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German Pages 300 Year 2020
Sandra Maria Pfister Jenseits der Sicherheit
Science Studies
für St. Lorenzen i.P.
Sandra Maria Pfister, geb. 1991, ist Universitätsassistentin am Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Johannes-Kepler-Universität in Linz. Sie hat Soziologie, Global Studies und Pädagogik an der Karl-Franzens-Universität in Graz studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Katastrophensoziologie.
Sandra Maria Pfister
Jenseits der Sicherheit Deutungsmuster der Katastrophe und ihre Institutionalisierung im Katastrophenschutz
Publiziert mit der Unterstützung von Universität Graz Linzer Hochschulfonds Stadt Graz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Murenabgang in St. Lorenzen«, Foto: Herbert Mayer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5105-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5105-2 https://doi.org/10.14361/9783839451052 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
1.
Einleitung ........................................................................................ 9
2.
Die Soziologie in der Katastrophe............................................................ 17
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8.
Die »Katastrophe« in der Soziologie......................................................... 21 Begriffsgeschichtliche Betrachtung ................................................................... 22 Die Katastrophe als ein durch eine externe Gefahr ausgelöstes Ereignis ................... 22 Die Katastrophe als Ausdruck von Vulnerabilität und Resilienz ................................25 Exkurs: Zur Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft .................................... 29 Zu einer sozialen Konstitution der Katastrophe ................................................... 34 Clausens makrosoziologisches Prozessmodell: FAKKEL .........................................40 Die Katastrophe als Bruch mit der Selbstverständlichkeit des Alltags....................... 46 Zwischenfazit................................................................................................50
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit .............................................. 53 4.1. Deutungsmuster: Zur symbolischen Ordnung der Katastrophe................................ 53 4.1.1. Zum Konzept der »Deutungsmuster«........................................................55 4.1.2. Die Katastrophe als Deutungs- und Handlungsproblem.................................66 4.2. Institutionen und Organisationen: Zur objektivierten Ordnung der Katastrophe ........................................................69 4.3. Zum Konnex von symbolischer und objektivierter Ordnung: Ein theoretischer Integrationsversuch................................................................84 4.4. Zwischenfazit................................................................................................ 91 5.
Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements................................. 97
5.1. Staatliche Verantwortung im Katastrophenschutz.................................................98 5.2. Institutionelle Aufsplitterung im Katastrophenschutz ...........................................102
5.3. Die institutionellen Arrangements der Katastrophe »im Normalbetrieb« .....................................................................................106 5.3.1. Der Staat in der Prävention: Kollektive Lösungen und die technisch-naturwissenschaftliche Expertise ...... 106 5.3.2. (Markt-)Individualismus in der Prävention: Selbstschutz und Eigenvorsorge ............................................................. 114 5.4. Die institutionellen Arrangements der Katastrophe »in der Katastrophe« .................................................................................... 116 5.4.1. Der Staat in der Katastrophe: Zum formellen Katastrophenhilfseinsatz........... 117 5.4.2. (Markt-)Individualismus in der Katastrophe: Komplementarität und Richtungswechsel am Beispiel der Versicherungen...... 131 5.4.3. Gemeinschaft in der Katastrophe: Solidarität und das Freiwilligenprinzip .................................................... 133 5.5. Zwischenfazit...............................................................................................148 6.
Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012 ............ 153
6.1. Zur Methodik der Deutungsmusteranalyse..........................................................155 6.2. Zwischen Ereignis und Prozess: Situationsmodelle der Katastrophe ................................................................... 161 6.2.1. Sukzessive Verdichtung der »Katastrophe« ..............................................162 6.2.2. Die Katastrophe als schadbringendes Ereignis........................................... 164 6.2.3. Die Katastrophe als Überforderung von Handlungsressourcen ......................165 6.2.4. Die Katastrophe als Unterbrechung der Normalität ....................................168 6.2.5. Zur »richtigen« Katastrophe .................................................................. 170 6.2.6. Zwischenfazit ..................................................................................... 172 6.3. Zwischen Externalisierung und Internalisierung: Begründende Deutungsmuster der Katastrophe .................................................. 174 6.3.1. Exkurs: Naturbilder und erklärende Deutungsmuster .................................. 175 6.3.2. »Das war unser Schicksal, das war unser Glück« Zum Deutungsmuster einer höheren Ordnung ............................................ 181 6.3.3. »Schuld war die Natur, und nicht irgendwer anders« Zum Deutungsmuster einer natürlichen Kausalität .................................... 188 6.3.4. »Dass man das so VERANTWORTEN kann…« Zum schuldzuweisenden Deutungsmuster ................................................ 191 6.3.5. »Man muss die Natur schätzen lernen« Zu einem gesellschaftskritischen Deutungsmuster .....................................198 6.3.6. Die Katastrophe als »False Division« Zur Absenz eines Deutungsmusters........................................................ 205
6.3.7. »Was soll es da für unterschiedliche Meinungen geben?« Zur Dominanz des Deutungsmusters natürlicher Kausalität ......................... 207 6.3.8. Zwischenfazit ..................................................................................... 216 6.4. Zwischen Individualismus und Kollektivismus: Deutungsmuster des Katastrophenschutzes ...................................................... 220 6.4.1. »Dieses Zusammenspiel der verschiedenen Institutionen…« Zum Deutungsmuster des hierarchisch koordinierten Katastrophenschutzes .. 221 6.4.2. »In so einem Fall hilft eh jeder zusammen…« Zu einer gemeinschaftlichen Katastrophenhilfe ........................................ 226 6.4.3. »…eine Katastrophe dementsprechend zu verkaufen« Zum Deutungsmuster eines liberalen Katastrophenschutzes ....................... 229 6.4.4. »Also wenn wir die nicht gehabt hätten« Zur Erinnerung an den Erfolg der Katastrophenbewältigung ....................... 235 6.4.5. Konfliktlinien auf der Ebene des Katastrophenschutzes ............................. 237 6.4.5.1. »Ja was willst denn du, […] ihr habt eh alles gekriegt« Individualistische Beurteilung des koordinierten Modells.... 237 6.4.5.2. »…für jedes Projekt eine Kosten-Nutzen-Untersuchung« Zur liberalen Logik im koordinierten Modell .................... 250 6.4.5.3. »Schöpft das ganze Paket aus, was nur möglich ist!« Egoistischer Individualismus im koordinierten Modell ......... 251 6.4.5.4. »Es kann nicht immer alles auf die öffentliche Hand gespielt werden« Koordinierte Individuallösungen und individualisierte Kollektivlösungen........................... 253 6.4.5.5. »Das muss ausgegrenzt werden« Soziale Schließung in der Katastrophenhilfe .................... 257 6.4.6. Zwischenfazit .................................................................................... 264 7.
Résumé ........................................................................................ 267
Bibliographie......................................................................................... 279 Literatur ........................................................................................................ 279 Dokumente ..................................................................................................... 288 Quellen .......................................................................................................... 290 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................... 293 Abbildungsverzeichnis .............................................................................295 Anhang ...............................................................................................297
»Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen« (Max Frisch 1981, Der Mensch erscheint im Holozän)
1. Einleitung Die Gesellschaft in der Katastrophe
Die ersten Sommermonate des Jahres 2012 sind für die gesamte Steiermark sehr niederschlagsreich, wodurch es hie und da vermehrt zu Überschwemmungen und Hangrutschungen kommt – so auch in St. Lorenzen im Paltental. Als sich die Gefährdung zuspitzt, kommt es in einigen Nachbarorten punktuell zu Evakuierungsmaßnahmen, während der Siedlungsbereich in St. Lorenzen noch hinreichend sicher scheint. Als der Lorenzerbach in einer regnerischen Julinacht erneut Hochwasser führt, versucht die Freiwillige Feuerwehr noch, das bereits stark geschiebeführende Gerinne von Verklausungen und Wildholz zu befreien. Dennoch ahnt niemand, was sich nur wenige Stunden später ereignen wird: Nachdem der Wildbach in den frühen Morgenstunden für wenige Augenblicke auffällig ruhig wird, erfasst ein Murenabschub den Ort. Augenzeugen berichten von einer meterhohen, »tsunamiartigen« Welle und auch ExpertInnen klassifizieren das Ereignis auf Basis von Daten zum Abfluss und den Ablagerungshöhen als Murenabschub extremen Ausmaßes.1 Dabei ist der Lorenzerbach ohnehin als stark geschiebeführend und murfähig einzustufen. Seine Grunddisposition ist zunächst durch eine rutschanfällige Geologie geprägt: Granit und Schiefer, vor allem feinschichtiges Grauwackenschiefer, neigen verstärkt zur Vernässung und bilden rutschfähige Gleitschichten; Moränenablagerungen im mittleren bis oberen Einzugsgebiet sowie Bergsturzmassen und Hangschutt im Übergang zum Talboden führen als Stauer ebenfalls zu Vernässungen und stellen verfügbares Transportmaterial dar. Topographische Bedingungen, wie die Form des Einzugsgebiets mitsamt murfähigen Zubringern oder das mittlere Gefälle des Wildbaches von 20 Prozent, tragen ebenso zur Grundanfälligkeit des Lorenzerbaches bei. Einen langfristig variablen, aber nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Disposition bildet darüber hinaus die Vegetation. So prägt etwa die landwirtschaftliche Nutzung der unbesiedelten Flächen im Ablagerungsgebiet und der talnahen Einhänge wesentlich den Wasserkreislauf. Zudem birgt der Waldbestand im Einzugsgebiet des Lorenzerbaches einerseits die Gefahr der 1 Vgl. BMLFUW 2012, S. 34; 63.
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Wildholzmobilisierung – so sind die Waldflächen in höheren Lagen durchwegs als (Standort-)Schutzwälder ausgewiesen, die durch Lawinen, Erosion, Steinschlag, Rutschungen, Hanglabilität, Pflegemangel und Wildschäden in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Andererseits kommt insbesondere den Waldflächen im Talbereich wiederum eine erhöhte Nutzenfunktion im Objektschutz vor Erosions- und Rutschungsgefahren oder im Ausgleich des Wasserhaushalts zu.2 Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Anfälligkeit ist es nur wenig überraschend, dass bereits im Laufe der vorangegangenen Jahrhunderte mehrere Wildbachereignisse zu verzeichnen waren und die Verbauungstätigkeit entlang des Lorenzerbaches bereits bis in das frühe 20. Jhdt. zurückreicht.3 Und so war auch im Jahr 2012 der langanhaltende Dauerregen in Kombination mit den intensiven Akutniederschlägen des 20. und 21. Juli ein hinreichender Auslösemechanismus für einen Murenabgang. An den bereits wasservorgesättigten Böden kam es an zahlreichen Abbruchstellen zu Rutschungen, die in weiterer Folge zu Verklausungen, Aufstauungen und Feststofftransporten im Wildbach führten. Das komplexe Zusammenspiel von hydrologischen (z.B. wassergesättigte Böden), meteorologischen (langanhaltender Dauerregen über das gesamte Einzugsgebiet in Verbindung mit intensiven Akutniederschlägen), geomorphologischen (die Kombination aus Granit und Schiefer als rutschfähige Gleitschichten und Schotterablagerungen als transportfähige Disposition), topographischen (Hangneigung, Form des Einzugsgebietes usw.) und vegetativen Bedingungen (Bewaldung, Bewirtschaftung usw.) brachte schließlich die besagte Mure hervor, die sich dann mit einer mittleren Fließgeschwindigkeit von in etwa 43 bis 54 Kilometer pro Stunde und einer Abflussmenge von 500 bis 800 Kubikmeter pro Sekunde und mitgeführten Feststoffen (u.a. in etwa 5.400 Schüttmeter Wildholz) über die bestehenden Schutzbauten hinweg in Richtung des Siedlungsraumes St. Lorenzen bewegte, wo sie schließlich im Bereich des Schwemmkegels mit Ablagerungshöhen von bis zu 4 Metern zum Erliegen kam.4 In St. Lorenzen wurde durch dieses Ereignis ein Ausnahmezustand eingeleitet: So wurden etwa Infrastruktur und Gebäude5 beschädigt, landwirtschaftliche Weideflächen verschüttet, Forstbestände zerstört, eine Person wurde schwer verletzt, sowie der Verlust von Tieren und massive Sachschäden zu beklagen waren. Zusätzlich zu diesen materiellen Folgeschäden und den damit verbundenen Folgen für die Lebenswelten der Menschen kam es zu einem weiteren fundamentalen Schnitt im Alltag der BewohnerInnen: Der behördliche Katastrophenalarm 2 Vgl. BMLFUW 2012, S. 31ff; WLV o.J. 3 Vgl. BMLFUW 2012, S. 33f; WLV o.J. Beginn der Verbauungstätigkeit laut Aufzeichnungen im Jahr 1921. 4 Vgl. BMLFUW 2012, S. 36-59. 5 Laut WLV-Schadenskartierung wurden 7 Gebäude total zerstört und 67 beschädigt (vgl. BMLFUW 2012, S. 61-63).
1. Einleitung
wurde ausgerufen, St. Lorenzen zum Sperrgebiet erklärt und der Ort evakuiert. In weiterer Folge begann eine Phase der Schadensbewältigung, in der eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure eingebunden waren: Katastrophenhilfsdienste, militärische Assistenztruppen, Sachverständige und ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis, Katastrophenschutzbehörden, RepräsentantInnen der lokalen bis zur bundesweiten Politik, privatwirtschaftliche Unternehmen (z.B. Infrastrukturunternehmen wie Energiedienstleister oder Telefonanbieter, auch Baumaschinenunternehmen, MedienvertreterInnen oder Unternehmen aus der Lebensmittelbranche), die betroffenen BewohnerInnen selbst sowie zahlreiche informell freiwillige HelferInnen, die allesamt Zeit und Mühe investierten, um die katastrophalen Folgen aufzuarbeiten und weitere Auswirkungen einzudämmen. Allmählich wurde das Ablagerungsgebiet von den Schlammmassen befreit, Gebäude und Infrastruktur wieder instand gesetzt sowie Sachgüter ersetzt, um den Menschen schrittweise die Rückkehr in ihren Alltag zu ermöglichen. Neben Maßnahmen der Schadensbewältigung und provisorischen Schutzmaßnahmen vor akuten Gefährdungen wurden überdies »[a]ufgrund der dokumentierten Gefährdungssituation für den Siedlungsraum (vgl. GZP) und auf Basis eingehender, fachlicher Beurteilung der aktuellen Verhältnisse im Einzugsgebiet des Lorenzerbachs (…) nach dem Schadereignis vom 21.07.2012«6 längerfristige Schutzprojekte eingeleitet, mit deren Verwirklichung bereits im Spätsommer 2012 begonnen wurde. Das deklarierte Ziel stellte dabei der »Schutz des Siedlungsraumes von St. Lorenzen im Paltental (…) vor schadbringenden Murereignissen und stark geschiebe- und wildholzbelasteten Hochwasserabflüssen aus dem Einzugsgebiet des Lorenzerbaches« dar, wozu »im unteren Mittellauf Schutzmaßnahmen vorgesehen [sind], die in der Lage sind[,] die Dynamik von Muren abzubremsen, das transportierte Material inkl. Unholz vor dem Erreichen des Siedlungsraumes schadlos abzulagern und so die Gerinne durch den Siedlungsraum funktionsfähig zu erhalten und ein Verklausen bzw. Überborden zu vermeiden.«7 Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der Errichtung technischer Schutzbauwerke – zweier Wildholzfilter und eines Dosierbauwerks – wofür allein in etwa 4 Mio. Euro mobilisiert wurden. Doch auch begleitende Maßnahmen wurden im Anschluss an den Murenabgang verstärkt getätigt, wie etwa die Anpassung des Bachquerschnittes, die Erhöhung von Brücken, Böschungspflege, Drainagen, Wiederaufforstung (inkl. tiefwurzelnder Bäume) oder bautechnische Schutzmaßnahmen in der Wiedererrichtung von Gebäuden. Mit einem Katastrophenereignis beginnt allerdings niemals »nur« eine Phase der (praktischen) Schadensbewältigung, sondern auch eine Phase, in der Geschich6 WLV o.J. 7 Ebd.
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Jenseits der Sicherheit
ten über das Ereignis erzählt werden (müssen).8 Menschen müssen Ereignisse in einen sinnhaften Kontext setzen, um ihnen Bedeutung zu verleihen und das Geschehene zu erklären. So kursierten auch im Anschluss an den Murenabgang in St. Lorenzen verschiedenste Narrative, die sich etwa aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Prozessverlauf, aus der Vorstellung einer ambivalenten Schicksalhaftigkeit, dem »Glück im Unglück«, oder der Idee der Rache der Natur, die sich gegen den Menschen wendet, speisten. Von der lokalen Politik fühlte man sich betrogen und vernachlässigt, von dem Aufgebot an Hilfsmaßnahmen sichtlich gerührt. Nach einer anfänglichen Glorifizierung von Solidarität und Mitgefühl verabschiedete sich der Zusammenhalt, um dem Ärger und Mutmaßungen über die Verteilung von Hilfsgütern Platz zu machen. Derartige Geschichten sind dem Ereignis allerdings niemals inhärent. Sie bedürfen der sozialen Konstruktion, wenngleich sie nicht beliebig oder willkürlich erfolgen, sondern stets anschlussfähig an bestehende, kollektive Wissensbestände bleiben müssen. Die Wahrnehmung von Ereignissen erfolgt niemals losgelöst von der ihr zu Grunde liegenden (sozialen) Realität.9 Gleichzeitig wirkt die Wahrnehmung einer drohenden oder manifesten Katastrophe wieder auf die soziale Realität zurück, da sie maßgeblich das Verhalten und Handeln der Menschen gegenüber der Katastrophe bestimmt: »[H]uman beings act toward things on the basis of the meaning that the things have for them.«10 Daraus resultieren auch die zahlreichen Paradoxien, die den Umgang mit und die Einschätzung von Risiken prägen und sich nicht auf ein »objektives« Risiko reduzieren lassen: »The risks that kill you are not necessarily the risks that anger and frighten you.«11 Dabei kommt dem persönlichen Erleben einer Katastrophe eine besondere Relevanz zu. Als »Sedimentation von Erfahrungen«12 kann es neue Deutungs- und Handlungsressourcen stiften, die in Zukunft zur kognitiven und praktischen Bewältigung derartiger Situationen aktiviert werden können. Die Katastrophe wird damit zum potenziellen Anlass individuellen und kollektiven Lernens, wobei dieses Lernen nicht zwangsläufig in einem konstruktiveren Umgang mit der Katastrophe und Risiken besteht, sondern auch dysfunktional wirken kann – etwa im Sinne einer Erhöhung der Wahrnehmungsschwelle in chronisch krisengebeutelten Regionen, wodurch potenzielle Gefahren nicht mehr als solche erkannt werden, sondern in den Horizont des Normalen fallen.13 Gerade vor dem Hintergrund der Erlebnisqualität der unmittelbaren Katastrophenerfahrung, die sich von der modernen, überwiegend medial vermittelten Ka8 Vgl. Prisching 2006 am Beispiel von Hurrikan Katrina. 9 Ebd., S. 53. 10 Blumer 1969, S. 2; Hervorhebung SP. 11 Sandman 1987 nach Jungermann/Slovic 1993, S. 80. 12 Rost 2014, S. 167. 13 Vgl. ebd., S. 172-176.
1. Einleitung
tastrophennormalerfahrung aus der Distanz unterscheidet,14 dem damit einhergehenden Potenzial für individuelles und soziales Lernen, sowie der Erkenntnis, dass in den Interpretationen der Katastrophe der Schlüssel für das Verstehen von katastrophenbezogenen Verhaltens- und Handlungsweisen liegt,15 erscheint es vielversprechend, die Ausdeutungsprozesse der Katastrophe in den Fokus der Analyse zu nehmen.16 Dabei unterliegen die Ausdeutung und Bearbeitung von Katastrophen keiner Willkür, sondern folgen einer sozialen Logik: »[S]ocial conditions or ›reality‹, shape how we think about and act toward disaster.«17 Es gilt, Deutungs- und Handlungsprozesse als eingewoben in ein soziales Gefüge zu erkennen und in ihren Konsequenzen für eben dieses Sozialgefüge zu erschließen.18 Unterschiedliche Zugänge zu Gesellschaft und Natur – und damit zu Naturkatastrophen – gehen stets auch mit unterschiedlichen sozialen Wirklichkeiten, mit unterschiedlichen institutionellen Gefügen einher, die sich einerseits auf diese Zugänge stützen und durch sie erst hervorgebracht werden, und andererseits selbst als Ankerpunkte dieser Zugänge dienen und sie damit auf Dauer stellen. Es ist also notwendig, nicht nur die Deutung von Katastrophen, sondern auch den Konnex zwischen Interessen, Ideen und Institutionen (angelehnt an eine Kultursoziologie in der Tradition Webers) zu thematisieren, um die Deutungen und Handlungen gegenüber der Katastrophe angemessen verstehen zu können. Erst innerhalb dieses Dreiklangs wird eine spezifische »Normalität« erst hergestellt und damit die Grundlage, etwas als »normal« bzw. »selbstverständlich« wahrzunehmen. »Selbstverständlichkeit« ist damit eine relationale Kategorie: Worin sie besteht, ist immer nur in Bezug zu einem historischen und sozialräumlichen Kontext zu sehen. Zwangsläufig gilt das auch für konkrete Deutungen und Handlungen, die aus den selbstverständlich erscheinenden Weltbildern hervorgehen. Während dem Individuum seine Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit nun tendenziell als selbstverständlich und in letzter Instanz gültig erscheinen, ist es Aufgabe der Soziologie, gerade diese »Logik der Selbstverständlichkeiten«19 aufzubrechen und sie in ihrer Kontingenz und Historizität – d.h. ihrem potenziellen Anderssein – aufzuzeigen: »Der Zweck gesellschaftlicher Theorien besteht doch gerade darin, von den Handlungs- und Selbsteinschätzungslogiken der Akteure zu abstrahieren, um ihnen kollektive und individuelle Alternativen des Handelns und Wahrnehmens aufzuzeigen, damit sie ihre Rolle in der | Welt nicht nur überdenken, sondern vielleicht sogar aktiv umgestalten. Um eine neue Weltsicht zu eröff14 15 16 17 18 19
Vgl. Keller 2008b; Keller 2003. Vgl. Hoffman 2002, S. 140. Vgl. Schubert 2016. Hewitt 1998, S. 76. Vgl. ebd., S. 81. Eribon 2016, S. 54.
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nen und neue politische Perspektiven anzubieten, muss man als Erstes die internalisierten Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster sowie die soziale Trägheit, die aus ihnen folgt, aufbrechen«.20 Die Soziologie ist damit aber selbst niemals unabhängig von der Gesellschaft, die sie untersucht, zu denken: Sie ist selbst in gesellschaftliche Strukturen eingebettet und wirkt gleichsam auf diese zurück – sociology is a »reciprocal voice.«21 Obgleich dies vielleicht im ersten Augenblick als ein Hindernis »objektiver« Analysen erscheint, ist gerade hierin auch die mögliche Relevanz soziologischer Katastrophenforschung zu finden. Als »[e]ntsetzliche soziale Prozesse«22 konfrontieren Katastrophen Individuen oder gar ganze Gesellschaften immer auch mit physischem und psychischem Leid, weshalb die Soziologie gerade in diesem Feld ihren Anspruch als eine Wissenschaft über die Gesellschaft für die Gesellschaft wahrnehmen sollte. Damit soll natürlich nicht die Forderung außer Kraft gesetzt werden, dass die Durchführung des Forschungsprozesses, die Methodik sowie die Darstellung von Ergebnissen möglichst frei von normativen Aspekten erfolgen sollte. Die Fragestellung sowie die »Verwertung« von Ergebnissen bieten aber die Möglichkeit, dem Plädoyer für eine ethische Verantwortung der Soziologie Rechnung zu tragen. In ihrer Auseinandersetzung mit menschlichem Verhalten und Handeln angesichts der Katastrophe kann die Soziologie eine solide Grundlage für den künftigen gesellschaftlichen Umgang mit Katastrophenereignissen liefern und damit einen potenziellen Beitrag zur Minderung von menschlichem Leid leisten. Die vorliegende Arbeit untersucht anhand des Murenabgangs in St. Lorenzen, auf welche Deutungsmuster – als spezifisches Konzept kollektiver Wissensstrukturen – Menschen angesichts Katastrophen zurückgreifen, um die Situation kognitiv und praktisch zu bewältigen. Es sind damit weder die konkreten Erfahrungen noch das konkrete Ereignis, die im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die tiefergründigen Wissensstrukturen, die diesen zu Grunde liegen. Dabei ist anzunehmen, dass es im Wesentlichen durch den gesellschaftlichen Kontext bestimmt wird, welche Deutungsmuster rezipiert werden. Dementsprechend verweist ein potenzieller Konsens zwischen Akteuren weniger auf die »Richtigkeit« eines Deutungsmusters, als auf ihre Dominanz, eine verfestigte Wirklichkeitsordnung, eingebettet in je spezifische Interessens- und Machtgefüge. Damit wird in weiterer Folge die Frage erläutert, wie diese Deutungsmuster in den institutionellen Strukturen des österreichischen Katastrophenschutzes verankert und auf Dauer gestellt sind und wie sie diese Ordnung wiederum legitimieren und damit stabilisieren. 20 Ebd., S. 54f. 21 Kroll-Smith/Gunter 1998, S. 173. 22 Clausen 2003.
1. Einleitung
Der Argumentationsverlauf nimmt seinen Ausgangspunkt zunächst bei einem Abriss der soziologischen Katastrophenforschung und ihrem Beitrag zum Verständnis der Katastrophe im Speziellen und der sozialen Welt im Allgemeinen (Kap. 2), um anschließend ein theoretisch fundiertes Verständnis der »Katastrophe« zu entfalten (Kap. 3). In einem nächsten Schritt (Kap. 4) wird die soziale Wirklichkeit um die Katastrophe thematisiert: Einerseits die symbolische Ordnung und das Konzept der »Deutungsmuster«, vor deren Hintergrund sich die Katastrophe als besonderes Deutungsproblem zeitigt, andererseits die objektivierte gesellschaftliche Ordnung, mithin die Institutionen und Organisationen, die sich um den Problembereich der »Katastrophe« herum entfalten. Schließlich wird Schuberts (2016) Konzept der »eco-cultural habitats« als theoretischer Integrationsversuch vorgestellt, der es zulässt, das Wechselspiel zwischen symbolischer und objektivierter Ordnung zu thematisieren. Kap. 5 widmet sich schließlich der Architektur des österreichischen Katastrophenschutzes, um seine innere Logik herauszuarbeiten. Im Anschluss werden in Kap. 6, nach einer kurzen Skizzierung des Forschungsdesigns, idealtypische Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012 in St. Lorenzen rekonstruiert, und in ihrer lebensweltlichen Relevanz und Legitimierung der objektivierten Ordnung dargestellt. Abschließend (Kap. 7) werden die zentralen Ergebnisse resümiert und umrissen, wie die Restabilisierung der etablierten Wirklichkeitsordnung im Anschluss an eine Katastrophe erfolgt. Dabei soll und muss an diesem Punkt darauf hingewiesen werden, dass sich diese Arbeit zwar als ein Beitrag für eine solide Grundlage im Katastrophenschutz versteht, indem sie die soziale Konstitution und somit die prinzipielle Kontingenz von Deutungen und den daraus resultierenden Handlungen durch Akteure betont und damit auch blinde Flecke aufzeigt, jedoch distanziert sie sich klar von dem Anspruch, konkrete Handlungsanleitungen zu formulieren. Weder ist es ihr Anspruch, noch könnte eine soziologische Analyse das leisten: »Sozialwissenschaftliche Analyse kann also nicht sagen, was wir tun sollen und wie wir das am besten tun könnten. Sie hat vielmehr die Rolle, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, in dem diese sich selbst sehen (und vielleicht entdecken) kann.«23 Es geht letztendlich darum, kulturelle Selbstverständlichkeiten zu provozieren und zu thematisieren, damit die »Logik der Selbstverständlichkeiten«24 aufzubrechen und ein historisches Bewusstsein zu evozieren und den Weg zu Alternativen und der Berücksichtigung vernachlässigter Aspekte aufzuzeigen: »Sozialwissenschaftliche Analyse ist […] institutionalisierte Desillusionierung.«25
23 Eder 2002, S. 64. 24 Eribon 2016, S. 54. 25 Eder 2002, S. 62.
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2. Die Soziologie in der Katastrophe
Die Notwendigkeit einer theoretisch (aber auch empirisch) fundierten Katastrophensoziologie ergibt sich zunächst aus den Erkenntnissen, welche die Auseinandersetzung mit Katastrophen auf einer pragmatischen Ebene verspricht. So kann die Soziologie zum Verständnis von Problemen in der Katastrophenbewältigung, individuellem und kollektivem Verhalten, oder auch der Risikowahrnehmung und -bewertung beitragen. Sie erlaubt, Probleme im gesellschaftlichen Umgang mit Risiken und Katastrophen und unintendierte Nebenfolgen aufzuzeigen und zu verstehen.1 Folglich erscheint »die Katastrophensoziologie als diejenige Disziplin, die sich mit dem ›Immunsystem‹ der Gesellschaft auseinandersetzt.«2 Im Anschluss an die etablierte konstruktivistische These, »dass insbesondere Hindernisse und Fehler zu Zugewinnen an wahrnehmungs- und alternativenbewusster Entscheidungsfähigkeit verhelfen,«3 trägt sie zur Möglichkeit sozialen Lernens bei, um die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft angesichts drohender künftiger Katastrophenereignisse zu erweitern. Doch das Potenzial der Auseinandersetzung mit Katastrophen erschöpft sich nicht im Verständnis individuellen oder kollektiven Verhaltens in der Katastrophe und den damit im Fernsten verbundenen pragmatischen Fragestellungen, sondern gibt auch Aufschluss über die Gesellschaft als solche. Die Katastrophe bietet ein Fenster, durch das kulturelle Besonderheiten und alltägliche Spezifika einer Gesellschaft analysiert werden können:4 »The arrangements of society become most visible when challenged by crisis.«5 Krisen und Katastrophen erlauben einmalige Einblicke in die Struktur einer Gesellschaft und ihre soziale Ordnung: Sie erscheinen als empirische Falsifikation sozialen Handelns und setzen damit die dominante Weltsicht und die damit verbundenen Strukturen und Praktiken auf den Prüfstand.6 Über 1 2 3 4 5 6
Vgl. Stallings 2002, S. 283. Voss 2006, S. 58. Geenen 2003, S. 11. Prisching 2006, S. 9f. Wolf 1990 nach Button 2016, S. 3. Vgl. Dombrowsky 1998, S. 19.
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Jenseits der Sicherheit
den klassischen Ansatz eines »studying the ›exception‹ in order to better understand the ›rule‹«7 heben sie das Typische einer Gesellschaft hervor, welches sonst im Strom des Alltäglichen untergeht: »Katastrophen sind Knotenpunkte einer gesellschaftlichen Entwicklung, an denen sichtbar wird, was sonst verborgen bleibt.«8 Die Katastrophe erscheint als »natural laboratory«9 und erlaubt, in und durch sie auf die allgemeinen Strukturen der Gesellschaft zu blicken: »[D]isasters are the only falsifications we have to prove the truth.«10 Obgleich Katastrophen damit vielversprechende Erkenntnismöglichkeiten in sich bergen, werden sie durch die Soziologie erst relativ spät in das Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt. Während im US-amerikanischen Raum gegen Mitte des 20. Jhdt. eine »Sociology of disaster« im Entstehen begriffen ist, können die Anfänge einer »Katastrophensoziologie« im deutschsprachigen Raum sogar erst in die 70er Jahre datiert werden.11 Dabei erfolgt die Entwicklung einer Katastrophensoziologie als soziologische Subdisziplin nicht nur sehr zögerlich, sondern auch abgekoppelt vom soziologischen Hauptstrang: »What was once a means to an end is now an end in itself. There is now the sociology of disaster instead of simply sociology.«12 Dabei lässt sich diese zögerliche Etablierung der Katastrophensoziologie nicht allein durch eine lange Tradition der Ausblendung von Katastrophen durch die Soziologie begründen,13 sondern wurzelt zum Teil in der aufkeimenden Katastrophensoziologie selbst. Denn diese beschränkt sich sowohl im US-amerikanischen als auch im deutschsprachigen Raum vorwiegend auf anwendungs- und praxisorientierte Fragen: »Die Katastrophensoziologie ist zumeist bislang eine angewandte Soziologie.«14 Sie war und ist zum Teil immer noch »unnötig untheoretisch«,15 sofern sie Empirie ohne Rekurs auf zentrale Fragestellungen des Faches betreibt, 7 Stallings 2002, S. 283; ein Zugang, der sich auch in soziologischen Klassikern (z.B., Durkheim, Garfinkel) widerspiegelt. 8 Prisching 2006, S. 9. 9 Dynes/Drabek 1994 nach Stallings 2002, S. 283. 10 Dombrowsky 1998, S. 30. 11 Vgl. Dombrowsky 2008, S. 64-67. Anfangs erfolgte dabei eine starke Konzentration auf Naturkatastrophen. In den 70er Jahren wurde die Perspektive auf technische Großschadenslagen erweitert (vgl. Müller/Clausen 1993, S. 112). 12 Stallings 1998, S. 135. 13 Im Hinblick auf Naturkatastrophen ist dabei die generell lange Ausblendung umweltspezifischer Fragestellungen in der Soziologie zu berücksichtigen (vgl. Görg 1998, S. 53). Diese ergibt sich zum einen aus der soziologischen Selbstbegründung (Ablehnung naturalistischer Erklärungsansätze und Abgrenzungsversuche eines spezifisch soziologischen Gegenstandsbereiches [vgl. Jahn/Wehling 1998, S. 75]) und zum anderen daraus, dass Natur und Umwelt nicht »an sich soziologisch bedeutsam« sind, sondern nur insofern, »als diese für menschliche Gesellschaften im weitesten Sinne bedeutsam sind« (Kraemer 2008, S. 160). 14 Müller/Clausen 1993, S. 111. 15 Stallings 2003, S. 35.
2. Die Soziologie in der Katastrophe
sowie sie die Potenziale klassischer soziologischer Theorien für Fragestellungen im Kontext von Katastrophen ignoriert. Es ist also vis-à-vis zur Ausblendung der Katastrophe durch die Soziologie lange Zeit auch von einer Ausblendung der Soziologie durch die Katastrophensoziologie zu sprechen: »[F]rom a European perspective there still is a lack of sociology in sociological disaster research«.16 Während sich die anfänglichen Bestrebungen hin zu einer allgemeinen theoretischen Integration zunächst fast ausschließlich auf die Katastrophenforschungsstelle in Kiel (um Lars Clausen und später Wolf R. Dombrowsky) beschränkten,17 findet die Kritik einer mangelnden theoretischen Integration allmählich in der Katastrophensoziologie vermehrt Anklang. So plädiert beispielsweise Stallings (1998, 2002, 2003) offensiv für eine Wiederankoppelung an den soziologischen Hauptstrom, um einerseits die Potenziale der klassischen Soziologie für die Betrachtung von Katastrophen fruchtbar zu machen,18 sowie andererseits die Etablierung der Katastrophensoziologie voranzutreiben: »[T]he key to making disaster studies more relevant to sociology is the application of general sociological theory to the disaster context.«19
16 Dombrowsky 1998, S. 20. 17 Vgl. Müller/Clausen 1993, S. 111. 18 Unter anderem verweist er auf Luhmann, Giddens, Elias und Weber (vgl. Stallings 2003, S. 46f), sowie sich seine Katastrophentheorie der sozialen Ordnung auf Ansätze von Durkheim stützt (vgl. Stallings 1998). 19 Stallings 2002, S. 284. vgl. auch Stallings 2003, S. 36; Stallings 1998, S. 143.
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3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Vor dem Hintergrund der zaghaften Entwicklung einer Katastrophensoziologie sowie ihrer mangelnden theoretischen Integration in die allgemeinere Soziologie scheint es nur wenig überraschend, dass die Katastrophensoziologie neben ihrem Selbstverständnis auch mit der Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches hadert: Nach wie vor ermangelt es einer theoretisch scharfen Definition der »Katastrophe.«1 Dennoch lassen sich einige grundlegende Etappen in der Konzeption von Katastrophen unterscheiden.2 Nach einer kurzen Darstellung der begriffsgeschichtlichen Wurzeln der »Katastrophe« soll im Folgenden die Entwicklung dieser paradigmatisch erscheinenden Katastrophenkonzeptionen nachgezeichnet werden. Das zunächst dominante Verständnis der Katastrophe als »gesellschaftsexterner Akteur«, der über die Gesellschaft hereinbricht, wird allmählich durch die Berücksichtigung von Aspekten der sozialen Welt abgelöst; Vulnerabilitäts- und Resilienzkonzepte fassen die Katastrophe als langfristig angelegtes Phänomen an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und natürlicher, materieller Umwelt. Ein kurzer Exkurs zeigt anschließend, dass die implizite Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft, die diesen Konzeptionen der Katastrophe zugrunde liegt, an sich zu hinterfragen ist und Katastrophen sozial konstituiert3 sind. Daran anschließend soll exemplarisch – und nicht zuletzt auf Grund seiner Relevanz in der deutschsprachigen Katastrophensoziologie – Clausens Prozessmodell der Katastrophe dargestellt werden. Vor diesem Hintergrund wird schließlich auf den grundlegenden Konsens der KatastrophentheoretikerInnen verwiesen, dass der Kern dessen, was wir als »Katastrophe« verstehen, in der Unterbrechung des Selbstverständlichen, von Routinen bzw. sozialen Strukturen liegt. 1 Vgl. Voss 2006, S. 49. 2 Vgl. Gilbert 1998, S. 11. 3 In Anlehnung an Kraemers (2008) »soziale Konstitution der Umwelt.«
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Jenseits der Sicherheit
3.1.
Begriffsgeschichtliche Betrachtung
Der Begriff der Katastrophe findet im alltäglichen Sprachgebrauch eine breite Verwendung – als ein relationaler Begriff, mit dem unterschiedlichste Phänomene4 bezeichnet werden. Allgemeinhin wird damit ein »Geschehen als außeralltäglich und die Bewältigung des Ereignisses als ein Problem«5 markiert. Dabei geht der Begriff der Katastrophe ursprünglich bis in die Antike zurück, in der er zunächst eine dramentheoretische Bedeutung entfaltete und erst allmählich im Laufe des 19. Jhdt. Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch fand. Einem Auszug aus dem Brockhaus (1835) folgend, ist eine Katastrophe als eine – zunächst unbestimmte – schicksalhafte Wendung im Lebensverlauf von Menschen zu verstehen: »Katastrophe heißt so viel als Wendung und bezeichnet daher denjenigen Zeitpunkt im Leben des Individuums oder einer Gesammtheit [sic!] von Individuen, in welchem das Schicksal derselben eine bestimmte und entschiedene Wendung zum Guten oder Bösen, zum Glück oder Unglück nimmt.«6 Erst im weiteren Verlauf des 19. Jhdt. erfährt der Begriff dann seine eindeutig negative Aufladung, wonach die »Katastrophe« letztlich als Synonym für ein Unglück, Unheil oder Verhängnis erscheint, womit sich ihr semantischer Gehalt nun auch auf plötzliche, destruktive Ereignisse erstreckt. Daraus ergibt sich auch die (erst spät einsetzende) Anwendung des Katastrophenbegriffs auf destruktive Naturereignisse.7 Der Begriff der »Naturkatastrophe« impliziert dabei das Bild eines durch die Natur ausgelösten, menschlichen Unheils: die »Natur [sei] der Verursacher der Katastrophe«8 – ein Verständnis, das sich nicht nur im Alltagsverständnis hartnäckig hält, sondern selbst in der Katastrophensoziologie lange die dominante Sichtweise darstellte.
3.2.
Die Katastrophe als ein durch eine externe Gefahr ausgelöstes Ereignis
Die frühe Katastrophensoziologie fasst die »Katastrophe als ein Menschen überwältigender plötzlicher Einbruch eines Fremden […] in die Alltagswelt des Men4 Der Begriff der Katastrophe steht dabei in Zusammenhang mit vier Aspekten: die Katastrophe als Akteur (z.B. die Mure, das Hochwasser etc.), mit Schäden (worin sie eigentlich erst besteht, doch häufig erst als durch den Akteur ausgelöst erscheint), mit Störungen des sozialen Lebens, sowie mit einer negativen emotionalen Aufladung (vgl. Dynes 1998, S. 110). 5 Geenen 2003, S. 7. 6 Brockhaus 1835 nach Groh, S. 17. 7 Hierfür wurde noch bis ins 18. Jhdt. der Begriff der »Revolution« (vor dessen politischer Aufladung) angewandt (vgl. Groh et al. 2003, S. 16ff). 8 Wagner 2008, S. 3616; vgl. auch Groh et al. 2003, S. 16-23.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
schen.«9 Die Katastrophe erscheint hier als ein von außen über die Gesellschaft hereinbrechendes Phänomen. Die Ursachen werden damit aus der Gesellschaft ausgelagert: Die Katastrophe ist ein Resultat gesellschaftsexterner Gefährdungen, die z.B. in die Sphäre der Natur oder Technik verortet werden. Die Gesellschaft selbst erscheint damit als eine passive Entität, die bloß auf die in ihre Sphäre einbrechende und von ihr unabhängig bestehende Gefahr reagiert.10 Die Katastrophe wird dabei als unabhängige Variable mit der abhängigen Variable der sozialen Prozesse und Aspekte (den Auswirkungen auf die soziale Welt und deren Reaktionen auf das Geschehene) in einen Kausalzusammenhang gebracht.11 Überdies wird die Katastrophe hier häufig über Kategorien wie Zeit, Raum und Ausmaß der Folgen definiert,12 womit sich ein weiteres Spezifikum dieses paradigmatischen Verständnisses zeigt: Katastrophen werden hier tendenziell als Ereignis konzipiert; als ein in Raum und Zeit konzentriertes, abgrenzbares Ereignis, welches das Band der Zeit in ein Vorher und ein Nachher zu teilen scheint.13 Während diese Auffassung – auch als »Hazard Paradigm« oder »Agent Approach« bekannt – lange die dominante Sichtweise auf Katastrophen blieb,14 machte sich ab den 70er Jahren zunehmend Kritik daran breit.15 Tatsächlich kam es unter dem Paradigma, das lange Zeit die Auffassung von Katastrophen dominierte, zu einer Zunahme von (personellen wie materiellen) Schäden, wodurch die Konzeption sowie die daraus resultierenden Problemlösungsversuche falsifiziert wurden – so stellt Voss (2006) eine »Real-Falsifikation« der »objektorientierten, | Katastrophen als über den Menschen (als Kulturwesen) hereinbrechendes Naturereignis denkenden Katastrophenforschung«16 fest. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich allmählich die Erkenntnis, Katastrophen müssten innerhalb der sozialen Entität, die involviert ist, erfasst werden.17 Darüber hinaus ist der Bezug zu sozialen Aspekten bereits in der Konzeption der Katastrophe als (externer) Akteur, der über die Gesellschaft hereinbricht und dort Schäden verursacht, selbst verankert und damit ein Widerspruch angelegt: 9 Geenen 2003, S. 8. 10 Vgl. Gilbert 1998, S. 12; Hewitt 1998, S. 80. 11 Vgl. Kreps 1998, S. 34f. 12 Vgl. Dombrowsky 1998, S. 22. So finden sich in der frühen Katastrophensoziologie zur Bestimmung der Katastrophe Kategorien wie die Vorwarnperiode, d.h. der Zeitraum zwischen der Identifizierung einer Gefährdung und ihrem Eintritt, die zeitliche Erstreckung des katastrophischen Prozesses, sowie die (räumliche) Reichweite und das Ausmaß der Einwirkungen (vgl. Kreps 1998, S. 34f.). 13 Vgl. Geenen 2003, S. 8. 14 Vgl. Hewitt 1998, S. 77f. 15 Dafür war unter anderem Quarantelli wegbereitend. Allerdings kamen auch Impulse aus der europäischen Katastrophenforschung (vgl. Gilbert 1998, S. 26) 16 Voss 2006, S. S. 50f. 17 Vgl. Gilbert 1998, S. 13.
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Jenseits der Sicherheit
Denn davon auszugehen, ein natürliches Geschehen werde in seinem Hineinbrechen in eine Gesellschaft zur Katastrophe, ist per definitionem an soziale Aspekte geknüpft. Spätestens mit dem »Eintritt« wird das (natürliche) Geschehen zwangsläufig Teil einer sozialen Welt und ist damit immer (auch) ein kulturelles, soziales Phänomen, das ohne Rekurs auf eben diese Aspekte nicht angemessen erfasst werden kann.18 Neben diesem inhärenten Widerspruch liegt das grundliegende Dilemma nun darin, dass der Blick für gesellschaftsinterne Aspekte und langfristig angelegte Prozesse verstellt wird. Fragen nach der sozialen Überformung von Natur oder aus sozialen Systemen endogen erwachsenden Risiken und Gefährdungen werden systematisch ausgeblendet.19 Damit werden nicht nur wesentliche Aspekte in der Erklärung der Katastrophe ausgeblendet, sondern darüber hinaus auch möglichen Lehren die Grundlage entzogen: Denn erscheint die Katastrophe als ein Einbruch eines Fremden in die gewohnte Ordnung, dann scheint auch das Ende der Katastrophe in der Ausmerzung eben dieses Fremden, der Wiederherstellung der gewohnten Ordnung – des Status Quo, wenn man so will – zu liegen.20 Vor diesem Hintergrund erfolgte allmählich ein Paradigmenwechsel in Richtung eines »Taking the naturalness out of natural disasters,«21 womit sich die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung allmählich von einem Verständnis der (Natur-)Katastrophe als ein genuin natürliches Ereignis, einer Auffassung der Natur als grundlegende Ursache der (Natur-)Katastrophe distanziert. Damit soll allerdings keineswegs der Beitrag und die Relevanz naturwissenschaftlicher Erkenntnisse über die den Katastrophen zugrundeliegenden bzw. in sie involvierten Naturereignisse oder -prozesse und den damit verknüpften Naturrisiken und -gefahren abgesprochen werden. Ganz im Gegenteil: Die Naturwissenschaft leistet einen, wenn nicht den wesentlichen Beitrag zum Verständnis von natürlichen Phänomenen, der Einschätzung der Prozesstypen und -dynamiken, was nicht nur unmittelbar zu operativen Vorteilen führt und eine wesentliche Grundlage auf der pragmatischen Ebene des Katastrophen- und Risikomanagements darstellt (z.B. im Hinblick auf Gefahrenzonenplanung oder Projektierungen von aktiven wie passiven Schutzmaßnahmen). Überdies ist selbst die Soziologie wesentlich auf den »Import naturwissenschaftlichen Wissens über den Zustand und die Veränderung ökologischer Systeme unhintergehbar angewiesen,«22 sofern es eigenem Fachwissen über die zu analysierenden Bereiche der »Natur« ermangelt und die Analyse wechselseitiger Verflechtungen von Natur und Gesellschaft damit nicht, oder kaum, ohne Rekurs auf naturwissenschaftliches Wissen auskommt. 18 19 20 21 22
Vgl. Bator 2012, S. 92. Vgl. Hewitt 1998, S. 80. Vgl. Geenen 2003, S. 8. O’Keefe 1976 nach Wagner 2008, S. 3616. Kraemer 2008, S. 144.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Doch soll und muss darauf hingewiesen werden, dass sich einerseits Natur – selbst aus naturwissenschaftlicher Perspektive – der vollständigen Erschließung durch die menschliche Rationalität entzieht. Als äußerst komplexes System, durchzogen von Nichtlinearitäten und emergenten Prozessen, ist die vollständige Erfassung ihrer Funktionsweise nach naturwissenschaftlichen Prinzipien gar nicht möglich und damit bestehen unberücksichtigte Eventualitäten im Schatten des Erfassten stets fort. Darüber hinaus gilt es etwas vorzugreifen und bereits an dieser Stelle darauf zu verweisen, dass selbst naturwissenschaftliches Wissen stets in Relation zum Kontext seiner Entstehung gefasst werden muss, sofern es niemals die bloße Widerspiegelung einer objektiven Natur ist bzw. sein kann. Natur selbst wird immer bereits durch ein kulturelles, sozial gefertigtes Medium – beispielsweise naturwissenschaftliche Modelle – erkannt. Naturwissenschaftliches Wissen ist damit immer auch aus der Interaktion zwischen WissenschaftlerInnen zu erklären, und nicht aus einem realen »So-Sein« der Natur.23 Andererseits, und das ist der wesentlichere Aspekt, sind Naturereignisse weder notwendig noch hinreichend für eine Katastrophe als solche. Die Katastrophe benötigt einen Bezug zur Gesellschaft, ungeachtet dessen, ob dieser direkter (indem sich die Auswirkungen bzw. die Katastrophe in ein soziales System verorten lassen) oder indirekter Form (indem die Auswirkungen bzw. die Katastrophe durch den Menschen wahrgenommen und kommuniziert werden, z.B. im Falle des Artensterbens, das sich an sich in der Biosphäre vollzieht) ist. Ein noch so kraftvolles Naturereignis wird nicht zur Katastrophe ohne einen Bezug zum Menschen:24 »Der Mensch erscheint im Holozän« festhält: »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen« (Max Frisch).
3.3.
Die Katastrophe als Ausdruck von Vulnerabilität und Resilienz
Mit der Kritik am »Hazard Approach« findet sich ab den 70er Jahren also vermehrt die Forderung nach der Berücksichtigung sozialer Aspekte in der Erklärung von Katastrophen, welche die Gefährdung einer Gesellschaft steigern oder mindern.25 Wie gezeigt wurde, greift es zu kurz, Naturkatastrophen als reine Naturphänomene zu verstehen. Erst in ihrer Konsequenz für den Menschen bzw. die Gesellschaft werden Naturereignisse zur Katastrophe: Katastrophen vollziehen sich innerhalb von Gesellschaften oder sozialen Einheiten, werden erst von diesen als solche wahrgenommen, erlebt und gedeutet. 23 Vgl. Stallings 2003, S. 40; Eder 2002, S. 46; Knorr-Cetina 1981. 24 Vgl. Schrott/Glade 2008, S. 135ff. 25 Vgl. Oliver-Smith 2002, S. 27.
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Allein die Berücksichtigung sozialer Aspekte ist allerdings noch nicht hinreichend, um die aufgezeigten Dilemmata zu überwinden. Dies kann am Beispiel von Kreps (1998) illustriert werden, der zwar Katastrophen als soziale Phänomene erkennt und dafür plädiert, die Charakterisierung von Katastrophen über die ihnen zu Grunde liegenden physischen Naturereignisse auf soziale Dimensionen hin auszuweiten und die sozialen Strukturen vor, während und nach der Katastrophe zu analysieren.26 Wovon er sich damit allerdings nicht lösen kann, ist, Katastrophen als Ereignis zu denken.27 Doch genau diese Dreiteilung in ein Vorher, Während und Nachher gilt es zu überwinden. Denn ein Katastrophenbegriff, der Katastrophen als ein räumlich und zeitlich abgrenzbares Ereignis versteht verstellt den Blick dafür, dass Katastrophen selbst aus langfristigen Prozessen erwachsen, aus sozialen Strukturen, in denen die Katastrophe bereits lange Zeit vor ihrer Manifestation als (scheinbar) schadbringendes Ereignis angelegt ist.28 Bereits Hewitt (1983) verweist darauf, dass Naturkatastrophen eher aus der »normalen« Ordnung der Dinge erklärt werden können, als auf Grundlage geophysikalischer Aspekte. Katastrophen werden nun nicht mehr als ein Kausalgefüge aus unabhängigen natürlichen Faktoren und abhängigen sozialen Faktoren gefasst, sondern soziale Aspekte rücken vermehrt als bedingende Faktoren in das Blickfeld: »[D]isaster is no longer experienced as a reaction; it can be seen as an action, a result, and […] as a social consequence.«29 Naturkatastrophen unterliegen also einer Umdeutung: Es sind nun »›unnatural‹ natural disasters,«30 die ebenso wie die individuellen und gesellschaftlichen Praktiken im Umgang mit der Katastrophe einer sozialen Logik folgen. Jede Handlung, die sich auf die Katastrophe richtet – sei dies, um sie zu bewältigen, oder sie zu verhindern – ist eingebettet in einen weiteren Kontext und folgt eher einer sozialen Logik als situativen Notwendigkeiten. Es gilt, diese Praktiken als eingewoben in ein soziales Gefüge zu erfassen und auch in ihren Konsequenzen für eben dieses Sozialgefüge zu erkennen.31 Dementsprechend kommt es in der Folge zu einer Anhäufung von Arbeiten, im Rahmen derer Katastrophen als Langfristphänomene mit einer zu Grunde liegenden komplexen Entwicklungsgeschichte konzipiert werden, die es gilt, in allen ihren Facetten zu erfassen. In diese Tradition nun lassen sich vor allem Arbeiten aus der Vulnerabilitäts- und Resilienzforschung verorten.32 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. Kreps 1998, S. 54. Vgl. Stallings 1998, S. 128. Vgl. Rost 2014, S. 152. Gilbert 1998, S. 14. Hewitt 1998, S. 81. Vgl. ebd. Vgl. Voss 2006, S. 53.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Das Konzept der »Vulnerabilität« richtet sich im Kern auf die Verwundbarkeit einer sozialen Entität. Eine zentrale, für die Vulnerabilitätsforschung wegweisende Definition nach Blaikie et al. fasst Vulnerabilität als »the characteristics of a person or group in terms of their capacity to anticipate, cope with, resist, and recover from the impact of a natural hazard.«33 Die Naturkatastrophe wird also nicht mehr rein über die Charakteristika eines Naturereignisses begriffen, sondern die »Verletzbarkeit« gegenüber natürlichen Gefährdungen bzw. die Capabilities der involvierten sozialen Entitäten rücken in den Blick, womit der Zugang auch zu erklären vermag, weshalb Naturereignisse mit vergleichbaren Parametern in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedliche Folgen zeitigen. Das Konzept der Vulnerabilität siedelt das Risiko und damit die Katastrophe an der Schnittstelle von Gesellschaft und Ökosystem an und ist wiederum eingebettet in einen dynamischen Prozess der Gesellschaftsentwicklung, welcher sich in einem sozialen, ökonomischen und institutionellen Kontext vollzieht. Die Katastrophe rückt also an die Schnittstelle zwischen Natur und Gesellschaft.34 Während zunächst wesentliche Impulse zur Entstehung des Vulnerabilitätskonzepts aus den Sozialwissenschaften kamen, fand das Konzept auch bald in den Naturwissenschaften Einzug. Hier erschien es allerdings vor allem im Kontext einer Risikofunktion, die im Wesentlichen (unter Berücksichtigung der Existenz etwaiger Verfeinerungen, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann) auf die Parameter Gefahr (die Charakteristika des potenziell schadbringenden Ereignisses), Risikoelemente (die exponierten Elemente der sozialen Entität, mithin deren potenziellen »Schadstellen«) und eben Vulnerabilität (die »Schadensanfälligkeit« dieser Risikoelemente, mithin deren Verletzbarkeit35 ) herunterzubrechen ist. »Vulnerabilität« erscheint also als Vehikel zur Quantifizierung und Modellierung von Konsequenzen aus potenziell schadbringenden Ereignissen.36 Allerdings haben sowohl die strikt sozialwissenschaftliche Ausrichtung als auch die strikt naturwissenschaftliche Ausrichtung ihre Grenzen. Während erstere Gefahr läuft, Katastrophen kulturalistisch einzuebnen, bleibt letztere wiederum der objektivierten Darstellung der Katastrophe verhaftet. Sofern die Empirie zeigt, dass das Ausmaß an Schäden aus Katastrophen oftmals stärker durch soziale Vulnerabilität erklärbar ist, als durch die Intensität eines Ereignisses, allerdings die unmittelbare Evidenz eines katastrophenträchtigen natürlichen Ereignisses wenig Raum lässt, die Naturkatastrophe ganz ohne Rekurs auf die involvierten natürlichen Prozesse zu erklären, wird die Notwendigkeit eines Brückenschlags zwischen 33 Oliver-Smith 2002, S. 28. 34 Vgl. ebd.; Bohle/Glade 2008, S. 105. 35 Die Vulnerabilität erscheint dabei häufig als empirische Konstante, die einen Wert von V ∈ [0;1] annimmt – mithin markiert sie eine Spannbreite, an der ein Pol die totale Resistenz und der andere die totale Zerstörung beschreiben. 36 Vgl. Bohle/Glade 2008, S. 101ff.
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den natur- und sozialwissenschaftlichen Vulnerabilitätskonzepten offensichtlich. So unternimmt beispielsweise David Alexander einen Integrationsversuch, wonach Vulnerabilität weder als bloßes Vehikel zur Quantifizierung von Schäden aus einem Naturereignis erscheint, indem er sie als facettenreiche Eigenschaft einer Gesellschaft versteht, die Bewältigungs- und Anpassungsstrategien ebenso umfasst wie die Exponiertheit und Sensitivität gegenüber der potenziellen Gefährdung, noch die Erklärung des Risikos und der Katastrophe völlig von den ihnen zu Grunde liegenden natürlichen Ereignissen und deren Charakteristika loslöst, sondern sie aus einer komplexen Interaktion der beiden Bereiche erwachsend begreift.37 Vulnerabilität kann letztlich in einem breiten Sinne gefasst werden als the »degree to which a system is likely to experience harm due to exposure to a hazard, either an exogenous perturbation or an endogenous stress or stressor.«38 Damit legt das Konzept der Vulnerabilität den Grundstein, ein enges Verständnis der Katastrophe als schadbringendes Ereignis aufzubrechen: »Vulnerability is not a state of being that emerges in response to a disaster – it is something that precedes it.«39 Die Katastrophe wird umgedeutet vom ehemals außergewöhnlichen Ereignis hin zum »normalen« Phänomenen, welches auftritt, wenn Gesellschaften an den Herausforderungen und Risiken, denen sie gegenüberstehen, scheitern.40 Vulnerabilität, ebenso wie Resilienz, ist damit in langfristigen Entwicklungsprozessen angelegt, welche den als Katastrophenereignis wahrgenommenen Prozessen vorgelagert sind. Überdies liegt eine weitere Stärke des Vulnerabilitätskonzepts darin, zu erkennen, dass Gesellschaften, selbst wenn sie sich der objektiven Gefährdungen, denen sie gegenüberstehen, gewahr sind, dennoch an ihnen scheitern können, indem es z.B. der notwendigen Ressourcen für einen angemessenen Umgang mit den Risiken ermangelt oder Interessenskonstellationen diesen verhindern,41 womit letztlich also auch der Raum zur Unterscheidung von freiwillig übernommenen und unfreiwillig auferlegten Risiken eröffnet wird.42 Risiken sind selbst stets Inhalt gesellschaftlicher Aushandlungs- und Bewertungsprozesse und ihre Verteilung und die gesellschaftlichen Praktiken ihnen gegenüber erfolgen stets eingebettet in einen Kontext von Machtstrukturen und Interessensverhältnissen. Indem es auf die Verwundbarkeit gegenüber (mehr oder weniger) konkreten Risiken fokussiert, bleibt das Vulnerabilitätskonzept allerdings bekannten Gefahren verhaftet. Risiken, die den BeobachterInnen nicht zugänglich sind – mithin latente Risiken jenseits des Vorstellungshorizonts – vermag es nicht zu erfassen 37 Vgl. Alexander 2004 nach Bohle/Glade 2008, S. 106. 38 Turner et al. 2003 nach Bohle/Glade 2008, S. 109. 39 Furedi 2007, S. 488. 40 Vgl. ebd., S. 487. 41 Vgl. Oliver-Smith 2002, S. 42. 42 Vgl. Hewitt 1998, S. 81.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
und kann sich damit nicht aus den Fallstricken der blinden Flecke gesellschaftlicher Strukturen lösen. Demgegenüber verweist das Konzept der »Resilienz« auf einen komplementären Bereich: Es ist nicht die »Verwundbarkeit«, sondern eine generelle »Robustheit« gegenüber ökologischen, mehr oder weniger unbestimmten, latenten Herausforderungen, welche jederzeit schlagend werden können. Damit weitet die Resilienzforschung das Problemverständnis auf den Bereich des Unsicheren, des unbestimmten Nicht-Wissens, des Ausgeblendeten aus, womit es eine »(Wieder-)Öffnung gegenüber dem Unbestimmten«43 markiert. »Resilienz«, so könnte man argumentieren, zielt also auf die »Qualität des ›Immunsystems‹ von Systemen,«44 während »Vulnerabilität« auf die Diagnose einzelner »Krankheitsbilder« zielt. Beide Zugänge, sowohl die Vulnerabilitäts- als auch die Resilienzforschung, bleiben allerdings in ihrem Kern nach wie vor einem objektorientierten Denken der Katastrophe verhaftet. Denn so werden zwar soziale Aspekte in die Erklärung der Katastrophe und ihrer Konsequenzen aufgenommen und die Katastrophe als ein langfristig angelegtes Phänomen erkannt, das aus einer wechselseitigen Interaktion Verflechtung der dem »Ereignis« vorangehenden, gesellschaftlichen Strukturen und einem irritierenden Moment erwächst. Es wird sogar erkannt, dass dieses irritierende Moment eben nicht zwangsläufig der natürlichen, unbelebten Umwelt entspringen muss, sondern auch in Gestalt eines gesellschaftsinternen Stressors auftreten kann, womit auch Katastrophen, denen kein natürlicher Prozess zu Grunde liegt, erfasst werden. Dennoch wird weiterhin das Bild vermittelt, es seien – nun eben vulnerable oder resiliente – Gesellschaften, welche diesen irritierenden Momenten, etwa der »gefährlichen Natur« oder der »gefährlichen Technik«, gegenüberstünden.45 Gesellschaft erscheint damit in letzter Instanz weder als Ursprung katastrophischer Entwicklungen, noch kann die Katastrophe selbst als ein Phänomen der sozialen Welt gefasst werden. Vielmehr erfolgt die Berücksichtigung von sozialen Aspekten im Kontext der Vulnerabilitäts- und Resilienzforschung in Form eines intermediären Moments, das darüber »entscheidet«, ob sich ein Naturereignis zur Katastrophe entwickelt oder aber eben nicht.
