S. 115.

Verdrängung und Erinnerung in Albert Camus’ La Chute

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Peter Kuon (Salzburg)

»[…] en contournant le quartier juif […]« Verdrängung und Erinnerung in Albert Camus’ La Chute

Die Shoah, die mittlerweile die Diskurse über den Zweiten Weltkrieg beherrscht, war bis zum Frankfurter Auschwitz-Prozess im Jahre 1964 außerhalb Israels kein öffentliches Thema. Es ist daher bemerkenswert, dass Albert Camus Mitte der 1950er Jahre den Protagonisten von La Chute schon auf den ersten Seiten der Erzählung auf »eines der größten Verbrechen der Geschichte« zu sprechen kommen lässt: Moi, j’habite le quartier juif, ou ce qui s’appelait ainsi jusqu’au moment où nos frères hitlériens y ont fait de la place. Quel lessivage! Soixante-quinze mille juifs déportés ou assassinés, c’est le nettoyage par le vide. J’admire cette application, cette méthodique patience! Quand on n’a pas de caractère, il faut bien se donner une méthode. Ici, elle a fait merveille, sans contredit, et j’habite sur les lieux d’un des plus grands crimes de l’histoire. (LC 701)1

Die »Reinigung« Amsterdams im Zeichen des nationalsozialistischen Rassenwahns hat im Zentrum der Stadt eine »Leere« hinterlassen, der an ihrer Peripherie, auf der wenig später besichtigten Insel Marken, ein »tas de cendres qu’on appelle ici une dune« (LC 729) korrespondiert. Der Ort, der einst jüdisches Viertel hieß, ist nach der Shoah ein namenloser Nicht-Ort, aus dem alles, was seine einstige Identität ausmachte, spurlos verschwunden ist. Der Erzähler, so suggeriert sein zynisch-frivoler Sprachgestus, scheint kein Problem damit zu haben, den Tatort eines mittlerweile vergessenen Verbrechens zu bewohnen. Seinem Gesprächspartner empfiehlt er hingegen, auf dem Rückweg ins Hotel – »en contournant le quartier juif« (LC 701) – einen Umweg zu nehmen. Dieser Umweg wird den anonymen Amsterdam-Besucher am Ende einer räumlichen wie diskursiven Kreisbewegung ins leere Zentrum der modernen Welt führen. Dort, in der Wohnung des Erzählers, wird er sich entscheiden müssen, ob er die angebotene Bruderschaft mit den »frères hitlériens« annehmen will oder nicht. 1

La Chute wird unter der Sigle LC nach der Neuausgabe der Bibliothèque de la Pléiade zitiert: Albert Camus, Œuvres complètes, Bd. 3, Raymond Gay-Crosier (Hrsg.), Paris 2008, S. 695–765, hier S. 701.

224

Peter Kuon

In La Chute setzt sich Camus mit der Frage auseinander, was es bedeutet, die durch die Shoah geschaffene Leere zu bewohnen. Thema der Erzählung ist, anders als in La Peste, nicht das Leben in der Katastrophe, sondern das Leben nach der Katastrophe, nicht das Bezeugen des Erlebten, sondern das Verschweigen des Erlebten. La Chute setzt bei dem Satz an, den Rieux am Ende von La Peste äußert: »[L]e bacille de la peste ne meurt ni ne disparaît jamais«.2 Die Verdrängungsstrategien, die die westlichen Gesellschaften in der Nachkriegszeit entwickelten, um der Tatsache, dass ihre Geschichte unwiderruflich das Stigma der Shoah trägt, nicht ins Auge schauen zu müssen, zeigt Camus am Beispiel eines Ich-Erzählers auf, der nicht zögert, seine Schuld schamlos auszubreiten, um der Verarbeitung ihres traumatischen Grundes umso besser ausweichen zu können. Seine Geschwätzigkeit ist nur eine andere Form des Verschweigens. Diese Konstruktion eines »unreliable narrator«3 nötigt den in den Monolog eingeschriebenen Zuhörer (und mit ihm den Leser), die Unklarheiten und Widersprüche, die Leerstellen der fremden Rede mit eigener Erfahrung zu besetzen und so den eigenen Umgang mit Verdrängung und Erinnerung zu hinterfragen. Dass die Shoah der Fluchtpunkt des mehrtägigen Monologs des Protagonisten ist, dass das kollektive Trauma im Modus individueller Erinnerungsund Vergessensleistungen dargestellt wird, hat insbesondere die angelsächsische Camus-Forschung seit geraumer Zeit erkannt.4 Die einschlägigen Stu2

3

4

Albert Camus, Œuvres complètes, Bd. 2, Jacqueline Lévi-Valensi (Hrsg.), Paris 2006, S. 31–248, hier S. 248. – Was Albert Camus in die zu Unrecht kritisierte Allegorie der Pest fasst, nennt sein Zeitgenosse, der Überlebende des Konzentrationslagers Mauthausen Jean Cayrol, in einem schon 1949 erschienenen Essay (Jean Cayrol, »D’un romanesque concentrationnaire«, in: Esprit, 159/1949, S. 340–357) das »Konzentrationäre« bzw. das »Konzentrationat«, das sich unausrottbar im Seelenhaushalt der europäischen Gesellschaften eingenistet habe (hierzu ausführlicher Peter Kuon, »La ›peste‹ / le ›concentrationnaire‹: poétiques de l’oblique (Cayrol, Camus, Rousset, Perec)«, in: ders. (Hrsg.), »Les mots sont aussi des demeures«. Poétiques de Jean Cayrol, Bordeaux 2009, S. 145–159, hier S. 154f.). Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961, S. 294–296 (mit Bezug auf La Chute). Siehe vor allem Shoshana Felman, »The Betrayal of the Witness: Camus’ The Fall«, in: dies./Dori Laub, Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York/London 1992, S. 165–203; Steven Ungar, Scandal and Aftereffect. Blanchot and France since 1930, Minneapolis 1995, S. 28–33; Dominick LaCapra, »Rereading Camus’s The Fall after Auschwitz and with Algeria«, in: ders., History and Memory after Auschwitz, New York 1998, S. 73–94; Moya Longstaffe, »A Sojourn in the Circles of Hell. La Chute«, in: dies., The Fiction of Albert Camus. A Complex Simplicity, Oxford u. a. 2007, S. 161–196. – Die »Notice«, die die kritische Ausgabe von La Chute begleitet, belässt es hingegen bei der nicht näher ausgeführten

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225

dien werden aber einer Textstrategie nicht gerecht, die die Argumentation des Ich-Erzählers5 dadurch destabilisiert, dass sie seine Rede mit Bedeutungen auflädt, die außerhalb seines Bewusstseins liegen und an das Wissen des Lesers appellieren.6 Die folgende – zugegebenermaßen partielle – Lektüre beschränkt sich darauf, die offene und verdeckte Präsenz der Shoah in La Chute und ihre zentrale Bedeutung für ein angemessenes Verständnis des Werks herauszuarbeiten. Zunächst werde ich untersuchen, wie Clamence sein Erinnern als Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses inszeniert. Das angebliche Schlüsselerlebnis deckt in Wirklichkeit aber ein tiefer verschlossenes, mit der Kriegsthematik verbundenes Trauma. Danach soll gezeigt werden, wie die textstrategische Konnotierung dieser ›Urszene‹, einerseits durch die Verfremdung von Realien des Zweiten Weltkriegs, andererseits durch die Anspielungen auf Dantes Divina Commedia, den Übergang vom individuellen zum kollektiven Trauma ermöglicht. Abschließend diskutiere ich einige Konsequenzen der vom Erzähler propagierten Lösung für den Gedächtnisdiskurs nach der Shoah.

I.

Inszenierte Anamnese

La Chute präsentiert sich als die Lebensbeichte eines heruntergekommenen Ich-Erzählers, der seine erfolgreiche Anwaltskanzlei in Paris mit einer Kneipe im Amsterdamer Hafenmilieu vertauscht hat, um dort unter falschem Namen, Jean-Baptiste Clamence, als »juge-pénitent« (LC 699) zu wirken. Die Passanten, die sich von ihm im Mexico-City in ein Gespräch verwickeln lassen, gehen in eine Falle: Die schonungslose Selbstanalyse des selbsternannten Buß-Richters, der sie fasziniert und voyeuristisch folgen, tritt ihnen am Ende unvermutet als Spiegelbild der eigenen Charakterlosigkeit gegenüber. Die vermeintliche Beichte war eine raffinierte Gesprächsstrategie.

5

6

Bemerkung »la Shoah (elle hante le texte)« (Gilles Philippe, »La Chute. Notice«, in: Camus, Œuvres complètes, Bd. 3, S. 1354–1371, hier S. 1364). Auf die vieldiskutierte Frage, inwieweit in der Person des Ich-Erzählers die bissige Satire der Selbstgerechtigkeit des Sartre-Kreises mit dem kritischen Selbstporträt des Autors und der ironischen Karikatur seines öffentlichen Erscheinungsbildes verbunden wird (vgl. zuletzt Philippe, »Notice«, S. 1367f.), werde ich nicht eingehen. Scheitert Felmans verdienstvolle Untersuchung, wie schon LaCapra, »Rereading Camus’s The Fall «, S. 74–77, mit Recht monierte, an der unzulässigen Idenfikation des Autors mit seinem unzuverlässigen Erzähler, so unterschätzen die erzähltechnisch umsichtiger argumentierenden späteren Arbeiten (siehe Anm. 4) die implizite Leserlenkung durch die im Folgenden analysierten allegorisierenden Erzählverfahren.

226

Peter Kuon

Was gibt Clamence im Verlauf des mehrtägigen Gesprächs von sich preis? Nachdem er seinen Zuhörer mit der Bemerkung, er müsse einen bestimmten Abend vergessen (LC 709), neugierig gemacht hat, kommt er auf den Moment zu sprechen, als er, zufrieden mit sich selbst und mit der Welt, vom Pont des Arts auf die Seine herunterblickte und hinter seinem Rücken, wie aus dem Nichts, ein Lachen hörte: Je me retournai vers l’île et, de nouveau, j’entendis le rire dans mon dos, un peu plus lointain, comme s’il descendait le fleuve. Je restais là, immobile. Le rire décroissait, mais je l’entendais encore distinctement derrière moi, venu de nulle part, sinon des eaux. En même temps, je percevais les battements précipités de mon cœur. Entendez-moi bien, ce rire n’avait rien de mystérieux; c’était un bon rire, naturel, presque amical, qui remettait les choses en place. Bientôt d’ailleurs, je n’entendis plus rien. Je regagnai les quais, pris la rue Dauphine, achetai des cigarettes dont je n’avais nul besoin. J’étais étourdi, je respirais mal. Ce soir-là, j’appelai un ami qui n’était pas chez lui. (LC 714)

Das Lachen löst Herzrasen, Benommenheit, Atembeklemmung, eine Übersprungshandlung, das Bedürfnis, mit einem Freund zu sprechen, und in späterer Folge eine Identitätskrise aus: »Mon image souriait dans la glace, mais il me sembla que mon sourire était double…« (LC 714). Das Lachen, auch wenn Clamence behauptet, es nach wenigen Tagen wieder vergessen zu haben, wird ihn fortan begleiten, nicht mehr als äußere Stimme, »venu […] des eaux«, sondern als unüberhörbare innere Stimme, »quelque part en moi« (LC 715). Ist es verwunderlich, dass die Unterdrückung dieser inneren Stimme mit dem Beginn psychosomatischer Beschwerden einhergeht? Das Lachen, so weiß der Erzähler im Nachhinein, hatte »die Dinge wieder zurechtgerückt«. Da es aber nicht angenommen, sondern, im Gegenteil, verdrängt wurde, nimmt es im Lauf der Zeit einen immer bedrohlicheren Ton an, bis Clamence schließlich das Selbstbild eines durch und durch integren, tugendhaften, altruistischen Menschen, worauf er seine Identität gegründet hatte, als Trugbild entlarven muss. Voraussetzung dieses allmählichen Erkenntnisprozesses ist die Wiedererlangung seines Gedächtnisses: »Il a fallu d’abord que je retrouve la mémoire« (LC 718). In die durch das Lachen eröffnete Bresche zwischen Sein und Schein schob sich unaufhaltsam die Erinnerung an Fehlleistungen, die er vergaß, um sein ideales Selbstbild nicht zu beschädigen, an Situationen, in denen er im Anschluss an Demütigungen Gewaltphantasien (»de doux rêves d’oppression«) empfunden oder umgesetzt hatte (LC 721 u. 726). Er musste sich nach und nach eingestehen, dass seine ostentative Hinwendung zu den Opfern, den Bettlern, den Blinden nur der Stabilisierung seines Selbstwertgefühls diente und dass hinter der Maske der Tugendhaftigkeit und des Altruismus ein unausrottbarer Egois-

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227

mus triumphierte, der sich, sobald die Eitelkeit beleidigt, der unbedingte Herrschaftswille konterkariert wurde, in unbarmherziger Unterdrückung Bahn brach. Der schmerzhafte Prozess der Rückholung des Verdrängten scheint zum Stillstand zu kommen, als Clamence »au centre de [s]a mémoire« (LC 728) eine ganz bestimmte Erinnerung wiederfindet, die Erinnerung an eine weiter zurückliegende Novembernacht, in der er – wiederum – glücklich und zufrieden über den Pont Royal nach Hause gegangen war: Sur le pont, je passai derrière une forme penchée sur le parapet, et qui semblait regarder le fleuve. De plus près, je distinguai une mince jeune femme, habillée de noir. Entre les cheveux sombres et le col du manteau, on voyait seulement une nuque, fraîche et mouillée, à laquelle je fus sensible. Mais je poursuivis ma route, après une hésitation. Au bout du pont, je pris les quais en direction de Saint-Michel, où je demeurais. J’avais déjà parcouru une cinquantaine de mètres à peu près, lorsque j’entendis le bruit, qui, malgré la distance, me parut formidable dans le silence nocturne, d’un corps qui s’abat sur l’eau. Je m’arrêtai net, mais sans me retourner. Presque aussitôt, j’entendis un cri, plusieurs fois répété, qui descendait lui aussi le fleuve, puis s’éteignit brusquement. Le silence qui suivit, dans la nuit soudain figée, me parut interminable. Je voulus courir et je ne bougeai pas. Je tremblais, je crois, de froid et de saisissement. Je me disais qu’il fallait faire vite et je sentais une faiblesse irrésistible envahir mon corps. J’ai oublié ce que j’ai pensé alors. «Trop tard, trop loin…» ou quelque chose de ce genre. J’écoutais toujours, immobile. Puis, à petits pas, sous la pluie, je m’éloignai. Je ne prévins personne. (LC 728f.)

Hätte Clamence, aus seinem kurzen Zögern heraus, die junge Frau angesprochen, was das Drama möglicherweise verhindert hätte, dann sicher nicht, weil er ihre Hilfsbedürftigkeit gespürt hätte, sondern weil der nackte Hals als erotischer Stimulus wirkte. Sie hätte ihn nicht als Subjekt eines Gesprächs, sondern als Objekt der Begierde interessiert. Der Begriff der sensibilité, mit dem die Aufklärung die dem Menschen angeborene Fähigkeit zum Mitgefühl bezeichnete, wird von ihm auf einen physiologischen Reiz reduziert. Die Unfähigkeit des erfolgreichen Rechtsanwalts, aus seiner egoistischen Selbstbezogenheit heraus- und auf den Anderen zuzutreten, bestätigt sich in seiner Reaktion, als der Körper auf dem Wasser aufschlägt. Er bleibt stehen, ohne sich umzudrehen. Die beiden gegenläufigen Impulse des Hinlaufens und des Weglaufens blockieren sich und führen zu einer Paralyse, die ihn das Ereignis, das er nicht sehen will, in unendlicher Dehnung hören lässt. Erst die Stille befreit ihn. Die Tatsache, dass er niemanden über den Vorfall informiert und die nächsten Tage keine Zeitungen liest, ist Ausdruck seines Willens, das Geschehen – und seine unterlassene Hilfeleistung – durch Verschweigen ungeschehen zu machen.

228

Peter Kuon

Es ist dieses aus dem Gedächtnis gelöschte Versagen, das sich zwei oder drei Jahre später, auf einer anderen Seine-Brücke, in dem irritierenden Lachen manifestiert, das wie die Hilferufe der jungen Frau flussabwärts zieht und verhallt. Während bei Proust die mémoire involontaire die Erinnerung aufschließt und verfügbar macht, bringt hier der Blick aufs Wasser ein nervöses Symptom hervor, das metonymisch auf eine unterdrückte, weggeschlossene, eingekapselte, also traumatische Erfahrung7 verweist: »[I]l se faisait une sorte de silence en moi« (LC 715). Verfügbar und damit erzählbar wird diese erst am Ende einer Erinnerungsarbeit, die Schicht für Schicht die verdrängten Fehlleistungen des Erzählers ans Licht hebt und sein Selbstbild zerstört. Die Behauptung, dass es sich bei der Pont Royal-Szene um die im Kern des Gedächtnisses verschüttete Schlüsselerinnerung handelt,8 scheint sich im Fortgang der Erzählung zu bestätigen. Während des Ausflugs auf die Insel Marken und bei der Rückfahrt über die Zuydersee erinnert sich Clamence an seine diversen Versuche, auf das »rire perpétuel« (LC 735), das ihn von nun an beständig an seine Fehlleistungen erinnern wird, eine Antwort zu finden. Als er meinte, das Lachen in der Ausschweifung betäubt, im Alkohol ersäuft zu haben und seine Heilung mit einer Kreuzfahrt feiern wollte, löst der erneute Blick aufs Wasser eine Retraumatisierung aus: Soudain, j’aperçus au large un point noir sur l’océan couleur de fer. Je détournai les yeux aussitôt, mon cœur se mit à battre. Quand je me forçai à regarder, le point noir avait disparu. J’allais crier, appeler stupidement à l’aide, quand je le revis. Il s’agissait d’un de ces débris que les navires laissent derrière eux. Pourtant, je n’avais pu supporter de le regarder, j’avais tout de suite pensé à un noyé. Je compris alors, sans révolte, comme on se résigne à une idée dont on connaît depuis longtemps la vérité, que ce cri qui, des années auparavant, avait retenti sur la Seine, derrière moi, n’avait pas cessé, porté par le fleuve vers les eaux de la Manche, de cheminer dans le monde, à travers l’étendue illimitée de l’océan, et qu’il m’y avait attendu jusqu’à ce jour où je l’avais rencontré. Je compris aussi qu’il continuerait de m’attendre sur les mers et les fleuves, partout enfin où se trouverait l’eau amère de mon baptême. […] Écoutez! N’entendez-vous pas les cris de goélands invisibles? S’ils crient vers nous, à quoi donc nous appellent-ils? (LC 746f)

Traumatischer Schock, erfolgreiche Verdrängung, psychosomatische Beschwerden, Identitätskrise, Gedächtnisarbeit, Erinnerung des traumatischen Erlebnisses, erneute Verdrängung, Retraumatisierung… diese Sequenz wie 7

8

Zu den Metaphern, die in Psychologie und Psychoanalyse zur Beschreibung traumatischer Erfahrung verwendet werden, siehe Werner Bohleber, »Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 54/2000, S. 797–839, hier S. 823. Felman, »The Betrayal of the Witness: Camus’ The Fall«, S. 167.

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aus dem Lehrbuch9 kann Clamence, wie er sein Gegenüber glauben machen will, deshalb so luzide analysieren, weil er mittlerweile die »recette« (LC 738) gefunden zu haben meint, die ihn von seinen Gewissensbissen befreit. Dieses Rezept, sein »coup de génie«, bestehe darin, »[de] faire métier de pénitent pour pouvoir finir en juge« (LC 760). Er beichtet, um seinen Zuhörer seinerseits zu einem Schuldeingeständnis zu bewegen und dann über ihn richten zu können. Was Clamence als Erinnerungsarbeit vorführt, ist in Wirklichkeit Teil einer Gesprächsrhetorik.10 Sie liefert das Modell einer Selbsterforschung, das der Zuhörer auf sich selbst übertragen soll, um, wie Clamence, aus der Diskrepanz zwischen Sein und Schein die eigene Schuld ans Licht zu holen. Mit jeder listig provozierten Selbstanklage kommt der Buß-Richter dem empirischen Beweis für die Schuldhaftigkeit aller und damit der eigenen Entlastung, der eigenen Freiheit, einen Schritt näher.

II. Deckerinnerung und Trauma Schenkt man Clamence Glauben, dann ist es ihm gelungen, die traumatische Erfahrung des Falls der jungen Frau durchzuarbeiten und zu überwinden: »[J]’ai trouvé ma solution« (LC 762). Die erfolgreiche Selbsttherapie steht allerdings in einem eigenartigen Kontrast zu seiner gegenwärtigen Befindlichkeit. Denn der Buß-Richter verliert im Verlauf seines Monologs mehr und mehr an Selbstsicherheit und »sein teuflisches Lachen [nimmt] einen immer jämmerlicheren Unterton«11 an. Seine Träume und Visionen, die um für immer entschwundene Paradiese kreisen, zeugen von Verzweiflung: »Oh, soleil, plages, et les îles sous les alizés, jeunesse dont le souvenir désespère!« (LC 763). Die gefundene Lösung, gibt er zu, ist nur ein Notbehelf: »Ma so9

10

11

Vgl. beispielsweise den »Kaskadenablauf einer […] ›pathogenen‹ Traumareaktion« in: Alexander Friedmann/Peter Hofmann/Brigitte Lueger-Schuster/Maria Steinbauer/David Vyssoki (Hrsg.), Psychotrauma. Die posttraumatische Belastungsstörung, Wien/New York 2004, S. 26. Wenn Felman, »The Betrayal of the Witness«, S. 197, aus der Verweigerung der Zeugenschaft in der Selbstmord-Szene die Unmöglichkeit, den Holocaust angemessen zu repräsentieren, herausliest (»[…] the Holocaust as a radical failure of representation, in both senses of the word: failure of representation in the sense of making present the event; failure of representation in the sense of truly speaking for the victim, whose voicelessness no voice can represent«), dann übersieht sie, dass der Protagonist die Erinnerung an sein Verhalten zur Täuschung seines Gesprächspartners instrumentalisiert. Martina Yadel, »La Chute« von Albert Camus. Ansätze zu einer Interpretation, Bonn 1984, S. 70. – In ihrer Untersuchung geht Yadel ausführlich auf die Verfahren indirekter Personencharakterisierung zur Demontage des Buß-Richters ein.

230

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lution, bien sûr, ce n’est pas l’idéal« (LC, 764). Könnte es sein, dass ihm, allen Beteuerungen zum Trotz, gegen Ende, als er krank im Bett liegt, seine Gesprächsstrategie entgleitet? Könnte es an seinem Fieber liegen, dass er bei der letzten Begegnung auf ein Erlebnis zu sprechen kommt, das chronologisch vor der Episode des Falls liegt und inhaltlich wesentlich gravierender ist? Der von Clamence zur Schlüsselerinnerung – »au centre de ma mémoire« (LC 728) – stilisierte Fall der jungen Frau in die Seine wäre dann in Wirklichkeit eine ›Deckerinnerung‹ im Hinblick auf eine »wahrere Geschichte«,12 die nur in einem Moment des Kontrollverlustes sagbar wird. Anders als die Episode des Falls ist diese traumatische Erfahrung in die positive Lebenserzählung des Bußrichters nicht integriert, vielmehr bricht sie als psychisches Korrelat seiner Fieberschübe, Spätfolgen einer Malaria-Erkrankung, die er sich zur Zeit seiner Traumatisierung – »du temps que j’étais pape« (LC 751) – zugezogen hatte, unabweisbar in sein Bewusstsein ein. Die Papst-Episode führt in das Jahr 1942 zurück, als Clamence nach der Landung der Alliierten in Algerien (LC 754)13 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager in Tunesien interniert wurde. Dort hatte ein Mitgefangener – er nennt ihn Duguesclin (nach einem Helden des Hundertjährigen Krieges) – vorgeschlagen, einen neuen Papst zu wählen, der unter den Unglücklichen leben solle, da sich der Papst in Rom auf die Seite Francos geschlagen habe. Die Aufgabe dieses neuen Papstes, zu dem dann Clamence gewählt wurde, hätte darin zu bestehen, ein urchristliches Ideal der Gleichheit in einer Situation absoluter Misere zu administrieren: Le grand problème, dans le camp, était la distribution d’eau. D’autres groupes s’étaient formés, politiques et confessionnels, et chacun favorisait ses camarades. Je fus donc amené à favoriser les miens, ce qui était déjà une petite concession. Même parmi nous, je ne pus maintenir une parfaite égalité. Selon l’état de mes 12

13

Siehe Bohleber, »Die Entwicklung der Traumatheorie«, S. 825. – Zum Begriff der Deckerinnerung vgl. Sigmund Freud, »Über Deckerinnerungen«, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Anna Freud u. a. (Hrsg.), Frankfurt a.M. 31969, S. 531–554. Der Hinweis auf die am 8. November erfolgte Landung erlaubt eine Datierung der Episode auf Ende 1942. Anders als Terry Keefe, »Camus’ La Chute. Some outstanding problems of interpretation concerning Clamence’s past«, in: Modern Language Review, 69/1974, S. 541–555, vermutet, ist es höchst unwahrscheinlich, dass Clamence, der bei der Begegnung in Amsterdam im Jahre 1955 als »quadragénaire« (LC 700) bezeichnet wird, also bei Kriegsausbruch 1939 zwischen 24 und 33 Jahre alt war, seine Erfolge als Anwalt zwischen den Kriegen feiern konnte (siehe auch Longstaffe, »A Sojourn in the Circles of Hell«, S. 190). Vielmehr muss das scheinbar sorglose Leben als erfolgreicher Anwalt im Paris der Nachkriegszeit als Teil einer Verdrängung von Kriegserlebnissen angesehen werden, die seine glückliche Jugend ein für allemal beendet hatten.

Verdrängung und Erinnerung in Albert Camus’ La Chute

231

camarades, ou les travaux qu’ils avaient à faire, j’avantageais tel ou tel. Ces distinctions mènent loin, vous pouvez m’en croire. Mais, décidément, je suis fatigué et n’ai plus envie de penser à cette époque. Disons que j’ai bouclé la boucle le jour où j’ai bu l’eau d’un camarade agonisant. Non, non, ce n’était pas Duguesclin, il était déjà mort, je crois, il se privait trop. Et puis, s’il avait été là, pour l’amour de lui, j’aurais résisté plus longtemps, car je l’aimais, oui, je l’aimais, il me semble du moins. Mais j’ai bu l’eau, cela est sûr, en me persuadant que les autres avaient besoin de moi, plus que de celui-ci qui allait mourir de toute façon, et je devais me conserver à eux. (LC 755)

Dieses Bekenntnis unterscheidet sich insofern von der Episode des Falls, als Clamence, anders als später in Paris, nicht nur zufällig Zeuge eines Ereignisses wird, vor dem er die Augen verschließt. Vielmehr übernimmt er freiwillig, zunächst im Scherz, dann »de plus en plus sérieusement« (LC 755) Verantwortung für andere, scheitert aber an seinem egoistischen Überlebenswillen, ganz im Unterschied zu seinem Kameraden Duguesclin, der an Auszehrung stirbt, weil er an andere mehr abgegeben als von diesen bekommen hat. Während es in Paris die unterlassene Hilfeleistung ist, die Clamence traumatisiert, war es in Nordafrika ein aktives Handeln, das ihm im Nachhinein Gewissensbisse bereitet, auch wenn er es in der Situation selbst, »en me persuadant que les autres avaient besoin de moi, plus que de celui-ci qui allait mourir de toute façon« (LC 755), zu rationalisieren versuchte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er seinem Gegenüber in Amsterdam zunächst die Episode des Falls als Beispiel gelungener Selbstanalyse anbietet und das tiefere Trauma seines Versagens als Papst der Unglücklichen zunächst verdeckt und erst in einem Moment der Schwäche zur Sprache bringt.

III. Trauma und Geschichte Die Episode der Papstwahl hat in La Chute die Funktion einer ›Urszene‹14 die auf textstrategischer Ebene den Übergang von einem Diskurs über individuelle Traumatisierung zu einem Diskurs über kollektive Traumatisierung ermöglicht und damit den Kreis zu der auf den ersten Seiten der Erzählung 14

Die Bedeutung der Lager-Episode und ihre Überlagerung durch die Selbstmordszene ist u. a. von Ungar, Scandal and Aftereffect, S. 30, LaCapra, »Rereading Camus’s The Fall«, S. 82f. und Longstaffe, »A Sojourn in the Circles of Hell«, S. 191 erkannt worden. Es gab aber bisher keinen Versuch, die Episode im Kontext der zahlreichen Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg in La Chute zu deuten. LaCapra, der sie als »very obscure« bezeichnet (LaCapra, »Rereading Camus’s The Fall«, S. 82), geht im Anschluss an Ungar so weit, sie auf den französischen Kolonialismus zu beziehen, wobei beide übersehen, dass es sich ausdrücklich um ein deutsches, also nationalsozialistisches Lager handelt.

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Peter Kuon

erwähnten Vertreibung und Ermordung der Amsterdamer Juden schließt. Albert Camus gestaltet diesen Übergang im Rückgriff auf Verfahren indirekter Sinnzuschreibung, die ihm schon einige Jahre zuvor erlaubt hatten, ganz unterschiedliche Momente der komplexen Wirklichkeitserfahrung des Zweiten Weltkrieges im allegorischen Bild der Pest anzudeuten.15 Es waren Zufälle, die Clamence ins Gefangenenlager gebracht hatten: Bei Kriegsbeginn wurde er mobilisiert, doch bevor er an der Front eingesetzt werden konnte, war die drôle de guerre schon vorbei. Zurück in Paris entdeckt er seinen Patriotismus und geht in die zone sud, um sich über die Résistance zu erkundigen, schreckt aber vor einer aktiven Mitarbeit zurück: Il me semblait qu’on me demandait de faire de la tapisserie dans une cave, à longueur de jours et de nuits, en attendant que des brutes viennent m’y débusquer, défaire d’abord ma tapisserie et me traîner ensuite dans une autre cave pour m’y frapper jusqu’à la mort. J’admirais ceux qui se livraient à cet héroïsme des profondeurs, mais ne pouvais les imiter. (LC 753)

Im ironisch-distanzierten Rückblick steht das Bild des Teppichs für die Netzwerke der Résistance, die im Untergrund mühsam aufgebaut wurden, um dann von den Nationalsozialisten und ihren französischen Helfershelfern zerschlagen zu werden.16 Von Südfrankreich wechselt Clamence nach Nordafrika, mit der vagen Absicht, nach London zu reisen, also sich De Gaulle anzuschließen. Stattdessen aber sucht er in Tunis sein privates Glück, ohne zu merken, dass seine Freundin als Widerstandskämpferin arbeitet. Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika, Ende 1942, wird er mit ihr, von der sich jede Spur verliert, von den Deutschen verhaftet und »après de fortes angoisses« (LC 753) in einem Kriegsgefangenenlager interniert. 15

16

Siehe Peter Kuon, »›L’exil de tout le monde‹ dans La Peste d’Albert Camus«, in: Danièle Sabbah (Hrsg.), L’exil et la différence, Bordeaux 2011, S. 65–74. In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum Clamence Höhlenforscher hasst: »Les soutes, les cales, les souterrains, les grottes, les gouffres me faisaient horreur. J’avais même voué une haine spéciale aux spéléologues, qui avaient le front d’occuper la première page des journaux, et dont les performances m’écœuraient. S’efforcer de parvenir à la cote moins huit cents, au risque de se trouver la tête coincée dans un goulet rocheux (un siphon, comme disent ces inconscients!) me paraissait l’exploit de caractères pervertis ou traumatisés.« (LC 707) Ob es sich dabei um eine Übertragung von Camus’ Höhlenphobie auf Clamence handelt, so Gilles Philippe im neuesten Kommentar zu La Chute (Camus, Œuvres complètes, Bd. 3, S. 1380), ist belanglos, denn in der Logik des Textes verweisen die Höhlenforscher auf die Widerstandskämpfer, die in der Besatzungszeit Gefahr liefen, unter der Wasserfolter den Erstickungstod zu sterben, und die nach Kriegsende zu Helden journalistischer Berichterstattung wurden. Im Hass auf die résistants spiegelt sich der Selbsthass des Ich-Erzählers, der sein eigenes Lebens niemals aufs Spiel setzte.

Verdrängung und Erinnerung in Albert Camus’ La Chute

233

Die textinterne Bedeutung des Lagers wird aus der Begründung ersichtlich, mit der Clamence auf eine eingehende Beschreibung verzichtet: Je ne vous en fais pas la description. Nous autres, enfants du demi-siècle, n’avons pas besoin de dessin pour imaginer ces sortes d’endroits. Il y a cent cinquante ans, on s’attendrissait sur les lacs et les forêts. Aujourd’hui, nos avons le lyrisme cellulaire. Donc, je vous fais confiance. Vous n’ajouterez que quelques détails: la chaleur, le soleil vertical, les moches, le sable, l’absence d’eau. (LC 754)

Was als »lyrisme cellulaire« verspottet wird, ist die gesamte Erinnerungsliteratur, in der nach Kriegsende ehemalige Widerstandskämpfer und Deportierte von ihrem Überleben in den nationalsozialistischen Gefängnissen und Lagern Zeugnis ablegten. Wer Hitze durch Kälte, Sonne durch Regen, Mücken durch Läuse, Wassermangel durch Brotknappheit ersetzt und bedenkt, dass die mit Clamence Internierten Zwangsarbeit leisten müssen und an Erschöpfung sterben, findet im Kriegsgefangenenlager in Tunesien die wesentlichen Elemente eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers wieder.17 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Papst-Episode ein zweites Mal lesen und das Versagen von Clamence genauer bestimmen. Clamence hatte als säkularer Papst im nordafrikanischen Lager die Funktion eines »chef de groupe ou secrétaire de cellule« (LC 755) inne. Allein schon die Terminologie verweist auf die mehrheitlich von kommunistischen Häftlingen geführten klandestinen Lagerkomitees, die unter dem Stichwort der ›Solidarität‹ für entkräftete Kameraden zusätzliche Brot- und Suppenrationen, leichtere Arbeitskommandos, gelegentliche Spitalsaufenthalte und gegebenenfalls die Rettung vor der Gaskammer ›organisierten‹. In der Praxis stellte sich, wie auch Clamence erfahren musste, heraus, dass das vermeintlich rein altruistische Handeln in erster Linie auf die eigene – national, religiös oder ideologisch definierte – Gruppe bezogen war und innerhalb der Gruppe diejenigen Mitglieder bevorzugte, die aus Sicht des Komitees überleben sollten.18 Diese Bevorzugungen hatten, wie Clamence richtig feststellt, weitreichende Folgen: Sie entschieden letztlich über Leben und Tod. 17

18

Diese Verschiebung wird durch den von Longstaffe, »A Sojourn in the Circles of Hell«, S. 189, Anm. 61, zitierten Eintrag in Camus’ Carnets vom 24. November 1954 bestätigt: »Nouvelle. Les prionniers d’un camp de concentration élisent un pape, le choisissant parmi ceux d’entre eux qui ont le plus souffert« (Albert Camus, »Carnets (Février 1949 – décembre 1959)«, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 4, Raymond Gay-Crosier (Hrsg.), Paris 2008, S. 997–1307, hier S. 1200). Siehe ausführlicher Peter Kuon, »Nous et les autres: nationalismes et internationalismes dans les témoignages des survivants de Mauthausen«, in: Mauthausen. Bulletin des déportés, familles et amis de Mauthausen, 314–315/2008, S. 24–30.

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Peter Kuon

In den unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Zeugnissen wurde die organisierte ›Solidarität‹ überwiegend positiv, zumeist als wesentlicher Grund des eigenen Überlebens, gesehen. Die Tatsache, dass dieses Überleben mit Essensrationen erkauft wurde, die dem Rest der Häftlinge abgingen, wurde selten reflektiert.19 In der Gegenüberstellung von Duguesclin und Clamence ist dieser blinde Fleck der frühen Lagermemorialistik thematisiert: Während dieser das ursprüngliche Bemühen um Gleichbehandlung aller Internierten Schritt für Schritt einer Logik des Überlebens der eigenen Gruppe, einzelner Mitglieder, der eigenen Person opfert und das Wasser, das er einem Sterbenden wegtrinkt, mit der eigenen Unersetzlichkeit rechtfertigt, steigt jener aus dem Kampf aller gegen alle aus und stirbt an Auszehrung, weil er zugunsten von anderen (so darf man annehmen) zuviel Verzicht leistete: »[I]l se privait trop« (LC 755).20 Der Anspielungshorizont der nationalsozialistischen Konzentrationslager verleiht dem Protagonisten der Erzählung, der seinem Gegenüber und dem Leser bisher als wenig sympathischer Zyniker entgegengetreten ist, eine neue Dimension. Erst die Papst-Episode macht ihn zum modernen Jedermann: Er, der sich aus allem heraushalten wollte, weder résistant noch collaborateur war und in der kollektiven Katastrophe allein sein privates Glück

19

20

Eine der wenigen Ausnahmen stellt das zu Unrecht vergessene Zeugnis des Mauthausen-Überlebenden Paul Tillard dar (Paul Tillard, Le pain des temps maudits, Paris 1965). Das hier angesprochene Dilemma hat Primo Levi in Se questo è un uomo mit aller Klarsicht formuliert: »Moltissime sono state le vie da noi escogitate e attuate per non morire: tante quanti sono i caratteri umani. Tutte comportano una lotta estenuante di ciascuno contro tutti, e molte una somma non piccola di aberrazioni e di compromessi. Il sopravvivere senza aver rinunciato a nulla del proprio mondo morale, a meno di potenti e diretti interventi della fortuna, non è stato concesso che a pochissimi individui superiori, della stoffa dei martiri e dei santi.« (Primo Levi »Se questo è un uomo«, in: ders., Opere, Bd. 1, Torino 1987, S. 1–181, hier S. 94). Se questo è un uomo wurde erst 1958 ins Programm eines großen Verlagshauses, Einaudi, aufgenommen; die Erstausgabe von 1947 bei dem kleinen Verleger De Silva dürfte Camus nicht bekannt gewesen sein. – Derselbe Primo Levi wird 1986 in seiner letzten großen Reflexion über die Shoah eine Szene aus dem Sommer 1944 in Auschwitz schildern, als er, von Durst geplagt, ein mit Kondenswasser gefülltes Rohr findet und diesen Schatz mit seinem Freund Alberto, nicht aber mit anderen Kameraden teilt, von denen einer, der alles beobachtet hatte, ihn nach der Befreiung zur Rede stellt. Diese Szene, so der Autor ein Jahr vor seinem Freitod, löse bis heute ein tiefes Gefühl der Scham in ihm aus: »[L]a vergogna c’era e c’è, concreta, pesante, perenne« (Levi, »I sommersi e i salvati«, in: ders., Opere, Bd. 1, S. 651–822, hier S. 713).

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suchte, kam ins Lager, ohne zu wissen, wie ihm geschah;21 dort übernahm er, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, Verantwortung für andere und scheiterte. Er ist, bei allen mildernden Umständen, die man ihm zubilligen wird, zum Verräter an seinen Kameraden geworden, weil er die zufällig erfolgte, aber freiwillig übernommene Verpflichtung zu altruistischem Handeln seinem egoistischen Überlebensinstinkt opferte.

IV. Die Hölle oder: »le centre des choses« Die Papst-Episode verwandelt Jean-Baptiste Clamence aus einem teilnahmslosen Passanten, der in der Selbstmord-Szene weglief, statt Hilfe zu leisten oder zu holen, in einen aktiven Täter, der, um das eigene Leben zu retten, den Tod Anderer in Kauf nimmt. Dieser biographische Zufall wird durch die Anspielungen auf Dantes Inferno zu einem gültigen Zusammenhang verallgemeinert.22 Schon im ersten Kapitel macht der Ich-Erzähler seinen Gesprächspartner auf die Ähnlichkeit der Stadtanlage Amsterdams mit den Kreisen der Hölle aufmerksam: Avez-vous remarqué que les canaux concentriques d’Amsterdam ressemblent aux cercles de l’enfer? L’enfer bourgeois, naturellement peuplé de mauvais rêves. Quand on arrive de l’extérieur, à mesure qu’on passe ces cercles, la vie, et donc ses crimes, devient plus épaisse, plus obscure. Ici, nous sommes dans le dernier cercle. Le cercle des… Ah! Vous savez cela? Diable, vous devenez plus difficile à classer. Mais vous comprenez pourquoi je puis dire que le centre des choses est ici […]. (LC 702f.)

Der Ort des Gesprächs, am Amsterdamer Hafenbecken, in unmittelbarer Nachbarschaft des ehemaligen Jüdischen Viertels, wird dem letzten Kreis der Hölle, dem Kreis der Verräter, gleichgesetzt. Die augenzwinkernde Verständigung der beiden Gesprächspartner über ein gemeinsames kulturelles Wissen, das nicht weiter verbalisiert werden muss, markiert das Bildungsni21

22

Diese Erfahrung spiegelt sich in der zu einem früheren Zeitpunkt berichteten Anekdote des »petit Français«, der im Konzentrationslager Buchenwald, unter allgemeinem Gelächter, seine Unschuld beteuerte (LC 733). Die Passage entspricht fast wörtlich einem Eintrag aus dem Jahr 1952 in den Carnets (Camus, Œuvres complètes, Bd. 4, S. 1138). Für eine ausführlichere Darstellung der Dante’schen Intertextualität in La Chute siehe Peter Kuon, »Die Freiheit der Wahl – Inferno, Purgatorio und Paradiso in La chute von Albert Camus«, in: ders., »lo mio maestro e ’l mio autore«. Die produktive Rezeption der Divina Commedia in der Erzählliteratur der Moderne, Frankfurt a.M. 1993, S. 178–207.

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veau, das Camus bei seinen Lesern voraussetzt. Die Leser, die der Suchaufforderung des Textes Folge leisten, werden im Laufe des ersten Kapitels, das, nebenbei bemerkt, dem Eintritt Dantes und Vergils in den tiefsten Höllenkreis nachgebildet ist,23 bemerken, dass Clamence, im Unterschied zu Vergil, ein zynischer Führer ist, der den Amsterdam-Touristen, in der Rolle der Dante-Figur, von den Annehmlichkeiten der Hölle überzeugen möchte: »Belle ville, n’est-ce pas?« (LC 698). Offen bleiben muss, ob sie auch verstehen, »pourquoi […] le centre des choses est ici« (LC 703). Die Höllenmetaphorik wird im vierten Kapitel, als Clamence auf die Gleichgültigkeit des modernen Menschen zu sprechen kommt, wieder aufgegriffen und vertieft: En somme, nous voudrions, en même temps, ne plus être coupables et ne pas faire l’effort de nous purifier. Pas assez de cynisme et pas assez de vertu. Nous n’avons ni l’énergie du mal, ni celle du bien. Connaissez-vous Dante? Vraiment? Diable. Vous savez donc que Dante admet des anges neutres dans la querelle entre Dieu et Satan. Et il les place dans les Limbes, une sorte de vestibule de son enfer. Nous sommes dans le vestibule, cher ami. (LC 735)

Die Reflexion ist eingebettet in die Besichtigung der Insel Marken in der Zuidersee, wo Clamence seinem Gesprächspartner außerhalb des idyllischen Dorfes »le plus beau des paysages négatifs« (LC 729) zeigt. In der matten Grau-in-Grau-Tönung der verlassenen Küstenlandschaft spiegelt sich die Unentschlossenheit des modernen Menschen, der, wie die in den Vorhof der Hölle24 Verdammten Dantes (»l’anime triste di coloro / che visser sanza ’nfamia e sanza lodo«, Inf. III, 35f.),25 weder dem Trieb zum Guten noch zum Bösen gehorcht. Die Konnotierung Amsterdams als ersten und zugleich letzten Kreies der Hölle macht einen Zusammenhang sichtbar, der das eingangs erwähnte historische Verbrechen, die Deportation und Ermordung der 75 000 Amsterdamer Juden, überhaupt erst ermöglichte: den Zusammenhang von Gleichgültigkeit und Verrat. Nicht erst das aktive Handeln der Milizionäre, schon das 23

24

25

So verweist u. a. der Barkeeper auf den Riesen Nimrod, die Mexico-City-Bar auf den Höllenfluss Kokytos (frz. Cocyte), der Nebel, das Eis, die Kälte, die Dunkelheit Amsterdams, seine Kanäle, Deiche, Brücken evozieren die explizit holländisch (friesisch) konnotierte Atmosphäre des neunten Kreises (siehe Kuon, »Die Freiheit der Wahl«, S. 183–185). Bei Dante sind Vorhof (»vestibolo«), als Aufenthaltsort der Gleichgültigen, und Vorhölle (»limbo«), als Aufenthaltsort der edlen Heiden, klar voneinander geschieden. Die Göttliche Komödie wird nach folgender Ausgabe zitiert: Dante Alighieri, La Divina Commedia, 3 Bde., Umberto Bosco/Giovanni Reggio (Hrsg.), Firenze 1979.

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passive Wegschauen der Bevölkerung hat die Juden ihren nationalsozialistischen Mördern ausgeliefert. Verrat hat Gleichgültigkeit zur Voraussetzung. In der beiläufigen Metaphorisierung der Dünen auf der Insel Marken als »tas de cendres« (LC 729) wird deutlich, dass der Fluchtpunkt menschlicher Indifferenz Auschwitz ist.

V.

Katastrophe und Gedächtnis

Es ist Clamence, der unter Verweis auf zwei Inferno-Passagen den Konnex zwischen Gleichgültigkeit und Verrat stiftet und sein individuelles Versagen mit dem kollektiven Versagen verknüpft, das den Genozid an den europäischen Juden möglich machte. Die Schlussfolgerungen, die er daraus für den Umgang mit der Katastrophe zieht, werden freilich auf einer anderen – impliziten – Textebene, wiederum im Rekurs auf Dante, unter Generalverdacht gestellt. Sein Zimmer, in dem er den Amsterdam-Touristen zu einem letzten Gespräch empfängt, liegt im ehemaligen Jüdischen Viertel, also dem Teil der Stadt, den er selbst mit dem letzten Kreis der Hölle assoziiert. »Giudecca« – die italianisierte Form von Iudaica, wie in mittelalterlichen Dokumenten das Ghetto der Juden genannte wurde26 – ist in der Divina Commedia der Name des vierten und innersten Bereichs des neunten Höllenkreises, des Bereichs der Verräter an Kirche und Imperium. Der Ort, der bei Dante durch seine Benennung an den Verrat der Juden an Christus erinnert, wird in La Chute zum Ort des Verrats der Christen an den Juden umgewertet. Im Mittelpunkt der Hölle und zugleich am tiefsten Punkt des Universums befindet sich der dreiköpfige Luzifer, der in seinen drei Mäulern Judas, Brutus und Cassius zerquetscht. Die Eismassen des Kokytos, in dessen Bett er mit Rumpf und Beinen eingelassen ist, machen ihn bis zur Brust bewegungsunfähig. Wenn er ohnmächtig mit seinen riesigen Fledermausflügeln schlägt und dabei den eisigen Höllenwind erzeugt, der alles um ihn her gefrieren lässt (Inf. XXXIV, 49–51), sieht er von Weitem wie eine Windmühle aus (4–9). Auch Clamence liegt zu Beginn des Schlusskapitels, bei verriegelter Tür, unbeweglich in seinem Bett. Seine Versuche aufzustehen, exaltiert abzuheben, im übertragenen Sinn: zu fliegen (»Oui, je m’agite, comment resterais-je sagement couché? Il me faut être plus haut que vous, mes pensées me soulèvent.« LC 763), scheitern allesamt. Am Ende sinkt er erschöpft ins Bett zurück. Sein von Fieberanfällen unterbrochener Schüttelfrost symbolisiert, wie bei Dante, die 26

Siehe in der benutzten Divina Commedia-Ausgabe den Kommentar von Giovanni Reggio zu Inf. XXXIV, 11.

238

Peter Kuon

Kaltherzigkeit des Verräters, der die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen aufgekündigt hat. Die Konnation des Ich-Erzählers als Luzifer-Figur wirft ein neues Licht auf die »Lösung«, die er für den Umgang mit seinen persönlichen Traumata gefunden haben will. Zu Luzifer wird Clamence nicht deshalb, weil er in der Papst-Episode und später in der Freitod-Szene durch Handeln und durch Unterlassen versagt hat, sondern weil er, »bugiardo e padre de menzogna« (Inf. XXIII, 144), sein Versagen mit dem teuflischen Plan zu tilgen sucht, seine Mitmenschen zum Eingeständnis ihrer Schuld zu bewegen, um sich selbst von Schuld reinzuwaschen.27 Der Versuch, persönliche Schuld in kollektiver Schuld gewissermaßen spurlos aufgehen zu lassen, entfaltet vor dem Hintergrund der zahlreichen Anspielungen auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges in La Chute eine bestürzende Aktualität. Haben während des Zweiten Weltkriegs nicht Abertausende Schuld auf sich geladen, weil sie wegschauten, weil sie mitmachten, weil sie, im schlimmsten Falle, Täter wurden? Haben sich ab den 1950er Jahren dann nicht Abertausende in Amnesie geflüchtet und, wenn dann doch ein traumatischer Rest störte, das schlechte Gewissen vergesellschaftet, um sich die Absolution zu erteilen? In La Chute wirft Albert Camus die Frage auf, was es bedeutet, in Amsterdam (und anderswo) einen Ort der Auslöschung, der Auslöschung der europäischen Juden, zu bewohnen. Oder, allgemeiner, mit den Worten Shoshana Felmans: »What does it mean to inhabit history as crime, as the space of the annihilation of the Other?«28 Und er analysiert in der Figur des Jean-Baptiste Clamence eine Antwort, die es erlaubt, mit den Verbrechen der Geschichte zu leben. Wo niemand ohne Schuld ist, so argumentiert der Buß-Richter, kann keiner zur Rechenschaft gezogen werden.29 Wo Geschichte zur Hölle 27

28 29

Diesen Übergang vom »bystander« zum »victimizer« hebt vor allem LaCapra, »Rereading Camus’s The Fall«, S. 86, hervor. Felman, »The Betrayal of the Witness: Camus’ The Fall«, S. 189. Diese Antwort weist ein Argumentationsmuster auf, das Hannah Arendt 1964 in dem fiktiven Urteilsspruch, der ihren Prozessbericht Eichmann in Jerusalem beschließt, luzide analysieren wird: »Sie [Eichmann] haben auch gesagt, daß Ihre Rolle in der ›Endlösung der Judenfrage‹ ein Zufall gewesen sei und daß kaum jemand an Ihrer Stelle anders gehandelt hätte, ja daß man gleichsam jeden beliebigen Deutschen mit der gleichen Aufgabe hätte betrauen können. Daraus würde folgen, daß nahezu alle Deutschen so schuldig sind wie Sie, und was Sie damit eigentlich sagen wollten, war natürlich, daß, wo alle, oder beinahe alle, schuldig sind, niemand schuldig ist.« (Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Granzow, München, Zürich 2008 (1964), S. 402).

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wird, in die zu kommen alle ohne Unterschied und ohne Ausnahme verdammt sind, ist sie in aller Un-Schuld wieder bewohnbar. So gesehen wird Geschichte in La Chute in der Tat von der Hölle aus betrachtet, wobei freilich beachtet werden muss, dass nicht Camus, wie Sartre ihm vorwarf, ein solches Geschichtsbild vertritt,30 sondern die von ihm geschaffene Luzifer-Figur.31 Doch Jean-Baptiste Clamence32 ist ein falscher Prophet: »Élie sans Messie« (LC 751). Seine Diskursstrategie wird denn auch im Verlauf der Erzählung durch verschiedene gegenläufige Strategien dekonstruiert.33 Es ist vor allem die rhetorische Abwehr aller Alternativen zu der von ihm verfochtenen Lösung, die ex negativo die Möglichkeit eines anderen Verhaltens aufzeigt. Die Sätze, die Clamence am Ende des Gesprächs an sein Gegenüber richtet, er möge mit eigenen Worten die Unmöglichkeit altruistischen Handelns unter Einsatz des eigenen Lebens bekennen, fordern diesen (und mit ihm den Leser) zum Widerspruch geradezu heraus: Prononcez vous-même les mots qui, depuis des années, n’ont cessé de retentir dans mes nuits, et que je dirai enfin par votre bouche: »Ô jeune fille, jette-toi encore dans l’eau pour que j’aie une seconde fois la chance de nous sauver tous les deux!« Une seconde fois, hein, quelle imprudence! Supposez, cher maître, qu’on nous prenne au mot? Il faudrait s’exécuter. Brr…! L’eau est si froide! Mais rassurons-nous! Il est trop tard, maintenant, il sera toujours trop tard. Heureusement!

Es wird immer zu spät sein, wenn niemand bereit ist zu springen. Und es wird immer zu spät sein, wenn diejenigen, die nicht gesprungen sind, die durch Unterlassen oder Handeln Schuld auf sich geladen haben, im Nachhinein keine Scham und keine Reue zeigen. In den 1950er Jahren war die Shoah ein leerer Ort, den es, wie das jüdische Viertel in Amsterdam, zu ›umgehen‹ galt. Dieses Umgangene, Unterdrückte, Verdrängte, das wie Clamences Malariaschübe immer aufs Neue die Gegenwart heimsuchte, in Erinnerung zu überführen, hätte bedeutet, dass jeder Einzelne seine persönliche Verantwortung, zwischen Gleichgültigkeit und 30

31 32

33

»Engagé dans l’Histoire, comme vous, je ne la vois pas à votre manière. Je ne doute pas qu’elle ait ce visage absurde et terrible pour ceux qui la regardent des Enfers: c’est qu’ils n’ont plus rien de commun avec les hommes qui la font« (Jean-Paul Sartre, »Réponse à Albert Camus«, in: ders., Situations, IV, Paris 1964, S. 90–125, hier S. 122; zuerst in: Les Temps Modernes, 82/1952, S. 333–354). Vgl. dagegen Felman, »The Betrayal of the Witness: Camus’ The Fall«, S. 178f. Zu den intertextuellen Anspielungen auf Johannes den Täufer, »vox clamantis in deserto« (Mt. III, 1–17), siehe Klaus Friedrich, »La Chute«, in: Walter Pabst (Hrsg.), Der moderne französische Roman, Berlin 1968, S. 273–293, hier S. 276. Zu den wiederholten Verweisen auf Dantes Purgatorio und Paradiso, die die von Clamence negierte Möglichkeit der Läuterung und Erlösung in Erinnerung halten, siehe Kuon, »Die Freiheit der Wahl«, S. 198–204.

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Peter Kuon

Verrat, übernommen hätte. Albert Camus stellt in La Chute am Beispiel des individuellen Versagens seiner Erzählerfigur und ihrer Weigerung, sich der eigenen Verantwortung zu stellen, das kollektive Versagen der europäischen Gesellschaften dar, ein Gedächtnis der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, das nicht auf Verdrängung gegründet ist, herauszubilden.

Das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald

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Rolf G. Renner (Freiburg)

Umschreiben und Erschreiben Das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald1

Vorüberlegungen Dass die Erfahrung historischer Katastrophen Formen der Erinnerung hervorbringt, die zu einer psychologischen wie einer ästhetischen Modellierung drängen, ist zu einem Topos der Sozial- und Literaturwissenschaften geworden. Die Fokussierung auf das Thema der Memoria hat den Blick zugleich auf einen Funktionswandel des Ästhetischen in der Moderne gelenkt. Sowohl am Beginn der europäischen Moderne wie an ihrem Ende, beim Eintritt in die Postmoderne, ist das Thema der Erinnerung mit dem Entwurf individueller und kultureller Identität verknüpft. Dabei kam der Emanzipation der ästhetischen Imagination von der Memoria zu Beginn des 19. Jahrhunderts besondere Bedeutung zu, sie modellierte zugleich eine Strategie der Transformation traumatischer Erinnerungen.2 Die im Werk von Jorge Semprún und W.G. Sebald präsentierten Bilder der nationalsozialistischen Diktatur wiederholen diese historische Wechselbeziehung von Imaginatio und Memoria, gleichzeitig machen sie unter unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen deutlich, wie die Erinnerung und die ästhetische Simulation von Erinnerung interagieren. Denn im Gegensatz zum Autor Semprún, der über seine tatsächliche historische Erfahrung in der Deportation und im Konzentrationslager Buchenwald berichtet und versucht, diese in mehrfachen Anläufen in ganz unterschiedlichen Geschichten zu verarbeiten und umzuschreiben, liegt dem Text von Sebald kein eigenes Erleben des nationalsozialistischen Terrors zugrunde. Vielmehr rekonstruiert dieser Text, allerdings so überzeugend, als handle es sich um den Text eines Überlebenden, historische Erfahrungen, die er einer fiktiven Figur zuschreibt. Während Semprún tatsächliches historisches Er1 2

Überarbeitete Fassung eines Vortrags am Colegio de México, September 2009. Vgl. dazu grundsätzlich Renate Lachmann, »Kultursemiotischer Prospekt«, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hrsg.), unter Mitwirkung von Reinhart Herzog, Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. XVII–XXVII.

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Rolf G. Renner

leben erinnert und durch Umschreiben bewältigt, folgt Sebalds Text einer durchgängigen ästhetischen Simulation. Der Autor erschreibt und imaginiert Erfahrungen, um dann zu zeigen, wie traumatische Erinnerungen durch ästhetische Transformation bewältigt werden können.

I.

Geschichte als katastrophische Ordnung

Das Werk Semprúns ist durch die historische Katastrophe des Faschismus in mehrfacher Hinsicht zentriert. Historisch, weil diese die Erinnerung vieler seiner Protagonisten und zugleich seine eigene Perspektive auf die Gegenwart bestimmt. Psychologisch, weil sich die Erinnerungen an die Lager und den Holocaust in obsessive Erinnerungsbilder verwandeln, welche die erzählte individuelle Lebensgeschichte ebenso überformen wie die Phantasien des Autors Semprún. Unter einem texttheoretischen Blickwinkel schließlich bildet die Erinnerung an die Lager in Semprúns Texten das Zentrum einer rhetorischen Ordnung, sie markiert den Fluchtpunkt eines Spiels von Metaphern und Metonymien. Eine politische Provokation entfaltet das Werk Semprúns, weil der Autor seine Erfahrungen im KZ Buchenwald nicht, wie es die Gesetze der political correctness in Deutschland erfordern, einem singulären historischen Ereignis zurechnet. Deutscher Faschismus und Holocaust sind für ihn vielmehr vor allem Zeichen einer nicht hintergehbaren katastrophischen Grundfigur von Geschichte, die weder durch Aufklärung noch durch Moral vermieden werden kann. Der lange Zeit überzeugte Rotspanier Semprún nähert sich hier Autoren an, die wie Heiner Müller das totalitäre Herrschaftssystems der DDR als Fortschreibung des Totalitarismus bewerteten oder die wie Alexander Kluge und Oskar Negt den aufgeklärten Glauben an den intellektuellen und politischen Fortschritt grundsätzlich in Frage stellen.3 Diese Leitüberlegung bestimmt von Anfang an den Text, in dessen Zentrum die Erfahrung Semprúns im Lager Buchenwald verarbeitet wird.4

3

4

Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M. 1981, vgl. über »Eigensinn«, S. 766ff. Jorge Semprún, Was für ein schöner Sonntag!, aus dem Französischen von Johannes Piron, Frankfurt a.M. 1984 (Originalausgabe: Quel beau dimanche!, Paris 1980).

Das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald

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II. Erscheinungsformen der Gewalt Am Tag nach der Befreiung des Lagers Buchenwald durch die Amerikaner liest der Häftling Semprún am Schwarzen Brett die Aufforderung, er solle seine aus der Lagerbibliothek entliehenen Bücher – es handelt sich um Hegel, Nietzsche und Schelling – zurückgeben. Als er zu dem für die Bibliothek verantwortlichen kommunistischen Mithäftling bemerkt, nach dem Ende des Faschismus sei wohl kein Lager und also auch keine Bibliothek mehr nötig, stößt er auf völliges Unverständnis. Solange es noch eine Klassengesellschaft gebe, entgegnet ihm dieser, seien nach wie vor Umschulungslager notwendig. Zum Entsetzen Semprúns verwendet der ehemalige Mithäftling für Buchenwald eben jenes Attribut, mit dem das Lager auch von der SS bedacht worden war.5 Für Semprún hat dieses Schlüsselerlebnis zwei Konsequenzen. Zum einen sucht er mit André Malraux nach der Region der menschlichen Seele, wo sich das »absolute Böse« der Brüderlichkeit entgegenstelle. Zum anderen beschreibt er immer wieder die Kontinuität der Gewalt im Wechsel der politischen Systeme. Zwar verkennt der Autor keineswegs, dass die russischen Lager nicht marxistisch in dem Sinne sind, wie die deutschen Lager als nationalsozialistisch und hitlerisch zu bezeichnen sind. Gleichwohl zieht er als Opfer eines nationalsozialistischen KZs eine Parallele zwischen dem bolschewistischen Gulag und dem Terrorsystem der Nazis. Unter dem Blickwinkel eigener Erfahrungen vergleicht er die Normen, die das Innenministerium Hitlers im Jahre 1934 für die Konzentrationslager aufstellt, mit den Grundsätzen, die Tscherschinski bereits im Februar 1919 auf der achten Sitzung des panrussischen exekutiven Zentralkommitees über die Konzentrationslager als eine »Arbeitsschule« entwickelt.6 Als sich in den 1960er Jahren führende Intellektuelle der KPF in einem Buch mit dem Titel Die UdSSR und wir gegen Solschenizyns Gebrauch des Wortes ›Gulag‹ wenden, indem sie betonen, dieses Wort sei nichts anderes als »eine Abkürzung, die sich aus den russischen Anfangsbuchstaben der ›Staatlichen Straf- und Umschulungslager‹« zusammensetze, hält ihnen Semprún entgegen, Solschenizyn habe vor allem »den Gefühlswert « dieser Abkürzung begriffen, die sich »zwischen den Durchschnittswestler« und die Vision der

5

6

Vgl. dazu Jorge Semprún, Schreiben oder Leben, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1997, S. 79f. (Originalausgabe: L’écriture ou la vie, Paris 1994). Ebd., S. 142.

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sozialistischen Welt gestellt habe.7 Unter dem Eindruck dieser Auseinandersetzung liest Semprún von neuem und kritisch den berühmten Brief von Karl Marx an Josef Wedemeyer von 1852, der von der Diktatur des Proletariats im Klassenkampf handelt.8 Aus solchen Verknüpfungen entsteht die historische und politische Provokation von Semprúns Erzählen. Seine intertextuelle Verknüpfung von KZ- und Gulag-Geschichten, die vielen Episoden über Gefährten im KZ, die später in der DDR zu Angehörigen des Polizei-Apparats werden, Erinnerungen an frühere oder spätere theoretische Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Partei, der Gruppe Tel Quel oder der KPdSU führen zu der klaren politischen Einschätzung, dass sich die Utopie des Sozialismus dem humanen gesellschaftlichen Fortschritt entgegengestellt habe. Daraus entsteht für den Autor ein Gefühl der Ausweglosigkeit, das die autobiographische Erinnerung und das politische Urteil zugleich überformt. Konsequenz ist, dass seine Wahrnehmung mit schockhaften Bildern durchsetzt wird, Zeitlöcher und zeitliche Durchblicke transformieren die gegenwärtigen Bilder. Im Juni 1956 erinnert sich Semprún auf der Plaza de Cibeles in Madrid an einen Nachmittag im Oktober 1934, an dem an der gleichen Stelle ein Arbeiter von der Guardia Civil erschossen wurde, und beide Bilder enthüllen eine Kontinuität von Gewalt und Tod. So entfaltet das Erzählen blitzhafte Erkenntnisse, niemals geht das Urteil aus dem Begriff hervor: Es gibt Augenblicke im Leben, in denen die Wahrheit einen brutal ergreift, in einem Durcheinanderwirbeln althergebrachter Vorstellungen, eingewurzelter Empfindungen. Ein Blitz erhellt einem die innere Landschaft, die geistige Welt: alles hat sich verändert. Die Wahrheit enthüllt sich plötzlich.9

Immer wieder sind es Geschichten des Terrors und der Gewalt, die solche Einsichten und Verknüpfungen begründen. Die Niederschlagung der griechischen kommunistischen Freiheitsbewegung Elas durch die Engländer,10 die zum Diskussionsthema der Lagerinsassen in Buchenwald wird, Chruschtschows Bericht über die gemeinsame Ermordung Berijas im Kreml, den er in den 1950er Jahren einer erstarrten Gesellschaft von Mitgliedern der Kommunistischen Internationalen bei einem Essen gibt,11 schaffen ein Flickwerk 7 8

9 10 11

Ebd., S. 144f. Karl Marx, »Brief an Wedemeyer vom 5. März 1852«, in: Marx-Engels-Werke (MEW), 43 Bände (in 45 Büchern), 1956 bis 1990, Berlin (Ost), hier Bd. 28, 1973; Bl. 63. Semprún, Schreiben oder Leben, S. 321f. Ebd. S. 239. Ebd., S. 178.

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von Gewaltsituationen, das bedrohend, amorph und vieldeutig ist wie ein Bild von Francis Bacon.

III. Dialektik der Erfahrung Zudem erweisen sich diese Geschichten der Gewalt für den Berichtenden selbst als gefährlich. Sie zeigen nicht allein, wie das Erlebte das Erzählen einholt,12 sie konturieren auch einen unlösbaren Konflikt, der zentrale Bedeutung in der eigenen Lebensgeschichte erhält. Das Jahr 1944, das der frühere konspirative Akteur der Kommunistischen Partei als Gefangener der Nationalsozialisten erlebt, zieht im Inferno des Krieges und der Vernichtung den Erzählenden selbst in den Kreis des Widerspruchs. Denn der Mann mit der Häftlingsnummer 44509, der in der Abteilung »Arbeitsstatistik« des KZs für die illegale Organisation der KPD arbeitet, entscheidet nun, nicht anders als die, die er bekämpft, selbst über Leben und Tod. Er benutzt die bürokratischen Kryptogramme der SS, um seine ins Lager eingewiesenen Parteigenossen zu retten und dafür andere dem Tod zu überantworten.13 Einerseits bestätigt dieses Eingeständnis, dass im innersten Zentrum der Ordnungen von Gewalt, Vernichtung und Ausbeutung, mit denen das faschistische Deutschland hinter der Front seine Macht sichert, eine bürokratische »Hierarchie des Wissens« steht. Andererseits zeigt sich, dass diese Gewaltordnung ihre spiegelbildliche Entsprechung in der Substruktur des Widerstands findet. Das Überleben der Kommunisten im Lager wird allein durch Anpassung an die Ordnungen der Gewalt gesichert. Dies steht in ebenso scharfem wie makabrem Gegensatz zur Geschichte einiger Juden aus Tschenstochau, welche die Gewalt, die sie erfahren, so internalisiert haben, dass sie auch dann noch Opfer sein wollen, wenn sie frei sein könnten.14 In der Erinnerung daran ist Semprún, der sich in Was für ein schöner Sonntag! an Buchenwald erinnert, nicht anders als Primo Levi und Bruno Bettelheim 12 13

14

Ebd., S. 264. Ebd., S. 202f.; vgl. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 21., vollständige und erweiterte Auflage, München 1974 (Nachdruck Hamburg 2009), S. 87f. (zur Rolle der Abteilung Arbeitsstatistik) und S. 341 (zu den D.I.K.A.L.-Häftlingen). Kogon unterrichtet auch ausführlich über die Rolle der Kommunisten in der internen Verwaltungsstruktur des Lagers (S. 329–335), die Bedeutung der Einlieferungsakte (S. 96f.) und das Instrument der Transportzusammenstellung (S. 340f.). Semprún, Was für ein schöner Sonntag!, S. 258, 260f.; zur Passivität der Opfer vgl. Kogon, Der SS-Staat, S. 400–402, zur »Freund-Feind-Angleichung« und zum »Dankbarkeits-Zwiespalt« vgl. ebd. S. 399.

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verletzt von einem Urteil, das Adornos Negative Dialektik über die Überlebenden von Auschwitz fällt. Dort heißt es: Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten.15

Gegen diese traumatische Erinnerung und das ideologiekritische Urteil bringt Semprún ein Erzählen ins Spiel, das auf Transformation der Erfahrung setzt. In seinem programmatischen Text über Schreiben oder Leben konterkariert Semprún Adornos Diktum über die Unmöglichkeit der Poesie nach Auschwitz, indem er deutlich macht, dass das Trauma der Lager und des Holocaust überwinden und dass weiterleben nur kann, wer seine Erinnerungen an Tod und Gewalt im Schreiben verwandelt, an die Stelle der mimetischen Abbildung und der Erinnerungszeichen die Phantasie setzt, aus dem unglücklichen ein produktives Bewusstsein entstehen lässt.

IV. Umschreiben der Katastrophe Bereits der Name Buchenwald erfährt als Erinnerungsmarke eine Vielzahl von Variationen. Mehrfach beschreibt der Erzähler Semprún seine Lebensgeschichte in Bezug auf diesen Namen und legt dabei unterschiedliche Versionen vor. Der Text der Reise16 dokumentiert die Vorgeschichte und den Ablauf seiner Deportation nach Buchenwald, der Text des Schönen Sonntag variiert diese authentische Geschichte bereits mit Blick auf vorangehende und nachfolgende Ereignisse, der Text von Algarabía schließlich transformiert die Geschichte des KZs in die Utopie einer linken Republik in Paris, deren Binnenstruktur die internen Machtverhältnisse des Konzentrationslagers reproduziert.17 Der Text Der weiße Berg schließlich verwandelt dieses Ereignis in ein kulturelles Zitatspiel.18

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18

Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt a.M. 21984, S. 355f. Jorge Semprún, Die große Reise, aus dem Französischen von Abelle Christaller, Frankfurt a.M. 1981 (Originalausgabe: Le grand voyage, Paris 1963). Jorge Semprún, Algarabía oder Die neuen Geheimnisse von Paris, aus dem Französischen von Traugott König und Christine Delory-Momberger, leicht gekürzte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1985 (Originalausgabe: L’Algarabie, Paris 1981). Jorge Semprún, Der weiße Berg, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1990 (Originalausgabe: La montagne blanche, Paris 1986).

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Diese wiederholte Umschreibung hat eine psychologische und eine poetologische Ursache. Zum einen wird ein lebensgeschichtliches Trauma verarbeitet, indem es erzählbar gemacht wird, zum anderen bringt sich der Wunsch nach einer intellektuellen und sprachlichen Selbstbehauptung zur Geltung. Diese allerdings untersteht einer fundamentalen Spannung, es ist die »Sprachverwirrung«, die bereits zu Beginn des Schönen Sonntags als zentrale Erfahrung der Emigration benannt wird.19 Ausgerechnet die Suche nach der eigenen Sprache wird mit textuellen Strategien unternommen, welche die Identität des Subjekts und seiner Erfahrung in Frage stellen. Substituiert wird diese durch eine interkulturelle Intertextualität. Dies lässt sich paradigmatisch an drei Beispielen erkennen. Was für ein schöner Sonntag! lebt aus dem Rekurs auf Goethe. In Anlehnung an Léon Blums 1901 geschriebene Nouvelles Conversations de Goethe avec Eckermann (1897–1900), die urspünglich anonym in der Revue Blanche veröffentlicht werden, folgt der Erzähler des Schönen Sonntag der Fiktion, dass Goethe auch körperlich unsterblich sei. Dieser habe in Antwort auf Paul Valérys berühmten Discours en l’honneur de Goethe vom 30. April 1932 eine Rede von jenseits des Grabes verfasst, die noch einmal, wie der Text uns versichert, »die Goethesche Synthese des klassischen Geistes und der Faustischen Dämonie« zusammenfasste.20 Doch weil dieses Dokument im Jahr 1932 durch den Faschismus obsolet wird, will der von Semprún am Leben gehaltene Goethe ein neues Buch mit dem Titel Goethes Gespräche mit Léon Blum veröffentlichen. Dieses von Goethe gewünschte Buch Eckermanns erzählt Semprún zuerst als eine Phantasie des auf dem Ettersberg inhaftierten wirklichen Léon Blum.21 Der weiße Berg dagegen nimmt ständig Bezug auf das Leben und das Werk Franz Kafkas. Mit Blick auf ihn erfahren und reflektieren die Protagonisten ihre eigenen Beziehungen. Dabei rückt die wirkliche Biographie Kafkas, seine Trennung von Felice, wiederum nur vermittelt in den Romantext ein, nämlich unter dem Blickwinkel eines dort zitierten Theaterstücks über den Askanischen Hof.22 Unter Bezug auf dieses fiktive Stück über Kafka erfährt der Protagonist von Semprúns Roman seine eigenen Beziehungen zu Frauen.

19 20

21 22

Semprún, Was für ein schöner Sonntag!, S. 105. Vgl. dazu Œuvres de Paul Valéry, Bd. 5: Discours, Paris 1935, S. 85–114, bes. S. 96–98 und L’Œuvre de Léon Blum, Bd. 1: Critique littéraire. Nouvelles conversations de Goethe avec Eckermann. Premiers Essais politiques. 1981–1905, Paris 1954, S. 193–335. Semprún, Was für ein schöner Sonntag!, S. 289. Semprún, Der weiße Berg, S. 95.

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Auch Algarabía entfaltet eine intertextuelle Strategie, die Fakten, Fiktionen, Ideologien und unterschiedliche Medien miteinander verknüpft.23 Mit seinem Untertitel Die neuen Geheimnisse von Paris schließt sich dieser Text ganz bewusst an Trivialromane des 19. Jahrhunderts an.24 So können an einer besonders markanten Stelle beispielsweise die Erinnerung an die spanische Zarzuela des Corte de Faraón, an die Beschreibung eines Frescos von Delacroix und an die gleichzeitige Paraphrase des Baudelaire’schen Kommentars zu diesem Fresco im Bewusstsein des Protagonisten ebenso ineinander übergehen wie die miteinander verschränkten Geschichten der Protagonisten.25

V.

Intermediale Strategien

Die bei Semprún zunächst reflexiv, bei Sebald durch visuelle Suggestion geleistete Präsentation traumatischer Orte und Erfahrungen führt bei beiden Autoren zu einer Gegenbewegung, die ebenfalls mit der Entfaltung von Bildkomplexen verknüpft ist. Der diskursiven Einsicht Semprúns und den Bildern leidender Erinnerung bei Sebald wird eine phantasmatische visuelle Suggestion entgegen gesetzt. Für beide Autoren ist kennzeichnend, dass sie dabei unterschiedliche Strategien der Intermedialität benutzen. Bei Semprún ist die Erinnerung an die Lager und den Holocaust aus einem intermedialen Spiel von Text und Bild entfaltet, das sich auf kulturelle Zeugnisse zentriert und neben Bezüge auf die moderne Literatur solche auf die europäische Malerei setzt. Sebalds Text jedoch entfaltet ein intermediales Spiel, indem er neben Referenzen auf die Literatur der Moderne Bezüge auf die Medien von Fotografie und Film stellt. Bei beiden Autoren beginnt die intermediale Strategie mit der Konzentration auf begrenzte Elemente, die erst später Deutungszusammenhängen zugeordnet werden. Bei Semprún stehen am Beginn seiner intermedialen Strategie die Konzentration auf Farben und Farbattribute, bei Sebald entwickelt sich die intermediale Bilderfolge aus der Wahrnehmung kleiner ornamentaler Strukturen, die schließlich Bildkomplexe zu organisieren beginnen, bevor sich die visuellen Signale autonomisieren. Deshalb ist der Weiße Berg in Prag, der an die böhmische Niederlage gegen Habsburg und an das Ende des Königreichs Böhmen im Jahr 1620 erinnert, bei Semprún nicht nur ein historischer Fluchtpunkt, von dem aus un23

24 25

Zur »postmodernen« Erzählhaltung von Algarabía vgl. Rolf G. Renner, Die postmoderne Konstellation. Text, Theorie und Kunst im Ausgang der Moderne, Freiburg 1988, S. 330–352. Semprún, Algarabía, S. 287, 356f. Ebd., S. 79, 116f., 186f.

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terschiedliche Lebensgeschichten und geschichtliche Ereignisse erzählt werden.26 Durch sein Farbattribut wird dieser historische Ort in der Ordnung des Textes auch zu einer zentralen Metapher, die eine für Semprún typische, zugleich rhetorische und visuelle Strategie der Verknüpfung erschließt. In vielen Bildern seiner Protagonisten dominiert die Farbe Blau, diese wiederum steht in offenkundigem Bezug zu einem Bild, das in der Biographie der Protagonisten eine besondere Bedeutung hat:27 Es ist Joachim Patinirs El paso de la laguna Estigia, das im Prado in Madrid zu sehen ist.28 In diesem wie in anderen Bildern Patinirs dominiert die Landschaft, die in phantastischer Verfremdung erscheint, zum einen ebenfalls durch ihre Farbe, zum anderen dadurch, dass Patinir den Landschaften stets einige Details einzeichnet, die es wie in einem Rebus zu entdecken gilt. Im Fall der Überfahrt über den Styx steht zunächst die Farbe Blau, die Patinir berühmt gemacht hat, im Zentrum der Unterhaltungen von Semprúns Protagonisten. Und das Detail, das es in der phantastisch verfremdeten Landschaft zu entdecken gilt, ist ein Hase, der ins Laubwerk eingemalt ist.29 Das Blau von Patinirs Überfahrt aber erhält nun im Text Semprúns eine doppelte Funktion. Einerseits stellt es einen Bezug zu den anderen im Text erzählten Bildern her: Alle Bilder, über die sich die Protagonisten unterhalten und in denen sie ihre Beziehungen spiegeln, nehmen implizit oder explizit auf Patinirs Blau in der Überfahrt Bezug.30 Andererseits wird die Farbe Blau zur Metapher der Erinnerung selbst. Diese aber wird zugleich mit Referenz auf andere kulturelle Zeichen entwickelt. Die Kontinuität der Erinnerung verbürgt für Semprún, so erkennen wir hier, nicht die individuelle Geschichte, sondern allein das Kontinuum der kulturell kodierten Zeichen. Nicht zufällig ist mit der Beschreibung eines Hellen Seestücks, das sich auf Patinirs Blau bezieht, eine andere Bildbeschreibung verknüpft, in deren Zentrum ebenfalls die Farbe Blau steht und die es gleichermaßen mit dem Thema der Erinnerung zu tun hat: es ist eines der bei Proust zitierten Seestücke des Malers Elstir.31 26

27 28 29 30 31

Semprún, Der weiße Berg, S. 241. Dazu wird der Prager Aufstand gegen die UdSSR parallel gesetzt. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 18. Ebd., S. 12, 87f., 193ff., 222. So etwa im Weißen Berg, S. 165f.; vgl. dazu: »[L]e ciel était tout entier fait de ce bleu radieux et un peu pâle comme le promeneur couché dans un champ le voit parfois au-dessus de sa tête, mais tellement uni, tellement profond, qu’on sent que le bleu dont il est fait a été employé sans aucun alliage et avec une si inépuisable richesse

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Auf diese Weise wird die literarische Memoria in Semprúns Schreiben neu bestimmt. Denn das ästhetische Bild, das visualisierte wie das imaginierte, das ihm zuarbeitet, entfernt sich von den authentischen Bildern der Erinnerung. Es eröffnet einen Raum der Phantasie, der die Gesetze des Sehens ebenso überwindet, wie die Gebundenheit der Erfahrung an Zeit. Deshalb sind die kulturell und intertextuell codierten Bilder in Semprúns Text immer ikonographische und metaphorische Zeichen zugleich. Sie zentrieren die bewusste Erinnerung und das kulturelle Gedächtnis ebenso wie die Ordnung des Unbewussten. Dabei inszenieren sie ein Spiel von Figuration und Defiguration, das die Dialektik der Geschichte ebenso transformiert wie die individuelle Erfahrung der Katastrophe. Damit wird deutlich, dass sich Semprúns Erzählen nicht mehr darauf beschränkt, das Erlebte zu bewahren und damit nur den Tod zu verlängern. Durch eine spielerische Reorganisation und Transformation der überlieferten Bilder sprengt es vielmehr mit der kulturellen zugleich die biographische Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart. Die kulturell codierte Erinnerung wird damit zu einem ästhetischen Spiel und einem Lebensspiel zugleich. Dieses legt klar, dass leben nur kann, wer seine Erinnerungen an Tod und Gewalt im Schreiben verwandelt, an die Stelle der mimetischen Abbildung und der Erinnerungszeichen die Phantasie setzt. Das Spiel mit den Zeichen von Kultur, Geschichte und individueller Erfahrung wird zur subversiven Reaktion auf eine historische Konstellation von Erfahrung und Bewusstsein. Es entfaltet eine Kritik, die sich jenseits der Begriffe artikuliert, welche die leidende Erfahrung nur weiterschreiben.