3.4.
Exkurs: Zur Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft
Bereits die bloße Gegenüberstellung von Gesellschaft und Natur, wie sie den vorangegangenen Konzeptionen der Katastrophe zu Grunde liegt, zwingt zu einer kriti43 Voss 2006, S. 54. 44 Ebd. 45 Vgl. ebd., S. 53f.
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schen Reflexion. Denn es ist mitunter auch das starre Festhalten an dieser Grenzziehung, das im Kontext des gesellschaftlichen Umgangs mit manifesten oder drohenden Naturkatastrophen in eine Sackgasse führen kann. Denn werden die Ursachen für die (Natur-)Katastrophe in das »natürliche System« verortet, wird der Blick dafür verstellt, dass Katastrophen einen funktionellen Bezug zum sozialen System haben und erst durch menschliche Praktiken konstituiert werden. Damit könnte diese klare Trennung von Natur und Gesellschaft letztendlich zu einer Problembehandlung führen, welche auf Symptome, nicht aber die strukturellen Ursachen fokussiert.46 Gerade deshalb gilt es, diese selbstverständlich erscheinende Grenzziehung zu hinterfragen. Denn die oppositionelle bzw. dualistische Auffassung der Gesellschaft als Sphäre des Sozialen, der eine (gegenstandslose) Natur, die mechanischen Prinzipien folgt, gegenübersteht, ist weder selbstevident noch universell gültig. Vielmehr ist der Umgang mit Natur und das Verständnis dessen, was Natur ist, kulturell und historisch variabel: Es gibt unterschiedliche »Naturbilder,«47 womit Natur an sich nicht oder nur kaum losgelöst von sozialen Aspekten zu denken ist. Natur und Gesellschaft stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Einerseits wird Natur durch ökologische Eingriffe seitens des Menschen überformt.48 Eine genuin natürliche Sphäre ist damit kaum bis unmöglich identifizierbar, da diese eben einer sukzessiven sozialen Überformung bzw. Kolonisierung zugeführt wird. Diese »›Expansion‹ des Einflussbereiches des Sozialen«49 ist seit jeher, in sämtlichen Kulturepochen der menschlichen Gesellschaft zu finden, beschleunigt und intensiviert sich allerdings im hochmodernen Zeitalter zunehmend. Andererseits darf diese Annahme der gesellschaftlich überformten Natur nicht als ein einseitiges Verhältnis missinterpretiert werden. Vielmehr konstituieren Gesellschaft und Natur ein komplexes, dynamisches Wirkungsgeflecht: Sich bereits aus einer Eigendynamik der Natur heraus stetig wandelnde, natürliche Bedingungen begrenzen und ermöglichen Handeln. Handeln in und mit der Natur erscheint dabei nicht als bloße Nutzung gegebener Umweltfunktionen innerhalb dieses Möglichkeitsraumes, sondern ist seinerseits wiederum bereits sozial höchst voraussetzungsvoll: Umweltfunktionen bedürfen einer »sozialen Inwertsetzung«50 – einerseits auf einer pragmatischen Ebene der Machbarkeit und andererseits auf einer symbolischen Ebene der Legitimation über gesellschaftliche Wertvorstellungen und Normen. Dieses Handeln in und mit der Natur – »gesellschaftliche Transformationsprozesse« im Sinne Kraemers (2008) – fließen überdies zusätzlich in den 46 47 48 49 50
Oliver-Smith 2002, S. 32. Vgl. Eder 2002, S. 56; Gingrich/Mader 2002, S. 9. Vgl. Oliver-Smith 2002, S. 43. Kraemer 2008, S. 170. Ebd., S. 157
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Wandlungsprozess der Umweltzustände ein und treiben die Dynamik weiter, wodurch sich wiederum der Möglichkeitsraum des Handelns in und mit Natur verändert, begrenzt oder auch erst eröffnet.51 Und selbst, was als Natur und Umweltfunktion wahrgenommen wird, wird bereits gesellschaftlich bestimmt und liegt nicht in den Dingen selbst: »[W]as unter Natur zu verstehen ist, bestimmt allein der Mensch.«52 Gesellschaftliche Naturbilder »fungieren gewissermaßen als kulturelle Filter, die die gesellschaftlichen Nutzungspraktiken der Umwelt als Quelle, Senke und Fläche anleiten, regulieren, legitimieren oder korrigieren«;53 sie setzen Natur in einen sinnhaften, symbolischen Kontext. »Natur und Gesellschaft existieren nicht als separate Entitäten außerhalb eines Vermittlungsverhältnisses: Natur kann nicht ›an sich‹, d.h. unabhängig von den jeweiligen Formen ihrer gesellschaftlichen Bearbeitung, Wahrnehmung und Symbolisierung erfahren oder erkannt werden.«54 Sie sind die »aufeinander bezogenen gegensätzliche Pole einer Differenz,«55 die aber innerhalb eines Vermittlungszusammenhangs, den »gesellschaftlichen Naturverhältnissen« im Sinne Jahn und Wehlings (1998), liegen. Natur liegt dementsprechend nicht jenseits der Grenze zum Sozialen, sondern Natur selbst ist diese Grenzbestimmung und nur durch diese Grenzbestimmung erst »konstituiert sich die Erfahrung der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit von Natur.«56 Natur ist eben nicht unabhängig von sozialer Wahrnehmung und Bearbeitung, sondern wird dadurch überhaupt erst zugänglich. Die Differenz zwischen Natur und Gesellschaft ist also historisch und kulturell variabel, wenngleich nicht beliebig. Natur (ebenso wie die Katastrophe, wie wir sehen werden) ist weder eine selbstevidente Deutungskategorie, noch ist sie eindeutig und konsensuell: Es gibt nicht ein gesellschaftliches Naturverhältnis, sondern eine Pluralität gesellschaftlicher Naturverhältnisse.57 Natur ist also nicht an sich »natürlich« – sie ist immer schon, aber zunehmend, (auch) sozial bestimmt: In ihrer materialen Beschaffenheit, aber gleichsam auch in dem, was als Natur gilt, was sie zu bedeuten hat und wo die Grenzen zur Gesellschaft bzw. zum Sozialen gezogen werden. Gleichzeitig ist der Raum an gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten unmittelbar an die natürlichen Grundlagen rückgekoppelt: Die Dynamik der Natur mitsamt ihrer sich wandelnden Bewertung und Grenzverschiebung zum Sozialen eröffnet, verändert und begrenzt diesen Möglichkeitsraum. Damit kann es nicht hinreichend sein, nur 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. ebd., S. 151-161. Groh et al. 2003, S. 24. Kraemer 2008, S. 155. Jahn/Wehling 1998, S. 82. Ebd., S. 83. Ebd. Vgl. Kraemer 2008, S. 140f; Jahn/Wehling 1998, S. 84.
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die »Einbettung des Sozialen in materielle Umweltkontexte«58 zu erfassen – mithin die Funktionen, welche die Natur der Gesellschaft bietet, sowie die Bedingungen, die sie für menschliches und soziales Leben setzt –, sondern es gilt, auch »die Einbettung materieller Kontexte in soziale Prozesse«59 ernst zu nehmen und Natur im Sinne Kraemers (2008) in ihrer »sozialen Konstituierung« zu erkennen. Einen theoretischen Integrationsversuch bietet unter anderem Schubert (2016), der die kulturalistische Formung der Umwelt und die ökologische Determination der Gesellschaft »under a coevolutionary theoretical umbrella«60 zu vereinen vermag, indem er eben beides, »the ecological determination of culture and – once strong cultural preferences have been established – the cultural determination of physical nature and society«61 ernst nimmt. Mit seinem Konzept der »eco-cultural coevolution« begreift er Gesellschaft und Natur nicht als oppositionelles Begriffspaar, sondern als eine untrennbare Einheit, womit er einen einfachen Mensch-Natur-Dualismus überwindet. Unterschiedliche Zugänge zu Natur und Gesellschaft, so seine These, lassen sich nur mit Rekurs auf spezifische Pfade institutioneller Spezialisierungen begreifen, womit Naturkonzepte als spezifische Grenzziehungen enttarnt werden und »Natur« als Resultat spezifischer »eco-cultural fabrics,« als Amalgam kultureller, natürlicher, institutioneller und technologischer Aspekte, die einer gemeinsamen Logik folgen, gefasst wird.62 Die vorangegangenen Erläuterungen sind hinreichend, um Konzeptionen von Mensch-Natur-Verhältnissen, die nicht über eine »einfache Dichotomie von Mensch und Natur hinausgehen,«63 in ihrer Unzureichendheit zu erkennen. Die eindeutige Gegenüberstellung und Trennung von Natur und Gesellschaft, die Annahme ihrer ontologischen Verschiedenheit, ist dabei an sich stark im westlichen Zivilisationsmodell verankert.64 Dabei weisen bereits Berger und Luckmann (2016) daraufhin, dass die eigene Wirklichkeit, die eigenen Weltbilder, demjenigen, der sie verinnerlicht hat, als selbstverständlich und fraglos gültig erscheinen. Dieser stark verankerte Dualismus täuscht uns dahingehend, anzunehmen, es gäbe starre und stabile Grenzen, die zwischen Mensch und Natur verlaufen, und versperrt uns das Denken in Kategorien jenseits dieses Dualismus. Tatsächlich zeigt die Empirie, dass diese Grenzen ständig überschritten werden. Wie Bruno Latour (1993) festhält, werden kontinuierlich durch Übersetzungen (»work of translation«) 58 Kraemer 2008, S. 161. 59 Ebd. 60 Schubert 2016, S. 63. 61 Ebd., S. 6. 62 Vgl. ebd., S. 61ff; 6f; 43f. 63 Rost 2014, S. 152. 64 Vgl. Wagner 2008, S. 3616; Oliver-Smith 2002, S. 30; Keller 2003, S. 396. Diese Trennung ist kein Spezifikum der Moderne, sofern sie sich auch in anderen Kulturkreisen und Epochen findet (vgl. Gingrich/Mader 2002, S. 21).
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Hybride konstituiert und die Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft kann angesichts dieser grenzüberschreitenden Prozesse vielmehr erst durch eine Vielzahl an Reinigungsprozessen (»work of purification«) institutionalisiert und dauerhaft stabilisiert werden.65 Dabei muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die vorangegangene Argumentation nicht dahingehend missgedeutet werden darf, die Unterscheidung von Mensch und Natur zu negieren. Eine kulturalistische Einebnung der Differenz zwischen Natur und Gesellschaft in dem Sinne, dass Natur auf eine rein symbolische Kategorie der sozialen Welt reduziert würde, gilt es zu vermeiden. Mithin soll von einem moderaten Konstruktivismus ausgegangen werden: Die Existenz einer Natur und ihrer Beschaffenheit im Sinne einer ontologischen Wirklichkeit soll weder negiert noch hier näher thematisiert und in Frage gestellt werden:66 »Kein Akteur, […] zweifelt ernsthaft an der Materialität von […] Natur […]. Worauf es allerdings ankommt, ist die Deutung und Bedeutung der Materialität, die der Aufmerksamkeit gegenüber Sinnesdaten immer vorausgeht«67 , und genau diese »Bedeutung ergibt sich also nicht allein aus den materiellen Eigenschaften des Objekts, sondern zugleich aus der Kosmologie, also der Gesamtsicht der Welt, der die Akteure gerade folgen.«68 Es gilt also, darauf hinzuweisen und sich zu vergegenwärtigen, dass die Bedeutung und die Folgen, welche die Natur für die Gesellschaft zeitigt (oder zu zeitigen scheint), sich nicht unmittelbar aus ihrer ontologischen Besonderheit ableiten, sondern vielmehr von gesellschaftlichen Naturvorstellungen abhängen.69 Dabei ist es weder notwendig, dass die Naturvorstellungen deckungsgleich mit der ontologischen Realität einer Natur sind, noch diese zu erfassen: Soziologisch relevant ist die Art und Weise, wie sie in der sozialen Wirklichkeit besteht und welche Konsequenzen damit für die soziale Welt einhergehen:70 »We must move beyond the position where nature is viewed as either the material conditions of our existence, or as no more than a set of culturally generated symbols. We must begin to accept nature as both.«71 Es gilt also, einen Naturbegriff zu entfalten, der im Spannungsfeld zwischen einer kulturalistischen Reduktion von Natur und einer natürlichen Determiniertheit des Sozialen zu bestehen vermag. Indem wir unterschiedliche Naturbilder als Grenzziehungen enttarnen, und diese wiederum eben als spezifische Grenzziehung 65 66 67 68 69
Vgl. Latour 1993, S. 10f. Die Klärung dieser Frage ist eine der Philosophie zu überlassende Aufgabe. Gill 2003, S. 50. Ebd. In dieser Argumentation findet sich unweigerlich eine Fortsetzung des Thomas-Theorems: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« 70 Vgl. Gill 2003, S. 17. 71 Redclift/Woodgate 1998 nach Schubert 2016, S. 8.
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zwischen Natur und Gesellschaft thematisieren, sie in ihrer Historizität, ihren Verschiebungen und damit ihrer sozialen Konstituierung aufzeigen, gelingt es uns, zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln. Gleichzeitig aber entgehen wir damit auch der Versuchung, das Problem der Grenzbestimmung über eine vollständige Auflösung der Grenzen zu lösen, wie beispielsweise Latour (1993) mit dem Hinweis, Soziales und Nicht-Soziales könnten ohnehin nicht mehr getrennt werden, nahelegt und für einen symmetrischen Handlungsbegriff plädiert.72 In einer derartigen Konzeption verschwimmen die soziale und die natürliche Welt zu einem Einheitsbrei und die Besonderheit einer sozialen Welt, welche in der praktischen, sinnhaften Handlungsfähigkeit von Akteuren besteht, würde negiert sowie die Möglichkeit der Thematisierung von Handlungsfolgen für ökologische Systeme und deren Zurechenbarkeit und Bewertung aufgegeben werden.73 Es ist zwar anzuerkennen, dass die Identifikation einer genuin natürlichen Sphäre nicht möglich ist, doch kann und darf die Lösung nicht darin bestehen, die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft zu negieren. Dementsprechend gilt es, wie Kraemer (2008) fordert, die »Grenzbestimmung von Natur und Gesellschaft nicht preiszugeben, sondern an ihr in modifizierter Form festzuhalten,«74 sie in ihrer spezifischen, sozial konstituierten Form zu thematisieren und die »Plausibilität traditioneller Differenzbestimmungen von Natur und Gesellschaft zu überprüfen.«75
3.5.
Zu einer sozialen Konstitution der Katastrophe
Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erläuterungen ist zu hinterfragen, ob von einer Verortung der Gefährdung in eine genuin natürliche Sphäre, die sich dann in der Katastrophe schlagend manifestiert, ausgegangen werden kann. Einen ersten und sehr frühen Ansatz, Katastrophen als soziales Phänomen, als sozial konstituiert zu denken, lieferte Carr (1932), der Katastrophen über den Zusammenbruch der objektiven (und immateriellen) Kultur und damit per se als Resultat menschlichen Handelns versteht: »A catastrophe is known by its works […]. It is the collapse of the cultural protections that constitutes the disaster proper«.76 Obgleich Carr versucht, Katastrophen als soziale Prozesse zu fassen, kann er sich von den Fallstricken einer objektivistischen Konzeption dennoch nicht befreien, sofern er den von naturalistischen Theorien unterstellten Kausalzusammenhang 72 73 74 75 76
Vgl. Latour 1993. Vgl. Kraemer 2008, S. 170-173. Ebd., S. 170. Ebd., S. 172; Hervorhebung SP. Carr 1932, S. 211.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
nicht aufhebt, sondern einfach umkehrt: Es ist zwar nicht mehr die Naturkatastrophe, die über die Gesellschaft hereinbricht und dort Schäden anrichtet, aber es sind kulturelle Aspekte, die durch ihr Versagen natürliche Ereignisse als Katastrophen zeitigen. Kultur erscheint damit, wie auch von den Vulnerabilitäts- und Resilienzkonzepten aufgegriffen und fortgeführt, als intermediäre Instanz, welche darüber entscheidet, ob Natur zur Katastrophe wird (oder nicht). Dennoch kann Carrs Bestreben, Katastrophen als sozialen Prozess, als Resultat sozialen Handelns zu fassen, als ein wichtiger Schritt in der Katastrophentheorie gewürdigt werden, der zwar in seiner Materie nicht über ein objektivistisches Denken hinausgeht, wohl aber in seinem Anspruch – und damit den Weg zwar nicht selbst beschreitet, ihn wohl aber weist.77 Allmählich verabschiedet sich die Katastrophentheorie also von einer objektivistischen Konzeption der Katastrophe. Dieser nächste Paradigmenwechsel, in dem Katastrophen nun als – wenn man so will – Ausdruck von Unsicherheit erscheinen, beginnt mit einer Umorientierung der Katastrophenkonzeption in Richtung der »Krise.« Dabei wurde der Gedanke verfolgt, dass ein (potenziell katastrophenträchtiges) Naturereignis stattfinden kann, ohne eine gesellschaftliche Krise auszulösen (was bereits auch in den Konzepten der Vulnerabilität und Resilienz angelegt ist), gleichzeitig aber auch eine Krise ohne ein zu Grunde liegendes Naturereignis entstehen könne: »[A]ccidents could occur without any crisis, and that crisises could emerge without any accident.«78 Selbst wenn sich die Materialität einer Naturkatastrophe, in die – wie im Fallbeispiel des Murenabgangs St. Lorenzen – ein Naturphänomen involviert ist, unmittelbar aufdrängt, darf nicht von einer Deckungsgleichheit ausgegangen werden: »[E]ine Katastrophe ist kein physisches Ereignis und ein physisches Ereignis ist keine Katastrophe.«79 Dass die Naturkatastrophe kein genuin natürlicher Prozess sein kann, ergibt sich dabei zwangsläufig daraus, dass schon allein keine genuin natürliche Sphäre angenommen werden kann. Natur unterliegt zum einen einer Kolonisierung des Sozialen und eröffnet und begrenzt zum anderen selbst wiederum die Möglichkeiten sozialen Handelns und damit der Gesellschaft per se. Natur und Gesellschaft stehen also in einem wechselseitigen Zusammenhang. Natürliche Prozesse (und damit auch nicht solche, die in eine Katastrophe involviert sind) sind niemals rein natürlich. Vielmehr sind sie als ein Amalgam aus natürlichen, institutionellen, technologischen und kulturellen Aspekten zu verstehen: Sie sind Hybride. So ist eine Murenkatastrophe niemals nur ein Murenabgang, der sich lehrbuchmäßig aus einer Disposition (Geomorphologie, Vegetation, Bodenhydrologie, Topographie usw.) und auslösenden Faktoren (im Falle gravitativer Massenbewegun77 Vgl. Dombrowsky 1998, S. 24ff. 78 Gilbert 1998, S. 16. 79 Dombrowsky/Siedschlag 2014, S. 226.
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gen beispielsweise: Niederschlag und Schneeschmelze, freigesetzte Energie aus Vulkanausbrüchen oder Erdbeben, Auflast usw.80 ) ergibt. Zunächst ist schon ein Zusammenspiel von natürlichen Prozessabläufen (die an sich nur durch einen kulturellen Filter wahrgenommen und thematisiert werden können, denn selbst naturwissenschaftliche Modelle sind sozial gefertigt 81 ) und deren menschlicher Überformung bzw. Beeinflussung anzunehmen: So kann etwa Bergbau durch die Sedimentation von Reststoffen nachhaltig den Schichtaufbau der Böden, Forststraßen als Hangunterschneidungen die Stabilität der Hänge, Flussbegradigungen, Bodenverfestigungen, Bachverbauungen und technische Schutzbauten die hydraulische Geometrie des Wildbaches und die Dynamik des Sedimenttransports, oder Flächenversiegelungen und die Kultivierung der Forste oder Almwirtschaften den hydrologischen Kreislauf verändern. Diese veränderten natürlichen Begebenheiten wirken wiederum zurück, indem sie neue Dynamiken entfalten sowie den Möglichkeitsraum sozialen Handelns begrenzen oder erweitern: So schaffen etwa Flussbegradigungen neuen Siedlungsraum, der wiederum zu weiterer Flächenversiegelung führt, die wiederum die Abflussmenge erhöht usw. Wenn nun auf Grund der natürlichen Gegebenheiten ein Murenabschub auftritt, ergibt sich daraus allerdings noch nicht notwendig eine Murenkatastrophe. Denn diese setzt wiederum eine Interaktion mit der Gesellschaft voraus. Damit rücken auch weitere Aspekte in den Fokus, wie die Besiedelung von Arealen und Regionen, in denen die Prozessdynamik auftritt, die Exponiertheit von Werten uvm. Nur vor dem Hintergrund dieser wechselseitig ineinander verwobenen Aspekte der »eco-cultural habitats«, um einen Begriff von Schubert (2016) aufzugreifen, ist das Auftreten eines Murenabschubs, im Zuge dessen auch Schäden an den kulturellen Werten einer Gesellschaft auftreten, hinreichend zu erklären. Dennoch steht noch nicht fest, ob dieser Murenabgang gesellschaftlich auch als eine Katastrophe wahrgenommen und kategorisiert wird – denn ein »Ereignis« ist weder an sich katastrophenhaft, noch gibt es die materiale Definition einer Katastrophe. Der Charakter einer Katastrophe liegt also nicht in einem »natürlichen« Prozess selbst. Erst die Form, in der ein Sachverhalt durch Individuen oder kollektive Akteure thematisiert und bearbeitet wird, zeitigt den Sachverhalt als problematisch – niemals ist er aus sich selbst heraus, von Natur aus problematisch:82 »[W]as unter Natur zu verstehen ist, bestimmt allein der Mensch […] Entsprechend gilt auch, daß der Mensch definiert, was eine Katastrophe ist, und nicht die Natur.«83 Dementsprechend rückt spätestens mit den 90er Jahren zunehmend die Frage in den Fokus der Katastrophensoziologie, wie individuelle und kollektive Akteure die 80 81 82 83
Vgl. Dikau et al. 2001, S. 118ff. Vgl. Knorr-Cetina 1981. Vgl. Stallings 2003, S. 37f. Groh et al. 2003, S. 24.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Katastrophe in ihre Sinnwelt integrieren und damit die »Katastrophe« erst begründen.84 Die Katastrophe erscheint als ein Konstrukt der Wahrnehmung, ein Konzept, das Individuen und kollektiven Akteuren erlaubt, die Erfahrung der Wirklichkeit zu ordnen: »[D]isaster is less an accident of reality than a disaster is the representation of reality.«85 Sie erscheint als ein Modell der Vorstellung, das ein »Ereignis« erst in einen Sinnkontext setzt, und Individuen und kollektiven Akteuren erlaubt, im alltäglichen Erleben festzulegen, ob Ereignisse nun Katastrophen sind oder nicht.86 Analog zur oben umrissenen »sozialen Konstitution der Natur«87 ist damit von einer »sozialen Konstitution der Katastrophe« auszugehen. Dieser fundamental soziale Charakter der Katastrophe tritt deutlich hervor, wenn auf den historischen Wandel von Katastrophenbildern mitsamt den ihnen zugrunde liegenden Ursachen- und Folgenbehauptungen hingewiesen wird.88 Katastrophen werden diskursiv ausgehandelt – ihre jeweilige diskursive Konstruktionsweise aber variiert inner- wie intergesellschaftlich, historisch wie synchronisch,89 wenngleich sie nicht beliebig, sondern eingebettet in einen institutionellen und kulturellen Kontext erfolgt. So zeigt sich, dass Deutungsmuster von Naturkatastrophen immer auch vor dem Hintergrund allgemeinerer Naturbilder zu denken sind, die diese erst als konstitutives Moment hervorbringen.90 So zeigt beispielsweise Hoffman (2002) anhand ihrer anthropologischen Untersuchung des Oakland Firestorms (Kalifornien 1991), dass Symbolismen im Kontext der Wahrnehmung und Deutung der Katastrophe häufig deckungsgleich zu den allgemeinen Symbolismen der Wahrnehmung und Deutung von Natur sind.91 Diese allgemeineren Naturbilder wiederum sind ebenfalls keine losgelösten Ideengebilde, sondern wiederum in eine allgemeinere Form der Objektkonstitution eingebettet – einen allgemeinen Denkstil oder Diskurstypus, ein in sich sinnvolles, logisch kohärentes »Weltbild«, wenn man so will.92 Die kulturellen Leitwerte, die »Weltbilder«, bestimmen dabei nicht nur die spezifischen Vorstellungen des »preferred way of life,«93 sondern durchziehen die »eco-cultural fabrics,« um eine Terminologie Schuberts (2016) aufzugreifen, als eine ihnen inhärente »Logik.« Das spezifische Gefüge aus Natur, Technologie, Institutionen und Kultur nun, die spezifische Ordnung, welche in ihrem Geworden-Sein durch diese kulturellen Leitwerte angeleitet wurde, stabilisiert diese wiederum und stellt 84 Vgl. Müller/Clausen 1993, S. 113. 85 Gilbert 1998, S. 17. 86 Vgl. Kroll-Smith/Gunter 1998, S. 169; Dombrowsky/Siedschlag 2014, S. 225; Keller 2008b, S. 307. 87 angelehnt an Kraemer (2008). 88 Vgl. Furedi 2007, S. 483. 89 Vgl. Geenen 2003, S. 7. 90 Vgl. Kempe/Rohr 2003, S. 124. 91 Vgl. Hoffman 2002, S. 114. 92 Vgl. Gill 2004, S. 53; Gingrich/Mader 2002, S. 9-11. 93 Schubert 2016, S. 48.
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sie damit auf Dauer. Damit implizieren sie neben den Vorstellungen des Wünschenswerten immer auch Konzeptionen darüber, was als Gefährdung des Systems wahrgenommen wird und wie angesichts dieser potenziellen Gefährdung die Stabilität der spezifischen Ordnung aufrechterhalten werden kann. Systemgefährdungen unterliegen damit ebenso wie »positive Naturfunktionen« einem kulturellen Bias: »[S]ocio-ecological tasks and challenges such as flooding, drought, or unemployment are filtered and redefined in such a way as to comply with the predominant views of society and nature. In this way, they become processable by habitat-specific technologies and institutions.«94 Katastrophen werden also in sozialen Entitäten und durch soziale Entitäten erlebt. Es gilt anzuerkennen, dass »die Katastrophe« (auch) ein soziales Konstrukt ist. Ein Konzept, das der Wahrnehmung und Ordnung der erfahrenen Wirklichkeit dient: Weder ein »objektiv« bestehendes Risiko, noch ein auf ein Ereignis oder physische Schäden reduzierbarer Sachverhalt.95 Naturkatastrophen sind nicht natürliche Prozesse, die einer genuin natürlichen Sphäre zugeordnet werden könnten, sondern vielmehr ein Amalgam aus sozialen, gesellschaftlichen, »natürlichen« Prozessen. Sie sind Hybride, die letztendlich zu etwas kulminieren, das dann vor dem Hintergrund allgemeinerer Weltanschauungen und Naturbilder ausgedeutet wird und als Katastrophe wahrgenommen wird (bzw. werden kann). Dabei dürfen wir uns dennoch nicht dazu verleiten lassen, von einer radikal konstruktivistischen Perspektive auszugehen, welche die materiellen Grundlagen einer symbolischen Ordnung negieren und die Katastrophe als reines Kommunikationsproblem begreifen würde. Gerade eine derartige kulturalistische Reduktion gilt es zu vermeiden: Die Materialität einer Naturkatastrophe soll hier nicht in Frage gestellt werden.96 Zu dieser Einsicht zwingt die unmittelbare Evidenz der katastrophalen Prozesse, ihre physische Realität: Wahrnehmungen und Interpretationen können die konkrete Gefährdung oder ein Ereignis der objektiv zugrundeliegenden Realität weder auslöschen, noch können sie es kreieren: Katastrophen sind nicht derart, »which will cease to exist if we stop discoursing about them.«97 Dabei ist die Katastrophensoziologie ohnehin weniger gefährdet, in einen radikalen Konstruktivismus abzudriften, sofern die Faktizität der katastrophalen Prozesse das Individuum und kollektive Akteure unter unmittelbaren Handlungs- und Deutungszwang setzt. Damit lässt sich die Materialität des Prozesses, seine ontologische Grundlage, nicht oder nur schwer negieren.98 Ein Murenabgang – um unser Fallbeispiel aufzugreifen – der mit einem Kollaps der materiellen und immateriellen Kultur einhergeht, wie der Zerstörung von Wohnhäusern oder landwirt94 95 96 97 98
Ebd., S. 51. Vgl. Voss 2006, S. 49. Vgl. Gilbert 1998, S. 17. Oliver-Smith 2002, S. 41. Vgl. Voss 2006, S. 50.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
schaftlichen Gebäuden, und Schlamm und Geröll unmittelbar um die Beine der betroffenen Personen strömt, ist unmittelbar evident. Er drängt sich durch seinen dramatisierenden Charakter in die Aufmerksamkeit der Akteure und hält diese an, die Situation zu bewältigen: Er weist unmittelbaren Handlungs- und Deutungszwang auf. Die Frage allerdings, wie dieser zu unmittelbarer Reaktion drängende Murenabgang wahrgenommen wird, mithin: ob er als eine Katastrophe gedeutet wird – oder vielleicht auch nur als ein Unfall oder Routineereignis (z.B. in chronisch krisengebeutelten Regionen) – ist eben nicht in dem »natürlichen« Prozess selbst angelegt. Ein Naturereignis ist weder notwendig noch hinreichend für das Vorliegen einer Katastrophe. Dennoch sind vorgelagerte, prä-diskursive Ereignisse bzw. Prozesse anzunehmen, welche erst in und durch die Wahrnehmung in einen Bedeutungszusammenhang gesetzt werden, welche dann wiederum Grundlage von Praktiken werden (können). Diese Materialität katastrophaler Prozesse zeigt sich unter anderem auch darin, dass Naturkatastrophen, die nur in der Wahrnehmung existieren, also virtuelle Katastrophen, sich ebenfalls auf materiale Prozesse oder Aspekte rückbeziehen – eine virtuelle Materialität besitzen, so könnte man sagen. So können beispielsweise Gerüchte über einen Staudammbruch in der Vorstellung der Anrainer eine Katastrophe bewirken, welche allerdings bloß in den Köpfen der Involvierten bestünde. Obgleich dieser Wahrnehmung kein tatsächlicher Staudammbruch zu Grunde liegt, zeitigt die wahrgenommene Katastrophe allerdings reale Konsequenzen, indem sich die potenziell Betroffenen beispielsweise selbst evakuieren. Relevant ist nun, dass dies zumindest die tatsächliche Existenz eines Staudamms oder zumindest den Glauben an dessen Existenz voraussetzt. Mithin liegt selbst der virtuellen, imaginierten Katastrophe eine Materialität zu Grunde. Interpretationen setzen etwas zu Interpretierendes voraus: »Undoubtedly, our cultural life is deeply implicated in the construction of our material life and vice versa, but life does have to be produced before it can be read.«99 Die Materialität der Katastrophe ist also nicht zu leugnen. Und dennoch sind es erst die Interpretationen und diskursiven Zuschreibungen, die sich in den Praktiken niederschlagen (und damit reale Konsequenzen zeitigen). Die Wahrnehmung bzw. Ausdeutung des Ereignisses und nicht so sehr das Ereignis selbst ist also das zentrale Element, das über das Vorliegen einer Katastrophe entscheidet und Grundlage für das Handeln von Individuen und kollektiven Akteuren wird.100 Es ist also davon auszugehen, dass es »›da draußen‹ eine objektive Wirklichkeit [gibt], aber direkt können wir sie niemals erfahren. Die objektive Wirklichkeit wird immer im intervenierenden Medium der Kultur erfahren.«101 Es gilt, die Balance zwi99 Oliver-Smith 2002, S. 40. 100 Vgl. ebd., S. 37. 101 Stallings 2003, S. 40.
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schen einer objektorientierten Katastrophenkonzeption und einer Konzeption der Katastrophe als reines Kommunikationsphänomen zu finden und damit sowohl der Annahme einer natürlichen Determiniertheit als auch einer kulturalistischen Reduktion zu entgehen – denn Katastrophen sind »neither purely object (nature) nor subject (social discourse).«102
3.6.
Clausens makrosoziologisches Prozessmodell: FAKKEL
Ein Konzept, das den sozialen Charakter der Katastrophe deutlich hervorhebt und auf Grund seiner Relevanz in der deutschsprachigen Katastrophensoziologie103 an dieser Stelle gesondert dargestellt wird, findet sich in Clausens makrosoziologischem Prozessmodell »FAKKEL.« Clausen versteht die Katastrophe im Grunde als Falsifizierung des institutionalisierten und stabilisierten Verflechtungszusammenhangs: Die im Hintergrund der Selbstverständlichkeit des Alltags ausgeblendeten Aspekte, die blinden Flecke, werden in der Katastrophe schlagend sichtbar; das Selbstverständliche – mitunter auch die Umgangsformen mit der (drohenden) Katastrophe – versagt und »Nichts funktioniert dann mehr, wie es soll.«104 Um diese Argumentation weiter zu entfalten, schlägt er vor, die Katastrophe als spezifische Form sozialen Wandels zu fassen. Damit vermag er nicht nur, einer Ereigniskonzeption der Katastrophe, der Teilung in ein »Vorher – Ereignis – Nachher« zu entgehen,105 sondern auch, die Katastrophe als einen sozialen Prozess und damit als etwas Normales zu deuten: »Insgesamt sind der Soziologie also alle ›Katastrophen‹ eine Form sozialen Wandels, und dieser ist normal. Alles andere ist nur ein Ereignis.«106 Es geht Clausen darum, die »Katastrophe als gesellschaftliche Tiefstpunkte der Entwicklung«107 zu begreifen, sie nicht als von den gesellschaftlichen Strukturen unabhängiges, isolierbares Phänomen zu missverstehen und damit auch die Tatsache in den Blick zu nehmen, dass »[sich] Katastrophen […] grundsätzlich innergesellschaftlich entwickeln [können].«108 102 103 104 105 106
Gandy 1996 nach Oliver-Smith 2002, S. 40. Aber auch in der US-amerikanischen disaster research Einfluss fand. Clausen 1994, S. 19. Vgl. ebd., S. 19, 21. Clausen 2003, S. 52. Indem er die Katastrophe als Form (normalen) sozialen Wandels denkt, entzieht er einer Ereigniskonzeption die Grundlage: Ereignisse erscheinen nur vor dem Hintergrund der Banalität der alltäglichen Ordnung, der spezifischen »Normalität«, als Ereignis. Wird die Katastrophe selbst zu etwas »Normalem«, wird ihr damit der Ereignischarakter abgesprochen. Gleichzeitig wird damit deutlich, weshalb es nicht einer eigenen Soziologie der Katastrophe, einer Soziologie des »Außeralltäglichen«, bedarf. 107 Clausen 2008, S. 841. 108 Clausen 1994, S. 26.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Wie jede Form sozialen Wandels lässt sich Clausen zufolge auch die Katastrophe anhand der drei Dimensionen der Kieler Schule – Ritualität (von säkularisiert bis magisiert), Rapidität (von langsam bis beschleunigt) und Radikalität (von vernetzt bis entnetzt) – charakterisieren: Die Katastrophe erscheint als extrem magisierter, extrem beschleunigter und extrem verflochtener Wandel und Alltag als ihr Gegenstück als säkularisierter, extrem verlangsamter und entnetzter Wandel. Damit werden Alltag und Katastrophe zwar gegenübergestellt, allerdings nicht im Sinne eines einfachen, oppositionellen Dualismus, wonach der Alltag durch den Katastropheneintritt unterbrochen würde. Vielmehr werden der Katastropheneintritt und Alltag als Pole auf einem Kontinuum mit denselben Dimensionen verortet und damit zusammenhängend konzipiert.109 Die Katastrophe wird damit als Figurationsabschnitt eines Verflechtungszusammenhangs begriffen, wodurch sie ein Vorher und Nachher zwar in sich integriert, aber gerade damit auch in sich auflöst. Dieser Verflechtungszusammenhang lässt sich Clausen zufolge entlang von sechs Stadien gliedern, welche im Folgenden näher erläutert werden. Dabei muss an dieser Stelle explizit auf den idealtypischen Charakter dieser Abfolge hingewiesen werde, die real keineswegs zwangsläufig erfolgt, sondern (nur) als Analyseschablone realer Entwicklungen dient und damit Abkürzungen, Rückwärtsbewegungen, Ausweichungen, Überspringen von Stadien etc. nicht ausschließt.110 Den Ausgangspunkt des Modells wählt Clausen an dem Punkt, an dem das Auftreten neuer Katastrophen am unwahrscheinlichsten erscheint. Im Anschluss an die Überwindung extremer Notlagen wirkt die vorangegangene Problemlösung auf die Betroffenen realitätsbewährt. Im Stadium der »Friedensstiftung« erfolgt Wandel damit säkularisiert. Gleichzeitig bilden sich in diesem Stadium bereits die Grundlagen heraus, auf denen in Folge komplexe Strukturen und Verflechtungen aufgebaut werden (können): Wandel verläuft damit vernetzend und beschleunigend. Dabei beginnt bereits von hier aus auch die (neuerliche) Problementwicklung, denn Schwächen werden bereits hier im Schatten der Verflechtungen gleichsam mitproduziert.111 Dieser Aufbau von komplexen Strukturen und Verflechtungszusammenhängen ist vor dem Hintergrund Clausens Gesellschaftstheorie des »Tausches« zu begreifen. In Aussicht gestellte Offerten und Sanktionen konstituieren wechselseitige Erwartungshaltungen, die sich allmählich routinisieren, institutionalisieren und stabilisieren und damit Handeln auf Dauer stellen:112 Wandel verläuft damit im Stadium der »Alltagsbildung« verlangsamend, entnetzend und magisierend.113 Durch diese Stabilisierung des Verflechtungszusammenhangs wird dem Bewusstsein die 109 Vgl. Clausen 1994, S. 20ff; Clausen 2003, S. 51. 110 Vgl. Clausen 1994, S. 27; Clausen 2003, S. 62. 111 Vgl. Clausen 1994, S. 27-29; Clausen 2003, S. 62-65. 112 Vgl. Müller/Clausen 1993, S. 111f. 113 Vgl. Clausen 2003, S. 66-68.
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volle Komplexität der Welt entzogen und damit eine neue stabile Ordnung und Vertrautheit des Alltags ermöglicht. Doch die Kehrseite der Komplexitätsreduktion besteht darin, dass sie zwangsläufig immer auch mit einer Ausblendung prinzipiell möglicher, unintendierter Handlungsfolgen und Risiken einhergeht. So wirkt auch die ehemals fruchtbare Problemlösung noch lange nach, indem sie sich zu Routine und Tradition stabilisiert, wodurch allerdings auch – gerade auch durch ihren Erfolg – das zentrale Gefährdungsmoment im Schatten der Fokussierung auf die Problemlösung aus dem gesellschaftlichen Blickfeld rückt. Die (scheinbare) Gefahrenauslöschung produziert damit unintendierte Nebenfolgen mit, womit Risiken und Gefahren unbemerkt im Wachsen begriffen sind.114 Dieses Paradoxon der Zunahme des Katastrophenrisikos durch risikovermindernde Lösungsbestrebungen zeigt z.B. Lübken (2016) anhand der Folgewirkungen des »Flood Control Act« in den USA (1936), der eine Kosten-Nutzen-Orientierung in der Errichtung präventiver Schutzbauten nahelegte, jedoch anstatt die volkswirtschaftlichen Katastrophenschäden zu vermindern, nicht-intendierte Praktiken mitproduzierte, die entgegen der Bestrebungen in einen deutlichen Anstieg der Katastrophenschäden führten.115 Gleichzeitig entwickelt sich durch das Gerinnen der ehemaligen Problemlösung die ehemalige Notgemeinschaft allmählich hin zur Konstellation aus »Laien« und »Experten«, was nicht nur eine Spezialisierung und Professionalisierung des Katastrophenschutzes auf der einen Seite mit sich bringt, sondern gleichzeitig auch ein Verblassen des Betroffenheitswissens auf der Seite der Laien. Während im Hintergrund der ehemals fruchtbaren und mittlerweile stabilisierten Problemlösung allmählich auch Nebenfolgen und Folgeschäden im Aufkeimen begriffen sind, kommt es zu einer zunehmenden Verfestigung der veralltäglichten Experten-Laien-Konstellation. Die Fachexperten avancieren allmählich zur Fachklasse, welche sich schließlich dichotomisch über das Nicht-Wissen der Laien definiert. In den ehemals fruchtbaren und nun verfestigten Problemlösungsstrategien treten angesichts realer Entwicklungen erste Lücken auf, wodurch allmählich auch das Vertrauen zwischen Experten und Laien im Schwinden begriffen ist: So beginnen Informationsströme nach und nach abzureißen und die sinkende Legitimität der Expertise äußert sich mitunter in der Betonung von Äußerlichkeiten, in der Umdeutung von Misserfolgen oder in der Generierung von Erfolgen, wo gar keine sind. Im Stadium der »Klassenbildung« erscheint Wandel damit vernetzend, langsam, und magisiert.116 Schließlich werden die zunächst ausgeblendeten (im Stadium der Alltagsbildung), dann geheim gehaltenen (im Stadium der Klassenbildung) Nebenfolgen und 114 Vgl. Clausen 1994, S. 29-32; Müller/Clausen 1993, S. 115. 115 Vgl. Lübken 2016, S. 113f. 116 Vgl. Clausen 2003, S. 68; Clausen 1994, S. 32-37; Müller/Clausen 1993, S. 115.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Risiken schlagend. Im Stadium des »Katastropheneintritts« bricht das Zusammenspiel von Institutionen, mithin: der stabilisierte Verflechtungszusammenhang, in sich zusammen: »Katastrophen […] falsifizieren die Verfahren von Gesellschaften, die Probleme des Lebens zu meistern.«117 Der soziale Wandel beschleunigt sich aufs Äußerste. Das Selbstverständliche versagt; »Nichts funktioniert dann mehr, wie es soll.«118 Die Katastrophe zeigt, ob die in Aussicht gestellten Offerten – wie das Versprechen von Sicherheit durch die Träger von Macht und Herrschaft – tatsächlich eingelöst werden können, womit der im Hintergrund des Alltags ausgeblendete Verflechtungszusammenhang schlagend sichtbar wird: Der Wandel verläuft damit extrem vernetzend. Sofern selbst die Maßstäbe kausalen Denkens falsifiziert wurden und die Deutungsmuster zur Erklärung des Geschehens begrenzt sind (wie wir noch sehen werden), kommt es unter dem unmittelbaren Deutungs- und Handlungsdruck des Geschehens ad hoc zu einem verstärkten Rückgriff auf magisierte Erklärungen sowie in alle Richtungen ausufernden Schuldzuweisungen und -abweisungen.119 Kann schließlich keine angemessene Problemlösung gefunden oder verwirklicht werden, kommt es in weiterer Folge – im Stadium des »Ende aller Sicherheit« – zum Kollaps der Sozialstruktur: Die Gesellschaft als solche bricht in sich zusammen. Die Verflechtung zerfällt aufs Letzte und der Einzelne wird auf sich selbst zurückgeworfen. Wandel verläuft entnetzend, allerdings noch beschleunigt und hoch magisiert.120 Das soziale Netz bzw. die Gesellschaft mitsamt ihren Werten und Institutionen ist nun zerrissen. Sofern an diesem Punkt nicht noch eine Problemlösung gefunden wird und der Übergang in ein anderes Stadium vollzogen werden kann, tritt hier das Ende einer Gesellschaft ein. Dabei zeigt sich, dass sich die Art, Ereignisse kausal zu erklären – entgegen einzelner Erklärungsformen – durchsetzt: »Der Realismus des Elends ist herzlos.«121 Damit erfolgt der Übergang ins letzte Stadium, der »Liquidation der Werte«, letztendlich durch einen extrem entnetzten, extrem beschleunigten, aber säkularisierten Wandel.122 Damit nimmt Clausen die prinzipielle Möglichkeit des Scheiterns an der Katastrophe in sein Konzept auf.123 Gerade diese Möglichkeit des Scheiterns gilt es auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu berücksichtigen, denn nur so kann wirkungsvolle Prävention bzw. Vorbereitung auf Katastrophen geleistet wer117 Voss 2006, S. 71. 118 Clausen 1994, S. 19. 119 Clausen 2003, S. 71; Clausen 1994, S. 37-40; Müller/Clausen 1993, S. 111f. 120 Vgl. Clausen 2003, S. 73; Clausen 1994, S. 41-44. 121 Clausen 1994, S. 45. 122 Vgl. ebd., S. 45-47; Clausen 2003, S. 75. 123 Vgl. Clausen 1994, S. 25.
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den: Es gilt, das »Scheitern obzwar in der gesellschaftlichen Realität gern verdrängt […] in den Bereich der Normalität der Erlebbarkeit zu stellen.«124 Zur weiteren Ausdifferenzierung des Stadiums des Katastropheneintrittes brachte die KFS Kiel überdies auch ein mikrosoziologisches, empirisch begründetes Phasenmodell »LIDPAR« hervor. Demzufolge herrscht in der »Latenzphase« zunächst eine »ahnungsvolle Ungewißheit über die Situationsentwicklung«125 vor. In der »Identifikationsphase« erlaubt eine sukzessive Verdichtung der Informationen allmählich ein klareres Bild der Situation. In der »Definitionsphase« wird der Lage letztendlich der Katastrophenstatus attribuiert und damit die Basis für die Lageerstellung und das Ergreifen von Maßnahmen gewonnen. In der »Personalisationsphase« kommt es zur Vermittlung von Hilfsangebot und -nachfrage, indem sich Opfer und Helfer in ihre Rollen einfinden. In der »Aktionsphase« findet eine Real-Evaluierung der getroffenen Maßnahmen statt, welche letztendlich in der »Rückkoppelungsphase« als gewonnene Erfahrung in neue Aktionsstrategien einfließen (können).126 Wenngleich dieses anwendungsorientierte Modell für die Praxis und die Analyse der direkt im Anschluss an das Ereignis ergriffenen Maßnahmen des Katastrophenschutzes sehr brauchbar sein mag, kann es isoliert betrachtet zentrale theoretische Probleme nicht auflösen, sofern es die Frage nach der Entwicklung der Katastrophe offen lässt und der Katastrophe den Charakter des Ereignishaften anlastet. Wird es allerdings als ein Figurationsabschnitt in einem weiteren dynamischen Verflechtungszusammenhang begriffen – sprich als Differenzierung des Stadiums Katastropheneintritt im makrosoziologischen Prozessmodell FAKKEL – kann es womöglich ein hilfreiches Schema zur systematischen Analyse sozialer Prozesse sein, die im Stadium des Katastropheneintritts erfolgen. So sind z.B. Prozesse im Zuge der Personalisationsphase, wie die Verteilung von Opfer- und Helferrollen, keine isolierten und aus dem Nichts erwachsenden Handlungen, sondern erwachsen aus einem langfristig angelegten Verflechtungszusammenhang und sind damit Ausdruck allgemeinerer Praktiken. Damit können die einzelnen Phasen nicht nur in ihrer Einbettung in einen weiteren institutionellen Kontext aufgezeigt, in ihrem Gewachsen-Sein erklärt und in ihren Folgen für eben diesen Verflechtungszusammenhang – sprich: der Infragestellung oder der (Re)Produktion dieser Ordnung – analysiert werden, sondern können auch als »sensitizing concepts« den Blick auf mögliche Folgen der stabilisierten Verflechtungszusammenhänge lenken und damit für eine allgemeinere Analyse der sozialen Ordnung dienlich sein. Unter anderem kritisiert nun Keller (2003) an dem Modell Clausens, es sei irreführend, die Katastrophe als spezifische Form sozialen Wandels zu begreifen. Es sei 124 Müller/Clausen 1993, S. 113. 125 Dombrowsky 1981, S. 752. 126 Vgl. Müller/Clausen 1993, S. 117.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
vielmehr erst die narrative Verarbeitung des Ereignisses – bei Anerkennung seiner materiellen Grundlage – welche darüber entscheidet, ob die Katastrophe zum Impuls sozialen Wandels werden.127 Doch ist diese Kritik an der Konzeption Clausens insofern nicht angemessen, als dass Clausen sein Modell als idealtypische Abfolge versteht und explizit auf die reale Möglichkeit von Abkürzungen, Rückschritten in vorangegangene Stadien usw. verweist, womit auch die Möglichkeit inbegriffen ist, dass Gesellschaften nach dem Katastropheneintritt in das Stadium der Alltagsbildung zurückkehren und etablierte Strukturen (re-)stabilisieren, wodurch Wandel dann weniger als »Wandel« als vielmehr als Fortsetzung des Bestehenden erscheint. Keller läuft hier Gefahr, Gesellschaft nicht als komplexes, prozessuales Verflechtungsgefüge zu denken, sondern als statisches Gebilde, das erst auf Grund von Impulsen zu Wandel veranlasst wird. Clausen hingegen geht in seinem Figurationsmodell der Gesellschaft davon aus, dass Gesellschaft stets im Wandel begriffen sei, und der Katastropheneintritt (nur) ein Figurationsabschnitt innerhalb dieses prozessualen Verflechtungszusammenhangs sei, indem der stetige Wandel sich eben beschleunigt, intensiviert und magisiert. Die Katastrophe selbst ist also sozialer Wandel – obgleich in welche Richtung dieser verläuft und obgleich es der Alltagswahrnehmung augenscheinlich wird oder nicht. Die Stärke von Clausens Prozessmodell liegt nun vor allem darin, dass es den Blick dafür öffnet, dass sich Katastrophen grundsätzlich auch rein endogen aus einer Gesellschaft heraus entwickeln können, womit dem »Hazard Approach« gänzlich die Legitimationsgrundlage entzogen wird. Weder ist ein natürliches Ereignis notwendig, noch hinreichend für eine »Katastrophe.« Clausen begreift die Katastrophe als ein »offenes Krisenphänomen, dessen genauere Gestalt von mehreren sozialen Faktoren abhänge.«128 Er bereitet damit den Weg, Katastrophen als Unsicherheit, als Situation extremer Kontingenz, die aus einem sozialen System heraus erwächst, als »Unterbrechung« von Routinen bzw. des stabilen Alltagszusammenhangs mitsamt seiner vermittelten Sicherheit zu fassen, ohne aus den Augen zu verlieren, dass diese »Unterbrechung« bereits in diesem Alltagszusammenhang und den Routinen selbst angelegt ist und damit nicht als »Unterbrechung« im Sinne eines Abreißens, sondern im Sinne einer Irritation zu verstehen ist. Er bereitet den Weg, Katastrophen als soziale Phänomene bzw. als soziale Prozesse zu begreifen, sofern er aufzeigt, dass sie aus den blinden Flecken im Zuge der Stabilisierung von Erwartungshaltungen erwachsen. Katastrophen sind keine einfache UrsachenWirkungs-Konstellation, und damit auch niemals reine Naturkatastrophen, wie es 127 Vgl. Keller 2003, S. 400. 128 Rost 2014, S. 153.
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der »Hazard Approach« nahelegt:129 »Es gibt gar keine Naturkatastrophen; es gibt nur Kulturkatastrophen.«130 Katastrophen erwachsen aus einem langfristigen Verflechtungszusammenhang, und können niemals ausgeschlossen werden. Indem Clausen sein Katastrophenmodell zyklisch konzipiert, und die ursprüngliche Problemlösung – die Bewältigung der vorangegangenen Katastrophe – als Ausgangspunkt einer weiteren Entwicklung nimmt, in der bereits die Weichen für die »nächste Katastrophe« gestellt werden, öffnet er das Katastrophenkonzept nicht nur für Fragen langfristiger Folgen und die Möglichkeit, Katastrophenerinnerung als Ausgangspunkt für Lehren oder die Thematisierung eines sich wandelnden Umgangs mit oder Wahrnehmung von Gefährdungen und Katastrophen zu nehmen,131 sondern enttarnt damit letztendlich auch die Vorstellung einer absoluten Sicherheit als Illusion. Damit öffnet Clausen die Katastrophenkonzeption gegenüber Unsicherheiten und unbestimmten Gefahren und Risiken, gleich ob diese real oder unreal sind: Unsicherheit entsteht, wenn eine Gesellschaft gefährdet wird, oder sich gefährdet sieht,132 und manifestiert sich als Störungen der sozialen Realität, des sozialen Lebens.
3.7.
Die Katastrophe als Bruch mit der Selbstverständlichkeit des Alltags
Letztendlich liegt in der Annahme, Katastrophe seien als Störungen der sozialen Welt zu verstehen, wahrscheinlich auch der grundlegende Konsens zwischen den verschiedenen AutorInnen der Katastrophensoziologie.133 Dabei findet sich die Auffassung der Katastrophe als Unterbrechung von Normalität, Stabilität und Selbstverständlichkeit insbesondere in der deutschsprachigen Katastrophensoziologie tief verwurzelt – was mitunter auf die einflussreichen Werke Clausens zurückzuführen ist, der die Katastrophe eben, wie erläutert, als Falsifikation des institutionalisierten und stabilisierten Verflechtungszusammenhangs versteht. Die im Hintergrund der Selbstverständlichkeit des Alltags ausgeblendeten Aspekte, die blinden Flecke, werden in der Katastrophe schlagend sichtbar; das Selbstverständliche – mitunter auch die Umgangsformen mit der (drohenden) Katastrophe – versagt. Einen ähnlichen Gedanken verfolgt bereits auch Dombrowsky (1981) in seinem Versuch, die Katastrophe selbst als soziales Handeln zu begreifen. Insbesondere in 129 Vgl. Clausen 1994, S. 15, 26. 130 Clausen 2008, S. 839. 131 Vgl. Rost 2014, S. 153f. 132 Vgl. Gilbert 1998, S. 17. 133 Vgl. Dynes 1998, S. 110; Geenen 2003, S. 12.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
komplexen Wirkungsgefügen sei nämlich davon auszugehen, dass das Katastrophische bereits in dem alltäglichen Tätig-Sein angelegt ist und stetig mitproduziert wird, sofern neben den unmittelbar intendierten Handlungsfolgen Individuen immer auch ein nicht-intendiertes Wirkungsgefüge mitproduzieren – mithin: blinde Flecke.134 Im alltäglichen Tätig-Sein konstituiert sich also ein dichtes Netzwerk von unhinterfragten Alltagsroutinen und genau in diesem Verflechtungszusammenhang, in der Verortung in dieses komplex aufeinander abgestellte System, sind die Prozesse, die in eine Katastrophe hinein-, aber auch wieder herausführen, analysierbar.135 Gerade deshalb liegt auch in der Intensivierung und Stabilisierung der Verflechtungszusammenhänge (nach Clausens FAKKEL-Modell im Figurationsabschnitt der »Alltagsbildung«) einer der wichtigsten Ansatzpunkte in der Erklärung von Katastrophen. Denn der Prozess der Alltagsbildung, »[d]ie ›Vertrautheit‹ der ›fraglos selbstverständlichen Welt‹ entzieht dem Bewusstsein die volle Komplexität der Welt und macht Ordnung erst möglich – allerdings um den Preis von Folgenindifferenz. Unsicherheit wird durch Reduktion der Möglichkeiten absorbiert.«136 Dieser Entzug von Aspekten aus dem Bewusstsein ist dabei zunächst eng an eine Zunahme von Lebensqualität gekoppelt. Nur dadurch wird überhaupt erst spontanes, unreflektiertes Handeln in einer zunehmend komplexen Welt möglich. Viel mehr noch: die Etablierung und Aufrechterhaltung komplexer Strukturen überhaupt ist und kann nur durch eine Ausblendung von Aspekten – einer Komplexitätsreduktion – geschehen. Denn die volle Komplexität der Welt zu erfassen und damit die Folgen jeglicher Handlungen zu berücksichtigen, um eine allumfassend informierte Entscheidung zu treffen, übersteigt die kognitiven Kapazitäten eines jeden Individuums. Die Kehrseite dieser Form der Komplexitätsreduktion aber besteht immer auch darin, dass sie mit einer Einschränkung der Wahrnehmung und damit der Ausblendung potenzieller Nebenfolgen des Handelns einhergeht. Damit »setzt die neuerliche Katastrophe bereits in jenem Moment an, in dem nicht mehr die volle Komplexität für Entscheidungen herangezogen wird.«137 Die Katastrophe selbst erscheint damit als »die konkreten Manifestationen eines permanent während jeden Tätig-Seins mitproduzierten Katastrophischen,«138 als »Akkumulation der blinden Flecke.«139 In der Katastrophe tut sich damit keine neue soziale Ordnung auf, sondern vielmehr illustriert sie, welche latenten Gefahren und Risiken, welche blinden Flecke, systematisch hinter dem Horizont des Alltags ausgeblendet werden. Sie stellt also die normale Welt – in dem Sinne der dem Individuum als 134 135 136 137 138 139
Vgl. Dombrowsky 1981, S. 751. Vgl. Geenen 2003, S. 10f. Voss 2006, S. 65. Ebd., S. 69. Dombrowsky 1981, S. 751. Geenen 2003, S. 12.