VI. Erschreiben der Katastrophe Von hier lassen sich Perspektiven auf das Werk Sebalds32 entwickeln, die zugleich eine fundamentale Differenz eröffnen. Diese zeigt sich zunächst bei der unterschiedlichen Behandlung historischer Bezüge und Sachverhalte, dann in deren Transformation in Bilder der Phantasie, schließlich aber im intermedialen Bezug auf andere Medien. Während Semprún das authentische Buchenwald schildert, konstruiert Sebald eine imaginäre Topologik. Gleichzeitig erschließt er durch visuelle Konfigurationen, was Semprún in diskursiver Logik entwickelt. Dies ge-

32

qu’on pourrait approfondir de plus en plus sa substance sans rencontrer un atome d’autre chose que de ce même bleu.« (Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, Jean-Yves Tadié (Hrsg.), 4 Bände, Paris 1987–1989, Bd. III, S. 906f.) W.G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt a.M. 42003.

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schieht zunächst allerdings auch auf der Grundlage einer intertextuellen Referenz, für die der Bezug auf Proust konstitutiv ist; zweifellos orientiert sich Sebald an dessen Schreibtechnik.33 Auch Prousts À la recherche du temps perdu lässt die Erinnerung des Protagonisten ständig von Bildern ausgehen. Deren Besonderheit liegt darin, dass sie einerseits von jedem erkannt werden können; es handelt sich bei Proust immer um kulturelle Bilder, um Bilder aus der Tradition der Malerei. Gleichzeitig aber zeigt sich, dass der Protagonist diese Bilder häufig durch sexuelle Phantasien überformt. Ein Musterbeispiel dafür ist etwa, dass sich über seine Erinnerung an Giottos Engel der Caritas sofort die andere Erinnerung an ein Hausmädchen, an eine femme de chambre legt, zu der er als Kind eine besondere Beziehung hatte. Zudem erinnert ihn das dunkle Blau, das er auf Giottos Bildern sieht, insbesondere in der Arena-Kapelle in Padua, an den Mantel seiner Geliebten, damit ebenfalls wiederum an erotische Episoden.34 Die Interaktion von Text und Bild schafft bei Proust also ganz bewusst Vieldeutigkeiten: Viele Bilder, aber damit zusammenhängend auch viele Textpassagen, werden auf mehrfache Weise lesbar. Dieser Doppeldeutigkeit der Bilder korrespondiert die Rhetorizität der Sprache in der Recherche, in deren Zentrum die sogenannte »metonymische Metapher« steht.35 Sie kennzeichnet den Sachverhalt, dass in einem literarischen Text Bedeutungen aufgebaut und gleichzeitig wieder vernichtet oder verändert werden können, weil die Metapher gleichzeitig auf völlig unterschiedliche Bezugsfelder gerichtet ist. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Madeleine, die Marcel beim Tee auf der Zunge zergehen lässt.36 Diese Madeleine wird bei Proust nicht nur als Gebäck beschrieben, vielmehr ist sie auch ein Zeichen für das weibliche Geschlecht und schließlich für eine weibliche Gottheit, eine Meeresgöttin.37

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36 37

Dazu grundsätzlich Rolf G. Renner, »Intermediale Identitätskonstruktion. Zu W.G. Sebalds Austerlitz«, in: Gerhard Fischer (Hrsg.), W.G. Sebald. Schreiben ex patria/ Expatriate Writing, Amsterdam/New York 2009, S. 333–347. Proust, À la recherche du temps perdu, Bd IV, S. 225; dazu grundsätzlich Karlheinz Stierle, »Marcel in der Arena-Kapelle«, in: Rainer Warning (Hrsg.), Marcel Proust. Schreiben ohne Ende, Frankfurt a.M. 1994, S. 179–202, hier S. 192. Dazu grundsätzlich Gérard Genette, »Métonymie chez Proust«, in: Poétique, 2/1970, S. 156–173 und weiterführend Paul de Man, »Reading«, in: ders., Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, Yale 1979, S. 57–78, hier S. 73. Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. I, S. 46f. Vgl. dazu Serge Doubrovsky, La place de la Madeleine. Écriture et phantasme chez Proust, Paris 1974, S. 39.

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Was Proust rhetorisch und durch die Bilder unserer Imagination entfaltet, realisiert Sebald mit seinen in den Text eingebauten Bildern, die vermeintlich beliebig über den Text verstreut sind. Wie bei Proust bilden diese Bilder in Sebalds Text Sequenzen, die aufeinander bezogen sind und im Fortgang des Erzählens einer immer präziseren Deutung unterzogen werden. Ich gebe ein ganz kleines Beispiel: Scheinbar beiläufig zeigt der Text schon am Anfang ein geometrisches Muster, das Austerlitz in einem Hausflur in Prag auf dem Fliesenboden wahrnimmt. Später wird deutlich, dass diese geometrische Figur imaginativ und zugleich suggestiv mit anderen Bildern verbunden wird, die eine vergleichbare Form haben. Dabei treten neben die Abbildungen wirklicher auch die Beschreibungen phantastischer Räume, Schilderungen von Piranesi. Die dieser ornamentalen Grundstruktur korrespondierenden architektonischen Ordnungen – Bahnhöfe in Belgien, Vaubans Architekturrisse, auch das Fort Breendonk, später das Konzentrationslager Theresienstadt, schließlich die neue Bibliothèque Nationale in Paris – erscheinen dem Erzähler als »Emblem[e] der absoluten Gewalt«.38 Das Lager von Theresienstadt verbürgt nicht allein das totalitäre System, in ihm erhält die Planungslogik selbst totalitäre Züge, die sich auch in Schrift niederschlagen. Die so visualisierte Verbindung von Architektur und Macht, Macht und Schrift, die Foucaults These vom Zusammenhang der Ordnung des Diskurses mit den Dispositiven der Macht ins Bild setzt, findet ihren Höhepunkt in der Abbildung und Beschreibung der neuen Bibliothèque Nationale in Paris. Zum einen ist diese Bibliothek dort errichtet, wo während des Zweiten Weltkriegs die Hinterlassenschaft der deportierten jüdischen Bevölkerung in vielen Lagerhäusern registriert und aufbewahrt gewesen sein soll. Über diesen Sedimenten der Geschichte der Gewalt erhebt sich die cartesianische Architektur der Bibliothek. Die Bahnhöfe, die Lager und das System der Ghettos unterstehen der Geometrie und der Zahl, die wie die Schrift und der Begriff die Selbstermächtigung des Menschen im Zeitalter der Repräsentation verbürgt. Nicht zufällig werden ein Bild des Lesesaals der alten Bibliothèque Nationale und das Archiv des Konzentrationslagers Theresienstadt einander zugeordnet. Mit dieser Zuspitzung folgt Sebald der Einschätzung von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, dass Totalitarismus und Faschismus aus dem Zentrum der Kultur heraus entstanden sind.39

38 39

Sebald, Austerlitz, S. 27. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (= Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3), Frankfurt a.M. 21984, S. 13, S. 22.

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VII. Phantasien der Verwandlung Auch bei Sebald entfaltet die visuelle Wahrnehmung als Modus der Erinnerung zugleich eine phantasmatische Kraft, die durch eine Verwandlung des Realen ins Imaginäre traumatische Erfahrungen überwindet und zugleich poetische Bilder freisetzt. Damit folgt Sebalds Text der Einsicht von Ernst Gombrich, dass jede visuelle Wahrnehmung kulturelle Register und unbewusste Orientierungen miteinander verschränkt.40 Am Beispiel eines Museumsbesuches, bei dem der Protagonist die Flucht nach Ägypten dargestellt sieht,41 lässt sich zudem sehen, dass es auch in der visuellen Erinnerung Bilder gibt, deren Funktion den »mots carrefours« der sprachlichen Ordnung vergleichbar ist.42 Diese Bildkomplexe weisen auf kollektive und individuelle Mythen, die Wahrnehmung und Erinnerung gleichermaßen durchkreuzen. Einem kollektiven Inbild entspricht die Erinnerung an den Weg des Moses aus Ägypten, der durch die Phantasie einer Zeltstadt im Wüstengebirge imaginiert wird,43 die eine Ansichtskarte von Austerlitz wiederum mit einem historischen Feldzug in Ägypten verbindet.44 Dem korrespondiert ein Bild, das Austerlitz’ Gedächtnis als Leitphantasie wählt, die Erinnerung an eine in der Kindheit gesehene Theaterkulisse, die den eigenen Erlebnisraum als imaginäres Szenario entwirft. Diese im Text nicht offen miteinander verknüpften Bilder zeigen dem Erzähler, dass »es für Austerlitz Augenblicke gab ohne Anfang und Ende und daß ihm andererseits sein ganzes Leben bisweilen wie ein blinder Punkt ohne jede Dauer erschien«.45 Die durch Assoziationen überformten wirklichen Bilder werden zum Beleg dafür, dass die Erinnerungen der Phantasie aus immer neuen Bahnungen entstehen und dass sie die leidvolle Erinnerung ablösen können. Vergleichbares geschieht im Verlauf einer Reise in Deutschland, die Austerlitz nicht nur in das traumatisch wirkende Nürnberg, sondern auch an den Rhein führt. Dort erkennt der Protagonist, dass ihn der Turm im Stausee von Vyrnwy schon immer unbewusst 40

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43 44 45

Ernst H. Gombrich, Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart 1984, S. 11, vgl. auch ders., Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart/Zürich 1978. Zu den psychoanalytischen Implikationen des »Blickhafte[n] im Bild« vgl. Jacques Lacan, »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse«, in: ders., Das Seminar, Band 11, Olten 1980, S. 107 sowie S. 90. Sebald, Austerlitz, S. 177. Zu diesem Begriff vgl. Claude Simon, »La fiction mot à mot«, in: Jean Ricardou/ Françoise van Rossum-Guyon, (Hrsg.), Nouveau Roman: hier, aujourd’hui, Bd. II: Pratiques, Paris 1972, S. 73–97, hier S. 95. Sebald, Austerlitz, S. 86f. Ebd., S. 174. Ebd., S. 173.

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an den Mäuseturm im Binger Loch erinnert hatte. Das Heimliche wird zwar zunächst zum Unheimlichen, doch gleichzeitig führen die sich in der Erinnerung überlagernden Bilder zu einer Durcharbeitung der traumatischen Erfahrung von Entfremdung. Gerade diese befreit den Protagonisten am Ende auch vom Zwang der historischen Ordnung.

VIII. Gewalt der Medien Diese Transformation des imaginierten Schreckens in Bilder der Phantasie, die Semprúns kultureller Transformation des Schreckens korrespondiert, erhält bei Sebald jedoch eine intermediale Kontrafaktur durch den Bezug seines Textes auf die modernen Medien Fotografie und Film. Gerade an diesem Bezug wird deutlich, dass der intellektuellen Verstörung seines Protagonisten eine Störung seiner sinnlichen Wahrnehmungen entspricht. Ohr und Auge werden bei ihm durch die Erfahrung des Schreckens auf ihre körperhafte Funktion reduziert und von ihrer intellektuellen Steuerung abgekoppelt. Besonders beim Sehen wird dies deutlich. Der Erzähler, der mit den Augen von Austerlitz dessen Weg nachvollzieht, erleidet eine visuelle Störung, eine Choreoretinopathie, welche die wahrgenommenen Bilder verzerrt. Übereinstimmend damit sind die Bilder in Sebalds Text niemals verlässliche Abbilder, sie geben keine dauerhafte Orientierung, sondern sie führen in Dissoziationen. Diese entstehen in der Interaktion zwischen Bild und Betrachter, im Spannungsfeld von Blick und Bild. Damit korrespondiert Sebalds Erinnerungsstrategie den medientheoretischen Überlegungen von McLuhan; der Wechsel vom linearen Medium der Schrift, vom heißen Medium, zum interaktiven Medium der Bilder, zum kalten Medium, erhält in diesem Kontext eine neue Bedeutung.46 Das interaktive Medium des Bildes erlaubt es, in das Labyrinth der Erinnerung einzutreten und gleichzeitig die unterschiedlichen Sedimente der Geschichte sichtbar werden zu lassen, die nur noch als Überschreibungen rekonstruiert werden können.

46

Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, aus dem Englischen von Meinrad Amann, Düsseldorf/Wien 1968, S. 29–41 (Originalausgabe Understanding Media, 1964). Vgl auch ders., Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Max Nänny, Düsseldorf/ Wien 1968, S. 18–27 (Originalausgabe The Gutenberg Galaxy, 1962). Der Exteriorisierung von Raum in Bild und Foto entspricht in der »Gutenberg-Galaxis« eine Interiorisierung von Raum durch die Fantasie, welche die visuelle Wahrnehmung nachstellt, vgl. S. 339, 354f.

Das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald

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An Sebalds Verwendung der Fotografie lässt sich dies zeigen. Er benutzt dieses Medium nicht nur als ein Mittel der Dokumentation, vielmehr zeigt uns der Text noch etwas anderes: Das optische Medium kopiert und beeinflusst zugleich den psychischen Vorgang der Erinnerung, der sich mit dem chemischen Prozess von Entwickeln und Fixieren vergleichen lässt.47 Während sich die Konturen der Fotos beim Entwickeln allmählich herausbilden, evoziert dieser Vorgang bei Austerlitz Phantasien, der technische Prozess bringt die psychische Reaktion der Assoziation hervor. Dass hier gleichzeitig ein Trauma durchgearbeitet wird, zeigt die Verknüpfung der erinnerten Bilder mit dem Medium des Films. Sie lässt die Konvergenz von psychischem Prozess und technischer Simulation noch schärfer hervortreten, denn grundsätzlich beruhen die ›konzeptionellen Schocks‹ des Films auch auf einem Spiel mit der Wahrnehmung von Raum und Zeit. Die Simulationstechnik des Films ensteht durch Beschleunigung und Verzögerung zugleich. Diese mediale Strategie wird in Sebalds Text in eine Erzählstrategie transformiert. Sein Protagonist kopiert einen nationalsozialistischen Propagandafilm über Theresienstadt noch einmal in Zeitlupe, weil er hofft, auf diese Weise unter den im Film auftauchenden Personen vielleicht seine Mutter finden zu können.48 Doch die slow motion bewirkt nicht nur eine Tonverzerrung, sondern sie macht auch die Bilder unscharf. Dadurch ist der Film zu einem der cool media geworden, das einen psychischen Projektionsraum erschließt, in dem sich Austerlitz imaginiert, was er sehen will. Im close up bemerkt er eine junge Frau, die er sich als die Schauspielerin Agata, seine Mutter, vorstellt, weil sie bestimmte Accessoires trägt, eine Kette um den Hals und eine weiße Blume seitlich im Haar.49 Er dechiffriert das Bild in Analogie zu Roland Barthes’ Fixierung auf die Beziehung von punctum und studium.50 Kurze Zeit später erst entdeckt er im Prager Theaterarchiv ein Foto, das mit seiner »verdunkelten Erinnerung an die Mutter übereinzustimmen schien«.51 Die Besonderheit der Bilder, so suggeriert Sebalds Text, liegt nicht in ihrer Fähigkeit zur Abbildung, sondern darin, dass sie unbewusste und bewusste Projektionen des Protagonisten auslösen. Das Flimmern des Filmbildes52 wird zur Metapher für diese Transformation, die den 47 48 49 50

51 52

Sebald, Austerlitz, S. 113. Ebd., S. 354. Ebd., S. 358. Roland Barthes, Die helle Kammer, aus dem Französischen von Dietrich Leube, Frankfurt a.M. 1985, S. 35f. (Originalausgabe: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980). Sebald, Austerlitz, S. 360. Vgl. ebd., S. 352.

256

Rolf G. Renner

Metamorphosen in der Tierwelt korrespondiert, deren Bilder Austerlitz’ Erinnerungsweg begleiten.53

IX. Wandel der Memoria Unter diesen Bedingungen wird die literarische Memoria bei beiden Autoren neu bestimmt. Denn das ästhetische Bild, das visualisierte wie das imaginierte, das ihr zuarbeitet, entfernt sich von den authentischen Bildern der Erinnerung. Es eröffnet einen Raum der Phantasie, der die Gesetze des Sehens ebenso überwindet, wie die Gebundenheit der Erfahrung an Zeit. Unter diesen Voraussetzungen sind die kulturell codierten Bilder in Semprúns Text und die medialen Zeugnisse bei Sebald immer ikonographische und metaphorische Zeichen zugleich. Sie zentrieren die bewusste Erinnerung und das kulturelle Gedächtnis ebenso wie die Ordnung des Unbewussten. Dabei inszenieren sie ein Spiel von Figuration und Defiguration, das die jede Erinnerung prägende Dialektik der Geschichte ebenso in ein Zeichenspiel verwandelt wie die individuelle Erfahrung der Katastrophe. Zugleich jedoch lässt sich zwischen dem Opfer des Terrors Semprún und dem Sympathisanten der Opfer, Sebald, ein entscheidender Unterschied feststellen: Ihre dem Schreiben und Umschreiben verpflichteten Strategien der Rekonstruktion und der Konstruktion von Identität führen die beiden Autoren nicht nur zu einer unterschiedlichen Behandlung historischer Bezüge und Sachverhalte. Gerade die Tatsache, dass die Transformation der leidenden Erinnerung bei ihnen am ehesten durch intermediale Operationen gelingt, führt in Semprúns Bezug auf das Medium der Malerei und Sebalds Rekurs auf die Medien von Fotografie und Film zu unterschiedlichen Subjektentwürfen. Semprún hält mit seiner transformierenden Strategie der Bilder und Phantasmen noch an der Möglichkeit einer Restitution des Subjekts zumindest im Erzählen fest. Der totalitären Auslöschung des Namens in den Lagern stellt er einen Erzähler gegenüber, der sich behauptet, indem er Phantasie und Erzählen gleichermaßen kontrolliert. Sebald jedoch überantwortet seinen Erzähler am Ende an die dezentrierende Macht der Medien, die symbolisch die totalitäre Auslöschung des Subjekts als Effekt des Mediums wiederholt.

53

Vgl. ebd., S. 126, 137, 139.

Zur Leistung des Ich-Erzählers

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Monika Neuhofer (Salzburg)

»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben« Zur Leistung des Ich-Erzählers im Spannungsfeld von Katastrophe und Gedächtnis (Jorge Semprún, Imre Kertész, Norbert Gstrein)

»Ist die Literatur nicht eben der Versuch, die Lust, sogar die Leidenschaft, über das Verschwiegene, das Verdrängte, das Unsagbare zu reden und zu schreiben?«, fragt Jorge Semprún in seiner Laudatio anlässlich einer Preisverleihung an Norbert Gstrein.1 Und er beantwortet diese Frage mit einer Abwandlung des bekannten Wittgenstein-Satzes: »Wovon man nicht sprechen kann, weil es verboten oder verdrängt ist, weil es nicht zur Rede kommt, nicht in Rede steht, darüber muss man schreiben.«2 Auf diese Weise bringt Jorge Semprún den Schreibimpuls von Norbert Gstrein – ebenso sehr wie seinen eigenen – auf den Punkt. Semprúns Buchenwald-Texte wie auch die jüngeren Romane Norbert Gstreins kreisen um das Problem des Zur-Sprache-Bringens, um Fragen der Darstellbarkeit von Wirklichkeit: um die Darstellbarkeit der Konzentrationslagererfahrung bei Semprún, um die Fiktion einer Biographie bei Gstrein in den Englischen Jahren oder um die Darstellbarkeit der jugoslawischen Bürgerkriege der 1990er Jahre in Das Handwerk des Tötens. All diese Bücher, so unterschiedlich sie sind, stellen ›Neuerfindungen der Wahrheit‹ dar, Versuche also, die Wirklichkeit aufzunehmen und daraus etwas Neues zu machen, etwas, was über das Feststehende, die Fakten hinaus einen Fiktionsraum erzeugt, in dem etwas Anderes, Tieferes, Essentielleres sichtbar wird. Eine Art fiktionale Wahrheit oder sogar ›Wahrscheinlichkeit‹, 1

2

Jorge Semprún, »Wovon man nicht sprechen kann«, in: Norbert Gstrein/Jorge Semprún, Was war und was ist, Frankfurt a.M. 2001, S. 10. Die Rede von Jorge Semprún erschien erstmals unter dem Titel Alles wahr, weil erfunden in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Mai 2001. Sie wurde aus Anlass der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung an Norbert Gstrein für dessen Roman Die englischen Jahre am 13. Mai 2001 in Weimar gehalten. Ebd., S. 11. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1989, S. 7–85, hier S. 85: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«

258

Monika Neuhofer

eine Vorstellung davon, wie es gewesen sein könnte.3 Nicht um eine einfache Abbildung von Wirklichkeit kann es dieser Literatur demnach gehen, auch nicht um eine Form von ritualisierter, fest gefügter Erinnerung, sondern um die Hervorbringung einer »bleibenden Lebendigkeit« (Norbert Gstrein).4 Das heißt, im Auftrag dieser Wahrheit kann und muss etwas zur Sprache gebracht werden, das über das Faktische hinausweist und das nur im Medium der Literatur erfahrbar ist. Diese poetische Transformation von Wirklichkeit lässt sich auf einer theoretischen Ebene mit dem dreistufigen Mimesis-Modell von Paul Ricœur erfassen.5 Ricœur geht dabei von der kulturellen Präfiguration literarischer Texte aus, beschreibt auf einer zweiten Stufe die poetische Transposition der ausgewählten Referenzen zu einem neuen, fiktionalen Ganzen und schließt den Kreis der Mimesis mit der Rückwirkung des Textes auf die extratextuelle Wirklichkeit, die sich im Akt der Rezeption ergibt. Ich möchte meinen Fokus auf die zweite Stufe, auf den Prozess der literarischen Konfiguration legen und dabei insbesondere die Figur des Erzählers, genauer: des Ich-Erzählers näher betrachten. Ich möchte fragen, was der Ich-Erzähler im Kontext historischer Katastrophen bei der Wirklichkeitstransformation leisten und inwiefern der poetische Entwurf auf das kollektive Gedächtnis solcher Katastrophen einwirken kann. Die allgemeinen Überlegungen zur Rolle und Funktion des Erzählers sollen an Texten Jorge Semprúns (Le grand voyage und L’écriture ou la vie), Imre Kertész’ (Roman eines Schicksallosen) und Norbert Gstreins (Das Handwerk des Tötens) konkretisiert und überprüft werden. Mit dieser Textauswahl soll verdeutlicht werden, dass es mir um die grundsätzliche Leistung des Erzählers im Hinblick auf Katastrophen, die von Menschen verursacht wurden, geht. Dabei muss die Shoah als extremste Ausprägung einer historischen Katastrophe im Zentrum der Reflexion stehen, weil hier die Grenzen des Darstell- und Sagbaren berührt werden und dies auch den Ich-Erzähler – wie sich zeigen wird – 3

4

5

Vgl. dazu Jorge Semprún, Le mort qu’il faut, Paris 2001, S. 148: »À quoi bon écrire des livres si on n’invente pas la vérité? Ou encore mieux, la vraisemblance?« Axel Helbig, »Der obszöne Blick. Zwischen Fakten und Fiktion«, Gespräch mit Norbert Gstrein am 16. Januar 2005, in: Kurt Bartsch/Gerhard Fuchs (Hrsg.), Norbert Gstrein, Graz 2006, S. 9–29, hier S. 16. Vgl. Paul Ricœur, Temps et récit, Bd. 1, Paris 1983, S. 105–162. Zur Übertragung dieses Modells in den Kontext von kollektiver Erinnerung und Identität vgl. Birgit Neumann, »Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten«, in: Astrid Erll/Marion Gymnich/Ansgar Nünning (Hrsg.), Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien, Trier 2003, S. 49–77, hier S. 66–73.

Zur Leistung des Ich-Erzählers

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an den Rand seiner Existenz bringen wird. Dennoch sollen die Überlegungen nicht auf die Shoah und die Erfahrung von Konzentrationslagern eingeschränkt werden: In Das Handwerk des Tötens erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Jugoslawien-Kriegen der 1990er Jahre. Diese Ausweitung erscheint mir wichtig, um Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten im erzählerisch-literarischen Umgang mit historischen Katastrophen benennen und nach den Konsequenzen für die Herausbildung kollektiver Gedächtnisse fragen zu können.

I.

Erzählen in Ich-Form

Sowohl bei Kertész und Semprún als auch bei Gstrein haben wir es mit einem Erzähler zu tun, der in Ich-Form erzählt. Bei Kertész und Semprún erzählt dieser die eigenen Erlebnisse und Erinnerungen, lässt sich also aufspalten in ein erzählendes Ich der Schreibgegenwart und ein erlebendes Ich der Vergangenheit. Während jedoch bei Semprún mit dieser Aufspaltung eine zeitliche Dissoziation von erlebendem und erzählendem Ich gegeben ist, vereinfachend gesagt also eine ihrem Typ nach autobiographische Erzählsituation vorliegt, sind bei Kertész erlebendes und erzählendes Ich so eng beisammen, dass sich die beiden Seiten nur theoretisch voneinander trennen lassen. So heißt es beispielsweise zu Beginn von Le grand voyage: »Je ne connais pas encore le vin de la Moselle. C’est plus tard seulement que je l’ai goûté, à Eisenach. Lors du retour de ce voyage.«6 Hingegen lautet der erste Satz von Roman eines Schicksallosen: »Heute war ich nicht in der Schule.«7 Kertész bleibt den ganzen Text hindurch auf die Perspektive des erlebenden Ichs fixiert, das erzählende Ich erhält kaum ein eigenständiges Gewicht. Bei Gstrein in Handwerk des Tötens werden, anders als bei Semprún und Kertész, nur bedingt eigene Erinnerungen des Erzählers verhandelt. Der Ich-Erzähler ist hier jener Typ, der über weite Strecken die Geschichte eines anderen erzählt, mitunter aber auch seine eigene. Der Ich-Erzähler stellt hier

6

7

Jorge Semprún, Le grand voyage, Paris 1963, zit. nach der folio-Ausgabe, Paris 1972, S. 20. Im Folgenden verweist das Kürzel GV im Fließtext, gefolgt von der Seitenzahl, auf diese Ausgabe. Ausführlicher zu den Erzählsituationen in Le grand voyage und L’écriture ou la vie: Monika Neuhofer, »Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé«. Jorge Semprúns literarische Auseinandersetzung mit Buchenwald, Frankfurt a.M. 2006. Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen, aus dem Ungarischen von Christina Viragh, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 7. Im Folgenden abgekürzt mit RS im Fließtext, gefolgt von der Seitenzahl. Die Originalausgabe erschien 1975 unter dem Titel Sorstalanság.

260

Monika Neuhofer

also nicht die, sondern eine der Hauptfiguren dar.8 In allen vier Texten aber haben wir es grundsätzlich mit einem Ich-Ezähler bzw. in der Terminologie Gérard Genettes mit einem homodiegetischen Erzähler zu tun. Dieser Erzählertyp – und darin liegt seine Besonderheit – ist in der erzählten Welt präsent, ist also »körperlich-existentiell« in der Welt des Erzählten verankert: ein »Ich mit Leib«, wie Franz K. Stanzel schreibt.9 Was bedeutet es aber nun, wenn ein Text einen solchen in der diegetischen Welt präsenten Erzählertyp aufweist? Gérard Genette gibt auf diese Frage eigentlich keine Antwort. Er unterscheidet präzise nach den Kategorien Modus und Stimme und kann auf diese Weise die Frage nach der Perspektive von der Frage nach dem (textinternen) Ursprung einer Äußerung trennen. Im Kapitel zur Stimme postuliert er dann, dass im Grunde jede Erzählsituation einen Ich-Erzähler aufweist, insofern nämlich, als jede Äußerung einer Äußerungsinstanz zugeschrieben werden kann10 – eine Zuschreibung, die im Akt des Lesens ja auch tatsächlich geschieht. Da folglich jeder Text eine IchErzählsituation nach der Grundstruktur »›ich‹ erzähle ›dir‹, daß…«11 nachbildet, scheint der Unterschied zwischen Ich- und Er-Erzählsituation nur mehr darin zu liegen, dass jeder narrative Text entweder einen expliziten (= anwesenden) oder impliziten (= abwesenden) Ich-Erzähler aufweist. Um jedoch die kulturwissenschaftliche Relevanz einer narratologischen Kategorie wie jener des Erzählers untersuchen zu können, muss die Frage nach der Bedeutung von Präsenz (bzw. Absenz) dieser Figur in der erzählten Welt gestellt werden. Wie Stanzel aufzeigt, sagt die »Leiblichkeit« des Erzählers12 nämlich etwas Wesentliches über das Verhältnis des Erzählers zum Erzählten aus. Für ein ›Ich mit Leib‹ sei die Motivation zum Erzählen existentiell, sie hänge direkt mit seinen Lebenserfahrungen, seinen erlebten Freuden und Leiden und seinen Stimmungen, Bedürfnissen zusammen. Der Erzählvorgang bilde somit eine eigentliche Einheit mit Erlebnis und Erfahrung des Ichs. Für den Er-Erzähler gebe es dagegen keinen existentiellen 8

9

10 11

12

Vgl. die Typologie von Susan Sniader Lanser, welche die homodiegetische Erzählposition nach dem Grad der Beteiligung am erzählten Geschehen in mehrere Möglichkeiten aufspaltet. Susan Sniader Lanser, The Narrative Act, zit. nach: Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München 2002, S. 82. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 5., unveränderte Auflage, Göttingen 1991, S. 123f. Vgl. Gérard Genette, Figures III, Paris 1972, S. 251f. Birgit Wagner, »Das Ich der Texte«, in: dies./Christopher F. Laferl, Anspruch auf das Wort. Geschlecht, Wissen und Schreiben im 17. Jahrhundert. Suor Maria Celeste und Sor Juana Inés de la Cruz, Wien 2002, S. 144–161, hier S. 151. Vgl. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 127f.

Zur Leistung des Ich-Erzählers

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Zwang zum Erzählen: »Seine Motivation ist eher literarisch-ästhetisch als existentiell.«13 Der Ich-Erzähler kann, aufgrund seiner existentiellen Verankerung in der erzählten Welt, was das Erleben des Ichs betrifft, immer nur eine subjektive Perspektive, d. h. eine an das Subjekt der Erzählung gebundene Perspektive, vermitteln. Anders gesagt: Alles, was über das Ich erzählt wird, ist durch dieses Ich im Text vermittelt und perspektiviert. Und es ist somit die Körperlichkeit des Erzählers, seine körperliche Anwesenheit im Text, welche die existentielle Zusammengehörigkeit mit dem erlebenden Ich garantiert. Damit ist noch nichts über eine philosophische Bestimmung des Subjekts, über die Frage nach der Identität zwischen Erzähler und Autor oder gar über die Authentizität des Erzählten ausgesagt. Es ist von einem Text-Subjekt14 und von der auf körperlicher Identität basierenden Zusammengehörigkeit15 von Ich-Erzähler und Ich-Figur die Rede. Wiewohl ich der Ansicht bin, dass insbesondere die Ich-Erzähler Jorge Semprúns mit einem extratextuellen Autor-Ich korrespondieren (ohne jedoch mit diesem eine dem Text vorgängige Identitätsbeziehung einzugehen),16 kann sich die narratologische Analyse und kulturwissenschaftliche Interpretation vorläufig auf die in den Texten eingesetzten Erzählerfiguren beschränken. Da ein Autor wie Jorge Semprún ein fortgesetztes Spiel von Maskierung und Enthüllung mit seinen Erzählerfiguren und ihrer autobiographischen Verankerung betreibt (und dieses Spiel Anteil an der textuellen Sinnkonstitution hat), wird es dennoch erforderlich sein, die Beziehungen zwischen textinternem und textexternem Subjekt immer wieder mitzudenken.17 Mein Erkenntnisinteresse zielt auf die spezifische mnemonische Leistung solcher und ähnlicher Ich-Erzählungen im Kontext historischer Katastrophen ab. Dahinter steht die Annahme, dass die besondere Form der Gedächtnisleistung, die untrennbar mit einem (textuellen) Erzähler-Indivi13 14

15

16 17

Ebd., S. 128. Vgl. hierzu auch die Erläuterungen Birgit Wagners: »Für alle Wissenschaftsdisziplinen, denen als Quellen Texte zugrundeliegen, also in ganz besonderem Maß für die Literaturwissenschaft, ist nicht die Rede vom Tod des Subjekts, wohl aber die Rede vom Subjekt selbst ein konstitutiver Bestandteil ihres Fachs, insofern Texte aus Sätzen bestehen und Sätze Subjekte besitzen.« (Wagner, »Das Ich der Texte«, S. 145f.) Auch hier gilt: Der Bruch zwischen erlebendem und erzählendem Ich kann unüberwindlich sein, das eigene Ich fremd werden, die körperliche Zusammengehörigkeit jedoch ist Voraussetzung dafür, überhaupt ›Ich‹ sagen zu können. Vgl. hierzu Neuhofer, Écrire un seul livre, S. 36–45. Vgl. hierzu auch die Monographie von María Angélica Semilla Durán, Le masque et le masqué. Jorge Semprún et les abîmes de la mémoire, Toulouse 2005.

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duum und seinen eigenen Erfahrungen verknüpft ist, gerade aufgrund dieser narrativen Konstellation hohe Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft besitzt und im Modus des Literarischen davon schreiben kann, worüber nicht gesprochen werden kann.

II. Jorge Semprún Wie Willi Huntemann schreibt, erscheinen Erzählungen im Kontext von Shoah und Konzentrationslager grundsätzlich in Ich-Form: Sie [sc. die Ich-Form] bleibt auch dort die Erzählnorm, wo sie durch fiktionalisierende Elemente und eine stärkere Literarisierung gebrochen wird; ein Erzählen über den Holocaust in heterodiegetischer Perspektive, also von einem Erzähler, der nicht der erzählten Welt angehört, scheint ausgeschlossen zu sein.18

Jorge Semprúns erster Roman, mit dem er seine Konzentrationslagererfahrung literarisch zur Sprache bringt, lässt sich u. a. als Versuch lesen, mit dieser Erzählnorm zu experimentieren. Der Text ist im strikten Sinn kein ›Lager‹-Roman; vielmehr erscheint die KZ-Erfahrung in ihrer Unsagbarkeit als Leerstelle, die sich aus der Diskrepanz zwischen einem erlebenden Ich auf dem Weg in das Lager und einem erzählenden Ich nach der Rückkehr ergibt. Le grand voyage fokussiert die Zugfahrt von Frankreich nach Buchenwald: Diese wird, anders als dies in dokumentarischen Zeugnistexten der Fall ist, auf die gesamte Erzählung ausgedehnt; der Text endet mit der Ankunft im Lager. Mit der Ebene der Haupthandlung werden Erinnerungen an die Zeit vor und nach Buchenwald verknüpft. Dabei konkurrieren verschiedene Selbstkonzepte – das Ich als überzeugter Marxist-Kommunist, das sich an die Zeit in der Résistance erinnert, das Ich als ›homme de lettres‹, das sich vor dem Hintergrund seiner Jugenderlebnisse Gedanken über den Zusammenhang von Schreiben und Leben macht – die Buchenwald-Erfahrung aber lässt sich in keines dieser bereitgestellten Konzepte integrieren. Der Bruch, den die KZ-Erfahrung für das Selbstverständnis des Ichs bedeutet, erweist sich als unüberwindlich und kann durch keine Erinnerungsklammer zwischen erlebendem und erzählendem Ich überbrückt werden. 18

Willi Huntemann, »Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocaust-Texten«, in: Arcadia, 36/2001, S. 21–45, hier S. 35. Auch wenn es vereinzelt in der Regel recht unbekannt gebliebene Texte mit heterodiegetischem Erzähler gibt, bleibt der Befund über die Ich-Form als Erzählnorm gültig. Zur Frage der narrativen Instanz in Lagerberichten zumeist nicht professioneller Autoren vgl. Peter Kuon, »Scrittura autobiografica e racconto di deportazione«, in: Massimo Lollini (Hrsg.), L’autobiografia nell’epoca dell’impersonale, Intersezioni, 3/2007, S. 441–458.

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Dieser Bruch lässt sich nicht nur auf der Ebene der histoire erfassen, er wird für den Rezipienten insbesondere aufgrund der formal-ästhetischen Gestaltung des Textes sinnfällig: Es ist die Transformation des Erzählers von der homodiegetischen in die heterodiegetische Position, die den Bruch veranschaulicht und gleichzeitig festschreibt. Während der erste Teil des Buches, das sind über 250 Seiten, in Ich-Form erzählt wird, wird der zweite Teil in Er-Form gehalten. Dieser zweite Teil umfasst die unmittelbare Ankunft in Buchenwald und endet bereits nach rund 20 Seiten mit der Auslöschung des Protagonisten Gérard: [I]l lui semble bien qu’ils en arrivent par là au bout du voyage, que c’est ainsi, en effet, parmi les vagues sonores de cette noble musique, sous la lumière glacée éclatant en gerbes mouvantes, qu’il faut quitter le monde des vivants, cette phrase toute faite tournoie vertigineusement dans les replis de son cerveau embué comme une vitre par les rafales d’une pluie rageuse, quitter le monde des vivants, quitter le monde des vivants. (GV 279)

Für den Ankommenden gestaltet sich der neue Ort als so dominant, dass er von dem, was sich ihm dort darbietet, aufgesogen und ausgelöscht wird. Für den nunmehr nicht mehr in der erzählten Welt präsenten Erzähler aber, der über das Wissen verfügt, was auf Gérard zukommen wird, wird aus diesem Grund die Erzählung unmöglich. Zu unvorstellbar erscheint ihm die Lagerrealität für den Neuankömmling, als dass er aus dessen Perspektive weitererzählen könnte: Il n’y a pas de doute, ni Gérard, ni son copain n’auraient pu faire preuve d’une telle imagination, cette réalité de l’orchestre du camp, de ces départs en musique, de ces retours fourbus aux accents entraînants des marches clinquantes et ronflantes, cette réalité se trouve encore, pas pour longtemps, il faut le dire, au-delà des possibilités de leur imagination. (GV 278)

Das Experiment mit der Erzählerposition vermag so zweierlei zu verdeutlichen: Zum einen nimmt das Lager dem Subjekt seine bisherigen Konstitutionsmöglichkeiten. Die Erinnerung an früher hat keine Relevanz mehr, zu groß ist die Diskrepanz zwischen der Realität außerhalb und innerhalb des Lagers, ein Ich-Sagen wird unmöglich. Zum anderen lässt sich aber auch die Erzählung in Er-Form nicht weiterführen. Die inkommensurablen Welten, denen Erzähler und Protagonist am Ende angehören, können im Erzählen nicht verklammert werden. Le grand voyage kann auf diese Weise im Fiktionsraum der Erzählung etwas von der »großen Ausweglosigkeit«19 bei der An19

Hingegen haben Texte, die einem autobiographischen Darstellungsmodus folgen, Schwierigkeiten, diese Ausweglosigkeit zu modellieren. Ruth Klüger reflektiert das Problem in ihrer eigenen Autobiographie weiter leben: »Neulich sprach ich vor

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kunft im Konzentrationslager erahnbar machen – allerdings um den ›Preis‹, nicht vom Lager selbst zu erzählen. Ganz anders gestaltet sich die Erzählsituation in L’écriture ou la vie aus dem Jahr 1994. Für das Ich dieses Textes steht fest, dass die Erfahrung grundsätzlich erzählbar ist, dass es geradezu seine Aufgabe ist zu erzählen. Mit dieser Aufgabe ist die Suche nach einer Form für seine Erzählung verbunden und zwar nicht nur aus Sicht der Erzählgegenwart, sondern bereits aus Sicht des erlebenden Ichs, d. h. in den Tagen nach der Befreiung.20 Das Ich in L’écriture ou la vie lehnt die Möglichkeit eines einfachen Zeugenberichtes bzw. eine bloße Beschreibung der miterlebten Gräuel ab, stattdessen geht es ihm um die Darstellung der essentiellen Wahrheit seiner Erfahrung: »L’enjeu en sera l’exploration de l’âme humaine dans l’horreur du Mal…«.21 Um diese tiefer gehende Wahrheit zum Ausdruck bringen zu können, brauche es eine entsprechende Form – eine Form, die mit literarischen Mitteln operiert: »[L]a vérité essentielle de l’expérience, n’est pas transmissible … Ou plutôt, elle ne l’est que par l’écriture littéraire…« (EV 167). In dieser Gewissheit versucht das Ich dem ersten Menschen, dem es nach der Lageröffnung begegnet, einem französischen Offizier, etwas von seiner Erfahrung zu erzählen.22 Um dem von außen Kommenden das Unvorstellbare näher zu bringen und ihm eine Art Brücke anzubieten, die es diesem erleichtern sollte, einen Zugang zur Welt des Lagers zu finden, beginnt der Ich-Erzähler seinen Bericht mit der Darstellung des Sonntagslebens in Buchenwald: Instinctivement, pour amadouer les dieux d’une narration crédible, pour contourner les stridences d’un récit véridique, j’avais essayé d’introduire le jeune officier dans l’univers de la mort par un chemin dominical: chemin buissonnier, en quelque sorte. Plus paisible, au premier abord. Je l’avais conduit dans l’enfer du Mal

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einem akademischen Publikum über autobiographische Berichte von Überlebenden der KZs. […] Ich sagte, das Problem läge darin, daß der Autor am Leben geblieben ist. Daraus ergibt sich für den Leser der scheinbare Anspruch auf eine Gutschrift, die er von dem großen Soll abziehen kann. Man liest und denkt etwa: Es ist doch alles glimpflich abgelaufen. Wer schreibt, lebt. Der Bericht, der eigentlich nur unternommen wurde, um Zeugnis abzulegen von der großen Ausweglosigkeit, ist dem Autor unter der Hand zu einer ›escape story‹ gediehen.« (Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 139.) An Beispielen wie diesen wird deutlich, dass das textuelle Ich auf einen extratextuellen Autor referiert, der seine KZ-Erfahrung Anfang der 1990er Jahre anders betrachten kann, als dies mehr als dreißig Jahre zuvor der Fall gewesen war. Jorge Semprún, L’écriture ou la vie, Paris 1994, zit. nach der folio-Ausgabe, Paris 1996, S. 170. Im Folgenden abgekürzt mit EV und im Fließtext, gefolgt von der Seitenzahl, nachgewiesen. Genauer zu dieser Episode Neuhofer, Écrire un seul livre, S. 245f.

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radical, das radikal Böse, par son accès le plus banal. Le moins éloigné, en tout cas, de l’expérience habituelle de la vie. (EV 99)

Die verglichen mit dem Lageralltag paradoxen Möglichkeiten und Freiheiten an den Sonntagen erscheinen dem Ich-Erzähler als geeignet, um das Essentielle dieser Erfahrung zum Ausdruck zu bringen. Er beginnt seine Erzählung also mit der Erwähnung des Lagerkinos, wo mit Vorliebe leichte und sentimentale Filme vorgeführt wurden – wie beispielsweise die Willy-ForstSingkomödie Mazurka. Anstatt jedoch einen solchen Erzählbeginn zu schätzen, zeigt sich der französische Offizier schockiert: »Mazurka? Le film? Il avait sursauté, ouvrant de grands yeux.« (EV 99) Und der Ich-Erzähler vermutet: Il s’attendait sans doute à un tout autre récit. L’apparition de Pola Negri à Buchenwald le déconcertait. J’ai compris aussitôt qu’il prenait ses distances. Sans doute n’étais-je pas un bon témoin, un témoin comme il faut. Pourtant, j’étais assez satisfait de ma trouvaille. Car n’importe qui aurait pu lui raconter le crématoire, les morts d’épuisement, les pendaisons publiques, l’agonie des Juifs dans le Petit Camp […]. Alors que Pola Negri dans Mazurka, j’étais persuadé que personne n’aurait pensé à commencer son récit par là. (EV 99f.)

Diese Erinnerung an den missglückten ersten Erzählversuch bliebe allerdings eine bloße Anekdote, ginge es hier tatsächlich nur um die Frage nach dem richtigen oder falschen Bezeugen einer Erfahrung. Ließe sich das Ich wirklich auf die Position eines Augenzeugen reduzieren, würde dieser Erzählbeginn tatsächlich etwas befremdlich anmuten. Ginge es des Weiteren nur um die Frage nach dem richtigen Erzählen, also um die Frage nach der am wenigsten brutalen Einführung des Fremden in die Welt des Lagers, bliebe das eine rein ästhetisch-literarische Diskussion, die im Grunde auch wenig über das Essentielle der Lagererfahrung aussagen würde. Liest man jedoch weiter, erschließt sich der eigentliche Grund dafür, warum der Ich-Erzähler den Einstieg über das Lagerkino wählt. Es geht nämlich weniger um das Kino an sich, als um die Filme, die dort gezeigt wurden, eben um jene Komödien à la Mazurka. Der Ich-Erzähler erklärt, dass es keine besondere Leistung sei, wenn er sich an diese Filme erinnere, denn er habe diese schon in seiner Kindheit gesehen: À Madrid, dans les années trente, nous avions des institutrices germaniques. Elles nous conduisaient, mes frères et moi, au cinéma, les jours où le cinéma nous était autorisé, pour voir des films dans leur langue maternelle. (EV 100f.)

Durch diesen Hinweis bekommt das Vorhaben, über das Essentielle der Lagererfahrung zu erzählen, eine andere Qualität. Nunmehr geht es nicht mehr nur um das Ich als (Augen-)Zeugen, sondern um das Ich als Überlebenden,

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um die subjektiv-persönliche Perspektive des Überlebenden, der sein Ich an die Zeit vor der Deportation anbindet, der versucht, die Zäsur des Lagers abzumildern. Die Frage nach dem richtigen Erzählen bekommt dadurch plötzlich auch eine existentielle Dimension: Der erste Erzählversuch über das Lager gehorcht – und vielleicht sogar in erster Linie – dem Bedürfnis nach Wiederherstellung der eigenen Kontinuität und Identität. Allerdings erschließt sich diese Dimension nur dem Leser; der französische Offizier kann davon nichts wissen, ist doch die Erinnerung an die Kinobesuche im Madrid der 1930er Jahre nicht auf der zeitlichen Ebene der Haupthandlung motiviert. Sie stellt vielmehr eine Erinnerung dar, die das erzählende Ich der Schreibgegenwart neben die Erinnerung an das Gespräch mit dem Offizier stellt. Es sind also unterschiedliche Zeitebenen, die der Erzähler verknüpft. So entsteht ein Erinnerungsgeflecht, in dem sich die verschiedenen Erinnerungen gegenseitig ergänzen und sich mitunter auch widersprechen. Auf diese Weise können konkurrierende Selbstentwürfe und Paradoxien des Erzählens sichtbar gemacht werden; Paradoxien eines Erzählens nämlich, das sich zwischen dem Bezeugen des Todes anderer und dem Erzählen des eigenen Überlebens bewegt.23 Die essentielle Wahrheit der Lagererfahrung aber, um deren Darstellung es in L’écriture ou la vie geht, kann nicht vom Akt des Erzählens und der damit einhergehenden Erzählerposition abgekoppelt werden. Erst im Zusammenspiel der verschiedenen Erinnerungsebenen, die im Gedächtnis des Ich-Erzählers zusammenlaufen und von diesem produktiv gemacht werden, kann diese Wahrheit in ihrer Komplexität zum Ausdruck gelangen. – Dem Ich-Erzähler in Le grand voyage jedenfalls wäre eine solche Darstellung der Lagererfahrung gänzlich unmöglich gewesen.

III. Imre Kertész Noch viel stärker als bei Semprún wird die Situation des Ich-Erzählers bei Imre Kertész in Roman eines Schicksallosen problematisiert. Dieser Eindruck hängt damit zusammen, dass hier – in hochgradig literarisierter, ja fiktionalisierter Form – das Ich an den Rand seiner Existenz geführt wird, und zwar nicht in formal-ästhetischer, sondern in anthropologisch-ethischer Hinsicht: Roman eines Schicksallosen ist zweifellos eines der subjektivsten Bücher über Auschwitz. Die radikale Subjektivität besteht darin, dass sich hier der Ich-Erzähler strikt auf die Perspektive des 15-jährigen Jungen, die Perspektive des erlebenden Ichs György Köves, beschränkt und nichts, keine Reflexion oder Korrektur 23

Vgl. hierzu auch Manuela Günter (Hrsg.), Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, Würzburg 2002.

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aus der Perspektive der Schreibgegenwart zu finden ist. Der Weg der Deportation durch die verschiedenen Konzentrations- und Vernichtungslager bis zur Rückkehr wird Schritt für Schritt nachvollzogen, ohne dass der subjektive Blick von irgendeiner Instanz in irgendeiner Form objektiviert würde. Auf diese Weise erlebt der Leser das Beinahe-Ende des Ichs mit: Der körperliche Zustand Köves’ ist nach der Erfahrung mehrerer Konzentrationslager an der Grenze zwischen Leben und Tod. Zum Beispiel ließ sich ein früher oft gehörter Ausdruck wie »sterbliche Überreste« nach meinem vormaligen Wissen ausschließlich auf einen Verstorbenen beziehen. Ich jedoch, daran war kein Zweifel, lebte noch, wenn auch flackernd, ganz hinuntergeschraubt gewissermaßen, aber etwas brannte noch in mir, die Lebensflamme, wie man so sagt – andererseits war da mein Körper, ich wußte alles von ihm, nur war ich selbst irgendwie nicht mehr in ihm drin. Ich konnte ohne weiteres feststellen, daß dieses Ding, zusammen mit ähnlichen Dingen neben und über ihm, hier lag, auf dem kalten und von verdächtigen Säften feuchten Stroh des rumpelnden Wagenbodens […] – aber all das berührte mich nicht wirklich, interessierte mich nicht, es beeinflußte mich nicht mehr, ja, ich darf sagen, daß ich mich schon lange nicht mehr so leicht, so friedlich, fast schon verträumt, um es rundheraus zu sagen: so angenehm gefühlt hatte. (RS 203f.)

Hier steht die Grundvoraussetzung des Ichs zur Disposition, und zwar gerade nicht aufgrund der Ohnmacht oder Unzuverlässigkeit des erzählenden Ichs, sondern aufgrund der existentiellen Bedrohung des erlebenden Ichs. Es ist tatsächlich der körperlich-existentielle Zusammenhang, das ›Ich mit Leib‹, das gefährdet ist, wenn der Erzähler seinen Körper nicht mehr als den eigenen erkennen kann. Der Topos vom Ich als einem Anderen verliert hier seine metaphorische Dimension,24 es geht nicht mehr nur um eine wie auch immer geartete geistige Entfremdung vom Selbst, sondern um die Auflösung des körperlichen Seins.25 Durch diese Abtrennung vom eigenen Körper erscheint der Andere, von dem Kertész erzählt, als ›Muselmann‹, über den Giorgio Agamben schreibt: »Der Muselmann ist nicht nur oder nicht so sehr eine Grenze zwischen Leben und Tod; er markiert vielmehr die Schwelle zwischen dem Menschen und dem Nicht-Menschen.«26 24

25

26

Vgl. dazu auch Ich – ein anderer, wo es heißt: »›Ich‹ ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber sind. ›Ich ist ein anderer.‹ (Rimbaud)«. (Imre Kertész, Ich – ein anderer, aus dem Ungarischen von Ilma Rakusa, Berlin 1998, S. 12.) Vgl. zur Metamorphose des Ichs in Roman eines Schicksallosen Silke Segler-Messner, »Le retour impossible: les effets littéraires du traumatisme dans Être sans destin d’Imre Kertész«, in: Peter Kuon (Hrsg.), Trauma et Texte, Frankfurt a.M. 2008, S. 285–299. Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, Frankfurt a.M. 2003, S. 47.

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Das, wie Agamben feststellt, »Unbezeugbare«27 wird in Roman eines Schicksallosen im Modus der Fiktion durch den gleichermaßen unbeeindruckten wie unbeeinträchtigten Erzähler angedeutet. Dieser tritt wie ein Protokollant auf und verweigert – als ob es ihn selbst nicht beträfe – jede nachträgliche Umdeutung oder Einordnung. In narratologischer Hinsicht kehrt Kertész den Darstellungsmodus um, den Albert Camus in L’étranger wählt:28 Während dort das Ich vorzugsweise extern fokalisiert wird,29 der Erzähler also keinen Zugang zu seinem Inneren zu haben scheint, wird in Roman eines Schicksallosen das Ich intern fokalisiert – und dennoch, oder gerade deshalb erscheint die Befindlichkeit dieses ›erlebenden‹ Ichs so fremd, dass sie uns als geradezu skandalös erscheinen muss, wenn es heißt: Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit half da nichts – in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bißchen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager. (RS 209)

Der ›Skandal‹, der an dieser Stelle im Text offenbar wird, betrifft m. E. weniger die Entlarvung eines normativen Auschwitz-Diskurses als vielmehr eine anthropologische Dimension des Erzählens bzw. genauer: die anthropologisch-ethische Dimension, die auch formalen Kategorien inhärent ist. Vordergründig stellt das an dieser Stelle Ausgesagte kein darstellungsästhetisches Problem dar, man könnte also meinen, einen Widerspruch zwischen der Ethik und der Ästhetik des Textes ausmachen zu können. Im Hintergrund aber zeichnet sich ein ebenso elementares wie unerhörtes Problem ab, nämlich das Faktum, dass sämtliche narratologischen Konzepte wie auch jenes des Erzählers auf ›normalen‹ anthropologisch-ethischen Bedingungen fußen. D. h., erzähltheoretische Beschreibungskategorien beziehen sich auf die Welt, wie wir sie kennen, in der ein Individuum eine körperliche Einheit darstellt, dessen Leben sich auf die Zeit zwischen Geburt und Tod erstreckt. 27 28

29

Ebd., S. 36. U.a. zum literarischen Vorbild von L’étranger für Kertész vgl. Aurélia Kalisky, »Refus de témoigner, ou chronique d’une métamorphose: du témoin à l’écrivain (Imre Kertész, Ruth Klüger)«, in: Catherine Coquio (Hrsg.), L’Histoire trouée: négation et témoignage, Nantes 2004, S. 413–446. Genette schreibt zur Fokalisierung in L’étranger: »Meursault raconte ce qu’il fait et décrit ce qu’il perçoit, mais il ne dit pas (non: ce qu’il en pense, mais:) ›s’il en pense quelque chose‹. Cette ›situation‹, ou plutôt cette attitude narrative, c’est pour l’instant ce qui ressemble le mieux, ou le moins mal, à une narration homodiégétique ›neutre‹, ou à focalisation externe« (Gérard Genette, Nouveau discours du récit, Paris 1983, S. 85).

Zur Leistung des Ich-Erzählers

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Wenn diese Einheit nicht mehr gegeben ist, geraten logischerweise auch die Konzepte, mit denen Welt erzählerisch modelliert werden kann, ins Wanken. In diesem Sinne ist Imre Kertész beizupflichten, wenn er sagt: »Wenn jemand über Auschwitz schreibt, muß ihm klar sein, daß Auschwitz die Literatur – wenigstens in einem bestimmten Sinn – aufhebt.«30 In Roman eines Schicksallosen ist, wie sich gezeigt hat, der Ich-Erzähler in seiner körperlichen Existenz infrage gestellt und der Andere, zu dem das ›erlebende‹ Ich wird, empfindet Leben-Wollen als unanständig und das Konzentrationslager als Ort des Begehrens. In der Diskrepanz,31 die dieses andere ›Ich‹ zu einem nur als ›normal‹ – d. h. der normalen Bedingung von Welt nachgebildet und über eine Sprache verfügend, welche diese Welt zu beschreiben vermag – verstehbaren Erzähler aufweist, der diese Befindlichkeit protokolliert, beginnt der Boden, auf dem Erzähltheorie steht, zu schwanken.32

IV. Norbert Gstrein Mit Extremsituationen, wie sie den Roman eines Schicksallosen kennzeichnen, ist der Ich-Erzähler in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens nicht konfrontiert; auch die Erzählerfiguren bei Jorge Semprún waren keinen vergleichbaren Belastungen ausgesetzt. Gstrein geht in seinem Roman der Frage nach, wie sich aus der Sicht eines Außenstehenden über die Kriege der 1990er Jahre im ehemaligen Jugoslawien schreiben lässt. Es ist also, anders als bei Kertész und Semprún, der Blick von außen auf eine historische Katastrophe, der im Medium der Ich-Erzählung reflektiert wird. Ausgangspunkt ist der Tod des Kriegsberichterstatters Christian Allmayer, der bei einer Reportage im Kosovo erschossen wurde. Ein Studienfreund und Kollege Allmayers mit Namen Paul versucht daraufhin, einen 30

31

32

Imre Kertész, Heureka!, Rede zur Verleihung des Nobelpreises, 2002. http:// nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2002/kertesz-lecture-g.html (Stand: 03. 02. 2010) Zur Diskrepanz bzw. Inkongruenz von Erzähltem und Erzähldiskurs vgl. Peter Szirák, »Die Bewahrung des Unverständlichen. Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen«, in: Mihály Szegedy-Maszák/Tamás Scheibner (Hrsg.), Der lange, dunkle Schatten. Studien zum Werk von Imre Kertész, Budapest/Wien 2004, S. 17–66. Zum ethischen Problem, das uns Auschwitz aufgibt, vgl. die Ausführungen Giorgio Agambens: »Auch deswegen bedeutet Auschwitz das Ende und den Zusammenbruch jeder Ethik der Würde und der Angleichung an eine Norm. Das nackte Leben, auf das der Mensch reduziert wurde, fordert nichts und gleicht sich an nichts an: es ist selbst die einzige Norm, ist absolut immanent. Und das als letztes noch bleibende ›starke Gefühl der Zugehörigkeit zur Gattung‹ kann auf keinen Fall eine Würde darstellen.« (Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 60)

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Roman, eine Art Biographie, über den Ermordeten zu schreiben. Dafür liest er sämtliche Reportagen Allmayers, versucht im Gespräch mit dessen Frau dem Toten nahe zu kommen, reist zum Begräbnis Allmayers in sein österreichisches Heimatdorf und begibt sich an die Orte, von denen Allmayer berichtet hatte. Das Schreibprojekt Pauls wiederum wird den gesamten Text hindurch vom namenlos bleibenden Ich-Erzähler, ebenfalls einem Kollegen Allmayers und Pauls, begleitet, kommentiert und kritisiert. Ganz am Ende des Romans wird schließlich explizit, dass der Text, so wie er vorliegt, aus der Feder des Ich-Erzählers stammt, der nach dem Selbstmord Pauls meint, er sei es diesem schuldig und müsse es an seiner Stelle versuchen. Indem also die Vermittlungssituation des Textes thematisiert wird und so Teil der erzählten Welt wird, verkompliziert sich auch die Erzählerposition: Dem erzählenden Ich wird das erinnernde Ich der Schreibgegenwart hinzugefügt. Darauf weisen die häufige Verwendung des Plusquamperfekts (z. B.: »Ich hatte Paul für einen Schwätzer gehalten […]«) sowie die eingeflochtenen Erinnerungsformeln im Präsens (»[…] und ich erinnere mich, wie er zusammenzuckte […]«) hin.33 Die komplizierte Erzählstruktur des Romans gestaltet sich also – vereinfachend gesagt – folgendermaßen:34 Der Ich-Erzähler erinnert sich daran, was Paul über Allmayer erzählt, der sich seinerseits auf das beruft, was Allmayer über den Krieg in Ex-Jugoslawien geschrieben hat. In der Erinnerung des IchErzählers aber werden die verschiedenen Versuche, über den Krieg zu erzählen, allesamt verworfen. Letztendlich kann keine der eingenommenen Perspektiven Gültigkeit beanspruchen, ja es wird eigentlich sogar die Idee, überhaupt eine richtige Perspektive einnehmen zu können, in Abrede gestellt.35 Wie der Autor Norbert Gstrein in einem Interview sagt, sei es ihm in erster Linie darum gegangen, den Blick auf das Geschehen zu thematisieren und sämtliche Versuche, über den Krieg zu schreiben, zu negieren: »Weil die Tatsachen immer noch viel schrecklicher sind.«36 Diese Haltung überträgt er 33

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36

Norbert Gstrein, Das Handwerk des Tötens, Frankfurt a.M. 2003, S. 11 und S. 12. Im Folgenden abgekürzt mit HT und im Fließtext, gefolgt von der Seitenzahl, nachgewiesen. Vgl. hierzu genauer: Peter Braun, »Im Trümmerfeld des Faktischen. Norbert Gstreins Meditationen über die Darstellbarkeit des Krieges«, in: Davor Beganovic/Peter Braun (Hrsg.), Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, München 2007, S. 247–269, hier S. 253f. Vgl. Sigrid Weigel, »Norbert Gstreins hohe Kunst der Perspektive: Fiktion auf dem Schauplatz von Recherchen«, Laudatio zur Verleihung des Johnson-Preises an Norbert Gstrein, in: Manuskripte, 162/2003, S. 107–110. Helbig, Der obszöne Blick, S. 18.

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seinem Ich-Erzähler, der die Standpunkte der anderen, insbesondere den Erzählversuch Pauls, als untauglich zurückweist, selbst jedoch keine eigenständige Perspektive auf den Krieg hervorbringt. Aufgrund dieser negativen Position des Ich-Erzählers erscheint alles Sprechen über den Krieg wie das Umkreisen einer Leerstelle, die nicht gesagt werden kann. Das Einzige, was der Ich-Erzähler selbst hervorbringt, ist ein Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn umso stärker ergreift, je näher er den Orten des Geschehens kommt. Auf seiner Reise mit Paul und dessen Freundin Helena durch die ehemaligen Kriegsgebiete verliert er angesichts der Diskrepanz zwischen der sich ihm darbietenden Normalität der Gegenwart und den in seinem Kopf präsenten Kriegsbildern sogar seine kritisch-negative Position. Nichts scheint hier mehr zusammenzupassen: Ihn erfasst ein Gefühl von Abwesenheit, als er durch Gebiete fährt, die vom Krieg direkt betroffen waren, er betrachtet die Gegend wie hinter Glas, übrig bleiben Eindrücke, die dem Erzähler »unter dem Gewicht ihrer Wirklichkeit unwirklich erschienen« (HT 282): Lange hätte ich genauso gut allein sein können, im Fond sitzen und sie vorn erzählen [sic], was sie wollten, ich hörte sie nicht, so gebannt war ich von der links und rechts sich darbietenden Verwüstung, den zerstörten Gebäuden am Straßenrand, den halb fertig gebauten und nichtsdestotrotz zusammengeschossenen Häusern, den Schutthaufen, aus denen vielleicht gerade noch ein Kamin ragte, und den dachlosen Mauern mit ihren leeren Fenstern, ihren an die Abdrücke von Tierpfoten erinnernden Granatspuren und den nach all den Jahren schon wieder mannshoch und höher aus den Wohn- und Schlafzimmern in den Himmel wachsenden Sträuchern. (HT 282f.)

Die Beschreibungen, die der Kriegsreporter Allmayer von dieser Gegend gegeben hat, erscheinen dem Erzähler nun, angesichts der eigenen Eindrücke, zutreffender als je zuvor, er glaubt plötzlich zu verstehen, was dieser meinte, findet auch seine Vergleiche nicht mehr so abwegig. Paradoxerweise aber verstärkt dieses nunmehrige Verständnis sogar noch sein Gefühl der Unwirklichkeit. Sein Versuch, aus all dem, aus der eigenen Anschauung und aus dem von Allmayer Berichteten, eine kohärente Erzählung zu formen, bricht ihm zusammen wie eines jener Häuser im Kriegsgebiet: »[A]ber sooft ich versuchte, aus den Überresten eine Geschichte herauszulesen, versagte meine Vorstellung.« (HT 283) Das Unvermögen, dem Kriegsgeschehen im ehemaligen Jugoslawien einen erzählbaren Sinn entnehmen zu können, drückt sich in dem hilflosen Fazit aus, das der Ich-Erzähler am Ende dieser Reise im Gespräch mit einer Hotel-Rezeptionistin in Slavonski Brod an der kroatisch-bosnischen Grenze zieht. Die Frau entrüstet sich über den regen Handel zwischen Serben auf der einen und Kroaten auf der anderen Seite der Brücke:

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Wenn ich daran denke, wie schnell sie vergessen, was sie mitgemacht haben, frage ich mich, wofür alles gut gewesen sein soll. […] Vor ein paar Jahren haben sie noch so getan, als könnten sie unter keinen Umständen mehr zusammenleben, und auf einmal feilschen sie wieder um jeden Pfennig miteinander. (HT 317)

»Das ist doch ein Anfang«, gibt der Ich-Erzähler zu bedenken, um auf die Nachfrage der Frau, wovon das ein Anfang sei, einzugestehen: »Ich weiß nicht. […] Wahrscheinlich ist aber alles besser als nichts.« (HT 317) Mit diesem Eingeständnis wird der prinzipiellen Möglichkeit, dem Kriegsgeschehen eine sinnhafte Erzählung abzugewinnen, eine Absage erteilt. Es gelingt diesem Ich-Erzähler nicht, eine andere, wahrere Perspektive auf den Krieg hervorzubringen. Er kann nur die Versuche der anderen kritisieren und relativieren und dadurch deutlich machen, dass jeder einzelne Blick auf den Krieg bereits eine verzerrende Behauptung in sich trägt. Indem der Ich-Erzähler jedoch die verschiedenen Perspektiven nebeneinander stellt und sich zu jeder negativ verhält, sich also jeden Erzählversuch auf Distanz hält, wird so die Bedingtheit jeden Redens hervorgehoben. Wirklichkeitsdarstellung wird dadurch grundsätzlich problematisiert. Einzig an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen Sichtweisen wird möglicherweise etwas sichtbar, das ›nicht in Rede steht‹. Die Präsenz des Erzählers dient also in diesem Fall, in dem es – zumindest anfänglich – nur am Rande um eigenes Erleben geht, insbesondere der Zusammenführung und der Kritik an den Erzählversuchen der anderen. Darüber hinaus aber – und erst hierfür ist die Anwesenheit des Erzählers in der erzählten Welt zwingend – wird durch die Interaktionsmöglichkeit des Erzählers mit den anderen Figuren zunehmend auch sein eigenes Handeln (und in weiterer Folge sein Erzählen) problematisch. Deutlich sichtbar wird das am Verhältnis des Ichs zur Figur der Helena: Das Handwerk des Tötens erzählt nicht nur vom Krieg, sondern ansatzweise auch von der Liebe. Zwischen dem Ich-Erzähler und Pauls Freundin Helena bahnt sich im Laufe der Zeit eine Liebesbeziehung an, die am Ende des Romans explizit wird. Auch hier zeigt sich die Skepsis des Ich-Erzählers gegenüber jeder Form von versuchter Wirklichkeitsdarstellung: »Sie blieb in dieser Nacht bei mir, aber ich werde nicht den Fehler machen, mehr darüber verlauten zu lassen, werde mich hüten, davon zu erzählen wie in den Liebesromanen, […].« (HT 379) Erst im Kontrast zur Haltung Pauls aber gewinnt die Position des Ichs an Schärfe: Paul instrumentalisiert die Wirklichkeit, die Geschehnisse und Personen, ohne Rücksicht auf Verluste im Hinblick auf seine Erzählung. Er geht sogar so weit, für Helena ein tragisches Ende zu imaginieren, um die Leserschaft zu erreichen. Das Ich hingegen schweigt und begegnet Helena mit Gesten:

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Ich sagte nichts, weil ich den Gedanken nicht los wurde, daß er alles, was ich ihr sagen könnte, wahrscheinlich schon einmal gesagt hatte, und stand nur da und sah wie ein Unbeteiligter zu, wie meine Hände in einem fort über ihr Haar strichen, immer die gleiche Bewegung, vom Scheitel bis zu den Spitzen, als müßte ich sie und nicht nur sie beschwichtigen. (HT 379)

Mit der Geste setzt der Ich-Erzähler ein Zeichen, mit dem Nicht-Gesagtes zum Ausdruck gebracht werden kann. Gleichzeitig aber wird hier die Abhängigkeit des Ich-Erzählers von seinem Gegenspieler Paul erkennbar: Bis in die Liebesbeziehung mit Helena hinein bleibt er ihm verpflichtet und agiert in bloßer Abgrenzung zu ihm. Diese zwiespältige Haltung, die das Handeln des Ichs an der Stelle kennzeichnet, lässt sich auf eine poetologische Ebene übertragen: Der Ich-Erzähler schiebt sich nämlich nicht nur in der Beziehung mit Helena an die Stelle Pauls und versucht es ›auf andere Weise‹, er vollzieht diese Bewegung – wie bereits angedeutet – auch im Erzählen. Damit er es aber an seiner Stelle überhaupt versuchen kann, bedarf er der missglückten Erzählversuche Pauls. Erst auf dieser Basis kann er sich ja davon distanzieren. Und darüber hinaus braucht er auch noch den Selbstmord Pauls, um das eigene Erzählprojekt schließlich in Angriff zu nehmen: »[U]nd ich dachte, ich muß es an seiner Stelle versuchen, bin es ihm schuldig, endlich richtig anzufangen, ihm und seinem Ende.« (HT 381) In diesem Sinne lässt sich der Erzählversuch des Ich-Erzählers als Geste des Eingedenkens wie auch als Anmaßung lesen.37 Um ein solch ambivalentes Projekt aber überzeugend umsetzen zu können, bedarf es jedenfalls der Anwesenheit der Erzählinstanz in der erzählten Welt. Nur so kann die eigene (Erzähl-)Position mitreflektiert werden und sich die Kritik an der Wirklichkeitsdarstellung auch auf den Erzähler erstrecken.38 37

38

Zum großen medialen Echo, das der Roman aufgrund seiner Widmung »zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963–1999) über dessen Leben und dessen Tod ich zu wenig weiß als daß ich davon erzählen könnte«, die ähnlich zwiespältig aufgefasst wurde, hervorgerufen hat, vgl. Braun, Im Trümmerfeld des Faktischen; Waltraud ›Wara‹ Wende, »Als erstes stirbt immer die Wahrheit: Fakten und Fiktionen im intermedialen Diskurs – Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens«, in: Lars Koch/Marianne Vogel (Hrsg.), Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900, Würzburg 2007, S. 169–183; sowie Norbert Gstrein, Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens, Frankfurt a.M. 2004. Vgl. die Aussage Norbert Gstreins im Interview: »Jede Aussage ist immer auch eine Aussage über den Erzähler und das ihm zugrundeliegende System. Das hat mich auch, insbesondere mit dem letzten Roman, Das Handwerk des Tötens, immer weiter dahin gebracht, daß mein Erzählen auch eine Kritik des Erzählers beinhalten muß.« (Helbig, Der obszöne Blick, S. 13.)

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V.

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Fazit

Bei allen drei Autoren hat sich gezeigt, dass sich durch die körperlich-existentielle Präsenz des Erzählers im Text eine subjektive, d. h. das textuelle Ich betreffende Version der Wahrheit formt, die unabhängig von diesem Ich nicht bestehen kann und deshalb auch außerhalb des Textes nicht reformulierbar ist. Diese ›Wahrheit‹ ist also untrennbar mit dem Ich-Erzähler und dem Akt des Erzählens verbunden. Ohne Erzählprozess verschwindet das Ich des Textes und mit ihm die erzählte Welt. Die mnemonische Leistung von Ich-Erzählungen, die sich aus diesen Überlegungen ergibt, betrifft folglich weniger die Erzeugung eines eigenen, anderen Gedächtnisses von Katastrophen. Die jeweils individuellen Erinnerungen – nimmt man sie in ihrer textuellen Verfasstheit ernst – lassen sich nicht einfach zu einem kollektiven Gedächtnis zusammenfassen. Vielmehr scheint mir damit ein kritisches Potential verbunden zu sein, das die Bedingtheit von Gedächtnis, die Mittelbarkeit von Gedächtnis ins Bewusstsein ruft und letztlich die Hervorbringung von Gedächtnis problematisiert. Durch die Anwesenheit des Ich-Erzählers wird im Akt des Erzählens, sozusagen vor den Augen des Lesers, Erinnerung lebendig gehalten. Als Bezugsgröße fungiert dabei immer die Ich-Identität des Erzählers, der durch seine körperlich-existentielle Verankerung in der Welt des Erzählten die Katastrophe erfahrbar macht und präsent hält. Durch diesen literarisch inszenierten – subjektiven – Blick kommt so etwas zur Rede, das außerhalb des Ichs keine Gültigkeit besitzt, das aber gerade deshalb eine Form von ›Erfahrungs-Wahrheit‹ betrifft, die nirgendwo anders als in den Texten aufzufinden ist. Birgit Neumann benennt in Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten die vielfältigen Funktionen, die Literatur im »Haushalt der Erinnerungskultur« übernehmen kann. Sie führt hier neben dem Zugehörbringen und Legitimieren kulturell marginalisierter Gegengedächtnisse und der Reintegration gemeinhin kulturell getrennter Erinnerungswelten »die kritische Reflexion bestehender Erinnerungsversionen« an.39 Indem die Erfahrungswahrheit sowohl auf die prinzipielle Unabschließbarkeit von Erinnerung als auch auf die besondere Qualität der Subjektivität verweist, lässt sich m. E. konkretisieren, wie eine kritische Reflexion bestehender Erinnerungsversionen aussehen kann. Wenn also, um noch einmal auf das radikalste der hier untersuchten Beispiele zurückzukommen, das Ich in Roman eines Schicksallosen ganz am Ende 39

Neumann, Literatur als Medium, S. 71f.

Zur Leistung des Ich-Erzählers

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vom »Glück der Konzentrationslager« (RS 287) spricht, dann fügt sich dieses Glück nicht einfach in ein kollektives Lager-Gedächtnis, es lässt sich nicht verallgemeinern und es hat auch nichts mit dem Glücksgefühl am Ende von L’écriture ou la vie zu tun, mit dem der dortige Ich-Erzähler das immerwährende Gefühl der Zugehörigkeit zu Buchenwald zum Ausdruck bringt.40 Das Glück, das der Ich-Erzähler am Ende von Roman eines Schicksallosen anspricht, ist schlicht jenes unabdingbare Moment der Hoffnung, das offenbar aller Absurdität des Erlebten zum Trotz in der menschlichen Natur bestehen bleiben kann, das jedoch für ein Ich unter normalen Bedingungen nicht in den Rahmen seiner Erfahrungen integrierbar ist. So wird bereits unmittelbar nach der Rückkehr das Vergessen des ›Glücks‹ in Aussicht gestellt: »Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.« (RS 287) Das Ich muss dieses ›Glück‹ vergessen, der Leser jedoch hat die Chance (und die Verpflichtung), sich der ›bleibenden Lebendigkeit‹ von Texten wie Roman eines Schicksallosen immer wieder auszusetzen.41 Freilich bedarf es hierfür der Bereitschaft, die Herausforderungen, welche die textuellen Ichs an uns alle stellen, anzunehmen: Das Problem Auschwitz besteht nicht darin, ob wir sozusagen einen Schlußstrich darunter ziehen oder nicht; ob wir es im Gedächtnis bewahren sollten oder in der entsprechenden Schublade der Geschichte versenken; ob wir für die Millionen von Ermordeten Mahnmale errichten und wie sie beschaffen sein sollten. Das wirkliche Problem Auschwitz besteht darin, daß es geschehen ist und daß wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können […].

So heißt es in Imre Kertész’ Nobelpreisrede.42 Literarische Texte wie jene, von denen hier die Rede war, zwingen uns, das ›wirkliche Problem Auschwitz‹ (et al.) nicht aus den Augen zu verlieren.

40

41

42

»J’ai dû m’arrêter, pour reprendre mon souffle. Mon cœur battait très fort. Je me souviendrai toute ma vie de ce bonheur insensé, m’étais-je dit. De cette beauté nocturne.« (EV 396) Vgl. Segler-Messner, Le retour impossible, S. 296: »Quand, à la fin du roman, le narrateur dit qu’il voudrait raconter à ceux qui ne l’ont pas connu le bonheur des camps de concentration, le lecteur voit ainsi exprimé un désir que le texte qu’il a lu a déjà réalisé.« Kertész, Heureka!. Und in abgeschwächter, anderer Form kann ein ›wirkliches Problem‹ generell für von Menschen verursachte Katastrophen ausgemacht werden.

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Marisa Siguan

Marisa Siguan (Barcelona)

Literatur und Überleben Die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi

Dieses Erlebnis ist nicht salonfähig. Neulich sprachen wir hier in Göttingen beim Nachtisch von Engpässen, die wir erlebt haben, etwa ein Aufzug, der steckenbleibt, Tunnel, die zu lang sind […], wir sprachen über alles, was klaustrophobisch wirken kann, und auch, schon näher an meiner Erfahrung, von den Luftschutzkellern in der Kindheit einiger der Anwesenden. Ich hatte meine Fahrt im Viehwagon anzubieten und habe natürlich unentwegt daran gedacht, aber wie soll ich das beisteuern?1

I.

An den Grenzen der Sprache

Ruth Klüger, österreichische Jüdin, die als Kind in verschiedene Konzentrationslager, darunter Auschwitz, deportiert wurde, hat an klaustrophobischen Erinnerungen ihre Fahrt im Viehwagon zum Konzentrationslager anzubieten, nur: Wie kann man das überhaupt erzählen? Es ist, wie sie sagt, nicht salonfähig. Nicht das Erzählen, sondern das Erlebte. Und niemand möchte es hören. Alle Überlebenden der Konzentrationslager stellen sich diese Frage: Wie kann man den Schrecken erzählen, ihn benennen? Wie kann er überhaupt glaubhaft gemacht werden? Kann man den Horror schildern? Kann der Schmerz verständlich gemacht werden? In seinem Essay über Die Tortur, im Band Jenseits von Schuld und Sühne enthalten, beschreibt Jean Améry präzise die Folter, der er unterworfen wurde, aber nicht seinen Schmerz: Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es »wie ein glühendes Eisen in meinen Schultern«, und war dieses »wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl«? – ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens. Wer

1

Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, München 1999, S. 110.