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Selbstverständlichkeit des Alltags erscheinenden »Normalität« –, die Kontinuität und Stabilität der etablierten Ordnung, auf den Prüfstand.140 »Das zuvor selbstverständlich Gewesene […] verlier[t] schnell und schlagend [seine] Verlässlichkeit und Regelhaftigkeit in dem Sinne, dass ein Handeln wie üblich […] in ihr außer Kraft gesetzt scheint und das bis dahin für gültig gehaltene Rezeptwissen nicht mehr greift.«141 Die Katastrophe erscheint, wenn die Verlässlichkeit des Alltags irritiert wird, wenn die vorhandenen Deutungs- und Handlungsressourcen überstiegen werden und die Situation durch Akteure nicht mehr mit Rückgriff auf die vorhandenen Ressourcen kognitiv und praktisch bewältigt werden können. Die Katastrophe erscheint als »the loss of key standpoints in common sense, and the difficulty of understanding reality through ordinary mental frameworks.«142 Die Katastrophe konfrontiert also die Gesellschaft mit sich selbst und erschüttert das Vertrauen in die eigene Kultur, wie z.B. in die eigenen Techniken und Maßnahmen zur Beherrschung von Risiken, und führt damit zur »Infragestellung der objektiven wie auch der subjektiven Kultur.«143 Doch auch in der US-amerikanischen Disaster Research finden sich Bemühungen, die Katastrophe als Unterbrechung von sozialen Strukturen bzw. Selbstverständlichkeiten zu konzipieren. So verweist Dynes (1998) darauf, dass Katastrophen nicht selbstevident, sondern sozial konstituiert und damit stets in Relation zu ihrem Kontext zu sehen seien. Er versteht die Katastrophe als »social disruption«, als Gelegenheiten, die außeralltägliche Maßnahmen erfordern, um Ressourcen, deren Existenz als gefährdet wahrgenommen wird, zu schützen: »A disaster is a normatively defined occasion in a community when extraordinary efforts are taken to protect and benefit some social resource whose existence is perceived as threatened.«144 Dabei verdeutlicht er, dass weder die Messung physischer Schäden, noch die Festlegung von Schwellenwerten angemessen über das Vorliegen einer Katastrophe als Routineunterbrechung, als Unterbrechung des Selbstverständlichen, entscheiden können. Auch sei die Erfassung der öffentlichen Meinung für diesen Zweck nicht hinreichend, sofern in der Katastrophensituation Handeln – als Handeln unter höchster Kontingenz und Zeitdruck – häufig der Gewinnung von angemessener Information zeitlich vorgelagert ist. Er plädiert hingegen dafür, den Fokus vermehrt auf den Wandel sozialer und verhaltensbezogener Aspekte zu legen. Es seien die nichttraditionellen, nicht-routinehaften Bemühungen und Handlungen sozialer Einheiten, der Wandel von sozialen Strukturen und Verhaltensweisen, mithin der »extraordinary effort«, der über das Vorliegen einer Routineunterbrechung entscheidet. Unter diesem »extraordinary effort«, den außeralltäglichen Maßnahmen, versteht 140 Vgl. ebd., S. 12; Dombrowsky 1998, S. 19; Keller 2003, 406f. 141 Geenen 2003, S. 6. 142 Gilbert 1998, S. 17. 143 Geenen 2003, S. 6. 144 Dynes 1998, S. 113.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
Dynes nun Verhaltensweisen, die zwar bereits in der alltäglichen sozialen Ordnung angelegt sind, allerdings erst angesichts der außergewöhnlichen Situation emergieren. Dabei erachtet er insbesondere die Muster organisationaler Einbindung als den Schlüsselindikator für außergewöhnlichen Aufwand. Mit zunehmendem Katastrophenpotenzial würde sich der anzahlmäßige Schwerpunkt von den etablierten Organisationen hin zu emergenten Organisationen oder Gruppen verlagern, welche sich ad-hoc strukturieren sowie ad-hoc Aufgaben übernehmen.145 Während Dynes Zugang für die Analyse der »Infrastruktur« um die Katastrophenbewältigung vielversprechend zu sein scheint, sofern er die Katastrophe über die damit verbundenen Praktiken analysiert – den »extraordinary effort« und besonders die Muster organisationaler Einbindung –, scheint er für die Frage nach den Deutungsmustern der Katastrophe nur wenig Zugewinn zu bringen. Ein Ansatz nun, der vielversprechend zu sein scheint, um die aufgeworfenen Aspekte – die soziale Konstitution der Katastrophe, die Katastrophe als Unterbrechung der Stabilität des Alltags, die Praktiken, die zur Bewältigung dieser Routineunterbrechung ergriffen werden (mithin auch die organisationale Einbindung, wie sie Dynes einfordert), sowie auch den Rückbezug zur institutionalisierten Ordnung der sozialen Welt – in sich zu integrieren, bietet Stallings (1998). Er versteht die Katastrophe nicht als Gegenpol zur »Normalität«, sondern als Gegenpol zur Routinen.146 Diese seien ein konstitutives Element der Sozialstruktur; sie sind »actions […] and interactions […] that are repeated over specific units of time [… they] provide structure for individual’s lives and, in the aggregate, constitute the structure of social systems.«147 Die Katastrophe148 nun bezeichnet einen Wendepunkt, an dem Routinen und Praktiken einem radikalen Wandel unterworfen werden; sie scheint, Routinen regelrecht zu »zerreißen.« Und genau dieses Zerreißen ist auch das zentrale Moment einer Katastrophe, dass nämlich die »Routinen des Alltagslebens (auf Mikroebene) und in extremen Fällen (auf Makroebene) die – von Routinen hergestellten und immer wiedererstellten – sozialen Strukturen zerbrechen«.149 In einer Gesellschaft entwickeln sich allerdings nicht nur soziale Strukturen, die sich auf Routinen richten, sondern selbst für die Störfälle, den Brüchen mit der Routine, entwickeln sich »Routinen« – sogenannte »exception routines« – die sich auf die Störung der sozialen Struktur und deren Routinehaftigkeit richten, sich ebenfalls institutionalisieren und damit selbst Teil der sozialen Ordnung werden.150 145 Vgl. ebd., S. 111-116. Vgl. zur DRC-Typology Abb. 1. 146 Ähnlich zu Clausen, der Alltagsbildung und Katastropheneintritt als Gegenpole auf einem Kontinuum konzipiert. 147 Stallings 1998, S. 137. 148 Stallings schlägt eigentlich den Begriff der »crisis« vor, da er weiter bzw. offener ist als der durch objektivierende Zugänge vereinnahmte Begriff des »disasters.« 149 Stallings 2003, S. 44. 150 Vgl. ebd.
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Letztendlich ist also in der Form der Bearbeitung der Katastrophe der Schlüssel zu sehen, der diese als fundamentale Störung von Routinen zeitigt. Gerade das aber lässt auch Raum für unterschiedliche Katastrophenwahrnehmungen: Denn die Frage, ob soziale Einheiten eine Situation als Ausnahme oder als Routine fassen, unterscheidet sich sowohl zwischen als auch innerhalb von sozialen Einheiten, so wie sie sich über den Zeitverlauf hinweg ändern kann, wenn beispielsweise eine hohe Frequenz der Katastrophenereignisse sich durch kumulierte Erfahrung zu Routineangelegenheiten verdichten.151 Letztendlich ist also das, was als »Katastrophe« wahrgenommen und als soziales Problem thematisiert wird, für Stallings als »eine Funktion dessen zu sehen, was Mitglieder von Organisationen und Vertreter von Institutionen bezogen auf einen Zustand sagen und tun, nicht aber eine Funktion der objektiven Züge dieses Zustandes selbst.«152 Es ist ein Deutungsprozess durch konkrete individuelle und kollektive Akteure, niemals nur eine lose existierende, aus dem nichts aufgeworfene Idee, sondern immer auch eingebettet in ein institutionelles Gefüge, in ein Kontinuum aus Macht und Interessen.
3.8.
Zwischenfazit
Zusammenfassend können drei größere Traditionen von Katastrophenkonzepten unterschieden werden. Das objektivierende Katastrophenverständnis, das vor allem in der frühen Katastrophensoziologie Verbreitung fand, fasst die Katastrophe als ein durch exogene Gefahren ausgelöstes Ereignis, das über die gesellschaftliche Sphäre hereinbricht und in ihr Verwerfungen bedingt. Die Vulnerabilitätsund Resilienzforschung, die vermehrt ab den 70er Jahren forciert wurde, rückt die Katastrophe verstärkt an die Schnittstelle von sozialem und ökologischem System und anerkennt ihren langfristig angelegten Charakter. Soziale Aspekte bleiben allerdings hier im Status eines Intermediärs, der über die Katastrophalität eines Prozesses oder Ereignisses entscheidet. Ab den 90er rückt dann der soziale Charakter der Katastrophe verstärkt in den Fokus. So hat sich in der Katastrophensoziologie die Annahme durchgesetzt, dass es unzureichend ist, Katastrophen nur als durch externe, objektive Gefahren ausgelöste, in Raum und Zeit konzentrierte Ereignisse, die wie Akteure über die Gesellschaft hereinbrechen, zu begreifen. Dies birgt zahlreiche (theoretische, aber auch praktische) Dilemmata. Katastrophen haben sowohl in ihren »Ursachen« als auch in ihrer »Folgen« (wobei die Folgen ja selbst das sind, was wir als die Katastrophe wahrzunehmen geneigt sind) eine unabweisliche soziale Dimension, und sind niemals nur einer genuin natürlichen Sphäre zuzuordnen. Katastrophen sind sozial konstituiert. Die ihnen zu Grunde liegenden Prozesse 151 Vgl. Stallings 1998, S. 137ff. 152 Stallings 2003, S. 41.
3. Die »Katastrophe« in der Soziologie
erwachsen aus einer wechselseitigen Verflechtung von sozialem und natürlichem System, und die »Katastrophe« selbst erscheint als ein historisch und kulturell variables Konzept der Weltwahrnehmung, das diese Prozesse in einen sinnhaften Kontext setzt. Letztendlich lässt sich also festhalten, dass es weder einen Konsens über eine klare Definition der Katastrophe gibt, noch eines derartigen Konsenses bedarf: Denn jede soziologische Subdisziplin kämpft mit Dissens über ihre zentralen Begriffe und Konzepte.153 Damit scheint es auch vielversprechender zu sein, nicht eine a priori Definition der Katastrophe als Ausgangspunkt der Forschung zu wählen, sondern anzuerkennen, dass es eben ein Konzept ist, das Individuen und kollektiven Akteuren erlaubt, im alltäglichen Erleben darüber zu entscheiden, ob Ereignisse Katastrophen sind oder nicht, und damit stets nur in Relation zu seinem Kontext gefasst werden kann. Damit kann es auch keine materiale Definition der »Katastrophe« geben, die an vorab definierten Kriterien festgemacht wird. Für das Vorliegen einer Katastrophe ist es vielmehr maßgeblich, dass sich soziale Einheiten Gefahren (in einem breiten Sinne, seien diese nun unmittelbar evident oder nur virtuell vorgestellt, endogen oder exogen) gegenübersehen und damit eine Irritation der Stabilität des Alltags erleben. Eine vorgefertigte Definition der Katastrophe ginge schließlich zwangsläufig auf Kosten des Ausschlusses von Perspektiven.154 Doch »[d]ie Standards des Begreifens in den jeweiligen Gesellschaften zu durchdringen, eröffnet Chancen,«155 womit es letztendlich sinnvoll erscheint, nicht nur die Deutungsmuster eines als Katastrophe definierten Ereignisses zu erschließen, sondern selbst das, was die Katastrophe ist oder als Katastrophe gilt, den Ausdeutungsprozessen der Beteiligten zu überlassen. Bei all dem theoretischen Gehalt, welches die vorangegangenen Konzepte mit sich bringen, gilt es doch, im Rahmen der angewandten Forschung Begriffe zu verwenden, die eine praktische Anwendung erlauben, »die Konstanz suggerieren, wo doch Prozess ist.«156 Obgleich wir also die Katastrophe als sozialen, langfristigen Prozess und Verflechtungszusammenhang anerkennen, können wir aus pragmatischen Gründen »die Katastrophe als ein über die Zeit hinweg relativ konstantes, bedeutendes Phänomen behandeln.«157 Ansonsten wäre das Konzept in einer praktischen Fallstudie weder theoretisch beschreibbar noch praktisch anwendbar. Diesen Perspektivenwechsel nimmt auch Rost (2014) vor, der ebenfalls darauf hinweist, dass die Katastrophe zwar als Prozessphänomen verstanden werden soll, doch für die konkrete Forschungsarbeit ein enger gefasster Begriff wohl angemessener ist. Denn wie im Falle der vorliegenden Arbeit geht es auch Rost darum, nicht einen 153 154 155 156 157
Vgl. Kroll-Smith/Gunter 1998, S. 163. Vgl. ebd., S. 169; Dombrowsky/Siedschlag 2014, S. 225. Müller/Clausen 1993, S. 109. Voss 2006, S. 171. Ebd.
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theoretisch fundierten, wissenschaftlichen Begriff zu etablieren bzw. weiterzuentwickeln, oder die Ursachen katastrophaler Verwicklungen aufzuzeigen, sondern um die Frage der Wahrnehmung krasser Veränderungen in der Lebenswelt von Individuen bzw. Gesellschaften.158 D.h. es wird aus pragmatischen Gründen im Zuge der vorliegenden Forschungsarbeit derjenige Figurationsabschnitt der Katastrophe in den Fokus gerückt, in dem der alltäglich etablierte Verflechtungszusammenhang der Gesellschaft zusammenbricht und die im Zuge der Komplexitätsreduktion ausgeblendeten Aspekte schlagend sichtbar werden. Dieser Dreh erlaubt uns überhaupt erst, den Murenabschub in St. Lorenzen als mögliche Katastrophe anzunehmen, um dann empirisch die Deutungen dieses katastrophalen Geschehens im Gespräch mit den Betroffenen zu thematisieren und seine Auslegungen offen zu lassen.
158 Rost 2014, S. 154.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
Der Murenabgang in St. Lorenzen und der damit einhergehende Kollaps der materiellen Kultur vollzog sich also ebenso wenig wie seine Wahrnehmung und Ausdeutung als isolierbares Einzelereignis in einer losgelösten Sphäre. Vielmehr erfolgten die Prozesse in einer sozialen Welt, eingebettet in den Kontext einer objektivierten und symbolischen Ordnung – Strukturen, die dem Individuum kollektive Wissensbestände zur Verfügung stellen, Handeln anleiten, ermöglichen und gleichsam beschränken. In einem ersten Schritt nähern wir uns über eine allgemeine wissenssoziologische Perspektive dem Konzept der »Deutungsmuster«, um anschließend die Katastrophe als besonderes Deutungs- und Handlungsproblem vorzustellen. Anschließend wird auf die Notwendigkeit der Analyse der objektivierten gesellschaftlichen Ordnung, dem institutionellen Gefüge, in dem sich Ideen konkretisieren und das den Rahmen und Orientierungspunkte für Handeln im Katastrophenschutz setzt, verwiesen. Schließlich wird Schuberts (2016) Konzept der »ecocultural habitats« als theoretischer Integrationsversuch vorgestellt – eine Perspektive, die es erlaubt, den wechselseitigen Zusammenhang zwischen symbolischer und objektivierter gesellschaftlicher Wirklichkeit in den Blick zu nehmen.
4.1.
Deutungsmuster: Zur symbolischen Ordnung der Katastrophe
Die Welt und die sich in ihr vollziehenden Phänomene sind dem Individuum nicht objektiv und unmittelbar gegeben. Erst durch die Wahrnehmung werden sie dem Individuum überhaupt zugänglich und durch Interpretation mit Bedeutung gefüllt.1 Dabei nehmen Individuen ihre sinnlichen Wahrnehmungen niemals als lose Phänomene bzw. bruchstückhafte Aneinanderreihung voneinander unabhängiger Eindrücke wahr, sondern sind bestrebt, diese in einen Zusammenhang zu bringen und die Inhalte ihrer Wahrnehmung mit Sinn und Bedeutung zu füllen: »Die Menschen versuchen sich auf diese Weise die Welt zu erklären, sie zu verstehen und zu deuten.«2 Gerade dieses Streben nach der Erklärung der Welt – welche Form 1 Vgl. Rost 2014, S. 35; 39. 2 Seitz 2013, S. 93.
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sie auch annimmt – scheint eine stabile Form menschlicher Praktiken zu sein, um nicht zu sagen: eine kulturelle Universalie.3 Die Prozesse des Ausdeutens von Phänomenen, des Verstehens und Erklärens der Welt mit ihren sich dem Menschen offenbarenden Erscheinungen erfolgen dabei durch Rückgriff auf Wissen. Wissen ist dabei nicht auf individuelle Dispositionen und kognitive Kapazitäten zu reduzieren, sondern umfasst aus einer wissenssoziologischen Perspektive die Gesamtheit von Sinneinheiten, die in menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse einfließen. Damit werden nicht nur individuell biographische Wissensbestände umfasst, sondern auch soziale, kollektiv verankerte Wissensbestände, die dem Menschen als objektive Wirklichkeit gegenübertreten und bereits in einen sozial voraussetzungsvollen Kontext4 eingebettet sind.5 Während »Wissen« in einem breiten Sinne also als »Sammelbegriff« sowohl die subjektiven Wissensvorräte eines Individuums als auch den kollektiven Wissensbestand umfasst, zielt nun das Konzept des »Deutungsmusters« – das im Folgenden noch näher zu erläutern ist – als »Formkategorie sozialen Wissens«6 vor allem auf letzteren Aspekt. Dabei erschöpft sich die Relevanz von Wissensstrukturen bzw. Deutungsschemata nicht auf einer symbolischen Ebene des Sinns, sondern die Wahrnehmung und Interpretation von Phänomenen fließt als Grundlage menschlicher Praktiken und Handlungen in die soziale Realität ein: »[H]uman beings act toward things on the basis of the meaning that the things have for them.«7 Für die Zwecke des Verstehens von Handeln im Kontext einer Katastrophe ist es also unabdingbar, die Sinngebungsprozesse von Individuen und kollektiven Akteuren nachvollziehen zu können, da diese den Boden bilden, auf dem sich Handeln gründet. Doch nicht nur als allgemein sinnhafte Grundlage der Handlungsausrichtung, sondern vielmehr auch erst als Grundlage der Handlungsfähigkeit des Individuums sind Wissensbestände im Allgemeinen und Deutungsmuster im Konkreten handlungsrelevant. Dem Individuum ist es unmöglich, die Welt in all ihren Aspekten wahrzunehmen und auszudeuten: Die Komplexität der Welt überfordert schlicht die individuelle Aufnahmekapazität. Aufmerksamkeit kann sich damit immer nur auf bestimmte Weltausschnitte und -aspekte richten.8 Die Wahrnehmung der Welt und ihre Verarbeitung erfolgt damit gemäß einer selektiven Funktion, die Vester (2000) illustrativ als »Flaschenhals der Datenreduktion«9 bezeichnet. Dabei 3 Vgl. Clausen 2008, S. 839. 4 z.B. Wissen als Dimension sozialer Ungleichheit (Distribution), Macht in der Bestimmung über »richtiges« Wissen usw. 5 Vgl. Rost 2014, S. 35; 39. 6 Plaß/Schetsche 2001, S. 522. 7 Blumer 1969, S. 2. 8 Vgl. Rost 2014, S. 35. 9 Vester 2000, S. 23.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
unterliegt es weder der bloßen Willkür des individuellen Bewusstseins, noch einer deterministischen Gesetzmäßigkeit, welche Aspekte ausgewählt und ins Relevanzfeld gerückt werden. Vielmehr spielen bereits an diesem Punkt neben den Charakteristika der aktuellen Situation auch individuell-biographische Erfahrungen und sozial vermittelte Sinnmuster eine zentrale Rolle. Wissen dient also nicht nur der Ausdeutung von wahrgenommenen Phänomenen, sondern bereits auch als Heuristik der Aufmerksamkeitsausrichtung und Weltwahrnehmung angesichts einer überbordenden Komplexität.10
4.1.1.
Zum Konzept der »Deutungsmuster«
Obgleich die Frage nach den Sinnstrukturen, die konkrete Deutungen und Praktiken hervorbringen, bereits in der frühen Soziologie systematisch gestellt wurde und sich hier demnach schon Ansätze und Vorbilder für die Deutungsmusteranalyse finden,11 geht die konkrete Deutungsmusterdebatte im Wesentlichen auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Oevermann (1973) zurück. Sein zentrales Erkenntnisinteresse liegt im Verstehen und Erklären sozialen Handelns. Ihm zufolge sei die »Kategorie des Sinns zu einer Grundkategorie der Soziologie« avanciert, womit eine Theorie menschlichen Handelns die »Analyse der Subjektivität von Interpretationen der Umwelt«12 im Zentrum haben müsse. Der Soziologie stellt sich dieses Problem aber als Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen, die dem ein10 Vgl. Rost 2014, S. 35. 11 So findet sich ein Vorbild für die Erforschung von Deutungsmustern in Webers religionssoziologischen Studien, in denen er den Niederschlag von Ideen in individuellen Handlungen und Praktiken, d.h. die Handlungsrelevanz von Ideen, thematisiert (vgl. Lepsius 2009, S. 31), wobei er seinen Gegenstand weiter fasst, als das, was Oevermann später als Deutungsmuster zu bezeichnen beabsichtigt (vgl. Oevermann 2001, S. 37). In der Habilitationsschrift Reiner Lepsius findet sich erstmals der konkrete Begriff des »Deutungsmusters«, worunter er die »kollektiv verfügbaren Interpretationsschemata zur Deutung« (Keller 2014, S. 144) von Phänomenen (im konkreten Fall: zur Deutung sozialer Ungleichheit) bezeichnet. Deutungsmuster erscheinen bei Lepsius im Sinne einer gedachten Ordnung, als schicht- bzw. klassenspezifische Wertvorstellungen, die aus einer sozialen Lage erwachsen und Ausdruck klassenspezifischer Deutungsbedürfnisse sind (vgl. Bögelein 2016, S. 105; Oevermann 2001, S. 37; Keller 2014, S. 144). Des Weiteren finden sich auch in der Tradition Schütz‹ erste Ansatzpunkte. Bereits dieser stellte die Frage, wie menschliche Sinnwelten, als »jenes komplex[e] Geweb[e] von Bedeutungen, das als Wissen zu begreifen ist« (Rost 2014, S. 33), zustande kommen und als Grundlage der Wirklichkeitswahrnehmung fungieren. »Deutungsschemata,« als »eine Form der im kollektiven Wissensvorrat abgelagerten sozialen Typik, die als allgemeine Wissensbausteine sinnliches Erleben in sinnhafte Erfahrung transformieren« (Keller 2014, S. 143), erlauben dem Individuum Deutungen, worunter nichts anderes verstanden werden soll als die »Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes« (Bögelein 2016, S. 102) – mithin: die Integration von Wahrnehmungen in bestehende Wissensstrukturen. 12 Oevermann 1973, S. 2.
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zelnen Individuum als »Tatsachen sui generis«13 objektiv gegenüberstehen, womit es der »soziale Sinn, nicht der subjektiv gemeinte (aber auch nicht der ›objektive‹) Sinn«14 ist, der in das Zentrum des Interesses rückt. Der Ausgangspunkt Oevermanns Überlegungen ist nun die Annahme, dass das wesentliche Kennzeichen sozialen Handelns in seiner Regelgeleitetheit liege. Denn nur die Existenz intersubjektiv geltender Regeln ermögliche überhaupt erst intersubjektiv verstehbaren Sinn, womit sie in logischer Konsequenz maßgeblich für soziales Handeln seien. Dabei dürfen diese sozial geteilten Regeln keineswegs als explizite, nicht einmal als grundsätzlich explizierbare Richtsätze des Handelns missverstanden werden. Vielmehr erscheinen sie als implizite, tiefergründige Strukturen, die konkrete Deutungen und Praktiken hervorbringen – als »Maxime, der das Handlungssubjekt praktisch folgt.«15 In der Rekonstruktion dieser intersubjektiv geteilten Regeln liege nun der Schlüssel zur Erklärung sozialen Handelns. Die bis dato (1973) etablierte Forschungstradition unternehme jedoch den Fehler, dass sie Konzepte, die auf diese Sinnzusammenhänge rekurrieren, stets nur auf der Ebene ihrer Repräsentationen im individuellen Bewusstsein erfasse, was letztendlich zu lediglich trivialen Kausalbehauptungen führe.16 Aus diesen Überlegungen heraus legt Oevermann (1973) den Grundstein für die Deutungsmusteranalyse. Obgleich Oevermann Jahrzehnte später in seiner Aktualisierung (2001) selbst darauf hinweist, dass seine Erläuterungen stellenweise unzulänglich waren, fand das Konzept des Deutungsmusters eine rasante Verbreitung und erfreut sich in der deutschsprachigen Soziologie einer beliebten Verwendung.17 Lüders und Meuser (1997) sehen in der Rekonstruktion von Deutungsmustern sogar eine – wenn nicht die – zentrale Aufgabe der interpretativen Sozialforschung.18 Nichtsdestotrotz bleibt das »Deutungsmuster« bislang ein theoretisch wie methodisch unreflektiertes und unbestimmtes Konzept, das anstelle von analytischer und theoretischer Präzision mit hohem Variantenreichtum glänzt. Anstatt die Vagheit des Konzeptes zu überwinden, scheint diese sich im Zuge einer unsystematischen Diskussion unlängst nur noch weiter zuzuspitzen.19 Während Lüders und Meuser (1997) nun den Versuch unternehmen, die verschiedenen Zugänge entlang einer strukturtheoretischen und wissenssoziologischen Ausrichtung zu ordnen,20 hebt Keller (2008) hervor, dass dieser Klassifikationsversuch viel zu eng 13 14 15 16 17 18 19
Ebd. Ullrich 1999b, S. 2. Ebd., S. 7; Hervorhebung SP. Vgl. Oevermann 1973, S. 2-9. Vgl. Keller 2014, S. 150; Plaß/Schetsche 2001, S. 511. Vgl. Lüders/Meuser 1997, S. 57 Vgl. Lüders 1991, S. 378; Lüders/Meuser 1997, S. 57; Plaß/Schetsche 2001, S. 512, 516; Keller 2014, S. 151. 20 Vgl. Lüders/Meuser 1997, S. 60ff. Dabei werfen sie Oevermann eine strikt strukturalistische Perspektive vor. Er würde Deutungsmuster als generative Regelstruktur fassen, die Handeln her-
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greife, sofern sich die unterschiedlichen Deutungsmusterkonzepte im Kern doch überlappen.21 Demnach gilt es, den »Grundkonsens der DeutungsmusteranalytikerInnen«22 herauszuarbeiten, um darauf aufbauend ein eigenes Verständnis von »Deutungsmustern« zu entfalten. Zunächst sollen Deutungsmuster in einem allgemeinen Verständnis als ein »›[E]nsemble‹ von sozial kommunizierbaren Interpretationen der physikalischen und sozialen Umwelt«23 gefasst werden. Sie sind Instrumente zur »Organisation der Wahrnehmung von sozialer und natürlicher Umwelt in der Lebenswelt des Alltags.«24 Sie erlauben dem Individuum, seine Wahrnehmung und Erfahrung der Welt nach bekannten Mustern zu ordnen. Diese werden in einen Sinnkontext gesetzt und damit an bestehendes Wissen anschlussfähig. Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen werden überdeckt und in ein konsistentes Ganzes integriert. Sie erlauben also dem Individuum, seine Wahrnehmungen in die eigene Weltsicht zu integrieren. Indem Deutungsmuster dem Individuum erst die Bedeutung eines Phänomens nahelegen, sind sie dabei zwangsläufig (auch) Orientierungspunkte des Handelns und konstitutiv für die Handlungsfähigkeit des Subjekts.25 Letztendlich können Deutungsmuster damit als eine Art Leitfaden für Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsprozesse verstanden werden. Sie eröffnen dem Individuum die Perspektive auf konkrete Situationen und legen
21 22 23 24 25
vorbringt, und damit die gestaltende Rolle eines handlungsfähigen Subjekts vernachlässigen (vgl. Lüders/Meuser 1997, S. 60ff). Zwar weisen sie selbst darauf hin, dass Oevermanns Manuskript von 1973 auch Belege für eine Gegenargumentation beinhaltet, doch missachten im Weiteren, dass Oevermann gerade die Wechselseitigkeit von Struktur und Praxis als zentral für das Deutungsmusterkonzept sah und eine dualistische Konzeption, die Individuum und Struktur oppositionell gegenüberstellt, ablehnt (vgl. Oevermann 2001b, S. 539). Im Folgenden betonen Lüders/Meuser (1997) die Vorzüge der wissenssoziologischen Ausrichtung gegenüber strukturalistischen Positionen: Erstere vermöge sowohl die auf Mannheim zurückgehende Idee der »Seinsverbundenheit des Wissens« (ebd., S. 65), welche die Erkenntnis impliziert, »Denken [sei] in einem historischen und sozialen Raum verankert« (ebd.), als auch die auf Berger/Luckmann (2016) zurückgehende Analyseperspektive, welche die Frage in den Fokus rückt, wie spezifische gesellschaftliche Wissensvorräte zur gesellschaftlich etablierten Realitäten werden können, zu berücksichtigen. Doch auch hier übersehen sie, dass es gerade Oevermann ein Anliegen war, die lebensweltliche Verankerung und die Verortung von Deutungsmustern im sozialen und historischen Raum herauszuarbeiten (vgl. Oevermann 2001a, S. 37; Oevermann 1973, S. 9f). Und auch letzterer Punkt lässt sich relativieren, wenn man Oevermanns Aktualisierung (2001a) berücksichtigt, in der er näher erläutert, wie sich Deutungsmuster im Zuge ihrer Bewährung in der Praxis als Problemlösungen allmählich von den konkreten Handlungsproblemen und der Subjektivität ablösen und damit letztendlich relative Autonomie erlangen und den Charakter sozialer Tatsachen annehmen (vgl. Oevermann 2001a, S. 38; 55). Vgl. Keller 2008a, S. 84. Obgleich Keller Oevermanns Konzept davon ausnimmt. Meuser/Sackmann 1992, S. 19. Oevermann 1973, S. 4. Lüders/Meuser 1997, S. 58. Vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 523; Kassner 2003, S. 39.
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deren Handlungsrelevanz, mögliche Interpretationen sowie Handlungsoptionen fest – sie sind ein Bündel handlungsrelevanter Wissensbestände.26 Dabei werden Deutungsmuster – wie Wissen allgemein – in der »Krise« konstituiert. Das Bewusstsein sieht sich stets »objektiven«, strukturbedingten Problemstellungen gegenüber. Das, was sich ehemals angesichts der Problemstellungen als Lösung angeboten hat, lagert sich im Zuge seiner wiederholten Anwendung und Bewährung und damit einhergehenden Habitualisierungs- und Routinisierungsprozessen allmählich als Wissen ab. Deutungsmuster sind also Sedimente der Lösungen vorangegangener Handlungs- und Deutungsprobleme. Damit sind sie auch stets funktional auf die Handlungsprobleme bezogen, auf die sie (ursprünglich) antworten.27 Sie sind »krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbstständigt operieren, ohne das [sic!] jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muß.«28 Als situativ verfügbare Wissenselemente, als routinehafte Typisierungen, ermöglichen sie schließlich unreflektiertes Deuten und damit auch Handeln. Denn nur indem das Individuum über gefestigte Interpretationsmuster verfügt, über mehr oder weniger stabile Grundlagen für alltägliches Deuten und Handeln, die als »Routineanwendung von Typisierungen«29 die Rückführung komplexer Sachverhalte auf bekannte Strukturen und Muster erlauben, werden komplexe Situationen überhaupt erst überschaubar und damit kognitiv wie praktisch bewältigbar. Damit wird dem Individuum überhaupt erst die Möglichkeit für spontanes und unreflektiertes Handeln eröffnet.30 Deutungsmuster stehen dem Individuum also im alltäglichen Deuten und Handeln unreflektiert zur Verfügung. Sie sind latente Phänomene, eine Art »Tiefenstruktur gesellschaftlichen Bewußtseins«31 oder, in den Worten Oevermanns, »tacit knowledge«32 – jedenfalls eine Form impliziten Wissens, das noch nicht einmal grundsätzlich explizierbar sein muss, sofern es dem individuellen Bewusstsein zumeist nur begrenzt reflexiv verfügbar ist. Dennoch bringen sie als eine Art innere Logik, als tiefergründige »Maxime, der das Handlungssubjekt praktisch folgt,«33 konkrete Deutungen und Praktiken hervor, wodurch sich diese impliziten und unbewussten Wissensstrukturen situativ manifestieren und damit 26 27 28 29 30
Vgl. Kassner 2003, S. 39; Schetsche 2008, S. 108. Vgl. Oevermann 1973, S. 3,16. Oevermann 2001a, S. 38. Keller 2008b, S. 290. Vgl. Rost 2014, S. 39; Oevermann 2001a, S. 55; Arnold 1982, S. 895f; Ullrich 1999b, S. 2; Plaß/Schetsche 2001, S. 253; Kassner 2003, S. 48. 31 Dybowski/Thomssen 1977 nach Arnold 1983, S. 895. 32 Oevermann 2001, S. 51. 33 Oevermann 1973., S. 7; Hervorhebung SP.
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immer auch bis zu einem bestimmten Grad emergenten Charakter besitzen: Deutungsmuster sind relativ latente Phänomene.34 Darüber hinaus wurde bereits an mehreren Stellen angedeutet, dass Deutungsmuster als »Formkategorie sozialen Wissens«35 nicht im individuellen Bewusstsein, sondern als überindividuelle Phänomene im kollektiven Wissensbestand verankert sind. Deutungsmuster sind von den »Individuen ablösbare, kollektive […] Gebilde.«36 Als »faits sociaux«37 haben sie eine »eigenständige soziale Realität«38 und treten dem einzelnen Subjekt als objektive Struktur gegenüber. Doch wenngleich Deutungsmuster dem Individuum als soziale Tatsachen objektiv gegenübertreten, können sie dennoch nicht unabhängig von den Individuen fortbestehen. Man könnte sagen, sie seien eher intersubjektiv als objektiv. Wie Berger und Luckmann (2016) bereits festhielten: die »Wirklichkeit ist gesellschaftlich bestimmt. Aber die Bestimmung wird immer auch verkörpert, das heißt: konkrete Personen und Gruppen sind die Bestimmer von Wirklichkeit.«39 Das heißt, Deutungsmuster werden von konkreten Individuen getragen. Doch sind die im individuellen Bewusstsein sich manifestierenden Repräsentationen der Deutungsmuster niemals identisch mit den sozialen Deutungsmustern selbst, auf die sie verweisen. Vielmehr erscheinen sie als »Derivate von Deutungsmustern«40 und nicht als deren unmittelbare Verkörperungen. Dies ergibt sich bereits aus der Aneignung von Deutungsmustern durch das Individualbewusstsein im Zuge von Sozialisationsprozessen und der sozialen Weitergabe, die niemals isomorph, sondern stets nur partiell und in modifizierter Form erfolgt.41 Während Plaß und Schetsche (2001) diesen Aneignungsprozess als einen systematischen und vor allem medial vermittelten »reproduktiven Mustertransfer«42 fassen, kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass die Internalisierung von Deutungsmustern in einem lebensgeschichtlichen Prozess der Aneignung in und durch die Praxis erfolgt: In ihrer Anwendung als Argumentationsstruktur für soziales Handeln, im Zuge sozialer Interaktionen, werden sie situativ evaluiert, verfestigt und gegebenenfalls modifiziert – mithin: (re-)produziert.43 So argumentieren bereits Berger und Luckmann (2016) im Hinblick auf die subjektiven Sinn34 Vgl. Oevermann 1973, S. 8f; Oevermann 2001b, S. 538; Ullrich 1999a, S. 430; Ullrich 1999b, S. 4; Plaß/Schetsche 2001, S. 523; Kassner 2003, S. 45. 35 Plaß/Schetsche 2001, S. 522. 36 Oevermann 2001b, S. 539. 37 Oevermann 1973, S. 11. 38 Kassner 2003, S. 41. 39 Berger/Luckmann 2016, S. 124. 40 Oevermann 1973, S. 11. 41 Vgl. ebd., S. 17; Plaß/Schetsche 2001, S. 523; Arnold S. 895-897; Kassner 2003, S. 41. Siehe dazu auch Berger/Luckmann 2016, S. 63ff; Ullrich 1999b, S. 2, 5. 42 Plaß/Schetsche 2001, S. 524. 43 Vgl. Ullrich 1999a, S. 430; Ullrich 1999b, S. 5; Schetsche 2008, S. 109; Plaß/Schetsche 2001, S. 524.
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welten, die den Wahrnehmungen und Deutungen zu Grunde liegen, dass diese niemals ein völlig abgeschlossenes Produkt sind, sondern in sozialen Interaktionsprozessen immer wieder aufs Neue kollektiv ausgehandelt und damit stetig modifiziert und aktualisiert werden.44 Die verinnerlichten Repräsentationen der Deutungsmuster werden also nicht nur bei ihrer initialen Aneignung entsprechend der vorhandenen kognitiven Strukturen angepasst, sondern unterliegen auf individueller Ebene einem kontinuierlichen Wandel und Differenzierungen.45 Wenngleich die individuellen Repräsentationen von Deutungsmustern also mit den Deutungsmustern, die sie hervorbringen, nicht identisch sind, weisen sie dennoch einen unmittelbaren Bezug zu diesen auf,46 sofern sie zwangsläufig zumindest kompatibel mit ihnen bleiben müssen, da sie ansonsten ihre Funktion als plausibler Begründungszusammenhang von Handeln, als kollektiv geteilte Argumentationsstruktur, nicht mehr zu erfüllen vermögen.47 Deutungsmuster fungieren eben nicht nur als Handlungsleitfäden, sondern als überindividuell geteilte Wissensstrukturen bieten sie auch die Möglichkeit, Handeln plausibel zu begründen. Dementsprechend konstituieren sie auch langfristig wechselseitige Erwartungshaltungen. Damit erlangen sie nicht nur normative Geltungskraft, sondern eröffnen dem Individuum auch die Möglichkeit, Kontingenz zu bewältigen, indem sie Modelle für die künftige Situationsentwicklung bereitstellen. Damit vermitteln sie dem Individuum das Gefühl, in einer sicheren Alltagswelt zu leben, und verleihen dem Alltag Normalität, Stabilität und Selbstverständlichkeit.48 Dabei ist diese Stabilität von Deutungsmustern an sich eine relative. Zum einen erlangen Deutungsmuster Kontinuität und Stabilität. Denn im Zuge der Bewältigung von Handlungsproblemen und Krisensituationen schlagen sie sich allmählich in der Wissensstruktur nieder und lösen sich von den spezifischen lebensweltlichen Problemen.49 Darüber hinaus weisen sie eine hinreichende Flexibilität auf, um auf verschiedene Situationen verallgemeinerbar zu sein und sich in der Praxis (dauerhaft) bewähren zu können. In dem Sinne kommt Deutungsmustern in der Tat ein »quasi-universeller« Charakter zu.50 Zum anderen darf diese Beharrlichkeit in der Zeit nicht dahingehend missinterpretiert werden, dass Deutungsmuster statische, unveränderliche Gebilde seien. Denn obgleich sie in sich relativ 44 Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 163ff. 45 Vgl. Ullrich 1999a, S. 430; Oevermann 1973, S: 18; Kassner 2003, S. 42ff; Arnold 1983, S. 895. 46 Vgl. Kassner 2003, S. 42; Plaß/Schetsche 2001, S. 525, Schetsche 2008, S. 110; Ullrich 1999a, S. 430. 47 Vgl. Ullrich 1999a, S. 430; Ullrich 1999b, S. 3. 48 Vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 527; Kassner, 2003, S. 47. 49 Vgl. Oevermann 2001a, S. 55. 50 Vgl. ebd., S. 38. Dabei trägt weniger die tatsächliche Kompatibilität mit der Realität zur Stabilisierung bzw. Kontinuität eines Deutungsmusters bei, als eine innere Logik, welche die Vermeidung kognitiver Dissonanzen, selektive Wahrnehmungen oder Rationalisierungen leitet (vgl. Arnold 1983, S. 897).
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konsistente Gebilde sind, sind sie weder »ein vollständig geschlossenes und in sich widerspruchsfreies System von Interpretationen,«51 noch sind die ihnen zu Grunde liegenden strukturellen Handlungsprobleme universalgültige Größen. Inkompatibilitäten und Brüche bestehen – zwischen verschiedenen Interpretationselementen, zwischen konkurrierenden Deutungsmustern oder auch zwischen Deutungen und den deutungsbedürftigen Handlungsproblemen – und manifestieren sich als krisenhafte Reibungsflächen insbesondere dann, wenn sie gleichzeitig für ein Handlungsproblem aktiviert werden oder Subjekte vor Handlungsproblemen stehen, für welche die verfügbaren Deutungsangebote nicht mehr hinreichen. Damit ist vor allem dann zu rechnen, wenn sich die zu Grunde liegende Struktur verändert – wie etwa in Phasen sozialen Wandels und damit der Katastrophe als »krasser« sozialer Wandel.52 Damit sind Deutungsmuster per se – und nicht nur ihre individuellen Repräsentationen – entwicklungsoffen. Ihre Stabilität ist immer nur eine relative: Es ist davon auszugehen, dass Deutungsmuster nur insofern Kontinuität besitzen, als dass sie mit dem bisherigen Weltbild vereinbar sind und keine allzu großen Brüche auslösen.53 Durch ihren quasi-universellen Charakter zum einen, womit sie den jeweiligen Zeitgeist ausdrücken, und ihren Bezug zu lebensweltlichen Problemen zum anderen ergibt sich überdies, dass Deutungsmuster in ihrer Geltung und Reichweite raumzeitlich verortbar sind.54 Folgt man nun Plaß und Schetsche (2001), vermag das Oevermannsche Konzept nicht, den Anspruch der historischen Verortung zu erfüllen. Individuen stünden in Oevermanns Konzeption vor universellen Handlungsproblemen, auf die – milieuspezifisch – Antworten gefunden werden müssen. Er missachte damit historisch spezifische Problematisierungsweisen, die durch ihre spezifische Form der Thematisierung Handlungsprobleme überhaupt erst aufwerfen. Oevermanns Ansatz sei damit grundlegend ahistorisch.55 Zwar erlangen Deutungsmuster, wie erläutert, in der Oevermannschen Konzeption tatsächlich quasi-universellen Charakter, doch verweist er explizit darauf, dass Deutungsmuster stets auch den jeweiligen Zeitgeist verkörpern.56 Deutungsmuster werden nicht einseitig durch die strukturbedingten Handlungsprobleme, auf die sie antworten, bedingt. Vielmehr kommt ihnen eine »relative Eigenständigkeit« zu: Sie stehen mit den Handlungsproblemen in einem wechselseitigen Verhältnis.57 Struktur determiniert das Individualbewusstsein und die konkreten Praktiken nicht, sondern Struktur und Praxis (re-)produzieren sich wechselseitig. So können zwar Deutungsmus51 52 53 54 55 56 57
Oevermann 1973, S. 26; Hervorhebung SP. Vgl. ebd., S. 13f; 17; Lüders 1991, S. 384. Vgl. Oevermann 1973, S. 9, 16; Kassner 2003, S. 42f; Arnold 1983, S. 896; Oevermann 2001a, S. 38. Vgl. Meuser/Sackmann1992, S. 17; Oevermann 1973, S. 10; Schetsche 2008, S. 85. Vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 521. Vgl. Oevermann 2001a, S. 38. Vgl. Oevermann 1973, S. 15.
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ter selbst nur im Rahmen der Handlungsprobleme, auf die sie sich beziehen, erklärt werden, aber diese Handlungsprobleme sind ihrerseits selbst stets schon gedeutet. Durch diese Betonung des zirkulären Charakters von Deutungsmustern und Handlungsproblemen wird die Historizität von Deutungsmustern sehr wohl berücksichtigt.58 Dementsprechend ist das Deutungsmusterkonzept auch in der allgemeinen Debatte um das Verhältnis zwischen Struktur und Handeln anzusiedeln, wo auch vermehrt Kritik ansetzt. So sehen Plaß und Schetsche (2001) »[d]as größte Problem des Deutungsmusterkonzepts, wie es von Oevermann entworfen und von ihm und anderen weiterentwickelt wurde, […] darin, daß Deutungsmuster als kategoriale Wissensformen ungenügend von Deutungsmustern als subjekttheoretischer Kategorie abgegrenzt sind.«59 Dieser eingeforderten, klaren Abgrenzung ist allerdings eine Gegenüberstellung von Individuum und sozialer Welt inhärent. Oevermann hingegen versucht gerade diese Dichotomie zu überwinden und die Einheit von Struktur und Handeln hervorzuarbeiten.60 Struktur, Handeln und Wissen werden als keine oppositionellen Phänomene, sondern als wesentliche Merkmale eines Phänomens gefasst.61 Deutungsmuster lassen sich weder rein auf der Ebene gesellschaftlicher Struktur noch auf die Ebene des Individualbewusstseins und individueller Praktiken verorten.62 Vielmehr ist das Konzept an der »Schnittstelle von Handlung und Struktur«63 angesiedelt und schlägt damit eine Brücke zwischen »objektiven gesellschaftlichen Handlungsproblemen und deren subjektiver Bewältigung.«64 Damit ist das Deutungsmusterkonzept auch ein »Versuch, der falschen Dichotomisierung von Handlung und Struktur, Mikro und Makro usw. zu entgegnen.«65 Es erlaubt, der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Deutungsmustern Rechnung zu tragen, ohne von einer Determiniertheit des Bewusstseins auszugehen.66 Und genau hierin, im »Konnex von Strukturen, kollektivem Wissen 58 Vgl. ebd., S. 4; Oevermann 2001b, S. 545. Gerade wegen dieser Wechselseitigkeit ist es unabdingbar, die ursprünglichen Handlungsprobleme herauszuarbeiten, auf die das jeweilige Deutungsmuster antwortet. Es gilt, »historisch den strukturellen Ursprungskontext, von dem es sich dann möglicherweise gelöst hat« (Oevermann 1973, S. 16) zu identifizieren, um im Anschluss erst die aktuellen Handlungsprobleme, mit Bezug auf die es (re-)aktiviert wird, in den Fokus zu nehmen. Dies gelinge forschungspraktisch am ehesten mit einem »historisch-genetischen Spiralmodell« (Oevermann 2001b, S. 545), wobei Handlungsprobleme, auf die Deutungsmuster antworten, pragmatisch als analytischer Ausgangspunkt festgelegt werden. 59 Plaß/Schetsche 2001, S. 522. 60 Vgl. Kassner 2003, S. 40f. 61 Vgl. Oevermann 2001b, S. 539. 62 Vgl. Lüders/Meuser 1997, S. 68. 63 Bögelein 2016, S. 99. 64 Lüders/Meuser 1997, S. 59. 65 Meuser/Sackmann 1992, S. 21. 66 Vgl. Arnold 1983, S. 903.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
und individuellem Handeln,«67 liegt einerseits die Stärke und der eigentliche Kern des Deutungsmusterkonzepts,68 andererseits jedoch auch die größte Herausforderung: Es gilt, das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, Praxis und Struktur, Emergenz und Determination zu überwinden und ihre interdependente Verflechtung zu erfassen.69 Hinsichtlich der synchronischen Abgrenzung, der Verortung von Deutungsmustern auf ihre jeweiligen Trägergruppen hin, ergibt sich für Oevermann über seine Betonung des funktionalen Bezugs der Deutungsmuster zu strukturbedingten Handlungsproblemen eine Bindung an sozial differenzierte Lebenswelten und -praktiken: Das Sozialmilieu erscheint für ihn als die primäre Trägergruppe von Deutungsmustern.70 Auf diese sozialräumliche Verankerung von Sinnstrukturen verweisen auch Berger und Luckmann (2016), sofern sie davon ausgehen, dass unterschiedliche Lebenswelten mit ihrer Einbettung in unterschiedliche Ordnungen, die das Individuum im Zuge der Sozialisation internalisiert, unterschiedliche subjektive Sinnwelten hervorbringen. Diese Verschiedenartigkeit von gesellschaftlichen Wirklichkeiten entlang sozialer Lebenswelten ergibt sich letztlich daraus, dass es weniger die Plausibilität von »Sinnwelten« ist, die über ihren Erfolg entscheidet, als vielmehr bares Interesse.71 Als implizite, unbewusste Wissensgebilde unterliegen auch Deutungsmuster einer Selektion gemäß kollektiven Interessen, mit denen sie kompatibel bleiben bzw. ihnen dienlich sein müssen. Deutungsmuster sind also stets auch interessensbezogen.72 Der von Oevermann forcierte Deutungsmusterbegriff wird nun weiter dahingehend kritisiert, dass die »Engführung des Deutungsmusterbegriffs auf ›alltagspraktisch‹ generierte Deutungs- und Handlungsschemata«73 und damit auf das Sozialmilieu als Trägergruppe all diejenigen Wissensformen vernachlässige, die nicht milieuspezifisch, sondern vielmehr milieuübergreifend erwachsen, etwa medial vermittelte oder massenkulturelle Wissensformen, womit er der Realität nicht angemessen sein könne.74 Dementsprechend schlägt Schetsche (2008) vor, es seien we67 Oevermann 2001b, S. 537. 68 Lüders 1991, S. 381; Ullrich 1999b, S. 3. 69 Einen möglichen Ausweg aus dem oppositionell konzipierten Dualismus bietet, »Struktur« prozesshaft zu denken – Praxis als strukturierte Praxis und strukturierende Praxis zu begreifen. Ein derart konzipierter Handlungsbegriff findet sich beispielsweise im Rahmen von Giddens Strukturationstheorie. Dennoch dürfte es für die konkrete empirische Analyse empfehlenswert sein, pragmatisch eine analytische Trennung vorzunehmen (vgl. Kassner 2003, S. 42; Lüders/Meuser 1997, S. 68; Lüders 1991, S. 385). 70 Vgl. Kassner 2003, S. 43f. 71 Berger/Luckmann 2016, S. 63ff. 72 Vgl. Oevermann 2001a, S. 37f. Deshalb ist es unabdingbar, den Zusammenhang zwischen Deutungsmustern und Gesellschaftsstruktur in den Blick zu nehmen. 73 Keller 2008a, S 83. 74 Vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 519; Kassner 2003. 44.
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niger soziale Milieus, welche die (Re-)Produktion von Deutungsmustern mittragen würden, als vielmehr kollektive Akteure, »Gruppen von Personen mit gemeinsamen Motiven, Zielen und Handlungsstrategien,«75 die an der Thematisierung und Ausdeutung von sozialen Problemen – mithin der (Re-)Produktion von Deutungsmustern – beteiligt sind, und unterscheidet dabei aktiv Betroffene, AdvokatInnen, ExpertInnen, ProblemnutzerInnen, soziale Bewegungen, Massenmedien und den Sozialstaat.76 Damit sei eine Verknüpfung von Deutungsmustern und milieuspezifischer Lebenswelt zwar prinzipiell möglich, nicht aber notwendigerweise der Fall.77 Sofern allerdings auch in dieser Perspektive Deutungsmuster als »lebensweltliche Wissensformen«78 verstanden werden, wird weniger eine Abkehr von der Lebensweltbezogenheit von Deutungsmustern eingefordert, als lediglich eine Ausweitung des Lebensweltbegriffs über die Kategorie des sozialen Milieus hinaus. Es gilt, einen Deutungsmusterbegriff zu etablieren, »der das vielschichtige Wissen der Lebenswelt berücksichtigt: massenkulturelles, subkulturelles, massenmediales, milieuspezifisch gewachsenes, wissenschaftliches und in sozialen Gruppen interaktiv evaluiertes Wissen.«79 Dies kann gelingen, indem eine a priori Bindung an soziale Kategorien abgelehnt und analytische Offenheit gewahrt wird, um die Vielschichtigkeit lebensweltlichen Wissens zu berücksichtigen und Gemeinsamkeiten in den Lebenspraktiken zu erfassen, die quer zu sozialen Kategorien liegen.80 Schließlich stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Beschaffenheit von Deutungsmustern, sofern diese niemals bloß formale Regeln der Konstitution von Praktiken sind, sondern sich auch inhaltlich bestimmen lassen.81 Dabei umfassen Deutungsmuster »kognitive, evaluative und normative Komponenten.«82 Sie sind eine Komposition verschiedenster Deutungselemente – integriert in eine in sich schlüssige Deutungsfigur, die sich in unterschiedlichster Weise manifestieren kann.83 Plaß und Schetsche (2001) und Schetsche (2008) schlagen nun vor, die inhaltliche Gestalt von Deutungsmustern bzw. Problemmustern anhand verschiedener Elemente zu strukturieren: Situationsmodelle richten sich auf die »strukturellen Merkmale der Situationen, die unter die ›Zuständigkeit‹ des Musters fallen.«84 Sie bilden also »schablonenhafte Kurzbeschreibungen der 75 Schetsche 2008, S. 52. 76 Vgl. ebd., S. 87ff. Wobei er letzteren beiden einen Sonderstatus einräumt, der nach einer gesonderten Analyse verlangt. 77 Vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 519. 78 Ebd., S. 523. 79 Ebd., S. 521. 80 Vgl. Kassner 2003, S. 44, 56. 81 Vgl. Meuser/Sackmann 1992, S. 17. 82 Ullrich 1999b, S. 2. 83 Vgl. Keller 2007, S. 104f. 84 Plaß/Schetsche 2001, S. 528.
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Situationen, in denen das betreffende Deutungsmuster anzuwenden ist,«85 mitsamt Abgrenzungskriterien und normativen Bewertungsrichtlinien, mit denen konkrete Situationen abgeglichen werden. Die normative Wertung ist dabei insofern von Interesse, als dass Sachverhalte einer Verknüpfung mit einer legitimen Werteordnung bedürfen, um überhaupt als »problematisch« zu gelten. Eng damit einher gehen Emotionsmuster, die Wissen zu den der Situation angemessenen Emotionen umfassen und neben der kognitiven Beschäftigung auch eine emotionale Betroffenheit erlauben. Hintergrundwissen bietet überdies einen Bestand an Annahmen zu Kausalzusammenhängen, Folgewirkungen und Verläufen, worin häufig auch Verantwortungszuschreibungen und moralische Urteile implizit angelegt sind. Darüber hinaus legen Handlungsmodelle pauschale Reaktionsweisen fest, wobei zu unterscheiden ist zwischen Handlungsmodellen im Anlassfall – namentlich Handlungsempfehlungen für die konkrete Konfrontation mit der Problemsituation – und jenen, die sich auf eine generelle Lösung oder Vermeidung der Problematik richten, wodurch sie in unmittelbarem Zusammenhang mit Kausalattribuierungen stehen. Gerade hier ist auch mit einem verstärkten Hervortreten von Eigeninteressen der Akteure zu rechnen.86 Dabei dient uns dieser Ansatz zur inhaltlichen Struktur nicht als starre Schablone für die empirische Analyse von Deutungsmustern, sondern als flexibler Leitfaden, der die Aufmerksamkeit der Forschenden auf potenzielle Aspekte lenkt, die ansonsten womöglich übersehen werden. Eine a priori Festlegung von Elementen von Deutungsmustern könnte in eine Sackgasse führen, sofern davon auszugehen ist, dass »[j]e nach Fragestellung und Material […] die empirisch auffindbaren Muster mit unterschiedlichen Wissensformen, Regelstrukturen und Darstellungsformen durchsetzt sein [werden].«87 Die konkrete Gestalt eines Deutungsmusters, die Komposition der Elemente, ist also eine empirisch zu bestimmende.88 Als Unterscheidungspunkt konkurrierender Deutungsmuster bzw. als Indikator der inhaltlichen Begrenzung dient dabei eine grobe Inkompatibilität von Elementen.89 Letztendlich ergibt sich die zentrale Differenz zwischen den unterschiedlichen Deutungsmusterkonzepten weniger aus ihrer inhaltlichen Konzeption, als aus ihrem analytischen Ansatzpunkt.90 Die spezifischen analytischen Zugänge erwach85 86 87 88 89 90
Schetsche 2008, S. 112. Vgl. ebd., S. 112-119; Plaß/Schetsche 2001, S. 528ff. Lüders 1991, S. 385. Vgl. Ullrich 1999b, S. 2. Vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 527. Vgl. Bögelein 2016, S. 107. So sieht Oevermann in der Rekonstruktion von Deutungsmustern den Schlüssel zur Vorhersage von Handeln – die »Vorwegnahme der Explikation einer Implikation jeweils schon rekonstruierter Deutungsmuster, die dann unter angebbaren Handlungsbedingungen vom Subjekt selbst prüfbar vorgenommen wird« (Oevermann 1973, S. 24). Ullrich hingegen sieht das Ziel der Deutungsmusteranalyse in einer möglichst vollständigen Rekonstruktion des »Raumes der situativ bedeutsamen Deutungsmuster« (Ullrich 1999b, S. 6),
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sen allerdings stets erst aus der spezifischen Fragestellung, womit kein Zugang a priori zu negieren, sondern nur in seinen Vor- und Nachteilen für die jeweilige Fragestellung abzuwägen ist. Gerade deshalb ist es ohnehin nicht vielversprechend, eine essentialistische Konzeption von Deutungsmustern und eine allgemeine analytische Perspektive zu etablieren versuchen. Das Streben nach größtmöglicher Systematik ginge lediglich auf Kosten der empirischen Offenheit, wodurch wertvolle Informationen im Hinblick auf den Forschungsgegenstand verloren gingen. Die Auslegung des Deutungsmusterbegriffs kann sinnvoll stets nur entlang einer spezifischen Fragestellung erfolgen. Es gilt, das »Deutungsmuster als forschungspragmatisch-heuristisches Konzept«91 zu fassen, das eine »spezifische ›Organisation‹ der Daten«92 erlaubt, wodurch die Deutungsmusteranalyse auch der Forderung nach der »Reflexion des wechselseitigen Verhältnisses von Gegenstand, Methode und Theorie«93 entsprechen kann.
4.1.2.
Die Katastrophe als Deutungs- und Handlungsproblem
Das alltagsweltliche Erleben erscheint dem Individuum nun als objektiv gegeben, als eine von ihm unabhängige Wirklichkeitsordnung, die sich durch ihre bloße Präsenz dem Individuum als selbstverständlich und faktisch darstellt: »Die Wirklichkeit der Alltagswelt wird als Wirklichkeit hingenommen. Über ihre einfache Präsenz hinaus bedarf sie keiner zusätzlichen Verifizierung. Sie ist einfach da – als selbstverständliche, zwingende Faktizität. Ich weiß, daß sie wirklich ist.«94 Dabei kann ein Gutteil der Wirklichkeit durch routinehaften Rückgriff auf vorhandene Wissensbestände begriffen werden, wodurch das jeweilige Wissen bis auf Weiteres als gültig gezeitigt wird. Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit sowie die Wahr-
91 92 93 94
wonach nicht nur einzelne Deutungsmuster rekonstruiert, sondern eine möglichst »vollständigen Typologie aller konkurrierenden Deutungsmuster bezüglich einer vorab (aber vorläufig) definierten ›objektiven Situation‹« (ebd.) erarbeitet werden sollen. Demgegenüber schlagen Plaß/Schetsche (2001) eine Umkehrung der Analyseperspektive vor, wonach die Verbreitung und Entstehung von Deutungsmustern in den Fokus gerückt werden soll und weniger die Manifestation von Deutungsmustern in der Alltagspraxis der Menschen in Form individueller Repräsentationen (vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 530f). Ihnen zufolge gilt es, Deutungsmuster »anhand von sozialen Interaktionsprozessen, in denen Wissen transferiert wird, empirisch [zu] untersuchen« (ebd., S. 522). Was sie dabei allerdings selbst übersehen, ist, dass auch solche Prozesse des Wissenstransfers Produkte sozialer Praktiken sind, welche an die Körperlichkeit von Individuen gebunden sind (z.B. Reporter, Interviewpartner, Pressesprecher, RedakteurInnen uvm.), damit ebenfalls individuelle Träger voraussetzen und Manifestationen von subjektiv verinnerlichten Deutungsmustern sind. Lüders 1991, S. 380. Ebd., S. 381; vgl. auch Keller 2014, S. 156. Lüders/Meuser 1997, S. 64. Berger/Luckmann 2016, S. 26.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
nehmung und Ausdeutung von Aspekten der Wirklichkeit folgen tendenziell dem Prinzip der Sparsamkeit – dem Erkennen des Bekannten. Taucht nun allerdings ein Problem auf, das nicht mehr durch den routinehaften Rückgriff auf bislang »gültiges« Wissen gelöst werden kann, wird die Kontinuität des Alltagserlebens unterbrochen.95 Vor diesem Hintergrund sind nun Katastrophen von besonderem Interesse: Zum einen stellen Katastrophen Phänomene dar, die sich in besonderer Weise in die Aufmerksamkeit drängen,96 damit als Gegenstand der Wahrnehmung per se deutungsbedürftig sind und der Integration in die Weltsicht eines Individuums bedürfen.97 Zum anderen erscheint »die Katastrophe« eben selbst als ein Konzept der Wahrnehmung, das Phänomene bzw. Aspekte der Wirklichkeit erst in einen Sinnkontext setzt und damit der individuellen Wahrnehmung als katastrophisch erscheinen lässt. Die »Katastrophe« erscheint dem Individuum als eine Irritation der Wirklichkeit, sie zerbricht das Band des Althergewohnten, unterbricht den gewohnten Ablauf von Routinen. Sie stellt sich dem Individuum in der Form eines Erlebnisses extremer Kontingenz. Dies nötigt das Individuum zu einer reflexiven Einstellung gegenüber der Situation:98 Sie muss ausgedeutet werden, um sie verstehen zu können. Nur indem sie in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht und in die Weltsicht integriert wird, ist eine kognitive (und praktische) Bewältigung der Situation überhaupt erst möglich: »Kontingentes wird zum Vorhersehbaren oder sogar zum Unabwendbaren, Zufall in Notwendigkeit, Sinnloses in Sinnhaftes umgedeutet. Erklärungen sind Prozesse der Sinnstiftung, und Katastrophen sind Zäsuren, die solche Prozesse in Gang setzen.«99 Dabei unternimmt das Bewusstsein zunächst die Anstrengung, das – die Kontinuität unterbrechende – Problem in die Alltagswelt hereinzuholen, indem auf etablierte, gesellschaftlich verankerte Deutungsangebote zurückgegriffen wird.100 Gerade die Katastrophe als hochkomplexe Situation (extrem vernetzter Wandel) unter Zeitdruck (extrem beschleunigter Wandel) und mit dramatischem Charakter (»entsetzliche soziale Prozesse«101 ) hält die Gesellschaft zur unmittelbaren Reaktion auf das Geschehen an: »Sie steht unter Deutungs- und Handlungszwang.«102 Spontan erforderliches Handeln in hochkomplexen Situationen aber wirft das Individuum tendenziell auf Heuristiken bzw. allgemeinere Wissensbestände zurück, um handlungsfähig zu bleiben bzw. zu werden. Damit wird Anschlussfähigkeit an 95 Vgl. ebd., S. 24-27; Keller 2008b, S. 290. 96 Vgl. Rost 2014, S. 35. 97 Vgl. Bögelein 2016, S. 95f. 98 Vgl. Rost, S. 40. 99 Groh et al. 2003, S. 25. 100 Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 45; 24-27. 101 Clausen 2008. 102 Prisching 2006, S. 55.
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bestehendes Wissen gestiftet und das Ereignis kann in die bestehende Weltsicht integriert werden, wodurch dem Individuum die Möglichkeit eröffnet wird, die Situation zu entdramatisieren bzw. normalisieren.103 Hierdurch kann auch die Logik des häufig in der Katastrophe zu verzeichnenden Rückgriffs auf althergebrachte Routinen und Wissensbestände erklärt werden. Dies illustriert etwa Meier (2003) anhand der Erdbebenreihe im syrischen Antiocheia im 6. Jhdt., die zunächst zu einer Intensivierung und Ausweitung von Praktiken gemäß der (dominanten) religiösen Deutung (z.B. Bittprozessionen) und letztlich einem »Lernen« innerhalb gegebener Bahnen führte, indem z.B. Jesus als intermediäre Schnittstelle in der Kommunikation mit Gott hinzugezogen wurde.104 Diese Anschlussfähigkeit an das bestehende Wissen und die etablierte Weltsicht ist allerdings nicht immer gegeben. Gerade Grenzsituationen bzw. Situationen jenseits der Alltagserfahrung stellen eine besondere Herausforderung für die etablierte Ordnung mitsamt ihrer Legitimation dar.105 Gerade in Krisen- und Umbruchsituationen, wie sie Katastrophen darstellen, sind fundamentale Brüche zum bisherigen Weltbild zu erwarten. Angesichts der überaus komplexen, durch massive Kontingenz geprägten Situation sind die verfügbaren Deutungsangebote häufig nicht mehr hinreichend, um die aufgeworfenen Probleme (kognitiv wie praktisch) zu bewältigen.106 Katastrophen fordern die im Schatten des Alltags fraglos hingenommene Plausibilität des etablierten Wissens und die Gültigkeit verfestigter Deutungsangebote heraus: »[D]isasters contradict its members‹ definitive knowledge«107 und stellen damit »die kulturelle Reproduktion des Selbstverständlichen zunehmend in Frage.«108 In einer reflexiven Haltung müssen dann erst den realen Problemen angemessene Handlungen und Deutungen gefunden werden.109 Dabei ist einerseits mit der Sedimentation von neuartigen und andererseits mit einer Modifikation von bestehenden Deutungsangeboten zu rechnen.110 Die »Diskrepanz zwischen Ereignissen und gesellschaftlich verfügbaren Interpretationsschemata«111 kann also Raum für die Veränderung der bestehenden symbolischen Ordnung eröffnen. So wurden z.B. vermehrt die bahnbrechenden Auswirkungen des Erdbebens von Lissabon 1755 auf die dominante Weltsicht aufgezeigt. Während die dominante Forschungsmeinung dabei einen Bruch mit dem bisherigen 103 104 105 106 107 108 109 110
Vgl. Bögelein 2016, S. 97f. Vgl. Meier 2003, S. 53. Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 92; 105ff. Vgl. auch Rost 2014, S. 178; Arnold 1983, S. 896. Hoffman 2002, S. 113. Lüders/Meuser 1997, S. 73. Vgl. Rost, S. 38; Oliver-Smith 2002, S. 38. Vgl. Lüders/Meuser 1997, S. 72f; Arnold 1983, S. 896f; Kassner 2003, S. 43; Plaß/Schetsche 2001, S. 525. 111 Keller 2008b, S. 291.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
Weltbild vermutet, argumentieren Groh et al. (2003), dass die Katastrophe weniger einen Bruch ausgelöst habe, als dass sie als Irritation bzw. als Impulsgeber für die Entstehung neuartiger Lösungen eine Vervielfältigung von Deutungsangeboten bewirkte.112 Die Wirkungsweise von Katastrophen auf die symbolische Ordnung kann also nicht vorab entschieden werden: »[K]atastrophische Ereignisse [fungieren] als Katalysatoren der Restabilisierung oder Transformation etablierter Wirklichkeitsordnungen.«113 Die Art und Weise, wie Katastrophen ausgedeutet werden, auf welche Deutungsmuster zurückgegriffen wird, ist in der Katastrophe schlicht nicht festgelegt, sondern folgt einer sozialen Logik.114 Als Unterbrechung von alltäglichen Routinen, Strukturen und Normalität auf individueller sowie kollektiver Ebene stellt sie bestehende Wissensordnungen in Frage. Die Katastrophe wird damit gegenüber unterschiedlichsten Ausdeutungsversuchen geöffnet (wenngleich diese nicht beliebig sind).115 Dementsprechend bieten Katastrophen auch besonders gute Gelegenheiten zur Analyse von Deutungsmustern, sofern damit zu rechnen ist, dass diese besonders deutlich hervortreten. Die soziale Grammatik, die Logik und Struktur der Gesellschaft, die im Schatten des Alltäglichen oft im Verborgenen bleibt, offenbart sich in der Katastrophe in einer besonderen Art und Weise:116 »Disasters are invaluable opportunities to study sense-making mechanisms, at both collective and individual levels in their most visible forms.«117
4.2.
Institutionen und Organisationen: Zur objektivierten Ordnung der Katastrophe
Die Art und Weise, wie Katastrophen nun ausgedeutet werden, welche Deutungsmuster im konkreten Anlassfall aktiviert werden, ist der Katastrophe nicht inhärent. Wie erläutert, eröffnet die Katastrophe Interpretationsspielräume und ist damit gegenüber verschiedenen Ausdeutungsversuchen offen. Und dennoch ist ihre Ausdeutung nicht beliebig.118 Denn Wissen – und damit auch Deutungsmuster als Formkategorie kollektiven Wissens – existiert niemals in einem luftleeren Raum. Symbolische Ordnungen, Wissensstrukturen, Deutungsmuster sind keine von der Realität losgelösten, freischwebenden Ideengebilde in den Köpfen der Individuen. Nicht nur die Katastrophe selbst weist also einen unmittelbaren Bezug zur sozialen 112 113 114 115 116 117 118
Vgl. Groh et al. 2003, S. 21f. Keller 2008b, S. 306. Vgl. Prisching 2006, S. 53f. Vgl. Rost 2014, S. 154f. Vgl. Prisching 2006, S. 55. Stallings 2002, S. 300. Vgl. Prisching 2006, S. 53f.
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Ordnung der Welt auf, sondern selbst die Wahrnehmung und Ausdeutung der Katastrophe: »[S]ocial conditions or ›reality‹ shape how we think about and act toward disaster.«119 Die Deutungsmuster, auf die zurückgegriffen wird, sind eingewoben in ein strukturelles Gefüge. Ohne die Berücksichtigung dieser sozialen Strukturen, des institutionellen Settings und der Macht- und Interessenkonstellationen, in welche die Aushandlungsprozesse sowie der damit einhergehende Wissensvorrat eingebettet sind, können diese nur unzureichend erklärt und in ihren (kommunikativen) Folgewirkungen erfasst werden. Die Ausdeutungen der Katastrophe werden durch konkrete Akteure getragen sowie durch Institutionen angeleitet, ermöglicht sowie auch begrenzt.120 So schlagen bereits Thompson et al. (1990) im Rahmen der Cultural Theory eine Verknüpfung von sozialem Setting und den Kosmologien bzw. Weltsichten der Individuen vor, wonach unterschiedliche Muster sozialer Beziehungen bzw. Organisationsformen mit je spezifischen »cultural biases« bzw. »cosmologies« einhergehen und gemeinsam spezifische »ways of life« hervorbringen.121 Während dem Individuum selbst seine Weltdeutungen und -anschauungen und die damit verbundenen Sinnstrukturen, die konkrete Deutungen und Handlungen im Kontext der Katastrophe hervorbringen, als selbstverständlich und in letzter Instanz gültig erscheinen,122 gilt es der Soziologie, hinter »dem Charakter der ›Gewißheit‹ von jedermanns Wirklichkeit«123 die Einbettung von Katastrophenwahrnehmung und -erinnerung in ein institutionelles Gefüge und die »symbolischen, institutionellen und technischen Infrastrukturen der modernen Gesellschaft als Grundlagen dieser Herstellung ihrer spezifischen Normalität«124 zu thematisieren. Wie generell ist also auch im Kontext der Katastrophe von einer fundamentalen Dialektik zwischen Wissen und sozialer Wirklichkeit auszugehen. Wissen ist »doppelt[e] Verwirklichung«:125 Zum einen verweist es auf die ihm zu Grunde liegende Wirklichkeitsordnung; zum anderen wird es durch diese nicht determiniert, sondern (re-)produziert sie gleichsam erst. Es gilt, die soziale Welt sowohl als faktische Tatsache als auch als sinnhafte Reproduktion zu fassen, als objektive und gleichzeitig als subjektive Wirklichkeit zu verstehen: »Es ist ja gerade der Doppelcharakter der Gesellschaft als objektive Faktizität und subjektiv gemeinter Sinn, der sie zur ›Realität sui generis‹ macht.«126 Gerade deshalb ist es auch zentral, Wissen niemals 119 Hewitt 1998, S. 76. 120 Vgl. Stallings 2003, S. 41; Dynes 1998, S. 114; Keller 2003, S. 409. 121 Thompson et al. 1990, S. 1ff. 122 Vgl. Eribon 2016, S. 54; Berger/Luckmann 2016, S. 23. 123 Berger/Luckmann 2016, S. 23. 124 Keller 2008b, S. 297. 125 Berger/Luckmann 2016, S. 71. 126 Ebd., S. 20.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
nur in Form einer reinen Katalogisierung, sondern immer in seinem Verhältnis zu den Objektivationen menschlicher Tätigkeit zu analysieren – mithin: dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Wissen und Institutionen127 – womit sich bereits an dieser Stelle zeigt, dass eine reine Typologie von Deutungsmustern, wie z.B. von Ullrich (1999a, 1999b) eingefordert, nicht hinreichend ist, um menschliches Deuten und Verhalten angesichts der Katastrophe zu verstehen. Es ist also auch im Kontext der Katastrophe der »Dreiklang von Interessen, Ideen und Institutionen«128 zu berücksichtigen, wie es für eine Kultursoziologie in der Tradition Max Webers prägend ist. Während dabei der Begriff der »Idee« an sich (ebenfalls) ein sehr unscharfer ist129 und wir uns an dieser Stelle damit begnügen müssen, das theoretische Verhältnis der beiden Konzepte unbestimmt zu lassen, dürfte die konzeptionelle Nähe zum Deutungsmusterbegriff dennoch hinreichend sein, um die Forderung nach der Analyse des Konnex von Interessen, Ideen und Institutionen auf das Konzept der Deutungsmuster zu übertragen: »Ideen sind interessenbezogen, sie müssen etwas ›leisten‹. […] Umgekehrt sind Interessen ideenbezogen, sie richten sich auf Ziele und bedienen sich legitimierter Mittel.«130 Weiter »[sind] Institutionen […] auf Leitideen bezogen, durch die sie gedeutet und legitimiert werden, wobei sie diese Leitideen aber erst konkretisieren. Institutionen beschränken Interessen, wobei sie deren legitime Verfolgung aber erst ermöglichen.«131 Auf unseren Gegenstand übertragen heißt das, dass Deutungsmuster der Katastrophe zum einen Trägergruppen mit spezifischen Interessen haben, die sie legitimieren und deren Verfolgung sie dienen, und sich zum anderen in Institutionen niederschlagen, die wiederum Interessen und deren Verfolgung erst ermöglichen, aber auch begrenzen, Deutungsmuster konkretisieren und durch diese wiederum legitimiert und auf Dauer gestellt werden. Am Beispiel der im Spätmittelalter dominanten Vorstellung der Katastrophe als Strafe Gottes für eine sündhafte Lebensführung lässt sich dieser Konnex besonders gut illustrieren. So war diese Vorstellung auch in ihrer »Blütezeit« nicht losgelöst von den Strukturen der sozialen Wirklichkeit zu denken.132 Zum einen war sie den Interessen der Kirche zuträglich: Sie förderte die kirchliche Herrschaft über die 127 Vgl. ebd., S. 98. 128 Schluchter 2008, S. 78. 129 Vgl. Münnich 2011, S. 377f. Dem Begriff der Idee ermangelt es ebenso einer klaren begrifflichen Abgrenzung wie dem Begriff der Deutungsmuster. Folgt man Münnich, der »Ideen als die Muster der Wahrnehmung und Bewertung der Umgebung durch die Handelnden« (Münnich 2011, S. 377) versteht, setzen sich Ideen als Amalgam zweier Seiten zusammen; den »normative[n] Prinzipien (Werte), die definieren, wie die Welt sein soll, und kognitive[n] Wissensbestände[n], die die Wahrnehmung lenken, wie die Welt ist,« wobei das »Verhältnis der beiden Seiten, die häufig empirisch ineinander fließen, […] genauer geklärt werden [muss]« (ebd.). 130 Lepsius 2009, S. 42. 131 Schluchter 2008, S. 57. 132 Vgl. Wagner 2008, S. 3619.
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Lebenswelten der Menschen, sofern Katastrophenschutz nur über ein gottgefälliges Leben möglich war, über das zu entscheiden der Kirche oblag. Alternativen, wie z.B. technische Schutzbauten, waren zu vermeiden bzw. undenkbar, sofern der damit einhergehende Eingriff in den Willen Gottes diesen nur noch mehr erzürnte. Zum anderen fand dieses Deutungsmuster Niederschlag in einer institutionellen Ordnung des »Katastrophenschutzes,« wobei sich diese grundlegend anders gestaltete als in den modernen Gesellschaften des 21. Jhdt. So fanden sich etwa Praktiken, die darauf ausgelegt waren, den Willen Gottes zu beeinflussen bzw. ihn zu besänftigen, wie eigens auf Katastrophen ausgerichtete Gottesdienste, Bittprozessionen oder »Wetterbeten.« Zum einen wurde damit die Interessensverfolgung der Kirche wiederum erst ermöglicht, sofern ihr die Macht oblag, Katastrophenschutz zu praktizieren, indem z.B. nur eigens dafür vorgesehene Geistliche befugt waren, Menschen von ihren Sünden freizusprechen oder Gottesdienste abzuhalten. Zum anderen wurde diese Ordnung des »Katastrophenschutzes« wiederum erst durch die Idee der Katastrophe als Ausdruck des Zorns Gottes legitimiert und damit aufrechterhalten. Dem menschlichen Ausdrucksvermögen ist die Fähigkeit zu eigen, eine relativ stabile Ordnung zu stiften – die Sinnhaftigkeit menschlicher Tätigkeiten vermittels Objektivationen über die Grenzen der konkreten Situation, in der sie sich manifestieren, hinaus begreifbar zu machen.133 Dabei sind Institutionen im weitesten Sinne »auf Dauer gestellt[e],« »grundlegend bedeutende Problemlösungen.«134 Sie sind stabilisierte, wechselseitige Erwartungshaltungen, die sich in Prozessen der Habitualisierung zu Modellen des Handelns verdichten: Sie sind damit historisch gewachsene Sedimente menschlicher Tätigkeiten. Als reziproke Handlungsmodelle entlasten sie Handeln nicht nur, indem sie es anleiten, sondern machen es auch vorhersagbar, wodurch sie normativen Charakter erlangen.135 Institutionen sind allerdings mehr als bloße Verhaltensregeln (»rules of the game«): Sie haben regulierenden Charakter, indem sie bestimmte Verhaltens- und Handlungsweisen wahrscheinlicher machen als andere, doch sie »sind nicht nur constraints oder Gelegenheitsstrukturen, sondern sie statten Akteure mit Handlungsorientierungen, Zielen und Grundüberzeugungen aus.«136 Institutionen sind also auf das Spannungsfeld zwischen Ideen und Verhaltensstrukturierung gerichtet. Sie vermitteln zwischen Kultur und Gesellschaft. Sie entstehen, indem menschliche Tätigkeit allmählich zu einer objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit gerinnt. Sie lösen sich vom ursprünglichen Handlungskontext und treten dem Individuum letztendlich als eine ihm äußere Realität ge133 134 135 136
Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 22. Voss 2006, S. 156. Angelehnt an Gehlen. Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 55-61. Hasse 2011, S. 1.
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genüber:137 »Die Institutionen stehen dem Individuum als objektive Faktizitäten unabweisbar gegenüber. Sie sind da, außerhalb der Person, und beharren in ihrer Wirklichkeit.«138 Der Mensch ist damit also in der Lage, eine (mehr oder weniger) stabile soziale Ordnung zu erschaffen, die ihm im Folgenden (paradoxerweise) als losgelöst von seinem individuellen Erleben und seiner permanenten (Re-)Produktionstätigkeit erscheint.139 Obgleich Institutionen nun faktischen Charakter aufweisen, »etwas [sind], das seine eigene Wirklichkeit hat, eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteht,«140 erlangen sie dennoch niemals ontologischen Status. Denn die objektivierte gesellschaftliche Ordnung erscheint zwar als aus sich heraus zwingende, unabhängig vom konkreten Erleben existente Wirklichkeit, die dem Individuum objektiv gegenübertritt und subjektiv ausgedeutet wird. Doch sie ist niemals nur die Grundlage für eine sinnhafte Lebensführung, sondern stets an die dauerhafte (Re-)Produktionstätigkeit durch menschliche Praktiken gekoppelt, womit sie niemals losgelöst vom Menschen (wenngleich nicht als isoliertes Individuum, sondern nur als Kollektiv) fortbestehen kann:141 »Sowohl nach ihrer Genese […] als auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie besteht nur und solange menschliche Aktivität nicht davon abläßt, sie zu produzieren) ist Gesellschaftsordnung als solche ein Produkt des Menschen.«142 Es ist also von einem paradoxen dialektischen Verhältnis zwischen Mensch und der gesellschaftlichen Welt auszugehen: Der Mensch vermag selbst etwas hervorzubringen, das er im Weiteren unabhängig von sich selbst erlebt und das dennoch nur durch seine dauernde Reproduktionstätigkeit fortbestehen kann. Nun dürfen uns die vorangegangenen Erläuterungen, die Institutionen als stabilisierte Erwartungshaltungen dargestellt haben, allerdings nicht dazu verleiten, Institutionen als Pauschalkategorie für alles sozial Dauerhafte zu fassen, denn in einer derartigen Unbestimmtheit ginge der analytische Gehalt der Kategorie verloren: »Jede auf Dauer gestellte Handlungsorientierung, die nicht situativ, spontan, einmalig oder abweichend ist, gilt als ›institutionalisiert‹. Jede soziale ›Einrichtung‹, Regulierung, Organisation wird als ›Institution‹ bezeichnet. […] Verhaltensregelmäßigkeiten, Organisationsformen, Verfahrensweisen, Sinnzusammenhänge, gedachte Ordnungen, all das gehört zum Bedeutungsfeld der Institutionen […]. Institution ist ein unbestimmter Begriff, den man am besten vermeiden sollte, wenn für das Gemeinte andere Begriffe zur Verfügung stehen.«143 Diese Kritik 137 Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 62-65; 95f. 138 Ebd., S. 64. 139 Vgl. ebd., S. 36f., 65f. 140 Ebd., S. 62. 141 Vgl. ebd., S. 21-24. 142 Ebd., S. 55. 143 Lepsius 1995, S. 394.
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Lepsius ’ (1995) an der unspezifischen Verwendung des Institutionenbegriffs könnte man dahingehend zusammenfassen, dass zwar jede Institution eine auf Dauer gestellte Handlungsorientierung ist, aber nicht jede auf Dauer gestellte Handlungsorientierung eine Institution. Dem ist nun insofern Folge zu tragen, als dass wir ansonsten gar nicht mehr imstande wären, zwischen den Institutionen und den Deutungsmustern analytisch zu unterscheiden und damit die Grundlage für die Analyse ihres wechselseitigen Zusammenhangs verlieren würden. Um den Geltungsbereich des Institutionenbegriffs zu umreißen, greift Lepsius im Weiteren auf die Definition Rehbergs zurück: »Idealtypisch sollen als ›Institutionen‹ solche ›Sozialregulationen‹ bezeichnet werden, in denen Prinzipien und Geltungsansprüche einer Ordnung symbolisch zum Ausdruck gebracht werden«144 – wobei sich eine verhältnismäßig starke Nähe zu Webers Begriff der »Ordnung« identifizieren lässt.145 Eine Ordnung unterscheidet sich von einer bloßen Handlungsregelmäßigkeit, indem sich Handeln hier an der Vorstellung einer bestehenden Ordnung orientiert, an Maximen, die als verbindlich bzw. vorbildlich für Handeln gesehen werden. Dabei orientiert sich Handeln nicht zwangsläufig an einer sozialen Ordnung in Form einer Befolgung, sondern kann sich auch in ihrem Bruch an ihr orientieren. Auch besitzt die Geltung einer Ordnung keinen Ausschließlichkeitscharakter, sondern vielmehr können verschiedene Ordnungen nebeneinander bestehen – »eben lediglich jene Chance der Orientierung an dieser Vorstellung [ist] ›die‹ geltende Ordnung.«146 Dementsprechend hat auch die Institutionenanalyse die Chance für die Geltung einer Ordnung in den Blick zu nehmen, »die Analyse der Voraussetzungen für die Geltung von auf ›Sinnbezüge‹ gerichteten legitimen Ordnungen. Mit anderen Worten: Institutionenanalyse stellt die Frage: Welche Leitideen wirken in welchen Handlungskontexten bis zu welchem Grade verhaltensstrukturierend?«147 Dabei ist es weniger ein Katalog an stabilen Institutionen als vielmehr die Prozesshaftigkeit von Institutionalisierungsprozessen, die im Fokus stehen sollte. Denn es ist stets nur ein »Mehr oder Weniger«, mit dem »Leitideen […] aus dem Synkretismus des Wünschbaren isoliert, für mehr oder weniger eindeutig ausdifferenzierte Handlungskontexte spezifiziert und mit mehr oder weniger Gestaltungskraft ausgestattet [sind].«148 Es ist damit das Konstitutionsproblem menschlichen Handelns, die Übersetzung von Ideen in konkrete Verhaltensstrukturierung, das im Zentrum der Institutionenanalyse steht. Dies setzt vielschichtige Aspekte voraus, wobei vor allem 144 145 146 147 148
Rehberg 1994, S. 56 nach Lepsius, S. 394. Vgl. Lepsius 1995, S. 395. Weber 1980, S. 17; vgl. ebd. S. 16f. Lepsius 1995, S. 395. Ebd., S. 395.
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drei Ebenen zu berücksichtigen sind: Zunächst müssen Ideen konkretisiert werden, um überhaupt praktisch anwendbar zu sein. D.h. es gilt, die Rationalitätskriterien zu erfassen, die losgelöst von den subjektiven Handlungsmotiven Verhalten normativ anleiten und als »rational« zeitigen. Darüber hinaus sind die Handlungskontexte zu berücksichtigen, innerhalb derer diese Rationalitätskriterien Geltungsanspruch erlangen, sowie ihr Vermögen, mit dem sie diesen Geltungsanspruch gegenüber anderen, möglicherweise entgegengerichteten Handlungsmaximen durchzusetzen vermögen.149 Es stellt sich also übertragen auf unseren Forschungsgegenstand die Frage, welche Handlungsmaxime sich in und durch die institutionelle Ordnung des Katastrophenschutzes konkretisieren, in welchen Situationen und Kontexten diese gültig sind, d.h. eine Chance haben, befolgt zu werden, und ob und wie ihnen, vor allem vor dem Hintergrund konkurrierender Handlungsmaxime, tatsächlich Folge geleistet wird. Denn die Geltung einer Ordnung ist immer auch im Hinblick auf das Ausmaß ihrer Verbindlichkeit für menschliches Verhalten in spezifischen Kontexten zu unterscheiden: Ihre Regulationskraft reicht von unhinterfragter Selbstverständlichkeit, über ihre Absicherung vermittels Anreizsetzungen, bis hin zu einer bloßen Nähe zu Traditionen, die bei »abweichendem« Verhalten lediglich zu Irritation führen.150 Dabei fußt weder das Ausmaß ihrer Verbindlichkeit noch die Geltung einer gesellschaftlichen Ordnung auf einer ihr inhärenten Logik. Institutionelle Ordnungen bedürfen einer Legitimation, einer Rechtfertigung, um ihre Gültigkeit zu versichern. Diese Legitimation der institutionellen Ordnung, ihr Sinn, ergibt sich dabei nicht aus einer äußeren Funktionalität, sondern die Legitimation von Institutionen sowie ihre Integration zu einer Ordnung erfolgt vielmehr auf einer sinnhaften Ebene des Wissens151 – sie ist keiner Institution je als Eigenschaft zu eigen, sondern stets (nur) ein »Resultat gesellschaftlicher Zuschreibung.«152 Bereits Weber (1980) verweist darauf, dass eine Ordnung vor allem durch ihre Legitimität, die innere Vorstellung einer Verbindlichkeit, Stabilität erlangt. Und diese Legitimität erlangt sie nicht auf Grund einer äußeren Zwangsgewalt, sondern indem sie innerlich garantiert wird – gleich welcher Art, durch Tradition, affektuell, durch wertrationalen Glauben, den Glauben an äußere Folgen (Interessen, Erwartungen spezifischer Art) oder auch kraft positiver Satzung, des Glaubens an ihre »Legalität.«153 Dabei gibt es in einer Gesellschaft nicht nur eine Vielzahl an Institutionen, die als divergierende Handlungsmaxime in diversen Kontexten nach Geltung streben, sondern auch eine Vielzahl an »Sinnwelten«, die sich auf die Legitimation einer Ordnung richten bzw. aus deren Perspektive sich die jeweilige gesellschaftliche 149 Vgl. ebd., S. 395. 150 Vgl. Hasse 2011, S. 1f. 151 Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 66-69; 99ff. 152 Hasse 2011, S. 2. 153 Vgl. Weber 1980, S. 16-19.
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Ordnung betrachten lässt.154 Die Frage, welche der rivalisierenden Wirklichkeitsordnungen sich schließlich als die dominante durchsetzt, ist dabei weniger von der Plausibilität der jeweiligen Sinnwelt abhängig, als vielmehr von handfesten Interessen155 und Machtkonstellationen.156 Damit ist die Frage der Legitimität einer Ordnung stets auch eine umkämpfte: »Akteure werben demnach für Verständnis, Anerkennung und Unterstützung, weil Legitimität in dieser Perspektive [Anm.: Institutionenanalyse in Tradition des Neo-Institutionalismus] sogar über Möglichkeiten der Interessendurchsetzung und über den effektiven Zugang zu Ressourcen entscheidet.«157 Die Bestimmung der Wirklichkeit entscheidet sich damit weniger über die Funktionalität der institutionellen Ordnung und Plausibilität der Sinnwelten, als über ihre Einbettung in ein strukturelles Gefüge mit direktem Bezug zu konkreten Interessen: »Wirklichkeit ist gesellschaftlich bestimmt. Aber die Bestimmung wird immer auch verkörpert, das heißt: konkrete Personen und Gruppen sind die Bestimmer von Wirklichkeit.«158 Dies gilt in gleicher Weise für die Ausdeutung einer Katastrophe: Sie kann nicht nur auf unterschiedliche Weisen erfolgen, sondern wird stets durch unterschiedliche Trägergruppen von Deutungsmustern verkörpert: »Disasters are also both socially constructed and experienced differently by different groups and individuals, generating multiple interpretations of an event/process.«159 Dadurch stehen sie in unmittelbarer Deutungskonkurrenz zueinander und hinter der Frage, welche Katastrophendeutungen sich durchsetzen können, schwingt immer auch die Frage mit, wem Deutungsmacht zukommt, wer über die »legitime« Katastrophendeutung entscheidet und welche Perspektiven und Stimmen damit ausgeblendet werden: »It makes a crucial difference whose interpretation is heard […] and whose interpretations are excluded.«160 Selbst wenn sich nun herausstellen sollte, dass im Hinblick auf die Ausdeutung einer Katastrophe Konsens besteht, darf dieser keineswegs als Indikator für die »Plausibilität« eines Deutungsmusters oder dessen Deckungsgleichheit mit einer ontologischen Realität missverstanden werden. Vielmehr verweist ein Deutungskonsens darauf, dass das jeweilige Deutungsmuster vor dem Hintergrund einer spezifischen Interessens- und Machtkonstellation Hegemonie erlangt hat, dass es sich also um den Rückgriff auf ein dominantes Deutungsmuster handelt. Je mehr Individuen ein Deutungsmuster tragen und je fragloser und unreflektierter es hingenommen wird, desto mehr ist davon auszugehen, dass es sich eben um das dominante handelt. Gerade dann gilt es aber auch, diese 154 155 156 157 158 159 160
Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 90f. Vgl. ebd., S. 128ff. Vgl. ebd., S. 117. Hasse 2011, S. 2. Berger/Luckmann 2016, S. 124. Oliver-Smith 2002, S. 25; vgl. auch Hoffman 2002, S. 140. Button 2002, S. 145; vgl. auch Prisching 2006, S. 53.
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»Selbstverständlichkeit« aufzubrechen, indem die Kontingenz der Deutungen aufgezeigt wird – etwa über eine historische Rekonstruktion von Kontexten, in denen es noch nicht hegemonial war und konkurrierende Deutungen kursierten, oder über die Beforschung von Akteursgruppen, die das dominante Deutungsmuster nicht teilen.161 Eng damit verbunden ist die Frage nach der Geltungsdauer einer einmal etablierten, gesellschaftlichen Ordnung. Institutionen haben zwar an sich einen Hang zur Dauerhaftigkeit, zur Beharrlichkeit in der Zeit, doch diese stellt sich niemals von selbst ein, sondern gründet ebenso in ihrer Legitimation. Wie erläutert, ist es nicht so sehr die äußere Funktionalität, die einer Institution oder Ordnung Stabilität verleiht, sondern »[d]as Fortwirken einer Institution gründet sich auf ihre gesellschaftliche Anerkennung als ›permanente‹ Lösung eines ›permanenten‹ Problems.«162 Dabei ist diese Legitimation, die Anerkennung der Ordnung, niemals vor einer Herausforderung durch andere Perspektiven gefeit. Vielmehr kann die Legitimation ein und derselben Ordnung sogar historisch variieren, d.h. die gleiche Ordnung kann unterschiedlich legitimiert werden.163 Der bloße Status als die »gültige« bzw. dominante Ordnung birgt stets schon die Möglichkeit zur Abweichung. Je selbstverständlicher, je fraglos gültiger eine Ordnung aber erscheint, d.h. je tiefer und unbewusster sie im Wissen der Menschen verankert ist, desto stärker ist sie auch legitimiert.164 Denn insbesondere dann, wenn Ordnungen »als ›natürlich‹ erscheinen oder als so selbstverständlich, dass niemandem in den Sinn kommt, sie in Frage zu stellen,«165 sind sie besonders resistent gegenüber Veränderungen. Wenn sie aber zunehmend in Frage gestellt werden, ihre scheinbare Selbstverständlichkeit also hinterfragt wird, und Institutionen damit nicht mehr unproblematisch auf einer sinnhaften Ebene integriert und legitimiert werden können, bedarf es zu ihrer Aufrechterhaltung auch (sozialer) Kontrollmechanismen.166 Mit einer solchen Infragestellung der sozialen Ordnung ist nun in der Katastrophe zu rechnen, da sie die gesellschaftlichen Verfahrensweisen falsifiziert – insbesondere den Umgang mit der drohenden Katastrophe. Gelingt die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung in weiterer Folge weder über eine sinnhafte Legitimation, noch über Kontrollmechanismen, dann kann sie damit auch zum Impuls für den Wandel der sozialen Ordnung werden. Denn eine soziale Ordnung ist, wenngleich starr und beharrlich, niemals unwiderruflich, sondern es können unter Umständen sogar Entinstitutionalisierungsprozesse eingeleitet werden.167 161 162 163 164 165 166 167
Schetsche 2008, S. 81f; Plaß/Schetsche 2001, S. 518. Berger/Luckmann 2016, S. 74. Vgl. ebd., S. 105ff. Vgl. ebd., S. 66-69. Dimbath/Wehling 2011, S. 22. Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 66-69. Vgl. ebd., S. 86.
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Institutionen und die institutionelle Ordnung bedürfen also immer auch einer sinnhaften Legitimation (um ihre Gültigkeit zu sichern) und ihrer Kontrolle (um Abweichungen zu vermeiden), um ihren Fortbestand zu sichern. Theoretische Stützfunktionen von Sinnwelten (z.B. Mythologie, Theologie oder Naturwissenschaften) tragen dabei ebenso zu ihrer Aufrechterhaltung bei, wie Kontrollmechanismen, die abweichendes Verhalten unterbinden und damit die Ordnung zeitweilig ohne Legitimation aufrechterhalten (z.B. legitimer Einsatz von Zwangsgewalt) oder sich auf die Abweichung von der »legitimen« Sichtweise richten. So werden etwa über Integrationsversuche abweichende Perspektiven in die etablierte Sinnwelt »eingepasst« (z.B. abweichendes Verhalten als normale Reaktion), Therapien zielen auf die Rückführung abweichender Individuen in die legitime Sinnwelt bzw. die »Reparatur« der »falschen« Sichtweise (z.B. Öffentlichkeitsarbeit und psychologische Betreuung), oder über Nihilierung werden die konkurrierenden Sichtweisen gar liquidiert (z.B. Irrationalität der Abweichenden).168 Darüber hinaus dienen auch »symbolische Objekte« oder »symbolische Handlungen« als Ankerpunkte einer Ordnung und deren Bekundung.169 Überdies leisten auch Rollenmuster einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung einer institutionellen Ordnung. Als Typisierungen von Tätigkeiten gehen sie nicht nur jeder institutionellen Ordnung ursprünglich voraus, sondern gleichzeitig werden Institutionen über Rollen repräsentiert, erst über RollenträgerInnen mit Leben gefüllt und in ihrer Reproduktion fortgetragen: »Institutionalisiertes Verhalten kommt ohne Rollen nicht aus.«170 Dabei kommt es mit voranschreitender Etablierung einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaftsstruktur auch zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Rollen, einer spezifischen Aufteilung von Kompetenzbereichen (v.a. Professionalisierung von gesellschaftlichen Sphären) und einer damit verknüpften spezifischen Distributionsstruktur von Wissen (professionalisiertes, spezialisiertes »Expertenwissen« einerseits und ein im allgemeinen, gesellschaftlichen Wissensvorrat verankertes allgemeineres Rollenwissen über die Distributionsstruktur von Expertenwissen andererseits).171 Dabei ermöglicht diese »institutionelle Aufsplitterung« mit ihren Professionalisierungstendenzen und die Zuweisung von professionalisiertem Wissen zu unterschiedlichen Kompetenzbereichen komplex organisierten Gesellschaften ihre Funktionsweise überhaupt erst, sofern sie Akteure von einer Vielzahl an Aufgaben entlastet und die Bündelung von Aufwand auf spezifische Aufgaben und damit eine effizientere Aufgabenerfüllung erlaubt. So zeigt sich das Potenzial der Aufsplitterung von Kompetenzen und Wissen im Katastrophenschutz zum 168 Vgl. ebd., S. 118-123. 169 Vgl. ebd., S. 75. 170 Ebd., S. 79; vgl. auch S. 76-79. 171 Vgl. ebd., S. 82f.
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Beispiel darin, dass die »Laien«-Perspektive auf drohende Gefahren häufig durch relativ kurze Zeithorizonte und einfache Spiegelungen von Vergangenem in die Zukunft geprägt ist,172 während sich Expertenwissen durch eine systematische Informationssammlung entlang eines weiter gefassten Zeithorizonts und wissenschaftliche Reflexion auszeichnet, wodurch es auch Probleme und Aspekte jenseits des Laienwissens zu thematisieren vermag. Gleichzeitig ist diese Aufsplitterung auch durch eine fundamentale Ambivalenz geprägt. Denn gerinnt die ehemalige Problemlösung erstmal zu einer Klassenkonstellation, in der sich die Fachexpertise zur Fachklasse entwickelt, läuft die Konstellation Gefahr, ineffizient und blind gegenüber Chancen und Problemen zu werden. Nicht nur, dass dem Laienwissen seitens der Expertise zunehmend die Bedeutung abgesprochen wird, sondern es kommt auch seitens der »Laienschaft« zu einem zunehmenden Vertrauensverlust in die Expertise.173 Denn die zunehmende Ausdifferenzierung und Professionalisierung führt letztendlich dazu, dass das spezialisierte Expertenwissen dem »Laien« als eine abgehobene Sphäre erscheint, die mit der realen Lebenswelt kaum bis nichts mehr zu tun hat, wodurch Laienwissen eine höhere Orientierungskraft erlangt.174 Die ehemalige Problemgemeinschaft, so könnte man sagen, zerbricht. Aus dieser institutionellen Aufsplitterung und der Relevanz von Rollen für die Stabilisierung von Institutionen ergibt sich auch, dass in Organisationen ein zentraler Gegenstandsbereich der Institutionenanalyse zu sehen ist. Organisationen bieten sich als Gegenstand der Analyse nicht zuletzt auf Grund ihrer Abgrenzbarkeit und Identifizierbarkeit, ihrer Vergleichbarkeit und Datenverfügbarkeit besonders an. Dennoch gilt es, das Verhältnis zwischen Institutionen und Organisationen sorgfältig zu klären. So sind Organisationen an sich eine Form von Institution. Gleichzeitig finden sich sowohl innerhalb von Organisationen institutionelle Ordnungen, sowie sie immer auch in eine institutionelle Umwelt eingebettet sind, welche auf die spezifische Gestalt der Organisation (formal, aber auch inhaltlich) Einfluss ausübt.175 Und dennoch muss stets reflektiert werden, dass »[d]ie Beschreibung einer Organisation […] noch nicht die Analyse einer Institution [ist].«176 Denn selbst wenn sich eine Organisation auf eine Institution richtet, indem sie zu ihrer Konkretisierung und Durchsetzung beiträgt und sie damit auch repräsentiert, erschöpft sich eine Institution niemals in einer Organisation (es kann beispielsweise auch mehrere Organisationen geben, die sich auf die jeweilige Institution richten), noch ist sie der alleinige Inhalt einer Organisation (so ist selbst innerhalb einer Organisation mit divergierenden Institutionen, die sich gegeneinander behaupten 172 173 174 175 176
Vgl. Rost 2014, S. 142. Vgl. ebd., S. 163. Vgl. Berger/Luckmann, S. 126. Vgl. Hasse 2011, S. 3ff. Lepsius 1995, S. 396.
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müssen, zu rechnen).177 Daraus ergibt sich, dass die Analyse von Organisationen des Katastrophenschutzes zwar einen Beitrag zur Erschließung der Handlungsrelevanz der institutionellen Ordnung um die Katastrophe leistet, doch dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, Katastrophenschutz mit den Katastrophenschutzorganisationen gleichzusetzen. Darüber hinaus beginnen Institutionen – unter anderem vor dem Hintergrund der mit ihnen verknüpften Rollen und rollenspezifischen Interessen – ein Eigenleben zu führen. Institutionen können um ihrer selbst willen fortbestehen. Als regelrechte »Traditionalismen« können sie ein Beharrungsvermögen entwickeln, das über ihre »objektive« Sinnhaftigkeit hinausgeht.178 Denn wie erläutert, ist der Fortbestand einer Institution weniger Sache ihrer Funktionalität als ihrer Legitimation und zugewiesenen Sinns: Es kommt nicht darauf an, dass institutionalisiertes Verhalten Probleme bewältigen kann, sondern lediglich darauf, dass es eben als Problemlösung gesehen wird. Wie wir gesehen haben, hängt die Legitimation und ihre Durchsetzungsfähigkeit weniger von ihrer Plausibilität als vielmehr von Interessen- und Machtkonstellationen ab. Folglich offenbart sich hier eine weitere Rolle von Organisationen (mithin gilt das auch für die Organisationen des Katastrophenschutzes): Diese beginnen sich letztendlich um sich selbst, um ihren Selbsterhalt und den Fortbestand ihrer Existenz zu drehen und haben damit ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Institutionen, entlang derer sie sich ursprünglich herausbildeten.179 Dies geht allerdings immer auch mit einer verengten Problembearbeitung einher: Einmal verselbstständigte Institutionen haben ein Bias auf Probleme, die sich über ihre inhärente Logik lösen lassen, während andere ausgeblendet oder in andere Handlungskontexte externalisiert werden.180 Das ehemals innovative, problemorientierte Bewusstsein am Ursprung der Entstehung der Institutionen wandelt sich also im Zuge ihrer Verselbstständigung zu einer defensiven, lösungsorientierten Persistenz von Institutionen, die sich zum Selbstzweck erheben.181 Dementsprechend ist auch bei einer voranschreitenden Institutionalisierung von Katastrophenschutzmaßnahmen damit zu rechnen, dass sie ein Eigenleben entwickeln. Damit lassen sich die entlang von Erfahrungen aus der Vergangenheit herausgebildeten Institutionen oft besser auf vergangene Probleme anwenden als auf mögliche aktuelle.182 Mitunter werden so Prozesse, die in eine Katastrophe 177 Vgl. ebd., S. 396; 399. 178 Vgl. Berger/Luckmann 2016, S. 126. 179 Vgl. Dombrowsky 1998, S. 22; angelehnt an Crozier/Friedberg. 180 Lepsius 1995, S. 397. 181 Vgl. Dombrowsky 1998, S. 22. Diese Problematik erinnert an Maslows »law of the instrument«: »[I]f you only have hammer, every problem looks like a nail.« 182 Vgl. Stallings 1998, S. 139f.
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hineinführen, jedoch jenseits der institutionalisierten Logik liegen, übersehen, die Trägheit von Institutionen resultiert in eine verminderte Flexibilität angesichts aktueller Herausforderungen, oder spezifische Probleme werden externalisiert, indem sie als nicht dem Katastrophenschutz obliegende Aufgaben dargestellt werden. Und, wie Quarantelli (2003) zeigt, findet sich gerade im Kontext der Katastrophe eine äußerst starre Fortsetzung der bestehenden Ordnung – der Status Quo wird nur äußerst selten aufgebrochen. Denn so bleibt die Katastrophenerfahrung zwar meist verinnerlicht und führt häufig zu kurzfristigen Verhaltens- und Handlungsanpassungen auf individueller und organisationaler Ebene, doch schlägt sie sich nur äußert selten und in geringem Ausmaß langfristig in den Handlungsweisen und Strukturen der sozialen Welt nieder.183 Diese Beharrlichkeit der gesellschaftlichen Ordnung um die Katastrophe kann als Indiz für eine starke institutionelle Verankerung des Deutungs- und Handlungswissens um die Katastrophe gesehen werden, das sie wiederum legitimiert. Denn folgt man Giddens, ist das »zähe Festhalten an ›Routinen‹ nicht als magisches Relikt, sondern als Verankerung gesellschaftlicher Strukturen (Ordnung) im psychischen Haushalt der Individuen«184 zu verstehen. Überdies dürfte ein äußerst relevanter Mechanismus für die Legitimierung und dauerhafte Stabilisierung der institutionellen Ordnung des Katastrophenschutzes auch in den Praktiken der Katastrophenerinnerung zu finden sein. Erinnerung, als Beleuchtung vergangener wahrgenommener Ereignisse im Lichte der Gegenwart unter Rückgriff auf aktuelles Wissen, ist ebenso wenig ein isolierbarer, von der Realität losgelöster Prozess innerhalb von Individuen wie Wissen an sich. So ist Katastrophenerinnerung niemals rein subjektiv, sondern hat eine genuin soziale Dimension. Erinnern ist immer auch ein sozialer Prozess: Individuelles und kollektives Gedächtnis durchdringen sich gegenseitig. Verschiedene Erinnerungsformen sind stets in Interessenskonstellationen eingebettet.185 Dabei wird einerseits Katastrophenerinnerung an sich bereits innerhalb konkreter sozialer Settings durch Interaktion kommunikativ vermittelt, tradiert und aktualisiert. Andererseits wird Katastrophenerinnerung auch öffentlich angeleitet: Institutionen und Artefakte, wie Hochwassermarken, symbolische Darstellungen von Katastrophen in Form von Denkmälern, Fotografien oder Dokumentationsfilmen, oder Praktiken, wie die Abhaltung von Gedenkveranstaltungen, kanalisieren Erinnerung – sie lenken sie nicht nur auf einen bestimmten Ausschnitt aus der Vergangenheit (wie in diesem Fall eben auf den Murenabgang 2012), sondern immer auch auf spezifische Aspekte dieses Ausschnitts (z.B. die Betonung von Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt und Dankbarkeit im Rahmen von Festakten) und erscheinen damit als ein 183 Vgl. Quarantelli 2003, S. 28ff. 184 Gill 2003, S. 57. 185 Wetzel 2011, S. 41ff.
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»›Gedächtnisvehikel‹ zum Festhalten katastrophenspezifischer Erfahrung in Form von Gedächtnis- bzw. Erinnerungsorten.«186 Katastrophenerinnerung fließt nun als sedimentierte Erfahrung in den Wissensvorrat der Individuen sowie des Kollektivs ein. Sie bietet damit neue Ressourcen, auf die Individuen und Kollektive wiederum angesichts von Katastrophenereignissen zur kognitiven und praktischen Bewältigung der Situation zurückgreifen können. Erfahrungen aus der Katastrophe bieten damit eine Chance, zu lernen, neues Wissen als Grundlage für die künftige Situationsbewältigung zu konstituieren. Dabei ist dieses »Lernen« weder zwangsläufig funktional im Sinne eines konstruktiveren Umgangs mit der Katastrophe, sondern kann sich auch dysfunktional gestalten, wenn beispielsweise auf Basis der Katastrophenerfahrung Ereignisse künftig in den Bereich des »Normalen« eingeordnet werden und damit die Möglichkeit zur Wahrnehmung von Gefährdungen allmählich schwindet,187 noch findet Lernen überhaupt zwangsläufig statt, denn das »Erinnern« kann ebenso wie zur Konstitution neuer Erfahrung auch zur Fortsetzung des Status Quo beitragen bzw. sich in der Gestalt der Aufbesserung der bestehenden Logik, einem Fortschreiten innerhalb gegebener Bahnen, als »Lernen« tarnen.188 Dementsprechend stellt Katastrophenerinnerung nicht nur eine Möglichkeit des Lernens und damit der Veränderung dar, sondern gleichzeitig kann in der Kanalisierung von Erinnerung auch der Schlüssel zum Verständnis dessen liegen, weshalb keine Veränderung stattfindet, weshalb sich die bestehende soziale Ordnung fortsetzt, obgleich sie durch die Katastrophe herausgefordert und »falsifiziert« wurde. Diese Möglichkeit ergibt sich zunächst daraus, dass Katastrophenerinnerung niemals völlig deckungsgleich mit dem »tatsächlichen« Geschehen ist, auf das rekurriert wird. Einerseits, weil es die kognitiven Kapazitäten eines Individuums übersteigt, komplexe Situationen in all ihren Facetten zu rekonstruieren – individuelles Erinnern ist also immer schon auf Vergessen »angewiesen«189 – und andererseits, da Erinnern niemals nur ein reines Erinnern im Sinne einer Rekonstruktion ist: Es ist davon auszugehen, »dass das Gedächtnis die Vergangenheit nicht einfach konserviert, sondern sie aus vergangenen Begebenheiten permanent im Lichte der Gegenwart rekonstruiert.«190 Mithin wirft sich auch die Frage auf, ob es nicht weniger das Erinnern der konkreten Geschehnisse ist, das zur dauerhaften Stabilisierung einer institutionellen Ordnung beiträgt, als vielmehr das Vergessen. Dabei ist Vergessen niemals als ein bloßes Gegenstück zum Erinnern zu verstehen, sondern Erinnern und Vergessen spannen ein Kontinuum auf, das den »Verlust, das 186 187 188 189 190
Rost 2014, S. 169; vgl. auch S. 51-53. Vgl. ebd. 2014, S. 167-177. Vgl. Lübken 2015. Vgl. Dimbath/Wehling 2011, S. 17. Wetzel 2011, S. 38.
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Verblassen oder auch das Verdrängen von etwas bereits Gewusstem«191 umfasst. Vergessen ist also weniger als ein Auslöschen des Gewussten, als ein Gegenpol zum Erinnern, zu verstehen, als vielmehr als ein verzerrendes Erinnern, ein Ausblenden spezifischer Aspekte bei gleichzeitiger Betonung anderer.192 Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Katastrophen auf Grund ihrer starken emotionalen Färbung und ihres dramatischen Charakters relativ stark im Gedächtnis verankert bleiben. Obgleich ein vollständiges Vergessen der Katastrophe niemals ausgeschlossen ist (z.B. bewusstes Verdrängen, Altersdemenz usw.), ist dennoch davon auszugehen, dass sich Individuen an eine persönlich erlebte Katastrophe erinnern. Doch vor einem Verblassen oder Verzerren der Erinnerung sind diese Spuren, welche die Katastrophe im Gedächtnis hinterlässt, keineswegs gefeit.193 Dies wird mit der Zeit, dem Wegfall materieller Spuren der Katastrophe, dem Generationenwechsel oder der Überlagerung mit aktuelleren, sich aufdrängenden Problemen noch befördert.194 Darüber hinaus verschwimmen die Grenzen zwischen autobiographisch selbst Erlebtem und sozial vermittelten Erfahrungen zunehmend durch Prozesse gemeinsamen Erinnerns, welche die Erinnerungen sozialen Modifikationen unterziehen.195 Ein illustratives Beispiel für die Veränderung der Narrative ein und desselben Ereignisses über den Zeitverlauf hinweg gibt dabei Keller (2008b, 2003). Entlang der nachträglichen Aufarbeitung des Staudammbruches in Vajont 1963 sei eine »narrative Verschiebung« von einer objektivistischen Konzeption der Katastrophe – dem Narrativ einer unberechenbaren Natur, die Technik überwindet und die Gesellschaft überfällt – hin zu einem Erkennen der Hybridität von sozio-technischen Systemen, der damit einhergehenden (Mit)Verantwortung des Menschen und des generellen Risikopotenzials »riskanter Verwicklungen« zu verzeichnen.196 Ein derartiger Wandel der Katastrophenerinnerung kann sowohl als Ausdruck der Dominanz einer Ordnung und ihrer sinnhaften Legitimation gesehen werden, die sich im Anschluss an die Erschütterung durch die Katastrophe restabilisieren und damit fortbestehen konnte, als auch als Ausdruck eines kulturellen Wandels. So verweist die Veränderung von Katastrophenerzählungen immer auch auf eine Veränderung der Distributionsstruktur von Deutungsmustern: Die Machtbalance könnte sich verschoben haben, neue Deutungsmuster könnten im Entstehen begriffen sein oder alte modifiziert worden sein. Damit stellt sich die Frage, »ob und inwieweit soziale Strukturen und Ordnungen 191 192 193 194 195 196
Dimbath/Wehling 2011, S. 17. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. Rost 2014, S. 46ff. Vgl. ebd., S. 169f. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. Keller 2008b, S. 295.
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nicht […] in erster Linie durch Erinnerung und bewusste Überlieferung […], sondern auch und gerade durch Vergessen reproduziert und stabilisiert werden.«197 Letztendlich gilt es also anzuerkennen, dass die gesellschaftliche Ordnung um die Katastrophe, die institutionellen Strukturen des Katastrophenschutzes ebenso wie nicht-institutionalisierte Bereiche, in einem wechselseitigen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wissensvorrat, den Deutungsmustern der Katastrophe, steht. Gerade deshalb ist und kann sich eine Analyse der Deutungsmuster der Katastrophe nicht mit einer reinen Katalogisierung begnügen, um die Deutungen und Handlungen angesichts der Katastrophe zu verstehen, und kommt ohne eine Thematisierung der Grundlagen des Wissens über die Katastrophe als Teil einer intersubjektiven und sinnhaften Welt nicht aus. Deutungsmuster der Katastrophe sind als handlungsleitende Wissensbestände in einer institutionellen Ordnung um die Katastrophe verankert, die losgelöst vom einzelnen Individuum und den konkreten Praktiken fortbesteht. Deutungen und Handlungen werden durch diese Ordnung angeleitet bzw. stabilisiert und gleichzeitig wird diese Ordnung erst in und durch die Praktiken der Individuen (re-)produziert und auf der symbolischen Ebene des Wissens legitimiert, wodurch ihr Fortbestand erst dauerhaft ermöglicht wird. Dadurch gelingt es auch, eine Verengung des Deutungsmusterbegriffs auf die alltägliche Lebenswelt zu umgehen. Deutungsmuster sind nur eingebettet in einen weiteren Kontext zu verstehen. Es gilt, neben ihrer inhaltlichen Bestimmung auch den Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Wissensstruktur zu erforschen, eine »Analyse ihrer sozialen Situiertheit in unterschiedlichen situativen, institutionellorganisatorischen und gesellschaftlichen Kontexten«198 vorzunehmen.
4.3.
Zum Konnex von symbolischer und objektivierter Ordnung: Ein theoretischer Integrationsversuch
Schuberts (2016) »Coevolutionary Approach« bietet nun einen vielversprechenden analytischen Rahmen, der es erlaubt, den Zusammenhang zwischen objektivierter und symbolischer Ordnung zu analysieren, sowie auf »natürliche« Aspekte und deren soziale Konstituierung zu rekurrieren – d.h. die vorangegangenen Erläuterungen auf einer theoretischen Ebene zu integrieren. Unterschiedliche Zugänge zu Natur und Gesellschaft, so Schuberts zentrale These, können nur mit Rekurs auf kulturspezifische Pfade institutioneller Spezialisierungen begriffen werden. Die Konstitution von Natur und Gesellschaft – und damit auch »Naturkatastrophen« – erwächst aus spezifischen »eco-cultural fabrics«, einem Amalgam aus kulturellen, natürlichen, institutionellen und technologischen 197 Dimbath/Wehling 2011, S. 22. 198 Keller 2007, S. 95.
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Aspekten.199 Die spezifische Gestalt dieser »Gewebe«, die auch die Form der gesellschaftlichen Wahrnehmung, Bearbeitung und Symbolisierung von Natur umfassen und damit letztendlich auch für die Deutungen und Handlungen gegenüber der Katastrophe konstitutiv sind, ergibt sich aus einer Kongruenz dieser Elemente: »[E]nvironmental adaptation most crucially depends on suitable matches between physical nature, technologies, institutions, and cultural preferences.«200 Diese »matches« konstituieren »eco-cultural habitats« – mithin Konstellationen, die sich vermittelt über Technologien, Institutionen und kulturelle Leitwerte (»cultural preferences«) in einem dynamischen und wechselseitigen Prozess zwischen Kultur und ökologischem System entfalten.201 Übertragen auf unseren Kontext bedeutet das nun, dass die institutionelle Ordnung um die Katastrophe (z.B. Katastrophenschutzgesetze oder das Gefüge an spezialisierten Organisationen und damit einhergehenden Rollensettings) mit den Technologien und Artefakten, die sich auf die Katastrophe richten (z.B. aktive und passive Schutzmaßnahmen, technische Hilfsmittel der Katastrophenbewältigung oder Gedenkstätten), den kulturellen Werten und Prinzipien, d.h. mit einer symbolischen Ebene (Naturbilder, die Koordinationsprinzipien sozialen Handelns usw.), und den »natürlichen« Bedingungen des Katastrophenrisikos (d.h. die Einbettung in eine natürliche Umwelt, die selbst wiederum durch den kulturellen Filter wahrgenommen wird) im Einklang stehen muss, um dauerhaft bestehen zu können. Die Entstehung dieser je spezifischen »eco-cultural habitats« lässt sich Schubert zufolge idealtypisch in letzter Instanz auf ökologische Determinanten zurückführen. Ursprünglich physische Bedingungen selektieren den Handlungsproblemen angemessene, erfolgsversprechende Verhaltensweisen, welche sich allmählich in den Strukturen der sozialen Welt – Technologien, Institutionen und kulturellen Werten (»cultural preferences«) – niederschlagen.202 Kognitive Strategien, unter anderem zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen oder als kosteneffiziente Strategie, sofern das Erlernen neuer Praktiken stets auch neue (kognitive) Kosten verursacht, führen in weiterer Folge dazu, dass diese durch die anfängliche Selektion der den Gegebenheiten angemessenen Praktiken allmählich auch auf andere Kontexte übertragen werden. Es werden also kulturspezifische »Pfade« eingeschlagen, in Folge derer sich die »cultural preferences« durch Institutionalisierungsprozesse zu stabilisieren beginnen und in weiterer Konsequenz allmählich ein Eigenleben entwickeln, um sich letztendlich zum alles leitenden Prinzip zu erheben: »[C]ultural preferences become increasingly detached from their initial origin […] permeate 199 Vgl. Schubert 2016, S. 61ff; S. 6f; S. 43f. 200 Ebd., S. 2. 201 Vgl. ebd., S. 61. 202 Vgl. ebd., S. 6; 61.