Die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi

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seinen Körperschmerz mit-teilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden.2

Améry, der sich das gleiche Problem wie Klüger stellt, formuliert es folgendermaßen: Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt. Uns ist es längst entschlafen. Und nicht einmal das Gefühl blieb zurück, daß wir sein Hinscheiden bedauern müssen.3

Mit dieser Feststellung der Ohnmacht des Wortes vor der entsetzlichen Wirklichkeit der Konzentrationslager schließt Jean Améry seinen Essay An den Grenzen des Geistes im Band Jenseits von Schuld und Sühne. Die Umdeutung des Karl-Kraus-Zitats »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte« kommt einer Bankrotterklärung des Wortes angesichts der Wirklichkeit des Schreckens gleich. Als wenn Améry dem bekannten Satz aus Wittgensteins Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« Recht gäbe, oder einem Satz aus seinen Aphorismen: »Könnte der das Wort verstehen, der nie Schmerz gefühlt hat?«4 »¿Cómo contar una historia poco creíble, cómo suscitar la imaginación de lo inimaginable…?«5 So stellt sich die Frage für den Schriftsteller Jorge Semprún, gerade aus Buchenwald befreit, und für seine Gefährten. Die Situation erscheint in fast allen Romanen Semprúns: Wie ist eine Realität zu schildern, die als unvorstellbar und somit als unglaublich für den erscheint, der sie nicht erlebt hat? In all diesen Aussagen geht es um den Versuch, das Unglaubliche, das Undenkbare zu erzählen, zu schildern, zu benennen. Zu schildern ist die Erfahrung des absoluten Schreckens, des »radikal Bösen«. Eine Erfahrung, die als solche, als Erlebnis und Gefühl, für das Individuum jenseits der Sprache liegt, und wofür die Schriftsteller eine Erzählsprache suchen, um sie glaubwürdig zu machen, um sie für die Erinnerung aufzubewahren, um sich beim Benennen von ihr zu erlösen oder um sich am Erlebten zu rächen: Imre Kertész, ein weiterer Überlebender aus den Konzentrationslagern, schreibt in einem Aufsatz über Jean Améry, dass er selber zu schreiben anfing, um endlich zum benennenden Subjekt zu werden, um zu agieren, um von der passi-

2

3 4

5

Jean Améry, »Die Tortur«, in: ders., Werke, Irene Heidelberger-Leonard (Hrsg.), Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne, Gerhard Scheit (Hrsg.), Stuttgart 2002, S. 73f. Jean Améry, »An den Grenzen des Geistes«, in: ders., Werke, Bd. 2, S. 54. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen/Investigaciones filosóficas, Barcelona 1988, S. 244–254. Jorge Semprún, La escritura o la vida, Barcelona 1995, S. 140f.

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ven Kondition des Opfers loszukommen.6 Schreiben ist in diesem Kontext im Wesentlichen Ichkonstruktion, Wiedergewinnung der eigenen Individualität und Zeugentum. Es ist ein Schreiben, das aus der Erinnerung an einen unermesslichen Schmerz geschieht, und das diese Erinnerung braucht und aufrecht erhalten will. Es soll auch Zeugentum über die Katastrophe sein, über das Skandalon der abendländischen Kultur, über Auschwitz. Nietzsches Maxime »[N]ur was nicht aufhört wehzutun bleibt im Gedächtnis«7 ist in dieser Hinsicht sowohl Voraussetzung des individuellen Schreibens wie auch dessen intendierte Konsequenz im kulturellen Gedächtnis, in das dieser Schmerz eingeschrieben ist und in dem er bewahrt werden soll, im Sinne des von Ricœur definierten »gerechten Gedächtnisses«.8

II. Literarische Tradition als Chiffre: der Wert des Ungesagten Sowohl Jorge Semprún als auch Jean Améry, Ruth Klüger und Primo Levi produzieren literarische Werke und Essays, in denen die Einarbeitung autobiographischer Elemente in den Roman und die problematische Konstruktion des Ichs im Essay eine bestimmende Rolle spielen und in denen die Möglichkeit des Erzählens überhaupt, des Reflektierens in und mit der Sprache Thema des Schreibens ist. Ich möchte hier einige Aspekte der Ichkonstruktion dieses Schreibens aus folgender Perspektive analysieren: Mit welcher Sprache rekonstruieren diese Schriftsteller ein Ich, wie erzählen sie angesichts der Auslöschung des Ichs, die sie überlebt haben? Wie wird Erinnerung an den Schmerz zu Literatur? Eine erste Antwort auf diese Frage ist, dass das Ich, welches die Schriftsteller konstruieren, ein mit Literatur angereichertes ist. In ihrem Erzählen, in ihrem Sagen ist das Wort der Anderen immer präsent: das Wort der Anderen, die literarische Tradition, welche in sehr unterschiedlicher Art und Weise erfahren, aber systematisch genutzt wird, um ein Ich mit fließender Identität zu konstituieren, ein offenes, nur augenblickhaft stabilisiertes, niemals fixiertes Ich. In einer konstanten Spannung zwischen Aufbau und Zerstörung wird es bei Semprún im Spiel von verschiedenen Identitäten erzeugt, 6

7

8

Vgl. Imre Kertész, »Die Panne. Der Holocaust als Kultur«, in: Stephan Steiner (Hrsg.), Jean Améry (Hans Maier), Frankfurt a.M. 1996, S. 17f. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5., Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), München/Berlin/New York 1999, S. 295. Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 113.

Die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi

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bei Améry in der Beschreibung vom Verlust der Identitäten, in dem wechselnden Verhältnis zwischen Revolte und Resignation, bei Klüger in der Auseinandersetzung mit den Lesern und mit Hilfe der Konstruktion ihres Werkes als Netzstruktur, bei Levi in der Spannung zwischen Zeugenschaft und Überleben, zwischen der Widmung an die Lebenden und dem Schreiben im Namen der Toten oder sogar für die Toten. Der systematische Verweis auf die literarische Tradition, das Einbeziehen der Literatur in das eigene Werk ist ein Charakteristikum, das alle diese Autoren verbindet. Für sie alle hat das Schreiben mit der Bewältigung der eigenen Biographie zu tun, mit der Bewältigung der Identitätsauslöschung, mit der Individualitätskonstruktion und mit der Frage, was für eine Rolle die Literatur darin spielt. Ich möchte mich hier mit den verschiedenen Funktionen auseinandersetzen, die die literarische Tradition in den Schriften dieser Autoren erfüllt, und einige Beispiele davon exemplarisch untersuchen. Semprún versucht gleich nach der Befreiung aus Buchenwald über das Lager zu schreiben und muss den Versuch unterbrechen, weil ihm das Schreiben und die Erinnerung das Leben unmöglich machen; erst 15 Jahre später kann er es. Auch Améry und Klüger brauchen lange, bis sie über das Lager schreiben können. Im Unterschied dazu schreibt Levi sofort nach Kriegsende seinen Band Se questo è un uomo. Um seine Schreibbesessenheit zu beschreiben, verweist er auf die literarische Tradition: Er vergleicht sich mit Coleridges Ancient Mariner: Lei ricorda la scena, il Vecchio Marinaio blocca gli invitati al matrimonio, che non gli prestano attenzione – loro stanno pensando al loro matrimonio –, e li costringe ad ascoltare il suo racconto. Ebbene, quando ero appena ritornato dal campo di concentramento, anch’io mi comportavo esattamente così. Provavo un bisogno irrefrenabile di raccontare la mia vicenda a chiunque!… Ogni occasione era buona per raccontare a tutti la mia vicenda; al direttore della fabbrica così come all’operaio, anche se loro avevano altre cose da fare. Ero ridotto proprio come il Vecchio Marinaio. Poi incominciai a scrivere a macchina durante la notte… Tutte le notti scrivevo, e questa veniva considerata una cosa ancora più folle!9

Die Identifizierung mit der literarischen Figur geht aber über einen reinen Vergleich der Erzählobsessionen hinaus, sie enthält eine Fülle von (ungesagten) Verweisen auf Levis Erzählhaltung. Der Seefahrer hat auch eine traumatische Erfahrung zu berichten, die ihn nicht loslässt. Es ist bei ihm nicht ganz klar, ob er lebt oder ein Gespenst ist, das von den Toten zurückgekehrt ist. Wenn der Mariner mit Levi vergleichbar ist, wenn dieser sich sogar mit ihm identifiziert, dann ist auch Levis Überleben fragwürdig. Sein Zeugentum 9

Primo Levi, Conversazioni e interviste, Torino 1997, S. 224ff.

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steht unter einem doppelten Zeichen: Als Zeuge spricht er zu den Lebenden, die er verzweifelt aufsucht, um ihnen von sich zu erzählen – als fragwürdig Überlebender steht er noch unter den Toten, spricht auch zu ihnen, in ihrem Namen, für sie, die einzigen, die ihn wirklich verstehen können, weil sie seine entsetzliche Erfahrung geteilt haben. Aber auch ein weiterer Aspekt ist zu beachten: Der Seefahrer erzählt und verschwindet dann; der Zuhörer ist aber am nächsten Morgen, so die Schlussverse des Gedichts, ein traurigerer und weiserer Mensch. Mit dieser Hoffnung können wir schließen, erzählt Levi. Er erzählt aber aus einer überaus gefährdeten Position. Der metaphorische Verweis auf die literarische Figur erklärt die eigene Wirklichkeit. Er tut es aber in höherem Maße durch das, was nicht expliziert wird, als durch den direkt ausgesprochenen Verweis. Ein extremes Beispiel dafür findet sich auch in Semprúns Roman Viviré con su nombre, morirá con el mío. Der Verweis auf Literatur wird hier auf extreme Weise präsent: Die Literatur wird zu einem Kommunikationsinstrument, das dem Überleben dient, sie verweist aber auch direkt auf die Realität des Lagers, die sie transzendiert. Der Roman ist im Mai 2001 erschienen. Ganz aus der Perspektive der ersten Person erzählt, verarbeitet dieses Werk einen autobiographischen Identitätskonflikt. Auch hier geht es um die Erfahrung von Buchenwald, die Erfahrung, die ihn, so Semprún, überhaupt erst zu der Person gemacht habe, die er sei. Der Roman erzählt, wie in Buchenwald auf eine Anfrage der Gestapo Semprúns kommunistische Kameraden einen gleichaltrigen Sterbenden suchen, um ihm den Namen Semprúns zu geben, ihn dann für tot zu erklären und Semprún unter dem Namen des anderen, geschützt vor der Gestapo, weiterleben zu lassen. Eigentlich stammt die Geschichte aus der Biographie Stéphane Hessels, sodass man von Autofiktion sprechen kann. Das Ganze erweist sich am Schluss als unnötig, sodass Semprún letzten Endes doch mit seinem Namen weiterleben kann. Das Zusammenleben mit dem gleichaltrigen Sterbenden, die Frage nach der Identität und nach den zufälligen Gründen des Überlebens des Einen, des Sterbens des Anderen machen den Kern der Erzählung aus. Der Sterbende, den Semprún kennenlernt und dessen Namen, dessen Identität er übernehmen soll, ist ein französischer Student, der mit demselben Transport wie er angekommen ist. Er ist einer von den »Muselmännern« – so werden im Lager diejenigen genannt, die sich selbst aufgegeben haben und nur noch dahinsiechen, der Sprache kaum mehr mächtig. Semprún sucht ihn bei den Latrinen auf. Dieses Gebäude hat bei ihm schon, als er es zum ersten Mal erblickte, Rimbauds Bethsaïda, la piscine des cinq galeries evoziert:

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»Betsaida, la piscina de las cinco galerías, era un lugar de tedio. Parecía un siniestro lavadero, siempre bajo el peso agobiante de la lluvia y la negrura…« […] Por supuesto, ni piscina ni galerías. No obstante, la evocación poética era pertinente: porque sí era un »siniestro lavadero«. Otras palabras del texto de Rimbaud me parecían describir lo que veía… »Los mendigos se agitaban en los peldaños interiores […] los paños blancos o azules con que se envolvían los muñones. Oh lavadero militar, oh baño popular…«10

Die Sprache der Literatur dient ihm aber nicht nur dazu, die Wirklichkeit zu beschreiben. Sie schafft auch Kommunikation. Semprún gelingt es endlich mithilfe von Rimbauds Versen, den Muselmann aus seiner kataplektischen Haltung zu retten. Als Semprún nicht mehr weiter rezitieren kann, weil er die letzten Verse vergessen hat, tut es der Franzose: Fue él quien siguió recitando. Su voz ya no tenía aquella especie de graznido metálico, la resonancia ventrílocua del primer día en que le oí pronunciar dos palabras. Sin interrupción, de una tirada, como si recuperase a la vez la voz y la memoria – su mismo ser – recitó la continuación. » …bromeando sobre sus azules ojos ciegos, sobre los paños blancos o azules con los que se envolvían los muñones. Oh lavandería militar, oh baño popular…« Lloraba a fuerza de reírse, la conversación se hacía posible.11

Die erinnerte Literatur trägt zur Ichkonstruktion bei, verweist auf die Wirklichkeit, gibt dem jungen Franzosen seine Erinnerung und damit seine Identität, seine kulturelle Zugehörigkeit zurück. Und sie verweist auch auf sich selbst. Denn das Ende von Bethsaïda, das Semprún nicht mehr zitiert, lautet: Le Paralytique se leva, qui était resté couché sur le flanc, franchit la galerie et ce fut d’un pas singulièrement assuré qu’ils le virent franchir la galerie et disparaître dans la ville, les Damnés.12

Die Literatur schildert ein Wunder, der Verweis auf sie vollbringt es. Der Muselmann findet den Weg zum Menschsein, zur Individualität wieder, so wie der Lahme das Gehen gelernt hat. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass die literarische Tradition ein Fundus ist, aus dem die verschiedenen Individuen schöpfen können, und dass diese das kulturelle Gedächtnis teilen: Die Kenntnis der Tradition kann die verschiedenen Individuen zur Gruppe machen und die Kommunikation zwischen ihnen ermöglichen.

10 11 12

Jorge Semprún, Viviré con su nombre, morirá con el mío, Barcelona 2001, S. 46. Ebd. S. 55. Arthur Rimbaud, Proses évangéliques, in: ders., Œuvres, Suzanne Bernard/André Guyaux (Hrsg.), Paris 1991, S. 199.

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III. Literatur als Überlebenshilfe Literarische Tradition besitzt somit auch einen ganz direkten, konkreten Wert als Kommunikationsinstrument und Überlebenshilfe. Dazu gibt es prägnante Beispiele bei Semprún. Er schildert, wie an den Sonntagnachmittagen in Buchenwald über Literatur gesprochen wurde; sogar Rezitationen wurden organisiert. Damit wird ein Kollektiv geschaffen, eine Gemeinschaft, die dem Schrecken die eigene Dignität entgegenstellt. Literarische Texte dienen als Bezugspunkt, sogar als Trost, als Mittel zum Ausdruck der Verzweiflung, als Hilfe beim Versuch, in einer konkreten Situation die Sprachlosigkeit zu bezwingen. Semprún rezitiert in zwei schrecklichen Momenten im Lager, beim Tod zweier Freunde, zwei Gedichte, von César Vallejo und Baudelaire, um die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden.13 Bei dieser Szene extremen Leidens spielt Semprún die Literatur in ihrem Verweis auf die Wirklichkeit gegen die Sprachkritik aus. Vallejo zu zitieren ist offensichtlich eine Hilfe bei der Erfahrung des Todes, obwohl das Gedicht natürlich nichts dagegen tun kann. Literarische Tradition wird benutzt, um den Schrecken zu bewältigen. Sie benennt ihn mit schon formulierten Sätzen, Versen, und fügt ihn so in eine Tradition der Leidenserfahrung ein. Es ist die gleiche Art ›Verwendung‹ von Literatur, die auch Primo Levi in Se questo è un uomo beschreibt, wo er sich bemüht, Dantes Inferno einem Gefährten aufzusagen, der ihn gebeten hat, ihm Italienisch beizubringen. Der Gefährte versteht kein Wort, ist aber erschüttert von Levis Versuch. Die Literatur wird hier als Überlebenshilfe benutzt, aber auch als Kommunikationsinstrument, sogar über die konkrete Sprache selbst hinaus: Sie ist mit ähnlichen Funktionen wie die gesprochene Sprache im Alltag ausgestattet. Sie wird als kollektive Tradition benutzt, um die Sprachlosigkeit des Individuums in Extremsituationen zu überwinden. Und sie spricht auch im Falle von Levi sehr viel mehr aus, als explizit gesagt wird. Denn Levi erinnert sich im Gespräch mit seinem Gefährten Pikolo bezeichnenderweise gerade an den Gesang des Odysseus aus Dantes Inferno. Odysseus wird bei Dante in einer durch Seneca überlieferten Fassung dargestellt, und zwar nicht als zurückgekehrter Held, sondern als jemand, der seine Begleiter zu immer neuen und weiteren Taten angestachelt hat, jemand, der sie dazu gebracht hat, an den Säulen des Herkules vorbeizufahren, um in die unbekannten Meere hinauszugelangen, bis sie alle von riesigen Wirbeln verschluckt wurden. Levi hat große Teile des Canto (Inferno XXVI) vergessen, aber die wenigen Verse, an die er sich erinnert, verweisen auf die Berufung des Menschen zu Höhe13

Vgl. Semprún, La escritura o la vida, S. 207 und S. 30.

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rem: »Considerate la vostra semenza: / fatti non foste a viver come bruti, / ma per seguir virtute e canoscenza.« (V. 118–120) So wird im Lager auf die Dignität des Menschen mit Hilfe der literarischen Tradition verwiesen, die geradezu religiöse Züge annimmt. Bei allen zitierten Bezügen ist aber auch klar, dass der Verweis auf Würde, auf Zwischenmenschlichkeit, immer in Koexistenz mit dem Tode steht: Literatur bannt den Tod nicht, auf dessen Allgegenwart sie hinweist. Sie wird benutzt bei dem Versuch, ihn zu transzendieren. Bei Ruth Klüger ist der Wert der Literatur als Überlebenshilfe viel konkreter und nicht so sehr an das Bewusstsein der Tradition als an das der zwischenmenschlichen Kommunikation gebunden. Zum einen ist sie praktisch noch ein Kind, als sie ins Lager kommt, ihr Bewusstsein von Tradition ist also noch nicht sehr ausgeprägt. Und zum anderen ist sie ein Mädchen, eine Frau, und wird einen eigenen Zugang zur Tradition entwickeln. Es fällt auf, dass ihr Verhältnis zur Literatur sich nicht auf den Kontakt zu anderen Menschen auswirkt, sondern eher umgekehrt: Die Literatur hilft ihr auf dem Weg zu sich selbst, und dieser Weg vollzieht sich in der Suche nach Isolierung. Ihre Identitätskonstruktion hat sehr viel mit Flucht vor den Schrecknissen des Lebens in die Literatur zu tun. Noch in ihrem Elternhaus und zu der Zeit, als sie als Jüdin nicht mehr in die Schule darf, versteckt sie sich, um zu lesen; unter anderem, weil sie dann in Ruhe gelassen wird. In Theresienstadt und in den weiteren Lagern ist Literatur eine Möglichkeit zur inneren Flucht und etwas, woran man sich innerlich festhalten kann (»[D]as kann man immer mit Literatur«, sagt sie in einem Interview). Dabei ist ihr die Lyrik besonders behilflich. Sie lernt sie auswendig und führt sie so im Kopf mit sich herum. Und dabei empfindet sie eine beruhigende Wirkung, allerdings nicht wegen der Aussage der Gedichte, wegen des Sinns der Wörter, der die Wirklichkeit transzendieren sollte, sondern hauptsächlich wegen des Rhythmus, der Kadenz, der geordneten Struktur, der Melodie. Sie bilden eine Ordnung, an der man sich festhalten kann, um die Zeit zu überstehen, zum Beispiel beim Appellstehen: Mir scheint es indessen, daß der Inhalt der Verse erst in zweiter Linie von Bedeutung war, und daß uns in erster Linie die Form selbst, die gebundene Sprache, eine Stütze gab. […] Die schillerschen Balladen wurden dann auch meine Appellgedichte, mit denen konnte ich stundenlang in der Sonne stehen und nicht umfallen, weil es immer eine nächste Zeile zum Aufsagen gab, und wenn einem eine Zeile nicht einfiel, so konnte man darüber grübeln, bevor man an die eigene Schwäche dachte. Dann war der Appell womöglich vorbei und die Grammophonplatte im Kopf konnte abgestellt werden.14 14

Ruth Klüger, weiter leben, S. 126.

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Es geht hier nicht darum, die Wirklichkeit zu transzendieren, sondern darum, sie zu überstehen. Zeit und Rhythmus zu ordnen ist ein Schritt in dem lebensnotwendigen Versuch, die Wirklichkeit zu fassen, zu ordnen. In diesem Ordnungssinn ist auch die lyrische Produktion Ruth Klügers in den Lagern zu verstehen: Es sind Kindergedichte, die in ihrer Regelmäßigkeit ein Gegengewicht zum Chaos stiften wollten, ein poetischer und therapeutischer Versuch, diesem sinnlosen und destruktiven Zirkus, in dem wir untergingen, ein sprachlich Ganzes, Gereimtes entgegenzuhalten; also eigentlich das älteste ästhetische Anliegen. Darum mußten sie auch mehrere Strophen haben, zum Zeichen der Beherrschung, der Fähigkeit zu gliedern und zu objektivieren. Ich war leider belesen, hatte den Kopf voll von sechs Jahren Klassik, Romantik und Goldschnittlyrik. Und nun dieser Stoff. Meinem späteren Geschmack wären Fragmentarisches und Unregelmäßigkeiten lieber, als Ausdruck sporadischer Verzweiflung zum Beispiel. Aber der spätere Geschmack hat es leicht. Jetzt hab ich gut reden.15

Das Bedauern darüber, »leider belesen« gewesen sein, brauchen wir der Erzählstimme nicht zu glauben: Es widerspricht anderen schon zitierten Kommentaren. Man muss es also eher als captatio benevolentiae lesen. Selber Lyrik zu schreiben gehört auch zur Bewältigung des Schreckens, zur Überlebensstrategie: Wer nur erfährt, reim- und gedankenlos, ist in Gefahr, den Verstand zu verlieren, wie die alte Frau auf dem Schoß meiner Mutter. Ich hab den Verstand nicht verloren, ich hab Reime gemacht.16

Ordnung und Strukturierung, Wiederholung, die beruhigt: die dabei hilft, den Verstand nicht zu verlieren. Es geht um Individualitätskonstruktion als Überlebenschance. Später wird Klüger das Fragmentarische, das Unvollendete als der Schilderung des Schreckens adäquater empfinden. Zum Überleben brauchte sie aber erst einmal die Gliederung, die Ordnung. Eine Ordnung, die sie der mörderischen Ordnung des Lagers entgegenstellen konnte. Ihr Zugang zur Tradition ist also in einem ersten Moment mehr von Ordnung, Rhythmus, Struktur geprägt als vom konkreten Sinn der Wörter; er unterliegt einem eher musikalischen, körperlichen, lebensbejahenden Mechanismus. Und dann auch einem Moment von Willkür: Sie liest das, was ihr in die Hände fällt, und das ist vom Zufall bestimmt. Da jüdische Kinder nicht mehr in die Schule durften, war ihre Bildung lückenhaft. Aber in Theresienstadt, dem ersten Lager, in das sie kommt – es war eher ein Durchgangslager –, bildet sich eine Gruppe von Lehrern und Intellektuellen he15 16

Ebd., S. 126f. Ebd., S. 128.

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raus, die die Kinder auf mehr oder weniger klandestine Art und Weise unterrichten. Sie tun es in allerlei Fächern, mit zusammengetragenem Material, oft aus reinem Zufall vorhanden. Darin überwiegt die Literatur des Kanons. Aber sie wird jetzt sinnbezogen erfahren: als Protest gegen die Wirklichkeit. Aufregend war eine Rezitation der Kapuzinerpredigt aus Wallensteins Lager. Der schallende Beifall nach der letzten Zeile, über den Friedland, der keinen Frieden im Land aufkommen läßt, war die erste Protestkundgebung, der ich beiwohnte. Die Entdeckung, daß alte Texte in den Dienst von aktuellen Bezügen gestellt werden können. Indem ich mitklatschte, leistete ich Widerstand.17

Literatur wird als direkte Aussage über eine ideale Wirklichkeit aufgefasst, aufgesagt, und auf die reale befreiend projiziert. Sie wird an erster Stelle über den Körper rezipiert, über die Kälte, durch das Atmen. Rhythmus und Gliederung sind sozusagen physische Funktionen, die sich in ihrer ›befreienden‹ Ordnung von der Ordnung des Grauens, des Appellplatzstehens, unterscheiden, sie unterwandern. Der Weg zum eigenen Ausdruck wird noch etwas dauern. Aber auch diesen beschreibt Klüger, wenn sie von den Gedichten der Zeit sagt: »[D]as sind nicht meine Worte, das ist Gelesenes, Klassisches, Zitiertes, Auswendiggelerntes«.18 Ihrem späteren Geschmack sind »Fragmentarisches und Unregelmäßigkeiten lieber, als Ausdruck sporadischer Verzweiflung«.19

IV. Wie schreiben? Realismuskritik Auf die Frage, wie man nach Auschwitz schreiben kann, antworten alle Autoren mit unterschiedlichen Vorschlägen; gemeinsam ist ihnen aber allen der Verweis auf die Unmöglichkeit des Sagens und die Suche nach literarischen Mitteln, die den Wahrheitsanspruch auf keinen Fall mit der Tradition des Realismus gleichsetzen. Wie schon anfangs erwähnt, stellt sich Semprún die Frage folgendermaßen: ¿Cómo contar una historia poco creíble, cómo suscitar la imaginación de lo inimaginable si no es elaborando, trabajando la realidad, poniéndola en perspectiva?20

Als ein besonders radikales Beispiel dieser Sprachsuche möchte ich hier Jean Amérys Realismuskritik behandeln. 17 18 19 20

Ebd., S. 102. Ebd., S. 168. Ebd., S. 127. Semprún, La escritura o la vida, S. 140f.

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Der lebenslange Umgang mit Büchern, wenn ich versuche, ihn zu analysieren […] ist wesentlich ein Umgang mit Menschen. […] Davos, das war Castorp, das waren Ziemssen, Settembrini und Madame Chauchat. In der Normandie, die ich häufig bereise, finde ich in einem elenden Nest die Fußspuren der Emma Bovary. Illiers ist Combray. Sollte ich jemals nach Moskau kommen, würde ich zweifellos aufs intensivste die geisterhafte Gegenwart Raskolnikows verspüren. Die subjektive Welt eines jeden Lesers ist bevölkert: nicht nur von den realen Personen, deren Bekanntschaft er im Leben gemacht hat, sondern von Geschöpfen der Literatur. Sie sind um uns, Julien Sorel und der junge Werther, der Zögling Törless und Leopold Bloom; Hans Giebenrath, Serenus Zeitblom […]. Beizufügen ist freilich, daß alle hier Aufgereihten und hinter ihnen die zahllosen Nichtgenannten einen erheblich höheren Realitätsgrad haben als viele Personen, die im Laufe unseres Lebens in Fleisch und Blut vor uns hintraten.21

So schreibt Améry in seinem Aufsatz Ein Leben mit Büchern einige Jahre nach seinem Essay über Auschwitz, An den Grenzen des Geistes, in dem er das Unvermögen der Literatur darlegt, die Wirklichkeit zu transzendieren, den Schrecken zu schildern.22 Das Lesen von Literatur wird für Améry vom Leben bestimmt, und damit auch das Schreiben. Das schreibende Ich sieht nicht von sich und von seiner traumatischen Zeiterfahrung ab, diese bestimmt den eigenen Blick beim Lesen und gibt ihm seine Gültigkeit beim Schreiben. Es geht um radikale Subjektbezogenheit, und diese prägt auch den Realitätsbegriff. »Ich hatte mich zwei Jahrzehnte lang auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit befunden, nur, daß es mir schwer gewesen war, davon zu sprechen«, schreibt er 1966 im Vorwort zur ersten Ausgabe von Jen21

22

Jean Améry, »Ein Leben mit Büchern«, Améry-Nachlass im Marbacher Literaturarchiv, Mk 81.1275, S. 2. Die Kultur, so Améry, sei im Lager zu nichts nütze. Denn sie helfe nicht dabei durchzukommen, zusätzliches Essen zu erringen, Waren zu tauschen, die überlebensnotwendigen Dinge zu erlangen. »Das Lagerleben erforderte vor allem körperliche Gewandtheit und einen notwendigerweise hart an der Grenze der Brutalität liegenden physischen Mut. Mit beiden waren die Geistesarbeiter nur selten gesegnet, und die moralische Courage, die sie oft anstelle der körperlichen einsetzen wollten, war keinen Pfifferling wert.« (Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, S. 27) Unter diesen Bedingungen, schreibt Améry, sei die Literatur kein Instrument, das es ermöglichen könne, die Realität zu transzendieren. Die Verse von Hölderlin, an die er sich eines Tages beim Rückmarsch ins Lager erinnert, sagen ihm nichts mehr: »›Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen‹, murmelte ich assoziativ-mechanisch vor mich hin. Dann wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem Rhythmus nachzuspüren und erwartete, daß das seit Jahren mit diesem Hölderlin-Gedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllt ›links‹, und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen.« (Ebd., S. 32)

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seits von Schuld und Sühne. Die Anspielung auf Marcel Proust zeigt, wie es nicht zuletzt der Dialog mit der Literatur war, der Améry die Sprache für eine Zeit zurückgibt, die für ihn so entsetzlich unverlierbar ist.23 Die Literatur wird als Folie benutzt, die auf die Realität verweist; sie bekommt damit eine wichtige utopische Dimension. Aber nicht nur das. Sie wird im Schreiben auch gewissermaßen metaliterarisch eingesetzt: indem sie auf das Schreiben selber verweist, auf die Konstruktion des Textes, den Prozess des Schreibens, auf die sehr labile Möglichkeit, Realität durch Beschreiben zu erzeugen. 1971 schreibt Jean Améry drei bemerkenswerte literaturkritische Essays: Die Stunde des Romans. Zum 150. Geburtstag des Meisters der Bovary, Die Wörter Gustave Flauberts. Über Jean Paul Sartres L’idiot de la famille, und Zugang zu Marcel Proust. Zum 100. Geburtstag des Dichters. Es handelt sich dabei nicht um Gelegenheitsschriften: Améry nutzt die Anlässe, um über für ihn besonders bestimmende Autoren und Meister zu schreiben. Proust ist (zusammen mit Thomas Mann) einer seiner Lieblingsautoren; er bezeichnet die Recherche als Jahrhundertwerk. Sartre ist sein Meister gewesen. Und Emma Bovary gehört zu den literarischen Figuren, denen er mehr Wirklichkeit als vielen Personen des realen Lebens zuspricht. In dem Aufsatz über Sartres riesige Flaubert-Monographie geht Améry jedoch auf Distanz zu seinem Vorbild, und in seiner letzten Arbeit, Charles Bovary, Landarzt, wenige Wochen vor seinem Freitod 1978 erschienen, rechnet er mit Sartre und auch mit Flaubert ab, protestiert gegen die Art, wie dieser den armen Charles in seinem Roman behandelt. Bezeichnenderweise sieht Améry schon 1971 in seinem Aufsatz über den Meister der Bovary‘ Flauberts Größe nicht in dessen impassibilité, sondern in der Subjektivierung seiner vermeintlichen Objektivität durch Metaphern: »Die Originalität des Romans liegt in der Transformation seelischer Wiklichkeit in Metaphern«. Als Beispiel zitiert er: Sie [sc. Emma] blieb, verloren in der Betäubung, und hatte kein anderes Bewußtsein ihrer selbst als das Pochen in ihren Arterien, das sie vernahm wie eine dumpfe, die Landschaft erfüllende Musik. Unter ihren Füßen war der Boden weicher als eine Welle und die Ackerfurchen erschienen ihr als immense, brandende Wogen…« Wort und Bild, wortbildgewordene Trauer und Verzweiflung. Wer hätte solches vor Flaubert gekonnt?24

Améry schätzt bei Flaubert »wortbildgewordene Trauer und Verzweiflung«, die durch Metaphorik evoziert wird. Wie steht es nun bei Flaubert um die 23

24

Siehe dazu Hans Höller, »Nachwort«, in: Jean Améry, Werke, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und zum Film, Hans Höller (Hrsg.), Stuttgart 2003. Jean Améry, Charles Bovary, Landarzt, in: ders., Werke, Bd. 4: Aufsätze zu Flaubert und Sartre, Hanjo Kesting (Hrsg.), Stuttgart 2006, S. 236.

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Beschreibung der Dinge? Sie werden minutiös beschrieben und sie bestimmen die Realität der Menschen, die sie tragen oder die sich mit ihnen umgeben. Charles Bovary beherrscht die ersten fünf Kapitel der Madame Bovary, und seine Protagonistenrolle wird schon in der ersten Szene über seine unbeschreiblich hässliche Mütze bestimmt. Wenn eine Figur eine solche Mütze aufgesetzt bekomme, sei es von vornherein um sie geschehen: aus diesem Protagonisten werde nichts. Schon die Beschreibung sorge dafür, lasse dem Leser keine Möglichkeit einer anderen Perspektive auf Charles als diese schreckliche Mütze, die somit zur Metonymie für die unglückliche Romanfigur werde. Eigentlich hätte es der Strafe, zwanzig Mal »ridiculus sum« schreiben zu müssen, die Charles an seinem ersten Schultag auferlegt bekommt, nicht bedurft: die Mütze bedinge und bestimme Charles’ lächerliche Realität. Gegen diese seiner Meinung nach totalitäre Flaubert’sche Erzählerhaltung rebelliert Améry wenige Jahre später in seinem Charles Bovary, Landarzt; in seinem Protest lehnt er sich gegen Flaubert und gleichzeitig auch gegen Sartre auf und radikalisiert konsequent seine eigene Lese- und Schreibhaltung. Man könnte sagen, dass Améry den Totalitätsanspruch der Flaubert’schen impassibilité, der »Feder als Skalpell« (Sainte-Beuve), demoliert, indem er auf alle Inkongruenzen in der Beschreibung Charles’ eingeht; er entlarvt Flaubert als unglaubwürdig, er liest ihn sozusagen gegen den Strich und gibt Charles Bovary, als Opfer seines Schöpfers gesehen, die Möglichkeit zu einem neuen, würdigen, wenn auch tragischen Leben. Wenn bei Flaubert die ersten fünf Kapitel die Lächerlichkeit Bovarys, aber auch seine Güte, festlegen, zeigt der Schluss ihn in einer erstaunlichen Bestimmtheit: Er stirbt mit einer Locke Emmas in der Hand, entsagt also nicht seiner Liebe zu ihr. Um ihn zu ›rehabilitieren‹, fängt Améry gerade mit dieser Schlussszene an; er lässt Charles die gleichen Worte wie Flaubert sagen. Nur: Als Anfang eines Monologs, einer Totenklage, zeigen sie die Figur in geradezu tragischer Größe: Ich will, daß man sie in ihrem Brautkleid bestatte, in weißen Schuhen, mit dem Brautkranz. Ihr Haar soll man über ihre Schultern breiten. Drei Särge, einer aus Eiche, einer aus Mahagoni, einer aus Blei. Und daß man mir nicht zuspreche: ich werde Kraft finden. Über das ganze ein großes Stück von grünem Samt. Ich will es. Es geschehe.25

»Ich will es. Es geschehe.« Amérys Charles bestimmt die Wirklichkeit, bestimmt und beschreibt die Dinge; er ist kein Opfer dieser Dinge. Er erscheint geradezu als Doppelgänger seines Schöpfers: Es geschehe. Erst im zweiten Kapitel, »Ridiculus sum« betitelt, wird der von Flaubert geschilderte erste Schultag aufgenommen: 25

Ebd., S. 13.

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Charbovari, charbovari, die jaulten in bösem Vergnügen, als ich dem Klassenlehrer meinen Namen nannte mit bäurischer Zunge. Meine Mütze, liebevoll von Mutter genäht, fiel zu Boden, ich hatte Angst, man werde sie mir nehmen. Lachen und Meckern und Grölen und Strafarbeiten für den und jenen, auch für mich, der ich nur Opfer gewesen. – Und Sie, der Neue, Sie schreiben mir zwangzigmal das Verbum ridiculus sum.26

Wohlweislich ohne Beschreibung der Mütze. Sie wird nur über die Subjektivität des Protagonisten, aus seiner Perspektive und mit seiner Stimme beachtet. Über die Subjektivität des Protagonisten, des Opfers, gewinnt sie ihren Wert, auch wenn sie hässlich oder gar lächerlich sein mag. Über Thomas Mann, auch ein Lebensautor für Améry, schrieb er 1975, dass es in seinem Werk um »die Omnipräsenz von Krankheit und Tod, gegen deren Erkenntnis kein soziales Kraut gewachsen ist, [um] das Leiden und MitLeiden mit dem Bündel Kreatur«27 gehe, um »besorgtes Erzählen vom armen Teufel Mensch«. Dafür braucht man Emotion und Pathetik, Extremes. Auch über Emotion und Pathetik gehen Literatur und Leben ineinander über, das Lesen beansprucht die eigene Biographie. Améry schreibt über Thomas Manns Werk: Ich höre, sehe, erfühle nur das Leid am Leben, dessen auch die von mir ersehnte sozialistische Gesellschaft so ohne weiteres nicht Herr werden wird. Ein Zeitungsphoto zeigt mir einen weinenden Mann, Flüchtling aus Hué, der sein verwundetes Kind auf dem Rücken trägt. Er weint die Tränen Jaakobs um Joseph. Ich hörte 1943 Männer des Widerstands in Nachbarzellen weinen und weinte mit ihnen: ich schämte mich so wenig wie sie.28

Hinter Amérys Charles stehen die Männer der Nachbarzellen, Améry selbst: die Opfer, denen Améry eine Stimme gibt. »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. […] Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.«29 – so hatte Améry geschrieben. Sein Aufsatz über die Folter in Jenseits von Schuld und Sühne hat Adornos Begriff vom ›perennierenden Leiden‹ inspiriert. Die kalte Gleichgültigkeit der Nachkriegszeit gegenüber den Opfern des Nazismus, die Améry in den Unmeisterlichen Wanderjahren beschreibt, möchte er mit seinem Schreiben bewusst machen. Charles Bovary als Opfer der Gleichgültigkeit, der Kälte seines Schöpfers wird von Améry zum tragischen Helden gemacht. Er gibt ihm dabei eine eigene Stimme. Denn 26 27

28 29

Ebd., S. 43. Jean Améry, »Bergwanderung«, in: ders., Werke, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und zum Film, Hans Höller (Hrsg.), Stuttgart 2003, S. 42. Ebd., S. 44. Améry, »Die Tortur«, S. 85.

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[…] daß Charles Bovary unter den Händen Flauberts der wurde, als der er vor uns steht, ist ein literarisches Fatum – daß er ein anderer hätte sein können, hat der Autor gleichsam in unsichtbarer Schrift in den Roman mithineingeschrieben. […] für den Leser ist zuweilen, wie für die Subjektivität einer literarischen Gestalt, das Mögliche gleichwertig mit dem Wirklichen: hierauf beruht in jeder Erzählung das Element »Spannung« – jede Erzählung ist ein »offenes Geschehen«: es ist der Autor, der »stark wie der Tod« am Ende die Türen verrammelt.30

Améry gibt Charles die Möglichkeit, selber über seinen Tod zu entscheiden, selber die Türen zu verrammeln: sein Geschick in die Hände zu nehmen und damit sein Selbstbewusstsein und seine Ressentiments, seine Leidenschaft, seine Revolte und seine Resignation, kurz: seine Würde zu bestimmen. In vier fiktiven Monologen und zwei Essays vermischt Améry Flauberts reale und Charles Bovarys fiktive Wirklichkeit, fiktional geht er selber in die Fiktion ein, hebt den Unterschied auf zwischen Fiktion und Realität zugunsten der Ehrenrettung Charles Bovarys, des Opfers, des zum Opfer gemachten Subjekts. In diesen Texten erscheinen alle Themen, die für Amérys Schreiben bestimmend gewesen sind: Nach Hanjo Kesting sind dies Grenzerfahrung und menschlicher Selbstentwurf, unvollendete Aufklärung und bürgerliche Subjektivität, Lebensverlangen und Todverfallenheit, Revolte und Resignation.31

In seinem Roman-Essay wirft Améry Flaubert vor, aus Charles Bovary einen Trottel gemacht, ihm die Möglichkeit einer Emma ebenbürtigen Existenz vorenthalten zu haben, an ihm, indem er ihn nicht zu einem freien Bürger und citoyen gemacht habe, die Ideale der Französischen Revolution, der Aufklärung, verraten zu haben. Hinter Amérys Kritik an Flaubert steht auch eine Kritik an Sartres Flaubert gewidmeter Studie L’idiot de la famille: Die Chance, die Sartre Flaubert gibt, nämlich zu verneinen, was er war: der gescheiterte Sohn eines reichen Arztes, und zu werden, was er wird: Meisterschöpfer der Bovary, gibt Améry jetzt Charles Bovary; er macht ihn zum leidenschaftlichen Liebhaber, Emma ebenbürtig. Und er endet mit einem Monolog Charles Bovarys, der den Titel trägt J’accuse: Ich klage Sie an der Verletzung des Paktes, den Sie mit der Realität geschlossen hatten, ehe Sie sich an die Niederschrift meiner Geschichte machten: denn ich war mehr, als ich war, gleich jedem Existierenden, der täglich und stündlich im Widerstand gegen die Anderen und die Welt aus sich heraustritt, zu verneinen, was er war, und zu werden, was er sein wird.32 30 31

32

Améry, Charles Bovary, Landarzt, S. 292. Hanjo Kesting, »Nachwort«, in: Jean Améry, Werke, Bd. 4, Hanjo Kesting (Hrsg.), Stuttgart 2006, S. 349. Améry, Charles Bovary, Landarzt, S. 174f.

Die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi

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Auch hinter Charles Bovary steht Jean Améry und seine radikale Befürwortung der Aufklärungsutopie des mündigen Ichs, die er mit dem Existentialismus des frühen Sartre in autobiographische Verbindung bringt. In seinem Charles Bovary spielt Améry sozusagen den ersten Sartre, seinen Meister, den Philosophen des Existentialismus, gegen den späteren Sartre aus, gegen den Totalitätsanspruch von dessen Flaubert-Studie, die Améry beeindruckt, aber in der er im Grunde und auf eine andere Art und Weise den gleichen Totalitätsanspruch wie bei Flaubert sieht – einen Totalitätsanspruch, der blind ist für die Opfer der Unterdrückung. Bei ihm wird allen Monologen Charles’ Bilderreichtum, Metaphernreichtum gegönnt, die Wortlosigkeit wird umgewendet in Wörterreichtum. Nur: Die Sprache, die ihm zugedacht wird, steht in einer konstanten Spannung zwischen dem Sprachvertrauen, das die Dinge und die rationalen Überlegungen benennen lässt, und der Auflösung in Traum- und Halluzinationsbilder, die dem Extremen, dem Aufbrechen des Unbewussten, ihre Stimme geben: Visage deines Glücks, Emma, die deine Lustblässe zum lugubren Todesspiegel machte. Nervöse Hände, die dahin und dorthin weisen, leicht bebend, als nestelten sie ungeduldig an deinen Linnen und Seiden. Hände, die mir sind, als wäre jede ein Stück von dir. Wie war es, als sie, das knisternde Leibzeug achtlos zerknüllend, zu deiner atmenden Haut vordrangen und deine Brüste caressierten? […] Mir ist, als spürte ich sie an meinem eignen, noch in der Ausgezehrtheit plumpen Leib, als wäre ich Emmas zerfallender Kadaver, den sie aus der Erde graben und unzüchtig liebkosen…33

Charles Bovary, Landarzt ist letzten Endes das äußerst elaborierte Endprodukt einer Lese-, Denk- und Schreibsequenz, die folgendermaßen abläuft: Améry liest Sartre, der Flaubert liest, der Charles Bovary geschaffen und beschrieben hat: aus dieser Distanzkonstellation entsteht eine Hyperrealisierung der Figur des Charles Bovary.

Fazit Mit Wörtern, mit Literatur überwinden die Schriftsteller die Sprachlosigkeit. Diese Überwindung erfolgt über ein Schreiben, in dem Autobiographie und Ichkonstruktion, Evokation der gefährdeten Individualität, Bewältigung der Trümmer der Vergangenheit und Rekonstruktion geleistet werden; in dem die Erfahrung des Lagers die Achse der geistigen Autobiographie wird; in dem die Erinnerung mit dem Überleben kämpft und das Recht auf Erinnerung und Ressentiment festgehalten wird. In diesem Prozess der Ichkon33

Ebd., S. 166.

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Marisa Siguan

struktion und der Sprachkonstruktion spielt die Memoria der literarischen Tradition, die Auseinandersetzung mit dem schon Gesagten eine durchaus identitätsbildende Rolle. Es geht um die schmerzhafte, verzweifelte Konstruktion des Subjekts. Und dabei geht es auch um die Sprache der Literatur als zwischen zwei Polen stehende: zwischen der Sprache als ›Haus des Seins‹, als Haus für alle, und der Sprache als Gefängnis im Wittgenstein’schen Sinne: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«. Das nicht Gesagte, das Evozierte, spielt dabei eine genauso wichtige Rolle wie das Gesagte. Das Schweigen wird zum Kommunikationsinstrument. Die Darstellung der Katastrophe führt das Undarstellbare mit sich. Die Erinnerung an den Schmerz muss zum Schreiben wachgehalten werden, spezifisch für sie ist, dass sie weiterbestehen muss, dass sie sich dem Vergessen verweigern muss. Die für das Schreiben notwendige Distanz muss eine Sprache, einen Stil finden, der den Schmerz in dem kulturellen Gedächtnis, zu dem die Literatur beiträgt, lebendig erhält. Der Zugriff auf die literarische Tradition, auf den schon gesagten Schmerz, erfüllt eine doppelte Funktion: Er hilft der individuellen Formulierung und fügt diese in ein Kollektiv ein.

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Thomas Schmidt (Marbach)

»Wofür nur das alles?« Zur literarischen Shoah-Darstellung in der DDR*

I. In einer Schlüsselszene des Romans Die Bilder des Zeugen Schattmann (1969) von Peter Edel1 wird der jüdische Protagonist von einem ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfer und nunmehrigen DDR-Funktionär aufgefordert, seine Erinnerungen an das Vernichtungslager Auschwitz aufzuschreiben. Dieser Kommunist, der die nationalsozialistischen Lager ebenfalls überlebt hatte, liefert zugleich den semantischen Rahmen für seinen Auftrag zur Gedächtnisbildung: Schattmanns Geschichte sei auch die »unsere« (BS 36). Damit wird der Genozid an den Juden umstandslos ins historische Selbstbild des ostdeutschen Staates eingerückt, mithin in ein machttechnisch gestütztes Konstrukt, das ein Verständnis dieser Katastrophe als »Kernereignis des deutschen Faschismus jenseits aller ökonomischen Verwertungsrelevanz«2 und jenseits aller Klasseninteressen unmöglich machte. Knapp umrissen, legitimierte sich die DDR-Erinnerungspolitik durch ein sozialökonomisch-geschichtsphilosophisches Programm, das auf Lenins Marx-Interpretation zurückging und den historischen Prozess als eine nach objektiven Bewegungsgesetzen verlaufende Geschichte von Klassenkämpfen definierte, in der der kommunistischen Partei Vorreiterrolle und Deutungsmacht bei der Befreiung der Menschheit zukommen – und in die die Verbrechen des Dritten Reichs möglichst ohne Rückstände eingepasst werden sollten: als eine Fortsetzung des Klassenkampfs zwischen Bourgeoisie und Proletariat mit gewaltsameren Mitteln. Jede katastrophische sozialhisto* Der Text basiert auf einer längeren Untersuchung, die für diesen Band überarbeitet und aktualisiert wurde: Thomas Schmidt, »Unsere Geschichte? Probleme der Holocaust-Darstellung unter DDR-Bedingungen. Peter Edel, Fred Wander, Jurek Becker«, in: Monatshefte, 98/2006, S. 83–109 (Teil I) und 403–425 (Teil II). 1 Peter Edel, Die Bilder des Zeugen Schattmann. Ein Roman über die deutsche Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1969. (Zitatnachweise mit Sigle BS und Seitenzahl in Klammern im laufenden Text.) 2 Dan Diner, »Antifaschistische Weltanschauung«, in: ders., Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin 1995, S. 77–94, hier S. 90.

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rische Konstellation war im DDR-Geschichtsnarrativ und gemäß dem Fortschrittskonzept von Marx ein Schritt zum dialektischen Sprung in die nächste, höhere Gesellschaftsformation. Für die Sicht der Shoah hatte das verheerende Folgen. Sie wurde nicht als inkommensurables Ereignis erinnert, sondern rückte allenfalls in die Hierarchie antagonistischer Klassenauseinandersetzungen ein.3 Das Gedenken an die Millionen verfolgter und ermordeter Juden hatte so im offiziösen DDRGeschichtsnarrativ keinen eigenen Ort. Zwar als Opfer des Faschismus anerkannt, wurden sie schon früh den kommunistischen Widerstands-Kämpfern untergeordnet und, die Verfolgungspraxis der Nazis auf den Kopf stellend, in staatlichen Gedenkstätten der Nationalität ihrer Herkunftsstaaten zugeschlagen.4 Der kommunistische Widerstand war jene historische Konfiguration, um die herum sich das kollektive Gedächtnis zu formieren hatte. Der Antifaschismus als wichtigstes Identitätsattribut der DDR stand damit auf keinem ethischen, sondern auf einem ideologischen Fundament. Die moralische, juristische und politische Verantwortung für die faschistischen Verbrechen trug nach diesem gedächtnisbildenden Dogma allein der andere deutsche Nachkriegsstaat, da dort die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als ›Quelle allen Übels‹ fortdauerten. Versuchte ein Auschwitz-Überlebender wie Peter Edel unter diesen Bedingungen Zeugnis abzulegen und seine Erinnerungen zu veröffentlichen, dann griff er nolens volens immer unmittelbar ans Fundament des Staates. Der hochpolitische Charakter solcher Texte resultierte in der DDR daraus, dass das mnemonische Potential der Literatur außerordentlich hoch veranschlagt und diese daher auch strikt sanktioniert wurde. Regulierend fungierte dabei der Begriff der Parteilichkeit,5 der als eine der Schlüsselkategorien des poetologischen Leitkonzepts Sozialistischer Realismus unter dem Primat der Politik stand. Diese Variante des literarischen Engagements trug die Mitverantwortung für die Epoche, die Sartre vom Individuum aus definierte,6 von außen 3

4

5

6

Vgl. Olaf Groehler, »Erblasten. Der Umgang mit dem Holocaust in der DDR«, in: Hanno Loewy (Hrsg.), Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992, S. 110–127. Vgl. Mario Keßler, Die SED und die Juden. Zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995, S. 116; vgl. auch Thomas Taterka, »Mythen und Memoiren im Antiglobkestaat. Konturen des zwischen Buchenwald und Auschwitz gespaltenen Lagerdiskurses in der DDR«, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, 11/2000, S. 119–167, hier S. 129. Vgl. Thomas Schmidt, »Über Redeweisen der Literaturwissenschaft, die Zäsur von 1848 und das (un)literarische Engagement der ›DDR-Literatur‹«, in: Willi Huntemann u. a. (Hrsg.), Engagierte Literatur in Wendezeiten, Würzburg 2003, S. 62–66. Vgl. Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur?, Reinbek 1986.

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an die Schreibenden heran. Gefordert wurden von den Schriftstellern jedoch keine Propagandatexte, sondern eine literarische Haltung zur Welt, die sich am marxistisch-leninistischen Fortschrittskonzept orientierte. Das schränkte Themen, Stoffe und Schreibweisen ebenso radikal ein wie die Profilierung von Protagonisten und beeinflusste die literarischen Strategien auch der anderen beiden Shoah-Erzähltexte, die Überlebende in der DDR geschrieben und publiziert haben: Jakob der Lügner von Jurek Becker (1969) und Der siebente Brunnen von Fred Wander (1971).7 Die folgende Analyse der Bücher von Edel, Becker und Wander8 zielt auf eine konfliktuöse Situation bei der Gedächtnisbildung im Zeichen der Katastrophe, denn hier musste für die singulären Shoah-Erfahrungen nicht nur überhaupt eine sprachliche Form gefunden, sondern diese zugleich auch gegen machttechnisch regulierte Redebedingungen behauptet werden. Auch wenn Wander einen österreichischen Pass besaß und Becker sich nur an Bruchstücke dessen erinnern konnte, was er in Ghetto und Lagern erlitten hatte, so müssen beide doch wie Edel als Shoah-Opfer unter DDR-Bedingungen schreiben. Mit diesem Ansatz folgt die Analyse der von Constanze Jaiser jüngst wieder eingeforderten Differenzierung zwischen der Shoah als literarischem Stoff oder Thema auf der einen und der Besonderheit der »Zeugnisliteratur«9 auf der anderen Seite, die einer systematischeren Erforschung erst noch bedürfe. Hier soll dazu als erstes Edels Roman in den Blick genommen werden, denn in dessen narratologischen und konzeptuellen Inkonsistenzen treten die Aporien der Vermittlung zwischen staatlichen Vorgaben und eigener Leidenserfahrung am deutlichsten zu Tage. 7

8

9

Jurek Becker, Jakob der Lügner, Rostock 1982; Fred Wander, Der siebente Brunnen, Berlin/Weimar 1976. (Zitatnachweise mit Sigle JL (= Jakob der Lügner) und SB (= Der siebente Brunnen) und Seitenzahl in Klammern im laufenden Text.) Bislang wurden die drei Texte nicht zusammen diskutiert. Zu Ansätzen, bei denen zumeist Beckers Roman einen der Pole abgibt, vgl.: Paul O’Doherty, The Portrayal of Jews in GDR Prose Fiction, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 141ff., 165f.; Claude D. Conter, »›Alle Kommunisten sind Juden, alle Juden können Kommunisten werden.‹ Über das Verhältnis von Juden und antifaschistischem Widerstand in der sozialistischen Literatur«, in: Paul O’Doherty (Hrsg.), Jews in German literature since 1945: German-Jewish Literature?, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 295–314, hier S. 304ff.; Frank Schenke, »Kommunisten, Schnorrer und Heimatlose. Jüdische Figuren in literarischen Texten von Peter Edel, Stephan Hermlin und Jurek Becker«, in: ebd., S. 315–325. Constanze Jaiser, »Die Zeugnisliteratur von Überlebenden der deutschen Konzentrationslager seit 1945«, in: Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, Berlin 2006, S. 107–134, hier S. 108. Eke hat diese Differenzierung in seinem instruktiven Aufsatz über »Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR« nicht vorgenommen (vgl. ebd., S. 85–106).

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II. In Edels Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart, so der Untertitel, wird die Hauptfigur Frank Schattmann, ein in Ostberlin wohnender Maler und wie der Autor Auschwitz-Überlebender, zunächst als juristischer Zeuge eingeführt: Eine bevorstehende Aussage im Prozess gegen Adenauers »liebstes Kind« (BS 512), Staatssekretär Hans Globke, im Jahre 1963 setzt die Erinnerung Schattmanns und die Erzählung Edels in Gang. Realiter sollte dieses Verfahren vor dem Obersten Gericht der DDR, in dem der Autor selbst als Zeuge auftrat,10 der internationalen Öffentlichkeit im Gefolge des Jerusalemer Eichmann-Prozesses die Beteiligung eines hohen westdeutschen Funktionsträgers an den Nazi-Verbrechen aufzeigen und damit – so SED-Propagandasekretär Norden – auch die »Identität der Adenauerschen mit der Hitlerschen Politik«.11 Globke, der an den Nürnberger Rassegesetzen mitgearbeitet hatte, wurde in einer aufwendigen Propagandainszenierung in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Eines der sechs Roman-Kapitel, Die Tangente, hat allein die Aufgabe, diese personelle Kontinuität von Nazi- und Westdeutschland zu demonstrieren. Dort wird in einer Parallelhandlung der letzte Arbeitstag des Kriminalisten Koberschulte erzählt, der Schattmann und dessen in Auschwitz ermordete Frau Esther als Gestapomann einst verhört hatte und für deren Deportation mitverantwortlich war. Koberschulte, der nun 1963 als angesehener Münchner Kommissar in Pension geht, zählte zu den »bis auf weiteres nicht entbehrliche[n] Fachkräfte[n], behütet und bezahlt von der Auschwitz-Industrie, gedeckt vom Kanzleramt, gebraucht von der ganzen Eichmannschaft« (BS 633).Gibt der Roman ansonsten die Perspektive des Zeugen Schattmann nur selten auf, so ändert sich in diesem Kapitel der Modus des Erzählens grundsätzlich. Zwar bleibt es wie bisher weitgehend bei einer internen Fokalisierung,12 doch geht sie von Schattmann auf Koberschulte über, um über diesen das westdeutsche System zu demaskieren. Bis hierhin präsentiert sich Edels Roman auch stilistisch als ein holzschnittartig gearbeitetes Stück Propagandaliteratur, das die DDR jenseits aller Kritik stellt. Motiviert wird diese Glorifizierung durch eine lebensgeschichtliche Konsequenz, die Autor wie Protagonist aus ihren Leidenserfahrungen gezogen haben. Danach ist die ostdeutsche Gesellschaftsordnung 10

11

12

Edel nannte diesen Auftritt ausschlaggebend für die Entstehung des Romans: vgl. ders., Wenn es ans Leben geht. Meine Geschichte, Berlin 1979, Bd. 1, S. 67f. Albert Norden, »Der Eichmann von Bonn«, zit. nach Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, S. 220. Gérard Genette, Die Erzählung, München 1994, S. 134.

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die einzig richtige Antwort auf die nationalsozialistischen Verbrechen und garantiere, dass »nie mehr ein Auschwitz sich wiederholen« (BS 600) könne. Der Preis für diese erzählerische Verifizierung der DDR-Staatsideologie ist hoch. Denn die Fremdperspektive Koberschultes lässt die Zeugnisintention des Romans, die textintern durch die Bindung an Schattmanns Perspektive und textextern durch die Biographie des Autors abgesichert scheint, implodieren. Dass diese Spannung zwischen DDR-Selbstbild und Zeugnisintention prinzipieller Natur ist, veranschaulicht eine weitere narrative Devianz, die das Auschwitz-Kapitel Das Wiedersehen prägt. Dort alternieren die Zeitebenen in schneller Folge. Passagen aus der Gegenwart (Besucher der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau) und der Vergangenheit (Häftling in Auschwitz) lösen sich in einer Weise ab, die Schattmanns Gedenken unmittelbar den politischen Deutungsmustern unterstellt. Die Erinnerung an den Ort, […] wo alles, was er einmal für sein Ich gehalten, umgeschmiedet worden ist, wo er die Grenze überschreiten mußte, hinter der Menschenfurcht, Tod und Schmerzen keine Macht mehr haben […,] (BS 620)

wo er seine Frau kurz vor ihrem Gang in die Gaskammer das letzte Mal sah, ist gänzlich imprägniert mit sozialistischer Gegenwart: Über der Gedenkstätte weht eine DDR-Fahne – als »Symbol der Freundschaft für die Männer und Frauen« (BS 600), die das Lager überlebten. Der Grund für die signifikante Gestalt dieses Kapitels ist heikel und für den gesamten Roman symptomatisch. Um seiner eigenen Erinnerung willen musste Edel Auschwitz als Gedächtnisort gegen die ostdeutsche Geschichtspolitik exponieren, der er doch eigentlich zuarbeiten wollte. In der bipolaren DDR-Gedächtnisökonomie hatte Auschwitz nämlich eine Funktion, die die jüdischen Leiden schlichtweg ausblendete oder zumindest instrumentalisierte: Während Buchenwald – ich komme darauf zurück – den antifaschistischen Widerstand und damit die helle Vorgeschichte der DDR repräsentierte, stand Auschwitz seit den 1960er Jahren als Symbol für die »dunkle Traditionslinie der deutschen Geschichte, die auslief in der als faschistisch oder doch sich refaschisierend gedeuteten Bundesrepublik«.13 Auschwitz galt der Ostberliner Führung als jener Ort, an dem die imperialistischen Kräfte, die nunmehr in Bonn regierten – die »Auschwitz-Industrie« (BS 633) – aus Gründen der Profitmaximierung Millionen Juden umbrachten.14 Diese Instrumentalisierung konnte Edel sichtlich nicht mitvollziehen. Für ihn war 13 14

Taterka, »Mythen«, S. 129f. Zu Auschwitz in der DDR vgl. ebd., S. 153–160.

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Auschwitz ein Gedächtnisort, der sich der von ihm selbst nachdrücklich mitbetriebenen ideologischen Polarisierung nicht fügen wollte. So widmete er Auschwitz zum Symbol sozialistischer Solidarität und Zugehörigkeit um: eine Retusche am DDR-Selbstbild, die die Differenz zwischen eigener Erfahrung und staatlicher Geschichtspolitik überdecken sollte. Schattmann sagt nicht nur vor Gericht zugunsten des sozialistischen Staates und seines Geschichtsnarrativs aus. Er ist auch Zeuge in einer Sache, die nicht mit den politischen Vorgaben in eins geht: Zeuge der Leiden der verfolgten und ermordeten Juden. Die im Titel avisierte Zeugenschaft hat so zwei miteinander konfligierende Referenten, die Edel sichtlich zu verbinden gewillt war. Das zeigt u. a. die Tatsache, dass der therapeutische Erzählimpuls gleich dem juristischen sofort ins Politisch-Programmatische gewendet wird: Erinnernd will sich Schattmann vom Lastenden und Lähmenden seiner Erfahrungen lösen, um sich als Künstler »[f]ürs Heutige« (BS 31) zu öffnen. Das wird in seiner ganzen Tragweite aber vor allem in der anfangs kommentierten, zweiten Initiationssituation des Bezeugens offenkundig, in der Schattmann von dem Kommunisten Wall beauftragt wird, seine Erinnerungen aufzuschreiben und die Shoah ins DDR-Geschichtsbild einzupassen. Seinen außerordentlichen Integrationswillen brachte Edel später in seiner Autobiographie auf den Punkt. Im Rückblick auf den Roman kommt er dort auf die eigene Verantwortung als Zeuge zu sprechen: »[U]nter den Millionen Bürgern meines Landes« seien »nur noch wenige Tausende verblieben […], die gleiches oder ähnliches wie ich erfahren hatten, immer weniger Menschen, die es aus eigenem Erleben nachfolgenden Generationen überliefern können«. Die Konsequenz, die Edel aus dieser Einsicht zieht, birgt auch die Programmatik seines Romans: »Gesellschaftlicher Auftrag heißt es und ist nicht zu lösen vom inneren Auftrag.«15 Welche Energie dieser Autor daran setzte, den »gesellschaftliche[n] Auftrag«, also den Bericht über die faschistischen Verbrechen gemäß dem offiziellen Geschichtskonzept und den vorstellungsbildenden Forderungen an die Schriftsteller, und den »inneren Auftrag«, also den Zwang zu bezeugen, was er tatsächlich erlebt hat, kongruent zu halten, zeigt die Distanzierung von seinem ersten Roman Schwestern der Nacht. Edel bewertete diesen authentischen Versuch, »sich zu befreien von einem unheilbar fressenden Schmerz« – unmittelbar nach dem Ende der faschistischen Diktatur »[w]ie im Fieber« unternommen –, später als »[e]in allgemein Menschliches, das niemandem weh tat, schon gar nicht denen«, die er treffen wollte. Er ließ das Buch nicht wieder auflegen und schwor sich stattdessen: 15

Edel, Leben, Bd. 1, S. 400.

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Sollte ich nochmals ein Buch schreiben, dann muß dieses zweite […] vieler Menschen Geschichten in einer größeren zusammenfassen, nicht bloß das Gewesene, sondern auch das, was ist und sein wird.16

Als Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart wird Die Bilder des Zeugen Schattmann dieses Buch sein. Dass Edel die Engführung von Erfahrung und Ideologie nicht immer gelingen wollte, zeigt sich innerhalb wie außerhalb des Romans. Für Letzteres steht die verweigerte Unterschrift unter die Erklärung jüdischer Bürger der DDR, die Albert Norden, nicht nur Sekretär des SEDPolitbüros, sondern auch Sohn eines Rabbiners, 1967 anlässlich des israelischen Sechstagekrieges aufgesetzt hatte.17 Die antizionistische Diktion und die Reduktion des jüdischen Staates auf seine vermeintlich imperialistische Aggressivität konnte dieser Autor sichtlich nicht mittragen.18 (Auch bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wird Edels Treue zur Staatsdoktrin versagen, denn er kann sich nicht für eine eindeutige Verurteilung entscheiden, weil Biermann »einen Vater hatte, der […] in Auschwitz umgebracht worden war«.)19 Die untilgbare Differenz zwischen der eigenen Lebensgeschichte und dem Konzept, in das sie integriert werden soll, prägt im Roman das in Position und Länge zweite Kapitel. Dort kommt unter dem Titel Der Freitagabend das jüdische Leben im Berlin der 1930er Jahre zur Sprache – im Augenblick seines Erlöschens: Es sollte »noch einmal wie sonst am Freitagabend sein« (BS 96). So treffen sich im Jahr 1942 die wenigen übriggebliebenen Freunde, Bekannten und Verwandten des hochangesehenen und sozial engagierten Arztes Bernhard Marcus, einer nathanesken Figur, in dessen Haus. 16 17

18

19

Ebd., S. 67. Vgl. Neues Deutschland, 09. 06. 1967, S. 2; zum Kontext vgl. Keßler, SED und Juden, S. 132–147, und Jutta Illichmann, Die DDR und die Juden. Die deutschlandpolitische Instrumentalisierung von Juden und Judentum durch die Partei- und Staatsführung der SBZ/ DDR von 1945 bis 1990, Frankfurt a.M. u. a. 1997, S. 210–213. Die Erklärung wurzelte in der Definition Israels als imperialistischer Staat, dessen Ideologie und Politik »mit jener des deutschen Faschismus zumindest klassenverwandt« sei (Kurt Pätzold, »Einleitung«, in: ders. (Hrsg.), Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, Leipzig 1983, S. 28). Edel, der in Berlin aufwuchs und vermittelt durch seinen als Feuilletonisten bekannten Großvater Edmund Edel u. a. bei Max Liebermann und Käthe Kollwitz Zeichenunterricht erhielt, stammte aus einem liberalen jüdisch-deutschen Elternhaus. Er feierte die Barmizwah, weil sein jüdischer Vater »in dem uralten Brauch eine Kulturtradition sah« und seine deutsche Mutter »meinte, daß man ja ›an irgend etwas glauben‹ müsse« (Edel, Leben, Bd. 1, S. 146). Auch nach 1945 beendete Edel Briefe bisweilen mit »Zionsgruß« (vgl. Taterka, »Mythen«, S. 135). Edel, Leben, Bd. 2, S. 32f.

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Darunter sind auch Frank Schattmann und seine Frau Esther, Marcus’ Nichte. Alle Anwesenden tragen den gelben Stern: Pianisten, Kunst- und Modehändler, Ärzte, Professoren und eine Rebezzin. Kommunisten gehören nicht zu dem Kreis, über dem die am nächsten Morgen bevorstehende Deportation des Hausherrn schwebt. Unter diesen bedrückenden Vorzeichen orchestrierte Edel jene Deutungsmuster und Strategien, mit deren Hilfe die Bedrohten ihre Situation zu verstehen und in ihr zu überleben versuchten. Unwidersprochen bleibt dabei Marcus’ Resümee, eine Abrechnung mit dem assimilierten jüdischen Bürgertum (vgl. BS 152–158, 164ff.), das nun vom Hitler-Regime auf die kollektive Identität der Eltern und Großeltern zurückgezwungen wird. Marcus, der den bürgerlich-liberalen Bildungshorizont repräsentiert, in dem Freud und Nietzsche ebenso Platz finden wie Marx und Mehring, leistet dabei eine Abbitte: Er hätte Marx und Engels zwar gelesen, jedoch nicht viel verstanden und vor allem keine Schlüsse daraus gezogen: [I]ch hab auch versagt; in und mit meiner Klasse, die für mich nur als abgetakelter Begriff existierte und die doch zuletzt selbst hervorbrachte, was meiner sogenannten Rasse, die ich gewiß nie verleugnete, Vernichtung bringt. (BS 166)

Doch diese Umwidmung der Geschichte der jüdischen Assimilation zugunsten der marxistischen Klassentheorie erlangt nicht den Stellenwert eines Vermächtnisses und bildet nicht den Höhepunkt des Abends. Performativ und diskursiv läuft der letzte Freitagabend in Marcus’ Haus – markiert auch durch eine deutliche stilistische Zäsur – auf den Auftritt eines letzten Gastes zu, der erst nach Marcus’ Resümee erscheint: »Es stand aber vor Bernhard Marcus im Türrahmen, in schwarzem Mantel und verdrücktem Hut, hager, bleich und verlegen, Elias Leiser Lernman der Tiftler.« (BS 175) Mit diesem orthodoxen Juden osteuropäischer Herkunft hält »die Prinzessin Sabbat« (BS 185) Einzug. Durch Lernman, schon im Namen der Thorakundige, wird der Freitagabend, mithin der bislang nicht als solcher ausgewiesene Beginn des jüdischen Wochenfeiertages, an die jüdische Tradition zurückgebunden. Er […] war der einzige, der nach Väterbrauch den Sabbateingang geziemend feiern konnte im Hause des Doktor Marcus, wo sonst nichts gefeiert, nichts gehalten wurde, was nur im entferntesten an jenen Ritus erinnerte, in dessen Satzungen der Chederschüler Elias einstens aufgewachsen war. (BS 177)

Das Lamentieren, die Verlassenheit und die gegenseitigen Vorwürfe verlieren mit Lernmans Auftritt ihre Macht über die Versammelten: »Alle guckten sie zu Leiser Lernman hin wie in der Erwartung, daß er nun anweise, was weiter zu geschehen habe.« (BS 180) Und nachdem er das Ritual vollzogen und den Kiddusch über den Wein gesprochen hatte, hoben sie

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[…] einander die Gläser zu und wünschten sich, jeder und jede an das unabänderlich gleiche denkend, trotzdem: »Zum Leben! Zum Leben in Frieden und Gesundheit!«, wünschten sich mit bebender Stimme: »Le chajim, le chajim«, nachdem Elias es als erster ausgesprochen hatte. (BS 195)

Lernmans Sabbatfeier und die Weisheit seiner Worte werden Marcus’ bitterem Resümee an die Seite gestellt; in gewisser Weise überlagern sie es sogar, denn nicht der Arzt, sondern der Thorakundige hat das letzte Wort des Abends, der mit seinem Abgang endet. Während also Schattmanns Distanz zu seinen Verwandten an diesem Abend wächst, ist Edels Erzählung selbst ohne jeden Abstand zu Lernman. Sie vollzieht sich vielmehr ganz im Bann seines Auftritts, mit dem die Menschlichkeit in die Runde zurückkehrt. Bedeutung im Romanganzen bekommt die Episode, weil dieser Freitagabend für den Protagonisten Schattmann einen Wendepunkt darstellt. Das Gewirr verzweifelter, mut- und hoffnungsloser Stimmen, das bis zu Leisers Kommen die Runde beherrschte, führt Schattmann endgültig zu der Einsicht, »sich wehren zu müssen« (BS 304); eine Einsicht, die der Kommunist Wall wenig später in die ›richtigen‹ Bahnen lenken wird, indem er den jüdischen Fall herunterspielt: Die Schattmanns sollten sich endlich von dem Irrglauben frei machen, dass es nur um die Juden ginge: Nicht die Rassenfrage, nein, die Klassenfrage sei zu stellen (vgl. BS 301–312). Wall, der Schattmann nach beider Befreiung aus den Lagern auffordern wird, die Geschichte als »unsere« aufzuschreiben, hatte Schattmann inmitten der Bedrohungen und Verfolgungen im Berlin der 1930er Jahre einen politischen Handlungsrahmen und die Möglichkeit zum Widerstand eröffnet. Anders gesagt: Die passiven Juden wurden – ganz im Sinne des Dogmas von der führenden Rolle der Partei – durch den aktiven, wehrhaften Kommunisten politisch erzogen. Wird also an diesem Abend der Wechsel der Lehrerfiguren – vom liberalen, sozial engagierten Bildungsbürger Marcus zum kämpferischen Kommunisten Wall – vorbereitet, so tritt unvermittelt der Orthodoxe Lernman als potentielle dritte Lehrerfigur zwischen Marcus und Wall. Die Tatsache, dass Edel den »Tiftler« nicht in Schattmanns Bildungsweg integriert, seinen Auftritt aber derart exponiert und als Widerstandsakt gegen die Inhumanität gestaltet, setzt die ideologische Programmatik des Romans hier außer Kurs. In seiner Funktionslosigkeit nachgerade zelebriert, zeigt Leisers Auftritt den letzten Aufschein einer anderen Beheimatung, die von der sozialistischen Gegenwart verschwiegen und übergangen wird.20 20

Über die Brisanz der Lernman-Episode muss sich Edel im Klaren gewesen sein, denn er hat die Passage, als wollte er mögliche Reaktionen testen, vorab in der Zeitschrift des DDR-Schriftstellerverbandes veröffentlicht (vgl. Neue Deutsche

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Die politische Intention der Erzählung wird auch an anderer Stelle unterlaufen – durch eine existentielle Erinnerung des Autors. Gemeint ist das einzige erfolgreiche »Beispiel für einen Massenprotest gegen die Deportation deutscher Juden«:21 der Widerstand des Herzens auf der Berliner Rosenstraße. Im März 1943 demonstrierten mehrere Hundert zumeist ›arische‹ Frauen eine Woche lang trotz Bedrohung durch SS und Gestapo vor dem ehemaligen jüdischen Wohlfahrtsamt am Rande des Scheunenviertels gegen die Verhaftung ihrer jüdischen Männer und Söhne – und zwar so lange, bis alle Internierten freigelassen wurden. Edel stammte aus einer von den Nazis so bezeichneten ›Mischehe‹, und Schattmanns Mutter gehört im Roman ebenso zu den Demonstrantinnen (vgl. BS 385–389) wie Edels Mutter in der Realität; Edel selbst hatte diesem Protest seine Entlassung zu verdanken.22 Dass diese erfolgreiche Protestaktion diametral zur DDR-Geschichtspolitik mit ihrer Fokussierung auf den kommunistischen Widerstand stand, muss nicht eigens erläutert werden. Edels Roman füllt hier eine Leerstelle im kollektiven Gedächtnis aus, unterlässt es aber – trotz der ansonsten permanent politisch wertenden Erzählkommentare – das subversive Potential dieser Geschehnisse einzudämmen. Alles in allem versuchte Edel, seine identitätsbildenden Erfahrungen als junger assimilierter Jude im Dritten Reich und als Überlebender der Shoah mit dem Selbstkonzept des ostdeutschen Staates zu vermitteln. Dazu stellte er seine Zeugenschaft strikt auf die Antifaschismus-Doktrin und die marxistische Fortschrittslogik ab. Doch die eigene katastrophische Lebensgeschichte war widerständig gegen die Klassenkampfideologie: Sie ließ sich nicht ohne Rest in »unsere« Geschichte einpassen. Sie untergrub die Intention des Textes und stellte diesen im Rahmen der DDR-Geschichtspolitik partiell fremd. Das wurde insbesondere im Abschnitt Der Freitagabend greifbar, der auch stilistisch durch das weitgehende Fehlen einer hülsenhaften Parteisprache und durch biblische, jiddische und hebräische Einsprengsel in Differenz zu großen Teilen des Buches steht. Indem der Roman dort den bedrohten

21

22

Literatur, 15. 02. 1967, S. 15–69). Der Gestaltungswille des Autors tritt im Übrigen offen zutage, vergleicht man Lernman mit seinem realen Vorbild, dem ostjüdischen Kürschnermeister Zuckermann, der von Edels Familie öfters zu Festen eingeladen wurde, weil er »ein brillanter Unterhalter« war, der »unübertrefflich Witze zu erzählen« wusste, »mal auf jiddisch, mal auf deutsch, mal beides verschleifend« (Edel, Leben, Bd. 1, S. 220). Menschlichkeit und Wärme, die Lernman auszeichnen, fehlen dem Vorbild. Nathan Stoltzfus, Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße 1943, München/Wien 1999, S. 18. Vgl. Edel, Leben, Bd. 1, S. 312f.

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Juden Namen und Lebensschicksale, kurz: ihre Individualität wiedergibt, arbeitete er unausgesprochen der Herunterstufung der jüdischen Erfahrung und Identität durch die ostdeutschen Leitkonzepte entgegen. Letzten Endes boykottieren sich die Aufgaben, die Edel seinem Text aufbürdet, jedoch gegenseitig. Der innere Auftrag durchkreuzt den gesellschaftlichen und dieser hindert jenen an seiner Entfaltung. Der Zwang, der Katastrophe einen Sinn geben zu müssen, führt dazu, dass das Bezeugen um der Gerechtigkeit und der Ermordeten willen durch die ideologiegesteuerte Fiktionalisierung der eigenen Erinnerung in eine Legitimation der Lebensentscheidung für den Kommunismus und die DDR umgeleitet wird.

III. Ganz anders verhält es sich bei Fred Wander, dem Christa Wolf 1972 attestierte, Der siebente Brunnen sei »von heute aus geschrieben«.23 Doch eine Erzählung über deutsche Vergangenheit und Gegenwart im Sinne Edels ist Wanders Text ebensowenig wie Jurek Beckers Jakob der Lügner. Beide Bücher verweigern sich nachdrücklich der Einbindung in »unsere« Geschichte – und das mit elaboriert literarischen Mitteln. Der faktische Rahmen von Wanders Erzählung ist authentisch. Der Leidensweg seines jüdischen Ich-Erzählers entspricht dem des Autors, der im Ganzen »an die zwanzig verschiedene französische und deutsche Lager gesehen«24 hatte und 1945 aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit wurde. Dass Wander seinem Text keine ausdrückliche Differenz zwischen Erzähler und Autor eingezogen hat, spricht ebenso unverkennbar für eine Zeugnisabsicht wie der narrative Modus, der immer an das Erleben des IchErzählers gebunden bleibt und etwa für nur Gehörtes stets Quellen anführt. Auch jene Attribute, die Wander selbst für seine Schreibhaltung nennt, stehen dafür: »[ä]ußerste Sparsamkeit, Zurückhaltung, Offenheit, Einfachheit, Klarheit, Sachlichkeit, Präzision und vor allem Aufrichtigkeit«.25 Doch einen dokumentarischen Anspruch stellt der Text nicht. Die große sprachliche Dichte, ja Poetizität des Textes und insbesondere die mannigfachen Erzählsequenzen verweisen auf eine andere Intention. Diese bestimmt das ganze 23

24 25

Christa Wolf, »Gedächtnis und Gedenken. Fred Wander: Der siebente Brunnen«, in: dies., Die Dimension des Autors. Aufsätze und Essays, Reden und Gespräche, Berlin/Weimar 1986, Bd. 1, S. 133–144, hier S. 137. Fred Wander, Das gute Leben. Erinnerungen, München/Wien 1996, S. 58. Wolfgang Trampe, »Fred Wander. Der siebente Brunnen – Gespräch mit dem Autor«, in: Sonntag. Wochenzeitung für Kulturpolitik, Kunst und Wissenschaft, 25.20/1971, S. 7.

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erste Kapitel. Der Ich-Erzähler erinnert sich dort, wie er versuchte, »das Handwerk des Erzählens zu erlernen« und seinen Mithäftling Mendel Teichmann danach fragte, »[w]ie man eine Geschichte erzählt« (SB 8). Doch Mendel, ein »Meister des Wortes«, dessen Geschichten »magische Kräfte« (SB 7) hatten, starb an den grausamen Torturen der Wärter, bevor er den Wissensdurst des Fragenden stillen konnte. Mit dieser Eröffnung reflektiert sich das Erzählen von Beginn an selbst: Es wird zu einem Thema des Textes. Nicht nur stellt sich sogleich die Frage, wodurch das Ich jene erzählerischen Fähigkeiten hat ausprägen können, die sich im vorliegenden Text manifestieren. Es fragt sich auch, welchen Zweck Wander mit der Fähigkeit, erzählen zu können, verbindet, wenn er sie gleich zu Beginn derart herausstellt. Das zweite Kapitel, Wovon der Mensch lebt, gibt auf beides eine Antwort, denn dort wird das Erzählen anthropologisch und ethisch konnotiert: Es wird zum Lebensmittel26 – für diejenigen, die selbst zum Wort fanden, und auch für ihre Zuhörer. Geschichten wie die Mendels lindern die Abstumpfung der Häftlinge und geben ihnen Gefühle und Hoffnungen zurück: »[E]s verwandelte sie, kehrte ihre Blicke nach innen, ließ sie Tränen vergießen und lachen, geißelte sie, erstickte sie, ließ sie ächzen und sogar schwitzen.« (SB 7f.) Behauptung und Gewinn der Fähigkeit zu erzählen, erweisen sich als Widerstandsakte gegen die drohende Entmenschlichung. Ein Lebensmittel war und ist das Erzählen sichtlich auch für den Erzähler des Siebenten Brunnens. Seine Frage danach, »[w]ie man eine Geschichte erzählt«, konnte Teichmann nicht mehr beantworten. Die Qualen der Lager erzwangen die Antwort. Der Erzähler erwarb seine Meisterschaft nicht als eine technische, sondern als eine existentielle – zur Selbstbehauptung und als Antidoton gegen die Inhumanität. Damit wird Der Siebente Brunnen selbst zu einem Zeichen bewahrter und praktizierter Menschlichkeit. Diese Selbstbestimmung des Erzählens gilt also nicht nur für die erzählten Geschichten: Sie ist die Botschaft des Buches und macht auch die von Christa Wolf herausgestellte Gegenwärtigkeit aus. Als Zeichen bewahrter und praktizierter Menschlichkeit bleibt Wanders Text indes weder politisch noch kulturell unbestimmt. Zwar beansprucht der Erzähler nicht die messianische Kraft Mendel Teichmanns, der versucht hatte, »für jeden Schlag, für jede Demütigung, und für das Lachen angesichts unserer Martern […] ein erlösendes Wort« (SB 13) zu finden. Doch er bindet 26

Das Erzählen, »vielleicht die einzige« Kunst, »die uns öffnen und verwandeln kann« (Wander, Leben, S. 313), so der Autor später, sei eine »Gabe des Menschen, auch am Abgrund zu reden, sich mitzuteilen, Erfahrungen auszutauschen und dadurch zu überleben« (ebd., S. 75f.).

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die humanisierende und hoffnungsspendende Macht des Erzählens an die jüdische Tradition zurück, deren Weiterbestehen der Text damit im Angesicht ihrer geplanten Vernichtung zugleich bezeugt: Erprobt in den Bedrohungen, Leiden und Vertreibungen in der Galuth, zeigt sich das Erzählen als Mittel derer, »die seit Jahrhunderten verfolgt sind und daher im Worte leben« (SB 43). Erst im Kontext der katastrophischen jüdischen Geschichte offenbart sich die Selbstthematisierung des Erzählens dann auch in ihrer ganzen Komplexität und reflektiert über den Zweck hinaus ebenso die narrativen Mittel. Dabei geht es jedoch nicht um die Frage der Repräsentierbarkeit der Shoah. Wander interessiert an der Sprache nicht vorrangig ihre Abbildqualität, sondern ihr humanisierendes Potential: Es sind die Deutungsmuster des Geschehens, die im Siebenten Brunnen reflexiv werden. Das avisiert bereits der Buchtitel, der auf ein jüdisches Deutungsmuster der Shoah verweist, das dann im Text evaluiert und umgewertet wird. Teichmann interpretiert inmitten der Erzählung Rabbi Löws Zyklus Die sieben Brunnenkränze: »Wie sagte der große Rabbi Löw? Der siebente Brunnen aber wird wegspülen, was du angehäuft hast« (SB 48). Die gegenwärtigen Leiden und die existentielle Gefährdung legt Teichmann dann als Formen der Prüfung aus, in deren Resultat der Mensch geläutert bei sich selbst angekommen sein wird. Diese Sinngebung der Shoah wird von der Erzählung ex post destruiert, und zwar – das ist der springende Punkt – ohne dass Teichmanns Auslegung in ihrer Überlebenswillen stiftenden Funktion in Abrede gestellt würde. Nirgends akzeptiert die Erzählung die Leiden als zukunftsverheißende Prüfung. Nirgends wird der drohende Tod zugunsten eines religiösen oder politischen Dogmas instrumentalisiert: Nein, wir wollen nicht unterstellen, daß die Stunden unter dem Galgen das Daseinsbewußtsein erhöhen. Es wäre Wasser auf die Mühlen der Verächter des Lebens. Nehmen wir alles für bare Münze: Sterben heißt sterben! (SB 115)

Unter diesen Vorzeichen geraten die humanisierende und hoffnungsspendende Kraft des Erzählens und dessen von der Erzählung selbst destruierte Deutungsmuster, die doch die Hoffnung inhaltlich begründen sollen, in Konflikt. Wenn sich Wander im Schlussbild seines Zeugnisses für das Leben und die Hoffnung entscheidet, dann wird dieser Widerspruch, dessen politischer Gehalt noch zur Sprache kommen soll, aber nicht aufgelöst, sondern in eine Frage überführt: Der Ich-Erzähler erlebt die Befreiung in der Kinderbaracke des KZs Buchenwald. Doch nicht die von Ferne zu ihm dringenden Kampfgeräusche erfüllen ihn mit »Jubel«, sondern die »Gesichter Joschkos und seiner Brüder! […] Mancher möge sagen, […] die bestialischen Bedingungen des Lagers

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hätten ihre menschliche Substanz zerstört. Es ist nicht wahr.« »[E]s ist nichts verloren«, wusste der Erzähler: »Es fängt alles wieder an«. Diese Überzeugung wird in ein Symbol des Weiterlebens des jüdischen Volkes überführt, denn neben der »Meute kleiner Judenkinder« (SB 136f.) liegt ein soeben gestorbener Häftling mit mosaischem Habitus, […] ein Unbekannter, Namenloser, ein Weiser mit ebenmäßigen Zügen und einem wohlgeformten weißen Bart und einer mächtigen, wie aus Elfenbein geschnitzten Nase. […] [D]as Bildnis der Vollendung des Menschen: alt geworden, rund das Leben und hingeworfen ohne Klage und ohne ein überflüssiges Wort. […] Er hatte sich weitergereicht. Joschko und seine Brüder, die es nicht wußten, hatten den Stab, den er hingeworfen, aufgehoben und trugen ihn mit sich fort. (SB 138)

Es ist nicht zu übersehen, dass diese Szene, die man durchaus einer Verklärung des Sterbens zeihen könnte, einem religiösen Deutungsmuster folgt. Verweist die Stab-Metapher auf die göttliche Legitimation der Führerschaft Moses’ über das Volk Israel, so referiert die Weitergabe dieses Stabes auf Moses’ Tod, in dessen Folge Josua zum Führer der Israeliten wird. (Der Name Joschko, dessen Träger »mit seinen zehn Jahren schon Vater und Stammesältester« (SB 136) war, ist eine Ableitung von Josua.) In dem verklärten Tod des Alten in der Kinderbaracke spiegelt sich dann auch das Ende des Mose, den Jahwe vom Gipfel des Nebo das gelobte Land sehen ließ und ihm versprach: »Deinen Nachkommen werde ich es geben« (5. Ms 34,4). Die Spannung zwischen der hoffnungsspendenden Funktion des Erzählens und dem Transparentwerden seiner Deutungsmuster bleibt bis zu diesem Schlussbild gegenwärtig. Gegen den hymnischen Ton und das feierlich Geheimnisvolle, mithilfe derer die Weitergabe des Stabes inszeniert wird, steht die nüchterne Schilderung des pragmatischen Verhaltens der Kinder, die auf der Suche nach Essbarem auch vor der Kleidung des Gestorbenen nicht Halt machten. So zeigt sich das Thora-Interpretament an das situative Interesse des nach Hoffnungszeichen suchenden Zeugen gebunden. Durch die selbstreflexive Anlage seiner Erzählung aber stellt er es der Destruktion anheim, freilich ohne dass dadurch das tatsächlich Geschehene überblendet würde und verloren ginge. Alles in allem ordnet die komplexe Selbstreflexion des Erzählens die im ersten Kapitel gegen Mendel Teichmann vorgebrachte Bitte mit jedem gelesenen Wort um und überdauert die Lektüre in der Frage: Wie und warum erzählt man eine Geschichte – von der Katastrophe? Diese Frage stellt auch Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner, in dem das Erzählen – auch wenn er sich im Einsatz literarischer Mittel erheblich von Wanders Text unterscheidet – auf ähnlich vielschichtige Weise zum Lebensmittel wird. Angesiedelt in einem jener Ghettos, in denen die SS polnische

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und deutsche Juden einsperrte, um sie später in die Vernichtungslager abzutransportieren, entfaltet sich die Handlung aus einer Kette von Zufällen, in deren Folge der Kartoffelpufferbäcker Jakob Heym mit seinen Geschichten dem Ghetto die Hoffnung aufs Überleben zurückgibt. Im Revier der deutschen Wachmannschaft hatte er eine Radiomeldung über den Vormarsch der Roten Armee gehört und – um nicht in den Verdacht der Kollaboration zu geraten – bei deren Wiedergabe notgedrungen vorgegeben, er besäße ein Radio. Überrollt von der Wirkung seines Berichts, erfindet er mit wachsendem Geschick immer neue Nachrichten über den Kriegsverlauf – bis das gesamte Ghetto abtransportiert wird. Indem er erzählt, leistet Jakob Widerstand gegen die Hoffnungslosigkeit: »[V]erstehen Sie, mit Worten versuche ich das! Weil ich nämlich nichts anderes habe!« (JL 160) Doch bei seinem Einsatz der Sprache als Lebensmittel sieht sich Jakob, dessen Familienname vom hebräischen chaijm, Leben, abgeleitet ist,27 einer Schwierigkeit ausgesetzt, die für Mendel Teichmann und seinen Schüler nicht bestand. Während das Erzählen dort auf die ethische Funktion der Sprache setzt, steht hier deren vorstellungsbildende Kraft im Vordergrund: Jakobs erfundene Geschichten müssen glaubwürdig, d. h. wahrscheinlich sein. Nur eine in sich stimmige, empirisch abgesicherte Erzählung und ein sein technisches Repertoire verbergender Erzähler können das »Flämmchen der Erwartung« (JL 123) am Glimmen halten: »In dieser Branche«, ist sich Jakob nach einiger Zeit sicher, »sind Zurückhaltung und falsche Scham nicht angebracht, du mußt da aus dem vollen schöpfen, die Überzeugung muß dir im Gesicht geschrieben stehen« (JL 124). Die Spannung zwischen Illusionserzeugung und Glaubwürdigkeit um der Hoffnung willen bestimmt den ganzen Roman. Denn in Jakobs Erfindungen spiegelt sich jene Geschichte, die der Ich-Erzähler, der »als einer von wenigen« (JL 233) Ghettobewohnern überlebt hat und nicht weniger als sein Held um seine Glaubwürdigkeit ringt, darüber erzählt. Wie bei Wander reflektiert und thematisiert sich das Erzählen auch bei Becker selbst: in der Erzählerrede, in der Spiegelung der narrativen Ebenen und auch in den Erzählsequenzen.28 Den ersten Fingerzeig dafür liefert auch hier der Romantitel, mit dem der Autor zum einen das antisemitische Klischee vom lügenden und betrügenden Juden aufruft, das dann im Text umgedreht wird, zum 27

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Zur Namenssymbolik vgl. Thomas Jung, »Widerstandskämpfer oder Schriftsteller sein«. Jurek Becker – Schreiben zwischen Sozialismus und Judentum. Eine Interpretation der Holocaust-Texte und deren Verfilmungen im Kontext, Frankfurt a.M. u. a. 1998, S. 109ff. Vgl. Elke Kasper, »Nicht zu erinnernde Vergangenheit. Zu Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner«, in: Stephan Braese (Hrsg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a.M. 1998, S. 141–155, hier S. 146f.

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anderen aber auch auf die Lüge als einen Prototyp fiktionalen Erzählens rekurriert. Am wichtigsten für die selbstreflexive Anlage dieses »Roman[s] über das Erzählen«29 ist der Befund, dass dem Ich-Erzähler im Gegensatz zu Jakob »die Überzeugung« nicht »im Gesicht geschrieben« steht. Er stellt sein erzähltechnisches Repertoire nahezu zwanghaft aus und reflektiert dadurch die eigenen Erzählbedingungen vom ersten Satz an mit – und zwar so, als wolle er damit dem Lügenverdacht, unter dem Jakobs Geschichten stehen, für seine eigene vorbeugen. Diese defensive Erzählhaltung wird noch durch eine immer mitschwingende Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit der Darstellung verstärkt. So bietet der Erzähler etliche Authentizitätsformeln und Quellennachweise auf, »bevor der eine oder andere Verdacht sich meldet« (JL 35). Mit Belegen und Beteuerungen wird des Erzählers Seriosität als Zeuge gleichsam inszeniert. Doch sie räumen den »Verdacht« nicht aus. Das für Shoah-Zeugnisse zentrale Problem der Authentizität wird hier – wie das der Hoffnung in einer hoffnungslosen Geschichte – immer wieder aufgeworfen, doch nie beruhigend gelöst. Die fingierte Mündlichkeit30 und die Tatsache, dass der Erzähler letztendlich die einzige Beglaubigungsinstanz ist, sorgen ebenso für eine authentifizierende Unmittelbarkeit, wie die permanente Infragestellung des Erzähler-Wissens und die Offenlegung der narrativen Konstruktionstechniken die Erzählung sogleich wieder entauthentifizieren und fiktionalisieren. Beckers Antwort auf die Frage, »wie man eine Geschichte erzählt«, setzt damit auf eine provokante Mehrfachstrategie, die konventionalisierte Zuordnungs- und Verständniskategorien sowohl für fiktionale Erzählungen als auch für Texte mit dokumentierendem Anspruch verunsichert. Besonders anschaulich wird Beckers Irritationspoetik in der Art und Weise, mit der der Erzähler seine Erzählung beendet: Er offeriert dafür zwei Versionen. Die erste löst die herbeifabulierte Hoffnung ein. Jakob wird hier bei einem Fluchtversuch erschossen, doch kurz darauf befreit die Rote Armee tatsächlich das Ghetto. Die zweite Version, das »wirkliche und einfallslose Ende« (JL 225), berichtet von der Deportation. Ihren Höhepunkt erreicht Beckers Verunsicherungsstrategie aber in der Distanzierung vom ästhetischen Wahrheitsdiskurs. Dass er das Geschehene bezeugen könne, so der Erzähler, sei einem doppelten Zufall geschuldet: 29

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Justus Fetscher, »Mach keine Geschichten. Die Historie und der Trost des Erzählens in Jurek Beckers Jakob der Lügner«, in: Convivium, 7/1999, S. 143–162, hier S. 155. Vgl. Günter Butzer, Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1998, S. 326ff.

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Zufällig habe Jakob ausgerechnet ihm während der Deportation des Ghettos die Hintergründe seiner Erfindungen berichtet. Ebenso zufällig sei es auch, dass ausgerechnet er noch am Leben sei. Diese Konstellation schlägt unmittelbar auf eine Schlüsselkategorie des realistischen Erzählens durch, an der schon Jakob laborierte: auf die Wahrscheinlichkeit, die aufgrund jenes doppelten Zufalls für den Erzähler »nicht ausschlaggebend« (JL 36) ist. Das Tatsächliche, sein Überleben, und das Wahrscheinliche, sein Tod, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Als poetologische Kategorie wird die Wahrscheinlichkeit durch die Realität der Katastrophe außer Kraft gesetzt. Sie gerät – wie die erste, literarisch-konsistente Version am Schluss des Romans – in den Sog des Existentiellen und löst sich dort auf. Die Wahrscheinlichkeit, die eine nicht vollständig gewisse Geschichte vor dem Verdacht der Falschheit bewahren könnte,31 schlägt der Erzähler angesichts eines Geschehens, das sich ästhetischen Kriterien nicht fügen will, demonstrativ aus. Stattdessen wird die Validität der Geschichte allein den ethischen Maßstäben des Zeugnisablegenden überantwortet: »Viel wichtiger ist, daß ich finde, so könnte oder sollte es sich zugetragen haben, und das hat überhaupt nichts mit Wahrscheinlichkeit zu tun« (JL 36). Beckers Roman provoziert, irritiert und verunsichert – und arbeitet damit gezielt allen eindimensionalen Lesarten entgegen.32 Er spielt mit der historischen Bedeutung des Geschehens, hintertreibt die Illusionsbildung, wendet sich gegen jedweden poetologischen Diskurs und strapaziert darüber hinaus auch die Grenzen der Zeugnisliteratur, denn Becker hat die Geschichte um Jakob Heym schlichtweg erfunden und damit schon früh jene »Lizenz zur Fiktionalisierung« strapaziert, die im literarischen Shoah-Diskurs eigentlich nur so weit reicht, »wie der Modus der Zeugenschaft nicht angetastet wird«,33 wie also die Erinnerungshorizonte des Autors und des Textes in etwa übereinstimmen. Dass diese außergewöhnliche Anlage des Buches nicht allein auf die Inkommensurabilität der Shoah und Beckers verlorene Kindheit34 zurückzu31

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Vgl. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 9. Vgl. Kasper, »Vergangenheit«, S. 146. Jakob der Lügner wurde u. a. als Übersetzung aus dem Polnischen oder Jiddischen gehandelt (vgl. Sander Gilman, Jurek Becker. Die Biographie, Berlin 2002, S. 314f.). Willi Huntemann, »Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocaust-Texten«, in: arcadia, 36/2001, S. 21–45, hier S. 44. Becker hat nur in geringem Maße auf die eigene Biographie zurückgreifen können. Als Kind jüdisch-polnischer Eltern vermutlich 1937 geboren, im Lodzer Ghetto und in den KZs Ravensbrück und Sachsenhausen eingesperrt, war er, an-

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führen ist, zeigt jener rezeptionsseitige Aspekt, um den Becker die Frage, wie und warum man die Geschichte erzählt, erweitert. Der Roman bemüht sich nämlich um eine »Verschwörung von Erzähler und Publikum«.35 Deren paradoxes Programm lautet: Diese Geschichte kann nur zur Sprache und damit an die Öffentlichkeit kommen, wenn sie sich dem öffentlichen Diskurs über die Vergangenheit entzieht. Symptomatisch für diese »Verschwörung« ist einmal die auffallende Entpolitisierung der Formel von unserer Geschichte: Eine von Jakob um der Hoffnung willen erfundene »Schlacht an der Rudna wird nie in die Geschichte eingehen, aber in unserer Geschichte erhält sie einen Ehrenplatz« (JL 124). Unsere Geschichte ist danach nicht die ideologisch reglementierte Edels, sondern allein jene literarisch vertrackte, für die der Erzähler Interessenten zu gewinnen hofft: »[T]ausendmal« habe er schon »versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens«. Der Grund für das Misslingen wird gleich dreimal am Anfang des Romans genannt: »[E]s waren nicht die richtigen Leute« (JL 7). Mithin waren es die konkreten Rede- und Veröffentlichungsbedingungen, die dem Zur-SpracheKommen seiner Geschichte bislang entgegenstanden. Diese Barriere, die zum festen Repertoire des Shoah-Zeugnisses gehört,36 war unter DDR-Bedingungen besonders hoch. Beckers Erzähler versucht diese auch von Wander und Edel monierte Barriere37 durch einen Appell an seine Leser zu verkleinern. Von deren Bereitschaft, ihm seine Geschichte abzunehmen, macht er das Zur-Sprache-Kommen der Ereignisse abhängig. Dazu wird der therapeutische Erzählimpuls, den Edel durch einen »[g]esellschaftliche[n] Auftrag« überschrieb, gleich zu Anfang der Erzählung herausgestellt: »Jedesmal, wenn ich ein paar Schnäpse getrunken habe, ist sie [sc. die

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ders als sein bereits erwachsener Erzähler, bei seiner Befreiung erst 8 Jahre alt. Er betonte, er habe an diese Zeit »kaum Erinnerungen« (Ingo R. Stöhr, »›Die wahre Aufregung …‹. Ein Gespräch mit Jurek Becker«, in: Dimension, 17/1988, S. 28). Zu Beckers Kindheit in nuce: Olaf Kutzmutz, Jurek Becker, Frankfurt a.M. 2008, S. 11–16. Die im literarischen Shoah-Diskurs geforderte autobiographische Basis ist also bei Becker nicht gelöscht, sondern notwendigerweise anders gewichtet. Fetscher, »Geschichten«, S. 157. Der »Topos von der Unvorstellbarkeit oder Undarstellbarkeit des Holocaust« wird »häufig an die mangelnde Dialog- und Kommunikationsbereitschaft derjenigen rückgebunden […], mit denen in oder durch die Texte der Dialog gesucht wurde« (Irmela von der Lühe, »Wie bekommt man Lager? Das Unbehagen an wissenschaftlicher Zurichtung von Holocaust-Literatur«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Literatur und Holocaust, München 1999, S. 67–78, hier S. 72f.). Vgl. Wander, Leben, S. 288. Selbst Edel bezweifelte, dass die Erfahrungen seines Protagonisten in der DDR »von jedermann bedacht und geteilt werden« würden (BS 708).

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Geschichte] da, ich kann mich nicht dagegen wehren. […] [J]edesmal denke ich […], es kann mir beim Erzählen nichts mehr passieren« (JL 7). Das Erzählen legitimiert sich nicht politisch wie bei Edel, sondern psychologisch. Es wird ganz an den Erzähler gebunden und an seinen Wunsch, sich endlich davon zu befreien. Mit jedem Wort, das der Erzähler loswird, mit jeder umgeschlagenen Seite trägt der Leser so zum Gelingen der »gottverdammte[n] Geschichte« (JL 7) bei und garantiert dem Erzählen auch in seiner Hoffnungslosigkeit den Rang eines Lebensmittels. Die dialogische Anlage des Textes zieht die Leser ins Vertrauen, und die seelische Not des Erzählers nimmt sie in die Pflicht, sich als »die richtigen Leute« zu erweisen. Letzten Endes gilt dieses implizite Wirkungskonzept nicht der story, sondern der history. Das zeigt bereits der erste Satz des Buches, »Ich höre schon alle sagen, ein Baum, was ist das schon« (JL 5), der die Verteidigungshaltung der Narration sogleich auch für den Inhalt festschreibt; so, als müsse eine Erzählung über die Shoah überhaupt gerechtfertigt werden. Dadurch, dass der Roman mögliche Einwände in seinen eigenen Diskurs einbezieht, durch die vielen skeptischen Untertöne und die demonstrative Unangemessenheit dem Gegenstand gegenüber, den er gleich zu Beginn unter General-»Verdacht« stellt, nimmt er den Vorwurf einer Verletzung des normativen poetologischen und historiografischen Koordinatensystems gleichsam vorweg. Er markiert damit aber auch den der Shoah in diesem Koordinatensystem verweigerten Platz. In dieser Weise zielt Beckers Strategie auf eine autonome Sicht des Genozids an den Juden – jenseits einer staatlichen Erinnerungspolitik, gegen die der Leser durch die Verschwörung mit dem Erzähler geradezu immunisiert werden soll.

IV. Wollte Edel die Shoah mit der DDR-Geschichtspolitik vermitteln, so ging es Wander und Becker um das genaue Gegenteil: um eine autonome Rede über den Genozid an den Juden, die die Shoah vor der Annexion in unsere Geschichte abzuschotten vermag. Dazu bemühten beide Autoren aufwendige narrative Strategien und setzten mit der Selbstreflexion des Erzählens als Prozess und seiner Selbstthematisierung als Lebensmittel in stupender Einigkeit die gleichen Akzente. Edel hatte die Shoah unter Ausschluss jeglichen Misstrauens gegenüber den Darstellungsmitteln ins Prokrustesbett des marxistischen Fortschrittskonzepts gezwungen und damit den staatlichen Auftrag an die Literatur bedient. Becker und Wander lehnen diesen Auftrag ostentativ ab. Ihre Fragen nach dem Wie und Warum des Erzählens eröffnen einen Reflexionsraum, der in der DDR allein schon durch seine Existenz ge-

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gen die normativen Vorgaben für die literarische Gestaltung historischer Prozesse opponierte. Beide Texte entzogen sich damit demonstrativ jenem Schlüsselkonzept, dem die literarische Stabilisierung der DDR-Geschichtspolitik aufgegeben war: dem sozialistischen Realismus,38 der das Reflexivwerden der Konstruktions- und Wahrheitsbedingungen des Erzählens kategorisch ausschloss. Ein Zweifel an der Abbildsicherheit des literarischen Textes kam stets auch einem Zweifel an der geschichtlichen Wahrheit gleich, die dieses Abbild zu repräsentieren hatte. Ein Credo wie das des Erzählers in Jakob der Lügner, er »erzähle eine Geschichte«, die er »selbst nicht verstehe« (JL 171), war aus diesem Blickwinkel auch eine gezielte Blasphemie. Nicht weniger widerständig war Wanders »sprachlich-erzählerische Grundlagenforschung«,39 die für eine polyperspektivische, die Authentizität der eigenen Erfahrung bewahrende Ethik des Erzählens plädierte und gegen das Dogma der Parteilichkeit das ungehinderte Aussprechen des »rechtschaffen«40 gesuchten Wortes einforderte. Mithin bedienen beide Bücher keine politische Position und keine Ideologie. Hoffnung und Zukunft speisen sich allein aus dem Erzählenkönnen und dem Erzählendürfen, die auch in der Gegenwart ein Grundmaß an Humanität sichern.41 Es nimmt daher nicht Wunder, dass Wander wie Becker auf die Wandlungsvita mit sozialistischer Perspektive, das in der DDR obligatorische und von Edel bediente Strukturmodell des Schreibens über den Nationalsozialismus,42 vollends verzichten. Symptomatisch ist dieser Verzicht, weil beide Autoren das Motiv der Wandlung ähnlich wie Edel mit ihren biografischen Ressourcen hätten rechtfertigen können: Wander ist nach seiner 38

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Zu dessen Studium war Wander 1956 von Wien nach Leipzig gezogen, um einen für die österreichischen Kommunisten reservierten Platz am Literaturinstitut Johannes R. Becher einzunehmen. Ziel dieses Instituts war es, »die Studenten zu befähigen, die Beschlüsse der Partei mit den Mitteln der Literatur den Massen nahezubringen«, wie Wander in seiner Autobiographie aus Erich Loests Durch die Erde ein Riß zitierte (Wander, Leben, S. 158). Nach der Veröffentlichung einiger Bücher in ostdeutschen Verlagen beschlossen Wander und seine Frau Maxie, in der DDR zu bleiben. Hans Höller, »Fred Wander (1917–2006). Eine Würdigung seines Lebens und Werks«, in: Literatur und Kritik, September 2006, S. 32–37, hier S. 35. Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Michail Lesskows«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/2, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1991, S. 439. Mit dieser Qualifizierung des Erzählens stehen die Texte Beckers und Wanders auch quer zu einer Vielzahl von Shoah-Zeugnissen, die das Erzählen-Können zwar ebenfalls als (Über-)Lebensmittel fassen, jedoch in einem anderen Sinne: als ein den Lebenswillen steigerndes Mittel zum Zwecke eines späteren Bezeugens. Vgl. Conter, »Kommunisten«, S. 295.

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Befreiung aus Buchenwald aus ähnlichen Motiven wie Edel Kommunist geworden.43 Sein Protagonist aber macht eine ganz andere Wandlung durch: die von Teichmanns Schüler zu dessen Erben – zu einem in jüdischer Tradition stehenden Erzähler. Und Becker, der sich anfangs in beträchtlichem Maße für den ostdeutschen Staat engagiert hat,44 unterdrückt Schnittstellen zwischen eigener Biographie und staatlichen Konzepten. Sein Zeuge, der wie Edel vom Jahrgang 1921 ist und den Becker zum Zeitgenossen des Lesers der ausgehenden 1960er Jahre macht, bleibt auffallend blass. Sein soziales Umfeld und seine Haltung zur DDR bleiben im Dunkeln. Man erfährt lediglich, dass er in Ostberlin wohnt, in einer Fabrik arbeitet, eine neue Frau namens Elvira hat und gelegentlich »ein paar Schnäpse« trinkt – wegen der »gottverdammte[n] Geschichte« (JL 7). Das Fehlen der Wandlungsvita hinterlässt indes keine Spur, die die Lektüre überdauern und ins kollektive Gedächtnis eingehen könnte, da es ohnehin jenseits der strukturellen Elemente des Shoah-Zeugnisses liegt. Anders verhält es sich mit den Reaktionen Wanders und Beckers auf das zweite obligatorische Strukturmodell des Schreibens über den Nationalsozialismus in der DDR, die Verherrlichung des kommunistischen Widerstands.45 Um der Rede über die Shoah gegen die ostdeutsche Erinnerungspolitik Raum zu verschaffen, konnten Becker und Wander die Hierarchisierung der Verfolgten des Naziregimes, die eine »Entmündigung der jüdischen Opfer«46 einschloss, nicht einfach ausblenden oder umgehen, sondern mussten ihr auf der inhaltlichen Ebene begegnen: So opponierten sie gegen die Kanalisierung der literarischen Rede über die Verbrechen des NS-Staates, indem sie einen eigenen Widerstandsdiskurs führten und das Kerninterpretament jenes Schlüsselromans demontierten, der in der DDR vorgab, »was von den Konzentrationslagern zu welchem Ende wie zu sagen sei«47 und wie das Verhältnis zwischen Kommunisten und Juden auszusehen habe: Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen (1958). Ebenfalls mit autobiografischem Hintergrund versehen, 43 44

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Vgl. Wander, Leben, S. 120f. Becker wurde früh Mitglied der SED und absolvierte freiwillig und gegen den Willen seines Vaters einen 2-jährigen Dienst bei der Kasernierten Volkspolizei, der Vorgängerin der Nationalen Volksarmee (vgl. Holger Jens Karlson, »Jurek Becker. Bausteine zu einer Schriftstellerbiographie«, in: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens, 3/2000, S. 7–80). Vgl. Conter, »Kommunisten«, S. 295. Fetscher, »Geschichten«, S. 146. Thomas Taterka, »›Buchenwald liegt in der Deutschen Demokratischen Republik‹. Grundzüge des Lagerdiskurses der DDR«, in: Birgit Dahlke u. a. (Hrsg.), LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n), Stuttgart/Weimar 2000, S. 312–365, hier S. 318.

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wurde Apitz’ Roman in der DDR zu einem »absoluten Text«48 aufgebaut, der Buchenwald als Inbegriff der Verklärung und Apotheose des kommunistischen Widerstandes und als Zentrum der ostdeutschen Erinnerungspolitik konsolidierte – und Auschwitz überschrieb. Die dort exponierte Mythe, nach der kommunistische Häftlinge einen kleinen jüdischen Jungen versteckten und ihm dadurch das Leben bewahrten, die – so Ruth Klüger – den Genozid infantilisiert und verkitscht, hat selbst Edel kritisiert.49 Zudem revitalisieren Wander und Becker, obgleich sie sich stets eher distanziert zur jüdischen Gruppenidentität geäußert haben,50 Elemente des jüdischen kulturellen Gedächtnisses und errichten damit eine Barriere gegen die Auflösung der jüdischen Gruppengeschichte in die im Prinzip uniforme Vorgeschichte der sozialistischen Menschengemeinschaft als einer Geschichte von Klassenkämpfen, die Edel mit seiner Umwidmung der Rassenin die Klassenfrage bediente. Zu diesen Traditionselementen zählt bei Wander neben jüdischer Mystik, jüdischen Jahrestagen und jiddischen Sprachsplittern insbesondere das Erzählen, dessen hoffnungsspendendes Potential er, der sich selbst in einer jüdischen Erzähltradition sah,51 auf die jüdische Geschichte zurückführte: Es sei – wie bereits erwähnt – ein erprobtes Mittel derer, »die seit Jahrhunderten verfolgt sind und daher im Worte leben«. Auch Becker, dessen fabulierfreudiger Erzählstil immer wieder in die Nähe der ostjüdischen Prosa gestellt wurde,52 bemüht ausdrücklich die jüdische Tradition, um die »Last des antifaschistischen Widerstandes«53 von seinem Text zu bannen: Ihm sei »nicht unbekannt«, so der Erzähler in Jakob der Lügner, »daß ein unterdrücktes Volk nur dann wirklich frei werden kann, wenn es Beihilfe zu seiner Befreiung leistet, wenn es dem Messias wenigstens ein Stückchen des Weges entgegengeht«. Dieses Bekenntnis, in dem die vorrückende Rote Armee die Rolle des Messias einnimmt, bricht die ideologische Fundierung des kommunistischen Widerstandes an den Heilsvorstellungen der jüdischen Religion und entzieht dem staatlichen Deutungsmonopol damit auf ironische Weise den Boden. Im gleichen Atemzug räumt der Erzähler ein, er habe »mit Ehrfurcht […] von Warschau und Buchenwald gelesen«, doch dort, wo er war, habe es »keinen Widerstand gegeben« (JL 81). 48 49

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Ebd., S. 317. Vgl. Ruth Klüger, weiter leben. Eine Kindheit in Auschwitz, Göttingen 1992, S. 75; zu Edel vgl. Eke, »Konfigurationen«, S. 87. Vgl. Wander, Leben, S. 164f., 303f., und Jurek Becker, »Mein Judentum«, in: Irene Heidelberger-Leonhard (Hrsg.), Jurek Becker, Frankfurt a.M. 1992, S. 15–24. Vgl. dazu Wander, Leben, S. 335f. Vgl. Jung, Widerstandskämpfer, S. 93–97 und 109–113. Conter, »Kommunisten«, S. 308.

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Damit referiert er auf zwei prominente literarische Bezugstexte des DDRGeschichtsnarrativs, um seine eigene Narration davon abzugrenzen: mit der Chiffre Buchenwald eben auf Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen, der mit der Selbstbefreiung des Lagers durch die Häftlinge endet, und mit der Chiffre Warschau auf Stephan Hermlins Erzählung Die Zeit der Gemeinsamkeit (1949), in der der Aufstand im Warschauer Ghetto durch die Figur des Kommunisten Mlotek, wenn auch unter Achtung der jüdischen Tradition, einen klassenkämpferischen Akzent erhält. In seinem Kern richtet sich diese intertextuell fundierte Abgrenzung – wiederum in der typischen defensiven Diktion (»immer verurteilt uns«, JL 80) – gegen eine Erwartungshaltung an die Darstellung des faschistischen Terrorregimes (»Und der Widerstand, wird man fragen, wo bleibt der Widerstand?«, JL 80), die aktuelle Identitätsinteressen über eine Ethik des Bezeugens stellt. Becker greift also den normativen Diskurs über den bewaffneten Widerstand gezielt auf, um dessen Instrumentalisierung, durch die die Opfer des Faschismus zu Gruppen geordnet und damit auch entindividualisiert wurden, zu unterlaufen.54 Als Widerstandsakt gestaltet Becker stattdessen Jakobs narrative Leistung: »[I]ch will erzählen, daß er ein Held war« (JL 35). Diese »Thematisierung eines anderen Widerstands«55 vollzieht sich bei Wander ohne Ironie, dafür aber mit größerer Radikalität. Anstatt Glaubenssätzen und »heroische[n] Eigenschaften«56 das Wort zu reden, insistiert er im Angesicht der Enthumanisierung auf dem Erhalt von Minimalbedingungen menschlichen Lebens, zu denen auch das Erzählen gehört. Die »Last des kommunistischen Widerstandes« indes wurde buchstäblich zur Seite geschoben. Denn die mythische Selbstbefreiung des KZs Buchenwald unter kommunistischer Führung erscheint in der Schlussszene des Siebenten Brunnens nur schemenhaft am Erinnerungshorizont des Erzählers. Es waren […] nicht die Jubelrufe der Kameraden im oberen Lager, die gedämpft zu uns drangen, nicht der heitere Schnalzton vorbeisausender Kugeln, aus Gewehren, von Häftlingshänden gehalten […], das war nicht der Jubel, der mich erfüllte […]. (SB 136)

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Zu seinen Intentionen erklärte der Autor, er habe den Widerstand »nicht wegschwindeln« wollen, »nur scheint mir in der Literatur über diese Zeit der Widerstand überproportioniert dargestellt worden zu sein«. So sei es »zwingend notwendig, um ein reales Bild zu geben, eine Geschichte zu erzählen, in der dieses Phänomen fehlt« (Interview im RIAS, 07. 07. 1975, zit. n. Jung, Widerstandskämpfer, S. 120). Ebd., S. 116. Wander, Leben, S. 225.

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Des Erzählers »Jubel« speiste sich – wie bereits erwähnt – aus dem Anblick »Joschkos und seiner Brüder« (ebd.) und damit aus der Gewissheit, das jüdische Volk werde weiterleben. Die jüdischen Kinder von Buchenwald bedurften gerade keiner Beschützer. Im Gegenteil: Der erwachsene Erzähler überlebte im Schutz der Kinder-Baracke. Der bei seiner Befreiung achtjährige Becker hätte die Apitz’sche Mythe sogar autobiografisch legitimieren können; und tatsächlich wird am Ende seines Romans ein jüdisches Kind gleichen Alters vom bewaffneten Repräsentanten des Kommunismus, der Roten Armee, die als kommunistischer Deus ex machina die strukturelle Position des Internationalen Lagerkomitees von Nackt unter Wölfen übernimmt, befreit: Jakobs kleine Freundin Lina.57 Doch dieses Ende, bedauert der Erzähler, habe sich »nie ergeben« (JL 213). Es sei erfunden. Den Schluss bildet daher auch das »blaßwangige und verdrießliche, das wirkliche und einfallslose Ende, bei dem man leicht Lust bekommt zu der unsinnigen Frage: Wofür nur das alles?« (JL 225). Dieses Ende kennt kein Überleben eines Kindes, nur aller Deportation. In der Rechtfertigung, die der Erzähler seiner Schlussdoublette voranstellt, kommt die Kritik an jedweder interessegeleiteten Umarbeitung der Vergangenheit unverstellt zur Sprache: Und jetzt stehe ich da mit den zwei Enden und weiß nicht, welches ich erzählen soll, meins oder das häßliche. Bis mir einfällt, alle beide loszuwerden, nicht etwa aus fehlender Entscheidungsfreudigkeit, sondern ich denke nur, daß wir auf diese Art beide zu unserem Recht kommen. Die von mir unabhängige Geschichte einerseits, und andererseits ich mit meiner Mühe, die ich mir nicht umsonst gemacht haben möchte. (JL 213)

Das erste Ende, »unvergleichlich gelungener als das wirkliche«, arbeitete dem DDR-Selbstbild zu und ironisierte diese Zuarbeit zugleich. Als »ein ordentliches« bleibt es in der Ordnung des geschichtspolitischen Diskurses. Mit diesem Ende, gibt der Erzähler vor zu hoffen, wird »man halbwegs zufrieden« (ebd.) sein. Das zweite Ende führt diese ›Zufriedenheit‹ ad absurdum, denn es offenbart, dass sie auf einem Wunschdenken beruht, das als privates drapiert wird, in seinem Kern aber als politisches gemeint ist. Diese Geschichte ist von mir unabhängig, heißt nichts anderes als: Sie ist auch von euch unabhängig. Während das gerettete jüdische Kind bei Wander kontrastiv aus dem Interpretationsrahmen der Antifaschismus-Doktrin gelöst wurde, beließ es Becker darin, um es als Deutungsmuster von innen heraus zu desavouieren. 57

Zur Nähe von Lina-Figur und Buchenwald-Kind vgl. Korinna Hennig, »Das Prinzip Hoffnung. Zur Funktion der Kinderfiguren bei Bruno Apitz und Jurek Becker«, in: Claude D. Conter (Hrsg.), Literatur und der Holocaust, Bamberg 1996, S. 81–91, hier S. 89ff.

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Beckers Schluss-Versionen verhindern, dass der Roman sich zu einem ethisch, ästhetisch oder ideologisch tröstlichen Ganzen rundet und den Vorwurf auf sich ziehen könnte, er beschädige mit seiner durch und durch literarischen Anlage die Inkommensurabilität der Shoah; ein Vorwurf, der auch Wanders Zeugnistext aus Sicht der Debatten um die Repräsentierbarkeit dieser Katastrophe treffen könnte. Doch Beckers Text nivelliert die Shoah nicht, sondern behauptet ihre Einzigartigkeit in seiner Irritationspoetik gerade durch das ständige Herunterspielen seines Themas. Im Übrigen stand gegen die Gefahr einer Nivellierung durch dezidiert literarische Mittel unter DDR-Bedingungen immer die Notwendigkeit, dieser Katastrophe überhaupt einen autonomen Platz im kollektiven Gedächtnis zu schaffen. Die daraus resultierenden Schreibstrategien hinterließen bleibende, gedächtnisrelevante Spuren in den Texten, gehören aber auch unter jene angemessenen Repräsentationsmittel, um die es in Adornos Diktum über Gedichte nach Auschwitz im Kern geht.58 Letzten Endes lassen sich Beckers Überstrapazierung der »Lizenz zur Fiktionalisierung« und Wanders »sprachlich-erzählerische Grundlagenforschung«, mithin für Shoah-Zeugnisse ungewöhnliche Fiktionalisierungsund Poetisierungstendenzen,59 zumindest in wichtigen Teilen aus den DDR-Bedingungen erklären: Als ausgewiesen literarische Texte waren sie weniger angreifbar als die Autobiographie oder der Bericht mit Rekonstruktionsabsicht. Deren Authentizitätsanspruch hätte weit eher die Gefahr einer Reglementierung und damit eine Verletzung der Zeugnisabsicht heraufbeschworen, die im literarischen Gewand, d. h. mit einem erweiterten Auslegungsspielraum und einer gewissen Unverbindlichkeit, paradoxerweise mehr Aussicht auf Erfolg hatte.

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Zum Verhältnis von Literatur und Shoah vgl. den Problemabriss von Rudolf Freiburg und Gerd Bayer in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Band Literatur und Holocaust (Würzburg 2009, S. 11–21). Allerdings sehen auch Freiburg und Bayer von den konkreten sozialhistorischen Redebedingungen ab. Einer der vier von James E. Young ausgemachten Gruppen von Shoah-Zeugnissen jedenfalls lassen sich Der siebente Brunnen und Jakob der Lügner nur schwer zuordnen: vgl. ders., Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a.M. 1992, S. 116f.; zur Poetisierung bei Wander vgl. Erin McGlothlin, »›Das eigene Land begreift man nicht.‹ Fred Wanders Der siebente Brunnen und die Geschichte des Selbst«, in: Walter Grünzweig/Ursula Seeber (Hrsg.), Fred Wander. Leben und Werk, Bonn 2005, S. 97–118.

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V. Die zeitliche und thematisch-strukturelle Nähe der Zeugnistexte von Fred Wander und Jurek Becker ist kein Zufall. Zum einen hatte sich im Gefolge des Jerusalemer Eichmann- und des Frankfurter Auschwitz-Prozesses die offizielle ostdeutsche Redepraxis über die Shoah um die Mitte der 1960er Jahre gewandelt, freilich ohne dass deren historische Bewertung korrigiert worden wäre. Die SED sah hier die Chance, einer für die Shoah sensibilisierten internationalen Öffentlichkeit die DDR, etwa durch den Globke-Prozess, als den besseren deutschen Staat zu präsentieren. Als Rückkopplungseffekt erweiterte sich dadurch zwangsläufig auch der Rahmen für die Thematisierung der Shoah.60 Ein Beispiel ist die DDR-Beteiligung an der gemeinsamen Uraufführung von Peter Weiss’ Auschwitz-Stück Die Ermittlung durch sechzehn deutsche Bühnen. Der einzige ostdeutsche Akteur, der die Auschwitz-Nummer auf dem Arm trug, war im Übrigen Peter Edel.61 Zum anderen hat eine innerliterarische Entwicklung die Schreibansätze von Becker und Wander unterstützt: jene subjektive Authentizität, die sich in stärkeren Widerständen gegen den Objektivitätsanspruch des sozialistischen Realismus repräsentierte und insbesondere Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. und Günter de Bruyns Buridans Esel (beide 1968) prägte. Dass Wander wie Becker ihr Erzählen derart gegen die DDR-Leitkonzepte abdichteten, lag jedoch noch an einem anderen, ausgesprochen politischen Geschehen: an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, nach der Wander enttäuscht aus der kommunistischen Partei Österreichs, der er auch während seiner Jahre in der DDR angehörte, austrat62 und durch die Beckers Verhältnis zum ›real existierenden‹ Sozialismus nachhaltig erschüttert wurde. Nach dem Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag nahm er an seinem Text die narratologisch entscheidenden Umarbeitungen vor: die Implementierung der Erzählerebene und die Verdopplung des Schlusses.63 Bei 60

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Zum Fehlen von literarischen Gegenentwürfen und zur Marginalisierung der Shoah in literarischen Texten über die NS-Zeit bis zu den Auschwitzprozessen vgl. Janina Bach, Erinnerungsspuren an den Holocaust in der deutschen Nachkriegsliteratur, Wrocław/Dresden 2007, S. 49–75. Vgl. Edel, Leben, Bd. 1, S. 390ff. Vgl. Wander, Leben, S. 241. Vgl. Gilman, Biographie, S. 99–102. Die ersten beiden Text-Fassungen, die etliche Jahre vor dem Erscheinen des Romans (1963, 1965) als Filmdrehbuch geschrieben wurden und in denen die komplexe narrative Selbstreflexion noch fehlt, machen dem DDR-Lagerdiskurs unverhohlen Avancen. Dort gibt es nur das »ordentliche Ende«: das befreite jüdische Kind Lina an der Hand eines Sowjetsoldaten, das dann im Roman als ein dem politischen Wunschdenken geschuldetes

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Wander kam als Zeugnismotivation noch ein Ereignis hinzu, unter dessen Eindruck er die Rücksichtnahme auf die DDR-Leitkonzepte beim Formulieren seiner Erinnerungen minimierte: der Unfalltod seiner zwölfjährigen Tochter Kitty im gleichen Jahr, deren Andenken er den Siebenten Brunnen widmete.64 Obgleich die Texte Wanders und Beckers also formal wie inhaltlich massiv gegen die in der DDR geltenden Konstruktionsregeln für Literatur über die NS-Zeit verstießen, wurden sie nicht öffentlich inkriminiert. Sie wurden gedruckt, im Ganzen positiv besprochen und auch mit hohen Preisen ausgezeichnet. Aus dem Blickwinkel des DDR-Establishments personifizierten Wander und Becker, die wie Edel nach 1945 organisierte Kommunisten geworden waren und sich bis dato prinzipiell zur DDR als dem ›besseren‹ deutschen Staat bekannt hatten,65 die Lösung des gravierenden Problems, das die gedächtnispolitische Inkompatibilität der Shoah für die staatliche Selbstlegitimation aufwarf. Die systemstabilisierende Funktion, die die Biographien Wanders und Beckers lange Zeit hatten, wurde daher nicht durch Sanktionen geschwächt, sondern durch Würdigungen gestärkt. Eine solche systemische Selbstregulation kam freilich nur in Betracht, weil sich Jakob der Lügner und Der siebente Brunnen trotz aller Normverletzungen drastischer Verstöße gegen die Tabus des geschichtspolitischen Diskurses enthielten. Das erleichterte die Entfaltung einer diskursiven Praktik, die die Shoah-Texte Beckers und Wanders unter dem Signum antifaschistische und humanistische Literatur assimilierte, ihre potentielle Subversionskraft abmilderte, den jüdische Bezugsrahmen verschleierte oder zugunsten des Klassenkampfes neutralisierte, ihre Wirkungsgeschichte aber bis heute – samt der Spuren, die sie darin hinterlassen hat – nicht boykottieren konnte.

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entlarvt wird (Jung, Widerstandskämpfer, S. 125; zur Textgeschichte vgl. auch Gilman, Biographie, S. 88–92). Vgl. Jakob Hessing, »Collagen aus der Dunkelkammer. Fred Wander ruft die Toten auf«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 62/2008, S. 158–162, hier S. 159f. Wander z. B. hat die DDR bei aller wachsenden Distanz bis hinein in seine späte Autobiographie gerade wegen ihres Umgangs mit der faschistischen Vergangenheit stets und wie Edel im Kontrast zur BRD verteidigt. Antisemitismus beispielsweise hätte er in Ostdeutschland nie erlebt (vgl. Wander, Leben, S. 147).

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Claudia Brodsky

Claudia Brodsky (Princeton)

“Auf das Wo komme es eigentlich an” Memory, Catastrophe, and Society in Lanzmann, Rousseau, and Goethe

There is a moment in Claude Lanzmann’s Shoah that stands, strangely, alone. Film, the medium of continuous presentation, compels our immediate attention to the objects and events it presents, and documentary film, compelling our present attention to ignored, distorted or unreported realities of past events, is, of course, like any film, a purposeful mise en scène. The composition of Shoah intersperses filmed verbal accounts of events participated in and witnessed with long shots of natural landscapes and sites of human engineering: cities, towns, individual buildings, train stations, lines of trains, lines of track, and the remains of extermination camps, of walled ghettos, of mass burial pits, and extermination chambers. Often it shows the merging of landscape with these, as that which already existed and was employed, and that which was expressly built, for the purpose of Vernichtung, the daily reduction to nothing of tens of thousands of men, women, and children of every age, state, and condition, appears overgrown with vegetation or returned to its previous, conventional use. The moment I have in mind has remained in my mind from my first viewing of Lanzmann’s film. Extraordinarily brief, it is like no other sequence in the four-part documentary in the manner in which it synthesizes the verbal with the physical, contextual record. Standing a few yards away from the train station at Sobibór, on open, grass-covered ground interrupted only by parallel sets of tracks, Lanzmann, who has been speaking in front of the station with a longtime resident of Sobibór, points to the ground, defines what he is pointing to, and asks for confirmation of what he has said and done. “Here” (“Ici”), he says pointing to land abutting one set of tracks, one is “inside the camp” (“à l’intérieur du camp”). His interlocutor, looking down at the designated spot, confirms, “yes”. Moving some feet toward the train station and a second set of tracks, Lanzmann points down again: “Here” (“Ici”), he says, one is “outside the camp” (“à l’extérieur du camp”). His interviewee and guide looks at this spot, too, and once again confirms, “yes”.1

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What Lanzmann creates and records in this scene is a pure moment of reference. I call this moment of reference pure, not to consign it to the ether of metaphysics, a supposedly purely theoretical realm in which one may make oneself intellectually at home by rendering catastrophe a creature of the mind alone, a kind of mental furniture one can move about and move about in, at will (in short, make it into that, womit man sich schließlich bequem macht). Quite the contrary: what occurs in this scene does not take the form of a theoretical but, rather, a deictic act: a physical pointing out – through bodily positioning in space and verbal confirmation through the spatially unbound, social medium of linguistic communication – of a concrete object (“le camp”), or, more precisely, of the physical limits defining the existence, the interior and adjacent exterior, of that object. I call this act in the form of deixis a pure moment of reference because it is, in point of fact, only the form of such an act, in that the observable, physical delimitation of the particular spatial object indicated, along with the object itself, in fact, no longer exist to be perceived. Exactly because the objectively perceptible quality, the objecthood or objective phenomenality of that existence is now and forever no more, even while the earth upon which it was once located persists, the language of identification, which also persists, must be added to its physical indication. The location – where – of something currently invisible, of the man-made structure that enabled certain specific events themselves, quite literally, to take place (avoir lieu or stattfinden), cannot merely be pointed to by a physical gesture, a gesture which, in this case, would now indicate nothing in particular. Rather, precisely because that place, or rather those two places – the here of inside and the here of outside – are now invisible, the eradication that is 1

Claude Lanzmann, Shoah. Part One, Les Films Aleph, 1985. As is often the case when his interviewees are Polish- and/or Hebrew-speaking, and cannot, or choose not to speak in either French, German, or English, Lanzmann speaks here (or rather “‘here’”) in French, his words, and those of his interlocutor, translated immediately by an interpreter who is with them. The following comments, focusing on Lanzmann’s singular effort here to record a scene of historical demarcation where no such scene exists, do not aim to speak to his documentary methods as a whole, from whose characteristic practices of extensive site viewing and insistent interviewing this passing moment is constitutively – verbally, graphically, and cinematographically – distinct, but rather to the power of such a conspicuously staged and recorded scene to illuminate precisely by its negative force as counterexample the inclusion of building as necessary marker of historical existence in fictional and theoretical texts. An earlier version of this discussion and more extended argument concerning the specifically historical relationship between writing and earthly, architectural marking is presented at length in Claudia Brodsky, In the Place of Language: Literature and the Architecture of the Referent, New York 2009.

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part of their history must be indicated not only by gesture but by a memorializing sign of some kind. The double, spatial and verbal indication of a referent no longer available to the senses – this is history being made, neither as immediate experience or later explanation of experience but as history. The writing of history quite properly relies on access to information: verbal accounts and archival and archaeological reconstructions of past events from documents discovered and objects unearthed. What Lanzmann effects at this moment is something powerfully different: with the help of the camera, he makes present, rather, the absence of objects and documents, thereby making palpable to our eyes and ears, and thus imaginable, by way of our eyes and ears, that which is “history” in an empirical and colloquial rather than abstract sense – something which is gone, also wirklich vorbei, verschwunden. In so doing he presents a catastrophe, on a second level, for the mind: the catastrophe of the memory of catastrophe itself rendered part of history, of the eradication of the difference between presence and absence by ongoing human actions – the catastrophe of which there is no end, called “history,” of our ability to make not only presence but absence disappear, to make presence and absence effectively indifferent to the mind over time. I call this modest, non-descript scene in Lanzmann’s description- and object-laden documentary a pure moment of reference, then, because, ever so quietly, so simply, one could almost say, non-demonstratively, with the assistance of one mortal witness to the built existence of the absent object indicated and a simultaneous translator, also on camera, who renders into French his simple affirmations (“oui, ici”), it stages a moment of reference that does not refer to a specific given referent, and, in indicating the awful absence of such a referent, allows us at once to know what it and we are missing and to know we will never know what it and we are missing. This moment in Lanzmann’s Shoah says, look at me, look “‘here’”, look at the referent even a documentary film, using the most presence-dependent visual medium available, cannot make appear before your eyes; look in the present at the absence that I, because I am the most presence-dependent visual medium, can show you, that which other media, taken alone, must put something in the place of, the history they must and can only symbolize. This moment in Lanzmann’s Shoah says, for good or for bad, this “Shoah” is a movie after all. Unlike any other moment in the movie, no narrative is delivered at this moment, nor is any particular place imaged or panned in silence on the screen. There is Sobibór, with its sign designating the town and train stop, and there are such residents of Sobibór as who lived then and live now, but there is no structural evidence of then, of what happened for years in Sobibór,

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none of the material structures that enabled this to happen, day in, day out. There is now no extermination camp at Sobibór. And in pointing instead to presently invisible boundary lines suggested only by the ongoing presence of some everyday railroad tracks, in designating “‘here’”, in one spot, and “‘here’”, in another, Lanzmann compels us to see what is no longer, what it was preferred that in Sobibór no one see any longer, just as, in the only ways that mattered at the time, no one saw it then, including especially those who saw it all. This is terrible achievement enough, lucid and grim enough, but it is only the beginning or pretext of what Lanzmann does. In asking a witness to identify and distinguish “‘here’” from “‘here’”, where no lasting distinction on and in the earth exists, to distinguish inside from outside where no wall, no enclosure now produces these and divides them, to distinguish the grounds of the comings and goings of life from the grounds and factory of the manufacture of death, Lanzmann more horribly indicates that between these two there may indeed remain no perceivable difference: no perceivable difference between ongoing, small-town living and highly mechanized, technologically and so repetitively unlimited murder. Without articulating or showing the consequences of either this demarcation, of inside from outside, or its obliteration, Lanzmann indicates that, at any time, there may be nothing left to differentiate between common, trodden ground and ground from which all perceptible traces of murder were likewise and repeatedly removed by enslaved laborers themselves slated for extermination, so that thousands of their fellow victims, charged with the official fiction of a few selected possessions and in possession of their natural senses, entered at regular intervals, blinder than the blind, into that interior they were told would cleanse them and prolong their chance to work and live and was instead, and in fact, the chamber of their death, from which the only “workers” to exit would be those charged with carrying their corpses. What Lanzmann demonstrates as he speaks and points at otherwise indistinguishable pieces of ground is that the difference between Sobibór and “Sobibór”, between inside and outside, between organized, routinized extermination and routine life, may become as undemonstrable as the difference between railroad tracks and railroad tracks, crabgrass and crabgrass. For on the face of it, on the face of the earth, there remains no such distinction. Only the documentary director’s direction of our attention to one spot, and to another, each like the other, each fully open to the light of day, and the confirmation of his verbal definition of each of these by one who knew and remembers their now eradicated referents – only this staged confluence of fleeting, circumstantial conditions, transposed onto the unearthly

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medium of film, yields the referents on which everything depended: inside and outside.2 This moment of pointing to and identifying with language what is no longer extant, a pointing capable, therefore, of indicating only spots of emptiness, verbally localized absences of demarcation that fix in their very vacancy both eye and mind, functions, on the one hand, like a mere verbal aside, or incidental footnote, to the full-length footage of interviews and narrations, both over-filled and impossible ever to fill with detail, and, on the other, like a rudimentary topographical appendage to the mute images of abysmally incongruous Tatorte Lanzmann films at purposefully, achingly slow pace: the lush, undulating riverbanks, thick forests and meadows of Chelmno, and the surrounding farms, streets, and homes that appear to have undergone only superficial change since the Middle Ages; excrutiatingly detailed, cross-sectioned models of the two-tiered crematoria filled to capacity during a typical use cycle, densely packed masses of individually sculpted victims progressing from chamber to chamber to death; the snow-covered, sunken remains of these chambers, and the hulking, standing entrance tower of Auschwitz, terrible imitation of the traditional medieval Tor. Compared with all that Lanzmann’s Shoah does show, the silent places and speaking persons it records, this moment of attention directed to otherwise nondescript pieces of ground appears as negligible as it is prescient. For, in the long view, that which both calls for and effortlessly defeats, by sheer persuasive power of the present, the immediacy of the reality artificially confirmed by documentary film-making and archival documentation, the view that encompasses the moment when those who lived on past certain death, and the structures they hardly survived the inside of, are no longer upon this earth, no longer standing, or speaking, no longer bodily visible, no longer living – in this view Lanzmann’s indication of the already invisible, his pedantic insistence on defining precisely where life continued and stopped, foresees the possibility of real material erasure, whether natural or intended, and the obstinacy of language, and of the earth that is not language, that haunts all such obliteration. In this ghostly moment of designation, “‘here’”, the moment of indicating a non-existent referent on earth, Lanzmann not only indicates, in the most uncanny of manners, the physical rather than metaphysical, concrete rather than conceptual location of life and death. He also indicates that any indication of the referent must distinguish one “‘here’” 2

The ontological conflation of inside and outside, conceived in the service of an identification of ontology and politics under the politically annihilating aegis of biopolitics, is critiqued in Section 3 of the Introduction to Brodsky, In the Place of Language.

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from another “‘here’” as inherently ungrounded language alone cannot: language which, possessed of the word (“‘here’”) and not the place (“here”), has the inherent capability to say “‘here’”, and mean it, anywhere; language which includes and provides place names exactly as compensation for its inherent inability to link words and places. Finally, in repeating and redefining a single word in two otherwise imperceptible places, Lanzmann marks the difference between what we would otherwise conceive, according to the logical categories afforded by language, as definitionally incomparable: the difference – normally, or perhaps only nonhistorically, requiring no referential distinction – between action and location, genocide and countryside. In this moment, a pure moment of reference because void of any particular, referential object, Lanzmann constructs a referent where all referents have been erased. The terms he uses to indicate that reality and its erasure – the latter itself a kind of second murder, the conscious, organized erasure of the conscious, organized erasure of life from earth – link language to the earth adverbially. Inside and outside the camp are the referents Lanzmann points to, and, because all has been made outside now, he points as much to the insubstantiality and essential, critical significance of language with regard to knowledge, as to the essential, material relationship of spatializing, architectural activity to history, and the effacement of the historical that eradication of such building entails. In composing the conditions for the indication of a referent that no longer exists, and filming that nonexistence, Lanzmann records, in this small moment, the enormity of irreplaceable, inalterable loss a now invisible demarcation enabled. What is lost, the referent of that loss, cannot be seen in Lanzmann’s first “‘here’”, or second “‘here’”, or anywhere, nor could it ever be, even if – implausibly but never as implausible as the history they would represent – several million life-sized, biographically accurate sculptures of human figures, depicted in the course of being hounded by the thousands into the commensurate number of thousands of historically accurate cleansing room/crematoria, composed to provide a synchronically visible representation of both the quantitative and qualitative magnitude of the referent, were erected in their place. Instead, pointing, with language, at a place that is nothing in particular, signifying without showing the loss that is every specific, individual death, and, with the individual, every moment, equally inexhaustibly representable, of every life stopped from continuing, every act of conscious and unconscious sensation lost forever with that life, every thought left unmemorialized, Lanzmann’s “‘here’” indicates the infinity that is a human life, an infinity indicated, rather than represented, in the finite form, and catastrophic finite absence, of the referent.

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There are catastrophes and there are catastrophes – events which overturn things or turn upside down (kata-strophé, kata-strephein) – and, the overturning of Voltaire’s worldview by the Lisbon earthquake notwithstanding, catastrophes made by man, not inadvertently, but according to plan, inevitably affect our conception of ourselves and others differently than do natural physical calamities. Both destroy, terrify, ‘scar for life’, or traumatize, but to only one, defeating the best efforts of understanding, does the word barbarism apply. Barbarism – originally referring to ones whose speech one did not understand – has no single concrete referent and cannot be universally, or inter-socially, defined. It is the term for the incomprehensible that lies outside a society according to that society, outside its accepted social practices, its own particular social norms. Indeed, those norms may not even be understood as such until they can be contrasted with barbarism. For example: the planned execution, by a single state government of predominantly poor, nonwhite defendants represented by conspicuously incompetent, underpaid public defenders in numbers that exceed yearly those of the majority of the other American states that exercise the death penalty combined, certainly signifies barbarism to people who don’t live in the society that sanctions it, but to most, while not all, of those living in that society, it’s just “how things are done down in Texas.” One need never set foot in that particular state or in any of the individually normed “United” States to get the picture: one man’s barbarism may be another man’s civilization, most if not all of the time, and, as inexplicable and incomprehensible as that so-called relativity of values may appear, and may well indeed be, human history, including the concepts of human rights and dignity, of what constitutes those rights, that dignity, and who decides and defends them and how, may be nothing less and nothing more than its unending proof. Congruent with Lanzmann’s need to know where the artificial boundary dividing the life of life from the life of death, or supposed civilization from supposed barbarism, once lay – a boundary which necessarily had to be materialized in specific places architecturally for the planned catastrophe of human history rewritten and erased to take effect, the same boundary that leaves no trace of itself in nature in the wake of that plan’s own demise and physical erasure – and thus complimentary to the documentary filmmaker’s literally pointed, deictically gesturing question (“was it here?”) that reveals what is no longer here, history, to our eyes, is the theory of history as history of property formation and appropriation of nature developed by Rousseau. Beginning with the barest narration of a single act set in a simple scene, the taking place of a deictic and verbal act of place-taking, Rousseau reveals the artificial mechanisms of history hidden behind any so-called natural or divinely

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sovereign right to property. In Rousseau’s analysis, that history – like the opposition of civilization to barbarism that will be bound up with it – begins not with some natural taking of property, of place, either by accident or force, but with fully artificial indications of division and appropriation. The landmark first sentence of Part Two of Rousseau’s Second Discourse, Sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1754) states: “Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire: Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.”3 [The first man who, having enclosed a plot of land, thought to himself to say: ‘This is mine,’ and found people simple enough to believe him, was the true founder of civil society]. Rousseau’s mise en scène of the differentiating origin of civilization from nature stages a first, empirically directed act of human consciousness as demonstrative not only of the self-evident, and historically buried, fact that language in itself takes no place and so relies on earthly demarcations to distinguish one place from another, but that such establishment of the referent (“Ceci est …”) – a linguistic act of place-taking itself exerting no physical force upon a made enclosure – marks and defines place not as it exists in itself, if indeed it could so exist, but rather as referent, thereby planting the seeds (or the semantic means) of the double history of civil society and despotism to come (what Rousseau calls the “sanctioning of sovereign authority by divine

3

Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, Paris 1991, p. 222; unless otherwise indicated, all translations from the French throughout this study are my own. Anne-Lise François’ remarkable Open Secrets. The Literature of Uncounted Experience, Palo Alto, California 2008, contrastively compares Rousseau’s account of “the act of taking possession of a territory and declaring it ‘mine’” with a kind of “pointing that would give notice of an unrealized x and, just as surely and swiftly, put it inevitably ‘off limits’, ‘beyond development’” (p. 36). As embodied in “the invisible artistry of the eco-activist” François compellingly describes, such non-appropriative marking characterizes the minimally differentiating conservation method practiced by Earth First!, whose nearly static method of setting aside, by spiking and selectively flagging, individual trees dissuades clear-cut logging by mere force of implication, i.e., the undemonstrable suggestion that any number of “surrounding trees” were also if not equally conspicuously spiked (pp. 36f.). By underscoring, rather, the entirely fictional while visible artistry of appropriation described by Rousseau, this study at once supports François’ larger thesis regarding the enduring “open secrets” informing romantic literature in its nondialectical aspect, and suggests that occulted nonrepresentational marking – marking that is as inessentially grounded as it proves essentially referential in effect – constitutes the basis and informs the development of dialectical and differential understandings of history as well.

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right”).4 The enclosure and definition of a terrain as one’s own, in a language that is not one’s own but the common property of all who understand it, requires language but will not subsist forever on the basis of language and the simple belief of some in what is said alone. Instead, it must be maintained over time through force, force based not in nature, but equally artificially, on industry, paid labor, armies and alliances, the further accumulation of wealth and multi-form institution of social inequality. In order for social inequality to appear instead natural and so to enforce itself, it must be immediately mythologized, that initial, human act of appropriation written out of existence, deleted by society from its memory, all signs of its artificial formation as origin of inequality erased. Thus does society as we know it flourish, according to Rousseau, and thus does inequality steadily grow. And the end result of such civilization will be, of course, “barbarism”, or rather, organized, social barbarism will give way to disorganized, natural barbarism, the catastrophes planned by man will overcome man to the point of resembling natural catastrophes themselves, and, in the thorough destruction of civilization by civilization, the state of nature will again, for a while, hold sway. The act of dividing interior from exterior, one’s own property and civilized society from what stands outside it, is thus the first step toward barbarism, the first formative step any civilization institutionalizing inequality to propel itself forward forgets. Rousseau, who loved the freedom in human beings, projected his theorized origin of civil society forward, from the loss of freedom it entailed to the overturning of human society historically, and, despite his much vaunted personal paranoia, remains the best general prognosticator of humanly caused catastrophes we have. Like Lanzmann’s conscious staging of a miniature scene of demarcation, the scene of a now invisible referent enacted for the camera eye, Rousseau’s brief story of social formation based on division and appropriation represents catastrophic history in the making, a history that, taking the place of nature, ends up erasing itself and looking in fact like nature, mere fields of crabgrass to which the adverbial pronouns here, or ceci do not apply. If they are instead to be remembered as having enabled real human history, the disappearance of those markers from the scene must thus itself be written and staged as a kind of fiction, that is, not imitated and indicated as they were brought into being, as visible objects with visible boundaries, to begin with, but as objects and boundaries now invisible, as history made present as history, through artificial (theoretically or cinematically elaborated, deictic and linguistic) media. 4

Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, pp. 254–257.

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For any reader of Goethe the scenes of the catastrophe of history forgetting itself that Lanzmann and Rousseau represent should be familiar in small, domestic, assuredly noncatastrophic proportion from a work that already advertizes itself not as history but as fiction. Goethe’s novel of errant passions taking place within a small, deliberately constituted social circle, Die Wahlverwandtschaften, includes the odd detail of the eradication, by the most socially proprietary of its characters, of every trace of the burial and memorialization of the dead from the community graveyard over which she holds sway. Die Wahlverwandtschaften is a novel in which the main characters are originally called together for the ostensible purpose of putting the outlines of an estate, as it stands, on paper. Once outlined, the plan of the estate can be submitted for its improvement, nature can be reshaped to fit those graphic alterations, and the plan itself further altered to fit one’s changing passions – distinct modes and kinds of transformation all based in an unexplained desire to build, “bauen,” and build further. “Sollen wir aber nichts weiter darauf bauen?” is the forward-looking question that Eduard asks in the novel’s opening chapter, for no reason he or the novel ever provides. For her own reasons, Charlotte, ever the peacemaker, acquiesces. Yet, when it comes to the community graveyard, what Charlotte does is unbuild. Goethe’s narrator reminds us of this “change”: Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorgenommen hatte. Die sämtlichen Monumente waren von ihrer Stelle gerückt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden. Der übrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derselben vorbei zu dem jenseitigen Pförtchen führte, war das übrige alles mit verschiedenen Arten Klee besäet, der auf das schönste grünte und blühte. Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Gräber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls besäet werden. Niemand konnte leugnen, dass diese Anstalt beim sonn- und festtägigen Kirchgang eine heitere und würdige Ansicht gewährte.5

Replacing gravestones with flowering clover, Charlotte constructs a pleasing “view” unbroken by signs of any kind. A color field artist working squarely in the abstract expressionist (or late Kantian) mode, Charlotte, however, has the added historical burden of having first to construct the canvas upon which she paints. In order to soak with color a plot of ground already marked for purposes of reflection on real experience now past, on lives now ended, that reposed in bodies now buried, and removed forever from view, she must “displace” (“von ihrer Stelle rücken”), or dislocate, from that ground all mean5

Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe, Hamburg 1955, vol. 6, p. 361.

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ing-bearing monuments to those lives, the stones that, indicating at once the place of a buried referent and the pastness of the now invisible, temporal life they commemorate, provide the material and man-made foundations for earth-bound memory no less than abstract thought. Clearing away the uneven accretions of human life and death, Charlotte does not return the graveyard to its natural state, whatever that can now be imagined to have been, but rather produces an unnaturally flat surface upon which she may paint with nature’s perennially, truly living colors. In “leveling” and “constantly reflattening” (“jederzeit wieder verglichen”) a piece of earth already set aside from other pieces of earth so as to contain delimited plots or pieces of ground, she makes the distinction between history and nature, including their historical ordering (nature first, history second), entirely manipulable, if not untenable. Yet the semantic complexity entailed by Charlotte’s purposefully de-signifying activity is precisely not based in an understanding of both nature and history as text. The undivided experience of the beautiful Charlotte would effect through the aestheticizing eradication of a deictic space of memorialization instead simply effaces from view the concretely textual nature of a place of contemplation, removing the graven names and descriptions of those whose prior removal from life constitutes the ground of the graveyard. Like a dictionary of lost referents, a graveyard commemorates intangible subjects, marking these with the shorthand of technical, descriptive forms. Yet, unlike a dictionary, a graveyard not only textualizes but specifically situates its text in space: its signs at once indicate referents the reader cannot encounter, offering discursive in place of empirical knowledge, and they mark the spot where the lost referent is now placed, lodged for the mind’s orientation in the world even as it is concealed from worldly view. Stripped of signs so as to further the purpose of pleasure alone, Charlotte’s aestheticization of the graveyard makes the loss of historical knowledge itself appear – by its easy erasure – superfluous, her manipulation of gravestones and nature alike yielding a beauty that, at once artificial and natural, presents before our eyes, in delimited form, something like the death of death, the loss of loss itself. By removing the signs located in direct proximity to the subjects they memorialize – signs, erected for the living, of subjects already removed from among the living – Charlotte instead makes death itself appear as death never is: merely conceptual, entirely nonreferential, wholly immaterial, and thus eminently forgettable. A loss leaving no trace, this is death deleted as such. However sidelined, much like the gravestones themselves, by the novel’s purposefully überwirklich, or surreal story, written in additionally surreal, because realistically, narrated prose – its tale of of four chiastic lovers; of the short-lived mirror image of that chiasmus, Otto and of the infinitely image-

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able Ottilie – Charlotte’s aesthetization and physical erasure of the signs of history is a quiet catastrophe for the similarly sidelined community, a negation of the possibility of relating language to temporal loss by empirical designations of what remains of loss, signs that indicate not who, but, visibly, where. The churchyard’s Philemon-like priest may see before him “einen schönen, bunten Teppich” (“a beautiful colored carpet”) yet, Goethe’s narrative continues: Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder früher gemissbilligt, dass man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht; denn die wohlerhaltenen Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei, aber nicht, wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie viele behaupteten.6

Similar to the architect’s destruction of a cliff-hanging to clear and construct, with the resultant “pieces”, a prettier path to a building itself built to provide a prettier view (“Aussicht”) of the property as a whole, Charlotte has removed and reconfigured stones in order to construct a beautiful view. Yet, instead of utilizing stones that are “pieces” (“Stücke”) of nature, Charlotte disposes of stones already formed and positioned to constitute a distinctly human, nonnatural world, the world of fixed placemarkers that supplement and instruct memory, that indicate what we experience but never possess as property. Peripheral to the story of Goethe’s novel, yet located in the middle of it – in the churchyard whose “Seitenkapelle” is central to its second part and end – that world is the world of the dead as constructed for the living. It is the place in which dead and living, absent and present, meet in the minds of the living, a place set aside from all others within society to contain or house what has passed from physical immediacy into history. Essentially conversant or representational landscapes – one need not know a single deceased body buried in them to know, because of the signs they provide, that somebody is deceased and, as indicated, there buried – graveyards allow for a certain experience of time based on a certain experience of space. “Ici, on est à l’exterieur du camp”, “ici, on est à l’interieur du camp”, “ceci est à moi”: along with countless, culturally specific techniques of barbarism and deception, the human production of catastrophe, the overturning of life on earth as we know it, relies, practically speaking, on lies of another kind: acts of deixis that seek to replace time forever by space, the invisible, temporal nature of experience as lived, by the visible demarcation of the very right to live, or civilization, from the barbarism of civilization, death. 6

Ibid., p. 361 (emphasis added).

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“Auf das Wo komme es eigentlich an”: the community from which Charlotte’s action set her apart intellectually asserts that the memory of experience requires a spatialized externality, a visible, material setting apart that restores those now invisible to mind, through an indication, neither of inside nor outside nor mine, but of “where” in the world they are not to be seen again. In locating their absence there, outside the mind, such a demarcation can accord them the presence of their eradication, of their history – history that, by definition, “takes place” as it makes and eradicates places, there, “wo es … ankommt,” which is to say, on the “outside” of an “actual”, “intrinsically related” (“eigentlich”) “inside”, and not in the non-place of the mind alone.

Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoahliteratur von Frauen

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Bettina Bannasch (Augsburg)

»Anekdoten wie Mandelblättchen« Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoahliteratur von Frauen

Die neuere deutschsprachige Shoahliteratur, wie sie seit dem Beginn der 1990er Jahre entsteht, zeichnet sich durch eine weit ausholende Erzählfreudigkeit aus; sie riskiert dabei durchaus auch Geschmacklosigkeiten und heikle Vergleiche. Darin unterscheidet sie sich sowohl vom aufklärerischkargen Duktus der frühen Augenzeugenliteratur wie von dem verschweigend-hinweisenden Erzählen in Chiffren, das die Werke aus dem Umfeld der Adorno-Debatte charakterisiert. In dieser zweifach zu bestimmenden Andersartigkeit richtet sich die neuere Shoahliteratur gegen das Problem Sakralisierung, das sich an frühere Werke der Shoahliteratur knüpft. Sie grenzt sich erstens von einer Literatur ab, in der aus den Erinnerungsschriften der Augenzeugen eine – wie Primo Levi es nennt – ›neue Bibel‹ hervorgehen soll. Und sie grenzt sich zweitens von einer Literatur ab, deren quasi-sakralen Inszenierungen von Unsagbarkeit – mit Paul Celan gesprochen – das ›Datum‹ der Wannsee-Konferenz eingeschrieben ist.1 Im Zentrum der neueren Shoahliteratur, der sogenannten Literatur der ›zweiten Generation‹,2 steht die Frage nach dem erinnerungskulturellen Um1

2

Vgl. Thomas Nolden, Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart, Würzburg 1995; Helene Schruff, Wechselwirkungen. Deutsch-jüdische Identität in erzählender Prosa der ›Zweiten Generation‹, Hildesheim 2000; Andreas B. Kilcher, »Exterritorialitäten. Zur kulturellen Selbstreflexion der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur«, in: Sander L. Gilman/Hartmut Steinecke (Hrsg.), Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre, Berlin 2002, S. 131–146; Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hrsg.), NachBilder des Holocaust, Köln/Weimar/Wien 2007; Bettina Bannasch, »Erinnerung als Erlösung? Zur deutsch-jüdischen Literatur der Gegenwart«, in: Irmela von der Lühe/Axel Schildt/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), »Auch in Deutschland waren wir nicht mehr zu Hause«: Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008, S. 470–490; Mona Körte, »Die Toten am Tisch. ›Familienromane‹ nach dem Holocaust«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 4/2008, S. 573–594. Zu den problematischen Implikationen der Verwendung des Generationenbegriffs in dem literaturwissenschaftlichen Kontext der neueren Shoahliteraturforschung vgl. Bettina Bannasch, »Zum Problem der Vergleichbarkeit in der Shoahliteratur. Robert Menasses ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, in: Rudolf Frei-

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Bettina Bannasch

gang mit der Shoah. Ihre Werke erweisen sich als (erinnerungs)diskursiv außerordentlich informiert und reflektiert, allen voran jenes Buch, das innerhalb der deutschsprachigen Literatur die Wende zum neuen Schreiben über die Shoah breitenwirksam einleitet: Ruth Klügers weiter leben (1992), die Autobiographie einer Angehörigen der ersten Generation. In seinem differenzierten und reflektierten Umgang mit der eigenen und mit der kollektiven Erinnerung setzt Klügers Text Maßstäbe für die neuere Shoahliteratur. Deren Autoren, Angehörige der zweiten Generation, die zumeist auch ihre Erzählerfiguren der zweiten Generation zugehörig sein lassen, rekurrieren im Unterschied zu Klüger neben der Auseinandersetzung mit dem Shoahdiskurs nicht auch auf eigene Erfahrungen. So entsteht eine Literatur, die sich durch eine gewisse Theorielastigkeit auszeichnet. Diese Einschätzung zumindest lassen die Romane zweier Autorinnen erkennen, die beide im Jahr 2005 erscheinen: Gila Lustigers So sind wir 3 und Eva Menasses Vienna.4 In betonter ›Einfacheit‹ schreiben sie gegen die Komplexität der neueren Shoahliteratur ihrer männlichen Kollegen an. Sie stellen ihre Werke in den Dienst einer Erinnerungskultur, die sich neuen Anforderungen gegenüber sieht: Angesichts des allmählichen Sterbens der Augenzeugen und angesichts des allzu akademischen Charakters, den die Orientierung der Shoahliteratur seit den 1990er Jahren an den Debatten um den erinnerungskulturellen Umgang mit der Shoah gewonnen hat, machen sie es sich zur Aufgabe, jüdisches Leben heute in gut lesbaren, allgemein verständlichen Romanen zur Darstellung zu bringen. Diesen Darstellungen schreiben sie die Erinnerung an die Shoah als Mythos ein. In ihren narrativen Verfahren suchen sie dem zu entsprechen: Die ›Einfachheit‹ ihres Erzählens erwächst dabei weniger aus der tabubrechenden Verwendung von Formen trivialen Erzählens, wie es auch die Texte von Robert Schindel, Doron Rabinovici, Maxim Biller, Robert Menasse und anderen kennzeichnet. Sie erweist sich vielmehr als eine an Benjamin geschulte Konzeption mündlichen Erzählens, eines ›Rat gebenden‹ und Erfahrungen übermittelnden Erzählens5 – das nun allerdings durch eine weibliche Stimme tradiert wird, durch eine Erzählerin.

3 4 5

burg/Gerd Bayer (Hrsg.), Literatur und Holocaust, Würzburg 2009, S. 213–236, hier S. 230f. Gila Lustiger, So sind wir. Ein Familienroman, Berlin 2005. Eva Menasse, Vienna, Köln 2005. Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1977, S. 438–465.

Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoahliteratur von Frauen

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Schon der Gründungstext der neueren Shoahliteratur, Ruth Klügers Autobiographie weiter leben, versteht sich als ein ›weiblich‹ erzählter Text. Angesichts der grundlegenden Kritik jedoch, wie sie an feministischen Ansätzen der Geschichtsschreibung zur ›männlichen‹ Tätergeschichte in den 1990er Jahren formuliert wird, überrascht es kaum, dass die Texte der neueren Shoahliteratur an die – für Klügers Text zentrale – feministische Orientierung nicht anknüpfen.6 Diese Zurückhaltung charakterisiert auch die Romane 6

Klügers Text schließt an Überzeugungen an, wie sie in der feministischen geschichtswissenschaftlichen Forschung der 1970er Jahre vertreten werden. Geschichte wird demnach begriffen als von Männern gemachte und verantwortete. Frauen sind, selbst wenn sie als Täterinnen in Erscheinung zu treten scheinen, eher als Mittäterinnen denn als Täterinnen zu begreifen. Der Einwand, der im Zusammenhang mit der Geschichte des Nationalsozialismus bald schon gegen diese Auffassungen formuliert wurde, lautet jedoch, dass damit eine strukturelle Gleichsetzung der Situation von Frauen und Juden hergestellt werde, die eine Verharmlosung der Shoah darstelle und antisemitische Züge trage. Seit den 1990er Jahren entstehen eine Reihe von geschichts- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten zur Rolle von Frauen im Nationalsozialismus, die diese strukturellen Einwände ergänzen. In der Literatur der Täterkinder, der etwas breiter rezipierten zumal, erfreut sich das Narrativ der Mittäterin gleichwohl ungebrochener Beliebtheit. So stattet etwa ein Autor wie Uwe Timm das Bild der geliebten Mutter mit den typischen Zügen einer Mittäterin aus (Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, vgl. S. 150 u. a.), auch wenn er zugleich einer Reihe von kanonischen Texten der Shoahliteratur seine Reverenz erweist. – Für die seit den 1990er Jahren entstehende Shoahliteratur hingegen liegt es im Blick auf die Erträge der geschichtswissenschaftlichen Forschungen nahe, die feministische Grundierung der Klüger’schen Autobiographie nicht fortzuschreiben; wobei Klüger allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, in ihrer Autobiographie eine entscheidende Um-Schreibung des Mittäterinnen-Narrativs vornimmt. Eine der wenigen Ausnahmen stellen die Texte der deutsch-jüdischen Autorin Esther Dischereit dar; sie nehmen ebenfalls eine Verknüpfung von feministischem Diskurs und dem Opferdiskurs der Shoah vor. Entsprechend zitiert Dischereit in einem Essay aus den Ablehnungsschreiben, die sie zu Beginn der 1990er Jahre von Rundfunkredakteuren erhielt, denen sie ihr Hörspiel Ich ziehe mir die Farben aus der Haut (1993) zugesandt hatte. Diese formulierten Bedenken gegen die »›plakative und vereinfachende Kausalität von sexueller, privater und politischer Gewalt‹ [sowie gegen die] ›rasant gezogene[n] Parallelen zwischen Täter und Mann, Opfer und Frau, Einst und Jetzt, Mord und Sex‹« (Esther Dischereit, »Kein Ausgang aus diesem Judentum« (zuerst engl. »No Exit from this Jewry«, 1994), in: dies., Übungen, jüdisch zu sein, Frankfurt a.M. 1998, S. 16–35, hier S. 18). Nicht alle Hörspielredaktionen teilten diese Bedenken; das Hörspiel wird 1993 vom Saarländischen Rundfunk produziert und, wie Dischereit eigens vermerkt, von den meisten Sendeanstalten übernommen. Schon 1988 erschien von Dischereit der schmale Band Joemis Tisch, in dem sich eine erwachsene Tochter an die verstorbene Mutter erinnert. Auch sie wird als Opferfigur beschrieben, als eine verfolgte jüdische Frau, welche die Zeit

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Gila Lustigers und Eva Menasses. Obgleich beide Autorinnen ihr Erzählen ausdrücklich als ein ›weibliches‹ kenntlich machen, gibt sich die ›Weiblichkeit‹ ihres Erzählens keineswegs kämpferisch-feministisch, so wie dies in Klügers weiter leben oftmals der Fall ist. Es präsentiert sich vielmehr als ein ›einfach besseres‹ weibliches Erzählen. Minka Pradelskis Roman Und da kam Frau Kugelmann,7 wie die beiden anderen Romane ebenfalls im Jahr 2005 erschienen und ganz offenkundig an neueren Arbeiten der Genderforschung geschult, reagiert ironisch auf die Implikationen eines sich solchermaßen als ›weiblich‹ verstehenden Erzählens. Doch verbindet Minka Pradelski mit Gila Lustiger und Eva Menasse – und sie alle wiederum schließlich mit Ruth Klüger – weit mehr als es auf den ersten Blick scheinen mag: Alle diese Romane zeugen von dem Bemühen darum, die Shoah zum einen als eine mythische Erzählung kenntlich zu machen und sie als solche – wie dies ihre männlichen Kollegen der ›zweiten Generation‹ auch tun – einer rationalen Kritik zu unterziehen. Im Unterschied zu den männlichen Kollegen jedoch unternehmen die Romane dieser Autorinnen zugleich den Versuch, die Shoah in narrativen Verfahren der Mythologisierung dem kulturellen Gedächtnis einzuschreiben. Das für die Darstellung und Erklärung geschichtlicher Ereignisse seit der Aufklärung wirksame, mit der Shoah jedoch grundlegend infrage gestellte Kulturmuster der Verschränkung von rationaler Mythos-Kritik und kreativer Neu-Mythisierung8 erhält in diesen Werken eine neue Aktualität.

7 8

des Nationalsozialismus im Verborgenen überlebt hat. Sowohl an den Orten, an denen sie Zuflucht suchte, wie in ihrer Ehe nach 1945 wurde sie Opfer sexueller Belästigungen und häuslicher Gewalt, bis sie schließlich – zum letzten Mal Opfer – bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Joemis Tisch verzichtet darauf, explizite Parallelen zwischen dem Shoahdiskurs und dem feministischem Opferdiskurs zu ziehen. In der solchermaßen gestalteten Erinnerung der Tochter an das Leben ihrer Mutter werden beide Diskurse gleichwohl implizit zusammengeführt (Esther Dischereit, Joemis Tisch, Frankfurt a.M. 1988). Zu Dischereit und weiteren Autorinnen der neueren Shoahliteratur vgl. in diesem Zusammenhang auch Eva Lezzi, »In den Körper verbrachte Erinnerung. Autobiografische Texte von deutsch-jüdischen Autorinnen der zweiten Generation«, in: Christoph Miething (Hrsg.), Zeitgenössische jüdische Autobiographie, Tübingen 2003, S. 147–179. Minka Pradelski, Und da kam Frau Kugelmann, Frankfurt a.M. 2005. Zur Verschränkung von rationaler Mythos-Kritik und kreativer Neu-Mythisierung (ohne den hier vorgenommenen Shoahbezug) vgl. Stefan Matuschek, »Mythos-Begriff und vergleichende Literaturanalyse«, in: Monika Schmitz-Emans/ Uwe Lindemann (Hrsg.), Komparatistik als Arbeit am Mythos, Heidelberg 2004, S. 95–107.

Entwürfe mythischen Erzählens in der neueren Shoahliteratur von Frauen

I.

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Das Narrativ der Mittäterin in seiner jüdischen Um-Schreibung: Ruth Klügers weiter leben

In der Distanzierung von dem Gerangel um Diskurshoheiten und diskursive Verfehlungen, im bündigen Verweis auf die eigene Erfahrung vielmehr, stellt die Auschwitzüberlebende Ruth Klüger in ihrer Autobiographie weiter leben von 1992 eine unmittelbare Parallele zwischen dem Opferdiskurs der Shoah und dem des Feminismus her. Diese leitet sich nicht aus Thesen, sondern aus der eigenen Biographie ab, sie untersucht nicht die Ursachen des deutschen Nationalsozialismus im Patriarchat, sondern sein Fortleben in den Köpfen der Männer. Erst hatte es die Verachtung der arischen Kinder für die jüdischen in Wien gegeben, dann die der tschechischen Kinder für die deutschen in Theresienstadt, jetzt die der Männer für Frauen. Diese drei Arten der Verachtung sind inkommensurabel, werdet ihr sagen, ich aber erlebte sie an mir selber, in der angegebenen Reihenfolge. Ich war das tertium comparationis, das Versuchskarnickel dieses Vergleichs, und darum stimmt er für mich.9

Klügers Aufzeichnungen sind durchzogen von einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Unterdrückungs- und Diskriminierungsszenarien.10

9 10

Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 214. Eine kritische Kommentierung der Frauenfeindlichkeit innerhalb der jüdischen Tradition zieht sich in weiter leben durch den gesamten Text (vgl. hierzu etwa die Passage zum Kaddisch-Sprechen als dem Vorrecht der Männer, S. 23 u.v. a.). Eine wichtige Funktion für die emanzipatorische Distanzierung des Ich von der misogynen jüdischen Tradition erfüllt dabei seine Freundschaft mit dem Studenten Christoph. Gegen den Rat der jüdischen Kommilitonen, die dem Ich von der Freundschaft mit dem Nichtjuden abraten, hält die Ich-Erzählerin an der Liebesbeziehung fest: »Nachdem ich ein paar Mal mit Christoph gesehen worden war, nahmen mich einige jüdische Studenten beiseite, um ernsthaft mit mir zu reden. Das ginge nicht, ein jüdisches Mädchen mit einem Goj, und noch dazu mit einem Deutschen. Ich war empört. Ihr mit euren Verhältnissen mit deutschen Mädchen, wie kommt ihr dazu, mir etwas vorzuschreiben? Das sei etwas anderes, sie seien Männer, sie dürften sich einlassen, mit wem sie wollten. Für solche Feinheiten war ich ungenügend sozialisiert in den Perversitäten der Geschlechterrollen. Ich hörte nur die Verachtung für Frauen, die in dieser Unterscheidung und in der Anmaßung der Männer lag, eine Art Vormundschaft über mich ausüben zu wollen. […] Im übrigen scherte ich mich nicht um die Mißbilligung der Kommilitonen, nur daß Christophs Gesellschaft dadurch auch zu einer Art Rebellion gegen das Jüdische wurde.« (Klüger, weiter leben, S. 214). Zugleich wird aber auch das Verhalten von Christoph als eines beschrieben, das durchaus patriarchalen Mustern verhaftet bleibt. Anschaulich wird der selbstherrliche Zugriff geschildert, den sich Christoph in seinen Reden über die Shoah erlaubt – ohne dass er dabei auf den

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Für die Geschichte, die in der Autobiographie erzählt wird, ist dabei das Narrativ der männlichen deutschen Täter und ihrer Opfer-Mittäterinnen zentral. Es schlägt sich, so wird deutlich, auch auf die vermeintlich unschuldigen Kinder nieder: auf die arischen, später auf die tschechischen Kinder im Lager. Es wird fortgeschrieben in der Unterscheidung zwischen brutalen KZ-Aufsehern und nicht-ganz-so-brutalen KZ-Aufseherinnen.11 Vor allem aber hält es – und dies sehr entschieden – das Deutungsmuster für die eigentliche Erzählung, die Erzählung der Mutter-Tochter-Geschichte bereit. Erst so wird diese in ihrer Vielschichtigkeit und Gebrochenheit darstellbar und nachvollziehbar. Denn in weiter leben erhält der deutsche Nationalsozialismus, der männlich codiert wird, in der (Figur der) Mutter sein weiblich-jüdisches Pendant: Die pathologische Deformation der mütterlichen Psyche, der Verfolgungswahn der Mutter, bildet ein so genaues Gegenstück zum Wahnsinn der nationalsozialistischen Judenverfolgung, dass die Mutter im Konzentrationslager das eigene Überleben, das Überleben der Tochter und das einer angenommenen Tochter ermöglicht. Diese Heldentat wird der Mutter jedoch nicht als Verdienst zugerechnet. Sie gelingt ihr dank ihrer psychischen Deformation, die ihr auch nach der Befreiung bleibt. Die Erzählung von der Mutter schreibt damit das antisemitische Narrativ von der Frau als Mittäterin in die Charakteristik einer jüdischen Frau um, die Opfer der Shoah ist. Die Mutter ist Opfer-Frau des Täter-Mannes – mit der alles entscheidenden Differenz, dass sie keine deutsche, sondern eine jüdische Frau ist, keine KZ-Aufseherin sondern eine KZ-Insassin. Als Kind und Jugendliche ist die Tochter ihr Opfer. Als erwachsener Frau gelingt es der Tochter schließlich, der kranken Weiblichkeit der Mutter – ebenso wie später auch ihren Täter-Ehemännern – in der starken Gemeinschaft von Freundinnen ein gesundes Konzept von Weiblichkeit entgegenzusetzen. Diesem Konzept gehört ein weibliches Erinnern und Erzählen zu, bei dem die Aufzeichnende den Stift ergreift wie einen Kochlöffel, »um die Brühe, die unsere Väter gebraut, mit dem Gewürz unserer Töchter anzurühren.« Erinnerung ist Beschwörung, und wirksame Beschwörung ist Hexerei. […] Wenn es mir gelingt, zusammen mit Leserinnen, die mitdenken, und vielleicht sogar ein paar Lesern dazu, dann können wir Beschwörungsformeln wie Kochrezepte aus-

11

Gedanken käme, einmal die Freundin, die in Auschwitz gewesen ist, nach ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen zu befragen. Vgl. Klüger, weiter leben, S. 145. Klügers Rekurs auf die Hexe verweist auf ein Frauenbild, in dem sich die Furcht der patriarchalen Gesellschaft vor der starken Frau in einer paranoiden Verfolgungs- und Opfergeschichte artikuliert. Die Anfänge dieser Geschichte fallen, historisch gesehen, mit der Verfolgungsgeschichte der Juden zusammen.

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tauschen und miteinander abschmecken, was die Geschichte und die alten Geschichten uns liefern, wir könnten es neu aufgießen […]. Wir fänden Zusammenhänge (wo vorhanden) und stifteten sie (wenn erdacht).12

Die Spannbreite der Möglichkeiten, die Klüger für ein weibliches Schreiben im Blick hat, ist dabei denkbar weit gefasst. Sie reicht vom »neuen Aufguss« bis zur »Zauberei«,13 also von Akzentverschiebungen und Perspektivwechseln bis zur Revolution der poetischen Sprache. Das spezifisch ›weibliche‹ Erzählen der Klüger’schen Autobiographie hingegen zeichnet sich allererst durch Verfahren der Brüskierung aus, und schließlich: durch den autoritativen Verweis darauf, nicht Literatur zu bieten, sondern Selbsterlebtes. Klüger besteht mit Nachdruck darauf, dass es sich bei ihren literarisch anspruchsvollen und rhetorisch durchdacht inszenierten Aufzeichnungen nicht um einen Roman handelt. Kaum zufällig hat dieser Gestus innerhalb der deutschsprachigen Literatur eine Entsprechung in der feministischen Bekenntnisliteratur. Mit diesem Gestus unternimmt der Text den Austritt aus dem Opferstatus auf allen Ebenen, also auch gegen eine Literaturwissenschaft, die sich den Zugriff auf Erinnerungen gestatten zu können meint, die nichts weniger als ›das Leben‹ der Autorin selbst zum Gegenstand haben.

II. Weibliches Schreiben in Texten von Autorinnen der ›zweiten‹ und ›dritten Generation‹ Der brüske Ton der Verweigerung von diskursiver Korrektheit verdankt sich in weiter leben neben seiner feministischen Positionierung der differenzierten Reflexion des Shoahdiskurses, die er leistet. Klügers Aufzeichnungen unterscheiden sich darin sowohl von anderen Texten der Augenzeugenliteratur, die sich zumeist als Dokumente verstehen, als auch von neueren Texten der Shoahliteratur, die sich zumeist als Fiktionen ausweisen – und zwar als Fiktionen, welche die Kämpfe von weiter leben nicht mehr zu kämpfen haben, weder die feministischen noch die erinnerungskulturellen. Daraus ergibt sich die Frage, worin dann überhaupt noch die spezifische Leistungsfähigkeit eines weiblichen Schreibens bestünde und in welches Verhältnis dieses zum gegenwärtigen Shoahdiskurs zu setzen wäre. Die Romane von Gila Lustiger und Eva Menasse antworten darauf. 12

13

Klüger, weiter leben, S. 79. Vgl. hierzu auch Marisa Siguan Boehmer, »Literatur als Lebenshilfe: Ruth Klügers Beschwörungsformeln«, in: Montserrat Bascoy u. a. (Hrsg.), Gender und Macht in der deutschsprachigen Literatur, Frankfurt a.M. 2007, S. 139–156. Klüger, weiter leben, S. 79.

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Von Menschen und Männern – Einspruch gegen den Opferdiskurs: Gila Lustigers So sind wir

Gila Lustigers So sind wir beginnt mit einer Entdeckung: Die Tochter stößt in einer Buchhandlung auf einen Sammelband, der einen kurzen Text ihres Vaters über seine Erfahrungen im Konzentrationslager enthält. Im Widerspiel mit dem väterlich-nüchternen Erzählen von Fakten konturiert sich im Folgenden das Erzählen des Ich: Mein Vater benutzte das Ich wie andere das Er oder Sie benutzt hätten. Er schrieb mit einem Ich wie aus Holz. Das war ein stilistisches Kunststück, dem man selten begegnete. Ein Ich wie aus Holz, habe ich gedacht, beschämt, […]: ist eine Erzählhaltung, zu der du nie imstande sein wirst. Denn dir geht es nicht um Berichterstattung, sondern nur um dich selbst, wie all den anderen Egozentrikern, die sich Schriftsteller nennen.14

Das literarische Schreiben weist die Tochter zunächst nicht als ein spezifisch weibliches aus, sondern als eines, das allen Schriftstellern – im Unterschied zu den Berichterstattern – zu eigen ist. Erst der Roman mit seiner Gegenüberstellung von väterlichem und töchterlichem Schreiben macht ein weibliches daraus. Denn bei aller Überlegenheit vermag das dem töchterlichen Schreiben überlegene »Kunststück« des Vaters nicht für sich allein zu stehen. Aus Sicht der Tochter verlangt es vielmehr ein Pendant: der Roman bezeichnet es als die »Gefühlschronik« der Familie. Um diese erstellen zu können, muss die Erzählerin nicht nur Gefühle aufzeichnen. Sie selbst muss gefühlvoll werden. So legt die ihrem Wesen nach dem Vater ähnliche, nämlich nüchterne Tochter ihre Nüchternheit ab. Dies geschieht zunächst in der Einsamkeit ihres Schreibtischs, es vollzieht sich schließlich noch einmal vor unseren Augen im Verlauf des Romangeschehens. Dieses besteht in wesentlichen Teilen darin, dass die Erzählerin einer Freundin auf einer Party von ihren schreibenden Bemühungen um Ent-Nüchterung erzählt und sich während dieser Erzählung zunehmend betrinkt.15 Weibliches Schreiben wird so als der bewusste Versuch kenntlich, sich möglichst authentisch – der Alkohol ist Garant dafür – in eine Tradition ›weiblich‹-gefühlvollen Schreibens einzureihen, wie sie mit der Ausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. Jahrhundert einhergeht. Diese Tradition, 14 15

Lustiger, So sind wir, S. 62f. Im betrunkenen Zustand gelingt der Ich-Erzählerin schließlich der ›Eintritt‹ in eine Fotografie, die ihren Vater beim Handschlag mit einem amerikanischen Soldaten zeigt. Markiert wird so die Möglichkeit einer ›unmittelbaren‹ Teilhabe der nachgeborenen Tochter an der Vergangenheit des Vaters (Lustiger, So sind wir, S. 295f.).

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die ihre Konturen analog zum realistischen, tatsachengetreuen und doch literarisch anspruchvollen Erzählen der kühnen Köpfe und der kühlen Kerle gewinnt, ist in der Familie der Erzählerin überaus lebendig. So kann sich diese auf die Erzählfreudigkeit ihrer Mutter, vor allem aber auf die Erzählkunst der verstorbenen Großmutter berufen. Diese hätte […] die Geschichte […] ausrollen, anheben und drehen können wie einen hausgemachten Strudelteig. […] wie Essäpfel hätte sie die Fakten geschält, entkernt und zerkleinert. Dann hätte sie Anekdoten wie Mandelblättchen gestreut […]. Eine Erzählerin alter Schule, keine Intellektuelle, die mit klugen Worten um sich schmeißt. […] Denn nur so werden Legenden gewoben und Mythen geschaffen.16

Weibliches Erzählen wird hier als sinnliches und mythenbildendes charakterisiert, im Romangeschehen selbst wird es als ausuferndes, unkonzentriertes Gerede der Ich-Erzählerin inszeniert. Als solches erhebt es im Namen des Lebens Einspruch gegen den Opferdiskurs, der den Vater auf den Status des ›Überlebenden‹ reduziert sehen möchte. Das so konzipierte weibliche Erzählen entwirft sich dabei nicht als eine Antwort auf die grundsätzliche Sprachnot des Überlebenden. Es entwirft sich vielmehr als eine weibliche Antwort auf das männliche Erzählen des Vaters; mit dessen Männlichkeit wird zugleich auch seine Menschlichkeit behauptet. Deutlich wird dabei, dass es der Erzählerin im Roman nicht um den Nachweis eines avancierten Gender-Bewusstseins zu tun ist,17 sondern um die Adressierung ihrer Gefühlschronik an den Vater.18

16 17

18

Ebd., S. 234. An einer Stelle des Romans wird diese Erzählhaltung als eine bewusst eingenommene kenntlich gemacht. Ausgehend hiervon ließe sich argumentieren, dass die Klischeehaftigkeit eines solchermaßen als ›weiblich‹ vorgeführten Erzählens im Roman selbst reflektiert wird. Andere Passagen wiederum legen die Vermutung nahe, dass der Roman mit einer solchen Lesart überstrapaziert wäre. Sie fokussieren die Darstellung der gewonnenen ›Gefühligkeit‹ der Ich-Erzählerin auf eine Abgrenzung zu den aufdringlichen Betroffenheitsbekundungen hin, wie sie die Schwester der Erzählerin dem Vater entgegen bringt. Zusätzliches Gewicht erhält diese Adressierung durch den Umstand, dass es zu der Figur des Vaters, im Roman A.L. genannt, eine Entsprechung im ›wirklichen Leben‹ gibt: den Auschwitzüberlebenden und Historiker Arno Lustiger, den Vater der Autorin. Dieser bestätigte in einigen Interviews, die er nach dem Erscheinen des Romans gemeinsam mit seiner Tochter gab, den ›Empfang‹ der an ihn gerichteten Botschaft.

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Manisches Mythologisieren und der protokollierende Dienst der Frau am Familiengedächtnis: Eva Menasses Vienna

Eva Menasse verzichtet in ihrem Roman Vienna auf solcherart aufgeladene Konstruktionen männlichen und weiblichen Schreibens. Ihre Protagonistin beschränkt sich auf das schlichte Aufschreiben. Als spezifisch weibliches Schreiben konturiert sich dieses Schreiben nicht auf der Folie des großväterlichen Schweigens, das die Zeit der Zwangsarbeit in Wien übergeht, und auch nicht auf der Folie des väterlichen Geredes, das über die schmerzliche Erfahrung des englischen Exils hinweg spricht. Als weibliches Schreiben gewinnt das (Auf)Schreiben der Erzählerin erst im Widerspiel mit dem Erzählen des Bruders seine Kontur. Dieser Bruder befleißigt sich einer geradezu übereifrigen Suche nach den eigenen jüdischen Wurzeln.19 Die Ich-Erzählerin führt dies auf eine frühe Kränkung zu Studienzeiten zurück. Damals nämlich war der Bruder von einer Kommilitonin öffentlich als Frauenfeind gebrandmarkt worden, eine Bloßstellung, die er in der Folge mit einer identifikatorischen Auseinandersetzung mit dem Judentum und dessen Verfolgungsgeschichte zu kompensieren suchte. Das Interesse des Bruders wird so als eine Reaktion auf die narzisstische Kränkung gedeutet, die ihm durch die Feministinnen zugefügt wurde, die Inanspruchnahme des Shoahdiskurses dient dabei der Wiederherstellung seines männlichen Selbst- bzw. Opferbewusstseins.20 19

20

In dem Roman treibt die Suche nach den eigenen jüdischen Wurzeln die wissenschaftliche Arbeit des Historikers so sehr an, dass sie gelegentlich die Grenze zwischen seriöser Datenerhebung und wunschgemäßer Dichtung überschreitet; so wird etwa aus der katholischen eine jüdische Großmutter. In seiner Verbitterung über die erfahrene Ausgrenzung aus dem feministischen Diskussionszirkel seiner Kommilitonin mit dem schönen sprechenden Namen Anny Kennich stürzt sich der Bruder in seine »Popelnik«-Studien (Menasse, Vienna, S. 285ff.). Als eine weitere einschneidende Erfahrung des Bruders in seinem Verhältnis zum Judentum wird seine Amerikareise beschrieben. Erfährt er zunächst eine freundliche Aufnahme in dem fremden Land, so wird er bald als ›nur vierteljüdisch‹ enttarnt und verliert damit zugleich die Aufmerksamkeit und Zuneigung seiner Gastgeber (ebd., S. 328). Umso tiefer vergräbt sich der nun zweifach gekränkte Bruder nach seiner Rückkehr aus Amerika in seine eigene Familiengeschichte und deren jüdische Wurzeln. Dabei vernachlässigt er unrühmliche Aspekte wie etwa Hinweise auf die Vorstrafen seines Großvaters, und dehnt seine Studien schließlich so weit in die Vergangenheit aus, dass ihm eine ›würdigere‹ Familiengeschichtsschreibung möglich wird. »Ihm war es ja«, so bemerkt die Ich-Erzählerin ironisch, »immer eher um Heldengeschichten zu tun gewesen, also widmete er sich aufs Neue dem alexandrinischen Bankier und dessen Familie, welcher, wie er herausfand, über die Jahrhunderte diverse hochrangige jüdische Gelehrte entsprossen waren. Ein einziges Mal fragte ich ketzerisch, was das eigent-

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All diese Zusammenhänge stellt der Roman im Plauderton her; eingebettet in andere Geschichten und Geschichtchen tragen auch sie einen durchaus anekdotischen, keinen agitatorischen Charakter. Auch diese Ich-Erzählerin schreibt darin eine familiäre Erzähltradition fort; der Roman bezeichnet sie als »manisches Mythologisieren«.21 Mit dem Sterben der Elterngeneration nimmt dieses Erzählen ein Ende; umso wichtiger ist es, dass die Ich-Erzählerin es festhält: Solange mein Vater, meine Mutter, mein Onkel, die Tante Ka und die kleine Engländerin lebten, die die Widersprüche und Ungereimtheiten unserer Familie verkörperten, als Beweis für alles, was möglich ist, so lange konnten wir Kinder die besten Freunde sein und Mitglieder einer Familie. Doch als diese Generation tot war, kämpften wir traurigen Diadochen um eine Deutungshoheit, die vor uns keiner gebraucht hatte. Und so muß es eben hier zu Ende gehen, mit meiner lustigen Familie und mit dem ganzen herrlichen »Em-Em«.22

Fällt das Ersinnen von Mythen und Legenden bei Gila Lustiger in den Aufgabenbereich weiblichen Erzählens, so kommt in Eva Menasses Vienna den Frauen beim manischen Mythologisieren lediglich die Rolle von Stichwortgeberinnen für die männlichen Erzähler zu – und, im Falle der IchErzählerin, die der Protokollantin, welche die familiären Anekdoten aufzeichnet. Bezeichnenderweise ist es eben dieser Gestus des Sich-Bescheidens auf die Tätigkeit der Protokollantin, der die beiden in vielen Punkten so unterschiedlichen Erzählverfahren miteinander verbindet; in beiden Fällen schließt dieser Gestus nicht nur die Dokumentation von Gefühlen, sondern auch das Erfinden von Mythen und Märchen mit ein. Lustigers und Menasses Erzählkonzeptionen befinden sich damit ganz auf der Höhe der Zeit, einer Zeit, in der Erinnerungsforschung, Geschichtswissenschaft und Lite-

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lich mit uns zu tun habe, aber da warf er mir vor, für das poetisch und historisch Große und Ganze einfach zu kleinherzig zu sein […]« (ebd., S. 374). In seiner gut gemeinten Penetranz entgeht es dem Bruder, dass der harmoniesüchtige Vater zwar nicht von der ›dunklen‹ Zeit zu sprechen bereit ist, dass er aber sehr wohl an einem Ausflug in die ›helle‹ Zeit des englischen Exils interessiert ist. So ist es nicht der Bruder sondern die Ich-Erzählerin, die mit dem Vater eine Erinnerungsreise nach England unternimmt und die dabei einiges über ihn erfährt. Am Ende des Romans zerbricht die Familiengemeinschaft dennoch. Es ist der Bruder, der sie zerstört. Er, der zu seinem Leidwesen ›nur‹ über einen jüdischen Großvater und Vater verfügt, verstrickt sich mit seinen ›volljüdischen‹ Cousins in eine so schwerwiegende Auseinandersetzung, dass schließlich keine Versöhnung mehr möglich ist. Ebd., S. 393.

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ratur im Zeichen der Shoah zusammenfließen.23 Beide Autorinnen reihen sich damit zugleich allerdings auch in eine keineswegs sonderlich neue Tradition weiblichen Erzählens ein, und zwar weder neu im Blick auf Konzeptionen weiblichen Schreibens überhaupt noch im Blick auf die schreibenden Frauen innerhalb der Zeugnisliteratur, die ihre Aufzeichnungen zumeist als Dokumentationen in den Dienst des Familiengedächtnisses stellen.24

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Daniel Levy und Nathan Sznaider beobachten die Herausbildung einer »selbstreflexiven Gedächtniskultur«, in der sich »Gedächtnis und Geschichte vermischen. Und dies wird ganz besonders in der Holocaustgeschichte bzw. ihrer Erinnerung deutlich« (Daniel Levy/Nathan Sznaider, Der Holocaust im globalen Zeitalter, Frankfurt a.M. 2001, S. 48). Schlichte Fakten können, so die von Levy und Sznaider vertretene Auffassung, das Geschehen der Shoah nicht wiedergeben. Mündliche und literarische Zeugnisse, in denen sich diese Erinnerungen niederschlagen, erhalten so ein neues Gewicht für die geschichtswissenschaftliche Forschung. Entsprechend lässt sich auch in den Überlegungen des Historikers Jörn Rüsen der Versuch beobachten, das empirisch gewonnene Datenmaterial der Geschichtswissenschaft um die ›höhere Wahrheit‹ der Literatur zu bereichern. Rüsen schließt in seine Argumentation ausdrücklich auch jene Literatur mit ein, die um das Problem der Unsagbarkeit kreist, also um ein Problem, das sich in der Literatur und in der Literaturwissenschaft nicht nur als ein moralisches oder psychologisches, sondern auch als ein ästhetisches Problem darstellt. Rüsen formuliert die Hoffnung, vermittelt über die Literatur einen Zugewinn an Datenmaterial über die inneren, erinnerten Vorgänge zu erhalten. Dafür müsse sich die Geschichtswissenschaft, so fordert es Rüsen, einlassen auf die Literatur und ihren »anderen Modus des Erzählens«. Erst die Offenheit der Geschichtswissenschaft für diesen anderen Modus des Erzählens vermag, so argumentiert er, tatsächlich Auskunft darüber zu geben, was der »Holocaust als reales Geschehen« wirklich war (Jörn Rüsen, »Die Logik der Historisierung. Metahistorische Überlegungen zur Debatte zwischen Friedländer und Brozat«, in: Gertrud Koch (Hrsg.), Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung, Köln u. a. 1999, S. 19–60, hier S. 47). In seinem Roman Die Vertreibung aus der Hölle widerspricht Robert Menasse der Auffassung einer ›höheren‹ Wahrheit von oral history und Literatur entschieden und redet einer an Fakten orientierten Geschichtswissenschaft das Wort – dies allerdings in Romanform, und zwar in einem Roman, der zeigt, dass die subjektive Aneignung von Geschichte unumgänglich ist. Die von Frauen verfassten Texte, die einen wesentlichen Anteil der gesamten Augenzeugenliteratur ausmachen, verstehen sich zumeist als »einfache Berichte«, die »für Kinder und Enkel verfasst wurden, viele stammen von Frauen, die hier vielleicht einer geschlechtsspezifischen Rolle entsprechen und ihrer Sorge um das Familiengedächtnis Ausdruck verleihen […].« Constanze Jaiser, »Die Zeugnisliteratur von Überlebenden der deutschen Konzentrationslager seit 1945«, in: Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 107–134, hier S. 115.

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III. Genderkritische Revisionen: Minka Pradelskis Und da kam Frau Kugelmann Minka Pradelskis Roman mit dem verheißungsvollen Titel Und da kam Frau Kugelmann lässt bereits durch die Wahl des Titels – in dem eine Frau Kugelmann auftritt – mehr gender-Bewusstsein erwarten. Der Roman wird erzählt aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin, die nach Israel reist, um dort ein Erbe anzutreten. In Israel angekommen, begegnet die Ich-Erzählerin der beständig essenden, erzählsüchtigen Frau Kugelmann, einer Überlebenden der Shoah. Diese weicht ihr nicht mehr von der Seite und versorgt sie mit Geschichten von früher, aus der erst guten und dann immer schlechter werdenden Zeit ihrer Kindheit in Bendzin. In der Jugendgeschichte der Frau Kugelmann gewinnt die Figur eines Jungen Gestalt, der der Vater der IchErzählerin gewesen sein könnte – denn diese kommt ihrerseits aus einer Überlebendenfamilie, in der – wie in so vielen Überlebendenfamilien – nicht erzählt wurde. Das Verständnis für die Geschichte dieses Jungen, der ihr Vater gewesen sein könnte, hilft ihr, sein Schweigen zu verstehen, das sie als Kind hat innerlich erkalten und erstarren lassen. Diese Erstarrung beschreibt der Roman in einer eindrücklichen Metapher: Seit der Vater die Gespräche mit der Ich-Erzählerin abgebrochen hat, seit sie – wie sie nun weiß – in das Alter kam, in dem er sich die Schuld des Überlebens aufgeladen und seine Kameraden ihrem Schicksal und damit ihrem Tod überlassen hatte –, seither ernährt sich die Protagonistin von Tiefgefrorenem. Diese Vorliebe wird sie im Verlaufe des Romangeschehens nach und nach aufgeben. Immer stärker wird nun das Bedürfnis der Protagonistin nach den wärmenden Geschichten der Frau Kugelmann. Es wird – in Anspielung auf den französischen Feminismus – als das Begehren nach dem mütterlich-verströmenden Erzählen ironisiert: Wie ein Säugling nehme ich die warme Milch der Geschichten in mich auf, gedeihe, reife von Neuem in wenigen Stunden heran. Aus dem Bauch der Mutter bin ich blind zur Welt gekommen, umnachtet, als hätte ich meine Augen im feuchten dunklen Geburtskanal verloren. Erst jetzt erlerne ich das Sehen. Ich fühle Wärme in mir aufsteigen, als wachse ein sonnendurchfluteter Baum in mir, ein Baum des Wissens, der Erfahrung, die Wurzeln verwachsen mit meinen Beinen, am Stamm bilden sich Äste, reichen bis in meine Schultern hinein, Blüten treiben in meinen Armen aus, berühren meine Fingerspitzen.25

Die Ich-Erzählerin begreift zunehmend den Sinn ihres Lebens darin, Frau Kugelmann zuzuhören und als »Ohrenzeugin« die Nachfolge der Augenzeugin anzutreten. An diesem Punkt jedoch hat die warme Mütterlichkeit der 25

Pradelski, Und da kam Frau Kugelmann, S. 174.

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Bella Kugelmann ihre Grenzen.26 Zornig verlangt sie, die junge Frau solle gefälligst ihren eigenen Weg finden27 und ihr nicht ins Handwerk pfuschen: »Einzig und alleine wir, die Zeitzeugen, sind glaubwürdig. Wir sprechen die Wahrheit. Unsere Erinnerung ist unerschütterlich«,28 meint Frau Kugelmann – deren Erinnerungen sich allerdings schon des Öfteren als nicht sehr zuverlässig erwiesen haben. Mit diesem Verdikt ist die Beziehung zwischen den beiden Frauen beendet. Wenn sich die Ich-Erzählerin wenig später, am Ende des Romans, dennoch an den Schreibtisch setzt, um die Geschichte der Bella Kugelmann zu Papier zu bringen, so liegt darin bei aller Treue zu den gehörten Geschichten und zu der Erzählerin, der sie diese Geschichten verdankt, ein emanzipatorischer Akt. Er besteht in der Emanzipation der töchterlichen Autorin von der mütterlichen Erzählerin, und er besteht in der Emanzipation der Generation der Nachgeborenen von der Generation der Augenzeugen. Nun ist die töchterliche Zuhörerin und spätere Autorin im Roman nicht die leibliche Tochter dieser mütterlichen Erzählerin. Es stellt sich sogar heraus, dass Frau Kugelmann selbst zwei Kinder hat. Ihnen gegenüber legt sie eben jene Verschwiegenheit an den Tag, unter der die Ich-Erzählerin in der eigenen Familie so gelitten hat. ›Wirkliches‹ Erzählen wird in Pradelskis Roman somit nicht notwendig als weibliches ausgewiesen, entsprechend ist Schweigen bzw. ein verschweigendes Erzählen nicht notwendig männlich codiert.29 Anstelle dessen entwickelt der Roman die Utopie eines Erzählens jenseits der Geschlechterdichotomie, die Utopie eines Erzählens, das allein an einer Verständigung zwischen den Generationen interessiert ist. Dies geschieht nicht im Dienst eines privaten Familiengedächtnisses, sondern im Dienst einer alle Juden betreffenden Identitätsfindung nach der Shoah auf israelischem Boden. In diesem Sinne, »Weil wir alle Juden sind«,30 bekennt sich auch der irakische Taxifahrer in Tel Aviv zum identitätsstiftenden Trauma des Holocaust. Den antisemitischen Implikationen der Zusammenführung von Patriarchat und Nationalsozialismus im feministischen Diskurs stellt Pradelski in 26

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Bezeichnenderweise verliert Frau Kugelmann bei diesem Ausbruch auf einmal »alles Freundliche und Rundliche in ihrem Gesicht« (ebd., S. 249). Ebd., S. 118. Ebd., S. 248f. Die Konstruktion der Ohrenzeugin ist in Pradelskis Roman ebenfalls nicht notwendig an das Geschlecht der Zuhörenden gebunden: Das nächste ›Opfer‹ des Kugelmann’schen Erzählstroms wird ein junger Amerikaner sein, der auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln eben in Israel eingetroffen ist. Ebd., S. 122.

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ihrem Roman damit das Modell eines dezidiert jüdischen Erzählens in quasi-familiären Gemeinschaften gegenüber.31 Seine Spannung erhält dieses so überaus harmonieträchtige Schlusstableau zum einen durch den emanzipatorischen Akt, den – im Unterschied zu Lustiger und Menasse – der Akt des Aufschreibens selbst darstellt. Zum anderen erhält es seine Spannung durch die überzogene Trivialisierung, die bis in die Umschlaggestaltung hineinreicht und die – bei allem Pathos – zugleich mit einem ironischen Augenzwinkern dies versichert: dass jüdisches Leben nicht nur alltäglich werden will, sondern dass es bereits alle Tage stattfindet – und dass es in dieser seiner Trivialität auch Romane hervorbringen kann, die eher an Unterhaltungsliteratur erinnern als an Primo Levi.

IV. Fazit Wenn Gila Lustiger und Eva Menasse ihr Schreiben als ein ›weibliches‹ inszenieren, so grenzen sie sich von der gegenwärtigen Shoahliteratur männlicher Autoren ab. Mit Metaphern, die dem Bereich häuslicher Tätigkeiten entnommen sind, suchen sie ihr Schreiben erstens als weiblich-sinnliches sowohl vom sachlichen Gestus der Augenzeugenliteratur wie vom intellektuellen Gestus der Nachgeborenen zu unterscheiden. Ihre Erzählerinnen bringen zweitens familiäre Gefühlschroniken mit dezidiert dokumentarischem Charakter hervor. Sie sind damit prinzipiell anders konzipiert als die männlichen, außergewöhnlichen, ›hohe Literatur‹ produzierenden Genies. Minka Pradelski distanziert sich ironisch von der Konventionalität eines solchermaßen als ›weiblich‹ definierten Erzählens. Und doch ist sie den Entwürfen dieses ›weiblichen Schreibens‹ näher, als es zunächst scheinen mag. Denn deren Kernstück ist nicht so sehr die Konzeption eines weiblichen als vielmehr die eines mythischen Erzählens nach der Shoah, und an diese Konzeption knüpft auch Pradelski an. Diese Konzeption ist, darauf wurde eingangs verwiesen, nicht neu. Sie findet sich bereits in der folgenreichen Umcodierung, die Primo Levi in seinem 1947 auf Italienisch erschienenen, 1961 ins Deutsche übertragenen autobiografischen Roman Ist das ein Mensch? vornimmt: Der Schornstein des Krematoriums von Auschwitz tritt darin an die Stelle des biblischen Turms zu Babel. Neu ist allerdings, dass Autorinnen der neueren Shoahliteratur hinter diese überwunden geglaubten poetologischen Positionsbestimmungen zurückzu31

Die Ich-Erzählerin wird sich wohl nicht nur erzählend in eine solch familiäre Gemeinschaft begeben; am Ende des Romans zeichnet sich eine mögliche Liebesgeschichte mit dem Bruder des irakischen Taxifahrers ab.

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gehen scheinen und sich dabei auf die Qualitäten eines von Frauen kultivierten mythischen Erzählens besinnen. Auf der Schwelle des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis sind es die Autorinnen, die es sich in ihren Werken zum Ziel setzen, in narrativen Verfahren der kreativen Neu-Mythisierung das Wissen um die Shoah als Mythos der Nachwelt zu überliefern – als ein an das gemeinschaftliche Selbstverständnis gebundenes Wissen, nicht als losgelöstes Faktenwissen, über das nur einige Intellektuelle verfügen. Um dies leisten zu können, widmen sie sich dem Finden und Erfinden neuer Sinnzusammenhänge, in dem sehr genauen Bewusstsein von dem Problem der Sakralisierung, das sich mit einem solchen Erzählen verbindet. Darin treffen sie sich mit der Vorstellung von einem spezifisch weiblichen Erzählen, das auch Ruth Klüger in ihrer Autobiographie im Bild der Hexenküche ausmalt. Mit Klüger treffen sie sich auch darin, dass sie das Erzählte in der eigenen Lebenswirklichkeit noch einmal absichern. Sie bekennen sich zu dem autobiografischen Gehalt ihrer Werke – man könnte auch sagen: sie weisen ihn nach.32 So gibt sich der väterliche A.L. aus Gila Lustigers So sind wir im ›wirklichen Leben‹ als der Historiker und Auschwitzüberlebende Arno Lustiger zu erkennen, als der Vater der Autorin. Der Bruder in Eva Menasses Vienna teilt eine Reihe von charakteristischen Eigenheiten mit dem Halbbruder der Autorin, mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse. Und Minka Pradelski schließlich widmet ihr Buch über die Utopie eines Erzäh-

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Dieser Umstand ist Kennzeichen nicht nur der hier näher behandelten, von Frauen verfassten neueren Shoahliteratur, sondern der neueren Shoahliteratur überhaupt: In der Regel handelt es sich bei den Autorinnen und Autoren um Kinder oder Enkel von Überlebenden der Shoah. Während die männlichen Autoren jedoch im Anschluss an aktuelle Fiktionalitätsdiskurse Auffassungen von ›Authentizität‹ und ›Augenzeugenschaft‹ grundsätzlich hinterfragen und stärker den fiktionalen Gehalt ihrer Texte herausstellen, beziehen sich die hier behandelten Autorinnen mindestens ebenso stark auf den autobiografisch ›verbürgten‹ Wirklichkeitsgehalt ihrer Texte – dies im Sinne eines Erzählens, das nicht von den Erfahrungen der Erzähinstanz abgelöst werden kann, einer Erzählinstanz, die in einem komplexen Wechselverhältnis mit dem Autor oder der Autorin des Textes steht (vgl. hierzu auch Anm. 5). Naheliegenderweise entstehen dabei bisweilen Brüche und Widersprüchlichkeiten in der Bestimmung des Verhältnisses von Fiktionalität und Faktualität; so etwa in den je nach Gesprächslage unterschiedlich gewichtenden Kommentaren, die Gila Lustiger in Interviews und Lesungen abgab, wenn sie zur Figur des Vaters in ihrem Roman und zu der Person ihres Vaters befragt wurde (vgl. hierzu u. a. das im Spiegel aufgezeichnete Gespräch zwischen Vater und Tochter: Martin Doerry/Volker Hage, »Das wird dir niemand glauben«, in: Der Spiegel, 4/2006, S. 138–142).

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lens in ›Ersatzfamilien‹ – ausgerechnet – dem leiblichen Vater ihrer literarischen Konkurrentin, nämlich Arno Lustiger.33 Im mythischen Erzählen dieser mit autobiographischem Material ausgestatteten Erzählerinnenfiguren ist der Topos der Unsagbarkeit aufgehoben. Er erhält jedoch eine neue – oder doch: weitere – Qualität: In ihm artikuliert sich allererst die Erfahrung, dass sich die Überlebenden oftmals nur in Bruchstücken artikulieren. Einigen dieser Bruchstücke eignet die Qualität literarisch wertvoller Chiffren, anderen nicht. Viele Bruchstücke bleiben Bruchstücke, triviale Zeugnisse eines trivialen Lebens – und als solche zu würdigen, eben weil Leben, weil Überleben nicht trivial ist. Die Leichtigkeit am Rande der Trivialität, mit der die Autorinnen erzählen, unterscheidet ihre Texte von der Schwere ihrer männlichen Vorgänger: von den um Genauigkeit bemühten Berichten der Augenzeugen, von der Bitterkeit der betroffenen Erinnernden und schließlich von der Diskurslast, die die Texte ihrer männlichen Zeitgenossen niederdrückt. Beredt erzählen diese Texte von jüdischem Leben vor und nach der Shoah. Wenn jedoch von der Shoah selbst die Rede ist, beschränken sie sich auf eingeführte Chiffren: auf die Zahnbürste, mit der der Gehweg zu reinigen war, auf den Berg Schuhe, auf den Handschlag des befreiten KZ-Insassen mit seinem amerikanischen Befreier. Die Chiffren aus den frühen Texte der Augenzeugen gehen ebenso in diese ›weiblich‹ erzählten Texte ein wie die Chiffren aus jener Literatur, der das ›Datum‹ der Wannseekonferenz eingeschrieben ist. Die Celan’schen Mandeln – »Zähle die Mandeln / zähle, was bitter war und dich wachhielt, / zähl mich dazu: / […] / Mache mich bitter. / Zähle mich zu den Mandeln«34 – sind in diese Romane ›eingebacken‹. Im Plauderton bekommen wir sie vorgesetzt, »Anekdoten wie Mandelblättchen«.

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Die Autorin Minka Pradelski setzt sich solchermaßen – dies zumindest legt die im Roman erzählte Geschichte nahe – in ein ziehtöchterliches Verhältnis zu dem Historiker Arno Lustiger. Als zuhörende Ersatztochter hätte sie der leiblichen Tochter Gila Lustiger – deren Roman im selben Jahr erscheint – damit einiges voraus: sie kann sich auf Erzählungen beziehen, die jener vorenthalten wurden. Paul Celan, »Zähle die Mandeln«, in: ders., Mohn und Gedächtnis (1952). Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte, Beda Allemann/Stefan Reichert (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1983, S. 78.

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Michael Butter

Michael Butter (Freiburg)

Liebesleuchten und Lynchings Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated (2002) und Philip Roths The Plot against America (2004) im Kontext der jüdisch-amerikanischen Holocaustliteratur

In bewährter neuhistoristischer Manier möchte ich mit einer Anekdote beginnen, die sich, wenn ich mich recht erinnere, im Frühjahr 2004 an einer Universität an der amerikanischen Ostküste zugetragen hat. Ich nahm dort an einem Seminar über »Text, Memory, Identity« (oder so ähnlich) teil, das sowohl fortgeschrittenen undergraduates als auch graduate students wie mir offen stand. Im Lauf des Semesters lasen wir gemeinsam eine ganze Reihe von einschlägigen Texten zum Thema individuelles und kulturelles Gedächtnis und diskutierten die zentrale, identitätsstiftende Rolle literarischer Repräsentationen für die Ausformung des letzteren. Natürlich kamen wir irgendwann auch auf den Holocaust zu sprechen. An diesem Tag war das immer lebhafte Gespräch noch lebhafter, und wir diskutierten engagiert mit dem Soziologen Jeffrey Alexander, den unser Dozent, Michael Holquist, für diese Sitzung eingeladen hatte, sowohl über die Schwierigkeit, den Holocaust angemessen darzustellen, als auch über seine zentrale Bedeutung für die jüdisch-amerikanische und euro-amerikanische Identität.1 Irgendwann jedoch platzte Laura, einer zwanzigjährigen undergraduate, die neben mir saß, der Kragen: »Everyone in this room here«, rief sie in den Raum, »only knows the Holocaust through representations. It is constanly being represented. So what is all the fuzz about? And anyway, why should we talk about it any longer? Are there not more interesting and pressing issues? Don’t we have other problems? I am Jewish myself, but who I am has nothing to do with the Holocaust.« Abgesehen vom letzten Satz sprach Laura offen aus, worüber auch ich nachdachte, formulierte es aber wesentlich schärfer und prägnanter, als ich das damals (und vielleicht auch heute noch) gekonnt und gewagt hätte, wes1

Als Euro-Amerikaner werden weiße, von europäischen Einwanderern abstammende US-Amerikaner bezeichnet.

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halb ich mich auch hier noch auf sie berufe. Jedenfalls gehen die zwei verschiedenen Dimensionen des Zusammenhangs von Katastrophe und Gedächtnis, denen ich hier anhand zweier jüdisch-amerikanischer Romane vom Beginn des 21. Jahrhunderts nachgehen möchte, genau auf die Fragen und Zweifel zurück, die Laura artikulierte. Die Texte, auf die ich mich konzentrieren werde, sind Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated (2002) und Philip Roths The Plot against America (2004). Everything Is Illuminated werde ich als einen Text lesen, der sich dem Diktum von der Unrepräsentierbarkeit des Holocaust aktiv widersetzt und dem ›destruktiven Prinzip‹ vieler modernistischer und postmodernistischer Literatur, dem sich einige Beiträge in diesem Band widmen, eines der Kreation und Konstruktion entgegenstellt, weshalb man den Roman als einen post-postmodernistischen Text bezeichnen kann. Angesichts der Auslöschung von Leben und Lebensgeschichten durch den Holocaust kommt der Literatur, so die implizite Poetik des Romans, die Aufgabe zu, diese Lebensgeschichten zu rekonstruieren – selbst wenn dies bedeutet, »nomadic with truth« zu sein, wie dies eine der Romanfiguren einmal formuliert,2 da diese Geschichten ganz oder zum Großteil erfunden werden müssen. Aus dieser Akzentverschiebung hin zur Rekonstruktion folgt auch, dass der Roman den Holocaust als alleinige Grundlage jüdisch-amerikanischer Identität ablehnt und stattdessen auf der Wichtigkeit der durch den Holocaust zerstörten Traditionen und Kulturen, dessen, was er zu rekonstruieren versucht, insistiert. Anhand von Philip Roths The Plot against America, einer alternate history, in welcher der reale Verlauf der Geschichte teilweise umgeschrieben wird, werde ich diskutieren, wie die Erinnerung an eine Katastrophe – den Holocaust – die Erinnerung an eine andere Katastrophe – die Sklaverei und die Diskriminierung der Schwarzen in den USA – verdrängen oder sogar auslöschen kann. Ich werde argumentieren, dass Roths Roman ideologisch ambivalent ist, da er sowohl als ein Text gelesen werden kann, der die Verdrängung der afro-amerikanischen Leidensgeschichte aktiv betreibt, als auch als ein Text, der diese Verdrängung bloßlegt. Bei aller Besonderheit und Originalität, die beide Romane auszeichnet, sollen die Texte hier jedoch auch synekdochisch allgemeinere Tendenzen der jüdisch-amerikanischen Gegenwartsliteratur repräsentieren. Roths Text steht dabei exemplarisch für eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dessen oft beobachteter Amerikanisierung, die sich in ähnlicher Form auch in mehreren Texten Michael Chabons und in Melvin Jules Bukiets After

2

Jonathan Safran Foer, Everything Is Illuminated, New York 2002, S. 179.

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(1996) findet.3 In diesen Romanen werden in vielfältiger Weise etablierte Muster der Repräsentation des Holocaust infrage gestellt, die zentrale Bedeutung der Vernichtung der europäischen Juden für die jüdisch-amerikanische Identität wird jedoch mehr oder weniger explizit bestätigt. An Foers Roman dagegen lassen sich einige generellere Charakteristika der Werke der jüngeren jüdisch-amerikanischer Literatur beobachten. Autorinnen und Autoren wie Foer, Myla Goldberg, Allegra Goodman oder Dara Horn verhandeln in ihren Texten intensiv Fragen der jüdisch-amerikanischen Identität, lehnen aber durchweg eine zu große Anbindung oder gar Beschränkung derselben auf den Holocaust ab.4 Bevor ich jedoch auf Foers Everything Is Illuminated und Roths The Plot against America näher eingehe, scheinen mir einige Vorbemerkungen zur Diskussion um den Holocaust in den USA angebracht. Es liegt schließlich nicht auf der Hand, warum ein von Europäern in Europa begangenes Verbrechen 3 4

Melvin Jules Bukiet, After, New York 1996. Für die jüdisch-amerikanischen Autorinnen und Autoren, die seit den späten 1980er Jahren publizieren, hat sich in der Forschung mittlerweile der Begriff der »third generation« etabliert (vgl. Adam Meyer, »Putting the ›Jewish‹ Back in ›Jewish American Fiction‹: A Look at Jewish American Fiction from 1977 to 2002 and an Allegorical Reading of Nathan Englander’s ›The Gilgul of Park Avenue‹«, in: Shofar: An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies, 22/2004, Heft 3, S. 101–120). Ich verwende diese Designation im Kontext meiner Überlegungen bewusst nicht, da sie der gerade vorgenommenen Unterscheidung in Schriftsteller, die den Holocaust weiterhin als zentralen Marker jüdischer Identität sehen, und solche, die diesen Bezug zurückweisen, entgegenläuft. Operiert man mit dieser generationalen Kategorisierung erscheint Michael Chabon als Vertreter der dritten Generation, während Philip Roth und Melvin Jules Bukiet, mit denen er, was die Bewertung des Holocaust für die jüdisch-amerikanische Identität betrifft, mehr gemein hat als mit Jonathan Safran Foer oder Myla Goldberg, Repräsentanten der zweiten Generation wären. Zudem speist sich die Idee einer dritten Generation nicht nur aus dem Rekurs auf die erste Generation jüdischer Schriftsteller, die Ende des 19. Jahrhunderts in die USA einwanderten und dort zu schreiben begannen, sondern auch aus dem Gedanken, dass es sich um die dritte Generation nach dem Holocaust, die Enkel der Ermordeten oder Entkommenen, handelt. Somit transportiert die Rede von der dritten Generation jüdischer Autoren in den USA, so hilfreich sie in anderer Hinsicht auch sein mag, weiterhin die Idee, dass der Holocaust die Quelle aller jüdisch-amerikanischen Identität sei. Diesen Bezug lehnen Foer, Goldberg, Goodman und Horn aber ganz explizit ab. Den Hinweis auf die Problematik des Begriffs »third generation« verdanke ich ebenso wie weitere Ideen, die diesen Artikel maßgeblich beeinflusst haben, der exzellenten, aber leider unveröffentlichten Magisterarbeit von Julia Männel, »Third Generation Jewish American Fiction«: Myla Goldberg, Allegra Goodman, Dara Horn, Jonathan Safran Foer, Bonn 2007.

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nicht nur die amerikanischen Juden, sondern die amerikanische Kultur in ihrer Gesamtheit heute noch so stark beschäftigen sollte. Im Anschluss an diese allgemeineren Ausführungen (I.) werde ich zunächst Foers Roman analysieren (II.), dann auf Roths Text eingehen (III.) und abschließend einige allgemeine Schlüsse bezüglich der jüdisch-amerikanischen Gegenwartsliteratur ziehen (IV.).

I.

Die Amerikanisierung des Holocaust

Wie und warum die Vernichtung der europäischen Juden zu einem so wichtigen Bestandteil der jüdisch-amerikanischen wie auch der nicht-jüdischen Kultur in den USA geworden ist, kann hier nur skizziert werden, da die so genannte Amerikanisierung des Holocausts ein äußerst komplexes Phänomen ist.5 Die Schwierigkeit besteht darin, zu begründen, warum der Genozid an den Juden sowohl in der jüdischen wie auch in der nicht-jüdischen amerikanischen Kultur in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg praktisch nicht thematisiert wurde, seit den späten 1960er Jahren aber eine so zentrale Rolle spielt. Dieses Umschlagen wurde lange Zeit durch Rekurs auf psychoanalytische Deutungsmuster als die Wiederkehr einer verdrängten traumatischen Erinnerung erklärt: Angesichts der schrecklichen Ereignisse in Europa brauchte die amerikanische Kultur mehr als zwei Jahrzehnte, um mit der kollektiven Verarbeitung dieser Ereignisse zu beginnen.6 Die neueren Arbeiten des Historikers Peter Novick und des Soziologen Jeffrey Alexander haben diese Erklärung jedoch überzeugend widerlegt, da es bei aller individuellen Traumatisierung eine Vielzahl von Argumenten gibt, die gegen eine Traumatisierung auf der kollektiven und kulturellen Ebene sprechen.7 Novick und Alexander argumentieren beide, dass die Ermordung der europäischen Juden in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Ende des 5

6

7

Für eine ausführlichere Darstellung des Folgenden siehe Michael Butter, The Epitome of Evil. Hitler in American Fiction, 1939–2002, New York 2009, insb. S. 28–38. Von dieser Warte aus argumentiert beispielsweise Stéphanie Gerson, »Silent Tales: Survivors as Storytellers«, in: Response: A Contemporary Jewish Review, 68/1997, S. 102–116. Vgl. Peter Novick, The Holocaust in American Life, Boston 1999, sowie Jeffrey Alexander, »On the Social Construction of Moral Universals: The ›Holocaust‹ from War Crime to Trauma Drama«, in: European Journal of Social Theory, 5/2002, Heft 1, S. 5–85. Obwohl Alexander sich explizit von Novick abgrenzt, vgl. ebd. S. 73, sind beide Erklärungsversuche durchaus komplementär, weshalb ich im Folgenden eine Synthese beider Ansätze präsentieren werde. Zu den Unterschieden und Parallelen zwischen Novick und Alexander vgl. Butter, The Epitome of Evil, S. 30 und S. 36f.

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Zweiten Weltkriegs selten thematisiert wurde, weil dieses Verbrechen für die sich mitten im Kalten Krieg befindenden USA ebenso wenig eine Rolle spielte wie für das Selbstverständnis der amerikanischen Juden. Der Genozid an den Juden galt als ein Verbrechen von enormen Ausmaßen, das jedoch noch nicht als unvergleichlich oder einzigartig erschien und dem noch keine moralischen Implikationen für die Bewertung folgender Ereignisse beigemessen wurden, das also noch nicht die ethische und kulturelle Signifikanz besaß, die ihm heute in der gesamten westlichen Welt zugeschrieben wird. Im Gegenteil: Für die optimistisch nach vorne blickende, siegreich aus dem Krieg hervorgegangene amerikanische Kultur war die Vernichtung der Juden eine Sache der Vergangenheit und ohne Relevanz für die Probleme, mit denen sich das Land in der Gegenwart konfrontiert sah. Und da die amerikanischen Juden sich nicht von ihren nicht-jüdischen Mitbürgern unterscheiden wollten, hatten auch sie kein Interesse daran, über den Holocaust zu sprechen, was den Überlebenden der Lager immer wieder klar gemacht wurde: »Survivors were constantly told […] that they should turn their faces forward, not backward«.8 »In the beginning«, schreibt daher Jeffrey Alexander, »the Holocaust wasn’t the Holocaust«.9 Erst während der 1960er und -70er Jahre wurde der Genozid an den europäischen Juden für jüdische wie nicht-jüdische Amerikaner zu einem usable past – und somit schließlich auch zum Holocaust. Für große Teile der amerikanischen Juden, die nun nicht mehr von einem »integrationist ethos«, sondern von einem »particularist ethos« geleitet wurden,10 entwickelte er sich vor dem Hintergrund der Konflikte im Nahen Osten und derjenigen innerhalb der USA, in deren Verlauf die Vision einer allgemeinen amerikanischen Identität zu einem beträchtlichen Grad durch diejenige einer Vielzahl ethnischer Identitäten ersetzt wurde, zum wichtigsten Element einer gemeinsamen jüdisch-amerikanischen Identität. Die jüdischen Amerikaner sahen Israel in den Kriegen von 1967 und 1973 von einem neuen Holocaust bedroht, und es schien ihnen, als lasse es die amerikanische Regierung an der nötigen Hilfe für den jüdischen Staat mangeln. Den Widerwillen, Israel zu unterstützen, schrieben sie einem wiedererwachten Antisemitismus zu, und es war diese Wahrnehmung, die entscheidend dazu beitrug, dass die jüdischen Amerikaner begannen, sich stärker als amerikanische Juden zu fühlen und auf der Besonderheit ihrer ethnisch-religiösen Identität zu insistieren: »[T]here was an inward turn, an insistence on the defense of separate Jewish interests, a 8 9 10

Novick, The Holocaust, S. 83. Alexander, »The ›Holocaust‹«, S. 6. Vgl. Novick, The Holocaust, S. 6f.

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stress on what made Jews unlike other Americans«.11 Und was die amerikanischen Juden jenseits aller religiösen und politischen Differenzen verband, war, dass sie in Europa Opfer des Holocaust geworden waren oder geworden wären, wenn sie oder ihre Vorfahren nicht vorher in die USA ausgewandert wären. Deshalb wurde der Holocaust zum Charakteristikum und Garanten ihrer spezifischen Identität. Auch für nicht-jüdische Amerikaner, insbesondere für diejenigen europäischer Herkunft, hat der Holocaust seit den 1960er Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Erschien der Glaube an den amerikanischen Exzeptionalismus – die auf Alexis de Tocqueville zurückgehende Überzeugung, dass die USA anderen Nationen moralisch überlegen seien – während der 1950er Jahre noch ganz selbstverständlich, geriet dieses Weltbild ab Mitte der 1960er Jahre vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs, der Watergate-Affäre und der hitzigen innenpolitischen Auseinandersetzungen im Zuge der Bürgerrechtsbewegung ins Wanken. In diesem Zusammenhang bot der Rückbezug auf den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, eine zunehmend angezweifelte, positiv konnotierte nationale Identität zu beglaubigen. Aufgrund damals einsetzender Tendenzen wird der Zweite Weltkrieg in den USA heute als »the best war ever« erinnert, wie das der Historiker Michael Adams einmal treffend gesagt hat, als ein Krieg, der vor allem geführt wurde, um den Holocaust zu stoppen – und somit als eine Auseinandersetzung, in der die Rollen von Gut und Böse noch eindeutig verteilt waren und die Amerikaner zweifellos auf der richtigen Seite standen.12 Unter dem Namen Holocaust ist der Völkermord an den europäischen Juden somit, wie Peter Novick es prägnant formuliert hat, zu einem »American memory« geworden.13 Die USA versichern sich über diese Erinnerung einer positiven Identität, indem sie sich als die Nation begreifen, die zwar zu spät eingegriffen, dann aber den totalen Völkermord verhindert hat. Und da der Vernichtung der Juden verstanden als Holocaust überzeitliche Implikationen zugeschrieben werden, folgt für viele US-Amerikaner, dass sie, weil sie den Holocaust gestoppt haben, auch in Konflikten, die nichts mit dem Holocaust zu tun haben, auf der richtigen Seite standen und stehen. Aufgrund dieser zentralen Bedeutung des Holocaust für das nationale Selbstverständnis gibt es an der Mall in Washington, DC, wo sich die USA über eine Viel11 12

13

Ebd., S. 171. Vgl. Michael Adams, The Best War Ever. America and World War II, Baltimore 1994. Siehe auch Studs Terkel, »The Good War«. An Oral History of World War II, New York 1984. Novick, The Holocaust, S. 207.

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zahl von Denkmälern, Museen und politischen Institutionen als Nation definieren, ein United States Holocaust Memorial Museum, das nach dem hier skizzierten Narrativ organisiert ist.14 Aus der zentralen Rolle des Holocaust für die amerikanische Kultur und der Art und Weise, wie der Holocaust konzeptionalisiert wird, ergibt sich jedoch die paradoxe Situation, die Lauras eingangs zitierten Wutausbruch motiviert hat. Einerseits wird der Holocaust, wie alle Ereignisse, die in einer bestimmten Kultur allgegenwärtig sind, ständig repräsentiert. Zudem wird in innenpolitischen und außenpolitischen Debatten, egal ob es um den Kosovo, Ruanda, das Schicksal der Ureinwohner oder Abtreibung geht, ständig auf ihn rekurriert, da er aufgrund der ihm zugeschriebenen überzeitlichen Bedeutung und Einmaligkeit zu einem universellen Vergleichsmaßstab für Unrecht und Gewalt geworden ist, »a measuring stick against which all oppression is measured«.15 Andererseits gilt der Holocaust im intellektuellen Diskurs – ähnlich wie in Europa – als incomprehensible, incomparable, unspeakable und ungraspable, weshalb alle Versuche, ihn darzustellen, als unangemessen und profanisierend erscheinen und alle Vergleiche zwischen dem Holocaust und anderen Verbrechen als unangebracht und unmoralisch. Für den Holocaust-Überlebenden und Nobelpreisträger Elie Wiesel ist der Holocaust ein »ontological event […] which transcends history [and] cannot be explained«.16 Versuche, den Holocaust darzustellen, zu erklären oder gar zu anderen historischen Ereignissen in Beziehung zu setzen, erscheinen von dieser Warte aus als ein unmögliches und unmoralisches Unterfangen. Das gilt insbesondere für fiktionale und somit ästhetisch überformte Holocaustliteratur, wie Wiesel ebenfalls sehr deutlich betont hat: »a novel about Auschwitz is not a novel, or else it is not about Auschwitz«.17 Die amerikanische Populärkultur hat diese Einwände weitgehend ignoriert und mit den Mitteln des mimetischen Realismus ein Archiv von wirkmächtigen Darstellungen des Holocaust – erwähnt seien nur die TV-Serie Holocaust (1978) und Steven Spielbergs Schindler’s List (1993) – geschaffen, die von Intellektuellen jedoch regelmäßig und fast schon habituell für ihr naives Vertrauen in die Darstellbarkeit des Undarstellbaren kritisiert wurden. Da14

15

16 17

Siehe hierzu Sabine Sielke, »Reading Cultural Practices, Re-Reading Race. History, Identity, and the Aesthetics of the United States Holocaust Memorial Museum«, in: Sonja Bahn/Mario Klarer (Hrsg.), Cultural Encounters, Sonderheft der ZAA Studies, 11/2000, S. 81–102. Hilene Flanzbaum, »Introduction«, in: dies. (Hrsg.), The Americanization of the Holocaust, Baltimore 1999, S. 1–17, hier S. 13. Zit. in Alexander, »The ›Holocaust‹«, S. 33. Elie Wiesel, A Jew Today, übersetzt von Marion Wiesel, New York 1978, S. 197f.

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gegen haben künstlerisch anspruchsvollere, einer selbstreflexiven postmodernistischen Ästhetik verpflichtete Darstellungen des Holocaust die Einwände gegen ihr Unterfangen regelmäßig selbst thematisiert und über die Grenzen der Darstellbarkeit des Holocaust reflektiert, darüber, dass, wie Geoffrey Hartman es formuliert hat, »there is something that cannot be represented«.18 Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Art Spielmans Maus (1986–91), ein graphic novel, das zu großen Teilen in Auschwitz spielt. Maus’ minimalistische Darstellung, in der die Juden als Mäuse, die Nazis als Katzen und die Polen als Schweine erscheinen, unterläuft von vornherein jedwede Tendenz, den Text realistisch zu lesen. Zudem wird in Maus beständig der Schreib- und Zeichenprozess selbst thematisiert – unter anderem zu Beginn des Kapitels Auschwitz, wo der Künstler, Art Spiegelman, mit seinem Psychiater über die Probleme spricht, die er damit hat, sich Auschwitz vorzustellen und die Gefühle und Erlebnisse seines Vaters, eines Überlebenden des Lagers, nachzuvollziehen und vermitteln zu können. Schließlich schlägt der Psychiater vor, dass es vielleicht besser sei, ganz auf die Darstellung zu verzichten, was bei allen Bedenken für den Künstler natürlich inakzeptabel ist, da dies die Aufgabe seines Projektes bedeuten würde. Er zitiert deshalb Samuel Becketts Diktum, dass jedes Wort ein »unnecessary stain on silence and nothingness« sei, fügt nach einem Moment des Schweigens hinzu, »On the other hand, he SAID it« – und situiert sein eigenes Vorhaben so in einer analog paradoxalen Position: Er fühlt, dass seine Darstellung immer inadäquat sein wird, dennoch fühlt er sich gleichzeitig verpflichtet, die Erlebnisse seines Vaters festzuhalten.19 Diese Darstellung im Modus des »Dennoch«, der sich Maus so verpflichtet, ist typisch für postmodernistische Darstellungen des Holocaust, von denen sich Foers Everything Is Illuminated bewusst absetzt.

II. Die Erfindung von Geschichte in Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated (2002) Erscheint das Nichts bei Spiegelman somit zumindest momentan verlockend, weil es eine mögliche Alternative zum Erzählen darstellt, die einer unangemessenen Darstellung vorzuziehen sein könnte, bildet eine andere Art 18

19

Geoffrey Hartman, »The Book of the Destruction«, in: Saul Friedlander (Hrsg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the Final Solution, Cambridge 1992, S. 318–334, hier S. 321. Art Spiegelman, Maus. A Survivor’s Tale, Bd. II: And Here My Troubles Began, New York 1991, S. 45. Siehe zu Maus auch Amy Hungerford, »Surviving Rego Park. Holocaust Theory from Art Spiegelman to Berel Lang«, in: Hilene Flanzbaum (Hrsg.), The Americanization of the Holocaust, Baltimore 1999, S. 102–124.

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von Nichts den Ausgangspunkt des Erzählens in Jonathan Safran Foers Roman Everything Is Illuminated. »There was nothing«, heißt es nach etwa zwei Dritteln des Romans, als der Erzähler, der ukrainische Fremdenführer und Übersetzer Alex, sein Großvater, dessen Hund Sammy Davis Junior Junior und ein junger Amerikaner namens Jonathan Safran Foer endlich den Ort gefunden haben, an dem einmal das Shtetl Trachimbrod stand, aus dem Jonathans Großvater stammt und das 1942 von den Nazis zerstört wurde. Nichts hier erinnert mehr an die Menschen, die hier einst gelebt haben, wie Alex in seinem wunderbar ukrainisch-inflektierten Englisch deutlich macht: There was nothing. When I utter «nothing» I do not mean that there was nothing except for two houses, and some wood on the ground, and pieces of glass, and children’s toys, and photographs. When I utter that there was nothing, what I intend is that there was not any of these things, or any other things.20

Das Projekt, »to sightsee the shtetl«, wie Alex Jonathans Suche nach dem Herkunftsort seiner Vorfahren nennt, ist damit gescheitert.21 Dort, wo einmal Trachimbrod stand, gibt es keinerlei Hinweise mehr auf das Schicksal seiner Bewohner und insbesondere auf den Verbleib einer Frau namens Augustine, die Jonathan unbedingt finden will, da sie seinen Großvater damals gerettet hat. Der Roman inszeniert und parodiert somit, wie Katrin Amian gezeigt hat, was Gary Weisman in Fantasies of Witnessing. Postwar Efforts to Experience the Holocaust als das typische Ende vieler solcher Spurensuchen beschrieben hat. Am Ort des Geschehens wird der Holocaust für die Generationen der Söhne und Enkel nicht »more real«, sondern bleibt überlagert von der Vielzahl an kulturellen Texten über den Völkermord, die die Suchenden vorher rezipiert haben und denen gegenüber das reale Erlebnis beträchtlich abfällt.22 An Ort und Stelle gewesen zu sein, trägt nicht zur Authentifizierung bei; es liefert weder Antworten noch neue Fragen. 20 21 22

Foer, Everything Is Illuminated, S. 184. Ebd., S. 60. Gary Weissman, Fantasies of Witnessing. Postwar Efforts to Experience the Holocaust, Ithaca 2004, S. 5. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Katrin Amian, Rethinking Postmodernism(s). Charles S. Peirce and the Pragmatist Negotiations of Thomas Pynchon, Toni Morrison, and Jonathan Safran Foer, Amsterdam/New York 2008, S. 162f. Amians exzellente Studie hat mein Verständnis des Romans nachhaltig beeinflusst. Weitere überzeugende Analysen finden sich in Christoph Ribbat, »Nomadic with the Truth: Holocaust Representations in Michael Chabon, James McBride, and Jonathan Safran Foer«, in: ders. (Hrsg.), Twenty-First Century Fiction. Readings, Essays, Conversations (= anglistik & englischunterricht, 68/2005), Heidelberg 2005, S. 199–218 und Susanne Rohr, »Transgressing Taboos: Projecting the Holocaust in Melvin Jules Bukiet’s After and Jonathan Safran Foer’s Everything Is Illuminated«, in: Thomas Claviez et al. (Hrsg.), Aesthetic Transgressions. Modernity, Liberalism, and

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Die Szene, in der die Romanfiguren mit dem Nichts konfrontiert werden, das an die Stelle des Shtetls und seiner Bewohner getreten ist, ist eng verknüpft mit einer früheren Szene, in der die Gruppe das Haus der Holocaustüberlebenden Lista besucht, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht, die Augustine ist, nach der Jonathan sucht. In Listas Haus findet sich auf den ersten Blick das Gegenteil des Nichts: One room had a bed, and a small desk, a bureau, and many things from the floor to the ceiling, including piles of more clothes and hundreds of shoes of different sizes and fashions. I could not see the wall through the photographs. They appeared as if they came from many different families, although I did recognize that a few of the people were in more than one or two. All of the clothing and shoes and pictures made me to reason that there must have been at least one hundred people living in that room. The other room was also very populous. There were many boxes, which were overflowing with items. These had writing on their sides. A white cloth was overwhelming from the box marked Weddings and Other Celebrations. The box marked Privates: Journals/Diaries/Sketchbooks/ Underwear was so overfilled that it appeared prepared to rupture. There was another box, marked Silver/Perfume/Pinwheels, and one marked Watches/ Winter, and one marked Figurines/Spectacles.23

Alex’ Beschreibung – »one hundred people living in that room« – erweckt die Toten zwar für einen Moment wieder zum Leben, doch ihre Abwesenheit wird dadurch nur umso deutlicher. Sie wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass all die Dinge, die Lista in dem Raum versammelt hat, keinerlei Rekonstruktion ihrer Identitäten, geschweige denn ihrer Lebensgeschichten zulassen, da den versammelten Gegenständen, anders als denen, die in Museen ausgestellt werden, um Geschichten zu erzählen, jede Ordnung fehlt. Unterwäsche und Tagebücher mögen noch zusammengehören, weil sie beide von der Intimsphäre zeugen, doch »watches« und »winter« werden nur noch durch den gemeinsamen Anfangsbuchstaben miteinander verbunden und zeugen somit von einer vollkommen arbiträren Ordnung. Der Überschuss an Dingen hat somit letztendlich denselben Effekt wie die Abwesenheit aller Dinge auf der Wiese, auf der einmal Trachimbrod stand: Beide verweisen auf das Nichts, auf die Abwesenheit der Toten und ihrer Geschichten, auf Leben, die gewaltsam ausgelöscht wurden und keine lesbare Spur hinterlassen haben. Die Konsequenz, die Everything Is Illuminated aus dieser Situation zieht, ist »to (re-)imagine that vibrant shtetl culture that the Holocaust has irreversibly

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the Function of Literature. Festschrift für Winfried Fluck zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2006, S. 239–260. Foer, Everything Is Illuminated, S. 147.

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destroyed«.24 Dem Nichts, so die implizite Poetik des Romans, muss etwas entgegengestellt werden; die ausgelöschte Geschichte des Shtetls und seiner Bewohner muss erzählt werden, selbst wenn sie dafür im Akt des Erzählens geschaffen, also erfunden werden muss. Alex’ Bericht über die Suche nach dem Shtetl ist daher nur einer von drei sich abwechselnden Erzählsträngen des Romans. Selbst hier jedoch wird die Vergangenheit schon umgeschrieben und somit erfunden, da Alex, ein ambitionierter junger Schriftsteller, gern eine Geschichte erzählen will, die spannender ist als das, was tatsächlich geschehen ist. Die Leser wissen dies, weil der zweite Erzählstrang des Romans aus Alex’ Briefen an Jonathan besteht, die er zusammen mit den Kapiteln seines entstehenden Berichts in die USA schickt. Der Duktus dieser Briefe, aus denen sich teilweise Jonathans Antworten rekonstruieren lassen, ist lange Zeit von großer Komik geprägt – so verspricht Alex Jonathan zum Beispiel nach dessen Intervention, ihn den Lesern im ersten Kapitel nicht wie zunächst geplant als »very spoilt Jew«, sondern nur als »spoilt Jew« vorzustellen25 –, wird aber immer ernsthafter, je mehr die Erzählung sich der Rekonstruktion des Naziüberfalls auf das Dorf nähert und somit auch dem Moment, in dem Alex’ Großvater überraschenderweise seine eigene Schuld bei der Ermordung ukrainischer Juden in einem anderen Dorf gesteht.26 Alex und Jonathan diskutieren in ihren Briefen aber nicht nur Alex’ Bericht, sondern auch Jonathans Rekonstruktion der Geschichte des Shtetls Trachimbrod vom späten 18. Jahrhundert bis zum Angriff der Nazis 1942. 24 25 26

Amian, Rethinking Postmodernism(s), S. 166. Foer, Everything Is Illuminated, S. 7 und S. 24. Das Kapitel Illumination (Foer, Everything Is Illuminated, S. 243–252), in dem Alex schildert, wie sein Großvater ihm und Jonathan schließlich seine lange verdrängte Schuld eingesteht, macht als einzige Passage des Romans klare Anleihen bei der Holocaustliteratur vergangener Jahrzehnte, da es die Grenzen der sprachlichen und retrospektiven Repräsentation des Geschehen deutlich macht. Über mehrere Zeilen wird die Erzählung des Großvaters von keinem Satzzeichen unterbrochen, wodurch die Atemlosigkeit des Geständnisses ausgedrückt wird, das endlich aus ihm herausbricht. An der entscheidenden Stelle seines Berichts, als er erzählt, wie er seinen besten Freund, einen Juden, an die Deutschen verriet, um seine eigene Familie zu retten, schlägt sich die Intensität des Erinnerten dann darin nieder, dass die Worte ineinander fließen: »I felt Herschel’s hand again and I knew that his hand was saying pleaseplease Eli please I do not want to die please do not point at me I am afraid of dying I am so afraid of dying I am soafraidofdying Iamsoafraidofdying who is a Jew the General asked me again and I felt on my other hand the hand of Grandmother and I knew that she was holding your father and that he was holding you and that you were holding your children I am so afraid of dying I am soafraidofdying Iamsoafraidofdying Iamsoafraidofdying and I said he is a Jew« (ebd., S. 250).