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more and more realms of society, and – in doing so – become hegemonic heuristics guiding social interaction.«203 Durch diese ehemals als »best practice«-Modelle eingeschlagenen Pfade, entlang derer immer mehr Bereiche durch dieselbe Logik durchdrungen werden, entsteht ein kulturelles Bias, das nicht nur das Handeln von Individuen anleitet, sondern auch die Mensch-Umwelt-Beziehung sowie spezifische Naturbilder (und damit auch Vorstellungen von Naturkatastrophen) beeinflusst. Die »cultural preferences« verdichten sich zu Leitwerten, zu »normatively charged guiding principles orchestrating the constitution of physical nature and society.«204 Eine Erklärung der »eco-cultural fabrics« kann sich also niemals rein auf eine äußere Funktionalität begrenzen. Dabei wird allerdings nicht nur die spezifische Gestalt der »eco-cultural habitats« durch das kulturelle Bias gefärbt, sondern die damit einhergehende soziale Konstitution von Natur und Gesellschaft wirkt auf die »eco-cultural fabrics« zurück: Es bringt das Gefüge der »eco-cultural fabrics« auf einer symbolischen Ebene miteinander in Einklang und legitimiert es: »[C]ulturally biased world views try to make physical nature, technologies, and institutions consistent with themselves.«205 Letztendlich werden also »culture-specific paths of habitat construction and behavioral stickiness«206 eingeschlagen. Die »cultural preferences« beginnen ein Eigenleben als die gesamte soziale Welt durchziehende Prinzipien zu führen und bringen in sich relativ konsistente institutionelle, technologische und kulturelle Gefüge hervor (wobei diese Konsistenz kein äußeres Merkmal dieser Gefüge ist, sondern selbst erst durch symbolische Sinngebungsprozesse »hergestellt« wird).207 Empirisch zeigt sich dieser Sachverhalt unter anderem darin, dass sich unterschiedliche gesellschaftliche Sphären, wie Produktions- und Wohlfahrtsregime (aber es gibt auch Indikatoren dafür, dass dasselbe für umweltpolitische Maßnahmen gilt), im Laufe der Zeit koevolutionär entfalteten, in dem Sinne, dass sie einer gemeinsamen Logik folgen bzw. gemeinsamen koordinierenden Prinzipien unterliegen.208 Damit ist auch damit zu rechnen, dass sich die spezifischen Strukturen des Katastrophenschutzes gemäß einer allgemeineren Logik, gemäß allgemeineren koordinierenden Prinzipien, welche die Gestalt der unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären anleiten, herausbilden. 203 Ebd., S. 44. 204 Ebd., S. 47. 205 Ebd., S. 48. »Cultural preferences« (Schubert 2016) zeichnen sich damit durch ein konzeptionelles Näheverhältnis zu »Sinnwelten« (Berger/Luckmann 2016) aus. Der Sinn der sozialen Ordnung liegt nicht in der spezifischen Ordnung selbst, sondern wird erst von außen an sie herangetragen und symbolisch legitimiert. 206 Ebd., S. 43. 207 Vgl. ebd., S. 6f, 43f, 61f. 208 Vgl. ebd., S. 127-130.
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Dabei unterscheidet Schubert zwei idealtypische Pfade: Das liberale Modell lässt sich ursprünglich auf individualistisches Handeln als effiziente Verhaltensweise zurückführen. Damit wurde ein liberaler Pfad eingeschlagen, in dem sich individuelle Freiheit und Autonomie allmählich als Leitwerte, welche die Konstitution der institutionellen Ordnung anleiten, herauskristallisierten. Koordination erfolgt vor allem über »market competition, the maximization of individual shortterm utility combined with fragmented solidarity.«209 Das dominante Koordinationsprinzip ist also der Markt, wenngleich Koordination im liberalen Pfad auch laissez faire erfolgen kann. Es ist der individuelle Nutzen, der im Vordergrund steht. Damit darf keineswegs angenommen werden, das liberale Modell sei durch einen blinden Egoismus gekennzeichnet: Handlungen richten sich keineswegs nur nach dem Eigennutz des Individuums, sondern können sich auch auf andere richten, doch Solidarität findet sich vorwiegend als fragmentierte (innerhalb von Gruppen oder Sippen). Gleichzeitig führt die individuelle Nutzenmaximierung zu einer kurzfristigen Orientierung, mithin einem relativ kurzen Planungshorizont. So werden auch Gemeinwohl und Natur weniger unter den Prämissen eines kollektiven Gutes bewertet, als über Marktprinzipien bestimmt. Der Wert und der Nutzen von Natur und Gesellschaft ergibt sich aus dem individuellen Nutzen, der aus ihnen gezogen werden kann. Wohlfahrt wird unter einem starken Individualismus durch Prinzipien der Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit konzipiert. Dabei ist es nicht nur derart, dass sich der Staat in der Bereitstellung von öffentlichen Gütern zurückhält – diese werden tendenziell in zu geringem Ausmaß bereitgestellt oder in marktfähige Güter transformiert (z.B. im Falle von gated communities) –, sondern staatliche Interventionsmaßnahmen werden vielmehr auch als illegitimer Eingriff in die Freiheit und Autonomie des Einzelnen betrachtet.210 Demgegenüber lässt sich das koordinierte Modell ursprünglich auf kollektive Handlungsformen als effiziente Verhaltensweisen zurückführen, wodurch sich Kollektivismus und Solidarität – auch und vor allem unter Fremden – als die leitenden Prinzipien in der Ausgestaltung der »eco-cultural fabrics« herausbildeten. Das zentrale Koordinationsprinzip liegt hier in einer »centralized and hierarchic coordination combined with long-term planning and strong social cohesion.«211 Die Koordination erfolgt vor allem über hierarchische Organisationsformen (in Form von Bürokratie oder clanförmiger Herrschaft in traditionellen Gesellschaften) und vermittels einer sehr starken und umfassenden Regulierung. Öffentliche Güter (Güter mit Merkmalen der Nicht-Ausschließbarkeit und Non-Rivalität, zumindest bis zu einer spezifischen Grenze) werden hier für gewöhnlich von staatlicher Seite bereitgestellt. Natur und Gesellschaft werden an sich nicht als Mittel zum Zweck ge209 Ebd., S. 128. 210 Vgl. ebd., S. 50, 128ff, 152f. 211 Ebd., S. 128.
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sehen, sondern vielmehr als Ziel in sich selbst. Die Verletzung dieser Sphären – und sei es zur kurzfristigen Nutzenmaximierung – geht letztendlich auf Kosten der allgemeinen Wohlfahrt. Dementsprechend wird Wohlfahrt an sich unter den Prämissen eines starken Kollektivismus gedeutet. Es herrscht ein weiter Planungshorizont bzw. eine langfristige Handlungsorientierung vor, woraus sich neben der generellen starken Bereitstellung von öffentlichen Gütern im koordinierten Modell auch eine verhältnismäßig starke Orientierung am Vorsorgeprinzip ergibt: Viele Maßnahmen und bereitgestellte Güter richten sich nicht nur auf die Bewältigung von Problemen, sondern darüber hinaus präventiv auf ihre Vermeidung.212 Die »cultural preferences« werden also zum zentralen Strukturierungsprinzip der sozialen Welt: Sie dominieren die Organisation gesellschaftlicher Sphären und leiten die Entfaltung und Verfestigung der »eco-cultural fabrics.« Obgleich diese ursprünglich in den sozial und kognitiv effizienten Verhaltensweisen gründen, gehen damit nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile einher. Die ehemals auf Basis von Versuch und Irrtum selektierten Verhaltensweisen (man könnte angelehnt an umweltdeterministische Modelle beinahe sagen: »best practices«) werden allmählich durch ein pfadspezifisches, kulturelles Bias überlagert. Nicht mehr die »beste« Lösung eines Problems wird ausgewählt, sondern diejenige, die sich entsprechend des kulturellen Pfades als die standardisierte, routinisierte Antwort auf das Problem etabliert hat.213 Damit werden funktionale Erfordernisse zu Gunsten einer kulturspezifischen Spezialisierung zum Teil ausgeblendet: »[I]f functional necessities and cultural preferences are not compatible, functional necessities may be culturally overridden.«214 Dabei leiten die kulturellen Leitwerte nicht nur die Vorstellungen über den »preferred way of life,«215 sondern auch Konzeptionen dessen, was als Gefährdung für das System wahrgenommen wird und wie die Stabilität und Ordnung aufrecht erhalten werden kann. Mithin unterliegt sogar die Wahrnehmung und Definition von Problemen und Systemgefährdungen diesem kulturellen Filter: »[S]ocio-ecological tasks and challenges such as flooding, drought, or unemployment are filtered and redefined in such a way as to comply with the predominant views of society and nature. In this way, they become processable by habitat-specific technologies and institutions.«216 Damit offenbart sich die »Janusköpfigkeit« kultureller Pfade: »[The] Janus-faced character of cultural specialization which, for example, becomes apparent when cultural self-stabilization takes place at the expense of functional necessities and mismatches occur.«217 Die kulturspezifischen 212 213 214 215 216 217
Vgl. ebd., S. 50, 128ff, 152. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 53. Ebd., S. 48. Ebd., S. 51. Ebd., S. 7.
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Pfade institutioneller Spezialisierung gehen also nicht nur mit verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit Gefahren und Risiken einher, sondern selbst mit unterschiedlichen Konzeptionen von Gefahren und Risiken. Sofern funktionelle Notwendigkeiten im Schatten deren Dominanz übersehen werden, entfalten sich damit angesichts spezifischer Probleme auch pfadspezifische blinde Flecke und potenzielle Mismatches.218 Dabei bringen die verschiedenen »adaptation paths« ihre je spezifischen Vulnerabilitäten mit sich. So liegen die Probleme des auf einem starken Individualismus basierenden liberalen Modells insbesondere in der Bereitstellung von kollektiven Gütern. Diese werden meist in einem zu geringen Ausmaß bereitgestellt. Die Orientierung an einer kurzfristigen Nutzenmaximierung führt darüber hinaus dazu, dass das – bereits geringe – Angebot an kollektiven Gütern maßlos ausgebeutet wird. Demgegenüber zeichnet sich das vorwiegend auf kollektiven Lösungen beruhende koordinierte Modell gerade durch eine starke Bereitstellung öffentlicher Güter und einer langfristigen Orientierung aus. Doch hinter der mit diesem Modell einhergehenden starken Regulierung stehen seinerseits ein starrer bürokratischer Apparat bzw. starre administrative Mittel, wodurch häufig die Erfassung funktionaler Notwendigkeiten blockiert und eine flexible Anpassung an Problemstellungen verunmöglicht wird.219 Werden nun funktionale Notwendigkeiten überschattet, stellt das bis zu einem bestimmten Grad an Reibung noch kein Problem dar – kleinere »mismatches« werden ideologisch legitimiert. Wenn der »preferred way of life« allerdings nicht mehr aufrechterhalten werden kann, wenn sozusagen die Grenzen der Legitimierbarkeit überschritten werden, kann das System als solches gefährdet werden. Katastrophale Ereignisse mitsamt deren katastrophalen Folgen, so zeigt Schubert am Beispiel von Hurrikan Katrina, können damit im Wesentlichen aus funktionalen »mismatches« der »eco-cultural fabrics« erklärt werden. In solchen Situationen, in denen der »preferred way of life« nicht aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden kann, wird die Gesellschaft vor die Wahl gestellt: Transformation (»pressure to adapt«) oder Exit bzw. Kollaps.220 Nun gilt es, Schuberts Ansatz nicht unhinterfragt zu übernehmen. Insbesondere die (idealtypische) Annahme der ursprünglichen Selektion von »cultural preferences« entlang physischer Determinanten bedarf einer kritischen Reflexion, wenn es gilt, die jeweilige Ordnung in ihrem Entstehen zu erklären. Während wir über diesen Kritikpunkt für die vorliegenden Fragestellungen hinwegsehen können, ist allerdings auch die Verknüpfung von Naturbildern, Koordinationsprinzipien und Formen der Solidarität zu zwei idealtypischen Modellen zu hinterfragen. Die ZweiModell-Typologie könnte zu einer reduktionistischen Sichtweise auf die institutio218 Vgl. ebd., S. 131. 219 Vgl. ebd., S. 52. 220 Vgl. ebd., S. 62, 53.
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nellen Arrangements des Katastrophenschutzes verleiten und bedarf womöglich einer stärkeren Ausdifferenzierung, etwa im Hinblick auf die Ausprägungen der Solidarität, die bei Schubert quer zu der hierarchischen (Solidarität unter Fremden) und marktförmigen Koordination (fragmentierte Solidarität) liegen. So schlagen bereits Douglas und Wildavsky (1983) in »Risk and Culture« vor, »three institutional types which take some part in public decision making«221 – den »individualistic type«, das »hierarchical collective« bzw. »hierarchy« und den »sectarian type« – zu unterscheiden, was später von Thompson et al. (1990) in der Ausformulierung der »Cultural Theory« noch erweitert wird. Hier werden entlang zweier Dimensionen – »Group«, welche auf die Stärke von Integration und Gruppengrenzen verweist, und »Grid«, welche auf die Regulierungsdichte und -intensität sozialer Beziehungen verweist – fünf soziale Kontexte bzw. Organisationsformen sozialer Beziehungen unterschieden: (Markt-)Individualismus (geringe Verpflichtung und lose Kopplung), Hierarchie bzw. Staat (starke situative und formale Regulierung), Fatalismus (hohe Regulierung bei geringer Einbindung) und Egalitarismus (maximale Solidarität und geringe Regulierung), sowie der Sonderfall der Autonomie (weder Gruppenintegration, noch Handlungsregulierungen – jenseits der Gesellschaft).222 Entlang ähnlicher Dimensionen spannen auch Hollingsworth und Boyer (1997) ihre Typologie institutioneller Arrangements im Hinblick auf die Koordinierung ökonomischer Aktivitäten auf: Diese unterscheiden die Dimensionen des Handlungsmotivs (individuelle Interessen VS. soziale Erwartungen) und der Machtverteilung bzw. »modes of coordination« (horizontale VS. vertikale Integration), wodurch sich ihnen zufolge sechs grundlegende institutionelle Arrangements ergeben: »Communities«, »State«, »Markets«, »Hierarchy«, »Associations« und »Networks.«223 Diese kritischen Anmerkungen sind im Folgenden zu berücksichtigen, um damit Schuberts Zwei-Modell-Typologie zu erweitern bzw. aufzubrechen. Dennoch findet sich eine wesentliche Stärke Schuberts (2016) Modell darin, die Verwobenheit von »eco-cultural habitats« und ihren dialektischen Herausbildungsprozess zu erkennen. Denn in den analytischen Rahmen eines facettenreichen, sich koevolutionär entfaltenden Gewebes lassen sich auch die Erkenntnisse aus der Katastrophensoziologie (vor allem in der Tradition Clausens) nahtlos einfügen (vgl. dazu Kap. 3). Die Katastrophe in ihrem Gewachsen-Sein sowie das Wissen, die Deutungen und die Handlungen, die sich auf sie richten, können nur durch Rekurs auf das Gesamtgefüge der »eco-cultural fabrics« erklärt werden. Katastrophen »resultieren aus sozialem Handeln […], das sich in der sozialen Ordnung […] in der materialen Kultur einer Gesellschaft […] in der räumlichen Ordnung, die in die ›Natur‹ 221 Douglas/Wildavsky 1983, Kap. 9. 222 Vgl. Thompson et al. 1990, S. 5ff. 223 Vgl. Hollingsworth/Boyer 1997, S. 8f.
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gesetzt wurde, sowie in ihrem Naturverhältnis […] und in ihren unzureichenden Vorkehrungen für (natürliche) Ereignisse […] manifestiert.«224 Es sind fundamentale »Mismatches«, eine Akkumulation blinder Flecke, die sich im Zuge der Routinisierung und Institutionalisierung von ehemals funktionalen Problemlösungen entfalten und im Schatten eines kulturellen Filters, der in der institutionellen Ordnung (mit)angelegt ist und sie legitimiert, in die Katastrophe hineinführen. Gerade in der sich selbstständig gemachten Logik, welche die soziale Ordnung durchsetzt und die Etablierung von Verflechtungszusammenhängen im Stadium der Alltagsbildung im Sinne Clausens anleitet, kann eben ein Schlüsselelement in der Erklärung des Katastrophischen liegen. Die zunehmende Spezialisierung und Traditionsbildung, die Routinisierung und Institutionalisierung von ehemals adäquaten, d.h. in das Stadium der Friedensbildung hineinführenden Problemlösungen (insbesondere die zu Artefakten geronnenen) verstellen den Blick für neuartige Erfordernisse: »Eigene Traditionalismen verstellen selbst der Fachelite den Blick auf sich summierende Fehler veraltender Techniken.«225 Können die Mismatches, die in die Katastrophe führten, nicht mehr legitimiert werden, d.h. aus der spezifischen kulturellen Logik erklärt werden, und kann der »preferred way of life« nicht mehr fortgesetzt oder wiederhergestellt werden, stellt die Katastrophe die kulturspezifische Spezialisierung, bzw. die institutionelle Ordnung, das »eco-cultural fabric«, nachhaltig in Frage und drängt in Richtung einer Veränderung, Anpassung oder eines Zusammenbruchs der Gesellschaftsordnung. Mithin führen Katastrophen, so könnte man argumentieren, immer auch zu Abzweigungen entlang der eingeschlagenen Pfade und können damit zum Motor der Transformation etablierter Wirklichkeitsordnungen werden, wie am Beispiel des Erdbebens von Lissabon 1755 als Impulsgeber für die Vervielfältigung von Deutungsangeboten226 oder am Beispiel des österreichischen Katastrophenschutzes (siehe Kap. 3), wo Großereignisse – wie z.B. um die Jahrtausendwende das Grubenunglück in Lassing, die Lawinenkatastrophe von Galtür oder der Tauerntunnelbrand – wiederholt als Anstoß regelrechter »Paradigmenwechsel« und der Etablierung neuartiger Strukturen fungierten.
4.4.
Zwischenfazit
Die Welt ist dem Individuum nicht objektiv gegeben. Erst durch die Wahrnehmung wird sie ihm überhaupt zugänglich und erst durch Interpretation mit Bedeutung gefüllt. Der Mensch muss Phänomene also ausdeuten, um sie in die bestehende 224 Geenen 2008, S. 226. 225 Clausen 2003, S. 31. 226 Vgl. Groh et al. 2003, S. 21f.
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Weltsicht zu integrieren und gleichzeitig ihnen gegenüber auch entsprechend handeln zu können. Um dies zu bewerkstelligen, greift er auf vorhandene Wissensbestände zurück, sofern erst dadurch in einer zunehmend komplexen Welt unreflektiertes, routinisiertes und damit spontanes Deuten und Handeln überhaupt möglich wird. Deutungsmuster nun stellen ein heuristisches Konzept zur Fokussierung auf soziale Wissensbestände dar. Sie sind als eine Art Leitfaden für Deutungs- und Handlungsprozesse zu sehen. Als implizites Wissen sind sie dem Individuum nur bedingt reflexiv verfügbar und ermöglichen gerade dadurch unreflektiertes und routinisiertes Handeln. Sie sind eine Form lebensweltlich verankerten Wissens, welches sich auf strukturell bezogene Handlungsprobleme bezieht, wodurch ihnen auch historische und synchronische Variabilität zukommt. Als soziale Tatsachen sind sie überindividuell und treten dem Individuum als objektive Wirklichkeit gegenüber, werden von diesem im Zuge der Sozialisation individuell angeeignet und schlagen sich dadurch im individuellen Bewusstsein als Derivate nieder, welche zwar nicht identisch mit den ihnen zu Grunde liegenden Deutungsmustern sind, aber dennoch kompatibel mit ihnen bleiben (müssen). Inhaltlich stellen sie ein Potpourri unterschiedlicher Deutungselemente dar: Normative, kognitive, affektive, haptische Wissenselemente fließen zu einem Amalgam zusammen. Dabei haben sie eine nach innen relativ konsistente Struktur, und sind dennoch niemals völlig kompatibel: Inkompatibilitäten bestehen und können zum Motor kulturellen Wandels werden. Vor diesem Hintergrund sind Prozesse oder Ereignisse, die sich dem Individuum als Katastrophe stellen, von besonderem Interesse. Der Zusammenbruch des Alltäglichen stellt für das Individuum und die Gesellschaft ein Erlebnis von äußerster Kontingenz dar und zusätzlicher Handlungs- und Zeitdruck nötigen zu einem Rückgriff auf Deutungs- und Handlungsheuristiken. Gleichzeitig aber fordert die Katastrophe die etablierte symbolische Ordnung auch heraus. Denn während Deutungen angesichts des Alltags als Routineanwendung von Wissen erscheinen, sind die vorhandenen Wissensstrukturen angesichts des Unfassbaren häufig nicht mehr hinreichend. Der Bruch des Alltäglichen, die Infragestellung der sozialen Ordnung, macht auch vor den Wissensstrukturen nicht Halt. Die Katastrophe zwingt damit zu einer reflexiven Haltung und expliziert damit in besonderer Form die soziale Logik, die im Schatten des Alltags oft verborgen bleibt. Gleichzeitig können in der Suche nach angemessenem Deutungs- und Handlungswissen auch neue Deutungsangebote im Entstehen begriffen sein. Damit zeigt sich, dass die Wirkrichtung der Katastrophe auf die etablierte symbolische Ordnung niemals a priori zu bestimmen ist: »[K]atastrophische Ereignisse [fungieren] als Katalysatoren der Restabilisierung oder Transformation etablierter Wirklichkeitsordnungen.«227 227 Keller 2008b, S. 306; Hervorhebung SP.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
Die Ausdeutungsversuche gegenüber der Katastrophe und deren Folgen für die etablierte Ordnung sind also zunächst offen: Es ist nicht im Ereignis selbst festgeschrieben, auf welche situativ verfügbaren Wissenselemente zurückgegriffen wird. Dennoch vollziehen sich Prozesse des Deutens und Handelns nicht in einem sozialen Vakuum, sondern sind stets in soziale Strukturen eingebettet und als individuelle oder kollektive Praktiken immer an konkrete Akteure gebunden. Menschlichem Ausdrucksvermögen ist es zu eigen, den Sinn von Tätigkeiten über konkrete Situationen hinaus zu tragen und damit eine relativ stabile Ordnung zu erschaffen, die letztendlich eine eigenständige Realität entwickelt und dem Individuum objektiv und unabhängig vom konkreten Erleben gegenübertritt. Als wechselseitige Erwartungshaltungen erlangen Institutionen regulierenden Charakter und wirken auf die Akteure zurück: Sie leiten menschliches Handeln an. Geltung – die Chance, tatsächlich handlungswirksam zu werden – beziehen Institutionen und die institutionelle Ordnung dabei nicht aus ihrer äußeren Funktionalität, sondern vielmehr ist die Etablierung und Aufrechterhaltung einer Ordnung stets auch an konkrete Akteure gebunden und damit in ein Interessen- und ein Machtgefüge eingelassen, das über deren Durchsetzungschancen entscheidet. Die institutionelle Ordnung wird nicht nur in und durch die menschlichen Praktiken dauerhaft (re-)produziert, sondern sie muss auch (sinnhaft) legitimiert und durch Kontrollmechanismen gestützt werden, um ihren Fortbestand zu sichern, wie z.B. durch symbolische Handlungen und Objekte, Stützkonstruktionen, Rollenordnungen oder auch die Dynamik aus Erinnern und Vergessen. Eine Analyse der Deutungsmuster der Katastrophe darf sich also nicht nur mit einer reinen Katalogisierung von Deutungsmustern begnügen, sondern hat die Strukturen sozialer Wirklichkeit, den institutionellen Kontext, sowie die beteiligten Akteure mit jeweils unterschiedlichen Interessen und Ressourcenausstattungen mitzudenken. Es gilt, den »Dreiklang von Interessen, Ideen und Institutionen,«228 die Wechselwirkung zwischen symbolischer und institutioneller Ordnung zu erfassen. Es gilt, die institutionelle Ordnung des Katastrophenschutzes als Niederschlag und Konkretisierung spezifischer Deutungsmuster und als Ankerpunkt einer symbolischen Ordnung zu begreifen. Gleichzeitig ist diese objektivierte Ordnung in ihrer Legitimation auf einer sinnhaften Ebene und damit den Voraussetzungen ihres Fortbestandes und ihren Geltungschancen – den Voraussetzungen, innerhalb derer sich spezifische Handlungsmaxime gegenüber anderen durchzusetzen vermögen – zu hinterfragen. Dabei ist gerade in der Frage, welche Bereiche der Ordnung relativ fraglos gültig sind, und welche Bereiche zusätzlicher Mechanismen sozialer Kontrolle bedürfen, ein wesentlicher Indikator dafür zu sehen, ob eine etablierte Ordnung zu erodieren beginnt. Letztlich gilt es auch, die »›Dichte‹ 228 Schluchter 2008, S. 78.
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der institutionalen Ordnung«229 im Katastrophenschutz, d.h. das Verhältnis von Institutionen untereinander sowie das Verhältnis des nicht-institutionalisierten zum institutionalisierten Bereich zu thematisieren. Grosso modo stellt sich also die Frage, welche institutionelle Ordnung um welche Bereiche mit welcher sinnhaften Legitimation vor dem Hintergrund welches Interessen- und Machtkontinuums Geltung erlangen – und welche Perspektiven und Aspekte damit ausgeblendet werden. Schuberts (2016) »Coevolutionary Approach« bietet dabei einen analytischen Rahmen, um den Konnex zwischen symbolischer und institutioneller Ordnung um die Katastrophe zu betrachten. Ihm zufolge entfalten sich in einem dialektischen Prozess zwischen funktionalen Notwendigkeiten und kulturellen Leitwerten (»cultural preferences«) spezifische Konstellationen aus institutionellen, technologischen, natürlichen und kulturellen Facetten. Durch die ursprüngliche Selektion von »best practices« werden kulturspezifische Pfade eingeschlagen, entlang derer sich die »cultural preferences« allmählich von ihren ursprünglichen Kontexten lösen und als allumfassendes Prinzip die gesellschaftlichen Sphären durchdringen und die Konstitution der »eco-cultural fabrics« anleiten. Dabei unterscheidet Schubert idealtypisch das liberale Modell, dessen Leitwerte sich im Wesentlichen in der Freiheit und Autonomie des Individuums finden, vom koordinierten Modell, das im Wesentlichen durch einen starken Kollektivismus und Solidarität (unter Fremden) angeleitet wird, und die mit je spezifischen Vor-, aber auch Nachteilen einhergehen. Denn funktionale Notwendigkeiten werden durch ein pfadspezifisches »cultural bias« überschattet, woraus schließlich »mismatches« in den ökologischsozialen Gefügen auftreten, die in die Katastrophe und – soweit sie nicht mehr ideologisch legitimierbar sind – im schlimmsten Falle zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung führen (können). Obgleich nun einzelne Aspekte von Schuberts theoretischem Integrationsversuch kritisch zu hinterfragen sind – wie insbesondere die Reduktion der Modelle auf zwei idealtypische Pfade angesichts einer Pluralität an Koordinationsmechanismen – bietet er uns einen analytischen Blickwinkel auf die wechselseitige Verflechtung von Katastrophen(-risiko), der symbolischen Ordnung und dem institutionellen und organisationalen Gefüge mitsamt den gesellschaftlichen Praktiken im Umgang mit der Katastrophe. Natur (d.h. die »natürlichen« Prozessabläufe und Gegebenheiten), Technologien (d.h. die Artefakte und Praktiken, die sich auf den Schutz vor der Katastrophe oder ihre Bewältigung richten), Institutionen (d.h. die handlungsregulierende Ordnung, angebbare Maxime im Kontext des Katastrophenschutzes) und Kultur (d.h. die Grundlagen der Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibungen von Aspekten der Wirklichkeit und die Legitimation der 229 Berger/Luckmann 2016, S. 84.
4. Die Katastrophe in der sozialen Wirklichkeit
institutionellen Ordnung) müssen miteinander im Einklang stehen, um das ökologisch-soziale Gefüge, die »eco-cultural habitats«, dauerhaft aufrechtzuerhalten. Ein adäquater Katastrophenschutz, der wirklich Schutz ist, ist damit gefordert, eine kritisch reflexive Haltung gegenüber dem gesellschaftlichen Umgang mit Katastrophen und Risiken einzunehmen, um nicht-intendierte Nebenfolgen von Handeln zu berücksichtigen.230 Katastrophenschutz darf also sich und seine Annahmen nicht dahingehend missverstehen, dass er ontologischen Status hätte und unveränderlich sei. Katastrophenschutz ist wie jede gesellschaftliche Teilordnung von Menschen gemacht und wird durch Menschen dauerhaft reproduziert. Im Idealfall gilt es deshalb, das »Netzwerk von unhinterfragten Alltagsroutinen« bereits im Alltag in Frage zu stellen und die Logik des Selbstverständlichen auf den Prüfstand zu setzen, um blinde Flecken aufzuzeigen und Katastrophenschutz dahingehend zu sensibilisieren. Allerdings sind selbst Katastrophenschutzübungen darauf ausgerichtet, möglichst fehlerfrei abzulaufen, wodurch sich die Notwendigkeit einer kritisch prüfenden Instanz nur noch mehr offenbart. Gerade diese Aufgabe der kritischen Reflexion und der Konfrontation der Gesellschaft mit sich selbst vermag die soziologische Katastrophenforschung zu übernehmen.231 Im Folgenden wird zunächst die institutionelle Ordnung des österreichischen Katastrophenschutzes in ihrer Gestalt und inhärenten Logik thematisiert (Kap. 5), um nachfolgend eine Typologie von Deutungsmustern der Katastrophe am Fallbeispiel des Murenabgangs 2012 in St. Lorenzen i.P. zunächst inhaltlich zu rekonstruieren, um schließlich Zusammenhänge zwischen den Deutungsmustern und der institutionellen Ordnung, Deutungskämpfe und ihre empirische Relevanz herauszuarbeiten (Kap. 6). Denn der Konnex von objektivierter (institutionalisierte Ordnung des Katastrophenschutzes) und symbolischer Ebene (Deutungsmuster der Katastrophe) ist nicht voreilig hervorzuarbeiten, sondern zunächst beide Sphären (analytisch) getrennt zu betrachten, um dann erst in weiterer Folge einen Brückenschlag zwischen den Deutungsmustern und den objektivierten Strukturen der sozialen Wirklichkeit zu bewerkstelligen; es gilt, die »Dimensionen zunächst analytisch unabhängig zu betrachten bzw. ihre Beziehung erst im Prozess der Analyse herauszuarbeiten.«232
230 Vgl. Dombrowsky 1981, S. 751. 231 Vgl. Geenen 2003, S. 11, 16. 232 Keller 2007, S. 96.
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5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements Katastrophenschutz in Österreich
Wie die vorangegangenen Erläuterungen nahelegen, ist also zunächst die objektivierte gesellschaftliche Wirklichkeit – die institutionellen Arrangements und die mit Aufgaben des Katastrophenschutzes betraute Organisationen als wesentliche Träger deren Verwirklichung – der Katastrophe zu thematisieren. Ehe die Frage nach der sinnhaften Legitimation der spezifischen Ordnung um die Katastrophe und deren Stabilisierung gestellt wird (Kap. 6), gilt es, deren innere Logik zu erschließen. Wie sich zeigen wird, stellt der Staat den primären Koordinationsmechanismus von Katastrophenschutz in Österreich dar. Dementsprechend werden im Folgenden zunächst grundlegende Überlegungen über staatliche Koordination im Bereich des Katastrophenschutzes und deren historische Begründung (basierend auf einem stark reduzierten, historischen Abriss) angestellt. Anschließend wird gezeigt, dass diese staatliche Regulierung letztendlich in ein stark ausdifferenziertes Setting an Akteuren mündet, die mit spezifischen Aufgaben des Katastrophenschutzes betraut sind und damit zwar nicht mit der institutionellen Ordnung, um die sie sich entwickeln, zu verwechseln sind, sie jedoch »mit Leben erfüllen.« Dabei wandeln sich mit dem »Katastropheneintritt« sowohl die Muster »organisationaler« Einbindung als auch die geltende Ordnung, weshalb es vielversprechend scheint, die »institutionelle Ordnung im Normalbetrieb« mit der »institutionellen Ordnung in der Katastrophe« zu kontrastieren. Dabei stützen sich die folgenden Erläuterungen zum einen auf den rechtlichen Rahmen des österreichischen Katastrophenschutzes1 und zum anderen auf 1 Katastrophenschutz in Österreich erscheint als regelrechte Querschnittsmaterie. Regelungen zur Katastrophenbewältigung sind im Wesentlichen in den Katastrophenschutzgesetzen der Länder festgelegt (aktuell finden sich Bemühungen, Inhomogenitäten zu bereinigen [SKKM 2009]), finden sich allerdings auch auf Bundesebene, wie etwa in der Vereinbarung über das Warn- und Alarmsystem zwischen Bund und Ländern, im verwaltungs- und sicherheitspolizeilichen Bereich oder den Lenkungsgesetzen. Hingegen sind Rechtsnormen und Sicherheitsstan-
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Jenseits der Sicherheit
die Selbstdarstellung von auf den Katastrophenschutz ausgerichteten Organisationen. Insbesondere die Positionierung des Staatlichen Krisen- und Katastrophenmanagements (SKKM) als richtungsweisende Instanz im österreichischen Katastrophenschutz dürfte von besonderem Interesse sein, sofern hier Grundsatzfragen bearbeitet und strategische Ziele für den österreichischen Katastrophenschutz formuliert werden.2
5.1.
Staatliche Verantwortung im Katastrophenschutz
Der staatliche Krisen- und Katastrophenschutz in Österreich in seiner heutigen Form wurzelt im Wesentlichen in der Idee des Zivilschutzes und der zivilen Landesverteidigung – dem Schutz der Zivilbevölkerung in spezifischen Anlassfällen. Während deren erste große Meilensteine bereits in der Gründung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes 1863 und dem Genfer Abkommen, welche das Kriegsrecht regelrecht reformierten, zu sehen sind, folgte die umfassende Implementierung auf nationaler Ebene erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der damit einhergehenden zunehmenden Spannungen im geopolitischen Umfeld entfaltete sich in Österreich allmählich das Bewusstsein einer »Notwendigkeit von Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung.«3 Mit der Sorge um einen Atomkrieg der Nachbarländer und der Schweiz mit ihrem Modell der umfassenden Landesverteidigung als Vorbild vor Augen wurde erkannt, dass sich Landesverteidigung nicht nur auf den militärischen Bereich erstrecken darf, sondern auch wirtschaftliche, zivile und geistige Bereiche umfassen muss. Nach der Einrichtung einer Zivilschutz-Enquete des BMI in den 60er Jahren folgte 1975 ein klares Bekenntnis des österreichischen Staates zu einer umfassenden Landesverteidigung, die als Staatsziel im Bundesverfassungsgesetz verankert wurde. Damit wurde die Idee einer Schutzbedürftigkeit der Bevölkerung durch die staatliche Hand tief verankert. In der weiteren Folge schien sich die Idee der zivilen Landesverteidigung allerdings nur schleppend zu entfalten. Als in den 80er Jahren ein weiteres ZivilschutzEnquete zur Entwicklung eines neuen Leitbildes für einen umfassenden Katastrodards mit Bezug auf die Katastrophenprävention quer über die Rechtsmaterien verteilt, wie etwa das Wasserrechtsgesetz, das Forstgesetz, die Gewerberechtsordnung, das Abfallwirtschaftsgesetz, oder auf Ebene der Länder Bauordnungen, Raumordnungen, Gemeindeordnungen, Feuerpolizeigesetze, Naturschutzgesetze usw. (vgl. SKKM 2010, S: 49ff; BMLFUW 2016b) 2 Vgl. SKKM 2009, SKKM 2010, S. 29; BMI 2016a. Das SKKM fusionierte aus dem zuvor eingerichteten staatlichen Krisenmanagement (1986) und dem staatlichen Katastrophenmanagement (2000) und wurde 2004 als »Staatliches Krisen- und Katastrophenmanagement« (SKKM) ins BMI eingegliedert. 3 Jachs 2011, S. 11.
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements
phenschutz eingerichtet wurde, konnte es sich zunächst in der Praxis nicht durchsetzen. Erst mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986, dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte dann ein regelrechter Paradigmenwechsel eingeleitet werden: Dem Zivilschutz alter Prägung mit seiner Fokussierung auf militärische Auseinandersetzungen wurde durch den Wegfall der diffusen militärischen Bedrohungslage und die Erkenntnis von über den militärischen Bereich hinausgehenden Bedrohungen die Legitimationsbasis entzogen und der Blick zunehmend für den Schutz vor Naturkatastrophen und technischen Katastrophen geöffnet. Die Großereignisse um die Jahrtausendwende in Österreich – das Grubenunglück in Lassing, die Lawinenkatastrophe von Galtür oder der Tauerntunnelbrand – beförderten diesen Paradigmenwechsel zusätzlich. Die durch das Bias auf den militärischen Bereich ausgeblendeten Aspekte rückten zunehmend in den politischen Diskurs und drängten das System zu Anpassung bzw. Veränderung. Mit der Verabschiedung einer neuen Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin durch den Nationalrat folgte 2001 dann auch die rechtliche Verankerung dieses Paradigmenwechsels weg vom Zivilschutz alter Prägung mit dem Fokus auf militärische Angriffe hin zu einem neuen, umfassenden Bedrohungsbild, das auch Aspekte wie Terrorgefahren oder die grenzüberschreitende, räumliche Ausdehnung von Naturkatastrophen umfasst.4 Während es an dieser Stelle nun nicht Ziel ist, ein möglichst umfangreiches und detailliertes Bild der historischen Entwicklung des österreichischen Katastrophenschutzes zu zeichnen, illustriert dieser stark verkürzte, auf wenige Eckpfeiler begrenzte, historische Abriss, wie einzelne Katastrophen bzw. Großschadenslagen als Impuls für Wandel der institutionellen Ordnung wirken können, sowie die fundamentale Verankerung des Schutzgedankens der Zivilbevölkerung durch die staatliche Hand.5 Dabei verweist die staatliche Verantwortung für ein soziales Problem bzw. die Existenz von staatlichen Programmen zu dessen Bewältigung nicht nur auf die Relevanz des Problems an sich bzw. der durch das »Problem« unterbrochenen Routinen, sondern vielmehr ist diese staatliche Verantwortung selbst bereits ein Spezifikum, das es zu begreifen gilt. So ist die staatliche Verantwortung für den Schutz vor Naturkatastrophen bereits vor dem Hintergrund eines generellen Monopolanspruchs auf Sicherheit und öffentliche Ordnung durch den Staat zu sehen, wobei 4 Vgl. ebd., S. 11-14; SKMM 2010, S. 27ff. 5 Die staatliche Schutzfunktion ist kein österreichisches Spezifikum. Im Zuge der International Decade of National Disaster Reduction (IDNDR) bekannte sich die internationale Staatengemeinschaft deutlich dazu: »Each country bears the primary responsibility for protecting its people, infrastructure, and other national assets from the impact of natural disasters« (UN 1994 nach Bollin 2008, S. 261).
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seine zentrale Rolle auch in der Katastrophe in der Aufrechterhaltung dieser Ordnung liegt – wenn nötig auch durch den legitimen Einsatz physischer Gewalt.6 Denn staatliche Verantwortung für die Bewältigung spezifischer Probleme – hier für den Schutz vor Katastrophen – ist keineswegs als eine einseitig durch die betroffenen Akteure erwünschte Aufgabe zu sehen, der sich der Staat widerwillig annimmt oder die er zurückzuweisen versucht, indem beispielsweise die Existenz des Problems negiert wird, eine Unlösbarkeit des Problems oder Unvereinbarkeit mit den kollektiven Werten konstatiert wird oder auch eine individuelle (Bürger-)Verantwortung hervorgehoben wird, sondern er kann die Verantwortung auch anerkennen und sich seiner zugewiesenen Rolle bereitwillig annehmen7 – denn gerade hierin liegt auch ein wesentlicher Aspekt für die Legitimation des Staates und der Bekundung der staatlichen Ordnung: »Die allgemeine Zuständigkeit ›des Staates‹ für soziale Probleme in vielen westlichen Gesellschaften ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, an dessen Ende überall dort staatliche Eingriffe gefragt sind, wo wirtschaftliche und soziale Entwicklungen zum Problem werden.«8 Der Staat ist dabei ein Koordinationsmechanismus besonderer Art. So argumentieren Hollingsworth und Boyer (1997) im Hinblick auf die Koordination ökonomischer Aktivität: »Finally, there is the state, which is a coordinating mechanism quite unlike any of the others. It is the state that sanctions and regulates the various nonstate coordinating mechanisms, that ist the ultimate enforcer of rules of the various mechanisms […]. At the same time, the state may also be an economic actor by engaging directly in production and exchange.«9 Zum einen wird der Rahmen, innerhalb dessen andere Koordinationsmechanismen wirken können, staatlich reguliert. Zum anderen erscheint der Staat selbst als wesentlicher Akteur in der Bereitstellung von Katastrophenschutz. Grundlegende Voraussetzung für die staatliche Annahme der Problematik ist dabei, dass sie die Aufmerksamkeit staatlicher Instanzen auf sich zieht – dies gilt für latente Katastrophen(-risiken) ebenso wie für manifeste Katastrophen. Zum einen ist davon auszugehen, dass manifeste Katastrophen auf Grund ihres dramatischen Charakters gegenüber latenten Katastrophen(-risiken) tendenziell stärker Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zum anderen besteht angesichts einer Vielzahl von Naturgefahrenereignissen allerdings auch eine latente Konkurrenz um Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Katastrophenereignissen. Vor allem der medialen Berichterstattung kommt dabei als vermittelnde bzw. bündelnde Instanz der Aufmerksamkeit ein wichtiger Beitrag für den Zugang zu (staatlichen) Ressourcen zu. 6 7 8 9
Vgl. Stallings 1998, S. 141. Vgl. Schetsche 2008, S. 159. Ebd., S. 157. Hollingsworth/Boyer 1997, S. 13. Sie unterscheiden die Koordinationsmechanismen Staat, Markt, Hierarchie, Communities, Netzwerke und Associations.
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements
Schließlich kann sich die staatliche Hand dem Problem auf verschiedene Weisen annehmen, wie etwa Hollingsworth und Boyer (1997) (sie unterscheiden »Sponsoring«, »Departments« und »Regulatory Agencies« als »Modes of Coordination« des Koordinationsmechanismus »Staat«10 ) oder Schetsche (2008) im Rahmen seiner Theorie zu Deutungsmustern sozialer Probleme festhalten. Zunächst kann ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden (der, wie oben erläutert, auch den Rahmen für das Wirken anderer Koordinationsmechanismen darstellt). Sofern das Erlassen von Gesetzen zunächst keine direkten Kosten schafft, ist anzunehmen, dass auf dieser Ebene keine unmittelbare Konkurrenz zwischen den verschiedenen »Problemen« besteht. Zweitens kann die staatliche Hand finanzielle Zuwendungen gewähren. Die Konkurrenz um finanzielle Ressourcen zwischen verschiedenen Problemen erscheint zunächst zwar als Nullsummenspiel, doch sofern das Budget für Maßnahmen des Katastrophenschutzes weder in einem homogenen Ressort liegt, noch staatliche Mittel absolut mit Null begrenzt sind, scheint dieses eher ein »unechtes Nullsummenspiel« darzustellen. Drittens steht dem Staat die Möglichkeit offen, Informationen bereitzustellen. Dabei stehen soziale Probleme nur indirekt in Konkurrenz, sofern vermehrte Informationskampagnen zu einer Aufmerksamkeitsinflation führen können.11 Schließlich können diese staatlichen Maßnahmen der Problembewältigung noch dahingehend unterschieden werden, in welche administrativen Bahnen sie gelenkt werden: neben einer zeitlich befristeten und nebenläufigen Mitbearbeitung der Problematik angedockt an bereits bestehende Institutionen und Organisationen ist auch die Schaffung eigener »Departments«, behördlicher Akteure und öffentlicher Einrichtungen, denkbar, welche mit der Verwirklichung spezifischer Aufgaben betraut sind. Dabei kann wiederum zwischen einer zeitweiligen Einrichtung von eigens für die Problematik vorgesehenen Instanzen, einer »temporären Institutionalisierung«, und zeitstabilen Einrichtungen, einer »dauerhaften Institutionalisierung«, unterschieden werden. Gerade im Falle letzterer entstehen damit immer auch Organisationen, die ihre Legitimität bzw. ihre »Existenzberechtigung« aus dem bestehenden Problem heraus beziehen und damit ein paradoxes Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung des Problems entwickeln.12 Im Folgenden wird sich zeigen, dass sich der österreichische Staat der gesamten aufgezeigten Bandbreite bedient, um sich der Problematik des Katastrophenschutzes anzunehmen. So finden sich ausgeklügelte Rechtskomplexe für Fragen des Katastrophenschutzes (Katastrophenschutzgesetze der Länder, Katastrophenfondsgesetz, die Vereinbarung für die gemeinsame Bereitstellung eines Warn- und 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Schetsche 2008, S. 163. 12 Vgl. ebd., S. 168f.
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Alarmsystems, Feuerwehr- und Rettungsdienstgesetze, rechtliche Normen zur Vermeidung von Katastrophen streuen, die quer zu verschiedenen Rechtskomplexen liegen), die auch den rechtlichen Rahmen für andere Koordinationsmechanismen gestalten – diese werden forciert (z.B. Marktlösungen) oder auch begrenzt (z.B. Gemeinschaft). Darüber hinaus finden sich aber auch finanzielle Zuwendungen (z.B. Finanzierung von Präventionsmaßnahmen, Vorbereitung und Durchführung der Katastrophenbewältigung), Maßnahmen zur Information der Bevölkerung (zur Schaffung eines allgemeinen Risikobewusstseins und zur Förderung von Selbstschutzmaßnahmen sowie die Bereitstellung und Kontrolle von Informationen im konkreten Anlassfall) sowie die Etablierung von eigens für die Verwirklichung des Katastrophenschutzes vorgesehenen, öffentlichen Akteuren (zeitweilige Mitbearbeitung: z.B. ZAMG, GBA; zeitweilige Institutionalisierung eigens dafür vorgesehener Instanzen: z.B. Katastrophenschutzbehörden; zeitstabile Einrichtungen: z.B. WLV).
5.2.
Institutionelle Aufsplitterung im Katastrophenschutz
Dementsprechend stellt die Verwirklichung der Institutionen des Katastrophenschutzes in Österreich in der heutigen Form eine breit gefächerte und ausdifferenzierte Distributionsstruktur von Kompetenzbereichen und damit verbundenem (Experten-)Wissen dar – wie wir sehen werden entlang situativer Erfordernisse, aber auch entlang einer vertikalen (hierarchische Koordination und Subsidiaritätsprinzip) sowie horizontalen Dimension (Spezialisierung und Professionalisierung). Im Sinne von Berger und Luckmann (2016) ist damit von einer regelrechten »institutionellen Aufsplitterung« des österreichischen Katastrophenschutzes zu sprechen. Damit einher geht auch ein breit gefächertes Setting an diversen Organisationen und Akteure – denn Institutionen werden stets erst durch konkrete Akteure verwirklicht. Sie dauern zwar unabhängig vom einzelnen Individuum fort, doch können sie nicht losgelöst vom Menschen bzw. der Gesellschaft als Kollektiv existieren, sondern müssen vielmehr andauernd (re-)produziert werden. Erst im konkreten Tun (obgleich innerlich oder äußerlich) von Akteuren gewinnen Institutionen an Leben. So ist auch die Verwirklichung von Prinzipien des Katastrophenschutzes an Praktiken von Akteuren gebunden, die sich in einer Bandbreite an Organisationen und institutionalisierten Rollenerwartungen niedergeschlagen haben. So können sich Institutionen des Katastrophenschutzes zwar auch in materiellen Artefakten niederschlagen (z.B. in Form technischer Schutzbauten) und damit unabhängig von Akteuren eine gewisse Stabilität in der Zeit erlangen, doch schon allein ihre Installation, Wartung und Instandhaltung ist stets an Praktiken von Akteuren gebunden sowie sie ihre Bedeutung als Artefakte des Katastrophenschutzes nur durch symbolische Zuschreibung erlangen können.
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements
Folgt man den Katastrophenschutzgesetzen der Länder, findet sich zunächst eine Aufsplitterung des Katastrophenschutzes entlang situativer Erfordernisse. Diese gliedern sich im Wesentlichen in zwei Bereiche: Die Katastrophenvorsorge, die sich auf die operative Vorbereitung der Behörden für den akuten Anlassfall bezieht, sowie den abwehrenden Katastrophenschutz bzw. die Katastrophenhilfe, die erst unter Vorliegen des Tatbestandes der Katastrophe subsidiär zu den allgemeinen Rechtsvorschriften in Kraft tritt.13 Katastrophenschutz im Sinne der Katastrophenschutzgesetze der Länder bezieht sich also, wie am Beispiel des Stmk. Katastrophenschutzgesetzes illustriert werden kann, auf die »Abwehr und Bekämpfung von Katastrophen und das Ergreifen der dazu erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen«14 – eine relativ eng gefasste Definition von Katastrophenschutz, die den Fokus ausschließlich auf die reaktive Bewältigung eines Katastrophenereignisses und deren Vorbereitung legt.15 Aspekte jenseits der Bekämpfung direkter bzw. als solche wahrgenommenen Folgeschäden der Katastrophe werden damit ausgeblendet. Fragen der Nachsorge oder der Prävention und wesentliche Aspekte eines angemessenen Katastrophenschutzes – in einem weiten Sinne – können dadurch nicht erfasst werden bzw. werden als von der Katastrophe losgelöst konzipiert. Die Erkenntnis, dass eine auf den reaktiven Bereich begrenzte Definition von Katastrophenschutz eine stark verkürzte Sichtweise darstellt, findet allerdings mittlerweile auch schon Einzug in die Praxis des österreichischen Katastrophenschutzes: »Katastrophenmanagement in einem zeitgemäßen Verständnis ist ein permanenter Prozess, der sich in Form eines Regelkreises darstellt.«16 Dem Konzept des Katastrophenmanagements ist ein umfassenderes Verständnis von Katastrophenschutz zu eigen, das Katastrophenvorsorge, -hilfe und -nachsorge als Teile eines Prozesses versteht.17 Ein weit gefasstes Konzept von Katastrophenschutz also, das über den unmittelbaren Umgang mit der Katastrophe als ein in Raum und Zeit konzentriertes Ereignis hinausgeht und Katastrophenschutz als einen zirkulären Prozess versteht, der das Vor und das Nach einer Katastrophe umfasst und in das Schutzkonzept integriert. Dementsprechend soll Katastrophenschutz im Folgenden – sofern nicht explizit auf die enge Fassung verwiesen wird – in einem breiten Sinne verstanden werden, der Prävention, Früherkennung, Vorbereitung, Reaktion und Nachsorge in sich integriert. Vor dem Hintergrund dieser konzeptionellen Erweiterung des Katastrophenschutzes sind nun auch die im Strategiepapier des SKKM (2009), verankerten Zielsetzungen und die damit eingeleiteten Bahnen für die institutionelle Weiterent13 14 15 16 17
Vgl. SKKM 2010, S. 36-51. §1 Art. 1, Stmk. KatSG. Vgl. Geenen 2008, S. 228. SKKM 2010, S. 34. Vgl. Geenen 2008, S. 228.
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wicklung des österreichischen Katastrophenschutzes zu sehen: »[Eine] bestmögliche Verhinderung von Katastrophen durch Prävention und Risikooptimierung[, eine] ehest mögliche Früherkennung und Frühwarnung vor Katastrophen und deren Schadenspotenzial[, die] Sicherstellung eines hohen Niveaus der Einsatzvorbereitung[, eine] rasche und effiziente Reaktion auf Katastrophen zur Schadensminimierung für die Allgemeinheit auf nationaler und internationaler Ebene [sowie ein] rascher Übergang zur Normalsituation nach Katastrophen.«18 Hier tritt auch die dem österreichischen Katastrophenschutz inhärente symbolische Zweiteilung in »Normalität« und »Katastrophe« deutlich hervor.19 Dabei zeigt sich die Kompetenzaufsplitterung entlang situativer Erfordernisse nicht nur in den rechtlichen Rahmenwerken, sondern auch in den Mustern organisationaler Einbindung: Das Zusammenspiel von Organisationen und Akteuren, die mit Aufgaben des Katastrophenschutzes betraut sind bzw. die Verwirklichung der institutionellen Ordnung des Katastrophenschutzes tragen, verändert sich entlang der situativen Gegebenheiten. Bereits Dynes (1998) sieht im »extraordinary effort« – dem außeralltäglichen Aufwand bzw. dem Wandel im Verhalten eines Systems insbesondere bezüglich der Muster der organisationalen Einbettung – den zuverlässigsten Indikator für das Vorliegen einer Katastrophe als fundamentale Unterbrechung von Routinen und Strukturen des Alltags.20 Dabei können ausgehend von der DRC-Typology (Disaster Research Center) vier Typen von sich in der Katastrophenbewältigung beteiligenden Organisationen unterschieden werden: »Established«, »expanding«, »extending« und »emergent organisations« (Abb. 1), wobei sich mit zunehmendem Katastrophenpotenzial vermehrt Organisationen finden, die Ad-hoc-Strukturen aufweisen oder Ad-hoc-Funktionen erfüllen.21 Kann die Katastrophe nun anhand der Veränderung im Muster der organisationalen Einbindung diagnostiziert werden, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass mit der Katastrophe eben eine derartige Änderung des Systemverhaltens zu erwarten ist und vor allem auch mit Ad-hoc-Organisationen oder Gruppen zu rechnen ist. Damit stützt sich also die Verwirklichung der institutionellen Ordnung des Katastrophenschutzes auf Akteure und Organisationen, denen institutionell verankerte Aufgabenbereiche in der Katastrophenprävention, der Vorbereitung auf die bzw. Bewältigung der Katastrophe obliegen,22 aber gleichzeitig auch auf der Beteiligung von Akteuren und Organisationen, deren Mitwirkung im Katastrophen18 19 20 21 22
SKKM 2009. Die damit einhergehende Problematik wurde bereits weiter oben (Kap. 3) angedeutet. Vgl. Dynes 1998, S. 114ff. Vgl. Quarantelli 2003, S. 31; Dynes 1998, S. 114ff; Stallings 1978, S. 89f. Verpflichtet dazu sind Landesbehörden und -dienststellen, Gemeinden, Anstalten/Stiftungen/Körperschaften des öffentlichen Rechts (z.B. Feuerwehren), aber auch vertragliche verpflichtete Einrichtungen, die zweckhaft auf Katastrophenschutz ausgerichtet sind (z.B. Rettungsdienste) (§7, Art. 2-3, Stmk. KatSG).
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements
Abb. 1: DRC Typology of Disaster Organizations
Eigene Darstellung nach Quarantelli 2003; Dynes 1998; Stallings 1978.
schutz nicht oder in geringerem Ausmaß institutionalisiert und mit der vor allem in der Phase der Katastrophenbewältigung bzw. -hilfe zu rechnen ist (wie z.B. Privatorganisationen, Zivilbevölkerung usw.). Darin findet sich bereits auch ein Hinweis darauf, dass nebst der Aufsplitterung von Aufgaben entlang situativer Erfordernisse auch eine spezifische Distribution von Kompetenzbereichen und Wissen entlang verschiedener Akteure und Organisationen einhergeht,23 wobei das Zusammenspiel dieser Akteursgruppen kein ebenhöhiges, sondern vielmehr ein stark hierarchisches und im Wesentlichen durch staatliche Instanzen koordiniertes ist, was es im Folgenden deutlich herauszuarbeiten gilt. Dementsprechend sollen im Folgenden entlang des situativen Rahmens – sprich entlang der institutionell verankerten dichotomen Gegenüberstellung von Normalität und Katastrophe – die institutionellen Arrangements mitsamt den sie tragenden Akteuren und deren zugewiesenen Kompetenzen herausgearbeitet werden, um damit die inhärente Logik des österreichischen Katastrophenschutzes zu erschließen. Dabei ist nochmals zu verdeutlichen, dass Katastrophenschutz nicht mit den Organisationen des Katastrophenschutzes gleichzusetzen ist, diese allerdings in ihrer gemeinsamen Ausrichtung und als Träger der Verwirklichung von Institutionen einen Blick auf die institutionelle Ordnung erlauben. 23 Katastrophenschutz in Österreich stützt sich gemäß der Selbstdarstellung traditionell auf drei Säulen: Behörden, Einsatzorganisationen und die (Zivil-)Bevölkerung. Im Zuge der Forcierung eines integrierten Katastrophenmanagements wird auf ein Fünf-Säulen-Modell erweitert und umfasst nun auch Wissenschaft und Wirtschaft als wesentliche Pfeiler zur Verwirklichung des Katastrophenschutzes (vgl. SKKM 2010, S. 30).
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5.3.
Die institutionellen Arrangements der Katastrophe »im Normalbetrieb«
Wie erläutert, hat sich mittlerweile in der Praxis des österreichischen Katastrophenschutzes die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein eng gefasster Katastrophenschutz, der nur die Katastrophenbewältigung und die unmittelbare Vorbereitung auf den Katastropheneinsatz berücksichtigt, zu kurz greift. Katastrophenschutz muss weiter gefasst werden. Das Konzept des Katastrophenmanagements im Sinne eines weit gefassten Katastrophenschutzes erweitert den Blick und geht von einem zyklischen »nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe« aus. Denn Katastrophen sind weder isolierte Einzelereignisse ohne Vorlauf, noch endet die Katastrophe mit dem Verblassen ihrer sichtbaren Schäden. Katastrophennachsorge und Katastrophenprävention gehen dabei nahtlos ineinander über. Erkenntnisse und Erfahrungen aus der vorangegangenen Katastrophe können als »neues« Wissen in den künftigen Umgang mit der Katastrophe einfließen, Schlussfolgerungen für die Praxis gezogen und so der Kreis geschlossen werden. In Österreich findet sich damit also nicht ein ausschließlicher Fokus auf die Katastrophenbewältigung, sondern eine Langfristorientierung mit Fokus auf die »bestmögliche Verhinderung von Katastrophen durch Prävention und Risikooptimierung.«24
5.3.1.
Der Staat in der Prävention: Kollektive Lösungen und die technisch-naturwissenschaftliche Expertise
Prävention umfasst Maßnahmen zur Abwendung oder Verminderung von Gefahren vor dem Hintergrund eines diffusen Bedrohungsszenarios und ist damit unmittelbar mit Fragen des Risikomanagements, dem Umgang mit Risiken und ihre Verminderung auf ein akzeptables Ausmaß, verknüpft. Dabei entwickelte sich in Österreich ein breites Maßnahmenspektrum für den Umgang mit Katastrophenrisiken und damit betraute Akteure. Zunächst ist ein effektives und effizientes Risikomanagement unmittelbar auf eine adäquate Risikoanalyse angewiesen. Diese umfasst im Wesentlichen eine Gefährdungsermittlung und Vulnerabilitätsanalyse – im Grunde also die Frage, mit welcher Häufigkeit eine bestimmte Gefährdung zu welchem Schadensausmaß führt. Dieses Verständnis von Risiko im Sinne einer Funktion aus Eintrittswahrscheinlichkeit und potenzieller Schadenswirkung impliziert nicht nur ein grundlegend objektivierendes Verständnis der Katastrophe, sondern ist überdies blind für Aspekte der subjektiven und gesellschaftlichen Risikowahrnehmung und deren Einbettung in einen soziokulturellen Kontext. Obgleich 24 SKKM 2009; vgl. auch SKKM 2010, S. 13f, 16.