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Wie bereits angedeutet, ist Rekonstruktion allerdings ein irreführender Ausdruck für das, was Jonathan leistet. Denn obwohl in seinem Text einige Gegenstände auftauchen, die er und die anderen in Listas Haus finden, ist seine Geschichte des Shtetls eine reine Erfindung, ein Akt der Imagination – und Everything Is Illuminated lässt seine Leser dies auch zu keiner Zeit vergessen. Die Destabilisierung des Wahrheitsanspruchs der Geschichte beginnt bei Alex’ metafiktionalen Kommentaren, die immer wieder auf die offensichtlichen Widersprüche und Anachronismen in Jonathans Text hinweisen, und endet bei den vielen Elementen des magischen Realismus, die Jonathan in die Geschichte des Shtetls einschreibt und die hier primär als Mittel der Illusionsdurchbrechung fungieren, weil sie jedem Anspruch auf Authentizität, Akkuratheit oder Realismus eine Absage erteilen und den Akt des Erfindens und Imaginierens bloßlegen. Der erste dieser magischen Momente des Romans ist die Geburt eines noch mit Schleim und Blut bedeckten Mädchens aus den Fluten des Flusses Brod, aus dem es, »still mucus-glazed, still pink as the inside of a plum«,27 ohne Nabelschnur auftaucht, nachdem wenige Minuten vorher ein Wagen in den Fluss gestürzt ist. Dem so zu Beginn dieses Erzählstrangs wundersam geborenen Baby korrespondiert dabei ein Baby, das am Ende von Jonathans Erzählung während des Luftangriffs der Wehrmacht auf das Dorf im Fluss geboren wird und gleich darauf stirbt, weil es seiner tödlich getroffenen Mutter nicht gelingt, die Nabelschnur zu durchtrennen und die deshalb ihr »perfectly healthy nameless baby« mit sich in die Tiefe reißt.28 Die Geburt des Babys vom Beginn seines Textes, bei dem es sich übrigens um Jonathans Urahnin handelt, wird so retrospektiv zu einer Metapher für Jonathans gesamtes Projekt: Da die wirklichen Bewohner des Shtetls unwiederbringlich verschwunden sind, müssen sie durch imaginierte ersetzt werden. Everything Is Illuminated erschöpft sich deshalb nicht in der metafiktionalen Infragestellung historischer Narrative, wie sie in den postmodernistischen Spielarten des historischen Romans seit den 1960er Jahren immer wieder inszeniert worden ist.29 Der Roman will nicht zeigen, dass Geschichtsschreibung im Großen wie im Kleinen immer eine Erfindung ist, und er will nicht betonen, dass sämtliche Formen der Repräsentation ihren Gegenstand immer konstruieren und niemals abbilden, sondern er setzt diese Einsichten 27 28 29

Ebd., S. 13. Ebd., S. 273. Vgl. hierzu die Kapitel zum metahistorischen Roman und zur historiographischen Metafiktion in: Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde., Trier 1995.

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voraus. Was der Roman stattdessen auslotet, ist, wie man sich intersubjektiv auf eine Version der Geschichte verständigen kann, von der man weiß, dass es eine erfundene ist. Genau dies ist es, was Jonathan und Alex in ihren Texten und Briefen aushandeln. Ihre Kommentare und Diskussionen befruchten die Erzählungen, an denen beide gerade schreiben; zusammen schaffen sie die verlorene Geschichte des Shtetls neu und produzieren einen Bericht ihrer Suche nach diesem Shtetl, der vielleicht nicht ganz korrekt ist, aber dennoch einen Wahrheitsanspruch erhebt. In diesen Akt der kollektiven Kreation werden auch die Leserinnen und Leser einbezogen, denen die endgültige Version beider Erzählstränge nicht vorliegt, sondern die diese aus den Kommentaren in den Briefen konstruieren müssen.30 Im Zentrum von Everything Is Illuminated steht somit nicht die Destruktion einer historischen Erzählung, die es zu desavouieren gilt, weil sie dem Ausmaß des Schreckens und der Leiden nicht gerecht wird, sondern die Konstruktion einer unwiederbringlich verlorenen Geschichte, die als solche immer erkennbar bleibt. Der Roman fällt nicht hinter die Einsichten von Modernismus und Postmodernismus in die Unzugänglichkeit des historischen Referenten zurück, sondern geht einen Schritt weiter, indem er Möglichkeiten aufzeigt, wie trotz der Einsicht in die Konstrukthaftigkeit von Geschichte die Verständigung über intersubjektiv gültige Versionen dessen, was geschehen ist, möglich sein könnte. Da der Roman auch auf anderen Ebenen, beispielsweise im Hinblick auf die Subjektkonzeption, versucht, über Erkenntnisse des Postmodernismus hinauszugehen, ohne diese über Bord zu werfen, bietet es sich tatsächlich an, so unschön das Wort auch sein mag, den Text, wie Katrin Amian dies getan hat, als »post-postmodernistisch« zu charakterisieren.31 Diese Periodisierung wird auch durch den Vergleich mit anderer Holocaustliteratur gestützt. Im Vergleich zu Texten vorheriger Jahrzehnte ist nämlich eine mehrfache Akzentverschiebung zu erkennen. Der Roman interessiert sich mehr für die osteuropäischen als für die deutschen Täter und mehr für die Kultur, die durch den Holocaust zerstört wurde, als für den Akt der Zerstörung selbst. Zudem insistiert er in klarer Abkehr vom Diktum der Unrepräsentierbarkeit auf der Notwendigkeit, den Holocaust und das, was er zerstört hat, darzustellen. Der Fokus auf der Zeit vor der Katastrophe, die im Roman weit mehr Raum einnimmt als diese selbst, bedeutet dabei gleichzeitig die Abkehr vom dominanten literarischen und intellektuellen Diskurs der letzten Jahrzehnte, für den der Holocaust das zentrale Element jüdisch30 31

Siehe hierzu auch Amian, Rethinking Postmodernism(s), S. 177–180. Ebd., S. 183–189.

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amerikanischer Identität darstellt. Dies wird besonders deutlich in einem frühen Kapitel aus Jonathans (fiktiver) Geschichte des Shtetls Trachimbrod, in dem er die lebensbejahende Sexualität der Bewohner am »Trachimday«, dem Jahrestag der Rettung seiner Urahnin aus dem Fluss, feiert: From space astronauts can see people making love as a tiny speck of light. Not light, exactly, but a glow that could be mistaken for light – a coital radiance that takes generations to pour like honey through the darkness to the astronaut’s eyes. […] The glow is born from the sum of thousands of loves: newlyweds and teenagers who spark like lighters out of butane, pairs of men who burn fast and bright, pairs of women who illuminate for hours with soft multiple glows, orgies like rock and flint toys sold at festivals, couples trying unsuccessfully to have children who burn their frustrated image on the continent like the bloom a bright light leaves on the eye after you turn away from it. Some nights, some places are a little brighter. It’s difficult to stare at New York City on Valentine’s Day, or Dublin on St. Patrick’s. The old walled City of Jerusalem lights up like a candle on each of Chanukah’s eight nights. Trachimday is the only time all year when the tiny village of Trachimbrod can be seen from space, when enough copulative voltage is generated to sex the Polish-Ukrainian skies electric. We’re here, the glow of 1804 will say in one and a half centuries. We’re here, and we’re alive.32

Die Astronauten, die Jonathan imaginiert, sehen das Liebeslebensleuchten der Shtetlbewohner vom Anfang des 19. Jahrhunderts eineinhalb Jahrhunderte später, in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts und somit in genau jenem historischen Moment, da die beginnende Amerikanisierung des Holocaust alle Aufmerksamkeit auf die Katastrophe der jüngsten Vergangenheit lenkte und die Erinnerung an die Zeit davor fast unmöglich machte. Getrieben vom Wunsch, dass ihre Vernichtung nicht alles sein darf, was von seinen Vorfahren erinnert wird, verhilft Jonathan diesen früheren und besseren Zeiten zu ihrem Recht. Er tut dies, indem er sich einer Sprache bedient, in der normalerweise der Holocaust beschrieben wird: Frischverheiratete und Teenager »spark like lighters«, Männer brennen »fast and bright«, Frauen »illuminate for hours« und Jerusalem »lights up like a candle«. Seine Sprache evoziert somit die Katastrophe – die Leiden derjenigen, deren Leichen in den Öfen von Auschwitz verbrannt wurden – und wendet diese ins Positive. Bei ihm geht es nicht mehr um ein wirkliches Verbrennen, sondern um ein metaphorisches, um einen »glow«, der von Liebe und multiplen Orgasmen zeugt, nicht vom Tod, sondern vom Leben – und somit von der jüdischen Vergangenheit, die durch die alleinige Konzentration auf den Holocaust vergessen worden ist und die der Roman Everything Is Illuminated in Erinnerung ruft. 32

Foer, Everything Is Illuminated, S. 95f., Hervorhebungen im Original.

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III. Die Revision von Geschichte in Philip Roths The Plot against America (2004) Diesem Paradigmenwechsel auf der Ebene der Kunst entspricht in gewissem Maße eine Akzentverschiebung in der Literatur- und Kulturkritik, wo die Amerikanisierung des Holocaust seit etwa zehn Jahren kritisch hinterfragt wird. Die neuesten Arbeiten der Holocaust Studies stehen der Rhetorik von Einzigartigkeit, Unvergleichbarkeit und Undarstellbarkeit äußerst kritisch gegenüber.33 Statt diese Rhetorik zu perpetuieren, analysieren sie, welche politischen und sozialen Funktionen das Insistieren auf der uniqueness und unspeakability des Holocaust für die amerikanische Kultur erfüllt. Eine der pointiertesten Aussagen, auf die sich andere Forschende immer wieder berufen, stammt dabei von Peter Novick, der in The Holocaust in American Life schreibt: [T]he […] talk of uniqueness and incomparability surrounding the Holocaust in the United States […] promotes evasion of moral and historical responsibility. The repeated assertion that whatever the United States has done to blacks, Native Americans, Vietnamese, or others pales in comparison to the Holocaust is true – and evasive. And whereas a serious and sustained encounter with the history of hundreds of years of enslavement and oppression of blacks might imply costly demands on Americans to redress the wrongs of the past, contemplating the Holocaust is virtually cost-free: a few cheap tears.34

Während Novick bei aller Vehemenz nur davon spricht, dass von Amerikanern verübte Grausamkeiten durch den Vergleich mit dem Holocaust weniger schlimm erscheinen, haben andere Untersuchungen hervorgehoben, wie durch die Konzentration auf den Holocaust die Erinnerung an hausgemachte Katastrophen, insbesondere an die Sklaverei und die bis heute andauernde Diskriminierung der Schwarzen, fast völlig ausgelöscht wird.35 Dies ist der Hintergrund, vor dem Philip Roths The Plot against America gelesen werden muss.

33

34 35

Siehe beispielsweise Naomi Mandel, Against the Unspeakable. Complicity, the Holocaust, and Slavery in America, Charlottesville 2006; dies., »Rethinking ›After Auschwitz‹. Against a Rhetoric of the Unspeakable in Holocaust Writing«, in: boundary, 28/2001, Heft 2, S. 203–228; Erin McGlothlin, »Narrative Transgression in Edgar Hilsenrath’s Der Nazi und der Friseur and the Rhetoric of the Sacred in Holocaust Discourse«, in: The German Quarterly, 80/2007, Heft 2, S. 220–239 und Thomas Trezise, »Unspeakable«, in: The Yale Journal of Criticism, 14/2001, Heft 1, S. 39–66. Novick, The Holocaust, S. 15, Hervorhebung im Original. Zur Verdrängung der eigenen Geschichte durch die Erinnerung an den Holocaust vgl. Mandel, Against the Unspeakable.

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Roths Roman gehört zum Genre der alternate history, imaginiert also einen alternativen, nicht eingetretenen Geschichtsverlauf.36 Charles Lindbergh, der berühmte Pilot, gewinnt 1940 die Präsidentschaftswahlen gegen Franklin Delano Roosevelt. Als Präsident hält Lindbergh, der offen mit Hitler sympathisiert, die USA aus dem Krieg heraus und initiiert Maßnahmen zur ›Integration‹ der jüdischen Amerikaner, die stark an die Maßnahmen der Nazis erinnern. Die Familie des Erzählers, eines kleinen Jungen namens Philip Roth, droht an dieser Situation zu zerbrechen. Die Lage spitzt sich schließlich dramatisch zu, als Lindbergh plötzlich spurlos verschwindet und es im ganzen Land zu antisemitischen Pogromen kommt. Doch letztendlich setzen sich die demokratischen Mechanismen durch, Roosevelt kehrt zurück, übernimmt nochmals das Präsidentenamt und führt die USA in den Krieg. Dieser endet wie in der Realität 1945; die Alternativgeschichte mündet so wieder in die Realgeschichte. Roths Roman ist in den USA als eine kritische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen nach dem 11. September 2001 gelesen worden. In der Tat ist es schwierig, beim ersten Satz des Texts – »Fear presides over these memories«37 – nicht an das Klima der Angst nach den Anschlägen von 9/11 zu denken. Zudem evoziert die Beschneidung der Bürgerrechte die Gesetze 36

37

Bislang existiert nur eine recht überschaubare Anzahl von Studien zu dieser Gattung. Zudem benennen die vorliegenden Arbeiten den Untersuchungsgegenstand unterschiedlich. So spricht Jörg Helbig (Der parahistorische Roman. Ein literarhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung, Frankfurt a.M. 1988) vom »parahistorischen Roman«, Christoph Rodiek (Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur, Frankfurt a.M. 1997) von »Uchronie« und Andreas Martin Widmann (Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr, Heidelberg 2009) vermeidet eine Gattungsbezeichnung und spricht wie Rodiek in seinem Untertitel von »kontrafaktischen Geschichtsdarstellungen«. Im englischsprachigen Raum hat sich nicht die eigentlich korrekte Bezeichnung »alternative history« durchgesetzt, sondern der an sich irreführende Ausdruck »alternate history«. Da dieser sowohl von den Autoren und Lesern der Texte bevorzugt als auch in den neueren Publikationen von Karen Hellekson (Refiguring Historical Time. The Alternate History, Kent, Ohio 2001) und Gavriel D. Rosenfeld (The World Hitler Never Made. Alternate History and the Memory of Nazism, Cambridge 2005) verwendet wird, benutze auch ich ihn. Zu den kulturellen Funktionen des Genres siehe Butter, The Epitome of Evil, S. 47–57 sowie ders., »Zwischen Affirmation und Revision populärer Geschichtsbilder: Das Genre der alternate history« in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hrsg.), History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009, S. 65–82. Philip Roth, The Plot against America, New York 2004, S. 1.

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des Patriot Act und andere umstrittene Maßnahmen. Auch erinnert Lindberghs Auftritt in Fliegermontur auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner stark an Bushs Landung – ebenfalls in Fliegermontur – auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln im Mai 2003, wo die Invasion des Irak als Erfolg, als »mission accomplished«, verkauft wurde. Während die Bush-Regierung versuchte, über den Begriff »Achse des Bösen« den Irak in die Nähe der Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs und somit des Faschismus zu rücken, rückt Roths Roman somit über die Figur Lindberghs die Bush-Regierung selbst zumindest in die Nähe des Faschismus.38 Ist Roths Roman somit im Hinblick auf die Bewertung der Bush-Regierung äußerst kritisch, so affirmiert der Text gleichzeitig jedoch ein traditionelles Vertrauen in die moralische Überlegenheit der USA. Denn in The Plot against America setzen sich die demokratischen Verfahrensweisen in dem Moment, in dem sie wirklich bedroht werden, schließlich doch durch. Zudem externalisiert der Text die Bedrohung amerikanischer Werte. Selbst wenn Hitler nicht der Schuldige ist, der Lindbergh seit Jahrzehnten erpresst und zur anti-semitischen Politik gezwungen hat, wie ein am Ende des Romans kolportiertes Gerücht besagt, stellt The Plot against America die Bedrohung der demokratischen Strukturen der USA als eine Bedrohung von außen dar, als eine unamerikanische Attacke auf genuin amerikanische Werte. Das ist bereits im Titel angelegt, der von einer Verschwörung gegen Amerika kündet. Unabhängig davon, ob Lindbergh oder doch Hitler hinter dieser Verschwörung stecken – beide werden durch diese rhetorische Operation als das vermeintlich natürlichen amerikanischen Werten wie Demokratie, Toleranz oder Freiheit entgegenstehende Andere definiert. Roths Roman ist also gleichzeitig kritisch und affirmativ und somit ideologisch äußerst ambivalent.39 Eine ähnliche Ambivalenz kennzeichnet die Art und Weise, wie der Roman das Verhältnis von jüdischem und afro-amerikanischem Leiden verhandelt. Man kann den Roman, wie Walter Benn Michaels gezeigt hat, als einen 38

39

Dabei ist jedoch zu bedenken, dass, egal welche Faschismusdefinition man anlegt, die USA im Roman nie wirklich faschistisch werden. Lindbergh führt eine rechtskonservative, isolationistische Regierung an, die mit den Faschisten sympathisiert, die aber bis auf die kurze Phase nach seinem Verschwinden demokratische Verfahrensweisen nicht außer Kraft setzt. Selbst wenn man in Lindbergh George W. Bush erkennen möchte, so erscheint dieser in der impliziten Charakterisierung des Romans deshalb nicht wie Hitler, aber eben sehr wie Lindbergh – als ein rechtskonservativer Populist, der mit einfachen Parolen das Volk verführt hat. Für eine ausführlichere Analyse der Ambivalenz des Romans in dieser Hinsicht siehe Butter, »Zwischen Affirmation und Revision«, S. 77–86.

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Text lesen, der die Amerikanisierung des Holocaust aktiv betreibt und die Erinnerung an die hausgemachte Katastrophe der Sklaverei und der Rassendiskriminierung durch die an eine in Europa geschehene ersetzt.40 Denn schließlich wird der Holocaust in den USA heute erinnert, als wäre die Geschichte wirklich so verlaufen, wie sie es in der Welt des Romans tut, wo viele real existierende Elemente der Diskriminierung von Schwarzen als anti-semitische Maßnahmen wiederkehren. Das beginnt mit der Behandlung der Familie Roth in einem Washingtoner Hotel, wo sie bereits kurz nach der Wahl Lindberghs als Bürger zweiter Klasse vor die Tür gesetzt werden, setzt sich fort mit dem Plan der Mutter, nach Kanada zu fliehen, also in das Land, das traditionell das Ziel aller aus den Südstaaten geflohenen Sklaven war, und endet mit der letzten Episode des Romans, die schildert, wie Philips Vater und sein älterer Bruder Sandy während der Pogrome nach Lindberghs Verschwinden mit dem Auto von New Jersey nach Kentucky und wieder zurück fahren, um den Sohn ihrer ehemaligen Nachbarin abzuholen, die während der Ausschreitungen ermordet worden ist. Die Fahrt der kleinen Gruppe durch die in diesen Tagen beinahe völlig gesetzlosen Südstaaten zurück nach Norden erinnert ebenfalls an die Flucht der Sklaven des 19. Jahrhunderts sowie an die Situation der Schwarzen bis weit ins 20. Jahrhundert. Sie wissen nie, ob diejenigen, denen sie begegnen, sie angreifen werden, und meiden daher andere Menschen, soweit es nur irgendwie möglich ist. Die Angst des Vaters während all dieser Tage kulminiert auf der vorvorletzten Seite des Romans, als er aus einem kleinen Krankenhaus kommt, wohin er sich widerwillig begeben hat, um eine eiternde Wunde säubern und verbinden zu lassen, und seinen Sohn Sandy dabei erwischt, wie dieser einige Patienten zeichnet, darunter ein dreizehnjähriges Mädchen: When my father – with a new bandage covering his cheek – came out of the doctor’s office and saw what Sandy was up to, he took him by the belt of his trousers and dragged him, sketchpad and all, clear off the side of the porch and out to the road and into the car. «Are you crazy,» my father whispered, peering furiously down at him over his neck brace, «are you nuts, drawing her?» «It’s only her face,» Sandy tried to explain, holding the sketchpad to his chest – and lying. «I don’t care what it is! You never heard of Leo Frank? You never heard of the Jew they lynched in Georgia because of that little factory girl? Stop drawing her, damn it! Stop drawing any of them! These people don’t like being drawn – cant’ you see that? We came 40

Siehe Walter Benn Michaels, »Plots against America. Neoliberalism and Antiracism«, in: American Literary History, 18/2006, Heft 2, S. 288–302, und ders., The Trouble with Diversity. How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality, New York 2007, S. 57–68.

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out to Kentucky to get this boy because they have burned his mother to death in her car! For Christ’s sake, put those drawing things away, and don’t draw any more girls!»41

Hier, so kann man argumentieren, wird die Umschreibung der Geschichte auf die Spitze getrieben. Leo Frank, den der Vater seinem Sohn hier als warnendes Beispiel vor Augen führt, wurde 1915 als Mörder zum Tode verurteilt, weil ein dreizehnjähriges Mädchen, eine Angestellte in seiner Fabrik, tot aufgefunden wurde, nachdem sie kurz zuvor mit ihm gesehen worden war. Als die Zweifel an seiner Schuld immer größer wurden, wandelte der Gouverneur von Georgia das Todesurteil in lebenslängliche Haft um. Frank wurde daraufhin von einem wütenden Mob aus dem Gefängnis entführt und gelyncht. Er ist jedoch – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – aller Wahrscheinlichkeit nach der einzige Jude, der jemals in den USA gelyncht wurde. Der Roman aber erzählt von Franks Schicksal, als sei es kein Einzelfall, sondern als wäre es die Regel, dass Juden in den Südstaaten gelyncht werden. In Verbindung mit der Flucht der Roths suggeriert der Roman so, dass sich der Hass der weißen Südstaatler primär gegen Juden gerichtet hätte, und vergisst, dass es historisch die Schwarzen waren, die als Bedrohung weißen Blutes und weißer Weiblichkeit betrachtet wurden – und von denen zwischen 1860 und 1950 mehrere Tausend gelyncht wurden.42 Die Amerikanisierung des Holocaust, die der Roman wörtlich nimmt, führt hier zur völligen Auslöschung der afro-amerikanischen Leidensgeschichte. Man kann den Roman im Allgemeinen und diese letzte Episode im Speziellen aber auch ganz anders interpretieren. Der Text lässt nämlich über weite Strecken offen, wie groß die Gefahr wirklich ist, der die Roths und die übrigen amerikanischen Juden ausgesetzt sind, beziehungsweise ob überhaupt Gefahr besteht. Gerade der Vater der Familie neigt dazu, überall Antisemitismus zu wittern. Auch auf der Fahrt durch den Süden werden er und sein Sohn niemals wirklich bedroht; die Gefahr existiert vor allem in ihren Köpfen. Zudem treibt die letzte Episode, in der Lynchen vom Vater als anti-semitische Praxis präsentiert wird, die bis dahin recht subtile Umschreibung der afro-amerikanischen in eine jüdische Leidensgeschichte auf die Spitze und gewinnt dadurch ein gewisses kritisches Potenzial. Denn während sowohl Sohn Sandy als auch die Leserschaft eine Erklärung benötigen, 41 42

Roth, The Plot against America, S. 359, Hervorhebungen im Original. Zu Leo Frank siehe Leonard Dinnerstein, The Leo Frank Case, Athens, GA 1987; zur Geschichte des Lynchings in den USA siehe W. Fitzhugh Brundage, Lynching in the New South. Georgia and Virginia, 1880–1930, Urbana/Chicago 1993 und Stewart E. Tolnay/ E.M. Beck, A Festival of Violence. An Analysis of Southern Lynchings, 1882–1930, Urbana/Chicago 1995.

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wer Leo Frank war – eine Erklärung, die der Wutausbruch des Vaters gleich mitliefert –, braucht vermutlich kaum ein Leser oder eine Leserin daran erinnert zu werden, dass in den Südstaaten vor allem Schwarze gelyncht wurden – und eben nicht die Juden. Man könnte daher argumentieren, dass der Text somit über die offensichtliche Fehlinterpretation einer Vergangenheit, die dem kontrafaktischen Entwurf vorausgeht, die Mechanismen bloßlegt, über die in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten die Geschichte der Sklaverei und ihrer Folgen verdrängt und durch eine Leidensgeschichte ersetzt wird, an der im Roman wie in der Realität letztendlich nicht die Amerikaner, sondern »unamerikanische Gesellen« wie Lindbergh und Hitler Schuld sind. Der ideologischen Ambivalenz in der Beurteilung der Folgen des 11. September 2001 entspricht somit eine strukturell analoge Ambivalenz hinsichtlich der Amerikanisierung des Holocaust, die der Text, je nachdem, welche Lesart man bevorzugt, entweder betreibt oder entlarvt.

Konklusion Unabhängig davon aber, für welche Lesart von The Plot against America man sich letztendlich entscheidet, insistiert der Roman weiterhin auf der zentralen Bedeutung des Holocaust für die jüdisch-amerikanische Identität. Dies verbindet ihn mit Romanen von Melvin Jules Bukiet und Michael Chabon und unterscheidet ihn von Texten von Jonathan Safran Foer, Myla Goldberg und Allegra Goodman. Bukiets After und Chabons The Amazing Adventures of Kavalier & Clay (2002) und The Yiddish Policemen’s Union (2007)43 setzen sich, wie Susanne Rohr für den ersten dieser Romane gezeigt hat, mehr mit bereits existierenden Repräsentationen des Holocaust auseinander und versuchen nicht, diesen in irgendeiner Weise »authentisch« zu repräsentieren.44 Indem sie den Holocaust jedoch zum alleinigen Bezugspunkt für die Identität ihrer jüdischen Protagonisten machen, perpetuieren sie bewusst oder unbewusst dessen Signifikanz für die jüdisch-amerikanische Kultur, selbst wenn sie dies in einem Text wie The Yiddish Policemen’s Union tun, der ähnlich ambivalent ist wie The Plot against America und den man deshalb ebenfalls als eine kritische Auseinandersetzung mit der Amerikanisierung des Holocaust lesen kann.45 43

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45

Michael Chabon, The Amazing Adventures of Kavalier & Clay, London 2001; ders., The Yiddish Policemen’s Union, New York 2007. Vgl. Susanne Rohr, »›Playing Nazis‹, ›mirroring evil‹. Die Amerikanisierung des Holocausts und neuere Formen seiner Repräsentation«, in: Amerikastudien/American Studies, 47/2002, Heft 4, S. 539–553. Chabons The Yiddish Policemen’s Union gehört wie Roths The Plot against America zum Genre der alternate history. In der Welt des Romans wurde den europäischen Juden

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In den Texten von Foer, Goldberg und Goodman dagegen findet eine klare Verschiebung weg vom Holocaust und hin zu anderen Momenten der jüdischen Geschichte statt. Allegra Goodman weist »alle Ausformungen des Opfer- und survivor-Diskurses und damit auch indirekt den Holocaust als Quelle und Zentrum jüdischer Identität« zurück,46 und Myla Goldberg fühlt sich, wie Julia Männel überzeugend argumentiert, einem ähnlichen Standpunkt verpflichtet, geht aber noch einen Schritt weiter, indem sie den Holocaust in Bee Season (2001) bis auf eine Randbemerkung völlig ignoriert.47 Vernachlässigt man, dass Chabon näher bei Foer, Goldberg und Goodman als bei Bukiet und Roth steht, wenn man das Alter der Autorinnen und Autoren zum Maßstab macht, kann man die unterschiedliche Bedeutung, die dem Holocaust von beiden Gruppen zugeschrieben wird, auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen zurückführen.48 Somit kann man die beginnende Problematisierung des Holocaustdiskurses, die in den Texten der älteren Autoren erkennbar ist, als Vorstufe der ungleich radikaleren Zurückweisung des Holocaust als (alleinigen) Bezugspunkt jüdisch-amerikanischer Identität in den Texten der jüngeren Autorinnen und Autoren verstehen. Diese sind alle nur geringfügig älter als die Studentin Laura, mit deren Unmut darüber, wie über den Holocaust gesprochen wird, ich begonnen habe und den Foer, Goodman und Goldberg offensichtlich teilen. Diese generationale Lesart wird auch dadurch bekräftigt, dass den unterschiedlichen Einstellungen zum Holocaust verschiedene ästhetische Verfahrensweisen entsprechen. Während Bukiet ein postmodernistischer Autor ist und Roth niemals vom traditionellen Realismus der 1950er Jahre abgerückt ist, kann man Goodman und Goldberg als neorealistische Autorinnen und Foer als post-postmodernistischen Autor bezeichnen.49 Bei allen Unterschieden, was

46 47

48

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1941 gestattet, sich in Alaska anzusiedeln, weshalb »nur« zwei Millionen von ihnen im Holocaust ihr Leben verloren. Der Roman spielt jedoch in der Gegenwart, wo der Pachtvertrag für das gemietete Territorium gerade ausläuft, und verhandelt über die Frage, was nun mit den Juden geschehen soll, in komplexer Manier den Zusammenhang von Holocaust, Antisemitismus und Zionismus. Rohr »›Playing Nazis‹«, S. 546. Myla Goldberg, Bee Season, New York 2001. Zur Marginalisierung des Holocaust in diesem Roman siehe Männel, »Third Generation«, S. 25f. Wodurch jedoch keineswegs die Rede von einer zweiten und dritten Generation jüdisch-amerikanischer Autoren wieder eingeführt werden soll, die ich eingangs verworfen habe (vgl. Anm. 3). Zu Bukiets Postmodernismus vgl. Ribbat, »Nomadic with the Truth«, S. 204f. Zum amerikanischen Neorealismus im Allgemeinen siehe Winfried Fluck, »Surface Knowledge and ›Deep‹ Knowledge: The New Realism in American Fiction«, in: Kristiaan Versluys (Hrsg.), Neo-Realism in Contemporary American Fiction, Ams-

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den Grad der Selbstreflexivität und der metafiktionalen Verspieltheit betrifft, ist den beiden letzten Strömungen gemeinsam, dass sie den Zweifeln an der Möglichkeit von Repräsentation, die realistische Autoren noch nicht haben und die bei modernistischen und postmodernistischen Autoren zur beständigen Dekonstruktion der eigenen Darstellungen führen, mit dem Beharren auf der Notwendigkeit von Repräsentation begegnen. Denn es hilft ja alles nichts: Will man das Andenken an den Holocaust und all das, was durch ihn zerstört wurde, bewahren, muss man diese Ereignisse darstellen. Insbesondere Foer fällt somit nicht hinter die Einsichten von Modernismus und Postmodernismus zurück, sondern geht einen Schritt weiter.

terdam/Antwerpen 1992, S. 64–85 und Robert Rebein, Hicks, Tribes, and Dirty Realists. American Fiction after Postmodernism, Lexington 2001. Zu den Interferenzen von Postmodernismus und zeitgenössischem Realismus siehe Amian, Rethinking Postmodernism(s), S. 208–210.

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Dorothee Birke

Dorothee Birke (Freiburg)

Trauma und Sinnstiftung im englischen Gegenwartsroman am Beispiel Kazuo Ishiguros

In literaturwissenschaftlichen Arbeiten stößt man nicht selten auf die Ansicht, dass die literarische Darstellung traumatischer Erlebnisse ein grundsätzliches »Paradox« aufwerfe, das Anne Whitehead in einer Studie über Traumafiktion folgendermaßen beschreibt: The term ›trauma fiction‹ represents a paradox or contradiction: if trauma comprises an event or experience which overwhelms the individual and resists language or representation, how then can it be narrativized in fiction?1

Diese Überlegung basiert auf einer Definition von Trauma als einer Störung jener Prozesse des autobiographischen Erinnerns, die es erlauben, Ereignisse auszuwählen, zu bewerten und zueinander in Beziehung zu setzen – kurz: zu einer kohärenten Lebensgeschichte zusammenzufügen.2 »Traumatisch« sind demnach solche besonders schrecklichen Erfahrungen, die einerseits aus der bewussten Erinnerung und so aus dem Zusammenhang einer Lebensgeschichte verdrängt, andererseits aber in Form von Träumen, Erinnerungsbildern oder Verhaltensstörungen immer wieder durchlebt werden. Das »Paradox« wäre dann, dass eine Erzählstörung erzählt werden soll. Allerdings beruht dieser vermeintliche Widerspruch bei näherem Hinsehen auf zwei fragwürdigen Prämissen: Erstens wird vorausgesetzt, dass es unmöglich sei, eine Erfahrung, die dem erlebenden Individuum unfassbar erscheint, in einem fiktionalen Text wiederzugeben. Die Passivform »how can it be narrativized« verschleiert aber, dass die Person, die den fiktionalen Text schreibt, keineswegs identisch ist mit der Figur, die die Erfahrung von Unfähigkeit zu erzählen und Sprachlosigkeit macht. Dass eine Figur sprachlos ist, lässt sich in fiktionalen Texten ohne jedes Problem und mehr oder 1 2

Anne Whitehead, Trauma Fiction, Edinburgh 2004, S. 3. Eine besonders prominente Vertreterin dieser Auffassung von Trauma ist Cathy Caruth, die Trauma als »wound of the mind – the breach in the mind’s experience of time, self, and the world« bezeichnet (Cathy Caruth, Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History, Baltimore 1996, S. 3). Vgl. auch John F. Kihlstrom, »Suffering from Reminiscences. Exhumed Memory, Implicit Memory, and the Return of the Repressed«, in: Martin Conway (Hrsg.), Recovered Memories and False Memories, Oxford 1997, S. 10.

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weniger wortreich darstellen. Man könnte höchstens argumentieren, dass eine solche Darstellungsweise dem repräsentierten Phänomen nicht angemessen sei (dann ist die Frage nicht, wie etwas erzählt werden kann, sondern wie etwas erzählt werden soll). Hinzu kommt ein zweites Problem: Es wird vorausgesetzt, dass alle »fiktionalen« Texte eine »Narrativisierung« in dem Sinne vornehmen, dass sie eine kohärente und in sich stimmige Geschichte erzählen (also das tun, was traumatisierte Menschen nicht können). Auch das ist offensichtlich falsch: Nicht alle fiktionalen Texte erzählen kohärent und in sich stimmig – viele experimentelle Werke unterlaufen gerade solche Konventionen. Die Formulierung vom »Paradox« der Traumafiktion ist also in gewisser Weise irreführend. Interessant ist sie dennoch, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Frage lenkt, inwieweit die Art und Weise, wie fiktionale Texte »erzählen«, genutzt werden kann, um die Probleme einer Figur mit ihren Erinnerungen und dem Erzählen der eigenen Lebensgeschichte für die Leser nachvollziehbarer werden zu lassen.3 Statt von einem »Paradox« spricht man also besser von einer besonders reizvollen Chance, die sich für die Erzählliteratur eröffnet: Die Schwierigkeiten einer Figur, Gegenwart und Vergangenheit voneinander zu trennen und Erinnerungen als Sequenzen zu erzählen und einzuordnen, können über Mittel wie Wiederholungen, Besonderheiten im Erzählerdiskurs sowie Zeit- und Raumdarstellung besonders wirkungsvoll dargestellt werden.4 In diesem Artikel möchte ich zeigen, auf welche Weise zwei Romane des englischen Gegenwartsautors Kazuo Ishiguro – sein Erstlingswerk A Pale View of Hills (1982) und der fast 20 Jahre später erschienene Roman When We Were Orphans (2000) – komplexe Vorstellungen von der Funktionsweise und Auswirkung von Traumata entwerfen. Damit widme ich mich einem spezifi3

4

Zum Vorschlag für eine Definition von »Narrativität« von Erzähltexten als einer graduierbaren Kategorie und deren Unterscheidung von der Vorstellung einer narrativen Strukturierung autobiographischer Erinnerungen vgl. ausführlich Dorothee Birke, Memory’s Fragile Power. Crises of Memory, Identity and Narrative in Contemporary British Novels, Trier 2008, S. 57–63. Solche Werke (aus Deutschland, Großbritannien, Kanada und den USA) untersucht auch Anne Whitehead in ihrer Studie Trauma Fiction, Edinburgh 2004. Für eine besonders detaillierte Beschreibung der psychologischen Forschung über die Zusammenhänge zwischen Erinnern und Erzählen und deren Darstellung in der zeitgenössischen kanadischen Literatur vgl. Birgit Neumann, Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory, Berlin/New York 2005. Inszenierungen von Trauma in der deutschsprachigen Literatur beschreibt Hannes Fricke, Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen 2004.

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schen Teil des Themenfeldes »Katastrophe und Gedächtnis«, nämlich der Frage, wie die Erzählliteratur die psychischen Folgen von Katastrophen darstellen kann, indem sie Erinnerungsprozesse von Individuen nachzeichnet.5 Zwei Aspekte stehen im Mittelpunkt der Untersuchung. Erstens möchte ich zeigen, dass die Romane die Bedeutung des Erinnerns für das Individuum als ambivalent darstellen: Sie fragen danach, inwieweit eine Bewältigung von Vergangenheit durch Erinnerung möglich erscheint, und wann eine solche Bewältigung unmöglich ist und seelische Zerstörungen durch Katastrophen über die Erinnerung noch weiter fortgesetzt werden. Zweitens gehe ich der Frage nach, mithilfe welcher erzählerischer Mittel die Romane das Erinnern als problematischen Prozess inszenieren. Dieser Untersuchung liegt die These zugrunde, dass die Erzählweise der Romane Fragen nach dem Umgang mit Erzählmustern, der Suche nach Kohärenz sowie einem Verlangen nach einer abgeschlossenen Sinneinheit herausfordert, die sich auf der Ebene der Figuren ebenfalls stellen.

I.

A Pale View of Hills: Verdrängung und Wiederkehr

Ishiguros erster Roman A Pale View of Hills spielt teils in England, teils in seiner Geburtsstadt Nagasaki. Die Ich-Erzählerin Etsuko erinnert sich an einen Sommer in den 1950er Jahren, als sie in Nagasaki wohnte und mit ihrer Tochter Keiko schwanger war. In der Erzählgegenwart lebt Etsuko allein, im England der 1980er Jahre – sie hat Japan verlassen, um einen Engländer zu heiraten, der inzwischen allerdings gestorben ist. Keiko hat wenige Monate vor dem Beginn der Erzählgegenwart Selbstmord begangen, und Etsuko hat Besuch von dem einzigen weiteren noch lebenden Mitglied ihrer Familie, ihrer zweiten Tochter Niki. Auf den ersten Blick scheint es in der Handlung des Romans nicht primär um traumatische Erlebnisse zu gehen. Auf der Gegenwartsebene wird der ereignisarme Besuch Nikis bei ihrer Mutter geschildert. In der Erzählvergangenheit erscheint Etsuko als Beobachterin eines Dramas, in dessen Zentrum eine andere Person steht: Sachiko, eine geheimnisvolle Frau aus ihrer Nachbarschaft, mit der sie befreundet war. Die dramatischsten Teile der Handlung befassen sich mit Sachikos Plan, mit ihrem neuen Freund nach Amerika auszuwandern, und mit ihrem als häufig sehr rücksichtslos dargestellten Verhalten gegenüber ihrer kleinen Tochter Mariko. Die schrecklichen Dinge, die 5

Die Bedeutung des Themenfeldes von Erinnerung und Identität für Ishiguros Romane diskutiert allgemeiner Mike Petry, Narratives of Memory and Identity. The Novels of Kazuo Ishiguro, Frankfurt a.M. 1999.

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Etsuko selbst erlebt hat, werden in ihren Erinnerungen hingegen nahezu ausgespart: Weder ihre Erlebnisse in Nagasaki während des zweiten Weltkriegs noch der Selbstmord Keikos, der erst kurz zurückliegt, sind Gegenstand ausführlicherer Betrachtung. Auch wenn der Abwurf der Atombombe über Nagasaki im Jahr 1945 und die unmittelbare Nachkriegszeit in Etsukos Erinnerungen nur eine sehr geringe Rolle zu spielen scheinen, sind es aber, so möchte ich im Folgenden zeigen, die physischen und psychischen Zerstörungen des Krieges, die das unausgesprochene Zentrum des Romans bilden. Die Ereignisse, an die Etsuko sich erinnert, stehen auf komplexe Art und Weise für die Ereignisse, an die sie sich nicht erinnern kann oder will. Statt die spezifischen Umstände oder Folgen des Krieges nachzuzeichnen, entwirft der Roman ein detailliertes Portrait der Bewusstseinszustände einer Überlebenden, die zwischen Verdrängung und Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte schwankt. Zu dieser Inszenierung des Erinnerungsprozesses tragen vor allem Zeitstruktur und Gestaltung der Erzählhaltung des Romans bei.6 Anders als in vielen anderen Romanen, in denen die Gegenwart, aus der ein Ich-Erzähler sich erinnert, nur sehr knapp beschrieben wird, ist die Gegenwartsebene in Pale View detailliert ausgestaltet: Die Ich-Erzählerin berichtet von den Ereignissen, die ihre Erinnerungen auslösen, ebenso wie von den Gesprächen, die sie mit Niki führt, und den Überlegungen, die sie über den Prozess des Erinnerns und über die erinnerten Ereignisse anstellt. Durch diese detaillierte Ausgestaltung der Gegenwartsebene sowie die häufigen Wechsel zwischen den Zeitebenen wird der Erinnerungsprozess kontextualisiert; es wird deutlich, dass die erinnerten Ereignisse nicht losgelöst von den Geschehnissen in der Gegenwart sind, sondern dass letztere auf Auswahl und genaue Gestalt des Erinnerten großen Einfluss haben. Dass ihre Erinnerungen alles andere als völlig stabil und verlässlich sind, betont die Erzählerin schon am Anfang des Romans: »It is possible that my memory of these events will have grown hazy with time, that things did not happen in quite the way they come back to me today«.7 6

7

Einen Überblick über narratologische Kategorien, die bei der Inszenierung von Erinnerung eine Rolle spielen, sowie Vorschläge für deren Modifikation, um relevante Erzähltexte besser analysieren zu können, bieten Michael Basseler/Dorothee Birke, »Mimesis des Erinnerns«, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin/New York 2005, S. 123–147, Neumann, Erinnerung – Identität – Narration, Kap. III.2, sowie das 3. Kapitel meiner Studie Memory’s Fragile Power. Kazuo Ishiguro, A Pale View of Hills, London 1982, S. 41. Zitate aus dieser Ausgabe (Kürzel: PV) werden im Folgenden direkt im Fließtext belegt.

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Rätselhaft sind die Passagen, die in der Vergangenheit spielen, allerdings nicht, weil sie in sich inkohärent oder bruchstückhaft wären, sondern in erster Linie deswegen, weil der genaue Bezug zwischen ihnen und den Geschehnissen in der Gegenwart unklar bleibt. Einerseits erscheint es als naheliegend, dass Etsukos Reminiszenzen über die Vergangenheit durch Keikos Tod motiviert sind. So sagt Etsuko über ihre Tochter Niki: In recent years she has taken it upon herself to admire certain aspects of my past, and she had come prepared to tell me […] that I should have no regrets for those choices I once made. In short, to reassure me I was not responsible for Keiko’s death. (PV 11)

So erweckt der Romananfang die Erwartung, dass Etsukos Erinnerungen um »those choices« und ihre Auswirkungen auf Keiko kreisen werden. Dass sie sich stattdessen auf die Geschichte von Sachiko und Mariko konzentrieren, könnte, figurenpsychologisch gedeutet, als Ausweichmanöver verstanden werden, das dazu dienen soll, die Beschäftigung mit einem schmerzhafteren Thema zu umgehen. Etsuko selbst weist auf den Zusammenhang zwar hin, stellt ihn allerdings genau umgekehrt dar: I have no great wish to dwell on Keiko now, it brings me little comfort. I only mention her here because those were the circumstances around Niki’s visit this April, and because it was during that visit I remembered Sachiko again after all this time. I never knew Sachiko well. In fact our friendship was no more than a matter of some several weeks one summer many years ago. (PV 11)

Diese Passage legt nahe, dass das, was hier explizit beiseite geschoben wird – Keikos Selbstmord –, eben gerade doch in irgendeiner Weise mit der Erinnerung an Sachiko verbunden ist. Aufgrund solcher Hinweise ist man als Leserin ständig bemüht, zwischen den Zeilen zu lesen, um dem Status und der Bedeutung der Erinnerungen auf den Grund zu gehen. Im Verlauf der Erzählung häufen sich dann auch die Indizien dafür, dass die Erinnerungen an Sachiko und Mariko keine eskapistische Reminiszenz an eine Zeit sind, in der Etsukos Welt noch in Ordnung war, sondern dass sie aufs engste mit den beiden schlimmen Ereignissen in Etsukos Leben verwoben sind, die sie aus ihrer Erzählung ausblendet: dem Selbstmord und dem Krieg. Hinweise zur Entschlüsselung der Bedeutung, die die Geschichte auf der Vergangenheitsebene für Etsuko hat, liefert insbesondere die Charakterisierung der Figur Sachiko. Im Nagasaki-Strang der Handlung werden hauptsächlich die Unterschiede zwischen Etsuko und Sachiko betont. Etsuko erinnert sich an sich selbst als an eine junge Frau, die darauf hofft, sich mit ihrem Mann Jiro eine glückliche Familie aufbauen zu können, und bemüht ist, den traditionellen japanischen Wertvorstellungen und Geschlechterrol-

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len zu entsprechen, die von ihrem Schwiegervater und einigen Nachbarn repräsentiert werden. Die alleinerziehende Sachiko dagegen hat eine Affäre mit einem Amerikaner begonnen und plant einen Neuanfang in den USA. Während Etsuko es in der Rolle der fürsorglichen Hausfrau allen recht machen will, konzentriert Sachiko sich ganz auf ihre eigene Zukunft, was vor allem deswegen in einem negativen Licht erscheint, weil deutlich wird, dass sie dabei ihre kleine Tochter als Hindernis betrachtet. Überhaupt wird Sachiko als wenig sympathische Figur dargestellt: Sie ist unfreundlich und manipulativ. Etsuko hingegen erscheint als eine gutmütige, aber wenig selbstbewusste Frau, die von Sachiko ausgenutzt wird. Dieser Kontrast zwischen den beiden Figuren wird jedoch relativiert, wenn man den Stand der Dinge auf der Gegenwartsebene berücksichtigt. Etsuko hat – wie in Sachikos Plan – Japan und ihren ersten Mann verlassen; sie ist diejenige, die sich nun mit der Frage konfrontiert sieht, wie ihr Verhalten sich auf die Entwicklung ihrer Tochter ausgewirkt hat. Das wirft die Frage auf, inwieweit Etsukos Erinnerungen an Sachiko und Mariko ihre eigenen Schuldgefühle widerspiegeln. Die Verbindung der beiden MutterTochter-Geschichten wird im Laufe des Romans immer stärker betont, und das Romanende legt sogar nahe, dass Sachiko und Mariko möglicherweise gar keine realen Personen waren: Etsuko ›erinnert‹ sich an eine Szene, in der sie Mariko als ihre eigene Tochter anspricht. Anders als in vielen anderen Romanen mit unzuverlässigen Erzählern ist es bei A Pale View of Hills für die Leser aber bis zum Schluss unmöglich, eine autoritative Alternativversion der Ereignisse herzuleiten. Es bleibt unklar, ob es sich bei der gesamten Sachiko-Mariko-Geschichte um eine Erfindung Etsukos handelt, oder ob sie nur in der Rückschau einzelne Aspekte ihrer eigenen Erfahrung auf die andere Frau projiziert. Auf jeden Fall wird Sachiko als die Rabenmutter dargestellt, die Etsuko selbst zu sein fürchtet. Die Erinnerung an Sachiko erscheint so einerseits als ein Akt der Verdrängung, bringt die verdrängten Inhalte jedoch andererseits in veränderter Form wieder ins Spiel – ein Prozess, der an das erinnert, was die Psychiaterin Judith Herman als »Dialektik des Traumas« bezeichnet: »the will to deny horrible events and the will to proclaim them aloud«.8 Für Herman ist diese widersprüchliche Motivation der Grund für Erinnerungslücken wie auch für das ständige Eindringen der Vergangenheit in die Gegenwart, etwa in Träumen, Halluzinationen oder zwanghaftem Verhalten. Dass die Widersprüche in Etsukos Erinnerungen als Hinweise auf eine Traumatisierung interpretiert werden könnten, wird in Ishiguros Roman zu8

Judith Herman, Trauma and Recovery, New York 1992, S. 1.

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nächst einmal dadurch nahegelegt, dass die Geschichte um Sachiko und Mariko nicht nur durch die Schuldgefühle aus der Gegenwart beeinflusst zu sein scheint, sondern gleichzeitig offensichtlich auch eine bewusste Auseinandersetzung mit Etsukos Kriegserlebnissen ersetzt. Wie schon erwähnt, wird die Zerstörung Nagasakis im Roman nur am Rande angesprochen.9 In den Erinnerungen Etsukos erscheint die Stadt als Baustelle. Die Menschen sind dabei, ihr Leben wieder herzustellen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Zerstörungen und Verluste der Kriegszeit prägen zwar weiterhin ihr Leben; das erfährt man aber nur aus einigen beiläufigen Bemerkungen. Die bewusste Trennung von der Vergangenheit wird im Roman als mögliche Haltung explizit besprochen. Etsukos Bekannte Mrs. Fujiwara etwa kritisiert die Rückwärtsgewandtheit ihrer Nachbarn, die jede Woche den Friedhof besuchen: »It’s a shame, a pregnant girl and her husband spending their Sundays thinking about the dead. […] They should be thinking about the future.« (PV 25) Die Lücken in den Erinnerungen Etsukos könnten als Paradebeispiel für ein solches Ideal der Abkehr von der Vergangenheit gelesen werden – und ihre Schwangerschaft als Symbol des Neuanfangs. Es gibt aber auch Elemente im Roman, die infrage stellen, dass es den Figuren überhaupt möglich ist, einen klaren Schnitt vorzunehmen. Am offensichtlichsten wird dies an der Figur des Mädchens Mariko: Das einzige Kriegserlebnis, das im Roman (von Sachiko) detailliert beschrieben wird, ist, wie Mariko mit ansehen musste, dass eine verzweifelte Frau ihr eigenes Kind ertränkte und dann Selbstmord beging. Seither wird Mariko von Visionen dieser Frau verfolgt. Ihr in sich gekehrtes und sprunghaftes Verhalten erscheint mit dieser Vorgeschichte als Symptom einer Traumatisierung. Auch in Etsukos eigenen Erinnerungen gibt es Elemente, die sich in verschiedenen Variationen immer wiederholen, so zum Beispiel ein Seil und ein Körper, der in einem Baum hängt. Diese Bilder, die als Verweise auf Keikos Selbstmord gelesen werden können, sind aber nicht nur auf der Gegenwartsebene wichtig, sondern werden auch in die Erinnerungen an Nagasaki eingefügt. Das Seil etwa taucht am Schluss des Romans in einer Szene auf, in der Etsuko nicht mehr als Marikos Beschützerin, sondern als Bedrohung erscheint: 9

In der ersten Rückblende heißt es: »The worst days were over by then. American soldiers were as numerous as ever – for there was fighting in Korea – but in Nagasaki, after what had gone before, those were days of calm and relief.« (PV 11) Die Bezüge auf die »worst days« and »after what had gone before« deuten auf schreckliche Erfahrungen der Bevölkerung von Nagasaki hin, die jedoch als bekannter Referenzpunkt vorausgesetzt und als nicht weiter ausführenswert heruntergespielt werden.

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The little girl was watching me closely. »Why are you holding that?« she asked. »This? It just caught around my foot. What’s wrong with you?« I gave a short laugh. »Why are you looking at me like that? I’m not going to hurt you.« Without taking her eyes from me, she rose slowly to her feet. […] The child began to run, her footsteps drumming along the wooden boards. She stopped at the end of the bridge and stood watching me suspiciously. I smiled at her and picked up the lantern. (PV 173)

Wenn man die ›Erinnerung‹ an Mariko als Ersatz für eine Auseinandersetzung mit den Schuldgefühlen gegenüber Keiko interpretiert, erklären sich solche seltsamen Verschränkungen von Vergangenheit und Gegenwart. Die Szene legt nahe, dass Etsuko sich als Mörderin ihrer Tochter betrachtet. Die Verknüpfung der Motive aus der Gegenwart mit der Beschreibung von Marikos Kriegserlebnissen deutet aber gleichzeitig auch auf die ansonsten so sorgsam ausgesparte Frage, was Etsuko selbst im Krieg zugestoßen ist. Hier finden wir eine mögliche Antwort auf die Frage, was der Grund für Etsukos (zumindest subjektiv gefühlte) Unfähigkeit ist, den Anforderungen an die Mutterrolle zu entsprechen: die Beschädigungen, die sie durch den Krieg erfahren hat. Auch dieser Zusammenhang wird bereits am Romananfang von Mrs. Fujiwara formuliert, die die schwangere Etsuko ermahnt, die schlimmen Erinnerungen an den Krieg hinter sich zu lassen: »Your attitude makes all the difference. A mother can take all the physical care she likes, she needs a positive attitude to bring up a child.« (PV 24f.) Dieser enormen Verantwortung ist Etsuko nach ihrem eigenen Urteil offensichtlich nicht gerecht geworden. Inwieweit ihre Schuldgefühle angemessen sind, können wir nicht beurteilen, denn über ihr tatsächliches Verhältnis zu Keiko erfahren wir im Roman nichts. Auf einer abstrakteren Ebene aber lädt die Handlung jedenfalls dazu ein, darüber nachzudenken, wie traumatische Erlebnisse über Generationen hin weiterwirken können: Der Selbstmord Keikos erscheint als späte Auswirkung der psychischen Zerstörungskraft des Krieges. Gerade der Aspekt der Vergangenheits-Geschichte, der am ehesten Hoffnung auf einen Neuanfang implizieren könnte, nämlich Etsukos Schwangerschaft, steht somit am Ende für einen destruktiven Kreislauf. Die MutterTochter-Konstellationen im Roman stellen dar, wie Mütter ihre psychischen Verletzungen an ihre Töchter weitergeben. Man kann fragen, ob der Roman neben dieser pessimistischen Sichtweise auf die Auswirkungen von Trauma auch einen Hoffnungsschimmer liefert: Vielleicht kann es Etsuko gelingen, eine besser funktionierende Beziehung zu ihrer zweiten Tochter Niki aufzubauen? Die Voraussetzungen dafür scheinen zumindest zum Teil gegeben: In einigen Szenen signalisiert Niki Interesse an der Vergangenheit ihrer Mutter. Bis zum Romanende kommt es

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zwar nicht zu einem offenen Gespräch zwischen den beiden Frauen, aber bevor Niki abreist, schenkt Etsuko ihr ein Bild aus einem alten Kalender, das mit Erinnerungen an Nagasaki verbunden ist und so als symbolische Einladung zur Teilhabe an der eigenen Vergangenheit verstanden werden könnte. Diese Geste könnte einen Auftakt zu einer Kommunikation bedeuten. Umgekehrt kann man sie aber auch als Zeichen für Etsukos Unfähigkeit lesen, sich ihrer Tochter zu öffnen, denn die besondere Signifikanz des Kalenderblatts ist dem Leser zwar bekannt, für Niki aber nicht nachvollziehbar, und Etsuko spielt sie im Dialog herunter. Auch an anderen Stellen im Roman weicht Etsuko den kommunikativen Annäherungsversuchen ihrer Tochter aus. Der Schluss des Romans lässt somit offen, ob Etsukos Erinnerungen an die Vergangenheit als therapeutische erste Schritte zu sehen sind, die es ihr ermöglichen, die traumatischen Erfahrungen als Teil ihrer Lebensgeschichte zu akzeptieren und sich ihren Schuldgefühlen zu stellen. Die Verschmelzung der Sachiko/Mariko-Geschichte mit ihrer eigenen am Ende des Romans könnte einen Wendepunkt hin zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit darstellen.10 Genauso gut könnte man die Abfolge von Verdrängung und Wiederkehr in den Erinnerungen aber auch schlicht als Symptome von Etsukos Beschädigung durch das Trauma verstehen – als Fortsetzung eines Kreislaufs, der sich nicht durchbrechen lässt. Die Auswahl zwischen einem optimistischen und einem pessimistischen Szenario bleibt den Lesern überlassen.

II. When We Were Orphans: Die Ambivalenz des Erzählens Während in A Pale View of Hills die Vermeidung einer bewussten Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Katastrophe inszeniert wird, scheint der Ich-Erzähler in When We Were Orphans (2000) fest entschlossen, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Katastrophe, um die es in diesem Roman geht, ist zunächst einmal ein familiäres Ereignis: Christopher Banks, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Sohn eines Kolonialangestellten in Shanghai geboren wurde, verliert im Alter von zehn Jahren beide Eltern. Sie verschwinden einfach, und Christopher erhält dafür keine Erklärung, nimmt aber an, dass sie entführt wurden. Er wird zurück nach England geschickt, 10

Die therapeutische Bedeutung von Erinnerung ist in der psychologischen Literatur ein wichtiges Thema – so etwa bei Herman: »Remembering and telling the truth about terrible events are prerequisites both for the restoration of the social order and for the healing of individual victims« (Herman, Trauma and Recovery, S. 1).

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wo er in einem Internat aufwächst. Die Handlung des Romans setzt im London der 1930er Jahre ein, wo Christopher am Anfang einer glänzenden Karriere als Privatdetektiv steht. Die Detektivarbeit überträgt er im Folgenden auf sein Privatleben: Im Jahr 1937 kehrt er nach Shanghai zurück, um nach seinen Eltern zu suchen. Dort wird er mit der zweiten Katastrophe des Romans konfrontiert – dem Krieg zwischen Chinesen und Japanern, der die Stadt in ein Schlachtfeld verwandelt. Wie schon A Pale View of Hills zeichnet auch When We Were Orphans ein subtiles Portrait der Psyche eines Menschen, der von traumatischen Ereignissen in seiner Vergangenheit geplagt wird. In diesem Roman bedient sich Ishiguro allerdings in weit größerem Umfang experimenteller Erzähltechniken. Die Zeitstruktur in When We Were Orphans ist noch komplexer als die in Pale View. Der Roman besteht aus sieben Teilen und deckt eine Zeitspanne von etwa 40 Jahren ab. In den ersten beiden Teilen ist die Erzählgegenwart das Jahr 1930. Christopher präsentiert sich als erfolgreicher Privatdetektiv und erinnert sich zunächst an seine berufliche Anfangsphase in den 1920er Jahren, dann an die Zeit nach dem Verschwinden seiner Eltern und schließlich an seine Kindheit in Shanghai. Die nächsten drei Teile spielen zu verschiedenen Zeitpunkten des Jahres 1937, zunächst in London und dann in Shanghai. Der siebte Teil schließlich zeigt Christopher im Jahr 1958. Diese Verschiebung der Erzählgegenwart von Teil zu Teil des Romans ist deswegen relevant, weil sie den Eindruck von einem zeitlich fixierten Standpunkt des Erinnerns auflöst.11 Es gibt in diesem Roman keine ›Gegenwart‹ als stabilen Punkt, von dem aus die Vergangenheit überblickt und bewertet werden könnte, sondern es wird vorgeführt, wie das erinnernde Ich seine Vergangenheit stets wieder neu mit der gegenwärtigen Situation in Einklang bringen muss. Genau wie Etsuko ist auch Christopher Banks der Erzähler seiner eigenen Geschichte. Anders als sie befasst er sich aber geradezu obsessiv mit seiner Vergangenheit, verbringt Zeit im Archiv und ist immer mehr auf die Idee fixiert, dass sein großes Projekt als Detektiv darin bestehen sollte, den ›Fall‹ des Verschwindens seiner Eltern aufzuklären. In einem Spannungsverhältnis zu diesem Bestreben, die Wahrheit über seine Vergangenheit herauszufinden, stehen allerdings solche Aspekte von Christophers Erzählung, die die Leser an seiner Version der Vergangenheit zweifeln lassen. Stutzig macht 11

Auch in Pale View ist dieser Effekt dadurch bereits angelegt, dass die Gegenwartsebene, von der aus sich Etsuko erinnert, selbst schon wieder in der Vergangenheit liegt: Etsuko erzählt von (wenn auch nur eine kurze Weile) zurückliegenden Zeitpunkten, an denen sie sich erinnerte.

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etwa eine Passage gleich zu Anfang des Romans, in der Christopher sich über die beiläufige Bemerkung eines früheren Schulkameraden ärgert, er sei in der Schule ein Außenseiter gewesen: »It has always been a puzzle to me that Osbourne should have said such a thing of me […], since my own memory is that I blended perfectly into English school life.«12 Dass es sich bei Christophers Einschätzung seiner Fähigkeit als Kind, den Verlust seiner Eltern zu verkraften und sich in seiner Umwelt zu behaupten, um eine systematische Selbsttäuschung handelt, wird spätestens in der Szene klar, in der er sich mit dem Colonel unterhält, einem Mann, der ihn als Kind auf seiner Schiffsreise von Shanghai nach England begleitet hat: Gradually, from behind his cheerful anecdotes, there was emerging a picture of myself on that voyage to which I took exception. His repeated insinuation was that I had gone about the ship withdrawn and moody, likely to burst into tears at the slightest thing. [A]ccording to my own, quite clear memory, I adapted very ably to the changed realities of my circumstances. I remember very well that, far from being miserable on that voyage, I was positively excited about life aboard the ship […]. Of course, I did miss my parents at times, but I can remember telling myself there would always be other adults I would come to love and trust. (WO 32, meine Hervorhebungen)

Die Bezüge auf die eigene Erinnerungsfähigkeit sind so überbetont, dass sie eher wie verzweifelte Selbstvergewisserungen wirken, als dass sie zur Glaubwürdigkeit von Christophers Version beitragen würden. Insgesamt plausibler ist die Darstellung des Colonel. Das Bild des kleinen Jungen, der sich ungerührt an die neuen Umstände anpasst, erscheint als retrospektives Wunschdenken. Der Eindruck, dass Christopher versucht, durch Uminterpretationen seiner Vergangenheit mit seinem Verlust fertig zu werden, wird interessanterweise gerade durch das Detektivmotiv des Romans verstärkt. Die Detektivarbeit erscheint nämlich nur auf den ersten Blick als der Versuch, Informationen über die Vergangenheit zusammenzutragen und nach möglichst rationalen und objektiven Kriterien auszuwerten.13 Das wird aus der Beschreibung der Genese von Christophers Wunsch, Detektiv zu werden, klar: 12

13

Kazuo Ishiguro, When We Were Orphans, London 2000, S. 7. Zitate aus dieser Ausgabe (Kürzel WO) werden im Folgenden direkt im Fließtext belegt. Zur Dekonstruktion des klassischen Detektivplots in WO vgl. Tobias Döring, »Sherlock Holmes – He Dead: Disenchanting the English Detective in Kazuo Ishiguro’s When We Were Orphans«, in: Christine Matzke/Susanne Mühleisen (Hrsg.), Postcolonial Postmortems: Crime Fiction from a Transcultural Perspective, Amsterdam 2006. Döring interpretiert den Roman in erster Linie als Beitrag zu einer Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Englands.

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Nach dem Verschwinden seines Vaters beginnt Christopher, mit dem Nachbarjungen Akira ein Spiel zu spielen, bei dem die Jungen als Detektive den Vater finden und aus den Händen seiner Entführer retten. Auf diese Weise schafft Christopher es, seine Angst und Hilflosigkeit zu bewältigen. Er entwickelt einen Phantasieplot, in dem er als gefeierter Held stets die Kontrolle hat. Der Plan des Erwachsenen, den ›Fall‹ seiner Eltern zu lösen, erscheint so als eine Fortsetzung des kindlichen Wunschdenkens und der Selbststilisierung. Dieses Narrativ, das ihm bei der Bewältigung seines Kindheitstraumas helfen soll, beruht allerdings nicht nur auf einer Selbsttäuschung, sondern schneidet ihn zudem immer mehr von einer sinnvollen Kommunikation mit seiner gegenwärtigen Umwelt ab. Das zeigt sich darin, dass die ›Detektivarbeit‹ in den späteren Teilen des Romans alle Versuche Christophers gefährdet, enge zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. So lässt er sowohl seine Adoptivtochter wie auch die einzige Frau, für die er sich im Lauf der Romanhandlung ernsthaft interessiert, im Stich, um seinen ›Fall‹ zu verfolgen. Im vierten bis sechsten Teil des Romans steht die Verselbstständigung des Detektivnarrativs im Mittelpunkt. Diese Teile beschreiben Christophers Reise nach Shanghai. In ihnen gibt es keine Rückblenden mehr. Das bedeutet aber keineswegs, dass das Thema der starken Verklammerung von Gegenwart und Vergangenheit nun in den Hintergrund tritt. Das Gegenteil ist der Fall: In diesen Teilen sind Gegenwart und Vergangenheit gar nicht mehr klar voneinander zu trennen. Während die ersten Teile des Romans noch ganz im Sinne eines psychologischen Realismus gelesen werden können, in denen Widersprüche in der Erzählung als unzuverlässige Erinnerungen oder kleine Selbsttäuschungen Christophers leicht erklärbar sind, erscheinen die Ereignisse in den nächsten drei Teilen immer rätselhafter. In den ersten Teilen macht der Erzähler die Idee, seine Eltern 30 Jahre nach ihrem Verschwinden zu finden und zu retten, noch klar als Kindheitsphantasie kenntlich und weist sie der Vergangenheit zu. Ab dem vierten Teil scheint er dann aber, ohne dass ein Grund dafür genannt würde, völlig eingenommen von diesem Ziel. Mehr noch: Auch alle Menschen um ihn herum sind nun ebenfalls von der Dringlichkeit dieses Projekts überzeugt, ohne dass plausibel würde, weshalb. Es zweifelt auch keiner an der Machbarkeit des Plans; vielmehr sind die Angestellten der örtlichen Verwaltung bereits dabei, eine große Wiedersehensfeier zu organisieren, die der bis aufs Haar gleicht, die Christopher und Akira sich in ihren Phantasiespielen ausgemalt hatten. So verschmelzen der Erzählerdiskurs und die Phantasien, die in den ersten Teilen dem jungen Christopher zugeschrieben wurden. Die Reise nach Shanghai erscheint immer weniger als eine Mission, bei

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der Christopher einem bewussten Plan folgt und die Kontrolle behält. So trifft er sich beispielsweise mit einem Bekannten aus der Schulzeit, der ihn dann zu einer vorher nicht vereinbarten Verabredung mitnimmt. Das Haus, in dem er landet, gehört einer chinesischen Familie, die gerade ein Fest feiert; erst, als Christopher es bereits betreten hat, merkt er, dass es das alte Haus seiner Eltern ist. Die versammelte Familie begrüßt ihn als rechtmäßigen Besitzer und geht davon aus, dass er vorhat, wieder dort einzuziehen, was Christopher zunächst ebenso überrascht wie den Leser: Puzzled as I was, while the young man had been translating his grandmother’s words, I had started to locate some vague recollection concerning some such arrangement regarding the old house and my eventual return to it. But as I say, my memory of it was only a very hazy one, and I sensed that by opening a discussion on the matter I would only embarrass myself. (WO 223)

Die merkwürdig zufällige Art, auf die Christopher an dem für ihn so wichtigen Ort landet, der Mangel an Selbstbestimmung sowie das Gefühl von déjà vu sind wiederkehrende Elemente in den Shanghai-Kapiteln und geben diesen Teilen des Romans einen traumähnlichen Charakter. Die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart kulminiert im sechsten Teil des Romans, in dem Christopher – wiederum eher zufällig – in den Teil der Stadt gerät, der zum Schlachtfeld zwischen Chinesen und Japanern geworden ist. In diesem Teil werden die traumatischen Kindheitserlebnisse vor allem über die Beschreibung des Raums direkt mit der Zerstörung des Krieges in Verbindung gebracht. Das Labyrinth von Behausungen, in denen überall Leichen liegen, erscheint als alptraumhafte Allegorie auf Christophers zerstörte Kindheit: It was all too easy in such circumstances to forget we were passing through what only several weeks before had been the homes of hundreds of people. In fact, I often had the impression we were moving not through a slum district, but some vast, ruined mansion with endless rooms. Even so, every now and then it would occur to me that in among the wreckage beneath our feet lay cherished heirlooms, children’s toys, simple but much-loved items of family life, and I would find myself suddenly overcome with renewed anger towards those who had allowed such a fate to befall so many innocent people. (WO 283f.)

Der Vergleich mit dem »ruined mansion« erinnert an das große Haus seiner Eltern, das in Christophers Erinnerungen eine so große Rolle gespielt hat, und seine Überlegungen zu den Überresten eines glücklichen Familienlebens legen nahe, dass sich seine Wut über die Zerstörung nicht zuletzt gegen die Unbekannten richtet, die für das Auseinanderbrechen seiner eigenen Familie verantwortlich sind. In der Tat steht in diesem Teil weiterhin Christophers private Obsession im Mittelpunkt: Er sucht in dem zerstörten Stadtteil

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nach seinen Eltern, und glaubt in einem japanischen Soldaten, dem er begegnet, seinen Kindheitsfreund Akira zu erkennen.14 In der letzten Szene dieses Teils erreicht Christopher schließlich das Haus, in dem er seine Eltern vermutet, findet dort aber nur die Leichen einer chinesischen Familie und ein kleines Mädchen, das als einzige überlebt hat. Die Hilflosigkeit von Christophers Detektiv›spiel‹ wird überdeutlich, als er versucht, das Mädchen zu trösten: »I swear to you, whoever did all this […] they won’t escape justice. You may not know who I am, but as it happens, I’m … well, I’m just the person you want. […] Don’t you worry. I’ll… I’ll…« I had been fumbling about in my jacket, but now I found my magnifying glass and showed it to her. »Look, you see?« (WO 318f.)

Die Identifikation mit dem Mädchen zeigt, wie sehr sich Christopher noch als verlorener kleiner Junge sieht – seine Reaktion ist der Entführungsphantasie aus der Vergangenheit angemessen, nicht aber dem Kriegsszenario, das hier entworfen wird. Zugleich markiert dieser Dialog den Zusammenbruch der Illusion von Kontrolle, die der Detektivplot dem Protagonisten erlaubt hat. Er ist im Folgenden nicht in der Lage, das Mädchen zu trösten oder ihm zu helfen, sondern unternimmt einen letzten verzweifelten Versuch, seine Eltern zu finden, bei dem er das Haus wie in einem kindlichen Wutanfall komplett auf den Kopf stellt. Der Krieg in Shanghai kann so auf zweierlei Weise mit Christophers Kindheitstrauma in Verbindung gebracht werden. Einerseits spiegeln die Beschreibungen der Zerstörung das subjektive Empfinden Christophers wider, sodass es scheint, als würde er die traumatischen Erfahrungen erneut durchleben. Diese Interpretation des äußeren Geschehens als Spiegel eines inneren Konfliktes ist aber nicht die einzig mögliche. Es gibt in der Szene einige Hinweise auf abweichende Sichtweisen anderer Figuren (z. B. des kleinen Mädchens oder des japanischen Soldaten), die Christopher seiner eigenen unterordnet. Wenn man die Szene als tatsächliche Kriegssituation und nicht als Allegorie auf Christophers Kindheit liest, tritt deutlich zutage, wie ich-zentriert die Hauptfigur ist: Christopher ist nicht in der Lage, aus seinem idiosynkratischen Narrativ auszusteigen und angemessen auf seine Umwelt zu reagieren. Diese Ich-Zentrierung erscheint aber nicht lediglich als eine unsympathische Charaktereigenschaft, sondern als eine Folge der traumatischen Vergangenheit, die sich, ähnlich wie bei Etsuko, weiterhin zerstörerisch auf die Beziehungen des Protagonisten auswirkt. 14

Sim beschreibt Christophers Einstellung seiner Vergangenheit gegenüber als »mummification of childhood« (Wai-chew Sim, Kazuo Ishiguro, London/New York 2010, S. 69).

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Dadurch, dass der Roman in den ersten Teilen Gattungskonventionen der fiktionalen Autobiographie und des Detektivromans aufruft, regt er zunächst dazu an (noch stärker als Pale View), eine alternative Erzählung davon zu entwickeln, ›wie es tatsächlich war‹. Während der Protagonist versucht, sein Selbstnarrativ zu bestätigen, wird der Leser dazu eingeladen, es zu demontieren: die Komponenten von Christophers Selbstbild werden als Klischees entlarvt, die seiner tatsächlichen Situation nicht gerecht werden. Nach der Auflösung dieses Narrativs vom Selbst am Ende des Romans gibt es allerdings kein neues. Im letzten Teil des Romans erscheint Christopher als desillusionierter Mann, dem mit dem Wegfall der Fixierung auf sein Kindheitstrauma auch der Lebenssinn und die Tatkraft abhanden gekommen sind. Die Katastrophe seiner Kindheit hat sein Leben nicht nur aus der Bahn geworfen, sondern ihm danach auch einen festen Rahmen gegeben. Die Katastrophe der Konfrontation mit der Zerstörung seiner Kindheit löst diesen Rahmen schließlich wieder auf. Die Ironie des Schlusses von When We Were Orphans ist, dass das Trauma in gewisser Weise selbst als identitätsstiftend erscheint.15

Schluss In Ishiguros Romanen wird die widersprüchliche Rolle deutlich, die das Erzählen für die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse haben kann. Die Protagonisten bemühen sich, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, indem sie diese in eine kohärente Geschichte integrieren – A Pale View of Hills zeigt einen Fall, in dem die Erzählerin zwischen dem Wunsch nach Offenlegen und dem nach Verdrängung hin- und hergerissen ist und ihre Erinnerungen nur in verschlüsselter Form ertragen kann. Dass ein solches Erzählen für sich genommen bereits therapeutische Effekte hat, wird von beiden Romanen infrage gestellt. Besonders in When We Were Orphans ist das kohärente Erzählen eng mit Illusion verbunden, während die Realität als ungereimt erscheint. Die Auflösung der Illusion ist ein schmerzhafter Prozess, an dessen Ende unklar bleibt, ob der Protagonist ein neues Rollenverständnis aus seiner Geschichte ableiten kann. 15

Der Therapieforscher Donald Spence beschreibt am Beispiel von Erzählungen über Ufo-Entführungen eine ähnliche stabilisierende Form illusionärer Lebenserzählungen, die es Menschen ermöglichen, einen »eindimensionale[n], zielstrebige[n] Erzählfaden« zu entwickeln, um mit der Vielfalt der Identitätsangebote in der Lebenswelt des späten 20. Jahrhunderts zurechtzukommen (Donald Spence, »Das Leben rekonstruieren. Geschichten eines unzuverlässigen Erzählers«, in: Jürgen Straub (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, Frankfurt 1998, S. 204).

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Beide Romane fordern ihre Leserschaft dazu auf, die Versionen der Erzähler zu hinterfragen und so Alternativerzählungen zu entwickeln. Wir werden zudem dazu angeregt, die Figuren psychologisch zu durchleuchten und Brüche oder Widersprüche als Folgen von Verdrängung zu interpretieren.16 Entscheidend für diese Art der Leseraktivierung ist eine Kombination aus Bezügen auf klassische Erzählmuster und Abweichungen davon. Damit vollziehen die Leser eine ähnliche Bewegung wie die Figuren, müssen aber feststellen, dass sich die Romane letztendlich einer eindeutigen Festlegung entziehen. Die enge Verbindung, die für die Figuren zwischen Erzählen und Erinnern besteht, wird durch die unzuverlässigen Ich-Erzähler nicht nur als Prozess dargestellt, sondern auch problematisiert, wie sich gerade an der Inszenierung des exzessiven Erzählens in When We Were Orphans deutlich zeigt. Es entsteht der Eindruck, dass die Figuren nicht lediglich berichten, was passiert ist oder gerade geschieht, sondern im Akt des Erzählens ihre Geschichten stets neu konfigurieren und an derzeitige Bedürfnisse und Umstände anpassen.

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Ausführlicher zu psychoanalytischen Lesarten von Ishiguros Romanen vgl. Brian Shaffer, Understanding Kazuo Ishiguro, Columbia, South Carolina 1998.

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Ursula Hennigfeld (Osnabrück)

Der Augenzeuge und das Unsagbare Narrative der Shoah in 9/11-Romanen

Eine der zentralen Thesen des vorliegenden Sammelbandes lautet, dass menschengemachte Katastrophen die sozialen Rahmenbedingungen des kollektiven Gedächtnisses zerstören. Auch das Wissen über die Vergangenheit und die Möglichkeit, überhaupt zu kommunizieren, wird zerstört. Dennoch unternimmt die Literatur offenbar immer wieder den paradoxen Versuch, vom Unvorstellbaren, Undarstellbaren und Unsagbaren Zeugnis abzulegen. Der Pflicht, Zeugnis abzulegen und damit für die Toten zu sprechen, steht die als unmöglich empfundene Repräsentation entgegen. Die Shoah gilt als das Ereignis schlechthin, das die Vorstellungskraft übersteigt und die Möglichkeit sprachlicher Kommunikation radikal infrage stellt. Mit dem 11. September 2001 scheint die Welt abermals mit einem Ereignis von weltpolitischer Dimension konfrontiert zu sein, das eine radikale Zäsur bedeutet – ob real oder medial inszeniert, darüber gibt es divergierende Meinungen.1 Diese Frage soll jedoch nicht im Zentrum meiner Überlegungen stehen. Vielmehr scheint mir die Fülle von Romanen, die sich nach dem 11. September 2001 mit den Anschlägen und dem Phänomen des Terrorismus beschäftigt, die Frage nach der Funktion der Literatur angesichts kultureller Krisen erneut aufzuwerfen. Wie ich im Folgenden zeigen werde, arbeiten sich diese Romane an der Frage ab, wie das Unvorstellbare in sinnstiftende Zusammenhänge überführt und das Unsagbare literarisch gestaltet werden kann. Dazu rekurrieren die Texte immer wieder auf andere menschengemachte Katastrophen (wie z. B. Hiroshima, Ermordung der amerikanischen Ureinwohner, Terror der Französischen Revolution); besonders 1

Der Frage, ob 9/11 eine Zäsur darstellt, gehen etwa die folgenden Sammelbände nach: Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hrsg.), Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung, Köln 2010; Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hrsg.), 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Köln 2009; Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen (Hrsg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, Heidelberg 2008; Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, Würzburg 2004.

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häufig rekurrieren sie auf die Shoah. Auch wenn die Termini ›Unsagbarkeit‹ und ›Undarstellbarkeit‹ nach Baer längst zu Klischees abgewertet sind, erleben sie in Romanen über Terror und 9/11 eine Renaissance.2 Die literarischen Texte über den 11. September 2001 und seine Auswirkungen folgen aber auch tradierten Mustern des Erzählens.3 Meine These lautet, dass die literarische Auseinandersetzung mit 9/11 einerseits auf Narrative der Shoah zurückgreift, andererseits die Wahrnehmung der Shoah dadurch verändert.4 Im Folgenden soll zunächst die Diskussion über Unsagbarkeit, Unvorstellbarkeit und Undarstellbarkeit der Shoah zusammengefasst werden. Daran anschließend werde ich anhand exemplarischer Texte darstellen, wie 9/11-Romane diese Topoi aufgreifen.5

I.

Die Shoah als Paradigma des Unsagbaren

Die entscheidende Frage einer Auseinandersetzung mit dem Unsagbaren lautet: Kann »das mit Wörtern Aussagbare die Erfahrungswirklichkeit wiedergeben«?6 Wird diese Frage verneint, dann liegt ein radikaler Skeptizismus nahe, der in letzter Konsequenz zum Verstummen führt. Dem widersetzt 2

3

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Ulrich Baer, »Einleitung«, in: ders. (Hrsg.), ›Niemand zeugt für den Zeugen‹. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a.M. 2000, S. 7–31, hier S. 12. Wie Thomas Klinkert anhand von Georges Perec und Patrick Modiano gezeigt hat, soll die literarische Fiktion die Lücke der Darstellbarkeit schließen und eine Geschichte erzählen, die eigentlich nicht erzählbar ist. Vgl. Thomas Klinkert, »Das Schreiben des Nicht-Erlebten: Georges Perec und Patrick Modiano«, in: Silke Segler-Messner/Peter Kuon/Monika Neuhofer (Hrsg.), Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt a.M. 2006, S. 321–335. Zur Frage, wie sich die Erinnerung an die Shoah verändert, vgl. etwa Enzo Traverso, Le passé, mode d’emploi. Histoire, mémoire, politique, Paris 2005; Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007; Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2007; Pier Vincenzo Mengaldo, La vendetta è il racconto. Testimonianze e riflessioni sulla Shoah, Torino 2007. Zur Klassifikation von amerikanischen 9/11-Romanen vgl. Birgit Däwes, »›The Obliging Imagination Set Free‹: Repräsentationen der Krise – Krise der Repräsentation in der U.S.-amerikanischen 9/11 novel«, in: Irsigler/Jürgensen (Hrsg.), Nine eleven, S. 67–87. – Im Folgenden werden sowohl Romane behandelt, die ausschließlich um 9/11 kreisen, als auch solche, die Terror im weiteren Sinne und die Auswirkungen von 9/11 thematisieren. Johann Kreuzer, »Unsagbare, das«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel von Schwabe (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 2001, Bd. 11, Sp. 257.

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sich die Literatur, indem sie sich mit Worten dem Unsagbaren, das die menschliche Vorstellungskraft übersteigt, zu nähern versucht. So thematisieren fast alle KZ-Überlebenden in ihren Berichten oder autofiktionalen Romanen das Problem der Sagbarkeit und der Zeugenschaft. Einige Beispiele sollen dies illustrieren. Primo Levi vertritt die These, dass nicht die Überlebenden die wirklichen Zeugen seien. Sie hätten den tiefsten Grund des Abgrunds nicht berührt, hätten die Gorgo Medusa nicht erblickt.7 Die wahren Zeugen seien tot oder verstummt. In I sommersi e i salvati schreibt er: »Siamo stati capaci, noi reduci, di comprendere e di far comprendere la nostra esperienza? […] Siamo insomma costretti a ridurre il conoscibile a schema«.8 Dennoch gilt: »[…] comunicare si può e si deve […]. Negare che comunicare si può è falso: si può sempre. Rifiutare di comunicare è colpa«.9 Doch wie sollte diese Kommunikation aussehen? Welchen Schemata sollte man in der Darstellung folgen? Levi selbst wählt etwa den Mythos der Medusa oder Dantes Divina Commedia, um sich dem Unsagbaren anzunähern. Für den Buchenwald-Überlebenden Robert Antelme liegt die grundlegende Schwierigkeit darin, dass das Erlebte die Vorstellungskraft übersteigt. Selbst für Überlebende ist das Erlebte im Nachhinein unvorstellbar.10 Die Kluft zwischen verfügbarer Sprache und dem Erlebten scheint unüberwindlich, auch wenn der Körper des Überlebenden noch immer die Spuren des Erlittenen aufweist: Et dès les premiers jours cependant, il nous paraissait impossible de combler la distance que nous découvrions entre le langage dont nous disposions et cette expérience que, pour la plupart, nous étions encore en train de poursuivre dans notre corps. Comment nous résigner à ne pas tenter d’expliquer comment nous en étions venus là? Nous y étions encore. Et cependant c’était impossible. A peine commencions-nous à raconter, que nous suffoquions. A nous-mêmes, ce que nous avions à dire commençait alors à nous paraître »inimaginable«. Cette disproportion entre l’expérience que nous avions vécue et le récit qu’il était possible d’en faire ne fit que se confirmer par la suite. Nous avions donc bien 7

8 9 10

»Lo ripeto, non siamo noi, i superstiti, i testimoni veri. […] Noi sopravvissuti siamo una minoranza anomala oltre che esigua: siamo quelli che, per loro prevaricazione o abilità o fortuna, non hanno toccato il fondo. Chi lo ha fatto, chi a visto la Gorgone, non è tornato per raccontare, o è tornato muto […]«. Primo Levi, I sommersi e i salvati, Torino 1986, S. 64. Ebd., S. 24. Ebd., S. 68f. Hannah Arendt hat in diesem Zusammenhang vom »Odium der Unglaubwürdigkeit« gesprochen, das der KZ-Literatur anhafte. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1958, S. 646.

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à faire à l’une de ces réalités qui font dire qu’elles dépassent l’imagination. Il était clair désormais que c’était seulement par le choix, c’est-à-dire encore par l’imagination que nous pouvions essayer d’en dire quelque chose.11

Das Zeugnis ist unmöglich (impossible), weil das Erlebte unvorstellbar (inimaginable) bleibt. Zwischen Erlebtem (expérience) und Erzählung (récit) scheint ein unüberwindlicher Hiat zu klaffen. Dennoch bedarf es der Vorstellungskraft oder Phantasie (imagination), um überhaupt kommunizieren zu können. Literatur kann so als Arbeit gegen das Vergessen, Verdrängen und Verstummen verstanden werden. Jorge Semprún, ebenfalls Buchenwald-Überlebender, vertritt eine andere Position. Seiner Ansicht nach ist das Zeugnis weder sprachlich unmöglich noch unvorstellbar. Das Problem besteht vielmehr auf Seiten der Zuhörer. So schreibt er in seinem autofiktionalen Roman L’écriture ou la vie: »Le vrai problème n’est pas de raconter, quelles qu’en soient les difficultés. C’est d’écouter… Voudra-t-on écouter nos histoires, même si elles sont bien racontées?«12 Offensichtlich gilt dies besonders in der ersten Zeit nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager: »Mais qui aura été disponible, autour de nous, en ces temps-là du retour, à une écoute inlassable et mortelle des voix de la mort?«13 Semprún weist stattdessen auf die besondere Bedeutung der Fiktion hin, wenn es darum geht, traumatische Erlebnisse zu kommunizieren: »la réalité a souvent besoin d’invention, pour devenir vraie. C’està-dire vraisemblable. Pour emporter la conviction, l’émotion du lecteur«.14 Nur im Medium der Fiktion sei das, was er »vérité essentielle« nennt, überhaupt zu vermitteln.15 Es geht dabei offensichtlich nicht nur darum, den Leser zu überzeugen (emporter la conviction), sondern ihn auch emotional zu berühren (emporter l’émotion du lecteur). Mitgefühl scheint somit notwendig, um überhaupt in einen Dialog mit dem Zeugen eintreten zu können. Ulrich Baer

11 12 13 14 15

Robert Antelme, L’espèce humaine, Paris 1947, Avant-propos. Jorge Semprún, L’écriture ou la vie, Paris 1994, S. 165. Ebd., S. 207. Ebd., S. 336f. »J’imagine qu’il y aura quantité de témoignages… Ils vaudront ce que vaudra le regard du témoin, son acuité, sa perspicacité… Et puis il y aura des documents… Plus tard, les historiens recueilleront, rassembleront, analyseront les uns et les autres: ils en feront des ouvrages savants… Tout y sera dit, consigné… Tout y sera vrai… sauf qu’il manquera l’essentielle vérité, à laquelle aucune reconstruction historique ne pourra jamais atteindre, pour parfaite et omnicompréhensive qu’elle soit… […] L’autre genre de compréhension, la vérité essentielle de l’expérience, n’est pas transmissible… Ou plutôt, elle ne l’est que par l’écriture littéraire…«. Semprun, L’écriture ou la vie, S. 167.

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spricht in diesem Zusammenhang von der »sekundären Zeugenschaft« desjenigen, der den Bericht des Augenzeugen anhört.16 Was aber kennzeichnet den Augenzeugen? Luba Jurgenson betont, dass die Erfahrung des Konzentrationslagers in den Körper des Überlebenden eingeschrieben ist. Er ist gewissermaßen ein »corps-mémoire«.17 In dem Sammelband Niemand zeugt für den Zeugen, dessen Titel einem Gedicht von Paul Celan entnommen ist, wird ›Zeuge‹ (und gemeint ist ›Augenzeuge‹) folgendermaßen definiert: Ein Zeuge, in Celans Gedicht und allgemein, steht ein für etwas anderes: für das Eingedenken des Schicksals anderer und für Geschehen, die sonst dem Vergessen oder Verdrängen preisgegeben sind. Zeugnis ablegen bedeutet, die eigene Person für die Wahrheit der Geschichte einzusetzen und das eigene Wort zum Bezugspunkt einer umstrittenen oder unbekannten Realität zu bestimmen, die man selbst erfahren oder beobachtet hat. Celan erinnert uns zunächst an die radikale Isolierung und absolute Singularität des Zeugen.18

Der Augenzeuge ist also ein Wiedergänger, für immer vom Erlebten gezeichnet und daher von anderen Menschen verschieden. Man kann aber auch fragen, ob es überhaupt Zeugen der Shoah gibt. Maurice Blanchot hat die Shoah als Ereignis ohne Zeugen bezeichnet, da sie die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen, grundsätzlich verneint. Im Grunde könne nur die Unmöglichkeit des Zeugnisses bezeugt werden.19 Giorgio Agamben nennt die Shoah ein Ereignis ohne Zeugen im doppelten Sinne: Es ist ebenso unmöglich, von innen her davon Zeugnis abzulegen – denn es ist nicht möglich, aus dem Inneren des Todes Zeugnis abzulegen, es gibt keine Stimme für das Verschwinden der Stimme – wie von außen her –, denn der outsider ist per definitionem vom Ereignis ausgeschlossen.20

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»Damit die Wahrheit der extrem traumatischen Erfahrungen ans Licht gelangt, benötigen Augenzeugen eine Art der Zuhörerschaft, die sich als sekundäre Zeugenschaft als Zeugenschaft durch Vorstellungskraft oder als ›Zeugenschaft der Erinnerung‹ verstehen lässt.« Baer, ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 11. Luba Jurgenson, L’expérience concentrationnaire est-elle indicible?, Paris 2003, S. 70. Baer, ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 7. »Maurice Blanchot hat den Holocaust als ›Ereignis ohne Zeugen‹ bezeichnet: als eine Krise der Zeugenschaft, die individuelle und kollektive Verhaltensweisen bis in die Gegenwart bestimmt, da das geschichtliche Ereignis die Möglichkeit der Zeugenschaft radikal in Frage stellt.« Baer, ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 12. Giorgo Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M. 2003, S. 31. – Auch Shoshana Felman nennt die Shoah das unbezeugte Ereignis. Anhand von Claude Lanzmanns Shoah führt sie aus, dass sich die Shoah »unvorstellbar als ein Ereignis ohne Zeugen entwickelt, ein Ereignis, das, historisch betrachtet, aus der Planung der buchstäblichen Auslöschung seiner Zeugen besteht […]; ein

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Er vertritt zwar mit Nachdruck die These, dass die Shoah ein singuläres Ereignis ist. Dennoch sei die Shoah sagbar.21 Diese Diskussion steht im Zentrum von Jean-François Lyotards Überlegungen zum différend.22 Ausgehend von Aussagen des Holocaust-Leugners Faurisson legt Lyotard dar, dass das grundlegende Problem darin besteht, dass man als Toter nicht den eigenen Tod in der Gaskammer bezeugen kann. Der Widerstreit besteht nun darin, dass das Opfer der Shoah nicht nachweisen kann, dass es Unrecht erlitten hat. Der Kläger sei seiner Beweismittel beraubt und werde dadurch zum Opfer. Die zur Beweisführung nötigen Dokumente wurden nämlich weitgehend vernichtet: »L’anéantissement de la réalité des chambres à gaz est conforme à l’anéantissement de la réalité du référent dans les procédures de vérification.«23 Die Funktion der Literatur sieht Lyotard darin, diesen Widerstreit zu benennen.24

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Ereignis also, das zwar nicht empirisch, aber kognitiv unter dem Aspekt seiner Wahrnehmung ohne Zeugen bleibt, weil es sowohl das Sehen als auch die Möglichkeit einer Gemeinschaftlichkeit des Sehens ausschließt«. Shoshana Felman, »Im Zeitalter der Zeugenschaft: Claude Lanzmanns Shoah«, in: Baer, ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 173–193, hier S. 181. »Deswegen sollten diejenigen, die heute auf der Unsagbarkeit von Auschwitz insistieren, mit ihren Behauptungen vorsichtiger sein. Wenn sie damit sagen wollen, daß Auschwitz ein singuläres Ereignis war, angesichts dessen der Zeuge gewissermaßen jedes seiner Worte der Probe einer Unmöglichkeit zu sagen unterziehen muß, dann haben sie recht. Doch wenn sie Singularität mit Unsagbarkeit verbinden und aus Auschwitz eine absolut von der Sprache getrennte Realität machen, wenn sie im Muselmann die das Zeugnis konstituierende Relation zwischen der Unmöglichkeit und der Möglichkeit zu sagen durchtrennen, dann wiederholen sie unbewußt die Geste der Nationalsozialisten, sind sie insgeheim solidarisch mit dem arcanum imperii.« Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 137. – Slavoj Zˇiˇzek kritisiert Agambens Ausführungen und stellt die Frage, ob nicht jedem Verbrechen, auch dem individuellen Verbrechen, grundsätzlich etwas Unerklärliches anhafte. Vgl. Slavoj Zˇiˇzek, Welcome to the Desert of the Real! Five Essays on September 11 and Related Dates, London 2002, S. 137. Seiner Ansicht nach ist es unmöglich, den Horror von Auschwitz zu bezeugen. Aber diese Unmöglichkeit des Zeugnisses sei im Überlebenden verkörpert. Agamben verstelle mit seinen Thesen den Blick für eine konkrete Analyse der historischen Singularität der Shoah. Vgl. Jean-François Lyotard, Le différend, Paris 1983. – Zum Topos der Undarstellbarkeit bei Lyotard vgl. Sabine Sander, Der Topos der Undarstellbarkeit. Ästhetische Positionen nach Adorno und Lyotard, Erlangen 2008. Lyotard, Le différend, S. 56. Siguan vertritt eine ähnliche These, dass die Sprache der Literatur nicht dazu diene, die Wirklichkeit der Konzentrationslager zu beschreiben, sondern Kommunikation zu schaffen. Marisa Siguan, »Schreiben als Ichkonstruktion: die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi«, in: Ibero-amerikanisches Jahrbuch für Germanistik 1, Berlin 2007, S. 95. Die Auseinandersetzung mit der Tra-

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Liegt das Problem nun aber auf Seiten des Zeugen (Antelme) oder des Zuhörers (Semprún)? Jacques Rancière eröffnet im fünften Kapitel von Le destin des images, das S’il y a de l’irreprésentable betitelt ist, eine dritte Position. Seiner Ansicht nach liegt das Problem in der Sprache selbst begründet. Er untersucht, unter welchen Umständen bestimmte Ereignisse als undarstellbar gelten und unter welchen Umständen man diesem Undarstellbaren eine spezifische konzeptuelle Figur zuordnen kann.25 Als paradigmatisches Beispiel für die Repräsentation des Undarstellbaren und Unmenschlichen nennt er die Konzentrations- und Vernichtungslager. Er zitiert dazu den bereits erwähnten Text L’espèce humaine von Robert Antelme. Die Erfahrung von Antelme sei keineswegs in dem Sinne undarstellbar, dass die Sprache, die die Erfahrung wiedergeben sollte, nicht existierte. Die Sprache und die Syntax existierten, aber das Problem bestehe darin, dass sie dem Erlebten nicht zu eigen seien. Die Entmenschlichung und das Unmenschliche müssen in derselben Sprache ausgedrückt werden, die auch das Menschliche beschreibt. Daher gilt: Cette expérience extrême de l’inhumain ne connaît ni impossibilité de représentation ni langue propre. Il n’y a pas de langue propre du témoignage. Là où le témoignage doit exprimer l’expérience de l’inhumain, il retrouve naturellement un langage déjà constitué du devenir inhumain, de l’identité entre sentiments humains et mouvements inhumains. C’est le langage même par lequel la fiction esthétique s’est opposée à la fiction représentative. Et l’on pourrait dire, à la rigueur, que l’irreprésentable gît précisément là, dans cette impossibilité pour une expérience de se dire dans sa langue propre.26

Das Undarstellbare besteht demnach in der Unmöglichkeit einer eigenen Sprache. Auch das Unmenschliche drückt sich in derselben Sprache aus wie das Menschliche.27

25 26

27

dition, dem schon Gesagten, biete die Möglichkeit, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Jacques Rancière, Le destin des images, Paris 2003, S. 125. Ebd., S. 142. – Jurgenson zufolge verabschiedet sich die KZ-Literatur jedoch von traditionellen literarischen Darstellungsweisen und entwickelt eine eigene Ästhetik. Jurgenson, L’expérience concentrationnaire est-elle indicible?, S. 371. So hat Jorge Semprún beispielsweise immer wieder darauf hingewiesen, dass das Deutsche für ihn sowohl die Sprache der Nationalsozialisten als auch die Sprache der Literatur und Philosophie ist. Zu seinem ambivalenten Verhältnis zur deutschen Sprache vgl. Ursula Hennigfeld, »›Wovon man nicht sprechen kann‹: Sprache der Macht und Macht der Sprache. Jorge Semprúns Buchenwald-Tetralogie«, in: Peter Saeverin (Hrsg.), Europäische Geschichtsdarstellungen – Diskussionspapiere. Interdisziplinäre Arbeiten zu Historiographie, Geschichtserzählungen und -konstruktionen von der An-

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II. Die Unvergleichbarkeit der Shoah In seiner Untersuchung zur Ordnung des Terrors im Konzentrationslager weist Wolfgang Sofsky auf die Schwierigkeit hin, mit der man konfrontiert wird, wenn man Terror im 20. Jahrhundert untersucht und allgemeingültige Merkmale von Terror extrapolieren möchte: Jeder Versuch einer theoretisch angeleiteten Untersuchung trifft auf zwei Vorbehalte: den Topos von der prinzipiellen Unverstehbarkeit und die Vorstellung von der Unvergleichbarkeit der Verbrechen, für die der Name Auschwitz steht. Beide Thesen sind in politischen Debatten geläufig und in ihrer Abwehrfunktion unschwer durchschaubar. Sie dienen zur Rechtfertigung einer Wahrnehmungssperre. Denn indem man etwas als unbegreifbar bezeichnet, entgeht man der Notwendigkeit, das ganze Grauen mit all seinen Einzelheiten wahrnehmen zu müssen. Von anderem Gewicht ist die Äußerung jedoch, sofern sie von den Überlebenden stammt. Sie mahnt die Nachgeborenen, das Leiden und Sterben der Opfer nicht achtlos mit bekannten Vorstellungen gleichzusetzen. Es soll warnen, aber nicht abwehren.28

Terror, so die Analyse Sofskys, braucht keine äußere Rechtfertigung, sondern basiert auf Angst, die der Terror fortwährend selbst erzeugt. Der Rekurs auf die Ideologie sei eine Fehldeutung post festum, gespeist von dem Irrglauben, dass es für alles eine intellektuelle Begründung, einen historischen Sinn geben müsse.29 Angst ist somit das entscheidende Element, das sich der Sinnstiftung widersetzt. Die verheerenden Auswirkungen des Terrors bestehen nach Sofsky darin, dass die Conditio humana selbst zerstört wird. Der Weltbezug des Menschen, seine Beziehung zu anderen Menschen und zu sich selbst wird vernichtet. Die von Sofsky kritisierte Wahrnehmungssperre und Unvergleichbarkeit der Shoah scheint – mitunter auf äußerst problematische Weise – mit 9/11 gefallen zu sein. Slavoj Zˇiˇzek zufolge ist der Vergleich von 9/11 und Shoah sogar blasphemisch. Die zwei entscheidenden Unterschiede (und damit vergleicht natürlich auch er beide Ereignisse) seien: 1. Die Attentäter vom 11. September hätten ihren eigenen Tod in Kauf genommen, die Nazis hingegen nicht. 2. Die Nazis hätten ihre Verbrechen vor den Augen der Welt zu verbergen gesucht, die Attentäter suchten aber gerade das mediale Spektakel.30 – Wie in Romanen, die sich mit 9/11 beschäftigen, auf die Shoah rekurriert

28

29 30

tike bis zur Gegenwart, Jahrgang 3/2006, Heft 4, abrufbar unter http://docserv. uni-duesseldorf.de/servlets/DocumentServlet?id=833 (Stand: 11. 03. 2013). Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 62008, S. 17. Ebd., S. 33. Zˇiˇzek, Welcome to the Desert of the Real!, S. 136.

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wird und welche Rolle mythische Bilder (z. B. die Gorgo Medusa) und der Topos der Unsagbarkeit spielen, soll im Folgenden anhand exemplarischer Texte erläutert werden.

III. 9/11 als unsagbares, undarstellbares und unvorstellbares Ereignis In 9/11-Romanen wird immer wieder betont, dass es im Grunde unmöglich sei, über das Ereignis zu sprechen oder darüber zu schreiben. In Antonio Muñoz Molinas Ventanas de Manhattan, einem Text, der zwischen den Genres Reisebericht, Tagebuch und Roman schwankt, werden die medial vermittelten Attentate als »inconcebible« und »increíble« bezeichnet: Ahora, sin embargo, en esta mañana de martes, en la pantalla del televisor, el choque de los aviones, el fuego y la caída lenta de las torres, las voces de los locutores alteradas por el desconcierto y el pánico, son un hecho absoluto, un trastorno inconcebible del orden natural de las cosas, y quizás también el principio de algo más atroz que podrá sobrevenir de un momento a otro, acumulándose sobre lo ya increíble, rompiendo de nuevo los límites de lo que la conciencia puede aceptar […].31

In Juan Manuel de Pradas Roman La vida invisible werden Worte wie »incredulidad«, »incapaz«, »ininteligible« usw. verwendet, um die Attentate auf die Twin Towers zu beschreiben. Ebenso wie bei Muñoz Molina wird auch hier der Schrecken medial (durch das Fernsehen) vermittelt: Las palabras de Laura, como una jaculatoria de incredulidad, se fundían con las del locutor televisivo, incapaz de glosar con coherencia aquella epifanía del caos. […] No llegamos a apiadarnos del muerto, cuyos rasgos no hemos podido atisbar, pero el horror que su muerte suscita es más vívido, más ininteligible también, porque no admite una traducción inmediata en sentimiento y se queda enquistado para siempre, como un mineral de espanto, en nuestra memoria. El mito de la Gorgona, que petrificaba a quienes osaban mirarla, se reencarnaba en la pantalla del televisor, convertida por un día en un ojo sin párpado que repartía por cada casa el horror de la hecatombe.32

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Antonio Muñoz Molina, Ventanas de Manhattan, Barcelona 2004, S. 81. – Wenn Muñoz Molina die Anschläge vom 11. September als hecho absoluto bezeichnet, greift er die Thesen von Jean Baudrillard auf, der den 11. September als mère des événements bezeichnet. Vgl. Jean Baudrillard, L’esprit du terrorisme, Paris 2002. Juan Manuel de Prada, La vida invisible, Madrid 2007, S. 22. – Zu 9/11 in spanischen Romanen vgl. Ursula Hennigfeld, »Zäsur oder Wiederkehr des Immergleichen? 11-S in spanischen Romanen der Gegenwart«, in: Schüller/Seiler (Hrsg.), Von Zäsuren und Ereignissen, S. 177–197.

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Während bei Primo Levi nicht die Überlebenden, sondern nur die im KZ Gestorbenen das Antlitz der Medusa, also das absolute Grauen, erblickt haben, wird in 9/11-Romanen der Fernsehbildschirm zur neuen Gorgo Medusa, die Millionen von Zeugen versteinert. Bereits hier deutet sich an, dass körperliche Präsenz offenbar kein exklusives Merkmal für Zeugenschaft mehr darstellt. Der Augenzeuge ist nicht mehr nur der, dessen Leben selbst in Gefahr ist, sondern auch derjenige, der die Bilder aus sicherer Distanz im Fernsehen verfolgt. Luc Lang betont in seinem Roman 11 septembre mon amour die Mischung aus Faszination und Grauen, die der Zuschauer der Anschläge empfindet. Auch er wählt das Bild der Medusa, um zu beschreiben, wie der Zuschauer von den zugleich grausamen und faszinierenden Bildern gebannt wird.33 Der Erzähler des Romans sieht die Bilder der Anschläge während einer Rundreise durch die USA. Als er zum Abschluss seiner Reise ein befreundetes Ehepaar besucht, stellt er fest, dass das Ereignis 11. September, das er nicht mit den Freunden gemeinsam erlebt hat, ihn von seinen Freunden distanziert. Auch hier ist wieder von »indicible« und »invisible« die Rede: »il y a cette indicible sensation que ce n’est pas l’absence de mon voyage qui nous a éloignés les uns de l’autre une petite semaine durant, mais quelque chose de grave qu’on a vécu séparément, et qui marque la frontière invisible d’un avant et d’un après.«34 Der 11. September wird im Laufe des Romans anhand von Wörtern wie »inédit«, »immémorial«, »incompréhensible«, »interdits de comprendre«, »inconcevable«, »inexpugnable« usw. vergegenwärtigt.35 Serge Joncour beschreibt in Que la paix soit avec vous den 11. September wie einen Katastrophenfilm, der unwahrscheinlich und unvorstellbar zugleich ist.36 Die Situation wird einige Kapitel später in einer Art Merksatz folgendermaßen zusammengefasst: »Les morts se taisent, les vivants ne veulent pas entendre et les survivants ne peuvent pas parler.«37 Der Erzähler schildert, 33

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»Comme l’aveu d’une absolue fascination pour un drame humain qui a l’amplitude d’un séisme naturel, sans acteurs, sans maquettes, ni effets spéciaux, enfin dans la réalité vraie qui confère à ces images un abyssal pouvoir d’hypnose.« Luc Lang, 11 septembre mon amour, Paris 2003, S. 101 und »Notre temps intime trouve maintenant son pouls dans une succession d’images qui ont le divin pouvoir de nous tenir indéfiniment médusés«. Ebd., S. 111. Ebd., S. 163. Ebd., S. 18, 98, 103, 108, 236. Serge Joncour, Que la paix soit avec vous, Paris 2006, S. 11f. Ebd., S. 32. – Damit greift auch er eine Debatte um die Zeugenschaft der Shoah auf, die Elie Wiesel in einem Gespräch mit Jorge Semprún auf die Formel »Se taire est interdit, parler est impossible« gebracht hat. Vgl. Jorge Semprún/Elie Wiesel, Se taire est impossible, Paris 1995, S. 17.

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wie er den 11. September 2001 in einem Einkaufszentrum im Fernsehen verfolgte. Er sei »hypnotisé, tétanisé d’invraisemblance« gewesen; die Worte, die zur Schilderung des Erlebten verwendet werden, sind »invraisemblable«, »invraisemblance« und »incrédulité«.38 An das Problem der Mitteilbarkeit und der Beschreibung des eigentlich Unbeschreiblichen knüpft auch Frédéric Beigbeder an, wenn er seinen 9/11-Roman Windows on the World als »une tentative – peut-être vouée à l’échec – de décrire l’indescriptible« bezeichnet.39 Gegen Ende des Romans heißt es: »À partir d’ici, on pénètre dans l’indicible, l’inracontable. Veuillez nous excuser pour l’abus d’ellipses. J’ai coupé des descriptions insoutenables.«40 Die Beispiele machen deutlich, dass eine Annäherung an das Unvorstellbare offenbar nur ex negativo möglich ist. Der Topos der unmöglichen Kommunizierbarkeit der Anschläge vom 11. September 2001 wird auch über intertextuelle und intermediale Verweise aufgerufen: Primo Levi wird in mehreren 9/11-Romanen explizit genannt; seine Romane werden als markierte wie unmarkierte Intertexte verwendet.41 Ricardo Menéndez Salmón verwendet in seinem Roman El corrector, der die Anschläge von New York und die Madrider Anschläge vom 11. März 2004 zum Thema hat, Thomas Bernhards Romane Korrektur und Auslöschung als markierte Intertexte und verweist damit auf die Shoah. Außerdem greift er Adorno und die Debatte um Lyrik nach Auschwitz auf.42 Frédéric Beigbeder zitiert Alain Resnais’ frühe filmische Auseinandersetzung mit der Shoah, Nuit et brouillard, sowie Lanzmanns Shoah oder Benignis La vita è bella.43

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42 43

Joncour, Que la paix soit avec vous, S. 128f. Frédéric Beigbeder, Windows on the World, Paris 2003, S. 76. Ebd., S. 331. Als unmarkierter Intertext erscheint Primo Levis Se questo è un uomo etwa bei Didier Goupil, Le jour de mon retour sur terre, Paris 2003, S. 36. – In Philip Roths Exit Ghost erkennt Amy den grundsätzlichen Zusammenhang von Tod und Schreiben und verweist auf Primo Levi: »Als Primo Levi sich umgebracht hat, haben alle gesagt, er hätte es getan, weil er in Auschwitz gewesen war. Ich glaube aber, er hat es getan, weil er über Auschwitz geschrieben hat.« Und sicherheitshalber lässt Roth die alte Dame noch hinzufügen, dass das fragliche Buch Die Untergegangenen und die Geretteten heißt. Philip Roth, Exit Ghost, deutsch von Dirk van Gunsteren, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 162. Vgl. Ricardo Menéndez Salmón, El corrector, Barcelona 2009. Beigbeder, Windows on the World.

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IV. Der Augenzeuge in 9/11-Romanen Dem Augenzeugen kommt auch in 9/11-Romanen besondere Bedeutung zu. Etliche Romane schildern, wie Menschen aus den brennenden Türmen entkommen können. Es sind Versuche, ein Zeugnis aus dem Inneren des Grauens zu imaginieren und den Zeugen überleben zu lassen. Beispielhaft lässt sich dies anhand einer Passage aus dem 9/11-Roman Falling Man des amerikanischen Autors Don DeLillo zeigen. Zu Beginn des Romans wird geschildert, wie der Protagonist sich aus einem der brennenden Türme rettet: It was not a street anymore but a world, a time and space of falling ash and near night. […] There was glass in his hair and face, marbled bolls of blood and light. […] He saw people shedding water as they ran, clothes and bodies drenched from sprinkler systems. There were shoes discarded in the street, handbags and laptops, a man seated on the sidewalk coughing up blood. Paper cups went bouncing oddly by. The world was this as well, figures in windows a thousand feet up, dropping into free space, and the stink of fuel fire, and the steady rip of sirens in the air.44

Ebenso wie in der KZ-Literatur wird auch bei DeLillo betont, dass die Erinnerung des Augenzeugen eine körperliche Dimension hat. Er hat das Erlebte nicht nur mit eigenen Augen gesehen (»he saw«), sondern seine Erinnerung umfasst auch Gerüche (»stink of fuel fire«) und Geräusche (»steady rip of sirens«). In Alberto Vázquez-Figueroas Krimi Todos somos culpables legt der Privatdetektiv Wert darauf, dass er nicht nur Zeuge (»testigo«), sondern physisch am Ort des Geschehens zugegen war (»testigo presencial«): Aquel once de septiembre la humanidad asistió a la muerte en directo de miles de personas inocentes, y no creo que ningún testigo que tenga la más mínima sensibilidad pueda olvidar tanto horror. Yo por lo menos jamás conseguiré olvidarlo aunque admito que mi caso es distinto porque por desgracia fui testigo presencial.45

Um zu betonen, dass die Erinnerung des Augenzeugen eine andere Qualität hat als die der Fernsehzuschauer, schildert der Augenzeuge an späterer Stelle noch einmal genau, wie er den Einsturz des World Trade Centers erlebt hat: Mi mente se había quedado en blanco y no acertaba a admitir que lo que estaba ocurriendo fuera cierto. Pero lo que sí recuerdo, es que antes de que tuviera ocasión de reaccionar, vi llegar el segundo avión, y eso fue ya como asistir en primera fila al fin del mundo. – El brasileño lanzó un resoplido como si le costara aceptar la realidad al añadir –: El fuego, el humo, el olor, los gritos de angustia y la gente que 44 45

Don DeLillo, Falling Man, New York 2007, S. 3f. Alberto Vázquez-Figueroa, Todos somos culpables, Barcelona 2001, S. 284.

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Ursula Hennigfeld

pedía auxilio allá arriba, o que se arrojaba al vacío huyendo de las llamas, hace que a menudo sueñe con ello y me despierte dando gritos.46

Wie bei De Lillo werden wieder der Sehsinn (vi), der Geruchsinn (olor) und Hörsinn (gritos de angustia) erwähnt. Der Augenzeuge ist vom Erlebten so traumatisiert, dass er Schwierigkeiten hat, darüber zu sprechen (lanzó un resoplido como si le costara usw.) und von Alpträumen heimgesucht wird (sueñe con ello y me despierte dando gritos). Man könnte sagen, dass sich die Konzeption des Augenzeugen mit 9/11 verändert hat: auch die Zuschauer am Fernsehbildschirm werden als Zeugen bezeichnet. Dennoch wird in der Fiktion immer auch der Zeuge imaginiert, der die Attentate am eigenen Leib erfahren hat und dessen Erinnerung in ihm verkörpert ist. Das im Kontext der Shoah noch für unmöglich gehaltene Zeugnis von innen (Lyotard) wird hier literarisch gestaltet. Wie bereits erwähnt, knüpft Frédéric Beigbeders 9/11-Roman Windows on the World in der ästhetischen Darstellung implizit wie explizit an Shoah- und Traumadiskurse an.47 Unter Berufung auf Claude Lanzmann wird der 11. September ganz explizit mit der Shoah verglichen: »Claude Lanzmann dit que la Shoah est un mystère; le Onze Septembre aussi.«48 Der amerikanische Erzähler, der mit seinen beiden Söhnen das Attentat in Windows on the World erlebt und dabei umkommt, verkörpert die Figur des echten Augenzeugen, der das Grauen in seinem ganzen Umfang erlebt hat. Hier wird im Medium der Fiktion das Agamben’sche Paradox des Augenzeugen aufgegriffen: Der Erzähler ist tot und berichtet quasi in Form von Mémoires d’outre-tombe über seine letzten Stunden. Wir bekommen hier ein Zeugnis aus dem Inneren, aber als paradoxe Fiktion, auf die im Roman auch mehrfach hingewiesen wird. 46 47

48

Ebd., S. 286. Man kann das Verfahren Beigbeders, 9/11 als neue Shoah zu inszenieren, in vier Punkten zusammenfassen: 1. Er zitiert die bekanntesten Dokumentar- und Spielfilme über die Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg (Resnais, Lanzmann, Benigni, Spielberg). 2. Er verwendet das Paradox, das Unbeschreibliche beschreiben zu wollen bzw. zu müssen. Hier greift er auf die Debatte um die Figur des Augenzeugen zurück. 3. Er benutzt Leitmotive und Metaphern der KZ-Literatur wie Rauch, Asche, Schnee. Shoah und 9/11 werden sowohl über diese Metaphern als auch explizit verglichen. 4. Die Frage nach Schuld und Verantwortung (Was hätten wir tun können?) sowie die Frage nach Gott (Wie konnte er das zulassen?) werden explizit aufgegriffen. Auch die Frage des Freitods wird behandelt. Für eine ausführlichere Analyse des Romans vgl. Ursula Hennigfeld, »9/11 als neuer Holocaust? Frédéric Beigbeders Roman Windows on the World«, in: Poppe/Schüller/Seiler, 9/11 als kulturelle Zäsur, S. 183–199. Beigbeder, Windows on the World, S. 321.

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Beigbeder verwendet in Zusammenhang mit dem Einsturz des World Trade Centers Worte wie ›Gaskammer‹ und ›Krematorium‹ und vergleicht so provokanterweise 9/11 mit der Shoah. Ein Beispiel: Zwei Dutzend Broker erstickten bei einem Meeting im Nordturm und stapelten sich »comme dans une chambre à gaz«.49 An anderer Stelle schreibt er: »Le Windows of the World était une chambre de gaz à luxe. Ses clients ont été gazés, puis brûlés et réduits en cendres comme à Auschwitz. Ils méritent le même devoir de mémoire.«50 Schließlich bezeichnet er Ground Zero als »le plus grand crématoire du monde«.51

Resultat Die Erzählung der Shoah wird von Primo Levi als Verpflichtung empfunden, erfordert aber die Reduktion des Erlebten auf Schemata. Während Robert Antelme das Problem in der unüberbrückbaren Distanz zwischen Sprache und Erlebtem sieht, ist nach Jorge Semprún alles sagbar; jedoch kann der Zuhörer nicht alles ertragen. Die Schwierigkeit liegt somit auf Seiten des Rezipienten – und zwar nicht in der begrenzten Vorstellung, sondern in seiner Belastbarkeit. Agamben betont die Unmöglichkeit, das Ereignis der Shoah von innen zu bezeugen. Auschwitz ist zwar singulär, aber nicht unsagbar. Im Überlebenden ist die Unmöglichkeit des Zeugnisses verkörpert, durch ihn gewinnt die Erinnerung eine körperliche Dimension. Jean-François Lyotard macht die Unmöglichkeit, Auschwitz zu bezeugen, zum Kernpunkt seiner Definition des Widerstreits. Der Literatur weist er die Aufgabe zu, diesen Widerstreit zu benennen. Jacques Rancière zufolge haben wir es mit einem unauflösbaren Problem zu tun, das die Sprache selbst betrifft: Für die Erfahrung des Humanen wie des Inhumanen haben wir nur ein und dieselbe Sprache. Literatur erweist sich als Medium, das sich dem Unsagbaren annähern kann. Sie kann dem Grauen und der Angst Ausdruck verleihen, etwa in mythischen Bildern wie dem der Gorgo Medusa oder durch Intertexte, die für das Grauen eine Sprache gefunden haben. Dennoch scheint das Unsagbare vor allem ex negativo geschildert zu werden. Anhand der Figur des Augenzeugen wird auch in 9/11-Romanen das Grauen in seiner körperlichen, alle Sinne betreffenden Dimension geschildert.

49 50 51

Ebd., S. 247. Ebd., S. 334. Ebd., S. 367.

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Ursula Hennigfeld

Literatur und Theorie der Shoah sind wesentlich von der Problematik des Augenzeugen und der Mitteilbarkeit geprägt. Beides – das Thema des Augenzeugen wie die Frage nach der Sagbarkeit – wird in 9/11-Romanen aufgegriffen. Die Konsequenzen daraus sind: 1. Der Topos der Unvergleichbarkeit der Shoah fällt. 2. Das Ereignis 9/11 verändert rückwirkend die Wahrnehmung der Shoah. 3. Narrative der Shoah werden in 9/11-Romanen verwendet, um einen sprachlichen Ausdruck für das als traumatisch empfundene Ereignis zu finden. Damit geht aber auch eine Reduktion der Shoah auf die Elemente des Augenzeugen und des Unsagbaren einher. Eine eingehende Untersuchung, inwiefern die Diskurse über den 11. September 2001 die Wahrnehmung und Interpretation der Shoah verändern, steht noch aus.

Die Zerstörung Dresdens in der deutschen Literatur nach 1989

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Gesa von Essen (Freiburg)

»Wozu klagen, Spätgeborner?« Die Zerstörung Dresdens in der deutschen Literatur nach 1989

Am 13. und 14. Februar 1945 flogen britische und amerikanische Bomberflotten im Rahmen der alliierten Luftoffensive Donnerschlag drei Angriffe auf Dresden, das bis dahin von Flächen-Bombardements weitgehend verschont geblieben war. Diese Luftangriffe, die auf Seiten der deutschen Flugabwehr auf keinen nennenswerten Widerstand stießen, entfalteten durch die Kombination von Spreng- und Brandbomben eine verheerende Wirkung: Im Inferno des sogenannten ›Feuersturms‹ verwandelte sich das einstige Elbflorenz innerhalb weniger Stunden in eine Trümmerwüste, in der etwa 25 000 Menschen ums Leben kamen.1 In der kollektiven Erinnerung wurde Dresden bald zur geradezu symbolhaften Chiffre2 für die Zerstörung deutscher Städte im alliierten Bombenkrieg, die sich den Zeitgenossen als traumatischschockartige Erfahrung einbrannte, jahrzehntelang jedoch aus öffentlichem Bewusstsein und politisch-kulturellem Diskurs nahezu ausgespart blieb. W.G. Sebald sprach Ende der 1990er Jahre rückblickend von einem »schandbare[n], mit einer Art Tabu behaftete[n] Familiengeheimnis«,3 das – von allen 1

2

3

Zur historischen Rekonstruktion vgl. Götz Bergander, Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte – Zerstörung – Folgen, Weimar u. a. 21994, sowie jüngst Rolf-Dieter Müller/ Nicole Schönherr/Thomas Widera (Hrsg.), Die Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945 (Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen, Berichte und Studien), Göttingen 2010. Umfassend dazu Matthias Neutzner, »Vom Alltäglichen zum Exemplarischen. Dresden als Chiffre für den Luftkrieg der Alliierten«, in: Oliver Reinhard/Matthias Neutzner/Wolfgang Hesse (Hrsg.), Das rote Leuchten. Dresden und der Bombenkrieg, Dresden 2005, S. 110–127. Zur ideologischen Vereinnahmung der Ereignisse in der ostdeutschen Propaganda (insbesondere unter den Vorzeichen des Kalten Krieges) vgl. ders., »Vom Anklagen zum Erinnern. Die Erzählung vom 13. Februar«, in: ebd., S. 128–163. W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Frankfurt a.M. 52005, S. 17. Dem Text liegt eine 1997 in Zürich gehaltene Vorlesungsreihe zugrunde, mit der Sebald, wie er rückblickend konstatiert, »im seelischen Haushalt der deutschen Nation eine empfindliche Stelle getroffen« (ebd., S. 85) und eine heftige Kontroverse ausgelöst hatte.

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Gesa von Essen

gleichermaßen geteilt4 – die deutsche Bevölkerung im Zeichen des Wiederaufbaus »zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war«,5 verpflichtet habe. Auch und gerade die Literatur, der Sebald eine wesentliche Gedächtnisfunktion zuweist, habe keine angemessene erzählerische Darstellung der Städtezerstörungen hervorgebracht, ja, es könnten sich »die Nachgeborenen, wenn sie sich einzig auf die Zeugenschaft der Schriftsteller verlassen wollten, kaum ein Bild machen […] vom Verlauf, von den Ausmaßen, von der Natur und den Folgen der durch den Bombenkrieg über Deutschland gebrachten Katastrophe«.6 Hatte die deutsche (Nachkriegs-)Literatur also nach Sebalds Urteil ihren Beitrag zur Repräsentation und Aufarbeitung der kollektiven Traumatisie4

5 6

Sebald spricht in diesem Zusammenhang von einer stillschweigend eingegangenen und für alle gültigen »Vereinbarung« (ebd., S. 17), ohne allerdings auf die einer solchen Vereinbarung zugrundeliegenden mentalen und kommunikativen Mechanismen näher einzugehen. Ebd., S. 16. Ebd., S. 75. Die von verschiedener Seite vorgebrachten Einwände gegen Sebald (z. B. der Vorwurf, dass er viele einschlägige Prosatexte gar nicht zur Kenntnis genommen habe, oder der kritische Hinweis darauf, dass seiner Argumentation als Prämisse ein ganz bestimmtes Formideal, nämlich ein mit diskursiven Elementen durchsetztes Erzählen, zugrundeliege) haben der Wirkungskraft seiner Thesen bis heute gleichwohl keinen Abbruch getan. Insgesamt wird man Volker Hages Einschätzung zustimmen können, dass die von Sebald markierte Lücke »weniger eine der Produktion als der Rezeption« gewesen und in der Belletristik das Thema Luftkrieg weitgehend abseits dessen verhandelt worden sei, was allgemein als Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur gilt (Volker Hage, »Der Luftkrieg in der deutschen Literatur«, in: ders., Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg, Frankfurt a.M. 2003, S. 9–131, hier S. 119, 125). – Weitere Forschung zur SebaldDebatte u. a.: Silke Arnold-de Simine, »Erinnerungspoetik als ›Naturgeschichte der Zerstörung‹? Die Rezeption von W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur (1999) in Deutschland und Großbritannien«, in: Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand (Hrsg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 115–132; Marcel Atze, »Der Luftkrieg als öffentliches und literarisches Thema in der Zeit des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1963–1965«, in: ders./Franz Loquai (Hrsg.), Sebald. Lektüren, Eggingen 2005, S. 105–115; Gregor Streim, »Der Bombenkrieg als Sensation und als Dokumentation. Gert Ledigs Roman Vergeltung und die Debatte um W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur«, in: Heinz-Peter Preußer (Hrsg.), Krieg in den Medien, Amsterdam 2005, S. 293–312; Reinhard Wilczek, »Die ›Luftkrieg‹-Debatte im Spiegel von Prosa und wissenschaftlicher Essayistik«, in: Clemens Kammerer/Torsten Pflugmacher (Hrsg.), Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg 2004, S. 75–84. Die Texte ausländischer Autoren untersucht Oliver Lubrich, »Bombed and Silenced: Foreign Witnesses of the Air War in Germany«, in: German Life and Letters, 62/2009, Heft 4, S. 415–429.

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rung des Luftkrieges versäumt, so stellt sich die Lage seit 1989 deutlich anders dar. Offenbar scheint die Zäsur der Wende jenseits überkommener Tabuisierungen und »Wahrnehmungssperren der Nachkriegszeit«7 einen »neue[n] Blick zurück«8 zu ermöglichen, der schon allein deshalb geboten ist, weil die Generation der Zeitzeugen auszusterben beginnt. Seit den 1990er Jahren ist auf diese Weise in einer »Art von psychischem Gezeitenwechsel«9 verstärkt die Problematik deutscher Opfererfahrung10 in den Vordergrund gerückt, man denke für die Luftkriegsthematik beispielsweise an die zunehmende Memoirenliteratur, an die gefeierte Wiederauflage von Gert Ledigs Roman Vergeltung (1999/1956) oder an das Bombenkriegsepos Der Brand von Jörg Friedrich (2002).11 Auffallend ist dabei, dass sich nun auch jüngere Autoren zu Wort melden, die bereits zur Enkelgeneration der Zeitzeugen zu 7

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Wolfgang Sofsky, »Die halbierte Erinnerung«, in: Lothar Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940–45, Berlin 2003, S. 124–126, hier S. 126. Hage, »Der Luftkrieg«, S. 99. Hans-Ulrich Wehler, »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, in: Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk, S. 140–144, hier S. 140. Zur Reflexion dieser Thematik in der Gegenwartsliteratur vgl. Ulrich Krellner, »›Aber im Keller die Leichen | sind immer noch da‹. Die Opfer-Debatte in der Literatur nach 1989«, in: Beßlich u. a. (Hrsg.), Wende des Erinnerns?, S. 101–114. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter Grass, in der die deutsche Opfererfahrung im Kontext von Flucht und Vertreibung im Mittelpunkt steht. Kaum ein historisches Buch hat in den letzten Jahren in der deutschen Öffentlichkeit eine derart heftige Diskussion ausgelöst wie Jörg Friedrichs Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, München 2002. Während auf der einen Seite das enorme erzählerische Potential des Textes gewürdigt wurde und Martin Walser das Buch sogar in die Tradition des homerischen Epos einordnete (vgl. Martin Walser, »Bombenkrieg als Epos«, in: Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk, S. 127–130), wurden auf der anderen Seite insbesondere seitens der Geschichtswissenschaften die teils suggestiv-emotionalisierende Darstellungsweise, der Verzicht auf die Einbettung des Luftkriegs in den politisch-militärischen Kontext der Gesamtgeschichte des Zweiten Weltkriegs sowie das Fehlen einer übergeordneten Urteils- und Bewertungsperspektive bemängelt (Wehler, »Wer Wind sät«, S. 140–144). Eine differenzierte (narratologische) Analyse und Einordnung von Friedrichs Buch in den zeitgenössischen Diskurszusammenhang bietet Daniel Fulda, »Irreduzible Perspektivität. Der Brand von Jörg Friedrich und das Dispositiv des nicht nur literarischen Geschichtsdiskurses seit den 1990er Jahren«, in: Beßlich u. a. (Hrsg.), Wende des Erinnerns?, S. 133–155, sowie ders., »Abschied von der Zentralperspektive. Der nicht nur literarische Geschichtsdiskurs im Nachwende-Deutschland als Dispositiv für Jörg Friedrichs Brand«, in: Wilfried Wilms/ William Rasch (Hrsg.), Bombs Away! Representing the Air War over Europe and Japan, Amsterdam/New York 2006, S. 45–64.

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rechnen sind, die Erfahrungen des Bombenkriegs also nur noch vom Hörensagen kennen. Allerdings sehen sich diese heutigen Autoren trotz der historischen Distanz von über einem halben Jahrhundert nach wie vor mit demselben (poetologischen) Problem konfrontiert wie die Autoren der unmittelbaren Erlebnisgeneration, nämlich mit der Frage nach der Darstellbarkeit des Katastrophischen: Wie kann das Grauen des Bombeninfernos, das bereits den Zeitgenossen geradezu toposhaft als »unbegreiflich«, »unfassbar«, »unsagbar« erschien,12 literarisch repräsentiert werden? Die für Traumatisierungserfahrungen insgesamt charakteristische Aussage, das erlebte Geschehen übersteige jegliches Vorstellungs- und Artikulationsvermögen, hat sich dabei auch in vielen Luftkriegstexten immer mehr zu einer regelrechten ›Pathosformel‹13 des Unaussprechlichen, Undarstellbaren verdichtet, die jedoch paradoxerweise sprachlich oft überaus kunstvoll inszeniert wird.

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13

Axel Schalk, »Schockerfahrung ist nicht erzählbar. Zum Problem des Luftkriegs in der Literatur«, in: Literatur für Leser, 26/2003, S. 117–126. Eine Analyse verschiedener Luftkriegstexte deutscher und ausländischer Autoren aus der Perspektive der Traumaforschung versucht Susanne Vees-Gulani, Trauma and Guilt. Literature of Wartime Bombing in Germany, Berlin u. a. 2003. Im Zuge einer enormen Verbreitung des Trauma-Begriffs in den letzten Jahren hat sich das ›Trauma‹ immer mehr von einem ursprünglich klinischen Konzept in ein weiter gefasstes kulturelles Deutungsmuster verwandelt und ist zunehmend in den Vordergrund kulturwissenschaftlicher Untersuchungen gerückt. Als spezifisch für das Trauma wird dabei (u. a. im Kontext des deutschen Erinnerungsdiskurses) die Unübersetzbarkeit, die Unmöglichkeit der Artikulation angesehen, ja das Trauma gilt geradezu als Metonym für den Topos des Undarstellbaren, des Unaussprechlichen (Birgit R. Erdle, »Die Verführung der Parallelen. Zu Übertragungsverhältnissen zwischen Ereignis, Ort und Zitat«, in: Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hrsg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln u. a. 1999, S. 27–50, hier S. 33f.; sowie Sigrid Weigel, »Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur«, in: ebd., S. 51–76). Vgl. auch Birgit R. Erdle, »Das Trauma im gegenwärtigen Diskurs der Erinnerung«, in: Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hrsg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 259–274. Aus der Perspektive der Gedächtnisforschung hat Aleida Assmann das Trauma zuletzt »als eine körperliche Einschreibung verstanden, die der Überführung in Sprache und Reflexion unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerungen gewinnen kann. Das für Erinnerungen konstitutive Selbstverhältnis der Distanz […] kommt beim Trauma nicht zustande, das eine Erfahrung kompakt, unlösbar und unlöschbar mit der Person verbindet« (Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 32006, S. 278).

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Die in diesem Zusammenhang von Sebald vertretene These von »einem der tradierten Ästhetik inkommensurablen Material«,14 für das es neue poetische Ausdrucksformen zu finden gelte, soll im folgenden am Beispiel von drei Autoren überprüft werden, die nach 1989 die Zerstörung Dresdens in den Mittelpunkt ihres Werks15 gerückt haben: Den Anfang macht Walter Kempowski, der als Junge noch die Bombenangriffe auf Rostock und Hamburg miterlebte, sich aber erst 1999 im Rahmen seines monumentalen Echolot-Projekts mit dem alliierten Luftkrieg auseinandersetzte und 2001 den Dresden-Abschnitt aus dem Echolot zu einer eigenständigen Publikation unter dem Titel Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945 ausbaute. Es folgt der 1962 in Dresden geborene Durs Grünbein, dessen künstlerisches Selbstverständnis sich im steten Dialog mit der Heimatstadt herausbildete und der in seinem 2005 vorgelegten Gedichtzyklus Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt die Ereignisse vom 13. und 14. Februar 1945 in teils poetologisch aufgeladene Szenarien und Bilder eingefasst hat. Den Schluss bildet der jüngste der drei Beispielautoren, Marcel Beyer, der 1996 aus Westdeutschland nach Dresden übersiedelte und die Erfahrung der Zerstörung der Stadt als zentrale Erinnerungs- und Erzählebene in seinen 2008 erschienenen Roman Kaltenburg einfügte.

*** »Es besteht kein Mangel an Büchern über den Untergang des alten Dresden. Weshalb also jetzt noch ein weiteres?« (RH 5)16 Mit dieser Frage beginnt Walter Kempowski sein Vorwort zum 2001 publizierten Band Der rote Hahn und spielt damit nicht nur auf die inzwischen durchaus zahlreiche Dresden-Literatur, sondern auch auf seine eigene Bearbeitung des Themas an, den knapp 120 Seiten umfassenden Abschnitt zum 13. und 14. Februar 1945 im vierten 14

15

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Sebald, Luftkrieg, S. 65. Vgl. dazu auch W.G. Sebald im Gespräch mit Volker Hage, in: Hage, Zeugen, S. 259–279, hier S. 264, 268f. Als Überblicksdarstellungen zur Zerstörung Dresdens als Thema in der deutschen Literatur können folgende Arbeiten herangezogen werden: Ruth J. Owen, »›Eine im Feuer versunkene Stadt‹: Dresden in Poetry«, in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. A German Studies Yearbook, 1/2002, S. 87–106; Reinhard Andress, »›Medusen schminkt man nicht‹? Die Bombardierung Dresdens in der deutschen Prosaliteratur«, in: Colloquia germanica, 36/2003, S. 247–268; Walter Schmitz, »›Auslöschung‹. Das Gedenken der Literatur an die Zerstörung Dresdens«, in: ders. (Hrsg.), Die Zerstörung Dresdens. Antworten der Künste, Dresden 2005, S. 233–303. Walter Kempowski, Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945, München 2001 (Zitatnachweise mit Sigle RH und Seitenzahl in Klammern im laufenden Text).

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Band der Fuga furiosa, des zweiten Teils des seit 1993 erschienenen »kollektive[n] Tagebuchs« Das Echolot.17 In dieser gigantischen Collage18 arrangiert Kempowski Zitate aus Tagebüchern, Briefen, Protokollen, Berichten, aus literarisch Geformtem oder Ungeformtem, Publiziertem oder Unpubliziertem, von bekannten oder unbekannten Autoren zu einem prismatisch-historischen Kaleidoskop – sogar in Zeitungen hatte er eigens inseriert, um »an das im Volk schlummernde narrative Potential heranzukommen«.19 Die zugrundeliegende Ästhetik ist dabei wesentlich geleitet von einer dokumentarischen Verfahrensweise, die in kommentarloser Ausstellung das Material für sich sprechen lässt20 und sich in regelrechter ›Sammelwut‹21 vor allem der Archivierung dieser Stimmenvielfalt verpflichtet weiß. Warum aber wenige Jahre später »noch einmal Dresden?« (RH 5) Hatte sich der Dresden-Abschnitt in der Fuga furiosa in eine weiter ausgreifende Erzählung vom Ende des Zweiten Weltkriegs eingefügt, so verschiebt sich im Roten Hahn der Akzent zu einer reinen Dresden- und Luftkriegs-Erzäh17

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Walter Kempowski, Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945, Bd. 4 (06.–14. 02. 1945), München 2004 (Originalausgabe 1999), S. 706–825. Zum Dresden-Abschnitt im Echolot vgl. Vees-Gulani, Trauma and Guilt, S. 102–109. Allgemein zum Aspekt von Montage bzw. Collage bei Kempowski vgl. Carla A. Damiano, »Walter Kempowski. Lehrer und Schriftsteller. Das Montage-/CollagePrinzip als Baustein des Unterrichts und des Schreibens«, in: dies./Jörg Drews/ Doris Plöschberger (Hrsg.), »Was das nun wieder soll?« Von ›Im Block‹ bis ›Letzte Grüße‹. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis, Göttingen 2005, S. 171–187. Grundlegend dazu auch dies., Walter Kempowski’s »Das Echolot«: Sifting and Exposing the Evidence via Montage, Heidelberg 2005. Walter Kempowski, Culpa. Notizen zum ›Echolot‹, München 2005, S. 91 (Eintrag vom 03. 12. 1986). Manfred Dierks, »Walter Kempowski. Essay«, http://www.klgonline.de (Stand: 01. 10. 2007), S. 1–21, hier S. 16. Insbesondere an dieser Materialanhäufung, die viele ohnehin nicht als Literatur im eigentlichen Sinn gelten lassen mochten, entzündete sich die Kritik (auch von Seiten der Geschichtswissenschaften), da man eine Antwort auf die Frage nach den Kriterien der Auswahl ebenso vermisste wie eine Ebene der kritischen Analyse und des kommentierenden Urteils (z. B. Christian Meier, »Ein direkter Zugang zur Vergangenheit unserer Eltern? Reflexionen auf Kempowskis Erfolg«, in: Merkur, 49/1995, Heft 12, S. 1129–1133). »Seit langem bin ich wie besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist, ich habe nie etwas liegenlassen können, ich habe aufgesammelt, was zu bekommen war, und ich habe alles gesichtet und geordnet.« (Walter Kempowski, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943, Bd. 1, München 1993, S. 7). Den editorisch-philologischen Anspruch des gesamten Unternehmens hat jüngst noch einmal Helbig betont (Holger Helbig, »Kompilator Kempowski. Das Echolot als Museum«, in: Lutz Hagestedt (Hrsg.), Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung, Berlin 2010, S. 203–220, hier S. 207).

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Abb. 1 u. 2: Walter Kempowski, Das Echolot. Fuga Furiosa. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945, Bd. 4 (06. 02.–14. 02. 1945), München 2004, S. 726 und 748; beide Bilder sind jeweils ganzseitig abgedruckt.

lung,22 die einerseits um zusätzliche Quellenmaterialien ergänzt wird und andererseits den Erzählzeitraum um weitere drei Tage (bis zum 17. Februar 1945) ausweitet, sodass ihr Umfang sich im Vergleich zum Ursprungstext in der Fuga furiosa fast verdreifacht hat. Natürlich liegen der Echolot-Fassung und dem Roten Hahn ähnliche konzeptionelle Überlegungen zugrunde, aber es treten zugleich signifikante Unterschiede zutage, die zentrale Aspekte der Darstellungsform des Katastrophischen betreffen. Dazu gehört beispielsweise aus intermedialer Perspektive die Frage nach der Integration von Bildmaterial in die Textcollage. Im Gegensatz zur Fuga furiosa, in der die verschiedenen Textauszüge immer wieder durch (nicht namentlich zugeordnete) Porträtfotos aus der Zeit vor dem Luftangriff ergänzt werden (Abb. 1 u. 2), verzichtet Kempowski im Roten Hahn auf jegliches Bildmaterial. Mit einer Ausnahme: Auf die gegenüberliegende Seite der Titelei setzt er als Fron22

Zu den verschiedenen Bezugnahmen auf die Luftkriegsthematik in Kempowskis Werk vgl. Volker Hage, »Vom Ende der Kindheit. Walter Kempowski als Zeuge und Chronist des Luftkriegs«, in: Damiano u. a. (Hrsg.), »Was das nun wieder soll?«, S. 59–78.

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Abb. 3: Richard Peter, Dresden – eine Kamera klagt an, Dresden o. J. [1950], o. Pag. [S. 58]. (SLUB/Deutsche Fotothek, Richard Peter sen.).

tispiz – ohne erläuternde Bildlegende – das Schwarz-Weiß-Foto einer regelrecht mumifizierten Frauenleiche (Abb. 3).23 Dieses Foto stammt von Richard Peter sen., der gleich nach Ende der Bombenangriffe eine ganze Serie von Fotos der zerstörten Stadt angefertigt hatte, die den Dresden-Mythos bis heute wesentlich mitbestimmt haben.24 Das dem Roten Hahn prominent vorangestellte Foto wirkt – wie eine Art Motto – wahrnehmungssteuernd: Es lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers mitten in das Inferno des Feuersturms hinein, der mit Temperaturen von bis zu 1000 Grad Celsius durch die Straßen gefegt war und bis zur Unkenntlichkeit verkohlte, zu Klumpen zusammengeschmolzene oder geradezu mumifizierte Menschenkörper zurückgelassen hatte. Die Drastik, mit der das Grauen der Zerstörung von

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Dem Dresden-Abschnitt in der Fuga furiosa hatte Kempowski dagegen noch eine geradezu idyllische Familienszene vorangestellt, die einen Vater mit drei Kindern in sommerlicher Gartenumgebung zeigt (Kempowski, Das Echolot. Fuga furiosa, Bd. 4, S. 706). Walter Schmitz hat insgesamt die These vertreten, dass es weniger Film, Malerei oder Literatur als vielmehr das Medium der Fotografie gewesen sei, das die Zerstörung der Städte zum festen Bestandteil nicht nur der deutschen Erinnerungskultur werden ließ (Walter Schmitz, »Zur Einführung. Erinnerungsort Dresden: Die Kunst und die Schrecken des Krieges«, in: ders. (Hrsg.), Die Zerstörung Dresdens, S. XI–LI, hier S. XVIf.). Besondere Wirkung für den Gedächtnisort Dresden hatte hier zweifellos Richard Peters Bildband Dresden – eine Kamera klagt an von 1950.

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Kempowski auf diese Weise zunächst bildlich evoziert wird, setzt sich in der nachfolgenden Textcollage fort, die sich zu einer gelegentlich schwer erträglichen Addition von Schreckensszenarien steigert, denen sich die Dresdner in den brennenden Trümmern ihrer Stadt ausgesetzt sahen: Mitten auf dem Weg lag ein dunkler, formloser Haufen, obenauf etwas mit langen Haaren; daran allein war zu erkennen, daß dies eine tote Frau war. Mehr kann ich nicht beschreiben. Ich habe zwar hingesehen, mir aber die Bilder nicht eingeprägt. (RH 192)

Auf allen Straßen und Plätzen konnte man »die Opfer liegen sehen, mit dem Gesicht nach unten, buchstäblich an den Asphalt festgeklebt, der weich geworden und in der enormen Hitze geschmolzen war« (RH 258f.); überall in der Stadt also […] Verbrannte, Verkohlte, Zerstückelte, Teile von ihnen, als unkenntliche Masse, scheinbar friedlich schlafend, schmerzverzerrt, völlig verkrampft, gekleidet, nackt, in Lumpen gehüllt und als ein kümmerliches Häufchen Asche, darunter Reste verkohlter Knochen (RH 259)

– so lauten einige exemplarische Einträge in Kempowskis kollektivem Tagebuch. Wie Richard Peters Foto in direkter zeitlicher Nähe zum Ereignis aufgenommen wurde und damit zugleich als vermeintlich objektives Abbild des Schreckens wirkt, so inszeniert auch Kempowski in seiner Zitatkomposition die unmittelbare Gegenwärtigkeit des Augenblicks, indem er auf ›ungefilterte‹, authentische Zeugnisse der Überlebenden, die einen scheinbar unverstellten Zugang zum Geschehen erlauben,25 zurückgreift und dabei der Beschreibung überwältigender sinnlicher Eindrücke breiten Raum gibt. So beschwören die Texte immer wieder die fast körperlich schmerzhafte Gewalt nicht nur der grauenhaften Bilder, sondern auch der auf die Menschen eindringenden Geräuschkulisse: Motorengedröhn, das Rauschen der herabgleitenden Bomben, das ohrenbetäubende Krachen der Detonationen, einen Augenblick Stille, und dann wieder dasselbe, und wieder, und wieder und immer wieder! Manchmal beginnt das Rauschen im Hochton, hört in der Mittellage auf, und dann dauert es eine Weile bis man in der Ferne die Explosionen hört. Oft aber beginnt das Fauchen in der Mittellage, wird immer tiefer und endet mit berstendem Krachen nicht allzu weit entfernt. Und manchmal hört man nur einen kurzen, tiefen Orgelton, und dann zerreißt ein schreckliches Getöse einem fast das Trommelfell (RH 114f.).

25

Ziel des Echolots sei es, den Erlebnischarakter des Ereignisses zur Darstellung zu bringen, wie Helbig im Anschluss an Kempowskis Rede von der geradezu ›fleischlichen Übertragungsqualität‹ betont (Helbig, »Kompilator Kempowski«, S. 204).

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Für manche klang es »unaufhörlich, wie wenn riesige Steinbaukästen von einem ungeheuren Sturm zertrümmert würden. Dieser Klang ist mir als das fürchterlichste Erlebnis in Erinnerung geblieben« (RH 66f.). Die Intensität der (visuellen, akustischen, auch olfaktorischen) Sinneswahrnehmungen, in der die Texte – teils im typischen Erzähltempus des Präteritum, teils in präsentischer Form – die grundstürzende Erfahrung totaler Zerstörung spiegeln, trägt wesentlich dazu bei, dem Rezipienten noch über fünfzig Jahre später ein Gefühl des Mit-Erlebens und -Empfindens zu suggerieren, ja ihn regelrecht in das Dresdner Inferno ›hineinzuziehen‹. Dieses Ziel einer »Vergegenwärtigung der Welthöllen«,26 von denen die »Hölle von Dresden« (RH 6) nur eine unter anderen ist, kann nach Meinung Kempowskis gerade nicht mittels fiktionaler Prosa, sondern nur mit einer Collage aus zeitgenössischen Erlebnisstimmen erreicht werden27 – nicht also im Romanzyklus seiner Deutschen Chronik, die Kempowski ausdrücklich aus subjektiv-individueller Sicht28 zu schreiben unternahm, sondern allein im Großprojekt des Echolots, mit dem er »das Kollektive dieser Ereignisse«29 in fast panoramatischer Totalität zu zeigen sucht, um dem »Chor der Leidenden«30 im Gedächtnisraum der Literatur Gehör zu verschaffen. Die enorme Fülle der Texte aus unterschiedlichen Perspektiven, Zeiten und Räumen setzt Kempowski in seinem Echolot nach einem dialogisch-kontrastiven Bauprinzip miteinander in Beziehung, das ebenso die Struktur im 26

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29 30

Neben Dresden nennt Kempowski in diesem Zusammenhang Leningrad, Stalingrad, Auschwitz und Berlin als Beispiele der »Welthöllen, welche die Menschheit sich von Zeit zu Zeit bereitet, der Plagen, von denen schon in der Apokalypse die Rede ist« (Walter Kempowski, Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch, München 2002, S. 5). »Ich glaube fest daran, daß man einem solchen Jahrtausendereignis wie dem Zusammenbruch Mitteleuropas [sc. im Zweiten Weltkrieg] mit einer fiktiven Prosa nicht beikommen kann, sondern eben nur mit einer Collage« (Walter Kempowski, »Für das Grauen taugt fiktive Prosa nicht (Interview)«, in: Buchreport, 39/1995, S. 30). Vgl. ähnlich auch: »Kein Film, kein Roman kann das leisten, was der Chor der Leidenden uns übermittelt« (Walter Kempowski im Gespräch mit Volker Hage, in: Hage, Zeugen, S. 187–199, hier S. 199). Beide Großprojekte sind geradezu komplementär aufeinander bezogen, wie Kempowski in seinem Tagebuch notiert: »Das ›Echolot‹ sehe ich als ›sachliches‹ Gegenstück zur Chronik. Jene ganz subjektiv, dieses, wegen der vielen unterschiedlichen subjektiven Sichtweisen, mehr objektiv.« (Walter Kempowski, Alkor. Tagebuch 1989, München 2001, S. 84). Kempowski im Gespräch mit Hage, in: Hage, Zeugen, S. 198. Ebd., S. 199. Immer wieder spricht Kempowski in diesem Zusammenhang vom (babylonischen) »Chorus« (z. B. Kempowski, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943, Bd. 1, München 1993, S. 7).

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Roten Hahn bestimmt, hier vielleicht sogar noch stärker hervortritt. Als Gerüst der einzelnen Tagesabschnitte des Dresden-Buches dient eine sich in der Regel streng wiederholende Abfolge bestimmter Quellen und Textformen: Am Anfang steht jeweils eine Art Prolog, in dem der Dresden-Mythos durch Auszüge aus verschiedenen Stadt- und Reisebeschreibungen seit dem späten 18. Jahrhundert heraufbeschworen wird; danach beginnen die eigentlichen Tageseinträge zum 13. bis 17. Februar meist mit Passagen aus Hitlers politischem Testament, an die sich ein breites Spektrum von Erlebnisberichten – z. B. aus der Perspektive der Dresdner Bevölkerung, der angreifenden Bomberpiloten31 oder der Militärstrategen – anschließt, ergänzt durch synchrone Einblendungen aus anderen Städten und Ländern (darunter vom Kriegsgeschehen scheinbar unberührte Alltagsszenarien, aber auch Soldatenberichte von der Front); am Ende stehen Zeugnisse von KZ-Häftlingen aus Buchenwald, Dachau oder Sachsenhausen, die im Dresden-Teil der Fuga furiosa noch nicht enthalten waren32 und auf die als lapidarer Schlusspunkt die Hörfunkprogramme verschiedener (nationaler und internationaler) Rundfunkstationen folgen. Mag die programmatische – nicht nur innerhalb der 31

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Diese Perspektive ›von oben‹, also die der Angreifer in den alliierten Flugzeugen, hatte Kempowski bereits zuvor dokumentiert als Herausgeber der Erinnerungen des ehemaligen amerikanischen Bomberpiloten Ray T. Matheny, Die Feuerreiter. Gefangen in ›Fliegenden Festungen‹, deutsch von Werner Peterich, München/Hamburg 1988 (=Veröffentlichungen aus dem Kempowski-Archiv zeitgenössischer Lebensläufe). Aus diesen Erinnerungen sind auch einige Abschnitte in den Roten Hahn eingefügt. Bereits früh hatte Kempowski über die kompositorische Grundidee einer kontrastiven Rahmung der Tageseinträge im Echolot nachgedacht: »Mit Hitler beginnen, mit Auschwitz enden« (Kempowski, Alkor, S. 441, Eintrag vom 29. 09. 1989). In den meisten Echolot-Bänden finden sich beispielsweise Auszüge aus Danuta Czechs Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek 1989, sowie zunehmend auch Ausschnitte aus Berichten von KZ-Überlebenden, ohne dass jedoch das Rahmungsprinzip streng durchgehalten wäre. Demgegenüber fehlen im Roten Hahn die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde, die im gesamten Echolot noch als Motti die jeweiligen Tagesabschnitte einleiteten. Herrmann-Trentepohl vertritt die These, dass das Fehlen der pietistisch geprägten Strukturprinzipien mit ihrer Wechselwirkung von Selbstbefragung, Betonung der Eigenverantwortlichkeit und pädagogischem Impetus insgesamt zu einem künstlerisch nicht befriedigenden Ergebnis führe (Henning Herrmann-Trentepohl, »›Das sind meine lieben Toten‹ – Walter Kempowskis Echolot-Projekt«, in: Wilms u. a. (Hrsg.), Bombs Away!, S. 81–96). Demgegenüber mögen die im Vergleich zur Echolot-Fassung neu aufgenommenen Ausschnitte aus dem Buch Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte – Zerstörung – Folgen, Weimar u. a. 21994, des Historikers Götz Bergander dem Streben nach (geschichtswissenschaftlicher) Fundierung und Autorisierung geschuldet sein.

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Geschichtswissenschaften umstrittene – Multiperspektivik33 der Präsentation auf den ersten Blick also disparat und heterogen erscheinen, so findet sie doch zugleich ihr Gegengewicht in einer klar erkennbaren, fast dramaturgisch anmutenden Kompositionstechnik, die durch wiederholtes Zitieren aus Berichten bestimmter Personen (etwa der Pfarrersfrau Liesbeth Flade und des Oberzahlmeisters Gerhard Erich Bähr, des jüdischen Intellektuellen Victor Klemperer und des Prinzen Ernst Heinrich von Sachsen) der Herausbildung narrativer Leitfäden dient oder durch die simultaneisierende Zusammenschau verschiedener Quellengruppen implizit geschichtsdeutende Sinnzusammenhänge (besonders prominent zwischen Luftkrieg und Holocaust34) herstellt. Bei allem Zutrauen in die Aussagekraft der unkommentiert gelassenen Dokumente tritt der Autor Kempowski in seinem Text eben keineswegs gänzlich zurück, sondern agiert als allwissender Arrangeur, der die authentischen Stimmen in wohlkalkulierten Beziehungs- und Assoziationsverhältnissen zueinander anordnet. Dieser kompositorische Zugriff ist maßgeblich auf die aktive Mitgestaltung des Lesers ausgerichtet,35 dem abverlangt wird, die Zwischenräume und Leerstellen innerhalb des Ganzen selbst zu füllen, die Widersprüche zwischen den einzelnen Teilen auszuhalten: Ich halte den Leser für intelligent genug, seine Schlüsse selber zu ziehen. Die Auswahl übrigens, die ich treffe, ist tendenziös. Tendenziös aber nicht im Sinne einer Richtung, in die ich den Leser drängen will, denn ich weiß nicht, wo es hingehen soll, diese Verantwortung kann ich nicht auf mich nehmen: ich präsentiere keine Rezepte, das muß jeder selber machen – und doch richte ich an.36 33

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36

Jaeger verortet diese Pluriperspektivität im weiter gefassten Spannungsfeld »between openness and closure« (Stephan Jaeger, »Infinite Closures: Narrative(s) of Bombing in Historiography and Literature on the Borderline between Fact and Fiction«, in: Wilms u. a. (Hrsg.), Bombs Away!, S. 65–79, hier S. 68, 75f.). Marcel Atze, »Dresden als Aufgabe. Walter Kempowski dokumentiert den Februar 1945 in seinem eindrucksvollen Luftkriegsmosaik Der rote Hahn«, in: literaturkritik.de, Nr. 4/2002, abrufbar unter: http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=4794 (Stand: 31. 05. 2011). Zu den pädagogischen Implikationen des Montage-Prinzips bei Kempowski vgl. Carla A. Damiano, »Walter Kempowski: Lehrer und Schriftsteller«, in: dies. u. a. (Hrsg.), »Was das nun wieder soll?«, S. 171–187. Auch Kyora weist darauf hin, dass insbesondere die Kontrastierung unvermittelt nebeneinander gestellter Texte den Leser misstrauisch werden lasse gegenüber den scheinbar authentisch berichtenden Dokumenten (Sabine Kyora, »›Weltgeschichte in der Nähe‹. Zur Rolle von Subjekt und Geschichte(n) in Walter Kempowskis Echolot«, in: Damiano u. a. (Hrsg.), »Was das nun wieder soll?«, S. 151–169, hier S. 158). »Eine Art Gedächtnistraining« (Interview mit Walter Kempowski, Jan. 1972), in: Volker Hage, Die Wiederkehr des Erzählers. Neue deutsche Literatur der siebziger Jahre, Frankfurt a.M. 1982, S. 166–175, hier S. 170.

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Mit einem geradezu emphatischen didaktischen Impetus lässt Kempowski daher als angemessene Darstellungsform für das katastrophische Geschehen von Krieg und Zerstörung nur ein Projekt wie sein kollektives EcholotTagebuch gelten, mit dem er »die einzige demokratische Großform entwickelt habe, die es in der Literatur gibt«.37 Das traditionelle Erzählen dagegen – das in diesem Kontext allerdings seltsam unbestimmt bleibt – eigne sich dafür kaum, weshalb in Kempowskis eigenem Roman Tadellöser & Wolff (1971) auch nur am Rande und fast lakonisch auf die (autobiographischen) Erfahrungen des Luftkriegs, insbesondere den Angriff auf die Heimatstadt Rostock vom April 1942, angespielt wird.38 Vergleicht man die Einträge im Roten Hahn mit der ursprünglichen Fassung im Echolot, so sticht schließlich noch ein weiterer zentraler Unterschied zwischen beiden Texten ins Auge: In seinem Dresden-Buch hat Kempowski ganz am Schluss der zu eigenen Kapiteln zusammengefassten Tageseinträge jeweils die Rubrik »Fünfzig Jahre danach« eingefügt, in der Auszüge aus Artikeln verschiedener deutscher Tageszeitungen aus dem Jahr 1995, also zum 50. Jahrestag der Zerstörung Dresdens, zu lesen sind. Der letzte dieser Artikel, die in überwiegend völkerversöhnendem Ton geschrieben sind, beschäftigt sich mit den seit 1989 verstärkt vorangetriebenen Restaurierungsarbeiten in der Stadt und stellt den Abschluss des Wiederaufbaus der Frauenkirche für das Jahr 2002 in Aussicht (vgl. RH 357). Mit dieser symbolisch verdichteten Zukunftsperspektive schließt sich gewissermaßen der Kreis von Kempowskis Dresden-Darstellungen: Markiert im Echolot am Ende des Dresden-Abschnitts (und nach kurzer Einblendung der Beschlüsse von Jalta vom 12. Februar 1945) die Abbildung des Grundrisses der Frauenkirche den in gleicher Weise zurück- wie auch vorausweisenden Schlusspunkt der gesamten Fuga furiosa-Tetralogie,39 so werden im Roten Hahn Zerstörung und 37

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Walter Kempowski im Gespräch mit Carla A. Damiano, in: Damiano, »Walter Kempowski: Lehrer und Schriftsteller«, S. 185. Walter Kempowski, Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman (=Die deutsche Chronik IV), München 1999 [1971], S. 164–173. Dreißig Jahre später allerdings sieht Kempowski die entsprechende Roman-Passage eher kritisch, da er dort die Fliegerangriffe »heruntergespielt«, ja sich in gewisser Weise über seine »eigenen Gefühle fast etwas lustig gemacht habe. Vielleicht erklärt sich das dadurch, daß ich den Roman Ende der sechziger Jahre geschrieben habe, und da waren die Eindrücke noch frisch. Man wollte die Selbstbetrauerung, das Selbstmitleid nicht hochkommen lassen. Vielleicht wollte ich mich auch ein bißchen lustig über die Leute machen, die da ihr eigenes Unglück betrauerten, ohne daran zu denken, daß es eigentlich nur die Wirkung einer Ursache gewesen war« (Kempowski im Gespräch mit Hage, in: Hage, Zeugen, S. 196, 190). Kempowski, Das Echolot. Fuga furiosa, Bd. 4, S. 835.