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements
deren Berücksichtigung zwar in der Praxis eingefordert wird – schon allein aus der Notwendigkeit heraus, dass die Frage der Reduktion von Risiken auf ein akzeptables Ausmaß, die Risikobewertung also, unmittelbar mit einer Einbettung in einen soziokulturellen Kontext einhergeht – lassen sich subjektive und kulturelle Aspekte nur schwer in mathematische Modelle implementieren, weshalb Risikomanagement im Wesentlichen einer quantifizierenden Risikoanalyse bzw. im besten Falle einer »(semi)quantifizierenden Risikoanalyse«25 verhaftet bleibt. Risikoanalysen in diesem Sinne setzen überdies die Kenntnis der ihnen zu Grunde liegenden Gefährdungen voraus, wodurch der Blick für unbestimmte, diffuse Gefährdungslagen versperrt bleibt.26 Diese implizierte Blindheit gegenüber unerwarteten Gefährdungen ist insofern fatal, als dass Katastrophen praktisch aus den blinden Flecken der Gesellschaft resultieren. Abgesehen von der aus dem objektivierenden Zugang zum Katastrophenrisiko erwachsenden Problematik ist selbst der Anspruch innerhalb dieser Logik nicht einlösbar: Denn weder gibt es in Österreich bislang systematische Risikoanalysen über spezifische Bereiche hinaus noch eine flächendeckende und systematische Erfassung von Katastrophenschäden als Datenbasis für breit angelegte, probabilistische Analysen.27 Vor diesem Hintergrund erscheint das Monitoring, die Beforschung und Beobachtung von Naturgefahren als Notwendigkeit, um die Grundlagen für fundierte Vorhersagen und Prognosen zu bilden.28 Hieraus ergibt sich die Rolle der Wissenschaft als eine wesentliche Säule des österreichischen Katastrophenschutzes.29 Denn insbesondere im Hinblick auf die Frage der Datengrundlage für adäquate Risikoanalysen stellt die Wissenschaft einen wesentlichen Beitrag dar. Die Geologische Bundesanstalt (GBA) und die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) sind dabei als dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur unterstellte wissenschaftliche Dienste30 sogar von Gesetzes wegen zur Mitwirkung zu diesem Zweck verpflichtet. So hat beispielsweise die GBA Gutachten und Planungsunterlagen im Hinblick auf geogen bedingte Naturgefahren zu erstellen, Ergebnisse und Dokumentationen evident zu halten und gegebenenfalls über moderne Informationstechnologien verfügbar zu halten.31 Als »größtes geowissenschaftliches Forschungszentrum Österreichs« oder auch »geologisches Gewissen des Landes«32 bildet sie damit die wissenschaftliche Grundlage zur Risikoanalyse und -bewertung geogen bedingter Naturgefahren. Ebenso ist die 25 26 27 28 29 30 31 32
SKKM 2010, S. 13. Vgl. Müller/Clausen 1993, S. 123f. Vgl. SKKM 2010, S. 11. Vgl. BMLFUW 2016b. Vgl. SKKM 2009. §18, Abs. 1; §22, Abs. 1, FOG. §18, Abs. 2, FOG. GBA 2016.
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ZAMG zur »Bereithaltung meteorologischer und geophysikalischer Daten und Informationen«33 verpflichtet. Im Katastrophenfall bildet sie so die Grundlage für die Einschätzung der weiteren Lageentwicklung, sowie sie auch a priori eine wesentliche Rolle erfüllt, indem sie unter anderem Informationen über Wetterlagen und -entwicklung als potenzielle Triggerfaktoren von katastrophischen Naturphänomenen bereitstellt.34 Wissenschaftliche Dienste leisten also einen wesentlichen Beitrag zur Risikoanalyse in Österreich und damit einen Teil der Basis für ein adäquates Risikomanagement. Doch auch neben der Bereitstellung naturwissenschaftlich fundierter Daten zur Abschätzung von Risiken und Gefahren werden Wissenschaft und Forschung allgemein als relevanter Beitrag für die Optimierung des Katastrophenschutzes anerkannt, was sich unter anderem an der Vielzahl von Sicherheitsforschungsförderungsprogrammen (z.B. KIRAS, EU-Sicherheitsforschung, GMES, UNISDR) illustrieren lässt. Dabei richten sich die Bemühungen primär auf die Weiterentwicklung von Technologien – etwa auch die technische Optimierung von Informationsund Kommunikationssystemen, Datengrundlagen oder Risikoanalysemodellen.35 Mitunter äußert sich darin das häufig in modernen, komplexen und damit unüberschaubaren Gesellschaften zu konstatierende Paradoxon der »Flucht in die moderne Informationstechnologie« mit der Hoffnung auf den »Zugang zu mehr und genaueren Daten.«36 Dass gerade in dem Mehr an Informationen, in der Konzentration auf eine Steigerung von Informationsmengen, der Geschwindigkeit ihrer Übertragung und quantitativen »hard facts« angesichts einer ohnehin schon unüberschaubaren Datenmenge nicht zwangsläufig die Lösung liegen kann ist offensichtlich und droht die Informationsüberflutung sogar noch voranzutreiben.37 Wenngleich das Potenzial der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Katastrophen(-risiken) also durchaus erkannt wurde und etwaige Rahmenprogramme geschaffen wurden, geben die in der SKKM repräsentierten Stellen bislang keine bis wenig Forschungsaufträge aus sowie es bislang auch einer systematischen Erfassung der Katastrophenforschung in Österreich ermangelt, weshalb eine Beobachtung und Auswertung der Forschungstätigkeit erstrebenswert wäre, um das Potenzial für die Praxis des Katastrophenschutzes auszuschöpfen.38 Überdies sind nicht zuletzt auf Grund der einseitigen Ausrichtung auf die technisch-naturwissenschaftliche Bearbeitung des Katastrophenrisikos und die technische Opti33 §22, Abs. 2 Z 9, FOG. 34 Vgl. ZAMG 2016. So sind insbesondere langanhaltende Dauerregen, Schneeschmelzen oder kurzfristige Akutniederschläge ein häufiger Auslösefaktor von gravitativen Massenbewegungen, wie z.B. Muren (vgl. Dikau et al. 2001). 35 Vgl. SKKM 2010, S. 33. 36 Vester 2000, S. 15. 37 Vgl. ebd., S. 20ff. 38 Vgl. SKKM 2009.
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements . mierung des Katastrophenmanagements (v.a. Kommunikationstechnologien) große Lücken in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Katastrophen und ihrer Bewältigung zu konstatieren, sofern kulturelle und soziale Aspekte systematisch vernachlässigt werden. Allerdings finden allmählich auch geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Aspekte Berücksichtigung, wie z.B. anhand der KIRASSicherheitsforschung illustriert werden kann: »Sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung müssen daher integraler Bestandteil der technologieorientierten Forschungsprojekte sein.«39 Eine fundierte Risikoanalyse und -bewertung kann in weiterer Folge zur Grundlage von Maßnahmen der Risikoreduktion werden. Dabei obliegt der Schutz vor Naturgefahren in alpinen Regionen in Österreich primär der Wildbachund Lawinenverbauung als eine direkte, regionale Dienststelle des Bundesministeriums.40 Ein wesentliches Instrument findet sich in der Erstellung von Gefahrenzonenplänen als räumliche Darstellungen von alpinen Naturgefahren und -risiken. Diese dienen als Grundlage für die Projektierung von Maßnahmen und die Festlegung deren Dringlichkeiten sowie – wenngleich sie kein direkt rechtlich bindendes Instrument sind – als Grundlage für die Raumplanung und die Bauordnung (dazu später noch).41 Neben der Erhebung und Bereitstellung von Daten über Wildbach- und Lawineneinzugsgebiete, darauf basierenden Risikoanalysen und der Überwachung der Einzugsgebiete obliegt der WLV auch die Planung, Projektierung und Durchführung und (Teil-)Finanzierung von Schutzmaßnahmen – wie etwa technische Schutzbauten, die direkt in den Naturprozess eingreifen, um die Entstehung eines natürlichen Ereignisses zu verhindern oder dessen Wirkung einzudämmen.42 Entlang des Lorenzerbaches findet sich etwa dem Wildbachaufnahmeblatt der WLV zufolge bereits eine lange Geschichte von Schutzmaßnahmen vor Wildbachereignissen,43 die im Anschluss an den Murenabgang 2012 unter Federführung der WLV ergänzt und aufgebessert wurden. So wurden unter anderem zwei Dosierbauwerke und ein Grobholzfilter errichtet. Die Erfassung des Risikos, die mathematische Modellierung der Prozessverläufe und der Eingriff in die Natur zur Kontrolle von Gefahren, die es abzuwehren gilt, 39 Kiras Sicherheitsforschung 2017. 40 Vgl. BMLFUW 2015, S. 12f. Für Fließgewässer im nicht-alpinen Bereich ist die Bundeswasserbauverwaltung (BWBV) zuständig (bzw. für bestimmte Gewässer das bmvit) und widmet sich primär dem Schutz vor Hochwasser (z.B. Errichtung technischer Hochwasserschutzmaßnahmen, Gewässerbetreuung, Ausweisung von Gefahrenzonen und Hochwasserabflussgebieten, Rückhalteräume) 41 Diese werden vom forsttechnischen Dienst der Wildbach- und Lawinenverbauung (WLV) erstellt, dem Bürgermeister der jeweiligen Gemeinde vorgelegt und zur öffentlichen Einsicht bereitgestellt, um etwaige Stellungnahmen einbeziehen zu können, ehe sie kommissionell abgesegnet werden (SKKM 2010, S. 14). 42 Vgl. BMLFUW 2015, S. 12f. 43 Vgl. BMLFUW 2012.
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zeugen letztlich von der Idee der Rationalisierbarkeit und Beherrschbarkeit einer objektiven, natürlichen Gefährdung. Dabei erschöpft sich das Maßnahmenspektrum des Schutzes vor Naturgefahren keineswegs im Bereich technischer Bauwerke. Natur selbst wird zunehmend als Quelle von Schutz und in ihrer Verletzlichkeit gedacht. Natur erlangt damit im Kontext des Katastrophenschutzes einen ambivalenten Charakter: Es ist eine gefährliche, verletzbare und schützende Natur. Es wird versucht, sie über die Bestärkung und Aufrechterhaltung ihrer schützenden Wirkung in den Naturgefahrenschutz einzubinden. Während hier auf eine umfassende und detaillierte Darstellung der Einbindung der natürlichen Sphäre in die Katastrophenprävention verzichtet werden muss, soll diese Tendenz anhand forstlich-biologischer Schutzmaßnahmen (z.B. Bewirtschaftung von Almen oder Schutzwaldpflege), konkret am Beispiel des Schutzwaldkonzeptes, illustriert werden. Die Schutzbedürftigkeit des Waldes und damit die Idee der Verletzlichkeit der Natur wurde bereits sehr früh institutionell anerkannt– so finden sich die Erläuterungen zum klassischen (Standort-)Schutzwald, namentlich »Wälder, deren Standort durch die abtragenden Kräfte von Wind, Wasser oder Schwerkraft gefährdet ist und die eine besondere Behandlung zum Schutz des Bodens und des Bewuchses sowie zur Sicherung der Wiederbewaldung erfordern,«44 bereits in der Stammfassung des Forstgesetzes 1975. Die institutionelle Verankerung der Schutzfunktion der Wälder folgte hingegen erst Jahrzehnte später. Nachdem die »Schutzwirkung des Waldes zur Hintanhaltung von Elementargefahren und Vorbeugung von Katastrophenereignissen«45 in den 90er Jahren zunehmend in den Fokus rückte, folgte 2004 die rechtliche Verankerung in den Forstgesetzen mit den Ausführungen zum Objektschutzwald, namentlich»Wälder, die Menschen, menschliche Siedlungen oder Anlagen oder kultivierten Boden insbesondere vor Elementargefahren oder schädigenden Umwelteinflüssen schützen und die eine besondere Behandlung zur Erreichung und Sicherung ihrer Schutzwirkung erfordern.«46 Aktuell sind in etwa 17 % der steirischen Waldfläche als klassische Standortschutzwälder und in etwa 7 % als Objektschutzwälder ausgewiesen, wobei Bemühungen bestehen, diese Anteile auszuweiten – nicht nur auf Grund der erwarteten Effektivität im Hinblick auf die präventive Wirkung von Schutzwäldern, sondern auch auf 44 §21, Abs. 1-2, Forstgesetz 1975. 45 Land Steiermark 2016i. Die Forstinventur zur Erhebung des Gesundheitsstandes der Wälder in den 80er Jahren zeigte einen katastrophalen Zustand der österreichischen Wälder auf und gab damit den Anlass zur Ausarbeitung von Landeskonzepten zur Verbesserung der Schutzfunktion der Wälder durch zahlreiche waldbauliche Maßnahmen, wie Pflege, Verjüngungsförderungen etc. 46 §21, Abs. 2, Forstgesetz 1975.
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Grund der erwarteten Kosteneffizienz.47 Diese Bemühungen zeigen sich beispielsweise anhand der Implementierung der österreichischen (2002) bzw. steirischen Schutzwaldplattformen (2005) mit dem Ziel, Regionen in der forstlichen Bewirtschaftung und Stärkung der Waldfunktionen zu unterstützen, oder im BMLFUWProgramm »Initiative Schutz durch Wald« (2006) mit dem klar deklarierten Ziel der »Sicherung und Verbesserung der Schutzwirkung von Wäldern mit Objektschutzwirkung,«48 das im Rahmen des Waldentwicklungsplans und Entwicklungsplans für den ländlichen Raum 2007-13 in seiner Umsetzung vorangetrieben wurde und die Förderung objektschutzwirksamer waldbaulicher Maßnahmen mit sich brachte.49 Mit den Förderungen von Schutzwaldprojekten, der Etablierung und Pflege bestehender Schutzwälder und der Erfassung von Katastrophenschäden im Wald sind dabei die Landesforstdienste und Bundesforstinspektionen betraut50 – ein organisatorischer Ausdruck der institutionellen Anerkennung des Wertes der Natur, ihrer Verletzbarkeit (Erfassung von Katastrophenschäden im Wald sowie Fragen in puncto Standortschutzwälder) und ihrer Schutzfunktion (Fragen und Förderungen in puncto Objektschutzwälder). Damit wird hier der ambivalente Charakter einer gefährlichen, verletzlichen und schützenden Natur deutlich, die nun zwar einer stärkeren, normativen Aufladung unterliegt, aber dennoch eine durch menschliche Eingriffe regulierbare und kontrollierbare, natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegende Natur bleibt. Neben der Einrichtung öffentlicher Dienststellen für Aufgaben mit Bezug zum Naturgefahrenschutz (z.B. WLV, GBA, ZAMG oder Landesforste) übernimmt in Österreich die öffentliche Hand auch überwiegend die Finanzierung von Schutzmaßnahmen.51 Sofern diese Mittel anteilsmäßig aus Budgets verschiedener Ressorts stammen, spiegelt sich hier der Charakter von Katastrophenschutz als Querschnittsmaterie wider sowie eine unmittelbare Anteilsermittlung und vollständige Erfassung der Ausgaben, die in die Katastrophenprävention fließen, nicht oder nur sehr schwer möglich ist.52 Insofern dürfte der Katastrophenfonds als Verwaltungsfonds des Bundes »[f]ür die zusätzliche Finanzierung von Maßnahmen zur Vorbeugung gegen künftige und die Beseitigung von eingetretenen Katastrophenschäden sowie zur Erhebung der Wassergüte,«53 hier von besonderem Interesse sein. Als unmittelbar für Maßnahmen des Katastrophenschutzes angelegtes Finanzinstrument dürfte er die zu Grunde liegende Logik besonders verdeutlichen. Dabei wird 47 Vgl. Land Steiermark 2016e. Die Kosteneffizienz begründet sich dabei über die angenommene Kostenrelation von 1:10:100 Schutzwaldpflege:Schutzwaldsanierung:technische Maßnahmen. 48 BMLFUW 2016a. 49 Vgl. Land Steiermark 2016e; BMLFUW 2016a. 50 Vgl. Land Steiermark 2016f. 51 Vgl. BMLFUW 2012b, S. 46f. 52 SKKM 2009. 53 §1 Art. 1, KatFG.
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der Katastrophenfonds aus Mitteln der Einkommens- und Körperschaftsteuern gebildet und umfasste zuletzt (2015) rund 423 Mio. Euro.54 Der Verteilungsschlüssel der Katastrophenfondsmittel (der Löwenanteil ist für die Finanzierung von Vorbeugungsmaßnahmen vorgesehen55 ) verdeutlicht nun, dass das Hauptaugenmerk des österreichischen Katastrophenschutzes auf präventiven Maßnahmen liegt. Damit zeigt sich in der Mittelverwendung eine fundamentale Verankerung einer Langfristorientierung, die über die Fokussierung auf die Problembewältigung hinausgeht. Trotz dieser grundsätzlichen Langfristorientierung lässt sich nun paradoxerweise vor allem in den Folgejahren größerer Katastrophen ein sprunghafter Anstieg von Ausgaben für Präventionsmaßnahmen verzeichnen. Dies lässt sich beispielsweise im Anschluss an den Murenabgang in St. Lorenzen 2012 beobachten, in Folge dessen großzügig Mittel mobilisiert und in den Folgejahren allein in die Errichtung technischer Schutzbauwerke entlang des Lorenzerbaches rund 4 Mio. Euro investiert wurden.56 Diese Anlassfalllogik setzt sich über die Grenzen des Murenabgangs in St. Lorenzen hinaus fort (das Unwetterjahr 2012 war nicht nur für St. Lorenzen ein sehr ereignisreiches57 ): So stehen den 319 Mio. Euro (175 Mio. für Vorbeugungsmaßnahmen), die 2012 aus dem Katastrophenfonds entwendet wurden, 475 Mio. Euro im Jahr 2013 (215 Mio. Euro für Vorbeugungsmaßnahmen) gegenüber.58 Obgleich dem Anstieg der allgemein entwendeten Katastrophenfondsmittel entgegengehalten werden könnte, dass schließlich im Anschluss an Katastrophenereignisse der Bedarf an schadensbewältigenden Maßnahmen bestünde, ist der Punkt gerade, dass sich diese »Anlassfalllogik« auch auf die Finanzierung von Präventionsmaßnahmen erstreckt. 54 Vgl. BMF 2016, S. 5. Ohne Berücksichtigung von Aufstockungsbeträgen. 55 Nach Abzug von 10 Mio. Euro, die für die Finanzierung außergewöhnlicher Schäden an Straßen, die 2002 vom Bund an die Länder übergingen, reserviert sind (§5a, KatFG), sind 73,27 % der verbliebenen Mittel für die Prävention von Hochwasser und Lawinenschäden, passive Hochwasserschutzmaßnahmen, die Erhebung der Wassergüte, die Aufrechterhaltung des Warnund Alarmsystems (gedeckelt), die Förderung von Prämien aus Hagelversicherungen und die Deckung von außerordentlichen Erfordernissen aus finanziellen Zuschüssen nach besonders ereignisreichen Jahren (z.B. Förderungen von Raumittelzukauf nach Dürrejahren oder anderen witterungsbedingten Verlusten) vorgesehen. Die restlichen 26,73 % teilen sich auf die Finanzierung von unmittelbaren Katastrophenschäden im Vermögen von Gebietskörperschaften (1,23 %: Bund, 3,31 %: Länder, 9,09 %: Gemeinden), Hilfeleistungen für Schäden im Vermögen privater bzw. juristischer Personen (4,21 %) und die Finanzierung von Einsatzgerät der Feuerwehren (8,89 %) auf (§3, Abs. 1-4, KatFG). 56 Entsprechend lokaler Informationstafel des Wildbach- und Lawinenverbauung. 57 Alleine im Jahr 2012 wurden 337 Wildbachereignisse dokumentiert – davon 62 starke und 81 extreme (vgl. BMLFUW 2012a). 58 Vgl. BMF 2016.
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Als krasser sozialer Wandel und als Irritation der etablierten Ordnung bündelt die Katastrophe die Aufmerksamkeit – eine Grundvoraussetzung für die Annahme einer Problematik – stärker als latente Risiken. Damit wird die unmittelbare Katastrophenerfahrung und Sequenzialität der Ereignisse Grundlage für das Ergreifen von Maßnahmen.59 Allerdings findet sich hier vielmehr noch Evidenz für die Annahme, dass sich die Katastrophe als hervorragende Plattform zur Bekundung der etablierten Ordnung eignet, dass sie als politische Bühne für die »Demonstration des Willens zu entschlossenem Handeln«60 fungieren kann, um letztlich die Rolle des Staates als »Sicherheitsgaranten« zu befördern. Obgleich die Katastrophe der Bevölkerung also vor Augen führt, dass der Staat sein Sicherheitsversprechen nicht einzulösen vermag, bietet sie zugleich die Möglichkeit, etwa über die umgehende Mittelmobilisierung und die Initiierung von Schutzprojekten, »zu demonstrieren, dass der Staat entschlossen ist, keine halben Sachen zu machen, ›die Probleme bei der Wurzel zu packen‹ und die Schmerzen der Unsicherheit, welche die Untertanen quälen, zu lindern oder gänzlich zu zerstreuen.«61 So können die politischen Machthaber, die das Ergreifen der Maßnahmen für sich beanspruchen können, im Sinne Schetsches (2008) – stark zugespitzt – auch zu ProblemnutzerInnen der Katastrophe werden, die an der Lösung des Problems bzw. der Verminderung des Katastrophenrisikos (auch) aus opportunistischen Gründen der Verwirklichung politischer Ziele und öffentlicher und sozialer Aufmerksamkeit interessiert sind.62 Letztendlich könnte also, angelehnt an Bauman (2016), der Verdacht in den Raum gestellt werden, dass »Regierungen […] kein [Anm. SP: bzw. nicht ausschließliches] Interesse daran [haben], die Ängste ihrer Bürger zu besänftigen. Ihnen liegt vielmehr daran, die Angst zu schüren, die aus der Ungewissheit der Zukunft unter dem ständigen, allgegenwärtigen Unsicherheitsgefühl erwächst – insbesondere wenn die Wurzeln dieser Unsicherheit sich zu Orten zurückverfolgen lassen, die einen guten Hintergrund für ausgiebige Fototermine bieten, bei denen Minister Entschlossenheit demonstrieren können […]. Die Versicherheitlichung ist ein Taschenspielertrick, der genau das bewirken soll. Er verschiebt die Angst von Problemen, die der Staat nicht zu lösen vermag (oder gar nicht erst angehen möchte), auf Probleme, mit denen die Regierung sich […] eifrig und (gelegentlich) erfolgreich auseinandersetzt.«63 59 Vgl. Lübken 2016, S. 116. 60 Bauman 2016, S. 30. 61 Ebd. 62 Schetsche 2008, S. 74ff. Dabei soll nicht behauptet werden, dass politische RepräsentantInnen nicht auch aufrichtige Betroffenheit und Mitgefühl empfinden. 63 Bauman 2016, S. 33.
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5.3.2.
(Markt-)Individualismus in der Prävention: Selbstschutz und Eigenvorsorge
Den langfristigen Bemühungen um die Verminderung des Katastrophenrisikos zum Trotz ist eine absolute Vermeidung von Naturgefahren und potenziellen Naturgefahrenereignissen nicht möglich, weshalb auch passive Schutzmaßnahmen zur Minimierung bzw. Begrenzung potenzieller Schadensauswirkungen forciert werden. Dabei werden zunehmend private Akteure in die Pflicht genommen: Selbstschutz wird als wesentliche Säule des österreichischen Katastrophenschutzes deklariert und sein Beitrag zur Schadensminderung erkannt. Demzufolge könne Eigenvorsorge in zumutbarem Ausmaß und Erstmaßnahmen im Akutfall zu einer wesentlichen Verringerung potenzieller Schäden aus Katastrophen führen und gleichzeitig auch destruktive Dynamiken vermeiden, indem ein geschärftes Bewusstsein für Gefahren sowie Wissen um Gefahren als Ressource für die Bewältigung von Unsicherheit dient und so im Ernstfall z.B. auch Panikreaktionen verhindern könne.64 Dabei wird wiederum der Staat in die Pflicht genommen, um BürgerInnen zur Eigenvorsorge zu motivieren und anzuleiten,65 was auch als wesentliches Grundprinzip des österreichischen Katastrophenschutzes verankert ist: »Die Bevölkerung wird in das Krisen- und Katastrophenschutzmanagement durch die Förderung des Selbstschutzgedankens und laufende Informations- und Aufklärungsarbeit der Behörden sowie des Österreichischen Zivilschutzverbandes einbezogen.«66 Eine angemessene Risikokommunikation, die darauf zielt, »die Bevölkerung vorsorglich über bestehende Gefahren und Risiken zu informieren, Informationen über Bewältigungsmechanismen und Verhaltensregeln zur Verfügung zu stellen und somit auch Angst vor unbekannten Gefahren zu nehmen,«67 gilt dabei als wesentliche Voraussetzung für die Schärfung des Risiko- und Gefahrenbewusstseins und damit die Förderung des Selbstschutzgedankens von BürgerInnen und wird von staatlicher Seite, beispielsweise über Aufklärungsarbeit und Informationskampagnen, aktiv forciert.68 Hierzu bedient sich das BMI primär des österreichischen Zivilschutzverbandes (ÖZSV),69 der landesweit organisiert und in einem 64 Vgl. SKKM 2009, SKKM 2010, S. 9. Die frühe Katastrophenforschung enttarnte Massenpanik bereits als ein empirisch nur sehr selten anzutreffendes Phänomen und damit als – vor allem durch die mediale Berichterstattung geschürten – Katastrophenmythos (vgl. Geenen 2003, S. 14) 65 Vgl. SKKM 2010, S. 33. 66 SKKM 2009; SKKM 2010, S. 9. 67 SKKM 2010, S. 25. 68 Vgl. ebd., S. 9; SKKM 2009. 69 Vgl. SKKM 2010, S. 105.
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bundesweiten Dachverband gebündelt ist und sein zentrales Anliegen darin sieht, »die Menschen in Österreich auf die Gefahren des Alltags, aber auch auf größere Schadensereignisse vorzubereiten und sie dafür zu rüsten.«70 Dabei streuen die »Informationskampagnen« und Empfehlungen für die Eigenvorsorge auf einem breiten Spektrum und umfassen neben Informationen zu Vorratshaltung, die Bedeutung von Zivilschutzsignalen, Brandschutzmaßnahmen, das adäquate Setzen von Notrufen oder Erste-Hilfe-Maßnahmen71 insbesondere auch bauliche und raumplanerische Maßnahmen. Während es zunächst gilt, Gefahrenbereiche an sich so gut wie möglich zu vermeiden – »[d]er beste Schutz ist die Meidung von Gefahrenbereichen«72 – werden innerhalb von Gefahrenzonen bauliche Maßnahmen an Gebäuden und Grundstücken zur Minimierung oder Abwendung von Schäden im Anlassfall empfohlen. Dabei gestalten sich diese Empfehlungen entlang der spezifischen Charakteristika der jeweils drohenden Gefahren: So erfordert etwa die Anpassung an das Gefahrenprofil von Murenabgängen ein gänzlich anderes Maßnahmenspektrum als das Gefahrenprofil statischer Hochwasser. So sind etwa mobile Einsatzstücke oder Sandsackbarrieren gegen Wassereintritt an Gebäudeöffnungen allein auf Grund der hohen Geschwindigkeit und Dynamik eines Murenabgangs schon zeitlich nicht umsetzbar und angesichts des hohen Zerstörungspotenzials und Feststoffanteils ohnehin nahezu wirkungslos. Die Empfehlungen umfassen hingegen etwa Maßnahmen am Gelände in Form von Ablenkdämmen, -mauern oder Spaltkeilen (wobei das Prinzip gilt, andere nicht zu verschlechtern), an der Gebäudestruktur in Form einer Verstärkung von Wänden oder Geschoßdecken, das Vermeiden von Gebäudeöffnungen auf der Prallseite und schadanfälligen Elementen (z.B. Fassadenverkleidungen) oder eine Raumaufteilung, wonach Räume mit längerer Aufenthaltsdauer tendenziell an der prallabgeneigten Seite geplant werden sollten.73 Dabei wird nicht nur – etwa über staatlich organisierte Informationsmöglichkeiten, wie Ratgeber und Broschüren – an die Eigenverantwortung der BürgerInnen appelliert, sondern die Eigenvorsorge wird auch über verbindliche Bauvorschriften abgesichert. So ist etwa die Gefahrenzonenplanung des WLV zwar kein direkt rechtlich bindendes Instrument, doch dient sie EntscheidungsträgerInnen dennoch als Grundlage für raumplanerische Maßnahmen oder Bauvorschriften bzw. -genehmigungen.74 Es schimmert also selbst noch hinter den individualisierten Maßnahmen die staatliche Koordinationskompetenz im Katastrophenschutz durch. Katastrophenschutz wird zwar in das Kosten-Nutzen-Kalkül der individuellen BürgerInnen bzw. Haushalte verortet und damit eine marktvermittelte Koordination angestrebt – 70 71 72 73 74
ÖZSV 2016. Vgl. SKKM 2010, S. 104. BMLFUW 2015, S. 23 Vgl. BMLFUW 2015, S. 15-24. SKKM 2010, S. 14.
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doch weniger als Ausdruck individueller Freiheit und autonomen Handelns, als aktiv von Staats wegen eingefordert. Es offenbart sich damit ein ambivalentes Bild von BürgerInnen, von denen einerseits Selbstschutz und Eigenvorsorge eingefordert wird, die andererseits aber als unmündige und schutzbedürftige Subjekte der staatlichen Anleitung und Koordination bedürfen – ein Amalgam aus kollektiver und individueller Lösung, könnte man sagen. Diese hierarchisch angeleitete Individualisierung des Katastrophenschutzes zeugt dabei zum einen vom Versuch, potenzielle Katastrophenschäden zu mindern und verschiedene Koordinationsmechanismen untereinander abzustimmen. Zum anderen ist diese Individualisierung bzw. Einforderung von Selbstschutzmaßnahmen allerdings auch Ausdruck eines zunehmenden Unvermögens der Eliten, ihr »Heilsversprechen« bzw. Sicherheitsversprechen einzulösen. Vor dem Hintergrund einer Unvermeidbarkeit von Katastrophen kann die Eigenvorsorge bzw. die Individualisierung von Sicherheit als »ein Tarnname für die Entschlossenheit der etablierten Mächte [gesehen werden], welche für die imaginierte Totalität der ›Gesellschaft‹ stehen, bei der Aufgabe, mit den aus der existenziellen Unsicherheit erwachsenden Problemen fertigzuwerden, nach dem Subsidiaritätsprinzip zu verfahren und sie in die Verantwortung des Einzelnen mit seinem äußerst unzureichenden Ressourcen zu geben (oder genauer gesagt: sie dort abzuladen und auf diese Weise zu entsorgen). Wie der verstorbene Ulrich Beck es ausgedrückt hat, steht damit der Einzelne vor der gänzlich unerfüllbaren Aufgabe, individuelle Lösungen für gesellschaftlich produzierte Probleme zu finden.«75
5.4.
Die institutionellen Arrangements der Katastrophe »in der Katastrophe«
Trotz der präventiven Bemühungen können Katastrophen nicht ausgeschlossen werden. Dementsprechend liegt eine wesentliche Aufgabe des Katastrophenschutzes in Österreich in einer angemessenen Vorbereitung auf den Anlassfall, um zeitnah reagieren zu können und so ein »rascher Übergang zur Normalsituation nach Katastrophen«76 gelingt. Dabei findet sich auch hier wieder der Staat in der Rolle des primären Koordinationsmechanismus. Alternative Koordinationsmechanismen – wie marktvermittelte oder auf Gemeinschaft beruhende Koordination – werden nicht ausgeschlossen bzw. verunmöglicht, sondern mitunter sogar forciert, 75 Bauman 2016, S. 57. Baumans Erläuterungen beziehen sich auf die sozioökonomische Prekarisierung der Lebenswelt, sind aber eine treffende Beschreibung der Individualisierung von Sicherheit im Allgemeinen. 76 SKKM 2009.
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements
wenngleich auch die Bahnen, innerhalb derer diese wirken, wiederum der staatlichen Definitionsmacht unterliegen.
5.4.1.
Der Staat in der Katastrophe: Zum formellen Katastrophenhilfseinsatz
Zunächst stellt sich die grundlegende Frage nach der Abgrenzung des Problembereichs – die Frage also, worin im Sinne der Katastrophenschutzgesetze und der beteiligten Akteure die Katastrophe besteht, die diesen »Übergang zur Normalsituation«77 erstrebenswert macht. Während die Katastrophe an sich als ein (kulturell variables) Konzept der Weltwahrnehmung zu verstehen ist (vgl. dazu Kap. 3), wird sie am Beispiel des Stmk. Katastrophenschutzgesetzes wie folgt definiert: »Eine Katastrophe im Sinne dieses Gesetzes ist ein Ereignis, bei dem Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen oder bedeutende Sachwerte in ungewöhnlichem Ausmaß gefährdet oder geschädigt werden und die Abwehr oder Bekämpfung der Gefahr einen koordinierten Einsatz der zur Katastrophenhilfe verpflichteten Einrichtungen, insbesondere der Organisationen des Katastrophenschutzes, erfordert.«78 Dabei versteckt sich hinter dem ersten Teil dieser gesetzlich verankerten Katastrophendefinition ein objektivierendes Verständnis der Katastrophe: Die Katastrophe erscheint als die Realisierung einer Gefahr in Form eines in Raum und Zeit konzentrierten Ereignisses (obgleich welcher Dauer), das Gesellschaften gefährdet oder Schäden in einer Gesellschaft verursacht. Sie erscheint als eine externe Gefahr (das zeigt sich bereits im Bereich der Präventionsmaßnahmen im schwerpunktmäßigen Versuch, die gesellschaftsexterne »Natur« in den Griff zu bekommen), die über die vulnerable Gesellschaft hereinbricht und die Aktivierung von eigens dafür vorgesehenen Akteuren notwendig erscheinen lässt, um diese Gefährdung zu bewältigen und eine Wiederherstellung des Status Quo zu ermöglichen: »Katastrophen werden nur als solche benannt, wenn Menschen betroffen sind. Was eine Katastrophe ist, hängt von den wahrgenommenen Schäden ab, die hervorgerufen worden sind und denen die gesellschaftlichen Abwehrmaßnahmen nicht gewachsen waren.«79 Dass eine solche objektivierende und auf das Schadensausmaß zielende Darstellung von Katastrophen mit grundlegenden Dilemmata einhergeht, wurde schon weiter oben angedeutet. Es ist zwar eine »pragmatische Kategorisierung«80 der Katastrophe hinsichtlich der ihr zu Grunde liegenden Naturereignisse (z.B. die freigesetzte Energie oder Wasserstandshöhen) oder ihres Schadensausmaßes und -dimensionen möglich, doch es können im Hinblick auf die 77 78 79 80
Ebd. §1, Art. 2, Stmk. KatSG. Die Katastrophendefinition ist landesgesetzlich geregelt. Müller/Clausen 1993, S. 124. Ebd., S. 123.
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gesellschaftlichen Auswirkungen keine eindeutigen Klassifizierungen und Quantifizierungen vorgenommen werden. Die hinter diesen Versuchen liegende, implizite Logik eines »je mehr Schaden, desto größer die Katastrophe« führt bereits insofern in ein Dilemma, als dass zum einen die Katastrophe als hoch komplexer Verflechtungszusammenhang niemals vollständig erfasst werden kann, sowie sich zum anderen die verschiedenen Schadensdimensionen und langfristigen »Nachwirkungen« der Vergleichbarkeit entziehen.81 Der zweite Teil der Katastrophendefinition gemäß Stmk. Katastrophenschutzgesetz verweist auf eine operative Ausrichtung der Katastrophe, die letztendlich in einen Zirkelschluss mündet: »[W]hen emergency organizations become involved, it is defined as an emergency«82 – die Katastrophe ist, wenn Katastrophenorganisationen benötigt werden. Nicht nur, dass damit die Kriterien für den Sachverhalt der Katastrophe an den Einsatz von ExpertInnen zu deren Bewältigung gekoppelt sind – denn nur, wenn der Einsatz von eigens für den Katastrophenschutz vorgesehenen Einrichtungen erforderlich ist, ist es eine Katastrophe. Darüber hinaus entscheiden die »ExpertInnen« bzw. die von Gesetzes wegen mit dem Katastrophenschutz betrauten Instanzen auch noch über das Vorliegen dieses Sachverhalts: Die Entscheidung, ob der Sachverhalt der Katastrophe, also ein gefährdendes Ereignis, das den koordinierten Einsatz der Katastrophenhilfsorganisationen erforderlich macht, vorliegt (oder nicht), obliegt kraft des Stmk. Katastrophenschutzgesetzes der zuständigen Katastrophenschutzbehörde: Behördlichen Instanzen stellen die Katastrophe fest, rufen sie aus und informieren die Bevölkerung über den Sachverhalt und geeignete Maßnahmen.83 Es offenbart sich damit auch eine gesetzlich verankerte Definitionsmacht seitens der Katastrophenschutzbehörden, eine legitime Stimme, die darüber entscheidet, was eine »richtige« Katastrophe ist (und was nicht):84 Werden zur Abwehr der Gefahr keine Katastrophenhilfsdienste benötigt und zur Koordinierung der Abwehrmaßnahmen keine Katastrophenschutzbehörden, die über die Katastrophe und spezifische Maßnahmen entscheiden, ist das »Ereignis« im Sinne des Gesetzes auch keine Katastrophe. Ist die Katastrophe erst einmal festgestellt obliegt grundsätzlich auch die Koordination und Führung der Katastrophenbewältigung mit dem Ziel eines »raschen Übergang[s] zur Normalsituation«85 den Katastrophenschutzbehörden: Dem Bürgermeister, wenn sich die drohende oder eingetretene Katastrophe auf ein Gemeindegebiet begrenzt und mit gemeindeeigenen Mitteln bekämpft werden kann, den 81 Vgl. Dynes 1998, S. 111f. Man denke beispielsweise an die moralischen Implikationen einer ökonomischen Bewertung von Menschenleben im Kontext von Katastrophenschutzmaßnahmen. 82 Dynes 1998, S. 115; vgl. auch Oliver-Smith 2002, S. 26. 83 §4, Stmk. KatSG. 84 Vgl. Kroll-Smith/Gunter 1998, S. 164ff. 85 SKKM 2009.
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Bezirksverwaltungsbehörden bzw. Magistraten, wenn diese Kriterien überschritten werden,86 und der Landesregierung, wenn mehrere politische Bezirke betroffen sind oder die Bezirksverwaltungsbehörde nicht mehr in der Lage ist, wirksamen Katastrophenschutz zu tätigen.87 Damit ist die Kompetenzverteilung im Katastrophenschutz grundlegend entlang des Subsidiaritätsprinzips organisiert: Erst wenn die Ressourcen der vorangehenden Instanz erschöpft sind bzw. Katastrophenschutz nicht mehr angemessen zu bewerkstelligen ist, kommt es zur subsidiären Intervention durch höhere Verwaltungsebenen.88 Allerdings endet dieser Instanzenzug in Österreich auf Landesebene: Bundesländerübergreifende Großschadenslagen oder Katastrophen werden bislang nicht auf Bundesebene koordiniert und geführt. Um diese fehlende Koordinationskompetenz auf Bundesebene auszugleichen, übernimmt das Staatliche Krisen- und Katastrophenmanagement (SKKM) im Anlassfall die Rolle als Schnittstelle und Koordinations- und Kommunikationsplattform zwischen Behörden, Einsatzorganisationen, Wissenschaft, Wirtschaft und Bevölkerung.89 Die zentrale Aufgabe der behördlichen Einsatzleitung liegt nun in der Initiierung und laufenden Koordinierung von Maßnahmen der Katastrophenabwehr bzw. -bewältigung.90 Sie ist also Dreh- und Angelpunkt des formellen Katastropheneinsatzes. Die Katastrophenschutzbehörde als Repräsentant der staatlichen Katastrophenschutzstrukturen und die von ihr zu stellende behördliche Einsatzleitung entscheiden also, was, wie und durch wen geschehen soll, wobei sie den »Grundsätze[n] der politischen Unabhängigkeit, Nichtdiskriminierung, Bedürfnisorientierung und Effizienz des Mitteleinsatzes«91 zu folgen haben. Ferner sind dahingehend bereits vorbereitende Maßnahmen zu treffen, wie die personelle Ausstattung der behördlichen Einsatzleitung, die Bereitstellung der erforderlichen in86 §2, Art. 1-2, Stmk. KatSG. Ebenso in OÖ, T, V, W, während in den restlichen Bundesländern die Einsatzleitung erst durch Berufung durch die Bezirkshauptmannschaft an den Bürgermeister übergeht (vgl. SKKM 2010, S. 53). 87 §2, Art. 3, Stmk. KatSG; vgl. SKKM 2010, S. 53. 88 Vgl. SKKM 2010, S. 9; SKKM 2009. 89 Vgl. SKKM 2009; BMI 2016a. Spätestens mit den Großschadenslagen bzw. Katastrophen um die Jahrtausendwende (Tauerntunnelbrand, Grubenunglück in Lassing, Lawinenkatastrophe von Galtür) wurde erkannt, dass Vorfälle eines derartigen Ausmaßes einer übergreifenden Koordination bedürfen. Dadurch wurden einerseits Impulse zum Ausbau bzw. der Implementierung der SKKM-Strukturen gesetzt, sowie andererseits Bemühungen getroffen werden, die Koordinationskompetenzen auf Bundesebene auszubauen (SKKM 2009). 90 In dieses Aufgabenspektrum fallen unter anderem die Lagefeststellung und -beurteilung, die Schwerpunktsetzung und Erstellung von Plänen in der Durchführung der Katastrophenbewältigung, die Koordinierung, Kontrolle und Dokumentation der getroffenen Maßnahmen, die Versorgung der Einsatzkräfte, das Informationsmanagement (Information der Bevölkerung und Medien) und die Organisation der psychosozialen Betreuung (Anl. 1, Punkt II B, KatVor). 91 SKKM 2009, SKKM 2010, S. 9.
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frastrukturellen Rahmenbedingungen92 oder die Ausarbeitung szenarienspezifischer Handlungsmodelle in Form von Katastrophenschutzplänen.93 Im Anlassfall kann sich die Katastrophenschutzbehörde im Sinne einer koordinierten und integrierten Führung auch beratender Maßnahmen und Koordinationsgremien bedienen, wie sie beispielsweise der Krisenstab darstellt. Dazu sind zunächst durch den behördlichen Einsatzleiter bzw. die behördliche Einsatzleiterin Einsatzleitung und Stabstellen einzurichten,94 die beratend und unterstützend in der Vorbereitung und Durchführung des (abwehrenden) Katastrophenschutzes mitwirken. Während die Aufstellung der Einsatzleitung bereits a priori festgelegt wird, setzt sich der Krisenstab je nach Situationserfordernissen aus VertreterInnen unterschiedlicher Stellen zusammen,95 wie dem Feuerwehr- und Rettungswesen, Lawinenkommissionen, Behörden, Sicherheits- und Bundespolizeidirektionen, Militärkommandos und sonstigen Diensten, wie Wachkörpern, Gesundheitsund Sozialdiensten, Baudiensten oder Infrastrukturunternehmen.96 Hinter dieser heterogenen Zusammensetzung des Stabes verdeutlicht sich, dass Katastrophenschutz (sowohl im engen als auch im weiten Sinne) in Österreich grundsätzlich zwar zentral und hierarchisch koordiniert erfolgt, aber dennoch ein heterogenes Zusammenspiel verschiedenster Akteursgruppen darstellt und sich auf mehrere Säulen stützt: Behördliche Instanzen, denen die Verantwortung für den Katastropheneinsatz obliegt, bedienen sich einer breit gefächerten Mitwirkung von Akteuren, um ihre Aufgaben angemessen zu planen und – vor allem – operativ umzusetzen. Zunächst ist die Mitwirkung der wissenschaftlichen Expertise an der Koordination des Katastropheneinsatzes vorgesehen – nicht zuletzt, um eine optimale Planungsgrundlage für die Entscheidungsfindung zu schaffen. Die Geologische Bundesanstalt (GBA) und die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) 92 So wird die Einsatzleitung vorab bestellt und über Fort- und Ausbildungsmaßnahmen, Katastrophenschutzübungen, Planspiele usw. in ihren Handlungsressourcen gefördert. Ebenso ist der infrastrukturelle Rahmen (z.B. Räumlichkeiten für die Einsatzleitung oder Warn- und Alarmsysteme) a priori vorzubereiten, um ihn im Anlassfall rasch aktivieren zu können (§3, Art. 1, Stmk. KatSG; Anl. 1, Punkt II C, KatVor; vgl. auch SKKM 2010, S. 30, 65; SKKM 2009). 93 Die Bezirkshauptmannschaft hat für Katastrophenschutzpläne der bezirksangehörigen Gemeinden, kritischen Infrastruktur und technischen Großanlagen bzw. -einrichtungen im Bezirk (z.B. Straßentunnel, Kraftwerke usw.) Sorge zu tragen (vgl. BH Liezen 2016). Dem Land Steiermark obliegen Sonderpläne und generelle Richtlinien für die Erstellung von Katastrophenschutzplänen (vgl. Land Steiermark 2016a.). Diese umfassen in der Regel Bedrohungsanalysen, Überblicke über verfügbare Ressourcen, sowie konkrete Maßnahmen und Alarmpläne für den Anlassfall (vgl. SKKM 2010, S. 60). 94 §2, KatVor; Anl. 1, Punkt II B, KatVor. 95 Anl. 1, Punkt II A, KatVor. 96 Anl. 1, Punkt I A, KatVor.
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als dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur unterstehende wissenschaftliche Dienste sind von Gesetzes wegen sogar verpflichtet, das Krisenmanagement zu unterstützen.97 Die GBA hat als »geologisches Gewissen des Landes«98 im Falle geogen bedingter Naturgefahren Gutachten und Planungsunterlagen zu erstellen, sammeln, bearbeiten und Ergebnisse und Dokumentationen evident zu halten. Damit bildet sie die Grundlagen zur Einschätzung geologischer Prozesse und ist zur Zusammenarbeit mit dem staatlichen Krisenmanagement verpflichtet.99 Die ZAMG ist zur »Bereithaltung meteorologischer und geophysikalischer Daten und Informationen für das staatliche Krisenmanagement und vergleichbare internationale Überwachungseinrichtungen hinsichtlich der Beherrschung von der Natur oder von Menschen ausgelöster Katastrophen«100 verpflichtet, wodurch sie ebenfalls zu den Grundlagen für die weitere Risikoabschätzung beiträgt. Darüber hinaus werden vermehrt auch privatwirtschaftliche Akteure im Kontext von Katastrophenereignissen berücksichtigt – und zwar nicht nur unter sicherheitspolitischen Aspekten im Bereich des Betriebes kritischer Infrastruktur und riskanter Technologien.101 Vielmehr gilt die Miteinbeziehung (privat-)wirtschaftlicher Akteure auch in der Bewältigung von Katastrophenereignissen als ein notwendiger und vielversprechender Ansatz. Denn nicht nur, dass angesichts aktueller Entwicklungstendenzen wie der (Teil-)Privatisierung grundlegender Infrastrukturleistungen die Aufrechterhaltung der Grundversorgung der Bevölkerung bei wirtschaftlichen Akteuren liegt (wobei sich der Staat kraft des bundesrechtlich verankerten Steuerungsrechts in Ausnahmefällen die Option vorbehält, intervenierend einzugreifen),102 sondern sie werden zusätzlich als Potenzial für die Bereitstellung notwendiger Mittel für die Umsetzung der Gefahren- und Katastrophenbewältigung gesehen. Folglich ist auch – je nach Situationserfordernissen – eine Beteiligung wirtschaftlicher Akteure im Krisenstab vorgesehen, um vorhandene Ressourcen optimal nutzen zu können (z.B. Dienstleistungsunternehmen wie Wachkörper, Gesundheits- und Sozialdienste, Infrastrukturunternehmen, Baudienste uvm.).103 Die Hauptlast des Einsatzes liegt schließlich bei den (ehrenamtlichen) Einsatzorganisationen als das »operative Rückgrat«104 des Katastrophenschutzes. 97 §18, Abs. 1-2; §22, Abs. 1-2, FOG. 98 GBA 2016. 99 §18, Abs. 2, FOG. 100 §22, Abs. 2 Z 9, FOG. 101 Vgl. SKKM 2010, S. 32; SKKM 2009. 102 Vgl. SKKM 2010, S. 31f. 103 Anl. 1, Punkt I A, KatVor. 104 SKKM 2009.
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Dies wird auch in den Grundprinzipien des SKKM festgehalten: »Die flächendeckende Versorgung in der Gefahrenabwehr und Katastrophenhilfe wird in hohem Maße durch die Einbeziehung ehrenamtlicher Organisationen in die öffentlichen Hilfeleistungssysteme auf Basis von Gesetzen und Satzungen, verbunden mit hauptamtlichen Einrichtungen gewährleistet.«105 Sofern es den Behörden selbst der personellen und ressourcentechnischen Ausstattung für die Umsetzung des Katastrophenschutzes ermangelt und es in Österreich keine professionalisierten Katastropheneinheiten gibt, können sie sich diverser Einsatzorganisationen (v.a. Feuerwehren und anerkannte Rettungsorganisationen106 ) bedienen, die im Katastrophenfall zu Katastrophenhilfsdiensten der Behörden werden.107 Diese Organisationen wirken auf Basis von Gesetzen und Satzungen am Katastrophenschutz mit und sind im Wesentlichen ehrenamtlich aufgebaut, worunter die »freiwillige Übernahme einer Funktion, die in einer gewissen Regelmäßigkeit für eine bestimmte Zeit unentgeltlich im Rahmen von Vereinen, Institutionen, Initiativen, Projekten u. dgl. ausgeübt wird,«108 zu verstehen ist. Katastrophenhilfsdienste sind also eine Form formellen freiwilligen Engagements. Sie sind dauerhaft angelegte, institutionalisierte Strukturen, die im Falle der Katastrophe für die konkrete Aufgabe der Katastrophenhilfe aktiviert werden können. Damit ist das »Freiwilligenprinzip […] eine der tragenden Säulen des österreichischen Katastrophenschutzes,«109 worauf wir weiter unten nochmals zurückkommen werden. Die Einsatzorganisationen des Feuerwehr- und Rettungswesens stellen nun nicht nur im Katastrophenfall der öffentlichen Hand Leistungen zur Verfügung, um deren gesetzlich verankerte Pflichten zu erfüllen. Auch im Allgemeinen obliegt die Pflicht zur Gefahrenabwehr und Rettung von Menschen der öffentlichen Hand, wobei Einsatzorganisationen als Hilfsorgane des Vollzugs dieser Pflichten fungieren. Die Einsatzorganisationen haben lediglich für den eigenen Wirkungsbereich selbst die Verantwortung zu tragen, wie die Aufrechterhaltung und Organisation der eigenen Einsatzbereitschaft (z.B. die Wartung von Einsatzgerät, Aufrechterhaltung der Handlungsressourcen von Mitgliedern in Form von Übungen oder allgemeiner Gemeinschaftspflege, Bündelung und Distribution von Kräften zur Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft)110 oder die taktisch-operative Bewerkstelligung des Einsatzes (z.B. personelle Ausstattung der Gruppenzüge). Dem105 Ebd.; SKKM 2010, S. 9. 106 In der Steiermark: Rotes Kreuz Stmk., Grünes Kreuz Stmk., Höhlenrettung, Hubschrauberrettungsdienst, Bergrettung, Wasserrettung, diverse Rettungshundestaffeln, ÖVSV Amateurfunker, Arbeiter Samariter Bund, Malteser Hospitaldienst (Land Steiermark 2016c). 107 Vgl. SKKM 2010, S. 31; ÖBVF 2016b. 108 BMASK 2015, S. 3. 109 SKKM 2010, S. 31. 110 §2, Abs. 1-4, StFWG; §2, Abs. 1, StRDG.
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entsprechend haben sich für die Zwecke der Bewerkstelligung überörtlicher Katastrophenfälle bzw. Großschadenslagen im Feuerwehr- und Rettungswesen auch eigens dafür aufgestellte, standardisierte Einheiten entwickelt.111 Während also die Einsatzorganisationen die Verantwortung im eigenen Wirkungsbereich selbst tragen, bleibt die eigentliche Verantwortung für die Umsetzung der Feuer- und Gefahrenpolizei, der Rettung von Menschen und des Katastrophenschutzes bei den zuständigen Behörden. Diese partnerschaftliche Beziehung in der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben spiegelt sich nun in der »staatlichen Verantwortung« für die Finanzierung der flächendeckenden Versorgung mit Leistungen ehrenamtlicher Organisationen wider. So haben die Gemeinden einen jährlichen Rettungsbeitrag (mit Stand 2016 in etwa 9 Euro pro Einwohner) für die Aufrechterhaltung des allgemeinen Rettungsdienstes und das Land einen jährlichen Rettungsbeitrag (entsprechend der Gesamtrettungsbeiträge der Gemeinden) für die Aufrechterhaltung des überörtlichen allgemeinen Rettungsdienstes sowie der speziellen Rettungsdienste zu entrichten.112 Und auch im Bereich des Feuerwehrwesens werden die Kosten für die Beschaffung und Instandhaltung der notwendigen Infrastruktur und Ressourcen, die für die Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit notwendig sind, sowie die Kosten für Einsätze und Verwaltung und die durch Eigeneinnahmen nicht abdeckbaren Kosten für die Verbände primär von den zuständigen Gemeinden (bzw. bei Berufsfeuerwehren von Städten und bei 111 z.B. im Feuerwehrwesen durch Bereichsverbände organisierte, standardisierte »KHDEinheiten« (§14-15, StFWG), die sich aus bestehenden materiellen und personellen Ressourcen der Feuerwehren bündeln, wobei Sorge getragen wird, die Einsatzfähigkeit einzelner Feuerwehren nicht zu schwächen. Diese KHD-Einheiten übernehmen auf Anforderung der zuständigen Behörde hin Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der Abwehr von Katastrophen im überörtlichen Bereich, stellen die Einsatzreserve bei Großeinsätzen, oder übernehmen Sonderdienste auf Grund ihrer fachlichen und ressourcentechnischen Aufstellung (vgl. ÖBFV 2016b; LFV 2016; BFVLi 2016). Ähnliche Strukturen haben sich auch im Bereich der Rettungsdienste herausgebildet. So verfügt beispielsweise das Österreichische Rote Kreuz über standardisierte Hilfseinheiten für Katastrophenfälle und Großunfälle, die jederzeit für Einsätze (innerhalb oder außerhalb von Österreich) abrufbereit sind (vgl. ÖRK 2016b; SKKM 2010, S. 78). Diese Rotkreuz-Hilfseinheiten (RKHE) übernehmen dabei wesentliche Aufgaben im Bereich der Suche und Rettung von Menschen (Suchhundestaffeln, Sanitätshilfestellen zur medizinischen Versorgung vor Ort inkl. mobiler Sanitätsteams, medizinische Großunfallsets zur Versorgung einer hohen Anzahl an Patienten unter Zeitknappheit usw.) sowie deren Lagerung oder Unterbringung und Versorgung (so stehen Feldküchen und Trinkwasseraufbereitungssets zur Verpflegung, ein breiter Bestand an Feldbetten, Decken, Zelte usw. zur Unterbringung, sowie die Schaffung von notwendigen Rahmenbedingungen wie Notstromaggregate zur Stromversorgung, insbesondere mobile Beleuchtung und Heizanlagen sowie Strukturen zur psychosozialen Betreuung zur Verfügung (vgl. ÖRK 2016a). 112 §11, Abs. 1-3, StRDG.
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Betriebsfeuerwehren von Betrieben) getragen.113 Dabei sind die Einsatzorganisationen zwar dazu angehalten, sich im Bereich des Möglichen an der Finanzierung zu beteiligen (z.B. über Spendenakquise), allerdings – und das ist der wesentliche Aspekt – wird der Großteil der Kosten aus der öffentlichen Hand finanziert (Feuerwehrbudget der Gemeinden, Länder usw.). Damit werden die Durchführung und die praktische Umsetzung der Gefahrenabwehr und Rettung von Menschen durch das Ehrenamt getragen, doch die dazu notwendigen Strukturen werden im Wesentlichen von Staats wegen organisiert bzw. gefördert und unterstützt. Darüber hinaus kann die zuständige Katastrophenschutzbehörde auch militärische Assistenzleistungen des Österreichischen Bundesheeres anfordern. Dabei steht diese Möglichkeit prinzipiell allen Behörden offen: »Zur Heranziehung des Bundesheeres zu Assistenzeinsätzen sind alle Behörden und Organe des Bundes, der Länder und Gemeinden innerhalb ihres jeweiligen Wirkungsbereiches berechtigt.«114 Denn jenseits der militärischen Landesverteidigung obliegen dem Bundesheer auch Aufgaben wie »der Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeiten und der demokratischen Freiheiten der Einwohner sowie die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Inneren überhaupt«115 sowie »die Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges.«116 Dabei wird das Bundesheer nicht von sich aus tätig, sondern nur im Falle der Inanspruchnahme der Mitwirkung durch eine gesetzmäßige Zivilgewalt und nur in Form von Assistenzeinsätzen für Aufgaben, die ohne ein Mitwirken des Bundesheeres nicht erfüllt werden können. Es zeigt sich also auch hier wiederum eine tiefe Verankerung des Subsidiaritätsprinzips.117 Das Österreichische Bundesheer, Feuerwehren und Rettungsorganisationen rücken also als wesentliche Akteure der Katastrophenhilfe auf das Feld. Die Anforderung und Koordination von Einsatzorganisationen und der militärischen Assistenz obliegt allerdings dennoch der zuständigen Katastrophenschutzbehörde: Sowohl militärische Assistenztruppen als auch Katastrophenhilfsdienste sind der behördlichen Einsatzleitung unterstellt,118 womit das Prinzip der hierarchischen Koordination und zentralen Regulierung im Katastrophenschutz deutlich hervortritt. Auch wenn die Einsatzorganisationen im Anlassfall unter Drohung unmittelbarer Gefahr auch ohne Weisung selbstständig Maßnahmen zu treffen haben, die Hauptlast des Einsatzes bei der taktisch-operativen Einsatzleitung liegt, Entscheidungen im innerdienstlichen Bereich (z.B. der Einsatz konkreter Personen für spezifische Aufgaben) von den Einsatzorganisationen zu verantworten 113 114 115 116 117 118
§36, Abs. 1, StFWG. §2, Art. 5, WG; vgl. auch SKKM 2010, S. 9; SKKM 2009. §2, 1b, WG. §2, 1c, WG. §2, Art. 5, WG 2001; vgl. SKKM 2010, S. 85f. §5, Art. 1-2, Stmk. KatSG.