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Wiederaufbau Dresdens ganz explizit und untrennbar miteinander verknüpft, folgt auf die Katastrophe der Vernichtung der »heilsame[…] Aufbruch« (RH 6) zur Rekonstruktion. Diese deutliche Akzentverschiebung gegenüber der Echolot-Fassung exponiert Kempowski bereits in seinem Vorwort zum Roten Hahn, das in der – sei es naiven, sei es ideologisch als Lob wiedererstarkender Bürgerlichkeit (vgl. RH 5) verbrämten – Überzeugung gipfelt, dass sich im Falle Dresdens die Richtigkeit der (paraphrasierend wiedergegebenen) Selbstcharakterisierung des Goethe’schen Mephisto erwiesen habe, nach der das Böse letztlich doch das Gute schaffe (RH 6).40 Der Rahmen, der sich damit zwischen dem Vorwort und dem abschließend zitierten Zeitungsartikel zusammenschließt, unterlegt den zeitgenössischen Materialien ein geradezu teleologisch ausgerichtetes Narrativ, das aus der Rückschau eine vereindeutigende Sinngebung der Katastrophe im Medium der Literatur impliziert, als deutlich auktoriale Konstruktion allerdings dem ursprünglich postulierten Ideal der ›demokratischen Großform‹ zuwiderläuft. Dabei ist es durchaus symptomatisch, dass Kempowski dem Roten Hahn mit dem Vorwort eine Form paratextueller Rede voranstellt, in der die Autorinstanz sich scheinbar direkt zu Wort meldet und über ihre Intentionen verständigt, während die Bände der Fuga furiosa darauf gerade verzichtet hatten.41 Auf die zu Beginn dieses Vorworts gestellte Frage »Und nun noch einmal Dresden?« (RH 5) gibt Kempowski daher auch eine klare Antwort: Ja, noch einmal Dresden, jetzt jedoch »in neue Zusammenhänge gesetzt« (RH 6), nämlich sowohl retrospektiv in den Deutungszusammenhang der nationalsozialistischen Judenvernichtung als auch prospektiv in den Deutungszusammenhang des bürgerschaftlich getragenen, weltweit unterstütz-

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In der Studierzimmer-Szene des Faust I sagt Mephisto von sich selbst, er sei »Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft« (V. 1335f., in: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Texte (=Sämtliche Werke), Abtlg. I, Bd. 7/1, Albrecht Schöne (Hrsg.), München 1994, S. 64). Dass diese Selbstcharakterisierung allerdings gerade nicht (wie in Kempowskis Adaptation) als dialektische Aufhebung des Bösen zu verstehen ist, sondern einer intrikaten Verstellungsstrategie Mephistos folgt, ist in Albrecht Schönes Kommentar nachzulesen (ebd., Bd. 7/2, S. 251). Auch die vorangegangenen Bände 2 bis 4 des ersten Teils des Echolots enthalten kein Vorwort, während dagegen der Eröffnungsband 1 durch einen Abschnitt unter der Überschrift »Statt eines Vorworts« eingeleitet wird, was Helbig als Geste der Zurücknahme interpretiert, mit der der Herausgeber Abstand von der Autorposition nehme (vgl. Helbig, »Kompilator Kempowski«, S. 208). Erst den abschließenden Echolot-Bänden Barbarossa ’41 (2002) und Abgesang ’45 (2005) stellt Kempowski wieder ein kurzes Vorwort voran.

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ten Wiederaufbaus der Frauenkirche.42 Offenbar verdankt sich Kempowskis erneute Beschäftigung mit der Katastrophe der Zerstörung Dresdens also in erster Linie einem weniger ästhetisch als vielmehr politisch motivierten Gestaltungswillen, der jedoch der künstlerischen Ausgewogenheit der Komposition nicht immer zuträglich ist.

*** In Durs Grünbeins Werk stellt die stete Auseinandersetzung mit der Heimatstadt Dresden von Beginn an eine zentrale (biographische, thematische und poetologische) Konstante dar.43 Mit seinem zwischen 1992 und 2005 entstandenen, in fast erzählerischem Ton gehaltenen Gedichtzyklus Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt, dessen insgesamt 49 durchnummerierte, jeweils zehnzeilige Einzeltexte angeblich im Februar eines jeden Jahres (also im Monat der Zerstörung Dresdens) verfasst worden sind,44 wendet sich Grünbein dabei erstmals schwerpunktmäßig dem Untergang ›seiner‹ Stadt zu. Genau an dieser Stelle setzt im Poem jedoch eine Problematisierung der Rolle des lyrischen Ichs und der gestellten poetischen Aufgabe an, die als distanzierte Selbstbefragung der Sprecherinstanz in der 2. Person Singular vorgetragen wird: »Wozu klagen, Spätgeborner? Lang verschwunden war / Die Geburtsstadt, Freund, als deine Wenigkeit erschien.« (P 1)45 In deutlicher 42

43

44 45

Beide Sinnhorizonte sieht Kempowski in dem von ihm gleich zweifach bemühten alttestamentarischen Propheten-Wort »Wer Wind sät, wird Sturm ernten« (RH 5f.; Hosea 8,7) aufgehoben, wobei dessen Applikation auf den Wiederaufbau, den Kempowski ebenfalls als »eine Reaktion auf die Aussaat des Windes« (RH 6) verstehen will, den Gehalt der gewählten Bildlichkeit wohl eher überzieht. Grünbeins Beschäftigung mit Dresden spiegelt sich bereits 1988 in den Gedichten aus Grauzone morgens und setzt sich 1991 mit dem Gedicht über Dresden aus dem Band Schädelbasislektion sowie 1995 mit dem Prosatext Chimäre Dresden (in: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen) fort. 1996 schließlich folgt im Band Nach den Satiren der Gedichtzyklus Europa nach dem letzten Regen, in dem schon einige Motive aus dem späteren Zyklus Porzellan anklingen. Einen Überblick über die Dresden-Thematik im Werk Grünbeins gibt jüngst Renatus Deckert, Ruine und Gedicht. Das zerstörte Dresden im Werk von Volker Braun, Heinz Czechowski und Durs Grünbein, Dresden 2010, S. 135–154. Vgl. auch Rolf J. Goebel, »Gesamtkunstwerk Dresden: Official Urban Discourse and Durs Grünbein’s Poetic Critique«, in: The German Quarterly, 80/2007, Heft 4, S. 492–510; Michael Braun, »›Barockwrack an der Elbe‹. Gedächtnisorte in Durs Grünbeins Dresden-Gedichten«, in: Der Deutschunterricht, 58/2006, S. 79–86. Braun, »Barockwrack«, S. 85. Durs Grünbein, Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt, Frankfurt a.M. 2005 (Zitatnachweise mit Sigle und Gedichtnummer in Klammern im laufenden Text).

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Referenz auf die Person des Autors46 meldet sich hier im Einleitungsvers ausdrücklich ein Nachgeborener zu Wort, der weder die einstige Herrlichkeit von Elbflorenz mit eigenen Augen gesehen noch das Grauen der Zerstörung dieser Stadt am eigenen Leibe erfahren und insofern eigentlich keinen unmittelbaren Grund zur Klage hat. Gleichwohl jedoch meint er wie durch eine Art »Phantomschmerz«47 die prekären Leerstellen der äußeren und inneren Gedächtnisräume fast körperlich (vgl. P 11) zu spüren – Leerstellen im Übrigen, die durch die beiden Schwarz-Weiß-Fotos vom unzerstörten Dresden (als Luftbild und als Detailaufnahme aus dem Zwinger) gleich zu Beginn und ganz am Ende des Bandes geradezu ›eingerahmt‹ und dadurch kontrastiv besonders hervorgehoben werden. Dieser Nachgeborene ist mangels eigenen Erlebens auf die Überlieferung der Vorgängergenerationen – vor allem auf die Erzählungen innerhalb der Familie – angewiesen, wird aber immer wieder mit Erinnerungshürden konfrontiert: etwa damit, dass mit dem Aussterben der Erlebnisgeneration auch die »Erinnerung, der Vorrat an Legenden« über das alte Dresden, den noch die Großmutter mit ihren Erzählungen angelegt hatte, »längst aufgebraucht« (P 6) ist; oder damit, dass traumatische Erfahrungen wie der Luftkrieg (ganz im Sinne Sebalds) tabuisiert und ›beschwiegen‹, ja mit einem immer gleichen Seufzer abgebrochen werden: […] Nicht dabeigewesen Bist du, als die Herrlichkeit versank. Was Mutter sah, Kaum fünf Jahr alt, wirst du nie in ihren Augen lesen. Weltkrieg, Trauma – nichts davon bewahrt die DNA. Lösch, was du von Kind an hörtest: ›Arme Stadt‹ – Den Familienseufzer. […]. (P 10)

Das, was die Mutter als Kind bei der Zerstörung der Stadt mit ansehen musste, bleibt für den Nachgeborenen unanschaulich, die Intensität der erlebten Bilder des Infernos ist inzwischen zu einer sprachlichen Formel geronnen, die in der Familie wie eine stehende Wendung abgerufen wird und 46

47

Diese Überblendungen werden durch die immer wieder auftretenden Possessivpronomina (besonders prominent im Untertitel des Poems), durch biographische Anspielungen – sei es auf das Geburtsjahr, sei es auf den Namen Grünbeins (P 1, P 10) – sowie nicht zuletzt durch die Widmung des gesamten Bandes an die Mutter nahegelegt. Schon als Kind habe er, wie Grünbein berichtet, den Wunsch gehabt, das lückenhafte Stadtbild »sozusagen im Traum zu komplettieren«; doch während die »Älteren genau wußten, was fehlte, weil sie immer diesen Kontrast sahen, mußte man als Jüngerer vermittels des Phantomschmerzes sich jenen Kontrast erst erarbeiten« (Gespräch mit Durs Grünbein, in: Renatus Deckert (Hrsg.), Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden, Frankfurt a.M. 2005, S. 187–212, hier S. 191f.).

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den Blickwinkel von der persönlichen Betroffenheit des Einzelnen zum Kollektivschicksal der Stadt verschiebt. Über die Jahrzehnte hat diese (zum ›Familienseufzer‹ avancierte) Formel offenbar eine derartige Wirkungsmacht entfaltet, dass noch die nachfolgende Generation in ihrem Bann steht und sich – wenn überhaupt – nur in einem geradezu imperativischen Akt des Vergessens daraus zu lösen vermag. Insgesamt handelt es sich bei Grünbeins Gedichtzyklus denn auch weniger um einen Text über den Untergang Dresdens als vielmehr um eine Art lyrischer Meditation, in der sich ein Vertreter eben jener jüngeren Generation aus einer ganz persönlichen Gefühlslage heraus über seinen Umgang mit der geschichtsträchtigen Heimatstadt verständigt.48 Diese Stadt nämlich ist ihm mit ihrer übermächtigen Vergangenheit zu »eine[r] geistige[n], eine[r] ästhetische[n] Hypothek«49 geworden, die er bis heute in seinem künstlerischen Schaffen abzutragen sucht: »Das größte Ereignis dieser Stadt ist mit Sicherheit ihr Untergang. Dieser Untergang hat alles getränkt, was mir je einfiel und worüber ich schreibe«.50 Anknüpfend an kulturwissenschaftliche Überlegungen zur spezifischen Zeitstruktur des Traumas ließe sich hier durchaus von einer transgenerationellen Nachträglichkeit51 sprechen, mit der traumatische Erfahrungen weit über die ursprüngliche Erlebnisgeneration hinaus weitergegeben werden und im Gedächtnis latent wirksam bleiben. So tritt für das nachgeborene lyrische Ich in Grünbeins Dresden-Poem die Erinnerung an den Untergang der Stadt immer wieder unversehens, ausgelöst durch zunächst beliebig erscheinende regelrechte »Stolperstein[e]« (P 49), zutage und verweist darin auf Marcel Prousts mémoire involontaire, die Grünbein jedoch in für ihn charakteristi48

49 50 51

Vgl. Aniela Knoblich, »›Luftstrom aus alten Städten‹. Geschichte und Erfahrung des Dichters bei Durs Grünbein«, in: Thiemo Breyer/Daniel Creutz (Hrsg.), Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin/New York 2010, S. 317–331, hier S. 322, sowie Cécile Millot, »Porcelaine de Durs Grünbein. Un enfant de l’après-guerre face à la destruction de Dresde ou les difficultés du devoir de mémoire«, in: Allemagne d’aujourd’hui, 178/2006, S. 143–158. Klein betont insbesondere dieses subjektive Element (Sonja Klein, »Denn alles, alles ist verlorne Zeit«. Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein, Bielefeld 2008, S. 185). Gespräch mit Durs Grünbein, in: Deckert (Hrsg.), Die wüste Stadt, S. 191. Ebd., S. 196. Vgl. dazu Weigel, »Télescopage im Unbewußten«, S. 66f. Diese Überlegungen zu transgenerationellen Formen der Traumatisierung gehen dabei vor allem von psychischen Auffälligkeiten bei Personen aus, die nicht mehr selbst an den betreffenden Ereignissen beteiligt waren, und nehmen damit also die Nachgeschichte traumatischer Ereignisse von kollektiver Relevanz und historischem Ausmaß in den Blick.

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scher Weise vom äußeren Referenzrahmen in den (neuronalen) Innenraum52 wendet: […] Ortssinn meint: Nicht dort draußen spielt sie, die Musik – im Schädelinnern. Hier, mémoire involontaire, hier geht sie aus und ein. Wie Gedankenlesen ist das, wenn aus Regenrinnen, Nachts am Tresen Dresden aufersteht … ein ferner Gruß, Über Zeit und Raum hinweg – aus Hypothalamus. (P 20)

Wenn Grünbein also betont, dass nicht nur das kollektive, sondern auch sein ganz persönliches Trauma in Dresden »eine Adresse«53 bekommen habe, dann gilt dies paradoxerweise, obwohl oder vielleicht gerade weil er zu den ›Spätgeborenen‹ gehört. Die Denkfigur des Zu-spät-gekommen-Seins, die ein zentrales Motiv in Grünbeins Gesamtwerk darstellt, bezieht sich in seinen Dresden-Texten dabei vor allem auf die Trauer desjenigen, der von der prachtvollen Schönheit der sächsischen Barockresidenz nur mehr aus Büchern oder Erzählungen weiß.54 Im Porzellan-Zyklus wird diese Figur darüber hinaus jedoch erweitert zum erbitterten Vorwurf an die Sprecherinstanz, in jenen Februartagen 1945 ›nicht dabeigewesen‹ zu sein, das Inferno des Bombenkriegs nicht selbst erlebt und das Leid der Menschen nicht mitempfunden zu haben, sondern sich aus der Retrospektive in hohlen Formeln und falschen Rührseligkeiten zu verlieren.55 Diesem Vorwurf mangelnder 52

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Vgl. dazu auch Alexander Müller, Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grünbeins, Oldenburg 2004. »Plötzlich ist da ein Ortsname, in den man alle seine Gefühle und Gedanken investieren kann. Das persönliche wie das kulturelle Trauma bekommt eine Adresse.« (Gespräch mit Durs Grünbein, in: Deckert (Hrsg.), Die wüste Stadt, S. 192). In den Aufzeichnungen Das erste Jahr etwa heißt es: »Dresden: aus diesem Musennest kommt der beleidigte Schönheitssinn, die frühkindliche Trauer um etwas, das der Nachgeborene nur noch vom Hörensagen kannte. Von Anfang an definiert das Zu spät alle Wahrnehmung, die wütende Ohnmacht vor soviel entschwundener Klasse« (Durs Grünbein, Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 2001, S. 88). Allgemein zu dieser Denkfigur bei Grünbein auch Renatus Deckert, »Der Nachgeborene auf dem Barockwrack. Durs Grünbein über Dresden«, in: Sinn und Form, 56/2004, S. 240–250; auch Millot, »Porcelaine«, S. 151–157. Dieser Vorwurf wird vor allem in Gedicht 42 in einer Art metareflexivem Zwischenruf vorgetragen: »Stop, wer spricht da? Dieses Schlitzohr, ist er Sachse? / Beißt sich durch die Gestrigkeiten, Clown und Historist, / Scherbensammler, Freizeit-Christ. Treibt seine Faxen / Mit der Scham, der Schande. Was uns Schicksal ist, / Scheint ihm Hekuba, dem Pimpf da, Pionier. Das flennt / Dicke Tränen und weiß nichts vom Heulen der Sirenen. / Keinen Schimmer, was das ist: die Stabbrandbombe. / Diese Brut, die Krieg nur aus den Kinosesseln kennt, / Pop-

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Authentizität und Zeitgenossenschaft steht bei Grünbein allerdings ein Dichtungsverständnis entgegen, das auf die künstlerische Fähigkeit zur Simultaneisierung verschiedener Zeiten und Räume, Erfahrungen und Erinnerungen abhebt und den Dichter insofern immer schon als Zeitzeugen definiert:56 »Worum gehts hier? – Einer lauscht, / Was die Töchter Mnemosynes ihm diktieren. / Und er tauscht die Zeiten, Räume, Maße, tauscht und tauscht« (P 49). Gemeint ist damit nicht eine Zeitgenossenschaft, die als vermeintliche Mitgegenwart vorgestellt wird, sondern eine, die sich ihrer mehrfachen Brechungen bewusst ist, ja ihre eigene Indirektheit und Vermitteltheit ausdrücklich deklariert. Im Dresden-Poem hat das eine Schreibweise zur Folge, die die Katastrophe der Zerstörung weniger, wie noch Kempowski, durch Inszenierung von Unmittelbarkeit zu vergegenwärtigen sucht, als vielmehr den gezielt artifiziellen Grundzug der Darstellung (wie er sich bereits im antikisierenden Versmaß57 spiegelt) betont, also die Mittelbarkeit und künstlerische Geformtheit des Erzählten offenlegt. Dies gilt beispielsweise für die beschwörenden (Selbst-)Anreden des lyrischen Ichs, die im Sinn eines perlokutiven Sprechakts als Handlungs- oder genauer: als Imaginationsanweisungen angelegt sind: Sprich mir nach: es braucht nicht viel, aus einer Stadt Eine Mondlandschaft zu zaubern. Oder Kohle Aus den Menschen, die da wohnen. Stell dir vor: es hat Eine Opernpause nur gedauert, Zeit zum Zigarettenholen,

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corn futternd dort im Dunkel, weit zurückgelehnt – / Schatten, Schulstoff-Wiederkäuer, Nachkriegs-Zombies« (P 42). An diesem Punkt setzt auch die Kritik an Grünbeins Darstellungsform in vielen Rezensionen an, vgl. dazu den Überblick bei Klein, »Denn alles, alles ist verlorne Zeit«, S. 180–187. Vgl. dazu Hinrich Ahrend, »Tanz zwischen sämtlichen Stühlen«. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins, Würzburg 2010, S. 303, sowie umfassend Gesa von Essen, »›So viele Zeiten zur selben Zeit‹. Geschichte und Gedächtnis in Grünbeins Das erste Jahr«, in: Kai Bremer/Fabian Lampart/Jörg Wesche (Hrsg.), Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg 2007, S. 79–102. Grünbein entwickelt diesen Gedanken exemplarisch für die Städte Berlin und Dresden, die mit ihren sich überlagernden historischen Bauschichten als Chiffre für die Idee der Simultaneität stehen. Bereits das Eröffnungsgedicht spielt auf die Gattung der Elegie an (P 1), deren formale Vorgaben jedoch insgesamt überaus frei gehandhabt werden. Wenn die einzelnen Gedichte daher also im strengen Sinn kaum den Formanforderungen einer Elegie entsprechen, so lässt sich die unterlegte Gattungsfolie doch gleichwohl als Verweis auf die Literarizität des Gefühls der Trauer deuten (Knoblich, »›Luftstrom aus alten Städten‹«, S. 325). Deckert wiederum interpretiert die nicht vollendete Form des Poems als Spiegel der Versehrtheit der Stadt, von der es spricht (Deckert, Ruine und Gedicht, S. 153).

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Gesa von Essen

Und auf Straßen, Todesfallen, brodelte der Teer. Eben Frost noch, blau am Fahrradlenker klebt die Hand, Schon herrscht Wüstenwind, fegt übers Häusermeer. In den Wintermänteln, pharaonensteif, sind sie verbrannt. Heißer war kein Sommer je. Der letzte Luftalarm Kaum verebbt, da war im Zentrum noch die Asche warm. […] Steig hinab, noch einmal, in den Luftschutzkeller. Sieh: Deine Vorfahrn, eng gedrängt, in ihrem letzten Hemd (P 3, P 24).

Die zum Teil mit Doppelpunkt eigens abgesetzten Imperative einer fingierten Zeugenschaft (›Sprich mir nach‹, ›Stell dir vor‹, ›Steig hinab‹, ›Sieh‹) dienen als Signale der Indirektheit, die die nachfolgende Beschreibung des Feuerinfernos explizit als vorgestelltes Sehen markieren und damit den Akt der eigenen (künstlerischen) Imagination regelrecht ›ausstellen‹. Die Realität des Bombenkriegs wird auf diese Weise nicht im Weg des unmittelbaren (Nach-)Erlebens evoziert, sondern erscheint als eine imaginierte, durch Bewusstseinsakte gebrochene Realität, deren gleichwohl beklemmende Verdichtung insbesondere durch eine intensive Bildlichkeit erreicht wird: die trostlos-karge Mondlandschaft, der Wüstenwind im kalten Frost, die Winternacht so heiß, wie nie ein Sommer war, schließlich die pharaonenhafte Totenstarre – es sind solche Bilder eines regelrechten mundus inversus, einer Welt, die gänzlich aus den Fugen geraten ist, mit denen das lyrische Ich der Inkommensurabilität des Ereignisses beizukommen sucht. Eine weitere Form der Mediatisierung in der Darstellung des Katastrophischen lässt sich in Grünbeins Porzellan auf der Ebene der medialen Repräsentation von Erinnerung beobachten – eine Darstellungsform also, die ihren Ausgang weniger von einer (sei es realen, sei es fiktiven) Zeugeninstanz als vielmehr vom Zeugnis selbst nimmt. Die Überlieferung nämlich, auf die der Nachgeborene wegen fehlender eigener Erfahrung zwingend angewiesen ist, wird nicht nur im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses58 durch Familienerzählungen (etwa den von Grünbein genannten ›Legendenvorrat‹ der Großmutter) weitergetragen, sondern zugleich auch medial gespeichert und überformt. Im Falle des Erinnerungsortes Dresden sind es vor allem die bereits erwähnten Fotographien von Richard Peter, der in seinem 58

In Fortschreibung des Gedächtnismodells von Maurice Halbwachs unterscheidet Jan Assmann kommunikatives und kollektives Gedächtnis. Demnach umfasst das kommunikative Gedächtnis einen »allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete[n] Erinnerungsraum« und entspricht einem Zeithorizont von 3–4 Generationen (Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 48–66, hier S. 50).

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Bildband Dresden – eine Stadt klagt an (1950) Aufnahmen aus dem unzerstörten Vorkriegsdresden auf der einen Seite und Bilder aus der Trümmerstadt nach den Bombenangriffen auf der anderen Seite überaus effektvoll einander gegenübergestellt hat. Zu einer regelrechten Ikone des Gedächtnisses avancierte beispielsweise Peters – seither vielfach nachgeahmtes – Foto der Bonitas-Skulptur, die mit ausgestrecktem Arm vom Rathausturm auf die Ruinen der Stadt hinabweist und oft als klagender, mahnender, ja auch apokalyptischer Engel gedeutet wurde (Abb. 4).59 Auf dieses Foto nimmt eine Strophe aus Grünbeins Gedichtzyklus Bezug, die eine zwanghaft-wirre, in sich verschachtelte Bewusstseinsphantasie des lyrischen Ichs beschreibt, in der die Ereignisse des 13. und 14. Februar wieder aufleben: Wirrer Traum, der zwanghaft wiederkehrt: ich bin dabei, Anonym, ein stummer Zeuge, in der Bombennacht. Was, wenn du das warst, der Engel in der Haut aus Stein, Arme ausgebreitet, die Figur dort auf dem Kirchendach? Unten sinkt die Stadt in Schutt, nur er bleibt unversehrt, Von der Glut gehärtet, Asche auf den kalten Lippen. Diese Ohnmacht: niemand hört dich, in ihn eingesperrt. Sind das Menschen, prasselnd da wie Eßkastanien Zwischen Straßenbahnen, ausgeglüht bis aufs Metallgerippe? Wirrer Traum: nichts dringt heraus aus diesem Cranium. (P 22)

Hineinprojiziert in eine bereits kanonische Bild-Repräsentation des Dresdner Bombeninfernos, die wegen ihres enormen Bekanntheitsgrades nicht explizit benannt werden muss, stellt sich die Sprecherinstanz gleich im Eingangsvers nun doch als ›dabeigewesen‹ vor, als jemanden also, der die Zerstörung der Stadt miterlebt hat – ein in szenischer Unmittelbarkeit suggeriertes Erleben, in das auch der Rezipient mit hineingezogen wird, etwa durch den Wechsel der Personalpronomina (die zwischen Selbst- und Leseranrede changieren), die Verwendung deiktischer Raumadverbien, aber auch durch die intermediale Einbindung in das kollektive Bild-Gedächtnis, an dem Autor, Sprecher- und Leserinstanz gleichermaßen teilhaben. Allerdings sieht sich das lyrische Ich in diesem Traum-Szenarium gerade nicht bei den betroffenen Menschen inmitten von Bombenhagel und Feuersturm, sondern 59

Zu Peters Foto vgl. Schmitz, »Zur Einführung«, S. XVII.; Wolfgang Hesse, »BildGeschichte(n). Dresden 1939–1945 – Die Kriegszeit in Fotographien und Filmen«, in: Reinhard u. a. (Hrsg.), Das rote Leuchten, S. 165–262 (dort sind auch einige der von Peters Foto inspirierten späteren Aufnahmen der Skulptur abgebildet, vgl. S. 254–261); sowie ders., »Der ›Engel‹ von Dresden. Trümmerfotografie und visuelles Narrativ der Hoffnung«, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1900 bis 1949, Göttingen 2009, S. 730–737.

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Abb. 4: Richard Peter, Dresden – eine Kamera klagt an, Dresden o. J. [1950], o.Pag. [S. 9]. (SLUB/Deutsche Fotothek, Richard Peter sen.).

imaginiert sich in der Rolle eines stummen Zeugen aus Stein, der als Beobachter aus einer Vogelperspektive, als »verkohlte[r] Apostel«60 von den Dächern der Stadt auf das Geschehen herabblickt. Wie die deiktische Geste 60

»Die verkohlten / Apostel auf den Dächern stehn entsetzt«, heißt es in Grünbeins Zyklus Europa nach dem letzten Regen (in: Durs Grünbein, Nach den Satiren, Frankfurt a.M. 1999, S. 143–153, hier S. 151). Auch bei diesem Gedicht liegt, wie Klein vermutet, die Verbindung zu Peters Fotografie nahe; Klein weist noch auf weitere mögliche Bezüge zwischen Strophen des Porzellan-Zyklus und einzelnen Fotographien hin, ohne diese intermedialen Konstellationen jedoch für die Deutung der Texte interpretatorisch fruchtbar zu machen (Klein, »Denn alles, alles ist verlorne Zeit«, S. 210f.).

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der Skulptur auf Peters Fotografie den Blick in die schier unendliche Trümmerwüste hineinlenkt, den Standpunkt des Beobachters jedoch gleichzeitig außerhalb des (Bild-)Geschehens verortet,61 so inszeniert auch Grünbeins poetische Transformation dieser Bild-Folie die Position eines (als einziger unversehrten) Betrachters, der die schrecklichen Ereignisse aus dem relativen Schutz der Distanz mit ansieht, aber stumm und passiv bleibt. Dieser mehrfach gebrochene Imaginationsakt wächst sich zu einer verstörenden, zutiefst traumatischen Erfahrung aus, in der das lyrische Ich die eigene Ohnmacht angesichts des Grauens – noch betont durch die ohne Antwort bleibenden Fragen – als quälendes Gefühl des Eingesperrtseins empfindet. In der Rahmung der Strophe durch die anaphorisch gesetzte Rede vom ›Wirren Traum‹ im Anfangs- und im Schlussvers wird damit nicht nur der Darstellungsmodus der Indirektheit und Vermitteltheit deklariert, sondern die geradezu zwanghafte Wiederkehr der Phantasmagorie zugleich auch formal abgebildet. Diese Phantasmagorie katastrophischer Erfahrung ist zwar im ›Cranium‹, dem Schädelinnenraum der Sprecherinstanz – ähnlich wie der Nachgeborene in der Steinhaut des Engels – eingeschlossen, bildet dort aber den Kern eines kreativ-ästhetischen Denkspiels62 und findet auf diese Weise in der Schöpferkraft des Dichters erst eigentlich zu ihrem (poetischen) Ausdruck. Dieses emphatische dichterische Selbstverständnis tritt in Grünbeins Porzellan-Zyklus programmatisch in der Beschreibung eines Kirschkerns zutage, der sich unter dem Blick des Poeten als paradigmatisches Repräsentationsmedium des Katastrophischen erweist. Mit diesem Kirschkern hat es eine besondere Bewandtnis, handelt es sich doch um eine Mikroschnitzerei aus dem späten 16. Jahrhundert, die zu den großen Attraktionen des Grünen Gewölbes in Dresden gehört: den sogenannten »Kirschkern mit 185 geschnitzten Köpfen«, eingefasst in einen aufwendigen Ohrenschmuck (Abb. 5).63 Auf der Oberfläche dieses Kirschkerns haben Kunsthistoriker unter der Lupe nach neuerer Zählung immerhin 113 neben- und übereinander eingeschnitzte Gesichter entdeckt, ein jedes mit ganz eigenem Ausdruck. Bei Grünbein begegnet uns der Kirschkern im siebten Gedicht des Zyklus, 61

62

63

Michael Neumann, »Genealogie einer Geste: ›… eingebrannt in das Bildbewußtsein der modernen Menschheit‹«, in: Schmitz (Hrsg.), Die Zerstörung Dresdens, S. 159–169, hier S. 163. In Wörterbüchern neueren Datums sind denn auch zwei Bedeutungen für ›Cranium‹ verzeichnet: 1) lateinischer Ausdruck für ›Schädel‹, 2) Name eines kreativen Denk- und Ratespiels, das sich in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut. Vgl. dazu Dirk Syndram, Schatzkunst der Renaissance und des Barock. Das Grüne Gewölbe zu Dresden, München/Berlin 2004, S. 48.

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Abb. 5: Der Kirschkern mit 185 geschnitzten Köpfen, Deutschland vor 1589 (Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Jürgen Karpinski).

das eigens durch je eine Leerseite64 vom vorangehenden und vom nachfolgenden Gedicht abgesetzt ist. Nachdem das Sprecher-Ich, das als Kind den Kern oft im Museum bestaunte, dieses »Wunderding« als »Großtat eines Juweliers« gefeiert hat, wechselt plötzlich die Tonlage: […] Ins harte Holz geschnitzt: Augen schreckgeweitet, lauter schreiende Gesichter, Ein Inferno auf der Nadelspitze, Tröpfchen, glitzernd. Kaum zu fassen, da – in nuce – war verdichtet, Was der Stadt bevorstand demnächst – zum Emblem. Dresden selbst war jener Kirschkern, aus dem All gesehn. (P 7)

In den Schnitzereien des Kirschkerns scheinen Zeit und Erleben im Augenblick der hereinbrechenden Katastrophe stillgestellt, spiegelt sich das Geschehen des Infernos in den angstvoll aufgerissenen Augen der Menschen, in ihren wie zu einem grässlichen Schrei verzerrten Gesichtern. In Grünbeins Gedicht ist der Kirschkern ein eindrückliches Beispiel dafür, wie es im 64

Solche Leerseiten finden sich im Porzellan-Zyklus noch an einigen anderen Stellen. Klein deutet diese unbeschriebenen weißen Seiten insgesamt als Leerstellen, die die Unvollständigkeit betonen und das Verschwinden und Vergessen auch optisch bezeugen sollen (Klein, »Denn alles, alles ist verlorne Zeit«, S. 177f.).

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Weg künstlerischer Gestaltung möglich ist, das (im doppelten Sinn) Unfassbare ›aufzuheben‹ und emblematisch so weit zu verdichten, dass in einem Artefakt des 16. Jahrhunderts bereits die Luftkriegskatastrophe des 20. Jahrhunderts in nuce aufscheint: ein winziger Kirschkern als Sinnbild Dresdens, in dem das künftige Schicksal der Stadt vorweggenommen ist. Wie der Juwelier es einst durch seine Schnitzkunst vermochte, einem belanglosen Alltagsgegenstand den Moment existenzieller menschlicher Gefährdung einzuzeichnen, so gelingt es nun dem Dichter als einem – nach Grünbeins Selbstverständnis – poeta vates, dieses Zeugnis aus längst vergangener Zeit in einem Akt künstlerischer Imagination zum Sprechen zu bringen und in eine neue, spezifisch moderne Form der Re-Präsentation des Katastrophischen zu überführen. Zwar ist die Position des Nachgeborenen für das lyrische Ich also unhintergehbar und die Unmittelbarkeit des Zugangs zum Geschehen der Bombennächte damit verstellt, doch gehört es zur besonderen Begabung des Dichters als ›Seher‹, gerade aus den komplexen, mehrfach mediatisierten Generierungsbedingungen von Erinnerung und Gedächtnis poetische Funken zu schlagen – dafür ist zweifellos der Porzellan-Zyklus selbst ein Beispiel.

*** Wie Durs Grünbein gehört auch Marcel Beyer bereits zur Enkelgeneration, die nach den von Sebald konstatierten ›Familiengeheimnissen‹ der Großeltern und Eltern fragt. Während Grünbein sich in dieser Generationenfolge eher apologetisch mit der Position des Nachgeborenen zurechtzufinden sucht, scheint Beyer dagegen seine Rolle als »Nachkomme von Schweigegeneration und Antwortgeneration«65 offensiv anzunehmen, ja sie sogar als Chance zu verstehen: Diejenige Generation nämlich, die nach 1945 erwachsen wurde und immer lauter Auskunft über die Verantwortlichkeiten während des Nationalsozialismus verlangte, habe von den Eltern nur ostentatives Schweigen geerntet und es sich mit aufklärerischem Furor zur Aufgabe gemacht, nun ihrerseits die Antworten zu geben, darüber aber gleichsam die Phänomene selbst aus dem Blick verloren.66 Demgegenüber reklamiert 65

66

Marcel Beyer, »Über eine Haltung des Hörens«, in: ders., Nonfiction, Köln 2003, S. 259–270, hier S. 270. Beyer diagnostiziert bei den Vertretern dieser Generation einen regelrechten »Redezwang«, doch indem »zusätzlich noch anstelle der Eltern zu antworten ist, verlernt diese Generation langsam das Hören. […] Sie verlernen, auf das Schweigen zu hören. Sie hören ein Schweigen nicht, das ein anderes ist als das Verschweigen durch ihre Eltern« (ebd., S. 262f.), nämlich die Sprachlosigkeit derer, die als Über-

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Beyer aus der gewissen Gelassenheit historischer Distanz für sich und seine Generation eine »Haltung des Hörens«,67 die jenseits bisheriger Tabuisierungen einerseits und Erklärungszwängen andererseits in besonderer Weise für die prekären Sprachlosigkeiten angesichts katastrophischer Erfahrungen zu sensibilisieren vermöge. Beyers poetisches Schreiben lässt sich insofern charakterisieren als das Schreiben eines Nachgeborenen, das durch dieses sich offen haltende Hören ›hindurchgegangen‹ ist. Ein solches Schreiben setzt keineswegs voraus, ›dabeigewesen‹ zu sein, die dargestellten Ereignisse auch tatsächlich miterlebt zu haben; es empfängt seine Impulse zwar durchaus aus Quellenstudien, Ortsbegehungen oder Gesprächen mit Zeitzeugen, ist im Kern aber doch vor allem »Imaginationsarbeit«.68 Ziel ist nicht das exakte Abpausen der Wirklichkeit, sondern vielmehr öffnen »gerade das Imaginieren, das Umgehen mit Erinnerungen und auch das Rekonstruieren von Erinnerungsfetzen […] einen Raum, in dem die nachempfundene Wirklichkeit zu Literatur wird«.69 Mit Kaltenburg, Beyers 2008 erschienener, in mehreren Erinnerungsschleifen erzählter Geschichte des Ornithologen Hermann Funk und seines Lehrers Ludwig Kaltenburg, liegt daher auch kein Schlüsselroman im engeren Sinn vor, dessen Figuren realhistorischen Personen wie Konrad Lorenz, Heinz Sielmann und Josef Beuys nachgebildet sind; vielmehr handelt es sich um ein »Buch von entschiedener Künstlichkeit«,70 dessen Autor in freiem, ›imaginativem‹ Umgang mit den Fakten ausdrücklich eine Fiktionalisierung von Geschichte71 betreibt. In diesem Schnittfeld von Faktualem und Fiktionalem liegt in Beyers poetischer Topographie vor allem ein Ort: Dresden – eine Stadt, bei der mit der bloßen Nennung des Namens eine zusätzliche Geschichte versprochen, ein Geheimnis angedeutet werde:

67

68

69 70

71

lebende von Krieg und Holocaust das Erlebte nicht in Worte zu fassen vermögen, denen es ›unsagbar‹ erscheint. Ebd., S. 260. Diese Haltung des Hörens, »die notwendig mit dem Sprechen einhergeht. Die selbst auch Sprechen bedeutet« (ebd.), entwickelt Beyer aus seinen Lektüreerfahrungen mit Uwe Johnsons Jahrestagen. Marcel Beyer im Gespräch mit Renatus Deckert, in: Sinn und Form, 57/2005, Heft 1, S. 72–85, hier S. 81. Ebd., S. 82. Marcel Beyer, zit. nach Marcel Braun, »Marcel Beyer. Essay«, in: KLGonline (http://www.klgonline.de) (Stand: 01. 10. 2007), S. 1–14, hier S. 14. Braun spricht im Blick auf das bisherige Gesamtwerk Beyers zusammenfassend von einer »Poetik der Fiktionalisierung der Geschichte« (Braun, »Marcel Beyer. Essay«, S. 13).

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Ein Abschnitt, ein Nebensatz, allein die Erwähnung dieser Stadt: Da liegt eine weitere Erzählung unter der Oberfläche verborgen, unter den Sätzen, die von anderem erzählen. […] Dresden, das sind also immer mindestens zwei Texte, die einander überlagern, einander ergänzen und nicht selten auch zu widersprechen scheinen, selbst wenn sie vom selben Verfasser stammen.72

Dresden erscheint hier als ein symbolischer Ort, an dem sich wie fast nirgendwo sonst stets zwei Sinnhorizonte überschneiden, komplementär aufeinander bezogen sind oder sich auch wechselseitig korrigieren, und es sind gerade jene Punkte, wo in dieser Weise »magisches und konkretes Dresden ineinandergreifen«,73 denen die besondere Aufmerksamkeit des Schriftstellers Beyer gilt. Ein solches Sujet, das tief in der konkreten Erfahrungswirklichkeit verwurzelt ist, gleichzeitig aber eine geradezu magisch-verzaubernde Ausstrahlungskraft zu entfalten vermag, spielt bereits im Entstehungsprozess des Romans Kaltenburg eine zentrale Rolle, die Geschichte nämlich, dass während der alliierten Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 »die wilden Tiere aus dem Zoo in der Nacht der Bombardierung mit den in den Großen Garten geflüchteten Menschen friedlich Seite an Seite gelegen hätten«.74 Über ein halbes Jahrhundert später kann niemand mehr sagen, ob diese Geschichte, deren biblische Allusionen (Jes. 11, 6–8, sowie 65, 25) kaum zu übersehen sind, sich wirklich so zugetragen hat, ob sie also ›wahr‹ ist – und auch Beyer selbst erinnert sich nicht, wer sie ihm zuerst erzählt hat.75 Zu72

73 74 75

Marcel Beyer, »Riß im Bild. Dresden als Leseschule«, in: Dresdner Hefte, 23/2005, Heft 84, S. 80–87, hier S. 81. Ebd. Beyer im Gespräch mit Deckert, S. 84 Erst durch den Hinweis einer Romanistin wurde Beyer klar, dass ihm die Geschichte offenbar nicht erzählt worden ist, sondern dass er sie gelesen hatte, und zwar in Michel Leiris’ Autobiographie Wehlaut, die Beyer besaß (ebd.). In seinem Exemplar fand er diejenige Stelle mit einem Zettel markiert, an der Leiris von seinem Besuch in Dresden in den 1960er Jahren berichtet. Damals habe er auch davon gehört, dass die Tiere des Dresdner Zoos nach den schweren Bombentreffern im Februar 1945 aus ihren zerstörten Käfigen in die Parks der Stadt geflüchtet und dort auf die ebenfalls fliehenden Menschen getroffen seien: »Nichts Schlimmes geschah, versichert man, denn der Schrecken, der Tiere und Menschen zermalmte, hatte einen Frieden wie in einem irdischen Paradies zwischen ihnen gestiftet. Und – Romantik oder Redensart – man erzählt sogar, daß die einen sich gegen die andern schmiegten« (Michel Leiris, Die Spielregel, Bd. 4: Wehlaut, aus dem Französischen von Hans Therre, mit einem Nachwort von Waltraut Gölter, München 1999, S. 76). – Zur besonderen (vor allem poetologischen) Bedeutung von Michel Leiris für das Schreiben von Beyer vgl. z. B. Marcel Beyer, »Spucke«, in: ders., Nonfiction, S. 74–87.

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gleich aber ist es eine Geschichte, von der diejenigen, die in der Bombennacht dabei gewesen waren, heute meinen: ›Nein, gesehen habe ich es dort nicht, aber davon gehört‹. Obwohl sie doch das Gegenteil bezeugen könnten. Aber dieses Bild scheint eine solche Kraft zu haben, daß man gewillt ist, daran zu glauben. Ich würde daher nicht von einer Lüge sprechen. Hier geschieht etwas ganz Interessantes. Im Grunde beginnt hier nämlich die Literatur.76

Für Beyer stellt diese Geschichte von den beieinanderliegenden Menschen und Tieren also eine Art Nukleus poetischer Imagination dar: das Bild, das offenbar niemand wirklich gesehen hat, ist seinerseits Produkt der Einbildungskraft, ist ein imaginiertes Bild, das seine Evidenz weniger aus dem Kriterium ›wahr‹ oder ›falsch‹ gewinnt als vielmehr daraus, dass es in besonders intensiver Weise das Vorstellungsvermögen des Menschen anzuregen und durch seine fast »märchenhafte[n] Züge«77 zu faszinieren vermag. Zugleich scheint die Episode geeignet, Grundfragen der conditio humana symbolhaft zu verdichten und das in jederlei Hinsicht Unerhörte in einem wahrhaft »paradiesische[n] Bild«78 anschaulich werden zu lassen. Wie das Beispiel der Dresdner Zootiere zeigt, gewinnen solche Bilder und Geschichten oft ein bemerkenswertes Eigenleben, das sie im kollektiven Gedächtnis über Generationen präsent hält, ihnen irgendwo zwischen »Romantik oder Redensart« Dauer verleiht und sich überdies in mannigfachen Transformationen und Filiationen des Sujets niederschlägt.79 Es überrascht daher nicht, dass Beyer gerade in dem Moment, als er sich Klarheit über das tatsächliche Schicksal der Zootiere in der Bombennacht zu verschaffen sucht, bereits unversehens mitten in die Imaginationsarbeit hineingeraten ist.80 Wie nun aber setzt Beyer diese Episode im Roman um? Was entsteht daraus im Prozess der Fiktionalisierung? Die Zootier-Geschichte bildet im Kaltenburg-Roman den Auftakt zu einer literarischen Repräsentation des 76 77 78

79

80

Beyer im Gespräch mit Deckert, S. 85. Ebd., S. 84. Ebd. Auch Leiris hatte in diesem Zusammenhang von einem »irdischen Paradies« gesprochen (Leiris, Die Spielregel, Bd. 4, S. 76). Vgl. beispielsweise die Erzählungen, die über die Zerstörung des Berliner Zoos im November 1943 in Umlauf waren, teils aber eher apokalyptische Züge annahmen (vgl. Hans Dieter Schäfer, Berlin im Zweiten Weltkrieg. Der Untergang der Reichshauptstadt in Augenzeugenberichten, München/Zürich 1985, S. 161–164, 169, 174). Vgl. Marcel Beyer im Gespräch: »Mich fasziniert das Weltwissen der Zoologen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 05. 2008, abrufbar unter: http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/marcel-beyer-im-gesp raech-mich-fasziniertdas-weltwissen-der-zo ologen-1548108.html (Stand: 11. 03. 2013).

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Bombeninfernos, die Beyer nicht als durchgehenden Erzählstrang, sondern als mehrfach unterbrochene, immer wieder neu ansetzende Erinnerungsschübe seines Protagonisten Hermann Funk konzipiert, durch die sich sowohl analeptisch wie proleptisch wesentliche Verweisungszusammenhänge innerhalb des Textes erschließen. Funks Lehrer, der renommierte Ornithologe Ludwig Kaltenburg, habe, wie der Erzähler vermerkt, in seinem Anfang der 1960er Jahre veröffentlichten Buch Urformen der Angst, auf das im Roman immer wieder als Deutungsfolie Bezug genommen wird, zoologische Erkenntnisse vom Tier auf den Menschen übertragen und dabei insbesondere mit dem Kapitel »Ausblick: Die namenlose Angst«, das sich dem Verhältnis zwischen Tier und Mensch unter Extrembedingungen widmet (K 14),81 weltweit Anstoß erregt. Als eine solche Extremsituation erscheint im Roman das Geschehen im Dresdner Großen Garten am 13. und 14. Februar 1945, das Kaltenburg als Material seiner Fallbeispiele dient, von dem er aber nicht aus eigener Anschauung, sondern nur indirekt durch einen (ungenannt bleibenden) Zeugen weiß. Dieser Zeuge nämlich habe ihm, so Kaltenburg, berichtet, dass sich in der Nacht des Bombenangriffs eine Horde aus dem zerstörten Zoo entlaufener Affen unter die Menschenmenge im Park gemischt und ratlos von den verstreuten Leichen auf die wie betäubt am Boden sitzenden Überlebenden geblickt hätte – bis sich die Menschen fast reflexartig daranmachten, im Chaos der Katastrophe Ordnung zu schaffen, und es auf diese Weise ein Stück weit zu ›bewältigen‹ suchten: Tatsächlich meint der Beobachter so etwas wie Erleichterung unter den Tieren zu bemerken, als die Menschen aus ihrer Apathie erwachen, die überall verstreuten Leichname zusammensammeln und sie auf einem unversehrten Rasenstreifen in eine Ordnung bringen. Nichts wissen die Schimpansen von der Identifizierung verstorbener Angehöriger, nichts von den Toten, die man in eine Reihe im Gras bettet, und nichts davon, wie man einen Leichnam an Schultern und Füßen greift, um ihn zu seinesgleichen zu tragen. Und dennoch schließt sich ein Affe nach dem anderen dieser Arbeit an, wie Kaltenburg berichtet, ohne zu sagen, wer ihm diese Szene beschrieben hat. Ich. (K 15f.)

Erst mit dem letzten (Ein-Wort-)Satz also gibt sich Funk als Augenzeuge von damals zu erkennen, als derjenige, der Jahrzehnte später aus der Rückschau des alten Mannes seine eigene, als Kind erlebte Geschichte erzählt. Allerdings wird dieser Bericht Funks gerade nicht von ihm selbst vorgetragen, sondern in der indirekten Form einer Redewiedergabe Kaltenburgs vermittelt, die aus der anfänglich konjunktivisch-vergangenheitsbezogenen allmäh81

Marcel Beyer, Kaltenburg, Frankfurt a.M. 2008 (Zitatnachweise mit Sigle K und Seitenzahl in Klammern im laufenden Text).

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lich in eine indikativisch-präsentische Darstellungsweise übergeht und damit das Geschehen gewissermaßen aus den Tiefenschichten des Gedächtnisses wieder an die Oberfläche heraufzuholen scheint. Diese Inszenierung einer unmittelbaren Erlebnisperspektive des Jungen, der als ›Beobachter‹ im Großen Garten dabei ist, bleibt jedoch in den Rahmen einer mehrfach verschachtelten Erzählsituation eingebunden und wird am Ende der Passage durch den expliziten Verweis auf die Sprecherinstanz Kaltenburg (»wie Kaltenburg berichtet«) wieder in den Modus der Mittelbarkeit zurückgeholt. Solche Mediatisierungen tragen maßgeblich dazu bei, dass der Leser, wie Beyer betont, letztlich selbst entscheiden muss, ob er an die hier erzählte Geschichte glauben will oder nicht.82 Zwar ist man zunächst durchaus bereit, der Geschichte aufgrund ihrer auf unmittelbarer Erfahrung beruhenden Verankerung in der Hauptfigur eine gewisse Glaubwürdigkeit zuzugestehen. Doch zugleich wird auf eine in Reichweite und Reflexionsfähigkeit eingeschränkte Kinderperspektive rekurriert,83 die überdies mit zahlreichen Unzuverlässigkeitssignalen – z. B. modalen Vorbehalten (»er will beobachtet haben«, »er meint zu bemerken« (K 15f.)), aber auch offen eingestandenen Erinnerungslücken (»er vermag sich nicht zu erinnern« (K 15)) sowie konjunktivischen Einschränkungen des Deutungsanspruchs (»man könnte glauben« (K 15)) – durchsetzt ist, mit denen der Erzähler »die Szene Stück für Stück zu demontieren« sucht.84 Offenbar ist es Beyer also gleichermaßen um die Imaginationsarbeit des Autors wie um die des Rezipienten zu tun – erst aus dem Zusammenspiel beider ergibt sich die besondere Qualität von Literatur. 82 83

84

Beyer im Gespräch mit Deckert, S. 84. Cosentino hat darauf hingewiesen, dass in den vergangenen Jahren besonders in autobiographisch geprägten Literarisierungen der Luftkriegsthematik oftmals Kinder als Protagonisten fungieren, Figuren also, bei denen sich die Frage nach moralischer oder historischer Schuld nicht stelle; stattdessen stehe in diesen Rückblicken auf Kindheitstraumata vielmehr der Prozess der Verarbeitung und Bewältigung des Erlebten im Vordergrund (Christine Cosentino, »›Der Krieg, ein Kinderspiel‹: Romane mit Kinderperspektive im Kontext der Luftkriegsdebatte«, in: Neophilologus, 91/2007, S. 687–699, hier S. 688, 698). Beyer im Gespräch mit Deckert, S. 84. Auch in späteren, explizit in Ich-Form gehaltenen Äußerungen weist Funk mehrfach auf die begrenzte Reichweite und mögliche Lückenhaftigkeit seiner Erinnerung hin – charakteristische Formulierungen dafür sind z. B.: es »ist mir keine Erinnerung geblieben«, es »kann sein«, »ich weiß nicht«, »vielleicht« (K 95f.; vgl. ähnlich K 28f.). Gelegentlich ist er sich auch keineswegs darüber im Klaren, in welchem Grade er möglicherweise Erkenntnisse und Einsichten des Erwachsenen retrospektiv in das Kindererlebnis hineinprojiziert (vgl. K 73).

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Die zitierte Passage ist schließlich noch in anderer Hinsicht für die Darstellungsform des Katastrophischen im Kaltenburg-Roman charakteristisch, denn Beyer lässt die Ereignisse des 13. und 14. Februars in der Wahrnehmung seines Protagonisten Hermann Funk nicht allein am Schicksal der Menschen, sondern ebenso am Schicksal der Tiere anschaulich werden. So steht Funks Erinnerung auf der einen Seite ganz im Zeichen der traumatischen Erfahrung, während der Dresdner Bombennacht seine seither verschollenen Eltern verloren zu haben – einer Erfahrung, die der Erzähler retrospektiv in verschiedene Gedächtnissplitter hineinblendet, wenn er etwa von einem älteren Paar berichtet, das während der Luftangriffe in seiner Nähe gesessen habe: Das könnten meine Eltern gewesen sein. Und ich habe sie in der Nacht einfach nicht erkannt. Zwei Figuren, vom einen auf den anderen Moment gealtert, mit Verbrennungen im Gesicht: Derartiges hatte ich zuvor noch nie gesehen, wie hätte ich von den Toten auf meine lebendigen Eltern schließen sollen. (K 27)

Auf der anderen Seite erlebt der junge Funk das Inferno des Feuersturms besonders intensiv im qualvollen Sterben der Vögel,85 die zu Tausenden im Großen Garten nisteten. In scharf geschnittenen Nahaufnahmen, die wie im Zoom einer Kamera herangeholt werden, gleitet der Blick aus der Figurenperspektive über ein alptraumhaftes, geradezu apokalyptisches Szenarium:86 Tauben, die sich mitten im Flug entzünden; Enten, die auf dem Wasser lichterloh brennen; torkelnde Schwäne, die keine Füße mehr haben; verkohlte Flamingos, die zu regelrechten »Vogelmumien« (K 95) erstarrt sind – alle diese Tiere sind wenige Stunden später zu einer »ungestalte[n] Materie« (K 94) verschmolzen oder gar »zu Asche, zu Nichts« geworden, »einfach verdampft« (K 94). Doch der Junge wird in der Bombennacht nicht nur mit solchen grauenvollen Bildern konfrontiert, er muss auch miterleben, wie die fliehenden Vögel als verbrannte Teerklumpen aus den Bäumen, ja buchstäblich vom Himmel fallen: Nachts, als ich durch die Parkanlage irrte, traf mich auf einmal etwas hart an der Schulter, ohne daß jemand in der Nähe gewesen wäre. […] Es klang zugleich dumpf und fest, und als der Gegenstand auf die Erde gefallen war, rollte er noch 85

86

Katrin Hillgruber, »Die Dresdner Lektion«, in: Frankfurter Rundschau vom 10. 03. 2008, S. 19. Braun hat in diesem Zusammenhang auf den nüchternen, klinisch kühl beobachtenden Blick verwiesen, mit dem Beyer die verschiedenen Vogel-Episoden im Kaltenburg-Roman in großer Eindringlichkeit gestaltet habe (Braun, »Marcel Beyer. Essay«, S. 13).

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ein Stückchen weiter. Ich fand ihn, schwarz, faßte ihn an, ein wenig klebrig, bröckelig, die Oberfläche aufgerauht, ich hob den Klumpen vor meine Augen, ein Batzen Teer vielleicht, ganz einfach Schlacke. Ich hob ihn an die Nase – wie im Reflex aber warf ich ihn weg, so weit wie möglich von mir fort. Was ich gerochen hatte, war: verbranntes Fleisch. Der nächste Schlag, diesmal am Kopf. Ich rannte los. Ich rannte zwischen den Bäumen und Kratern und dann den Menschen auf der Lichtung umher, doch je länger ich lief, um so verzweifelter erschien mir meine Lage, überall kamen diese verbrannten Brocken herunter […], hörte ich sie überall um mich herum auf dem Boden aufschlagen, als kämen sie näher, als kreisten mich die tot aus dem Himmel fallenden Vögel ein. (K 93)

Noch Jahrzehnte später ist im Erinnerungsbericht Hermann Funks die verstörende Intensität dieses nächtlichen Erlebnisses spürbar, die Beyer in einer eindringlichen, überaus nuancierten Beschreibung akustischer, haptischer und olfaktorischer Sinneswahrnehmungen seines Protagonisten spiegelt – Wahrnehmungen im Übrigen, in die ebenso der Leser suggestiv (bis hin zum Geruchsekel) hineingezogen wird. Dazu trägt zweifellos auch der dramatische Spannungsbogen dieser Episode bei, an dessen Ende ein völlig verängstigter Junge steht, für den sich das Geschehen im Großen Garten zu einem beklemmenden Gefühl der Verfolgung und Bedrohung auswächst, als sei er selbst die eigentliche Zielscheibe der herabfallenden Teerklumpen. Die psychischen Erschütterungen, die von dieser katastrophischen Erfahrung ausgehen, haben sich tief in Funks Erinnerung eingegraben: Ohne Ziel und Orientierung sei er damals durch die Straßen geirrt, habe sinnlos vor sich hingebrabbelt, »ein einzelner Redender, der sich von keiner Ansprache, von keiner Frage unterbrechen ließ. Es muss etwas Obszönes gehabt haben« (K 96). Insgesamt erscheint das Kindheitserlebnis der Bombennacht in der Rückschau des Erwachsenen als einschneidende Zäsur, die seine Persönlichkeit erheblich verändert (vgl. K 92) und weiter zurückliegende Gedächtnisschichten wie in einem Filmriss gelöscht hat. So verfügt Funk zwar noch über einige wenige Erinnerungen an Kinderfreunde aus der Nachbarschaft, »[s]onst aber: Nichts. Als habe jene erste Nacht in Dresden eine ganze Reihe älterer Bilder gelöscht, als habe mir der Ansturm jener hart zwischen Hell und Dunkel wechselnden Eindrücke frühere, in der Beleuchtung feiner abgestimmte Erinnerungen einfach aus dem Kopf getrieben« (K 44). Seltsamerweise sind ihm gerade Erinnerungen an die Eltern verloren gegangen, er weiß kaum etwas über ihr Leben, ihre Geschichte, auch nur wenig über die botanische Arbeit des Vaters, dessen Profil in seinen Augen ohnehin unter dem Eindruck der starken Persönlichkeit Kaltenburgs immer weiter verblasst war (vgl. K 75f.) – bis schließlich die extreme Schockerfahrung des Dresdner Infernos dazu

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führt, dass die Eltern seither aus den Gedanken des Sohnes verschwunden sind (vgl. K 26), er sich kein eigenes Bild mehr von ihnen zu machen vermag. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für den Jungen selbst, der sich, wie der alte Funk rückblickend berichtet, nach dem Feuersturm »in buchstäblich aufgelöstem Zustand« befunden habe, »nämlich jeglicher Vorstellung von sich selbst beraubt« (K 15), der also kein Bild von sich hat, dem gewissermaßen sein Selbst-Gefühl abhanden gekommen ist. So sieht er sich beim Blick in den Spiegel einem gleichsam ›Fremden‹ gegenüber, da ihn die Ereignisse im Großen Garten – äußerlich und innerlich – derart verändert haben, dass er kaum noch Ähnlichkeit mit der Person besitzt, die er einst »von Fotos und in der Erinnerung kannte« (K 27). Die innere Auflösung, die der Junge in der Bombennacht erlebt, wirkt dabei als posttraumatische Belastung87 weit über die unmittelbare katastrophische Erfahrung hinaus fort, denn auch Jahrzehnte später hat Funk, wie der weitere Verlauf des Romans zeigt, noch immer keine ›Vorstellung‹ von sich,88 kein eigentliches Selbstbewusstsein entwickelt, sondern lebt ganz im Bann Ludwig Kaltenburgs. Aber es gibt in Dresden doch zumindest einen Ort, an dem es Hermann Funk gelingt, die Erinnerung an seine Eltern zeitweilig zurückzugewinnen, ihr Bild für sich wieder »heraufzubeschwören« (K 33f.). Diese Wiedergewinnung der Erinnerung und damit auch eines Teils der eigenen Identität wird möglich durch die Rückkehr des Sohnes an den ›traumatischen Ort‹,89 eben den Großen Garten, in dem noch heute die sogenannte Splittereiche steht – ein Baum, in dessen Stamm sich die Spuren des Bombenangriffs tief eingegraben haben (Abb. 6). Und ein Baum, in dem das doppelte Trauma der Zer-

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Mit dem Begriff der ›Posttraumatischen Belastungsstörung‹ (PTBS) wird in der Medizin eine spezifische Form der Traumafolgeerkrankung bezeichnet. Vgl. Hubert Spiegel, »Die Nacht, in der es tote Krähen regnete«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 03. 2008, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/marcel-beyer-kaltenburg-die-nachtin-der-es-tote-kraehen-regnete-1517145.html (Stand: 11. 03. 2013). Aleida Assmann unterscheidet traumatische Orte vor allem dadurch von Gedenkund Erinnerungsorten, dass »sie sich einer affirmativen Sinnbildung versperren. […] Während der Erinnerungsort stabilisiert wird durch die Geschichte, die von ihm erzählt wird, wobei der Ort seinerseits diese Erzählung stützt und verifiziert, kennzeichnet den traumatischen Ort, daß seine Geschichte nicht erzählbar ist. Die Erzählung dieser Geschichte ist durch psychischen Druck des Individuums oder soziale Tabus der Gemeinschaft blockiert. […] Der traumatische Ort hält die Virulenz eines Ereignisses als Vergangenheit fest, die nicht vergeht, die nicht in die Distanz zurückzutreten vermag« (Assmann, Erinnerungsräume, S. 328f.).

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Abb. 6: Marcel Beyer vor der Splittereiche im Großen Garten (Foto: Gaby Waldek), in: Börsenblatt, 11/2008, S. 40f.

störung Dresdens und des Verlusts der Eltern von Beyer ineinandergeblendet und geradezu gleichnishaft verdichtet wird: [D]ie Splittereiche. Es muß um die dreihundert Jahre her sein, daß jemand sie an dieser Stelle gesetzt hat, als Grenzbaum, heißt es, von einer Parkanlage war damals noch keine Rede. Nähert man sich vom Zoo her, merkt man nichts weiter: ein hoher, knorriger Baum mit schön gefurchter Rinde. Doch geht man um den Stamm herum, scheint die Baumhaut unvermittelt aufzuplatzen, zeigt sich, umrahmt von dicken, schlecht verwachsenen Wülsten, das blanke, offene, helle Holz. Man blickt nach oben, schiefe Äste, als wären sie gegen einen quälenden, massiven Luftwiderstand angewachsen, die Bruchstellen, und unterhalb der dicht belaubten Krone ein aufgerissener Bereich, Gesplittertes, Herausgebrochenes, die Schrunden. Erst mit der Zeit erkennt man, daß die über den gesamten Stamm verteilten Ritzungen ein gleichmäßiges Muster bilden: Hier stecken die Bombensplitter in der Rinde, sie stecken immer noch. Auf der Seite hat das Holz eine ungewöhnliche, leuchtend braune Färbung angenommen. Auf dem Boden liegt Totholz, man kann es mit der Fußspitze zerbröseln, morsch: Seit vielen Jahren breitet sich ein Pilz im Innern des angegriffenen Baumes aus, eine Spätfolge der Bombardierung. Jene Nacht hat sie überstanden, irgendwann aber wird der Schwefelsporling sie zugrunde richten. An der Splittereiche habe ich die Erinnerung, habe ich meine Eltern vor mir. (K 34)

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In dieser eindrucksvollen, für Beyers Schreiben durchaus charakteristischen Miniatur, in der mikroskopisch-genaue Beobachtung und sinnbildlicher Gehalt einander wechselseitig zu steigern scheinen, wird das menschliche Leiden an der Katastrophe abermals in den Versehrtheiten der Natur gespiegelt, verweisen die wuchernden Pilze und schwärenden Bruchstellen des Baumes auf die auch nach Jahrzehnten nur oberflächlich vernarbten, aber keineswegs geheilten seelischen Wunden des Protagonisten Hermann Funk. Und doch ist es gerade dieser schwer gezeichnete Ort der Katastrophe, an dem das Gedächtnis wiederkehrt.

*** Auch über ein halbes Jahrhundert nach der Zerstörung Dresdens ist die katastrophische Erfahrung des Bombeninfernos offenbar ein Thema, das die Literatur immer wieder neu zur Auseinandersetzung herausfordert. Dabei bleibt die Frage nach der Darstellbarkeit eines Geschehens, das bereits das Vorstellungs- und Artikulationsvermögen der Zeitgenossen vielfach überstieg, auch für die heutigen Autoren virulent, wird jedoch, wie der vergleichende Blick auf Walter Kempowski, Durs Grünbein und Marcel Beyer gezeigt hat, durchaus unterschiedlich beantwortet: Kempowskis Echolot-Projekt mit seiner Fortschreibung im Roten Hahn ist geprägt durch eine autobiographisch-dokumentarische Verfahrensweise, die mit Hilfe authentischer Zeugnisse der Überlebenden die unmittelbare Gegenwärtigkeit des Augenblicks inszeniert und einen scheinbar unverstellten Zugang zum Erlebten öffnet, zugleich aber durch das wohlkalkulierte auktoriale Arrangement der Texte vielfältige Verweisungszusammenhänge und Sinnbezüge herstellt, die eine aktive Mitarbeit des Lesers erfordern. Demgegenüber bemühen sich Grünbein und Beyer aus der historischen Distanz der Enkelgeneration um dezidiert poetische Ausdrucksformen, mit denen sich das Ereignis des Feuersturms auch und gerade aus der Position des Nachgeborenen imaginativ ›einholen‹ lässt. Rückt Grünbein in seinem Porzellan-Zyklus dabei vor allem den Aspekt der komplexen, mehrfach mediatisierten Repräsentation von Erinnerung und Gedächtnis in den Vordergrund und nutzt ihn als Nukleus kreativ-ästhetischer Gestaltung, so deklariert Beyer die künstlerische Genese des Kaltenburg-Romans von vornherein ausdrücklich als Imaginationsarbeit, die ihre Intensität aus der Verschränkung von konkreter Lebensweltlichkeit und magischer Verzauberung gewinnt. Bei aller Verschiedenheit ihrer Schreib- und Darstellungsstrategien jedoch sind Kempowskis kollektives Tagebuch, Grünbeins Gedichtzyklus und Beyers Roman in je eigener Weise eindringliche Zeugnisse für die besondere, aus dem Glanz der Vergangen-

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heit wie aus der Katastrophe der Zerstörung gespeiste Faszination, die der Erinnerungsort Dresden als »Raum des Imaginären«90 bis heute zu entfalten vermag.

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Karl-Siegbert Rehberg, »Dresden als Raum des Imaginären. ›Eigengeschichte‹ und Mythenbildung als Quelle städtischer Identitätskonstruktionen«, in: Dresdner Hefte, 23/2005, Heft 84, S. 88–99. Rehberg hat herausgearbeitet, wie die Zerstörung im Februar 1945 für Dresden zu einer besonderen Quelle der Identitätsstiftung wurde, denn seither gebe es »das Bild der verschwundenen Stadt und damit einen Raum des Imaginären, der sich in Spuren zeigt, in Erinnerungen und Projektionen. Die Wahrnehmung Dresdens ist immer auch verbunden mit der KoPräsenz einer Stadt, die nicht mehr existiert« (ebd., S. 89). Vgl. auch Olaf B. Rader, »Dresden«, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. III, München 2003, S. 451–470.

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Die Beiträgerinnen und Beiträger

Bettina Bannasch, geb. 1965, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg (seit 2010). Veröffentlichungen u. a.: Exil in der deutschsprachigen Literatur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller (Hrsg., mit Gerhild Rochus, Berlin/Boston 2013); Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses (Hrsg., mit Günter Butzer, Berlin/New York 2007); Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Erzählliteratur und in den Bildmedien (Hrsg., mit Christiane Holm, Tübingen 2005); Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah (Hrsg., mit Almuth Hammer, Frankfurt am Main/New York 2004) sowie weitere Veröffentlichungen zur Literatur von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, insbesondere der deutsch-jüdischen Literatur. Dorothee Birke, geb. 1975, Junior Fellow in Englischer Literaturwissenschaft am Freiburg Institute for Advanced Studies (seit 2008), davor von 2005 bis 2007 Geschäftsführerin des Graduate Centre for the Study of Culture an der Universität Gießen. Veröffentlichungen u. a.: Memory’s Fragile Power: Crises of Memory, Identity and Narrative in Contemporary British Novels (Trier 2008); Counterfactual Thinking – Counterfactual Writing (Hrsg., mit Michael Butter und Tilmann Köppe, 2011); Realisms in Contemporary Culture (Hrsg., mit Stella Butter, erscheint voraussichtlich 2013); Paratext and Digitized Narrative (thematische Sektion, Hrsg., mit Birte Christ, erscheint in Narrative, Jan. 2013) sowie Aufsätze zur Narratologie und zur englischen Literaturwissenschaft. Vittoria Borsò, Professorin für Romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Düsseldorf. Veröffentlichungen u. a.: das andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft. Mit einer Einleitung von Bernhard Waldenfels (Bielefeld 2008); als Mitherausgeberin: Übersetzung als Paradigma der Geistes- und Sozialwissenschaften (Oberhausen 2006); Topografia dell’estraneo. Confini e passaggi (Milano 2006); Transkulturation. Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt (Bielefeld 2007); Benjamin – Agamben. Politik, Messianismus, Kabbala (Würzburg 2010). Zahlreiche Aufsätze zur spanischsprachigen, italienischen und französischen Literaturwissenschaft sowie zur Kultur- und Medientheorie.

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Die Beiträgerinnen und Beiträger

Claudia Brodsky, Harvard B.A., Yale PhD, seit 1990 Professorin an der Princeton University, Department of Comparative Literature. Veröffentlichungen u. a.: The Imposition of Form: Studies in Narrative Representation and Knowledge (Princeton 1987); Lines of Thought: Discourse, Architectonics, and the Origin of Modern Philosophy (Duke 1996); Birth of a Nation’hood (Hrsg., mit Toni Morrison, New York 1997); »Architectural History: Benjamin and Hoelderlin«, in: boundary 2 (2003); In the Place of Language: Literature and the Architecture of the Referent (New York 2009); »Doing Without Knowing in Kant and Diderot«, in: Formen des Nichtwissens der Aufklärung (München 2010); »›Judgment‹ and the Genesis of What We Lack: ›Schema‹, ›Poetry‹, and the ›Monogram of the Imagination‹ in Kant«, in: The Eighteenth Century (51/3, 2010); »Framing the Sensuous: Objecthood and ›Objectivity‹ in Art After Adorno«, in: Art and Aesthetics After Adorno (Berkeley 2010); »Romantic and Postromantic Poetics, 1745–1900«, in: Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics (Princeton 2012). Michael Butter, geb. 1977, Akademischer Rat am Englischen Seminar der Universität Freiburg (seit 2011), Junior Fellow des Freiburg Institute for Advanced Studies (2008–2012). Veröffentlichungen u. a.: The Epitome of Evil: Hitler in American Fiction 1939–2002 (New York 2009); Counterfactual Thinking – Counterfactual Writing (Hrsg., mit Dorothee Birke und Tilmann Köppe, Berlin/Boston 2011); 9/11: Kein Tag, der die Welt veränderte (Hrsg., mit Birte Christ und Patrick Keller, Paderborn 2011); Arnold Schwarzenegger: Interdisciplinary Perspectives on Body and Image (Hrsg., mit Patrick Keller und Simon Wendt, Heidelberg 2011). Günter Butzer, geb. 1964, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft/Europäische Literaturen an der Universität Augsburg. Veröffentlichungen u. a.: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (München 1998); Kulturelles Vergessen: Medien – Rituale – Orte (Hrsg., mit Manuela Günter, Göttingen 2004); Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses (Hrsg., mit Bettina Bannasch, Berlin/New York 2007); Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur (München 2008); Metzler Lexikon literarischer Symbole (Hrsg., mit Joachim Jacob, 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2012) sowie zahlreiche Aufsätze zur europäischen Literatur des Mittelalters, der frühen Neuzeit und der Moderne. Angelika Corbineau-Hoffmann, geb. 1949, seit 1994 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: Beschreibung als Verfahren. Die Ästhetik des Objekts im Werk Marcel Prousts (Stuttgart 1980); Marcel Proust

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(Darmstadt 1983); Brennpunkt der Welt. Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780 bis 1830 (Berlin 1991); Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder von 1797 bis 1984 (Berlin/New York 1993); Marcel Proust, »A la recherche du temps perdu«. Einführung und Kommentar (Tübingen 1993); Testament und Totenmaske. Der literarische Mythos des Ludwig van Beethoven (Hildesheim 2000); Einführung in die Komparatistik (Berlin 2000; 3. Aufl. 2012); Die Analyse literarischer Texte. Einführung und Anleitung (Tübingen/Basel 2002); Kleine Literaturgeschichte der Großstadt (Darmstadt 2003). Hausgeberin mehrerer Bücher sowie Autorin zahlreicher Aufsätze zur französischen, italienischen und vergleichenden Literaturwissenschaft und zu Fragen der Literaturtheorie. Gesa von Essen, geb. 1967. 2004–2007 wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Freiburg, dort seit 2007 Akademische Rätin/Oberrätin; seit April 2008 Wissenschaftliche Koordinatorin der School of Language & Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Publikationen u. a.: Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts (Göttingen 1998); Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität (Hrsg., mit Horst Turk, Göttingen 2000); Orte der Literatur (Hrsg., mit Werner Frick und Fabian Lampart, Göttingen 2002); Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur (Hrsg., mit Werner Frick und Fabian Lampart, Göttingen 2003); ›Du sollst dich nicht vorenthalten!‹. Albrecht Goes in Gebersheim (Marbach 2008); Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur (Hsrg., mit Andrea Albrecht und Werner Frick, Berlin/Boston 2011). Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Aspekte der Internationalitätsforschung und kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Alexander Honold, geb. 1962, Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Lehrtätigkeit u. a. an der FU Berlin, an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Konstanz; Forschungsaufenthalte an der New York University und an der Stanford University, Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen in Essen. Zahlreiche Buchpublikationen, Aufsätze, Zeitungsartikel und Literaturkritiken. Zuletzt erschienen: Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit (Mhrsg., Stuttgart 2004); Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800 (Berlin 2005); Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Mhrsg., Göttingen 2009); Das erzählende und das erzählte Bild (Mhrsg., München 2010); Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges (mit Christof Hamann, Berlin 2011).

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Ursula Hennigfeld, geb. 1977, seit 2012 Professorin für Romanische Kulturwissenschaft an der Universität Osnabrück, vorher Juniorprofessorin für Romanische Philologie an der Universität Freiburg (2009–2012). Veröffentlichungen u. a.: Der ruinierte Körper. Petrarkistische Sonette in transkultureller Perspektive (Würzburg 2008); Nicht nur Paris. Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart (Hrsg., Bielefeld 2012); Literarische Gendertheorie. Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette (Hrsg., mit Ursula Link-Heer und Fernand Hörner, Bielefeld 2006) sowie Aufsätze zur französischen, spanischen und italienischen Literaturwissenschaft. Aurelia Kalisky, geb. 1976, seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin. Veröffentlichungen u. a.: L’Enfant et le génocide. Témoignages sur l’enfance pendant la Shoah (mit Catherine Coquio, Paris 2007) sowie zahlreiche Aufsätze zur vergleichenden Literaturwissenschaft und Gedächtnisforschung über literarische Zeugenschaft und politische Gewalt (u. a. »Von einem Genozid zum anderen. Die Bezugnahmen auf die Shoah in den wissenschaftlichen Annäherungen an den Genozid der Tutsi«, in: Revue d’Histoire de la Shoah, 2004; »Entfernte Stimmen. Überlegungen über die Missverständnisse des Zeugnisses«, in: Ruth Vogel-Klein (Hrsg.), Die ersten Stimmen. L’écriture de la Shoah en langue allemande, 1945–1963, Würzburg 2010.) Thomas Klinkert, geb. 1964, Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an den Universitäten Mannheim (2003 bis 2007) und Freiburg (seit 2007). Veröffentlichungen u. a.: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard (Tübingen 1996); Traduction = Interprétation. Interprétation = Traduction. L’exemple Rimbaud (Hrsg., mit Hermann H. Wetzel, Paris 1998); Einführung in die französische Literaturwissenschaft (Berlin 2000, 42008); Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Freiburg 2002); Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung (Berlin/New York 2010) sowie zahlreiche Aufsätze zur französischen, italienischen und vergleichenden Literaturwissenschaft und zur Literaturtheorie. Peter Kuon, geb. 1953, Professor für Romanische Philologie an den Universitäten Mannheim (1992 bis 1995) und Salzburg (seit 1995). Veröffentlichungen u. a.: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung (Heidelberg 1986); »lo mio maestro e ’l mio autore«. Die produktive Rezeption der

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»Divina Commedia« in der Erzählliteratur der Moderne (Frankfurt a.M. 1993); L’aura dantesca. Metamorfosi intertestuali nei »Rerum vulgarium fragmenta« di Francesco Petrarca (Firenze 2004) sowie zahlreiche Sammelbände und Aufsätze zur französischen, italienischen und vergleichenden Literaturwissenschaft. Monika Neuhofer war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Salzburg und Mannheim und unterrichtet zur Zeit Französisch und Deutsch in der Sekundarstufe II. Veröffentlichungen u. a.: Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé. Jorge Semprúns literarische Auseinandersetzung mit Buchenwald (Frankfurt a.M. 2006); Von Häusern und Menschen. Literarische und filmische Diskurse über das Haus im 19. und 20. Jahrhundert (Hrsg., mit Kathrin Ackermann, Würzburg 2010) sowie Aufsätze zur französischen Literatur und zur Literaturdidaktik. Günter Oesterle, geb. 1941, Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen. Veröffentlichungen u. a.: Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik (Hrsg., Würzburg 2001); Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Hrsg., Göttingen 2005); »Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung«, in: Gedächtnis und kultureller Wandel: Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen (Hrsg. Judith Klinger und Gerhard Wolf, Tübingen 2009); »Masse, Macht und Individuum. Wunder und Groteske in Joseph Roths Roman Tarabas«, in: Orte der Erinnerung. Kulturtopographische Studien zur Donaumonarchie (Hrsg. Eva Koczisky, Szombathely 2009); Der Abgrund der Erinnerung. Kulturelle Identität zwischen Gedächtnis und Gegen-Gedächtnis (Hrsg., mit Jens Mattern, Berlin 2010). Rolf G. Renner, geb. 1945, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Freiburg i.Br. (1989–2010). Veröffentlichungen u. a.: Ästhetische Theorie bei Georg Lukács (Bern 1976); Lebens-Werk. Zum inneren Zusammenhang der Texte von Thomas Mann (München 1985); Peter Handke (Stuttgart 1985); Das Ich als ästhetische Konstruktion (Freiburg 1987); Die postmoderne Konstellation (Freiburg 1988); Edward Hopper (Köln 1990, 1991, 1992, 2011); Das Thema der Kunst in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (Hrsg., Mainz 1992); Lexikon literaturtheoretischer Werke (Hrsg., Stuttgart 1995); Escombros e caprichos: o melhor do conto alemão no século 20 (Hrsg., mit Marcelo Backes, Porto Alegre 2004); Les révolutions du monde moderne (Hrsg., mit Alain J. Lemaître, Berlin 2006); Denken, das die Welt veränderte (Neuausg., Freiburg 2007); Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart (Hrsg., mit Dorothee Kimmich und Bernd Stiegler, Neuausgabe, Stuttgart 2008); Koloniale Vergangenheiten – (Post)impe-

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riale Gegenwart. Prozesse und Repräsentationen (Hrsg., mit Jörn Leonhard, Berlin 2009) sowie zahlreiche Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelpublikationen zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Literaturtheorie, Medientheorie und Komparatistik. Thomas Schmidt, geb. 1963, Leiter der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg (Deutsches Literaturarchiv Marbach) mit Lehrauftrag an der Universität Freiburg. Veröffentlichungen u. a.: Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons (Mhrsg., Göttingen 1999); Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit (Göttingen 2000); Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons »Jahrestage«. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses (Göttingen 2000); Engagierte Literatur in Wendezeiten (Mhrsg., Würzburg 2003); Lernort Literaturmuseum (Mhrsg., Göttingen 2011); seit 2007 Herausgeber der bibliophilen Reihe SPUREN; zahlreiche Aufsätze zur Literatur- und Kulturgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Museumskonzeptionen u. a.: Schillers Geburtshaus Marbach a.N. (2009), Hebelhaus Hausen i.W. (2010) und Jüngerhaus Wilflingen (2011). Silke Segler-Meßner, geb. 1965, seit 2012 Professorin für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Empfindsamkeit und Rationalität. Der Dialog der Geschlechter in der italienischen Aufklärung (Berlin 1998); Archive der Erinnerung. Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoah in Frankreich (Köln/Weimar/ Wien 2005); (Mit-)Herausgeberschaften: Europäische Verlage und romanische Gegenwartsliteraturen (Tübingen 2003); Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945 (Frankfurt a.M. 2006); Voyages à l’envers (Strasbourg 2009) sowie zahlreiche Aufsätze zur französischen und italienischen Literatur- und Kulturwissenschaft. Marisa Siguan, geb. 1954, Professorin für Deutsche Literatur an der Universität Barcelona. Veröffentlichungen u. a.: La Recepción de Ibsen y Hauptmann en el modernismo catalán (Barcelona 1990); Transkulturelle Beziehungen: Spanien und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert (mit Kart Wagner, Amsterdam 2004); Goethe: Obra narrativa (Madrid/Córdoba 2006); Historia de la literatura en lengua alemana (mit Hans Gerd Roetzer, Barcelona 2012) sowie zahlreiche Aufsätze zur deutsch-spanischen vergleichenden Literaturwissenschaft und zu Literatur und Erinnerung.

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Lutz Winckler, geb. 1941, bis 2006 Professor für deutsche Literatur und Ideengeschichte an der Universität Poitiers. Gastprofessuren an den Universitäten Marburg (1973/74), Hamburg (1979–1981), Besançon (1985–1988) und Paris VIII (1983/84 und 1989/90). Seit 1990 Mitherausgeber des Internationalen Jahrbuchs Exilforschung. Veröffentlichungen zur Literatursoziologie und zur deutschen Exilliteratur 1933–1945. Zuletzt: Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933–1940 (Hrsg., mit Hélène Roussel, Tübingen 2002); Gedächtnis des Exils. Formen der Erinnerung. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 28 (Hrsg., München 2010).