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sind und die Katastrophenschutzbehörde auch die Option hat, Entscheidungen zu delegieren, obliegt die grundsätzliche Verantwortung für die Setzung von Maßnahmen und deren Ausgestaltung den Behörden.119 Neben der Koordination des operativen Katastropheneinsatzes obliegt den behördlichen Stellen auch die Gestaltung der (Informations-)Schnittstelle zur betroffenen und breiteren Bevölkerung. Es gilt eben nicht nur, wie weiter oben erläutert, ein allgemeines Bewusstsein für Risiken und Gefahren zu schaffen und Handlungskompetenzen zu vermitteln, sondern auch zeitnah eine angemessene Informationsbasis zu liefern, auf deren Grundlage Risiken und Gefahren angemessen gedeutet werden können, um ihnen gegenüber angemessen zu handeln. Im Zuge der Etablierung neuer Medien und Kommunikationstechnologien hat sich eine Bandbreite an möglichen Kanälen zur Risikokommunikation entwickelt,120 wobei der Großteil dieser Angebote zumeist (unverbindliche) Informationsplattformen darstellt, auf denen BürgerInnen Informationen über Risiken und Gefahrensituationen bereitgestellt werden, es allerdings deren eigenem Ermessen obliegt, diese Informationen einzuholen. Manifestiert sich schließlich ein erhöhtes Risiko in einer Katastrophe, obliegt es kraft Stmk. Katastrophenschutzgesetzes den zuständigen Behörden, die Bevölkerung ausreichend zu informieren: Die Holschuld der Bevölkerung wird sozusagen in eine Bringschuld staatlicherseits transformiert. Es gilt, der Bevölkerung Informationen bereitzustellen, sie gegebenenfalls zu warnen und bei Zuspitzung der Lage zu alarmieren: »Die für den Katastrophenschutz zuständige Behörde hat die Öffentlichkeit über den Eintritt einer Katastrophe unverzüglich durch geeignete Maßnahmen zu informieren und über allenfalls erforderliche Maßnahmen zum Selbstschutz in Kenntnis zu setzen.«121 Die Bereitstellung von Informationen entgegnet dabei auch einem fundamentalen Bedürfnis der Betroffenen: Die durch äußerste Kontingenz geprägte Katastrophensituation löst im Individuum ein Streben 119 Vgl. SKKM 2010, S. 54f. 120 Online-Portale für Wetterwarnungen (z.B. ZAMG), Lawinenwarnungen (z.B. LWD), Wasserstandinformationsseiten (z.B. hydrographischer Dienst), Strahlenschutz (BWZ) uvm. stellen eine breite Informationsbasis angesichts risiko- und gefahrenbehafteter Situationen zur Verfügung. Zum Teil ist gesetzlich sogar eine Informationspflicht verankert, wie im Falle von Industrieunfällen oder auch im Falle der Landesverpflichtung zur Bereitstellung von hydrographischen Informationen, wofür sich das Land des hydrographischen Dienstes bedient, welcher unter anderem eben Hochwasserprognosen und -berichte erstellt und daran angelehnt einen Hochwassernachrichtendienst betreibt (vgl. Land Steiermark 2016d) »Nach dem Wasserrechtsgesetz WRG §59i (1b) hat der Landeshauptmann ohne das [sic!] daraus jemandem ein Recht erwächst für die Verbreitung von hydrografischen Nachrichten insoweit zu sorgen, als dies für […] die Abwehr von Gefahren für Leben und Eigentum notwendig ist« (Land Steiermark 2016g). 121 §4, Stmk. KatSG; vgl. auch SKKM 2010, S. 66.
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nach Informationen aus, um das Geschehene verstehen und die Situation subjektiv bewältigen zu können.122 Für die Information der Bevölkerung sowie der Alarmierung der Hilfsdienste123 hat sich in Österreich ein flächendeckendes Warn- und Alarmsystem etabliert, dessen Relevanz bundesrechtlich festgehalten ist, soweit die »Notwendigkeit […] eines bundesweiten Warn- und Alarmsystems für die unverzügliche und gezielte Warnung und Alarmierung der Bevölkerung und der Hilfsdienste in Katastrophen- und Krisenfällen«124 anerkannt wird. Dabei ist dafür Sorge zu tragen, dass mindestens 60 % der Bevölkerung einer Gemeinde unmittelbar über akustische Warnsignale erreicht werden können, die durch jede Ebene (Bund, Land, Bezirk, Region, Abschnitt) auslösbar bzw. aktivierbar sind.125 Die Finanzierung dieses »vom Bund, von den Ländern und von den Gemeinden gemeinsam zu errichtendes und zu betreibendes Warn- und Alarmsystem«126 erfolgt wiederum aus Mitteln der öffentlichen Hand – namentlich des Katastrophenfonds – die (abzgl. eines Bundesanteils von 5 %) gemäß Volkszahl und Gebietsfläche aufgeteilt werden.127 Überdies wurden von Staats wegen permanent besetzte Informationsdrehscheiben implementiert – auf Landesebene die Landeswarnzentrale (LWZ) und auf Bundesebene die Bundeswarnzentrale (BWZ) (seit 2006 ins EKC des BMI eingegliedert) – die neben der Verantwortung für die Aufrechterhaltung und Wartung des gemeinsamen Warn- und Alarmsystems von Bund und Ländern auch im Anlassfall als Informations- und Koordinationsplattformen zentrale Aufgaben wahrnehmen. Während das BWZ ursprünglich mit der Überwachung des Strahlenfrühwarnsystems betraut war, fungiert sie mittlerweile als permanent besetzte Bundes-Informationsdrehscheibe und als Anlauf- und Kontaktstelle vor allem für Partner wie Bundesländer, Nachbarstaaten, EU oder internationale Organisationen in Fragen des Krisen- und Katastrophenschutzes, aber auch als Koordinationsstelle für die Hilfeleistung bei – vor allem überregionalen und internationalen – Großschadensereignissen und Katastrophen und als Informationsdrehscheibe der oben erläuterten SKKM-Strukturen.128 Demgegenüber fungiert die LWZ zunächst als regionale Kontaktstelle für Hilfsorganisationen und damit als Koordinations- und Einsatzleitstelle von Katastrophenhilfsdiensten sowie als wesentliche Informationsschnittstelle zur Bevölkerung, indem ihr (auch) die Warnung und Alarmierung der Bevölkerung obliegt und sie in Notfällen als 122 123 124 125 126 127 128
Vgl. Rost 2014, S. 178; S. 159. §3, Art. 1, Stmk. KatSG; vgl. auch SKKM 2010, S. 30. Präambel, Warn- und Alarmsystem (Bund – Länder). Anlage A, Abs. 1-4, Warn- und Alarmsystem (Bund und Länder). Anlage A, Abs. 1, Warn- und Alarmsystem (Bund und Länder). Art. 4, Warn- und Alarmsystem (Bund und Länder). Vgl. BMI 2016c.
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Service- und Informationszentrale Informationen nicht nur entgegennimmt, sondern auch angemessen aufbereitet und den Erfordernissen entsprechend verteilt. Letztlich fungiert sie als vermittelnde Instanz, als eine Art Platzeinweiserin am Katastrophenschauplatz: »Grundsätzlich werden jene, die Hilfe brauchen mit denen, die Hilfe geben können, zusammengebracht.«129 Darüber hinaus bedient sich der Staat in der Erfüllung seiner Informationspflicht auch Nachrichtendiensten (ausgenommen militärischer Nachrichtendienste), die als vielversprechende Kanäle der Informationsdistribution von Gesetzes wegen verpflichtet sind, Katastrophenmeldungen weiterzuleiten.130 Darin zeigt sich ein weiteres Mal die Logik der Nutzung vorhandener Ressourcen auch aus dem privatwirtschaftlichen Bereich. Wenngleich nun das etablierte System des Informationsmanagements relativ niederschwellig zu sein scheint, ist es dennoch nicht krisensicher. Zum einen ist es niemals vor einem Ausfall der Informationskanäle gefeit (so gehen mit Katastrophensituationen zumeist auch Unterbrechungen der Infrastruktur, z.B. der Stromversorgung, einher) und zum anderen können nicht alle Bevölkerungsgruppen mit denselben Kanälen erreicht werden (selbst die akustischen Warnsignale erreichen zielgemäß nur 60 % der Bevölkerung). Dementsprechend ist das bestehende System durch weitere Kanäle und ergänzende Angebote zu erweitern, sowie im Katastrophenfall häufig ad-hoc Informationskanäle erforderlich sind (z.B. Meldesammelstellen, Kommunikationsschnittstellen zwischen behördlicher Einsatzleitung und Bevölkerung, persönliche Melder oder Lautsprecherdurchsagen). Ohnehin gestaltet sich aber die Frage adäquater Warn- und Alarmsysteme und der Risikokommunikation komplexer als die Etablierung einer möglichst flächendeckenden Infrastruktur der Informationsübertragung. Der Erfolg einer Warnung wird nicht durch ein zuverlässiges Vorhersagesystem und Risikoanalysen für eine korrekte und rechtzeitig erfolgende Warnung, die auf Grund stabiler und flächendeckender Informationsdistributionssysteme möglichst viele Menschen erreicht, entschieden. Vielmehr ist die Wirkung der Warnung, mithin: die Umsetzung der Warnung in angemessenes Handeln, ausschlaggebend.131 Selbst wenn alle Betroffenen erreicht werden, kann die Warnung auf verschiedene Weisen wirken. Es bedarf dementsprechend auch eines fruchtbaren Kontexts, in dem Informationen entsprechend aufgenommen und ausgedeutet werden können. Denn eine Risikoinformation oder Warnung ist niemals eine isolierte Praxis: Der Vorlauf ist für den Aufbau von Vertrauen in die mit der (Früh-)Warnung beauftragten Stellen wesentlich und die Warnung damit ein Element in einem langfristigen Dialog zwischen Zivilbevölkerung und Staat im Entferntesten. Sie stellt 129 Vgl. Land Steiermark 2016b. 130 §9, Art. 2, Stmk. KatSG. 131 Vgl. Kunz-Plapp 2008, S. 219.
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sich nicht in Form eines mechanischen Sender-Empfänger-Modells dar, in dem die passive Öffentlichkeit top-down Signale unadaptiert übernimmt. Vielmehr sind es aktive RezipientInnen, die nicht nur über unterschiedliche Kanäle (nicht) erreichbar, sondern auch eingebettet in unterschiedliche (sub)kulturelle Kontexte sind, in denen Informationen unterschiedliche Bedeutungen erlangen: »Warnungen vollziehen sich ›innerhalb gesellschaftlich konstituierter, aber individuell vollzogener Definitionsprozesse.‹«132 So verweisen bereits frühe Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung zum einen auf zahlreiche Paradoxien im Kontext einer in hierarchischen Bahnen verlaufenden Risikokommunikation,133 die unsensibel gegenüber Fragen wie der Risikodefinition und -bewertung, möglichen Missverständnissen, Verteilungswirkungen oder vertrauensbasierten Verzerrungen sind. Und zum anderen darauf, dass selbst die »objektiven« Risiken als Inhalt der Warnung offen für Definitionsprozesse sind, mithin: sozial ausgehandelt werden, durch Filter der subjektiven Wahrnehmung und Ausdeutung fließen und dementsprechend das »subjektive« Risiko als Grundlage individuellen Handelns vom kommunizierten, »objektiven« Risiko drastisch abweichen kann.134 Dementsprechend sind es auch nicht nur die staatlich bereitgestellten Informationshotspots oder Medien, die als »Quellen von Information aus Bereichen, die aktuell nicht selbst erfahren werden können,«135 als Lieferanten von Beobachtungsinformationen und potenziellen Warnungen dienen,136 sondern es offenbart sich in der Katastrophe vor allem auch die Relevanz informeller und persönlicher Netzwerke: So kommt es in der Katastrophe angesichts des Informationsbedürfnisses zum einen schon zu einem verstärkten Streben nach persönlicher Kommunikation und Austausch, der zum anderen angesichts der sich manifestierenden, durch steigendes Misstrauen geprägten Experten-Laien-Konstellation und den damit einhergehenden Interessensdivergenzen stärkere Orientierungskraft für die Betroffenen zukommt. Gerade auch deshalb sind informelle Netzwerke in der Risikokommunikation zu berücksichtigen.137 Umso überraschender erscheint es, dass informelle Netzwerke als potenziell nutzbare Informationskanäle nach wie vor kaum Berück132 Ebd., S. 221 133 Vgl. Otway/Wynne (1993) am Beispiel von technologischen Risiken. 134 Vgl. Jungermann/Slovic (1993). Die Wahrnehmung von potenziellen Schäden, der Eintrittswahrscheinlichkeit, Katastrophenpotenzial, Signalwirkung, persönliche Betroffenheit, Freiwilligkeit der Übernahme, Kontrollmöglichkeiten und Verantwortlichkeit überformen ein »tatsächlich« bestehendes Risiko und begründen ein paradoxes, subjektives Risikokonzept: »The risks that kill you are not necessarily the risks that anger and frighten you« (Sandmann 1987, nach Jungermann/Slovic 1993, S. 80). 135 Rost 2014, S. 161. 136 Quarantelli 1994, S. 32. 137 Vgl. Rost 2014, S. 160f.
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sichtigung im offiziellen Informationsmanagement finden,138 sondern teils sogar unterbunden werden. Damit ist die öffentliche Risikokommunikation – sei die ihr zu Grunde liegende Vorhersage noch so exakt und zuverlässig (wobei selbst die durch die Vorhersagesysteme und Expertise erfassten Risiken bereits einen soziokulturellen Filter durchlaufen) – niemals ein Garant dafür, dass Individuen diese Risiken als ernsthafte Bedrohung wahrnehmen. Die erfolgte Warnung kann einerseits auf die Bevölkerung sensibilisierend wirken und die Einleitung notwendiger Schutzmaßnahmen bewirken, andererseits kann sie aber auch in das »Denkschema der latenten Nebenfolge: Vielleicht passiert ja nichts – oder erst später«139 führen. Dabei können insbesondere Fehlwarnungen die Sensibilitätsschwelle der Bevölkerung anheben und das Vertrauen in die öffentlich kommunizierten Warnungen unterminieren. Dabei findet sich ein zentrales Dilemma darin, dass sich doch gerade eine erfolgreiche Warnung (korrekt, rechtzeitig, und resultierend in adäquate Schutzund Abwehrmaßnahmen) im Ausbleiben der Katastrophe äußert: »Gewarnt wird vor dem Bedrohlichen, das kommen mag; aus dem Geschehenen kann, wer sehen will, lernen.«140 Gerade vor dem Hintergrund dieser Paradoxien der Risikokommunikation ist es auch notwendig, in der Bevölkerung nicht nur Bewusstsein für das, was durch das (Früh)Warn- und Vorhersagesystem erfasst werden kann, zu schaffen, sondern auch für das potenziell Ausgeblendete, für das, was eben nicht erfasst werden kann. Es gilt, Bewusstsein für das »Kontrollierbare als auch (gerade) [für] das Unkontrollierbare,«141 für die Grenzen des hierarchisch koordinierten Informationsmanagements zu schaffen. Es muss ein fruchtbarer Kontext geschaffen werden, in dem Warnungen von den RezipientInnen adäquat aufgenommen werden können und um den Gefahren gegenüber verantwortungsbewusst und angemessen handeln zu können. Am Beispiel des Informationsmanagements zeigen sich damit auch die Grenzen der staatlichen Koordination und damit ihre prinzipielle Begrenztheit. Koordinationsmechanismen gehen an sich mit einer je spezifischen Logik und spezifischen Vor- und Nachteilen einher, weshalb sie in ihrer Funktionsweise, in ihrer Einbettung in einen Kontext und in ihrem Zusammenwirken zu erfassen sind.142 Schließlich verdeutlicht sich die Relevanz des Staates als primärer Koordinationsmechanismus im Katastrophenschutz, wie bereits im präventiven Bereich, auch (und vor allem) in der Finanzierung. Denn es ist nicht nur die Verantwortung für den Vollzug des Stmk. Katastrophenschutzgesetzes, sondern auch die daraus erwachsenden Kosten sind von der öffentlichen Hand zu tragen. Dabei stammen die 138 Kunz-Plapp 2008, S. 220f. 139 Müller/Clausen 1993, S. 122. 140 Ebd., S. 121. 141 Ebd., S. 122. 142 Vgl. Hollingsworth/Boyer 1997, S. 14.
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Mittel für den Katastrophenschutz im Allgemeinen aus unterschiedlichen Budgettöpfen und sind dementsprechend nur schwer zuweisbar. Die Hauptlast für die Kosten der Durchführung der praktischen Katastrophenbewältigung sind allerdings – abgesehen von den Kosten, die den Gemeinden aus Aufgaben im eigenen Wirkungsbereich erwachsen143 – primär vom Land zu tragen.144 Darüber hinaus ist eine Finanzierung von Maßnahmen des Katastrophenschutzes durch den Bund punktuell dort möglich, wo eigens dafür vorgesehene Finanzinstrumente zur Verfügung stehen (wie der oben umrissene Katastrophenfonds) sowie für Katastrophen, die ein Schadensausmaß von 3 Mrd. Euro oder 0,6 % des BIP übersteigen, Mittel aus dem Solidaritätsfonds der EU beantragt werden können.145 Vor dem Hintergrund der heterogenen und nicht (immer) unmittelbar ausgewiesenen Finanzquellen für Maßnahmen des Katastrophenschutzes ist auch hier wiederum der Katastrophenfonds als eigens für Maßnahmen des Katastrophenschutzes angelegtes Finanzinstrument des Bundes146 für unsere Überlegungen von besonderem Interesse. Während der schwerpunktmäßige Anteil, wie weiter oben erläutert wurde, zwar in der Prävention fließt, werden dennoch auch für die unmittelbare Bewältigung von Schäden am Eigentum von Gebietskörperschaften und Privatpersonen sowie für unmittelbare Vorbereitungsmaßnahmen, wie z.B. das Warn- und Alarmsystem, Mittel bereitgestellt.147 Dabei lagen allein die ausgezahlten Mittel aus dem Katastrophenfonds für die Beseitigung außergewöhnlicher Schäden im Eigentum von Privatpersonen im Jahr 2013 (dem Folgejahr nach dem Murenabgang in St. Lorenzen) bei ca. 63,4 Mio. Euro. (2012: 12,3 Mio. Euro), bei 7,8 Mio. Euro für Schäden im Bundesvermögen (2012: 2,2 Mio. Euro), bei 11,8 Mio. Euro für Schäden im Landesvermögen (2012 5,1 Mio.) und bei 34,4 Mio. Euro für Schäden im Gemeindevermögen (2012: 11,8 Mio. Euro).148 Wie in der Prävention steigt auch hier der Mitteleinsatz nach besonders ereignisreichen Jahren drastisch an – einerseits auf Grund des tatsächlich bestehenden Schadensausmaßes und der damit einhergehenden Bedarfslage, andererseits ist auch hier davon auszugehen, dass Katastrophen für EntscheidungsträgerInnen eine besondere Plattform für die Demonstration von Entschlossenheit bieten. Die öffentliche Hand erscheint also nicht nur als Finanzier vorbeugender Maßnahmen, sondern fördert auch unmittelbar vorbereitende Maßnahmen sowie Maßnahmen der Schadensbewältigung. So werden nicht nur Schäden am 143 Der eigene Wirkungsbereich bezieht sich auf die Abwehr und Bekämpfung von Katastrophen, die sich auf das eigene Gemeindegebiet beschränken und mit eigenen Mitteln bekämpft werden können (§16, Stmk. KatSG). 144 §14, Art. 1-2, Stmk. KatSG. 145 Vgl. SKKM 2010, S. 106. 146 Vgl. SKKM 2009. 147 §3, Abs. 1-4, KatFG. 148 Vgl. BMF 2016.
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öffentlichen Eigentum durch Katastrophenfondsmittel gedeckt, sondern auch der Wiederaufbau bzw. die Bewältigung von Schäden im Eigentum von Privatpersonen wird staatlich unterstützt, etwa über die Gewährung von Beihilfen für nicht versicherte Schäden (je nach sozialer Lage max. 20-50 %, wovon 60 % durch Mittel aus dem Katastrophenfonds gedeckt werden) oder weitere Begünstigungen wie die steuerliche Absetzbarkeit von Katastrophenschäden.149 Das individuelle Katastrophenrisiko wird also tendenziell auf das Kollektiv umgemünzt. Dabei werden allerdings, wie für sozialstaatliche Leistungen an sich charakteristisch, Kriterien festgelegt, unter denen die jeweiligen Mittel in Anspruch genommen werden können, wie etwa das Vorliegen von der Katastrophe zurechenbaren Schäden. Damit wird jedoch die (zwangsläufig) selektive Logik der Evaluierung von Katastrophenauswirkungen problematisch. Zum einen können Katastrophen auf Grund ihrer hohen Komplexität ohnehin nicht vollständig erfasst werden und eine Quantifizierung der Schäden (insbesondere Langfrist-Folgeschäden) ist nur äußerst schwer bis unmöglich zu bewerkstelligen. Zum anderen erfolgt die Schadenserhebung bzw. Evaluierung von Katastrophenschäden zumeist durch Versicherungen oder öffentliche Einrichtungen (so ist etwa in Österreich unter anderem die WLV für die Dokumentation von Schadensereignissen und die Erstellung von Sachverständigengutachten [mit] zuständig).150 Die zuständigen Instanzen legen fest, was der Katastrophe angerechnet wird und damit in den Zuständigkeitsbereich des Katastrophenschutzes fällt – und vielmehr: was nicht. Folgewirkungen, die nicht in die Schadenskategorisierung der zuständigen Instanzen hineinfallen, werden damit externalisiert.151 Damit macht diese Abgrenzung eben nicht nur einen Unterschied auf symbolischer Ebene, sondern wird Grundlage für die Verteilung von Ressourcen, womit unmittelbar Interessens- und Machtverhältnisse tangiert werden.
5.4.2.
(Markt-)Individualismus in der Katastrophe: Komplementarität und Richtungswechsel am Beispiel der Versicherungen
Während also das Gros der Katastrophenbewältigung, deren Vorbereitung, langfristig vorbeugende Maßnahmen sowie Schäden im öffentlichen Eigentum primär durch die öffentliche Hand gestemmt werden, gewinnen in der Finanzierung konkreter Schäden im Eigentum von Privatpersonen auch Versicherungsleistungen – und damit marktvermittelte Lösungen – zunehmend Relevanz im öffentlichen Diskurs und sind folglich zu berücksichtigen. Allerdings verdeutlicht sich auch hier 149 Vgl. SKKM 2010, S. 106. 150 Vgl. BMLFUW 2015, S. 12f. 151 Vgl. Müller/Clausen 1993, S. 123f.
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wiederum die Rolle des Staates als primärer Koordinationsmechanismus im österreichischen Katastrophenschutz. Denn neben der direkten Bereitstellung von Katastrophenschutz setzt er auch den Rahmen für andere Koordinationsmechanismen – in diesem Fall den Markt: »It is the state that sanctions and regulates the various nonstate coordinating mechanisms, that is the ultimate enforcer of rules of the various mechanisms.«152 Dabei werden Versicherungsleistungen aktuell tendenziell komplementär zu den öffentlichen Beihilfen in der Schadensbewältigung konzipiert. So sind beispielsweise Beihilfen aus dem Katastrophenfonds auf nicht versicherte Schäden beschränkt (20-50 % der Schadenshöhe, wovon bis zu 60 % vom Katastrophenfonds gedeckt werden153 ), sowie witterungsbedingte land- und forstwirtschaftliche Schäden, die an sich versicherbar wären, nicht anzuerkennen (dabei ist zur Versicherbarkeit Stellung zu nehmen).154 Wenngleich dies zwar auch als Strategie bzw. »Schutzmechanismus« gegen eine mögliche Bereicherung auf Kosten des Kollektivs zu sehen ist, kann gerade über diese »Reduktion« des Zusatznutzens aus einer möglichen Naturgefahrenversicherung Trittbrettfahrerverhalten befördert werden. Solange das Individuum sich darauf verlassen kann, dass Schäden ohnehin durch das Kollektiv gedeckt werden, es sich also von den Kosten sich manifestierender Risiken distanzieren kann, fallen die Anreize für individuelle, marktkoordinierte Lösungen tendenziell geringer aus. Demgegenüber werden von Staats wegen aber auch Anreize für die Versicherung von Naturgefahren gesetzt, wie sich z.B. anhand der Förderung von Prämien aus Hagelversicherungen aus Mitteln des Katastrophenfonds zeigt.155 Überdies fügt sich hier auch die sich in den letzten Jahren verstärkende Debatte über eine mögliche Pflichtversicherung von Naturgefahren ein. Insbesondere seitens der Versicherungsgesellschaften wird angesichts tendenziell steigender Katastrophenschäden auf die Notwendigkeit eines rechtlichen Rahmens für eine flächendeckende Katastrophen(pflicht)versicherung insistiert, sofern eine langfristige »Kostentragung der Naturkatastrophen-Schäden ohne Versicherungslösung tatsächlich nur schwer finanzierbar – und für den Staat budgetär schwer planbar«156 sei. Angesichts dieser tendenziellen Zunahme von Katastrophenschäden drohe das aktuelle System in eine Überstrapazierung der öffentlichen Hand zu führen, während sich bestehende Versicherungslösungen in Nachbarländern durch ihren Vorbildcharakter auszeichneten.157 152 153 154 155 156 157
Hollingsworth/Boyer 1997, S. 13. Vgl. SKKM 2010, S. 106. §3. Abs. 3a, KatFG. §3, Abs. 4d, KatFG. VVO 2014. Vgl. ebd.; Uniqa 2014.
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Dem kann entgegengehalten werden, dass sich angesichts des marginalen Anteils der Ausgaben für die Gewährung von Beihilfen in der Bewältigung von Schäden im Vermögen von Privatpersonen (so sind 4,21 % v.H. der Katastrophenfondsmittel für diese Zwecke vorgesehen, zzgl. Aufstockungsbeträge oder Sonderausgaben für außergewöhnliche Erfordernisse nach besonders katastrophenträchtigen Ereignissen) die Frage stellt, ob das Argument der »Überstrapazierung der öffentlichen Hand« überhaupt zu halten ist. Die Debatte über eine mögliche Pflichtversicherung kann vielmehr auch als Ausdruck einer generellen Entwicklungstendenz weg von einem – angelehnt an Schubert (2016) – »koordinierten« Modell hin zu einem stärker marktvermittelten bzw. »liberalen« Modell interpretiert werden.
5.4.3.
Gemeinschaft in der Katastrophe: Solidarität und das Freiwilligenprinzip
Angesichts der Katastrophe findet sich nun auch eine Vielzahl an gemeinschaftlich motivierten Hilfsleistungen, wie finanzielle Zuwendungen Privater, Walk-involunteering, Nachbarschaftshilfe oder ehrenamtliches Engagement. Dabei verzeichnete die Katastrophenforschung bereits in den 60er Jahren ein »flourishing of acts of solidarity in disaster situations.«158 Angesichts der Katastrophe ist demnach eher mit dem Aufkeimen solidarisch motivierter Handlungen zu rechnen, als mit der bis dato dominanten Vorstellung von destruktiven, kollektiven Handlungen. Die Katastrophe mobilisiert demnach tendenziell Solidarität, Hilfsbereitschaft und altruistische Gefühle und Verhaltensweisen. Sie wird zum Katalysator von Solidarität und Miteinander in Gesellschaften – und wirkt regelrecht als soziales »Bindemittel.«159 Dabei soll nicht behauptet werden, die »Gemeinschaft« würde vorab nicht bestehen. Die Katastrophe kann diese aber tendenziell verstärken oder gar erst verdeutlichen: Katastrophen sind »Knotenpunkte einer gesellschaftlichen Entwicklung, an denen sichtbar wird, was sonst verborgen bleibt.«160 Der gestiegene Zusammenhalt angesichts der Katastrophe ist dabei vor allem auch vor dem Hintergrund dessen zu sehen, dass das Individuum die Katastrophe (als extrem beschleunigter und vernetzter Wandel) in Form von (extremer) Kontingenz erlebt. Um diese Situation zu bewältigen, strebt es danach, das Geschehene zu verstehen. Angesichts des gesteigerten Informationsbedürfnisses kommt persönlich übermittelten Informationen und damit informellen Netzwerken eine besondere Relevanz zu: Das Individuum strebt nach persönlicher Kommunikation und persönlichem Austausch. Alleine die geteilte Aufmerksamkeit auf eine gemeinsame Problemlage, einen gemeinsamen Fokus, kann unter Fremden bereits Em158 Furedi 2007, S. 483. 159 Döring 2003, S. 306. 160 Prisching 2006, S. 9.
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pathie stiften, die im Alltag sonst ausbleibt.161 Verlaufen überdies die Ausdeutungen des fokussierten Sachverhalts auch noch gleichförmig bzw. entlang desselben Deutungsmusters, erfahren Individuen Resonanz und fühlen sich verstanden.162 Die Katastrophe stiftet dann sozusagen eine »Schicksalsgemeinschaft«, die letztlich auch handlungswirksam wird (bzw. werden kann). Um die Logik gemeinschaftlich koordinierten Handelns im Katastrophenschutz zu erfassen, bedarf es aber einer differenzierteren Betrachtung. Für Hollingsworth und Boyer (1997) stellt gemeinschaftlich koordiniertes Handeln zunächst einen freiwilligen Austausch auf Basis von Solidarität und Vertrauen dar. Dabei ist die Zugehörigkeit zur »Gemeinschaft« informell und über die Zeit gewachsen, wobei die individuelle Einbindung auf Basis von sozialen Erwartungen sowie Reziprozität und dem Kennen anderer Gemeinschaftsmitglieder erfolgt.163 Durch die Koppelung an das Kennen anderer scheint diese Konzeption allerdings gemeinschaftlich organisiertes Handeln auf eine fragmentierte Solidarität (z.B. entlang von Sippen, Gruppen, Bekanntschaftsnetzwerken etc.) zu verkürzen und damit andere Formen solidarischen, gemeinschaftlich orientierten Handelns, z.B. freiwillige Spenden, Walk-in-volunteers oder formelles Engagement, zu vernachlässigen, ebenso wie damit ausgeblendet wird, dass die Beteiligung in der Katastrophenbewältigung Reziprozität und Gemeinschaft erst stiften kann, ihr sozusagen vorgelagert sein kann. Es bedarf also eines breiteren Konzepts von Gemeinschaft. So ist der kleinste gemeinsame Nenner der auf Gemeinschaft basierenden »Ordnungen« »[d]ie Wahrnehmung, dass andere Akteure ein beiderseitig als relevant erachtetes gemeinsames Merkmal aufweisen und dass man selbst dieses Merkmal ebenfalls aufweist,«164 gleich worin dieses Merkmal besteht – sei es eine gemeinsame Sippenzugehörigkeit oder eine »Schicksalsgemeinschaft« oder gemeinsam empfundene Betroffenheit (sei dies physischer Art oder auch auf Basis von Mitgefühl). Daraus ergibt sich eine »spontane soziale Ordnung,«165 die Grundlage der Handlungsausrichtung werden kann. Als spontane soziale Ordnung ist der Gemeinschaft allerdings zunächst eine geringe Bindungskraft und Fähigkeit zur Entscheidungsfindung inhärent. Um diese Schwäche auszugleichen, »gerinnen« Gemeinschaften häufig zu Organisationen oder Netzwerken, wobei diese in weiterer Folge zwar das Zentrum der Gemeinschaft, allerdings nicht die Gemeinschaft als solche ausmachen.166 Ähnlich argumentieren Douglas und Wildavsky (1983) in »Risk and Culture« anhand des »sectarian type« als institutioneller Typus der öffentlichen Entscheidungsfindung. 161 162 163 164 165 166
Vgl. Rost 2014, S. 159ff. Vgl. Plaß/Schetsche 2001, S. 527. Vgl. Hollingsworth/Boyer 1997, S. 15. Gläser 2007, S. 87. Hayek 1991 nach Gläser, S. 88. Vgl. Gläser, S. 89f.
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Demnach übernehmen ursprünglich freiwillige Gruppen allmählich durch externen Druck hierarchische Charakteristika.167 Dieser Blickwinkel erlaubt es, auch ehrenamtliche Einsatzorganisationen bzw. Katastrophenhilfsdienste nicht nur als Glied des formellen und hierarchisch koordinierten Katastropheneinsatzes, sondern auch als Ausdruck gemeinschaftlichen Handelns zu verstehen. Denn die formellen Organisationen stehen zwar im Zentrum der bestehenden Gemeinschaft, sind deren geronnenes Substrat, sind allerdings nicht diese Gemeinschaft. Eine ausschließliche Fokussierung auf ihre Organisationsstrukturen würde damit ein wesentliches Moment der Handlungskoordinierung ausblenden. Wie erläutert stellen die ehrenamtlich organisierten Katastrophenhilfsdienste einen wesentlichen Pfeiler des österreichischen Katastrophenschutzes dar. Als das »operative Rückgrat«168 des Katastrophenschutzes ermöglichen sie erst den praktischen Vollzug der Katastrophenschutzgesetze sowie über ihre breite Aufstellung – gemäß der IFES-Befragung 2013 engagieren sich rund 360.000 Personen (in etwa 5 % der österreichischen Bevölkerung) im Bereich der Katastrophenhilfsdienste169 – eine flächendeckende Versorgung mit Leistungen der Katastrophenabwehr.170 Im Wesentlichen gründen darauf auch zwei Aspekte im Selbstverständnis des österreichischen Katastrophenschutzes. Zum einen, dass das »Freiwilligenprinzip […] eine der tragenden Säulen des österreichischen Katastrophenschutzes [ist],«171 sowie zum anderen, dass »Katastrophenhilfe […] im österreichischen Verständnis ein Solidarakt und kein marktorientiertes Handeln [ist].«172 Dabei finden sich die wesentlichen Antriebsmotoren für freiwilliges Engagement in Österreich im Allgemeinen – folgt man der Mikrozensus Erhebung 2006 und der IFES-Erhebung 2013 – tendenziell in kollektivistischen Wertehaltungen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Aspekten, während instrumentellen, eigennützigen Aspekten bzw. der Ausrichtung im Sinne eines solidarischen Individualismus verhältnismäßig geringere Relevanz zukommt.173 Dabei ist eine kollek167 Vgl. Douglas/Wildavsky 1983, Kap. 6. 168 SKKM 2009. 169 Vgl. BMASK 2015, S. 25f. Davon rund 256.000 aktive Feuerwehrmänner und -frauen an 4.823 Feuerwehrstützpunkten (bei nur 6 Berufsfeuerwehren) (vgl. ÖBFV 2016c), sowie rund 43.000 Freiwillige im Rettungsdienst des Österreichischen Roten Kreuzes (vgl ÖRK 2016d) als die auf Grund ihrer personalen Aufstellung und flächendeckenden Anerkennung dominierende Rettungsorganisation in Österreich (vgl. BMASK 2009, S. 37). 170 Österreich hat sogar eines der weltweit dichtesten Netzwerke an Hilfseinrichtungen (vgl. SKKM 2010, S. 9, 31; SKKM 2009). 171 SKKM 2010, S. 31. 172 SKKM 2009. 173 Beweggründe für die Freiwilligentätigkeit gemäß IFES-Erhebung 2013 (Zustimmung in Prozent): Anderen Helfen (93 %), es macht Spaß (88 %), zum Gemeinwohl beitragen (85 %), Erfahrungen teilen (83 %), soziale Beziehungen (81 %) Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen (78 %), Engagement für eine wichtige Sache (74 %), aktiv bleiben (73 %), Dazulernen (72 %),
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tivistische Orientierungen keineswegs mit sozialem Engagements gleichzusetzen, wie beispielsweise im Kontrast zur »US-amerikanischen Hilfsbereitschaft« deutlich wird, die Prisching (2006) zufolge vor dem Hintergrund eines allgemeinen Niedergangs des Gemeinschaftslebens in einer stark individualisierten Gesellschaft zu denken ist. Diese stelle keinen Ausdruck von Kollektivismus dar, sondern sei vielmehr ein Amalgam aus Solidarität und Individualismus, weder rein das eine noch das andere, sondern vielmehr ein spezifisch amerikanisches »Make a Difference«: Gutes tun mit dem Gefühl, sich selbst etwas Gutes zu tun, wenn man anderen hilft. Helfen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck.174 Dabei ist es an dieser Stelle sogar nebensächlich, ob die empirischen Daten eine authentische Wertehaltung der Befragten widerspiegeln oder eine Verzerrung auf Grund sozialer Erwünschtheit beinhalten. Letzterer Fall würde sogar noch stärker als individuelle Überzeugungen auf die soziale Verankerung von Wertehaltungen hinweisen – sozusagen ein lebensweltliches Pendant zu Boltanski und Thevenot’s These (2006), wonach die Begründung, Rechtfertigung und Kritik von Handeln im öffentlichen Diskurs auf universell gültige Konzepte – sie unterscheiden »Six Worlds«175 of justification – angewiesen sind. Dabei wird die Relevanz des Freiwilligenprinzips und des ehrenamtlichen Engagements im österreichischen Katastrophenschutz durchaus anerkannt sowie von Staats wegen forciert. Nur über die breite Verankerung von Solidarität und der Idee zivilgesellschaftlichen Engagements in der Bevölkerung als Rekrutierungspool der ehrenamtlichen Einsatzorganisationen kann es gelingen, diesen Pfeiler dauerhaft aufrechtzuerhalten. Dabei geraten die Einsatzorganisationen bezüglich ihrer Mitgliederzahlen allmählich unter Zugzwang. Denn wenngleich am Beispiel des Feuerwehrwesens die absoluten Mitgliederzahlen zwar stagnieren, sinkt ihr relativer Anteil an der Gesamtbevölkerung doch kontinuierlich.176 Angesichts dessen finden sich auch zahlreiche Bemühungen, ehrenamtliches Engagement aktiv zu forcieren. So wird beispielsweise im Strategiepapier »Strategie 2020« des SKKM (2009) explizit die Schaffung von attraktiven Strukturen und Anreizen für ehrenamtliche HelferInnen eingefordert, um die Strukturen langfristig aufrechterhalHilfe auf Grund von Eigenhilfe (70 %), eigener Nutzen (69 %), Erweiterung der Lebenserfahrung (68 %), gesellschaftliche Anerkennung (58 %), Nutzen für eigenen Beruf (23 %), als Eintritt in den Arbeitsmarkt (18 %) (vgl. BMASK 2015, S. 34; vgl. auch BMASK 2009, S. 53 zum Mikrozensus 2006). 174 Vgl. Prisching 2006, S. 73ff. 175 Die »Inspired World«, mit kreativem Handeln und Spontanität im Zentrum, die »Domestic World«, die auf traditionelle und soziale Bindungen fokussiert, die »World of Fame«, welche »Moden« in das Zentrum setzt, die »Civic World«, mit der zentralen Idee einer demokratischen, kollektiven Entscheidungsfindung, die »Market World« mit dem Individuum als nutzenmaximierenden Entrepreneur im Zentrum sowie die »Industrial World«, welche Technologie und Fortschritt honoriert (vgl. Boltanski/Thevenot 2006, S. 159ff). 176 Vgl. ÖBFV 2016c.
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ten zu können. Hierbei findet sich eine breite Palette an Maßnahmen, wie die im Verhältnis zu den anderen Bereichen der Freiwilligenarbeit starke Absicherung,177 indem beispielsweise die ehrenamtlichen Mitglieder in die gesetzliche Unfallversicherung beitragsfrei einbezogen werden oder die Teilnahme an Katastropheneinsätzen als Mitglieder von Katastrophenhilfsdiensten gemäß den arbeitsrechtlichen Bestimmungen als Entlassungsgrund ausgeschlossen wird.178 Darüber hinaus werden auch Gratifikationen erteilt, welche die Anerkennung und Wertschätzung der ehrenamtlichen Tätigkeit zum Ausdruck bringen, wie Ehrenabzeichen für verdienstvolle Tätigkeiten oder Verdienstkreuze für besondere oder hervorragende Leistungen auf dem Gebiet des Feuerwehr- und Rettungswesens. 2009 wurde mit der »Steirische[n] Katastrophenhilfe-Medaille«179 überdies explizit für die Beteiligung im Bereich der Katastrophenhilfe ein Abzeichen eingerichtet. In diesen symbolischen Objekten und Praktiken (wie z.B. die zeremonielle Verleihung) zeigen sich deutliche Bemühungen, ehrenamtliches Engagement im Bereich der Hilfsorganisationen attraktiv zu gestalten und zu honorieren, gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen und damit langfristige Anreize zu setzen, um die bestehende Ordnung aufrechterhalten zu können. Damit verdeutlicht sich hier ein weiteres Mal, dass der Staat als primärer Koordinationsmechanismus andere Mechanismen nicht ausschließt, sondern vielmehr – wie in diesem Fall – sogar forcieren kann, auf jeden Fall aber den Rahmen festlegt, innerhalb dessen andere Koordinationsmechanismen handlungsleitend wirken können. Neben den formalisierten Formen freiwilligen Engagements stellen auch informelle Beteiligungsformen einen wesentlichen Beitrag in der Bewältigung von Katastrophen dar – allen voran freiwillige finanzielle Zuwendungen in Form von Privatoder Betriebsspenden, die neben der Unterstützung und Förderung der Schadensbewältigung durch die öffentliche Hand ein wesentliches Finanzinstrument im Wiederaufbau darstellen. Dabei lässt sich zunächst bezüglich der Gründe für die Mobilisierung von Spendenmitteln auch hier (analog zum formellen freiwilligen Engagement) ein Muster erkennen, wonach tendenziell kollektivistische und solidarische Wertehaltungen als zentrale Handlungsmotive erscheinen. Auch wenn die Bedeutung von Privatspenden in Österreich im globalen Kontext relativiert werden muss,180 tragen Privatspenden auch hierzulande einen großen Teil der Finanzierung von Katastrophenschäden. Während auf Basis einer IFES-Befragung (2012) 177 178 179 180
Vgl. BMASK 2009, S. 173. Vgl. BMASK 2015, S. 72f. Land Steiermark 2016h. So zeigt sich anhand des World Giving Index 2016 insbesondere im Hinblick auf monetäre Spenden, dass die Spendenbereitschaft in Österreich (50 %) in Relation zu anglo-amerikanisch geprägten Ländern (USA: 63 %, Australien: 73 %, Neuseeland: 71 %, Canada: 65 %, UK: 69 %, Ireland: 66 %, Island: 70 %), buddhistisch geprägten Ländern (zB Myanmar 91 %, Indonesien 75 %, Thailand: 63 %, Sri Lanka: 61 %), aber auch im Verhältnis zu skandinavischen
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noch eine Stagnation des Gesamtspendenvolumens konstatiert wurde, konnte der Fundraising Verband Austria (2016) einen kontinuierlichen Anstieg des Gesamtspendenvolumens über die letzten Jahre mit zuletzt rund 625 Mio. Euro (2016) verzeichnen, wovon 20 % bis 22 % mit langfristigem Trend nach oben in die Katastrophenhilfe im Inland fließen. Die jährlich in etwa mehr als 125 Mio. Euro (20 % v.H. 625 Mio. Euro Spendenvolumina) im Bereich der Katastrophenhilfe im Inland lukrierten Spendenmittel stehen dabei den Mitteln aus dem Katastrophenfonds für die Schäden Privater in der Höhe von zuletzt (2015) 22,5 Mio. Euro (mit einer Spitze von 63,5 Mio. Euro im Jahr 2013) gegenüber. Freiwillige finanzielle Zuwendungen leisten also einen erheblichen Anteil an der Bewältigung des Schadensausmaßes – eine Form informellen freiwilligen Engagements, das auch von Staats wegen willkommen geheißen und forciert wird, indem beispielsweise Spendenzuweisungen steuerlich abgesetzt werden können oder Spendengütesiegel gefördert werden, um das Vertrauen in das Spenden an sich zu stärken.181 In den bisherigen Erläuterungen kristallisierte sich nun eine Doppelrolle der Zivilbevölkerung (als eine Säule des österreichischen Katastrophenschutzes) in der Katastrophe heraus: Einerseits erscheint sie als positive Ressource für die Lukrierung finanzieller Mittel und als Rekrutierungspool der Katastrophenhilfsdienste. Andererseits kommt ihr als potenziell Betroffene die Rolle als passive Empfänger von top-down koordinierten Hilfsgütern (personell und materiell), Informationen und allgemeinem Risiko- und Gefahrenwissen zu. Damit findet sich hier eine Gegenüberstellung von aktiven, spezialisierten ExpertInnen bzw. HelferInnen und passiver Laienschaft bzw. Bevölkerung. Dies stellt allerdings eine verkürzte Sichtweise der Realität dar und zeichnet ein relativ einseitiges Bild, das die Heterogenität der Bevölkerung in ihrer Ressourcenausstattung (in allen Facetten, materielle und soziale Ressourcen ebenso wie Wissens- und Handlungsressourcen) einebnet. Vor dem Hintergrund der im österreichischen Katastrophenschutz institutionalisierten Logik eines zentral und hierarchisch koordinierten Katastrophenschutzes und des arbeitsteiligen Zusammenhangs spezialisierter Akteure erfolgen damit also relativ einseitige Rollenerwartungen an die Zivilbevölkerung als passive Betroffene, die kaum als autonome, handlungsfähige Subjekte berücksichtigt werden. Und das, obgleich – wie weiter oben bereits angedeutet – Selbstschutz als eine Säule des Katastrophenschutzes und damit als positive Ressource anerkannt und von Staats wegen sogar forciert wird. So bedient sich der Staat des ÖZSV mit Ländern (Schweden: 61 %, Finnland: 50 %, Norwegen: 67 %, Niederlande: 66 %, Dänemark: 62 %) deutlich geringer ist (vgl. CAF 2016). 181 Vgl. BMASK 2015, S. 122ff; Fundraising Verband Austria, S. 10f. Dabei muss im Hinblick auf die konkrete Zielwahl vor allem auch auf die Rolle der Medien verwiesen werden. So zeigt sich, dass in der Auswahl von Spendenzielen Spendenaufrufe, die durch Medien und Unternehmen initiiert werden, häufig sogar den Einfluss von Labels, wie z.B. Spendengütesiegeln, überschatten (vgl. ebd.).
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dem grundlegenden Ziel »die Menschen in Österreich auf die Gefahren des Alltags, aber auch auf größere Schadensereignisse vorzubereiten und sie dafür zu rüsten.«182 Es gilt also, die Bevölkerung mit notwendigen Informationen und Kompetenzen auszustatten, damit diese nicht nur langfristig präventive Selbstschutzmaßnahmen setzt, sondern auch für den Akutfall gewappnet ist. Doch betrachtet man diese angestrebte Selbstschutzfähigkeit der Bevölkerung im Schatten der gesetzlich verankerten Rollenzuweisung an die Bevölkerung, wird deutlich, dass sich die gewünschte Selbstschutzfähigkeit im Akutfall im Wesentlichen auf Überbrückungsmaßnahmen bis zur Einrichtung der formellen Strukturen des Katastrophenschutzes begrenzt. So sind im Rahmen des Stmk. Katastrophenschutzgesetzes grundsätzlich nur Verhaltenserwartungen an die Bevölkerung verankert, welche die Rolle eines passiven Schutzbedürftigen bzw. Laien zeichnen: So haben die Bevölkerungsmitglieder eine Melde- und Auskunftspflicht, die Pflicht also, eine unmittelbar drohende Gefahr oder einen Katastropheneintritt unverzüglich an eine zuständige Instanz (BH, Gemeinde, Sicherheitsdienste, LWZ) zu melden (sofern noch keine allgemeine Kenntnis vom Vorfall besteht) und den zuständigen Organen im Einsatzgebiet über katastrophenrelevante Umstände Auskunft zu erteilen.183 Darüber hinaus besteht die Pflicht, den Einsatzbereich sowie Zu- und Abfahrten freizuhalten, sodass Einsatzmaßnahmen ungehindert erfolgen können. Überdies kann gegebenenfalls die Räumung des Einsatzbereiches bzw. ein Betretungsverbot behördlich angeordnet und Einsatzkräfte berechtigt werden, Zivilpersonen unmittelbar wegzuweisen. Des Weiteren besteht die Pflicht, eigene Vermögensbestände und Ressourcen für die Durchführung des Einsatzes bereitzustellen. Es können nicht nur Liegenschaften, Gebäude und Betriebsanlagen von den formellen Einsatzkräften betreten werden, um erforderliche Maßnahmen zu treffen, sondern auch fremdes Eigentum mit Bescheid der zuständigen Katastrophenschutzbehörde für Einsatzzwecke verwendet werden (Sachmittel wie z.B. Fahrzeuge, aber auch Liegenschaften zur Unterbringung oder Notversorgung – unter möglicher Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen). Diese Pflichtzuweisungen sind zusätzlich kraft behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt abgestützt – d.h. sie können gegebenenfalls auch mit Einsatz legitimer, physischer Gewalt durchgesetzt werden. Das Stmk. Katastrophenschutzgesetz verlangt also der Zivilbevölkerung ab, die Rolle des passiven Opfers einzunehmen und die institutionalisierte Ordnung eines Zusammenspiels der »legitim Beteiligten« in ihrem reibungslosen Ablauf zu ermöglichen und keinesfalls zu stören oder zu blockieren.184 182 ÖZSV 2016. 183 §9, Abs. 1, 3, Stmk. KatSG. 184 §§10-15, Stmk. KatSG. Dass dieses Bild des passiven Opfers keineswegs zwangsläufig angelegt sein muss, zeigt sich z.B. an den im Saarländischen Brand- und Katastrophenschutzgesetz verankerten Hilfeleistungspflichten der Bevölkerung, wonach eine freiwillige Mitwirkung von
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Damit verbirgt sich hinter den institutionalisierten Strukturen der Katastrophenbewältigung eine fundamentale Opfer-Helfer-Konstellation: Die Katastrophe erscheint als ein »binärer Mechanismus; er dichotomisiert in Helfer und Hilflose«185 bzw. in souverän Handlungsfähige und abhängige Unfähige. Mit der Feststellung der Katastrophe, d.h. mit der Attribuierung des Katastrophenstatus an eine Situation, beginnt eine Personalisationsphase, im Zuge derer eine Dichotomisierung in Opfer und HelferInnen, in aktiv und passiv Beteiligte, stattfindet. Allerdings ist diese Personalisation auch die wesentliche Voraussetzung für die Vermittlung zwischen Hilfsangebot und -nachfrage: »Ohne Opfer gäbe es demnach auch keine Katastrophe und keine Helfer.«186 Allerdings greift eine solche Dichotomisierung viel zu kurz, denn die betroffene Zivilbevölkerung stellt keine homogene Gruppe an passiv Betroffenen dar, die sich der Hilfe der Expertise blind überlassen (möchten). Vielmehr umfasst sie (auch) autonome Individuen oder Gruppen von Betroffenen, die aktive Strategien der Gefahren- und Katastrophenbewältigung entwickeln187 und damit die »Monopolstellung« der zentralisierten und hierarchisch koordinierten Katastrophenhilfe herausfordern. Während die gewünschte Selbsthilfefähigkeit der Zivilbevölkerung staatlicherseits nun lediglich in der Überbrückung des Zeitraums bis zum Eintreffen professionalisierter Hilfe besteht und mit deren Eintreffen durch eine passive, den Einsatz ermöglichende und keinesfalls blockierende Haltung zu ersetzen ist, fasst etwa der ÖZSV sein Selbstverständnis eben weiter: Der ÖZSV versteht seinen Auftrag nicht nur dahingehend, Menschen mit Wissen und Knowhow zu versorgen, um Unfälle und Gefahren zu vermeiden, richtiges Verhalten im Akutfall zu ermöglichen, um damit bis zum Eintreffen der professionalisierten Hilfe negative Folgen zu minimieren bzw. Schäden zu begrenzen, und das Vertrauen in die professionalisierten Hilfsstrukturen zu fördern (also eine Struktur ermöglichen, die den reibungslosen Ablauf der institutionalisierten Abläufe ermöglicht). Es ist ihm auch daran gelegen, das Vertrauen der Betroffenen in die eigene Selbstschutzfähigkeit zu fördern und »jeden Bürger und jede Bürgerin dazu motivieren und in die Lage versetzen, auch ihren Nächsten Hilfe zu leisten,«188 also Nachbarschaftshilfe zu leisten. Damit erscheint der ÖZSV als organisatorischer Ausdruck einer zunehmenden Anerkennung der Zivilbevölkerung als Ressource (abseits formellen
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Zivilpersonen in der Katastrophenbewältigung (unter Zustimmung des Einsatzleiters) ebenso vorgesehen ist, wie eine mögliche Verpflichtung zur Mithilfe in der Beseitigung erheblicher Schäden, und hierzu auch eine Gleichstellung mit der Rechtsstellung von HelferInnen im Katastrophenschutz erfolgt (vgl. §39, SBKG). Dombrowsky/Siedschlag 2014, S. 227. Dombrowsky 1981, S. 752. Ebd., S. 752. ÖZSV 2016.
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Engagements und Spendentätigkeit), als Aufwertung informeller Freiwilligenhilfe und der Möglichkeit, an lokal vorhandenen, informellen Ressourcen anzusetzen und diese als zusätzliches Hilfspotenzial zu erkennen. Denn es ist eben auch davon auszugehen, dass informelle freiwillige Tätigkeiten – Leistungen also, die zwischen Freiwilligen und LeistungsempfängerInnen auf privater Basis erfolgen189 – neben den formal geregelten Freiwilligentätigkeiten einen wertvollen Beitrag in der Katastrophenbewältigung leisten können. Dieses mögliche Potenzial ergibt sich nicht zuletzt aus der quantitativen Aufstellung. So stehen der IFES-Befragung 2013 zufolge den 5 % der österreichischen Bevölkerung, die formelles freiwilliges Engagement im Rahmen von Katastrophenhilfs- und Rettungsdiensten leisten,190 4 % der Bevölkerung gegenüber, die sich im Rahmen von Katastrophen informell freiwillig beteiligen.191 Informell Freiwillige bilden also ein breites Potenzial an personellen Ressourcen, die nutzbar gemacht bzw. kanalisiert werden könnten.192 Bereits die frühe Disaster Research argumentierte, dass das Auftreten sogenannter »emergent groups« – ad-hoc Akteure in der Katastrophenbewältigung jenseits a priori bestehender Organisationseinheiten und damit auch informell freiwillige Gruppen – letztlich auf ein bestehendes Gefälle zwischen funktionellen Erfordernissen und bestehenden Hilfsangeboten verweist, sei es auf Grund von Isolation oder eines Mangels an Information, Koordination oder Kontrolle.193 Jedenfalls wirft die Katastrophe neue Handlungserfordernisse auf, denen die bestehenden Strukturen nicht mehr entsprechen können: »›functional gaps‹ in the community act as a catalyst for the formation of new collective responses, i.e. group emergence.«194 Spontanhilfe bzw. informelle Freiwilligenhilfe kann damit zum einen als »Auffangnetz« unter den Lücken bestehender Hilfsangebote dienen, sowie zum anderen auf Grund bestehender Ressourcenpotenziale in die vorhandenen Hilfsangebote, die formellen Einsatzstrukturen, integriert werden und damit – einen fruchtbaren Kontext vorausgesetzt – einen wesentlichen Beitrag leisten.195 Dieses potenziell konstruktive Potenzial der informellen Beteiligung in der Katastrophenbewältigung darf allerdings nicht dahingehend täuschen, informelle Hilfsangebote würden ohne Weiteres angenommen und willkommen geheißen. Denn trotz ihres grundsätzlich anzunehmenden positiven Potenzials findet sich ein fundamentales Problem der Spontanhilfe vor allem in der effektiven Distribution 189 Vgl. BMASK 2015, S. 3. 190 Vgl. ebd., S. 25. 191 Vgl. ebd., S. 29. 192 Damit stellt sich auch die Frage, ob sich in Österreich eine Umstrukturierung der Form des freiwilligen Engagements vom klassischen bürgerlichen Engagement hin zu unverbindlicheren Formen abzeichnet, wie es Putnam (2001) für den US-amerikanischen Kontext feststellt. 193 Vgl. Stallings 1978, S. 89ff. 194 Forrest 1978, S. 106. 195 Vgl. ebd., S. 124.
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des Hilfsangebotes: Entscheidungen in der Spontanhilfe erfolgen häufig nicht auf Grund der realen Erfordernisse, sondern (können) diesen sogar zuwiderlaufen. Diese Problematik verdeutlichen beispielsweise Wachtendorf et al. (2015), die argumentieren, dass »[w]hat and how we give, […] is defined more so by the subjective framing of the social problem than the objective need that disasters bring about.«196 Dabei verdeutlichen sie vor allem die Rolle der Medien und die damit einhergehenden Allokationsprobleme von Spenden: Giving »may become more motivated by the visibility of relief activity than the fulfilling a real need that may go unrecognized.«197 Dementsprechend haben sich mittlerweile auch Netzwerke etabliert (bzw. beginnen sich zu festigen), die versuchen, die Kräfte aus informell freiwilligem Engagement zu bündeln und grob zu koordinieren, wie etwa das von Ö3 und Rotem Kreuz gemeinsam ins Leben gerufene »Team Österreich« als halb-institutionalisierte Schnittstelle zwischen Bevölkerung und Einsatzorganisationen. Dieses versteht sich als Plattform für »gelebte Nachbarschaftshilfe«198 und versucht als niederschwellige Struktur spontane Hilfsbereitschaft und das in der Zivilbevölkerung angelegte Potenzial – quantitativ und qualitativ199 – zu koordinieren und kanalisieren, um die Nutzung dieses Potenzials optimal und entsprechend der funktionalen Erfordernisse zu gestalten (so erfolgt der Einsatz des Team Österreichs zumeist auf Anforderung der Einsatzleitung hin).200 Damit werden in der Zivilbevölkerung vorhandene Kompetenzen als konstruktives Potenzial wahrgenommen und anerkannt, sowie im Sinne Forrests (1978) ein Umfeld geschaffen, das deren Integration in die formellen Strukturen erlaubt und damit nutzbar macht. Dennoch bleibt die Beteiligung informell freiwilliger Hilfe von der in den offiziellen Strukturen verankerten Opfer-Helfer-Konstellation bzw. Experten-LaienKonstellation geprägt. Angesichts einer programmatischen Katastrophendefinition, wonach Katastrophenschutzbehörden über das Vorliegen einer Katastrophe entscheiden und gleichzeitig auch die Katastrophenbewältigung koordinieren und steuern, können Betroffene ihrer Rollenzuweisung in die passive Rolle nicht bzw. kaum entgehen: »Wo als ›Katastrophe‹ nur gilt, was die Katastrophenschutzbehörde dazu definiert und was nur sie bearbeiten kann, da bleibt den Betroffenen nichts 196 197 198 199
Wachtendorf et al. 2016, S. 236. Vgl. ebd., S. 249. ORF 2016a. Quantitativ mit rund 50.000 Mitgliedern, was in etwa dem Mitgliederstand des Rettungsdienstes des ÖRK entspricht, und qualitativ, sofern Datenbanken zu speziellen Kenntnissen angelegt werden, wodurch in der Einsatzanforderung auch zwischen voraussetzungsvollen und -schwachen Tätigkeiten differenziert werden kann. 200 Vgl. ORF 2016a; ORF 2016b; ORF 2016c; ORF 2016d.
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anderes übrig, als die Rolle des Opfers zu | übernehmen und das eigene NotfallWissen von professionalisierten Spezialisten entwerten zu lassen.«201 Dabei ist schon das Verhältnis zwischen Experten- und Laienwissen, das in seinem Zusammenwirken die Praktiken gegenüber der Katastrophe beeinflusst, weitaus komplexer, als es hier angelegt ist. Wie Rost (2014) am Beispiel von Hochwasserereignissen erläutert, ist die »Laien«-Perspektive zunächst häufig durch kurze Zeithorizonte und einfache Spiegelungen von Vergangenem auf Zukünftiges geprägt.202 Demgegenüber zeichnet sich Expertenwissen wesentlich durch eine systematische Informationssammlung, wissenschaftliche Reflexion und weiter gefasste Zeithorizonte aus, wodurch es auch Probleme und Aspekte jenseits der Grenzen des Laienwissens denken kann. Dementsprechend erscheint es durchaus sinnvoll, BürgerInnen top-down mit gefahren- und katastrophenrelevantem Expertenwissen, das in seinem Horizont durch die professionalisierte Auseinandersetzung mit der Thematik dasjenige des Laienwissens häufig übersteigt, zu versorgen, um ihnen eben Ressourcen für die kognitive und praktische Bewältigung der Situation bereitzustellen und die Koordination der Katastrophenschutzmaßnahmen auf Expertenwissen zu gründen. Doch weder ist Expertenwissen von einer selektiven Umweltwahrnehmung ausgeschlossen, noch darf die Anerkennung des Expertenwissens dazu verleiten, der Perspektive und dem Wissen der »Laien« an sich seine Bedeutung abzusprechen. Denn nicht nur, dass lokales Wissen und Ressourcen einen wesentlichen und teils zur Expertenperspektive komplementären Beitrag leisten kann und die lokal Betroffenen immer zumindest als ExpertInnen ihrer eigenen Lebenswelten zu sehen sind,203 sondern Laienwissen kommt auch insofern hohe Relevanz zu, als dass es für die Betroffenen höhere Orientierungskraft bzw. Autorität als Expertenwissen besitzt, dessen Glaubwürdigkeit mit der Katastrophe zunehmend erschüttert wurde.204 Dennoch spielt das lokale »Laien«-Wissen in den institutionalisierten Strukturen des Katastrophenschutzes bislang nur wenig bis kaum eine Rolle. Vielmehr wurde es weitgehend durch professionalisiertes Wissen verdrängt – und damit aber auch wertvolles Potenzial. Gerade hierin liegt nun auch die Quintessenz: Nicht, dass die etablierten Problemlösemechanismen an sich unzulänglich wären, als vielmehr, dass sich die Problemlösungen und die damit betrauten Organisationen, die ursprünglich zur Lösung von Problemen gegründet wurden, letztendlich um sich selbst, um ihren Selbsterhalt und ihren Fortbestand drehen, wodurch eventuell funktionale 201 Dombrowsky 1981, S. 751f; vgl. auch Dombrowsky 1998, S. 20. 202 Vgl. Rost 2014, S. 142. 203 So finden sich auch Ansätze, die lokales Wissen als Beitrag zur Gefahrenabschätzung und -vermeidung im Sinne eines »Public Observing« einbinden. Oder man denke an praktische Probleme in der Katastrophenhilfe, wie die Erhebung des Personenstandes oder Fragen des Verlaufs verschütteter Wege. 204 Vgl. Rost 2014, S. 163-166.
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Erfordernisse oder »konkurrierende« Potenziale ausgeblendet werden.205 Die ehemals auf Grund von arbeitsteiligen Vorteilen entstandene Fachelite verhärtet sich zur Fachklasse, welche die Existenz der Fachklasse nun die Existenz einer Laienschaft voraussetzt, sofern sich eine Klassenkonstellation stets über Besitz VS. Nicht-Besitz definiert – in diesem Fall eben über den Besitz an Verfügungsrechten über Partizipations- oder Kontrollchancen der Katastrophenbewältigung. Dieser Klassenkonflikt ist zwar bereits im Schatten der Strukturen des Alltags mitangelegt, beschleunigt sich allerdings mit dem Katastropheneintritt.206 Die Fachelite beginnt sich immer stärker von den Laien abzugrenzen und behält sich letztlich das Recht bzw. die Kontrolle über die Maßnahmen der Katastrophenbewältigung vor: »Specialists organize to differentiate themselves from nonspecialists and to preserve their right to participate in or control exception routines.«207 Die Begrenzung der Teilhabe von Individuen und Gruppen an der Katastrophenbewältigung (oder gar deren Ausschluss) bzw. die Verknüpfung der Teilhabe mit spezifischen Bedingungen – im Sinne Webers (1980) die »Schließung« sozialer Beziehungen – erfolgt dabei auf Grund vielseitiger Motive, wie der Sicherung von Qualität, sozialer Anerkennung und Prestige und mit der Teilhabe verbundenen Chancen oder deren Knappheit. Jedenfalls aber bietet die Schließung die Möglichkeit, eigene Interessen zu verfolgen, gleich worin diese bestehen.208 Dabei ist diese Fähigkeit zur Schließung der Katastrophenhilfe letztlich auch als Ausdruck eines Machtüberhanges auf der Seite der »legitim Beteiligten« zu sehen. Dabei soll »Macht« nicht auf die Verfügung über Ressourcen reduziert werden, sondern in ihrem »polymorphen«209 bzw. »soziologisch amorphen«210 Charakter erkannt werden, wonach prinzipiell jede soziale Konstellation Machtchancen in sich birgt, worauf auch immer diese beruhen (Organisationsgrad von Gruppen, rechtliche Normen, die Kontrolle eines Stabes oder die Legitimation über ein staatliches Sicherheitsversprechens). Angelehnt an Norbert Elias ist Macht als »Fähigkeit, soziale Beziehungen nach seinen eigenen Zwecken ausrichten und kontrollieren zu können,«211 zu verstehen bzw. im Sinne Webers (1980) als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«212 Dementsprechend kann die Auseinandersetzung um die Beteiligung an der Katastrophenhilfe – angelehnt an Elias (1990) Etablierten-Außenseiter-Konfiguration 205 Vgl. Dombrowsky 1998, S. 22. 206 Vgl. Clausen 1994, S. 33. 207 Stallings 1998, S. 141. 208 Vgl. Weber 1980, S. 22ff. 209 Elias nach Barlösius 2004, S. 70. 210 Weber 1980, S. 27. 211 Barlösius 2003, S. 61 angelehnt an Elias. 212 Weber 1980, S. 27.
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– im Kern auch als »Machtbalancekampf« verstanden werden. Demnach ist die Fähigkeit zur Durchsetzung eines Monopolanspruchs auf die Bewältigung eben Ausdruck eines Machtüberhangs auf der Seite der legitim Beteiligten. Dabei ist die Verschärfung der Experten-Laien-Konstellation bis hin zum Klassenkonflikt kein einseitiger, von der Fachschaft ausgehender Prozess, sondern wird auch seitens der Laienschaft mitgetragen. Denn so wie die Etablierten, d.h. die »legitim Beteiligten«, auf eine Wahrung bzw. Erhöhung des Machtdifferentials streben und damit ihr Monopol auf die Gestaltung des Beziehungsgefüges der Katastrophenhilfe wahren wollen, drängen die »Außenseiter«, d.h. diejenigen, denen die Beteiligung verwehrt ist, auf eine Verringerung des Machtdifferentials, um ebenfalls Gestaltungsmacht zu erlangen.213 Damit wird die etablierte Ordnung durch die Laien angesichts der Katastrophe, die vor Augen führt, dass das staatliche Sicherheitsversprechen nicht eingelöst werden kann, zunehmend in Frage gestellt und das staatliche Monopol auf die Bereitstellung von Sicherheit bzw. die Rolle des Staats als Sicherheitsgarant mitsamt der damit einhergehenden legitimen Kontrollmacht beginnt zu wanken. Die Laien fühlen sich betrogen, sofern die ExpertInnen und zuständigen Organisationen die Aufgabe, die Gefahren zu kontrollieren bzw. die drohende Katastrophe zu vermeiden, nicht oder nur minder erfüllt zu haben scheinen, und stellen die Frage, weshalb die hierarchische Koordination, die Zuständigkeit und das Kontrollmonopol der öffentlichen, spezialisierten Akteure angesichts dieses »Versagens« der etablierten Ordnung unhinterfragt hingenommen werden sollte.214 Die Laienschaft wendet sich zunehmend von der Elite ab, orientiert sich immer weniger an deren Ratschlägen als an Ihresgleichen und läuft teils zur offensiven Fachkritik über. Die Kluft zwischen Laien und ExpertInnen wird damit zunehmend größer. Vis-à-vis entwickelt die Fachelite Distinktionspraktiken, wie beispielsweise Verachtung oder Abschätzung gegenüber den Handlungsressourcen und Wissensbeständen der Laien.215 Die Beteiligung der Laien in der Katastrophenbewältigung wird nicht nur als minder angemessen klassifiziert, sondern vielmehr erscheint sie den ExpertInnen auch als Angriff, Zurückweisung und Gefährdung, sofern sie die monopolähnlichen Verfügungsrechte über die Beteiligung am Katastrophenschutz unterminiert und damit die spezifische Stellung der Fachklasse ins Wanken bringt. Dementsprechend werden die aktiven Bemühungen der Betroffenen zunehmend abgewendet und verdrängt, wodurch sich die ExpertenLaien-Konstellation, die Dichotomisierung in »inkompetente Opfer« und »kompetente HelferInnen«, tendenziell weiter verschärft.216 213 214 215 216
Vgl. Elias 1990, S. 36. Vgl. Stallings 1998, S. 141. Vgl. Clausen 1994, S. 33-35. Vgl. Stallings 1998, S. 141; Dombrowsky 1981, S. 752.
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Vor diesem Hintergrund scheint es nur wenig überraschend, dass die etablierte Ordnung des Katastrophenschutzes – eine stark hierarchische Koordination seitens behördlicher Instanzen und eine Zweiteilung des sozialen Settings in eine aktive Seite professionalisierter Akteure mit institutionell verankerter Mitwirkungskompetenz und eine passive Seite der Zivilbevölkerung – durch zusätzliche Kontrollmechanismen gestützt wird, wie etwa hoheitliche Befehls- und Zwangsgewalt,217 die es den Katastrophenschutzbehörden im Falle einer potenziellen Gefährdung etwa erlaubt, das Katastrophengebiet durch eine Verordnung zum Sperrgebiet zu deklarieren.218 Um die praktische Umsetzung dieser Befugnisse zu ermöglichen, ist zudem die Mitwirkung von Sicherheitsbehörden – Bezirksverwaltungsbehörden und Landespolizeidirektionen219 – beim Vollzug des Katastrophenschutzgesetzes vorgesehen. Deren Aufgaben liegen dabei neben der ersten allgemeinen Hilfeleistungspflicht, der allgemeinen Sicherheitspolizei (allgemeine Aufrechterhaltung von öffentlicher Ruhe, Sicherheit und Ordnung) und weiteren Aufgabenbereichen der Sicherheitsverwaltung vor allem in der Wegweisung von Unbeteiligten, die durch ihre Anwesenheit den Einsatz behindern und sich selbst oder die Privatsphäre Betroffener gefährden, der Feststellung der Identität von Betroffenen und ihre Übermittlung an die Behörde (sofern die erste allgemeine Hilfeleistungspflicht erfüllt wurde), der Auskunftserteilung und der Durchsuchung der persönlichen Gegenstände, sowie gegebenenfalls im Einsatz von Zwangsgewalt, um die ihnen und der Katastrophenschutzbehörde eingeräumten Befugnisse durchzusetzen.220 Die Rolle der Sicherheitsbehörden im Zuge ihrer Mitwirkung in der Katastrophenhilfe kann damit vor allem in der Aufrechterhaltung und Kontrolle der institutionalisierten Ordnung gesehen werden. Sie sind das Umsetzungsorgan bzw. der Stützmechanismus der hoheitlichen Handlungsbefugnis Behörden in der Katastrophe und sichern damit das staatliche Monopol auf die Kontrolle der Katastrophenbewältigung – notfalls auch durch 217 Vgl. SKKM 2010, S. 36. 218 Wobei konkrete Angaben zu Beginn und Ende des Sperrgebiets gemäß der bestehenden Gefährdung gemacht werden müssen bzw. es nach max. 3 Monaten endet (§6, Art. 1-2, Stmk. KatSG). 219 Im Zuge der Sicherheitsbehörden-Neustrukturierung 2012 kam es zur Zusammenlegung von den ehemals direkt dem BMI unterstellten Sicherheitsdirektionen in den Bundesländern, den Bundespolizeidirektionen (welche in Städten Wirkungsbereich hatten, und denen Stadtpolizeikommando und -inspektionen untergeordnet waren), sowie der Landeskommanden zu den neuen Landespolizeidirektionen (pro Bundesland eine), wodurch sich eine neue Architektur ergibt: Das Bundesministerium für Inneres (BMI) als oberste Sicherheitsbehörde, die Landespolizeidirektionen der Länder als nachgeordnete Instanz und in weiterer Ebene die Bezirksverwaltungsbehörden, denen wiederum Bezirkspolizeikommanden und denen nachgeordnete Polizeiinspektionen fachlich unterstehen (vgl. Keplinger/Zirnsack 2012; zur Struktur vor 2012 siehe: SKKM 2010, S. 79ff). 220 §17, Art. 1-4, Stmk. KatSG; vgl. auch SKKM 2010, S. 81ff.
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den Einsatz von Zwangsgewalt. Dabei dient bereits die Existenz derartiger Kontrollmechanismen für die Aufrechterhaltung der institutionalisierten Ordnung auch als Indikator dafür, dass die etablierte Ordnung an diesem Punkt nicht als fraglos gültig hingenommen wird. Zudem findet sich in der Public Opinion Onlinebefragung (2014) empirische Evidenz für den latenten Konflikt zwischen Experten und Laien. Hier wird zwar nur die Zusammenarbeit von ehrenamtlichen und hauptamtlichen MitarbeiterInnen im Rahmen von Katastrophenhilfsdiensten erfasst, doch es ist anzunehmen, dass sich der Sachverhalt unter Berücksichtigung informeller freiwilliger Gruppen nur noch weiter zuspitzen würde. So zeigt sich in der Zusammenarbeit von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitgliedern der Katastrophenhilfsdienste zwar allgemein eine hohe Zustimmung zu Aspekten wie gegenseitigem Verständnis und Akzeptanz oder einer »Wir-sitzen-in-einem-Boot«-Einstellung, doch im Verhältnis zu anderen Bereichen der Freiwilligenarbeit gestaltet diese sich relativ gering. Gründe für die Konflikte zwischen haupt- und ehrenamtlichen Mitgliedern werden dabei in einer mangelnden Abgrenzung, einer mangelnden Kommunikation oder Abwertung von Ehrenamtlichen und Freiwilligen seitens professioneller Mitglieder, die oftmals aus einer Statusunsicherheit handeln, gesehen.221 Nicht nur, dass generell die Verselbstständigung der ursprünglichen Problemlösung dazu führt, dass letztendlich eher die spezifische Problemlösung als die Lösung des Problems im Vordergrund steht, damit fruchtbares Potenzial ausgeblendet und ungenutzt bleibt und neue Probleme jenseits der Grenzen der spezifischen Lösung unerkannt bleiben, sondern mit solchen Verdrängungseffekten und dem Bedeutungsverlust von »Laien«-Wissens geht auch einher, dass die in die passive Rolle gedrängten »Laien« ehemals bestehendes Notfallwissen und Kompetenzen im Umgang mit Katastrophen verlernen, was deren Abhängigkeit von ExpertInnen und SpezialistInnen nur noch verschärft.222 Dies ist insofern fatal, als dass die Katastrophe die Individuen auf sich selbst zurückwirft: Sie erzwingt schnelle Antworten und spontane Reaktionsweisen, »improvisierende Antworten von Allen. Daher ist Aller äußere und innere Vorbereitung für Eventualitäten nötig«223 – und nicht nur die Vorbereitung der mit der Verantwortung für den Katastrophenschutz offiziell betrauten ExpertInnen. 221 Vgl. BMASK 2015, S. 78ff. 222 Vgl. Stallings 1998, S. 140f. 223 Clausen 2003, S. 52.
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Zwischenfazit
Katastrophenschutz in Österreich zielt grundlegend darauf ab, die Katastrophe zu vermeiden bzw. gegebenenfalls rasch reagieren und in die »Normalsituation« zurückkehren zu können. Die Umsetzung dieser Ziele erfolgt dabei tendenziell zentralisiert und hierarchisch koordiniert: Der Staat erscheint als der primäre Koordinationsmechanismus des österreichischen Katastrophenschutzes. Zum einen wirkt er direkt in der Bereitstellung von Katastrophenschutz: Dem Staat wird die Rolle als »Sicherheitsgarant« im Hinblick auf das Katastrophenrisiko zugewiesen. Diese nimmt er über die Etablierung von eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen oder die Zuweisung von Kompetenzen zu bestehenden Einrichtungen wahr – dahingehend hat sich ein ausdifferenziertes Netz an Institutionen und eine damit einhergehende Kompetenz- und Wissensverteilung herausgebildet, die sich im Wesentlichen entlang einer situationalen Gegenüberstellung von Katastrophe und »Normalität« und einer horizontal-vertikalen Dimension streuen – ebenso wie über die Bereitstellung finanzieller Mittel in der Prävention, der Vorbereitung und der unmittelbaren Schadensbewältigung. Dabei kommt staatlichen Akteuren nicht nur die Verantwortung für den Vollzug des Katastrophenschutzgesetzes, die Koordination, Einleitung und Finanzierung von Maßnahmen zu, sondern sie haben auch Definitionsmacht über das Vorliegen des Sachverhalts einer Katastrophe. Zum anderen erschöpft sich die staatliche Koordinierung des Katastrophenschutzes nicht in der direkten Bereitstellung und Distribution von Katastrophenschutz, sondern der Staat definiert zudem den Rahmen für alternative Koordinationsmechanismen. So werden etwa Anreize für marktvermittelte oder individualisierte Lösungen im Katastrophenschutz gesetzt oder rechtliche Regulierungen geschaffen. Selbstschutz und Eigenvorsoge erscheinen hier als wesentlicher Beitrag in der Begrenzung potenzieller Schäden. Da ein vollständiger Schutz vor Katastrophen jenseits des Möglichen liegt, wird eine »Individualisierung« der Katastrophenvorsorge eingeleitet und Katastrophenschutz zum Teil in die Verantwortung des Individuums entlassen. Doch stellen diese individualisierten Lösungen weniger Resultate eines freiwilligen Markttausches als vielmehr einer reglementierenden Kraft staatlicherseits dar. Katastrophenvorsorge wird also zu einem Teil aus der staatlichen Verantwortung in die Hand des Individuums entlassen, erscheint allerdings nicht als eigenbestimmte, sondern als fremdbestimmte Verantwortung. Dasselbe Bild setzt sich auch im Falle von Hilfsleistungen fort, die aus gemeinschaftlichen Prinzipien erwachsen, wobei es einer differenzierten Betrachtung von »Gemeinschaft« bedarf. Während formelles ehrenamtliches Engagement in der Katastrophenhilfe im Rahmen von zu Organisationen geronnenen Gemeinschaften gefördert wird, ebenso wie informelles freiwilliges Engagement in Form von Spendentätigkeiten als wesentliches Finanzinstrument in der Schadensbewältigung im Eigentum von Privatpersonen von Staats wegen willkommen geheißen und über
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Anreize gefördert wird, werden aktive, gemeinschaftlich motivierte Beteiligungsformen jenseits der formalisierten Strukturen der ehrenamtlichen Einsatzorganisationen und diversen Ansätzen zur Institutionalisierung informellen Engagements systematisch abgeschottet bzw. sogar sanktioniert. Jenseits ihrer Rolle als Rekrutierungspool für die ehrenamtlichen Einsatzorganisationen und als potenzielle Geldgeber beschränken sich die institutionell verankerten Erwartungen an die Bevölkerung darauf, den formellen Einsatz zu ermöglichen bzw. nicht zu behindern. Die Gräben in der dichotomen Gegenüberstellung von Laien und ExpertInnen bzw. Opfern und HelferInnen werden tiefer bzw. tritt eine nahezu sichtbare Trennlinie zwischen einem professionalisierten Feld an »ExpertInnen« und der Bevölkerung als »Laienschaft«, zwischen (legitim) beteiligten und unbeteiligten Akteuren, hervor. Vor diesem Hintergrund scheint sich Katastrophenschutz in Österreich tendenziell entlang eines koordinierten Pfades im Sinne Schuberts (2016) zu gestalten. Katastrophenschutz in Österreich ist im Wesentlichen stark reguliert und hierarchisch koordiniert. Die Maßnahmen und Strukturen des Katastrophenschutzes werden zu einem Großteil von Staats wegen organisiert und bereitgestellt. Praktische Umsetzung finden sie über ein fein ausdifferenziertes Netz der Aufgabenverteilung, als ein heterogenes Zusammenspiel verschiedener Akteure. Überdies umfasst Katastrophenschutz nicht nur kurzfristig orientierte Maßnahmen, sondern tendiert vielmehr zu einem langfristigen Planungshorizont, der eben Katastrophenvorsorge und nicht nur -bewältigung einfordert. Diese Orientierung äußert sich in einem breiten Maßnahmenspektrum zur Verminderung des Risikos, Schutzvorkehrungen und langfristig angelegten Vorbereitungsmaßnahmen für den Akutfall. Ein starker Kollektivismus und Solidarität (unter Fremden) stellen dabei tendenziell die kulturellen Leitprinzipien dar, welche die Ausgestaltung des Zusammenspiels von Natur, Technologie, Institutionen und Kultur im Katastrophenschutz anleiten und Ausdruck in den kollektiv organisierten Lösungen finden (in hierarchisch koordinierten Formen – z.B. Katastrophenhilfsdiensten – und unter Ausschluss von unkoordinierten, solidarischen Hilfsleistungen), die überdies mit öffentlichen Mitteln finanziert werden. Allerdings ist der Realtyp des österreichischen Katastrophenschutzes keineswegs mit dem idealtypischen koordinierten Modell nach Schubert (2016) identisch, sofern er auch liberale Elemente umfasst, wie sich in der sukzessiven Transformation von Katastrophenschutz in Richtung marktvermittelter Lösungen (z.B. Eigenvorsorge oder Naturgefahrenversicherungen) oder auch in der allmählichen Durchsetzung der kollektiven Lösung mit einer liberalen Logik (so ist etwa das Prinzip der Effizienz im Mitteleinsatz einzuhalten) zeigt. Während die Katastrophe nun an fraglos hingenommenen Selbstverständlichkeiten rüttelt und sie die institutionalisierte Ordnung damit sozusagen auf den »Prüfstand« stellt, versetzt sie diese nicht zwangsläufig in Schwingung. Wie wei-
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ter oben bereits erläutert (Kap. 4), ist es offen, ob die Katastrophe zum Antrieb von Wandel oder der Restabilisierung einer Ordnung wird. Die Logik der zentralen und hierarchischen Koordination des Katastrophenschutzes, mithin die primäre Rolle des Staates als Koordinationsmechanismus und dessen Regulierung alternativer Koordinationsmechanismen, verschärft sich mit dem Katastropheneintritt sogar noch. Es ist also weder ein ausschließliches Prinzip, das die Ordnung dominiert, noch schließt die Dominanz von Prinzipien die Existenz alternativer Ansätze aus. Denn zum einen sind die verschiedenen Prinzipien bzw. Koordinationsmechanismen, die wir hier in Anlehnung an Schubert (2016), Hollingsworth und Boyer (1997) oder Thompson et al. (1990) unterscheiden, ohnehin idealtypisch zu verstehen: als Modelle, die in ihrer Reinform so in der Realität niemals existieren. Sie dienen nicht als kategoriale Schemata, innerhalb derer sich die Ausprägungen der Katastrophenschutzordnungen nahtlos einfügen lassen, sondern vielmehr – wie für Idealtypen im Sinne Webers an sich charakteristisch – als Analyseschablone, »welch[e] die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.«224 Es geht dabei nicht darum, einzelnen Modellen bzw. Mechanismen eine pauschale Überlegenheit oder Unterlegenheit anzuhaften,225 sondern die je spezifischen Mechanismen in ihrer Logik, in ihren Vorund Nachteilen sowie in ihrem Zusammenwirken zu erfassen: »Each of these various coordinating mechanisms has its own logic – its own rules, its own procedures for enforcing compliance, its own norms and ideologies […] nevertheless each mechanism does have particular failures.«226 Es gilt zu erkennen, dass Koordinationsprinzipien stets eingebettet in einen spezifischen Kontext sind, in dem sie sich entfalten (können): »[T]he choices of coordinating mechanisms […] are constrained by the social context within which they are embedded.«227 Letztlich muss es das Ziel sein, das spezifische Gefüge unterschiedlicher Koordinationsmechanismen aufeinander abzustimmen, wie Hollingsworth und Boyer (1997) im Hinblick auf die häufig konträr zueinander konzipierten Prinzipien von »Staat« und »Markt« erläutern: »The issue is not to select one coordinating mechanism but to combine both according to the nature of the objectives, the resource, and the characteristics of the goods.«228 Hierzu bedarf es allerdings eines fundierten Verständnisses der aktuellen Gestalt, ihrer Funktionsweise und ihrer Lücken, wofür auch Schwarz und Thompson (1990) bereits plädieren: »There is no final solution; there is no rationality without its institutional context; there is no complete knowledge. 224 225 226 227 228
Weber 1985, S. 194. Wie für die Konvergenzthese charakteristisch (Hollingsworth/Boyer 1997, S. 6). Hollingsworth/Boyer 1997, S. 14. Ebd., S. 11. Ebd., S. 19.
5. Die Katastrophe in ihren institutionellen Arrangements
Diversity, contradiction, contention and criticism […] are the best tools we have for understanding the inchoate. We must learn to husband them and make the most of them. Divided we stand; united we fall.«229 So ist es auch hier nicht Ziel, die etablierte Ordnung des österreichischen Katastrophenschutzes auf seine dominante Form der staatlich hierarchischen Koordination zu reduzieren, oder eine Überlegenheit (z.B. auf Grund der Bereitstellung öffentlicher Güter oder der Orientierung am kollektiven Nutzen) bzw. eine Unterlegenheit (z.B. auf Grund einer geringeren Flexibilität angesichts funktioneller Erfordernisse oder die Ausblendung alternativer Angebote) zu konstatieren – beides würde ein einseitiges Bild zeichnen. Es gilt vielmehr, das Verhältnis von verschiedenen handlungsleitenden Prinzipien im Katastrophenschutz zu bestimmen, um mögliche Reibungsflächen in der Abstimmung verschiedener Prinzipien zu identifizieren. So sind eben auch hierzulande Praktiken des Katastrophenschutzes zu finden, die sich entlang von Gruppengrenzen entfalten und auf Gruppensolidarität und Reziprozität basieren, oder auch marktvermittelte bzw. laissez faire koordinierte Maßnahmen, die sich am individuellen Nutzen orientieren – freilich, in beiden Fällen innerhalb eines hierarchisch festgelegten Rahmens, der sie in ihrem Wirken ermöglicht, einfordert oder begrenzt (Abb. 2).
Abb. 2: Koordination des österreichischen Katastrophenschutzes
229 Schwarz/Thompson 1990, S. 13.
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Darüber hinaus muss bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass hier durch die Fokussierung auf den rechtlichen Rahmen und die Selbstdarstellung der staatlichen Strukturen (SKKM) auch ein selektives Bild gezeichnet wird. So ist es denkbar, dass auch private bzw. teilprivatisierte Hierarchien und Organisationen (z.B. Asfinag, ÖBB, Maschinenring, Baggerunternehmen usw.), genossenschaftliche Zusammenschlüsse (z.B. Waldgenossenschaft, Wassergenossenschaft oder Weggenossenschaft) oder Netzwerke – mithin Prinzipien, die sich nicht in die Logik der staatlich hierarchischen Koordination, des Marktes oder der Gemeinschaft einfügen lassen230 – einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Organisation von Katastrophenschutz haben, sofern sie eben den Interessen spezifischer Akteure, sowie der Koordinierung der kollektiven Entscheidungsfindung und kollektiven Handelns dienen. Es bedarf also einer umfassenderen und differenzierteren Betrachtung der Akteurskonstellationen mit der ihnen inhärenten Logik, um Katastrophenschutz umfassend zu verstehen. Überdies gilt es, die jeweiligen Ordnungen bzw. das jeweilige Gefüge beispielsweise im Rahmen vergleichender Analysen mit anderen Modellen zu kontrastieren, um ihre Spezifität und schwerpunktmäßige Ausrichtung zu verdeutlichen. Auf diese Stärke des Vergleichs verweist beispielsweise Prisching (2006), indem er am Beispiel des Hurrikans »Katrina« die spezifische Relevanz und Intensität von Privatspenden und Adhoc-Freiwilligen im US-amerikanischen Kontext über einen Kontrast mit anderen Kontexten veranschaulicht: »Auch in Europa finden manche Spendenaktionen ein gutes Echo und manche Hochwassereinsätze können auf Freiwillige zählen. Aber es besteht doch eher die Neigung, jene Organisationen, ›die schließlich dafür da sind‹, die Arbeit erledigen zu lassen.«231
230 Vgl. Hollingsworth/Boyer 1997, S. 8f. 231 Prisching 2006, S. 75.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
Während im vorangegangenen Kapitel die objektivierten Strukturen des Katastrophenschutzes in Österreich umrissen wurden, wenden wir uns nun der symbolischen Ebene zu. Wie erläutert, stehen Wissen, Handeln und die objektivierten Strukturen sozialer Wirklichkeit in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Dementsprechend kann sich eine Analyse der objektivierten sozialen Ordnung niemals völlig ohne Rekurs auf die symbolische Ebene begnügen, sofern sich diese ursprünglich in der institutionellen Ordnung niederschlägt, sie legitimiert und damit ihren Fortbestand sichert. Folglich gilt dies auch für die spezifischen institutionellen Arrangements des Katastrophenschutzes in Österreich. Analog dazu darf sich aber auch die Analyse von Deutungsmustern der Katastrophe nicht mit einer reinen Katalogisierung von Deutungsmustern begnügen, sofern erst deren institutionelle Einbettung als Ankerpunkte der symbolischen Ordnung dient und diese wiederum auf Dauer stellt. Ehe eine voreilige Verknüpfung hergestellt wird, gilt es zunächst separat eine Typologie von Deutungsmustern abzubilden, um erst dann deren institutionelle Einbettung zu erschließen1 – und damit die Zusammenhänge zwischen den Deutungsmustern und den objektivierten Strukturen des Katastrophenschutzes, sowie etwaige Konfliktlinien und die Mechanismen ihrer Aufrechterhaltung herauszuarbeiten. Nach einer kurzen Erläuterung des methodischen Zugangs erfolgt am Beispiel des Murenabgangs in St. Lorenzen 2012 eine idealtypische Rekonstruktion der inhaltlichen Struktur von Deutungsmustern der Katastrophe. Dabei wird die sinnhafte Kompatibilität von Deutungselementen als (flexible) Grenze der Deutungsmuster und analog dazu bestehende Inkompatibilitäten als Trennlinie konkurrierender Deutungsmuster gefasst.2 Sofern auch Deutungselemente ausgemacht werden konnten, die mehrfach kompatibel sind, können – entgegen der 1 Vgl. Keller 2007, S. 96. 2 Wie auch Plaß/Schetsche (2001, S. 527) für die inhaltliche Rekonstruktion von Deutungsmustern vorschlagen.
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ursprünglichen Annahme von konsistenten und klar abgrenzbaren Deutungsgebilden über alle von Plaß und Schetsche (2001) vorgeschlagenen inhaltlichen Dimensionen von Deutungsmustern – drei Ebenen von Deutungsmustern der Katastrophe unterschieden werden: Auf der Dimension der Situationsmodelle siedeln sich Deutungsmuster an, die das Konzept der »Katastrophe« abgrenzen und festlegen, wann und inwiefern Situationen als Katastrophe zu fassen sind. Auf der Dimension der begründenden Deutungsmuster siedeln sich Kausalannahmen und damit einhergehende Handlungsimplikationen an – mithin finden sich hier Deutungsangebote, die nahelegen, weshalb es zur Katastrophe kam und wie damit langfristig umzugehen ist. Auf der Dimension der Deutungsmuster des Katastrophenschutzes siedeln sich schließlich Prinzipien des Katastrophenschutzes an – mithin finden sich hier Koordinationslogiken und Handlungsorientierungen, schlicht die Art und Weise, wie Katastrophenschutz zu bewerkstelligen ist. Dabei wird sich die raum-zeitliche Variabilität von Katastrophendeutungen verdeutlichen. Nicht nur, dass es im Zeitverlauf zu narrativen Verschiebungen kommen kann – wie historische Analysen nahelegen und z.B. Keller (2003) anhand des Staudammbruchs von Vajont illustriert –, sondern es ist auch mit einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher und teils konkurrierender Deutungsmuster zu rechnen.3 So wird sich am Fallbeispiel zeigen, dass die parallel existierenden Deutungsmuster weder zwangsläufig miteinander kompatibel sind, noch friedlich koexistieren, sondern auch Deutungskonkurrenz und Konflikte um Deutungsmacht und das »richtige« Deutungsmuster bestehen. Es ist also auch das »Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander konkurrierender Deutungen«4 zu erfassen und zu fragen, wie Deutungskonflikte ausgetragen werden bzw. deren Konkurrenz »entschieden« wird. Dementsprechend wird in einem zweiten Schritt auf der jeweiligen Deutungsebene aufgezeigt, wie sich die Dominanz von Deutungsmustern äußert – gerade hierin wird auch eine erste Brücke zu den objektivierten Strukturen des Katastrophenschutzes geschlagen – und welche Mechanismen und Strategien der Aufrechterhaltung bzw. (Re-)Stabilisierung dieser dominanten Deutungsmuster (und damit der Legitimität deren »institutionellen Substrats«) dienen. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf diejenigen »Ordnungsfragmente« gelegt, die ein besonderes Konfliktpotenzial aufweisen. Denn stets haben Katastrophen auch das Potenzial, die »semantische[n] Strukturen in Schwingung zu versetzen oder vielleicht sogar vollständig aufzubrechen«5 und gerade in denjenigen Bereichen der symbolischen und objektivierten Ordnung, die einer »Kampfansage« unterliegen, findet sich nun 3 Vgl. Groh et al. 2003, S. 20; 26. 4 Ebd., S. 26. 5 Ebd., S. 21.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
eine wunderbare Gelegenheit, die Mechanismen der Aufrechterhaltung dieser Ordnung, deren dauerhaften Reproduktion und Legitimation, zu analysieren. Vor dem Hintergrund der objektivierten Ordnung des österreichischen Katastrophenschutzes (vgl. dazu Kap. 5) wird hier die Frage gestellt, welche symbolischen Sinnzusammenhänge die bestehende Ordnung legitimieren sind, welche Sinnzusammenhänge dabei die »legitimen« sind und wie diese angesichts der Deutungskonflikte durchgesetzt werden können – und damit, wie hinterfragte Strukturen aufrechterhalten werden. Damit wird auch ein Beitrag zur Erklärung geleistet, warum Katastrophen als Falsifikation der etablierten Ordnung nicht zwangsläufig in deren Veränderung münden (sei es im Sinne eines konstruktiven Lernens oder eines Niedergangs), sondern ebenso deren (Re-)Normalisierung bedingen können. So beschreibt bereits Keller (2008b) Katastrophen als »Katalysatoren der Restabilisierung oder Transformation etablierter Wirklichkeitsordnungen.«6 Dementsprechend lässt sich in Anlehnung an Clausens (1994; 2003) makrosoziologische Prozessmodell auch die Frage stellen, wie die »Katastrophenlösung« nicht zwangsläufig in das Stadium der Friedensstiftung, sondern auch »zurück« in das Stadium der Alltagsbildung bzw. Klassenformation führen kann.
6.1.
Zur Methodik der Deutungsmusteranalyse
Wie bereits die theoretische Konzeption (vgl. dazu Kap. 4) ist auch das methodische Verfahren zur idealtypischen Rekonstruktion von Deutungsmustern bislang nicht klar umrissen: Sowohl im Hinblick auf die Dateninterpretation als auch auf die Datenerhebung kann ein großes Manko festgestellt werden. Festgehalten werden kann nur, dass es eben eines rekonstruierenden Verfahrens bedarf, das hinreichend flexibel und auf die Evokation von Derivaten von Deutungsmustern ausgerichtet ist, um eine Grundlage für die idealtypische Rekonstruktion von Deutungsmustern zu schaffen.7 Angelehnt an Ullrichs (1999a, 1999b) Vorschlag des diskursiven Interviews stützt sich die Rekonstruktion von Deutungsmustern der Katastrophe in dieser Arbeit auf qualitative, leitfadengestützte Interviews. Daran kritisieren etwa Plaß und Schetsche (2001), dass Deutungsmuster zwar als überindividuelle und damit von den einzelnen Subjekten unabhängige Strukturen konzipiert werden, aber dennoch in der Empirie anhand individueller Repräsentationen erfasst werden sollen. Allerdings argumentiert Ullrich (1999a; 1999b) überzeugend, dass die empirische Rekonstruktion von Deutungsmustern eben (nur) über die Analyse individueller Reprä6 Keller 2008b, S. 306; Hervorhebung SP. 7 Vgl. Ullrich 1999a, S. 431; Ullrich 1999b, S. 6-9.
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sentationen und deren Verdichtung und Typisierung zu konsistenten Deutungsmustern erfolgen kann. Auch wenn diese zwar niemals identisch mit den Deutungsmustern sind, aus denen sie hervorgehen, sind letztere als latente Phänomene niemals empirisch direkt zugänglich und so die (beispielsweise über Interviews gewonnenen) individuellen Repräsentationen als »Konkretisierungen oder Adaptionen von Deutungsmustern«8 die einzige Form, in der Deutungsmuster empirisch überhaupt fassbar sind.9 Darüber hinaus werden Interviewleitfäden häufig dahingehend kritisiert, dass sie die Erzählstruktur beeinflussen würden. Allerdings dürfte das im Rahmen der Deutungsmusteranalyse kein allzu großes Problem darstellen, sofern weder die Rekonstruktion einer individuellen Fallstruktur noch individuelle Einstellungen und Meinungen im Vordergrund stehen – der oder die Befragte ist ausschließlich als ReproduzentIn und TrägerIn von Deutungsmustern von Interesse. Dementsprechend steht im Rahmen von Deutungsmusteranalysen die Ausrichtung der Fragetechnik und Interviewführung auf die Evokation von Deutungsmustern im Vordergrund und weniger die Vermeidung von Reaktivität bzw. Überformungen des Gesprächsverlaufs. Folglich sind auch Interviewtechniken wie »Warum«-Fragen oder die Konfrontation mit Gesagtem im Sinne einer (situativ passenden) Begründungsaufforderung hier weniger als Fauxpas seitens der InterviewerInnen als ein funktionelles Erfordernis zu sehen. Darüber hinaus bieten Leitfäden eine gute Möglichkeit, Interviews thematisch zu fokussieren und zu steuern und damit die verschiedenen potenziellen Dimensionen von Deutungsmustern abzudecken. Dementsprechend wurde in Anlehnung an die theoretisch nahegelegte, inhaltliche Strukturierung von Deutungsmustern ein Leitfaden generiert (Abb. 10 im Anhang), der sich im Wesentlichen entlang von Katastrophendefinitionen, Kausalannahmen (Ursachen und Folgewirkungen), affektiven Komponenten und Handlungsimplikationen gliedert. Dieser Leitfaden fungierte schließlich in der konkreten Interviewsituation als flexibel zu handhabendes Instrument, das den Blick auf spezifische Themenblöcke lenken, aber die thematische Offenheit des Interviews dennoch nur geringstmöglich beeinflussen sollte. Darüber hinaus wurde der Leitfaden entsprechend neu aufgeworfener Aspekte im Zuge des Projektfortschritts oder entsprechend spezifischer Rollen von InterviewpartnerInnen (Betroffene, behördliche oder operative EntscheidungsträgerInnen) adaptiert, womit der Forschungsprozess angelehnt an die Grounded Theory als ein iterativzyklischer Prozess von Datenerhebung, Auswertung und Theoriebildung erfolgte: Theoretische Aspekte flossen nicht nur in die Fallauswahl ein, sondern auch das 8 Ullrich 1999b, S. 5. 9 Vgl. Ullrich 1999a, S. 431; Ullrich 1999b, S. 6.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
Erhebungsinstrument wurde im Prozess der Erhebung modifiziert, um eine größtmögliche empirische Offenheit für neuartige Aspekte zu gewährleisten.10 Im Hinblick auf die Auswahl von InterviewpartnerInnen schlägt Ullrich (1999b) nun vor, sich am »theoretischen Sampling« der Grounded Theory zu orientieren. Das Ziel sei eben weniger ein quantitativ repräsentatives Sampling als vielmehr die möglichst vollständige Erfassung des Raums an verschiedener Deutungsmuster. Es sind dementsprechend auch nicht die konkreten InterviewpartnerInnen, welche die Fälle darstellen, sondern vielmehr die verschiedenen Deutungsmuster. Die InterviewpartnerInnen fungieren hier lediglich als TrägerInnen von Deutungsmustern und sind derart auszuwählen, dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Abbildung verschiedener Deutungsmuster zu erwarten ist.11 Sofern einschlägige Vorerhebungen im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich waren, wurden auf Basis der theoretischen Vorüberlegungen zwei Merkmale als Variationspunkte der Auswahl von InterviewpartnerInnen genommen: Zum einen verweist Oevermann (1973, 2001a, 2001b) darauf, dass Deutungsmuster im Grunde lebensweltlich verankerte, routinisierte Antworten auf sich typisch stellende Handlungsprobleme darstellen, womit in der Verankerung von Deutungsmustern in sozialen Milieus ein erster vielversprechender Variationspunkt zu sehen ist. Dementsprechend wurde die Gruppe der befragten Betroffenen im Hinblick auf zentrale Parameter (Berufsstatus, Alter, Geschlecht), die Aufschluss über die Zugehörigkeit zu spezifischen Sozialmilieus bzw. Lebenswelten geben, variiert. Zum anderen dürfte ein weiterer vielversprechender Variationspunkt in der Zugehörigkeit zu kollektiven Akteursgruppen liegen, die gemäß Schetsche (2008) an der Thematisierung eines Problems bzw. der Formulierung von Problemmustern beteiligt sind: Aktiv Betroffene, »die sich selbst gemäß der Logik der betreffenden Problemdeutung als Opfer betrachten,«12 AdvokatInnen, die stellvertretend für die Betroffenen eintreten, ExpertInnen, die nicht-alltägliche Kompetenzen für den Umgang mit sozialen Problemen mitbringen, ProblemnutzerInnen, die aus der Problemthematisierung profitieren, und die Lösung der Probleme nur aus opportunistischen Gründen anstreben, soziale Bewegungen, der Sozialstaat und die Massenmedien.13 Sofern es im Rahmen dieser Arbeit nicht um die Verbreitung und die ursprüngliche Entstehung von Problemmustern geht, sondern um deren Rezeption und Handlungsrelevanz in konkreten Handlungskontexten, dürften dabei vor allem die Gruppen der ExpertInnen, die auf Grund einer besonderen Kompetenz mit der Durchführung von Katastrophenschutzmaßnahmen betraut sind (RepräsentantInnen von Organisationen mit institutionell verankerten Mitwirkungs10 11 12 13
Vgl. Ullrich 1999b, S. 9f; Ullrich 1999a, S. 434; 438. Vgl. Ullrich 1999b, S. 11f. Schetsche 2008, S. 87. Ebd., S. 86-94.
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kompetenzen an der Katastrophenhilfe, wie Feuerwehren und Rettungsdienste, Bundesheer, Wildbach- und Lawinenverbauung, Meteorologen, Geologen, Katastrophenschutzbehörden) und der potenziell Betroffenen (aktiv oder passiv Betroffene, wobei offen gelassen wird, ob sich die Befragten selbst als betroffen verstehen oder nicht) von Relevanz sein, wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Grenzziehung zunehmend verschwimmt, sofern sich Befragte zum Teil in einer Zwischenstellung befinden, sowie in beiden Gruppen mit AdvokatInnen zu rechnen ist (z.B. in Form von Interessensvertretungen oder Betroffene, die selbst Nachbarschaftshilfe leisten). Die konkrete Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte schließlich nach dem Schneeballprinzip: Informationen über die soziodemographischen Merkmale und die Gruppenzugehörigkeit von Akteuren sowie Empfehlungen seitens vorangehender InterviewpartnerInnen oder Ortskundiger dienten als Grundlage für die Auswahl gemäß einer maximalen Variation. Die Befragten wurden größtenteils persönlich, teils aber auch telefonisch kontaktiert. Bis auf zwei potenzielle Befragte, die abwiesen und einen, der spontan absagte, war die Bereitschaft zur Interviewdurchführung durchwegs gegeben. So wurden im Zeitraum von Ende Dezember 2016 bis Anfang Februar 2017 in Summe 20 Interviews durchgeführt. Abb. 3 gibt einen Überblick über die Verteilung der InterviewpartnerInnen gemäß deren »Gruppenzugehörigkeit«, Geschlecht, Alter und Berufsstatus. Die durchschnittliche Interviewdauer bewegte sich in einer Spannbreite von 0,75 bis 2,5 Stunden, lag allerdings im Schnitt bei etwa über einer Stunde.
Abb. 3: Interviewsampling
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
Während die Interviews zunächst als Einzelgespräche geplant und angesetzt wurden, kam es fallweise (konkret im Falle von vier Betroffeneninterviews) vor, dass sich eine Gesprächssituation situativ zu einer Art Partnerinterview entwickelte. Dabei wurde das Interview nicht abgebrochen, sondern flexibel auf die Situationsveränderung reagiert und versucht, die möglichen Einflüsse auf die Gesprächsverläufe konstruktiv zu nutzen. Im Kontext der Deutungsmusteranalyse erscheint dies weniger problematisch, sofern hier nicht die Rekonstruktion von Fallstrukturen einzelner Befragter oder deren individuelle Meinungen und Einstellungen im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Rekonstruktion von lebensweltlich verankerten Deutungsmustern. Damit könnte der Zutritt von Dritten sogar zuträglich sein, sofern Deutungsmuster in der Interaktion mit GesprächspartnerInnen besonders deutlich hervortreten können, da es hier oft von Nöten ist, das Gesagte verstärkt zu begründen oder zu explizieren. Eine weitere Grenze des methodischen Designs ergibt sich aus der zeitlichen Anordnung der Interviewsituation und des im Rahmen des Interviews thematisieren Ereignisses: So lag der Murenabgang in St. Lorenzen zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung bereits mehr als vier Jahre in der Vergangenheit. Dabei ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass Katastrophen auf Grund ihrer emotionalen Färbung und ihres dramatischen Charakters relativ stark im Gedächtnis verankert bleiben, wodurch ein vollständiges Vergessen der Katastrophe nur sehr unwahrscheinlich ist, allerdings ist ein verblasstes bzw. verzerrendes Erinnern zu erwarten, sofern das Thematisieren von Vergangenem stets im Lichte der Gegenwart erfolgt. Die Durchführung der Interviews vollzieht sich also in einem Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen. Eine vollständige Rekonstruktion des damaligen Geschehens aus den Augen der Befragten ist damit schlichtweg nicht möglich. Dabei erlaubt die Interviewsituation zum einen aber als eine besondere Gelegenheit der Aufmerksamkeitsausrichtung auf spezifische Weltausschnitte Raum für Reflexion und Selbstbeobachtung, wodurch auch im Verlauf des Alltags verdrängte Aspekte ins Bewusstsein zurückgeholt werden können.14 Zum anderen ist die Überformung individueller Erfahrungen durch die Dynamik von Erinnern und Vergessen im Kontext der Deutungsmusteranalyse ohnehin nicht allzu problematisch aufzufassen, sofern es hier weniger um die Rekonstruktion der damaligen Geschehnisse und deren Abläufe geht, als vielmehr um die Rekonstruktion von (allgemeineren) Sinnstrukturen, die den Erzählungen zu Grunde liegen. Sofern das Erinnern weniger ein bloßes Reproduzieren als vielmehr ein Vergegenwärtigen der damaligen Situation im Lichte der Gegenwart unter Rückgriff auf aktuell vorhandene Wissensstrukturen ist,15 verweist das verzerrende Erinnern auch auf eine Veränderung in den verfügbaren Deutungsmustern: So könnten dominante 14 Vgl. Rost 2014, S. 171. 15 Vgl. Wetzel 2011, S. 38.
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Deutungsmuster weniger dominante verdrängt haben oder neue Deutungsmuster hinzugetreten sein. Die sich im Zeitverlauf verändernden Deutungen oder das Vergessen von Aspekten zu Gunsten anderer erscheint damit nicht als Störfaktor, sondern sogar als Indikator für die Gültigkeit und Dominanz einer symbolischen Ordnung und das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen folglich als möglicher Stabilisator dieser Ordnung. Die Auswertung des erhobenen Interviewmaterials erfolgte schließlich als Kombination von induktiver und deduktiver Kategorienbildung, wie es Reinhoffer (2015) für die praktische Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring (2010) vorschlägt: Er unterscheidet formale Kategorie, die den Forschungsgegenstand formal strukturieren und deduktiv aus Theorien abgeleitet werden können, von materialen Kategorien, welche die deduktiv gewonnene Struktur mit Inhalten füllen. Damit können die jeweiligen Vorteile, die aus beiden Zugängen erwachsen, kombiniert werden: Deduktive Kategorien schärfen den Blick für Strukturaspekte, die ansonsten womöglich übersehen werden, und können zugleich durch den induktiven Zugang ergänzt und inhaltlich ausgefüllt werden.16 Dementsprechend wurde theoretisches Vorwissen (zur Deutungsmusterstruktur sowie deren möglichen inhaltlichen Ausprägungen) als bewusste und flexible Kategorien angewandt, um den Blick auf mögliche Spezifika zu lenken und die Strukturen des Forschungsgegenstandes herauszuarbeiten. Diese Flexibilität in der Handhabung von theoretischen und methodischen Konzepten und Ansätzen richtet sich nun zwar entgegen das Bestreben, qualitative Auswertungsverfahren entlang einer größtmöglichen Systematik und Strukturiertheit zu gestalten,17 kann aber gerade auf Grund ihrer Offenheit auch als Stärke gefasst werden. Überdies verweist bereits Weber (1985) darauf, dass es weniger dem Interpretationsergebnis vorgelagerte Maßstäbe sind, die über dessen Qualität entscheiden, als vielmehr der Gehalt der Ergebnisse im Sinne einer Rekonstruktion logisch sinnhafter, für die weitere Analyse gehaltvoller Idealtypen: »Und in der Tat: ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden; es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht.«18 Insbesondere in der aus der Grounded Theory entlehnten komparativen Methode, d.h. der Methode des ständigen Vergleichs, und der Kontrastierung findet sich 16 Vgl. Reinhoffer 2015, S. 131ff. 17 Wie es beispielsweise Mayring (2010, S. 48f) im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse einfordert. 18 Weber 1985, S. 193.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
nun Ullrich (1999b) zu Folge ein vielversprechender Ansatz, um Deutungsmuster typisierend zu rekonstruieren bzw. sie überhaupt erst zu erkennen. Erst im komparativen Vergleich, im Übereinanderlegen von individuellen Repräsentationen, können Deutungsmuster überhaupt herausgearbeitet und zu einzelnen Typen verdichtet werden. Dabei gilt es, die real vorgefundenen Fälle als empirische Vorstufen zu verstehen, über die durch eine thematische Reinigung bzw. einseitige Steigerung zu Idealtypen gelangt werden kann.19 Im Weberschen Verständnis (1985) wird ein Idealtypus stets »gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde.«20 Damit ist ein empirischer Bezug zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die Qualität der Deutungsmustertypologie. Denn wie Weber (1985) weiter erläutert, ist der Idealtyp weniger Ziel als Mittel für die Erkenntnis der Bedeutung und ursächlichen Bedingtheit von sozialen Phänomenen und ohnehin in seiner Reinheit niemals real vorzufinden. Die idealtypischen Deutungsmuster stellen vielmehr »überreale« Gebilde dar, deren Beurteilungskriterium eher in der theoretischen Brauchbarkeit liegt, als in ihrer Deckungsgleichheit mit den empirisch vorgefundenen konkreten Ausdeutungen: »Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.«21
6.2.
Zwischen Ereignis und Prozess: Situationsmodelle der Katastrophe
Eine erste Ebene von Deutungsmustern findet sich nun in Situationsmodellen der Katastrophe, die Wissensbestände für die Situationsdefinition zur Verfügung stellen. Es werden also Situationen ausgemacht, in denen Deutungsmuster der Katastrophe aktiviert werden. Sie erscheinen sozusagen als Filter der Deutungsmusteraktivierung. Dabei erfolgt die Kategorisierung der Situation als Katastrophe – der Abgleich mit den »schablonenhafte[n] Kurzbeschreibungen der Situationen, in denen das betreffende Deutungsmuster anzuwenden ist«22 – nicht als punktuel19 20 21 22
Vgl. Ullrich 1999b, S. 22. Weber 1985, S. 191. Ebd., S. 194. Schetsche 2008, S. 112.
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ler Deutungsakt, sondern vielmehr als eine sukzessive Verdichtung der Wahrnehmung hin zur »Katastrophe«. Die Kriterien anhand derer die Katastrophe festgemacht wird, unterscheiden sich allerdings: So wird die Katastrophe anhand unmittelbarer Schadensauswirkungen festgestellt, anhand der Unterbrechung von Routinehandeln im Sinne einer Überforderung der Handlungsressourcen oder anhand eines ereignishaften Bruchs mit der Normalität. Schließlich findet sich das Modell der »richtigen« Katastrophe, das die Katastrophe nicht primär an inhaltlichen Kriterien festmacht, sondern daran, wer darüber entscheidet. Nicht alle Stimmen haben gleichwegs Einfluss auf die Aushandlung der Situation, mithin besteht ein Gefälle in der Verteilung von Deutungsmacht.
6.2.1.
Sukzessive Verdichtung der »Katastrophe«
Obgleich sich die Katastrophe als rapider und radikaler Wandel höchstwahrscheinlich auf Grund ihrer situativen Charakteristika in die Aufmerksamkeit drängt, sagt das nichts darüber aus, ob und ab wann sich für Individuen (gleich worin für sie die Katastrophe besteht) die Situation zur Katastrophe verdichtet. So ist davon auszugehen, dass sich eine Situation nicht punktuell und zwangsläufig, sondern prozessförmig und sukzessive in der Wahrnehmung zu einer Katastrophe bzw. außeralltäglichen Bedrohung verdichtet. Empirische Beispiele zeigen, dass es eine »Phase der Ungewissheit zwischen der Aufhebung von Normalität und einer Bedrohung durch mehr oder weniger natürliche Phänomene«23 gibt. Rost (2014) zeigt etwa am Beispiel der Oderflut 1997, dass der Wasserspiegelanstieg zunächst als normal interpretiert wurde, bis erst eine Veränderung des sozialen Settings – in dem Fall das Eintreffen der ExpertInnen – zur Wahrnehmung der Situation als massive, außeralltägliche Gefährdung führte.24 Ein ähnliches Bild zeichnet sich nun im Fallbeispiel des Murenabgangs in St. Lorenzen ab. Zwischen den sich überschlagenden Prozessen (die Prozesse, in denen sich im Sinne Clausens der Wandel bis aufs Äußerste beschleunigt und intensiviert) und der Wahrnehmung bzw. Klassifizierung dieser Prozesse als Katastrophe (worin diese auch bestehen mag) findet sich eine Phase der Ungewissheit. Die Wahrnehmung eines Geschehens als Katastrophe erscheint also nicht als ein punktueller Deutungsakt, sondern vielmehr als eine sukzessive Verdichtung der Wahrnehmung hin »zur Katastrophe.« Sofern kein konkurrierendes Schema herausgearbeitet werden konnte, dürfte hierin auch eine Universalie der Situationsmodelle liegen. So verlaufen die Reflexionen der Befragten über ihre Katastrophenerfahrungen nahezu gleichförmig entlang eines zunächst irritierenden Moments, das die Auf23 Rost 2014, S. 157. 24 Vgl. ebd., S. 156ff.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
merksamkeit abrupt auf sich zieht – sei es ein lautes »Rumpeln« oder »Krachen«, das Schreien der Nachbarin oder Partnerin oder eine telefonische Benachrichtigung – gefolgt von Versuchen, bekannte Deutungsschemata zu aktivieren – wie das Fahrgeräusch eines Baggers, ein »Scherz« bis hin zum geplatzten Swimmingpool. So erzählt Herr Hofer25 (Bewohner): »Und auf einmal ist es laut geworden (kurze Pause). Ach, habe ich mir gedacht, kommt jetzt der Bagger heraus aus dem Graben? Gar so gerumpelt, gell? […] Und DANN bin ich hinübergegangen in Richtung Wegseite, wo man hinaufsieht und dann habe ich gesehen: Und jetzt geht es los, jetzt kommt etwas, gell? Zuerst hat es gezischt und gekracht und gebrezelt […]. Und dann ist der obere Teil vom Dorf schon finster geworden. Wir haben noch Licht gehabt. Und dann ist es schon finster geworden. Und (flüstert) dann habe ich mir gedacht: Jetzt kommt etwas.«26 Oder Herr Bauer (Praxisexperte), der die Information über die Katastrophe zunächst als einen schlechten Scherz einordnete: »Dann hat mich der L. angerufen und hat gesagt: Du musst für mich nach Lorenzen fahren, da ist eine Mure abgegangen. ›Alter‹, habe ich dann gesagt, ›das ist ein guter Schmäh, weck jemand anderen auf‹, sagte ich, ›ich habe für das jetzt eh keine Zeit mehr.‹ Und ich habe eigentlich geglaubt, das ist wirklich ein Joke.« In dem Moment, in dem sich dann herausstellt, dass die bekannten Schemata nicht hinreichend sind, um die Wahrnehmungen einzuordnen, dass es sich um etwas gänzlich Unbekanntes handelt, das den vorhandenen Deutungshorizont übersteigt, erlangt die Situation den Charakter extremer Kontingenz und Unsicherheit. So beschreibt Frau Weber (Bewohnerin) diesen Moment des »Umschaltens« angesichts der Eindrücke: »Naja, weil einem das Gehirn momentan steht, wenn man das sieht. Wenn man da hinausgeht. Und da schaltet man alles aus […]. Da hat man keine anderen Gedanken mehr.« Oder Frau Moser (Bewohnerin) reflektiert: »Ich habe keinen TON gehört. Das war wie so ein Stummfilm. Ich habe… Als wir hinausgeschaut haben, obwohl das Fenster gekippt war… Ich habe nichts Tuschen gehört oder Rauschen. Da war nichts da. […] Das war wahrscheinlich ein Schock oder so, der das ausgelöst hat.« Die sich daraus ergebende massive Unsicherheit – in Clausens (2008) Worten nimmt die Katastrophe als extreme, rapide Verflechtung dämonische Züge an und wirkt auf die Individuen bedrohlich27 – wird mit einer Bandbreite an negativen Emotionen in Verbindung gebracht: Angst, Panik und Unsicherheit erscheinen als integraler Bestandteil des Situationsmodells der »Katastrophe«. Herr Hofer (Bewohner) beschreibt seine Emotionen angesichts der massiven Unsicherheit wie folgt: »ANGST… Angst hast du VIEL. Herzklopfen hast du so viel und zittern tust du. Weil du nicht weißt: Kommt noch mehr nach? Oder ist es jetzt vorbei? Das ist ja das Problem, 25 Den Befragten wurden Pseudonyme entsprechend einer Auflistung häufiger Familiennamen zugewiesen (de.wikipedia.org/wiki/Familiennamen_in_Österreich). 26 Sämtliche Zitate wurden im Dialekt geführt und im Zuge der Transkription und Nachbesserungsarbeiten in das Hochdeutsche übersetzt. 27 Vgl. Clausen 2008, S. 836.
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gell? Du kannst nicht sagen: Mir ist es jetzt egal. […] Du weißt ja nicht, was dahinter noch kommt.« Um diese Unsicherheit zu überwinden und die Situation zu bewältigen, erfolgt zunächst ein aktives Streben nach Information: »Sich selbst einen Überblick verschaffen«, informelle Netzwerke, top-down bereitgestellte Informationen (so erinnert sich ein Befragter an persönliche Melder und Lautsprecherwägen) oder medial vermittelte Informationen avancieren zu einer Quelle der kognitiven Situationsbewältigung. So erläutert Herr Winkler (Praxisexperte) diese Notwendigkeit wie folgt: »Also es war ein total unklares, indifferentes Bild […]. ›Gesagt – getan‹ sind die ersten 12 bis 24 Stunden immer die chaotischsten, sage ich einmal: Man versucht in diese Lage irgendwie einmal ein Bild zu bekommen.« Erst über den allmählichen Informationszugewinn verdichtet sich das Bild zu einer einordenbaren Situation, zur »Katastrophe«: »Man hat ja lange auch nicht wirklich sagen können… Okay, das ist passiert, aber WAS jetzt genau passiert ist, das hat auch eine Zeit lang gedauert« (Herr Wagner, Praxisexperte).
6.2.2.
Die Katastrophe als schadbringendes Ereignis
Wie angedeutet, unterscheiden sich nun allerdings die Kriterien, anhand derer eine Situation als Katastrophe klassifiziert wird. Ein idealtypisches Situationsmodell besteht nun darin, die Katastrophe als schadbringendes Ereignis zu fassen – als einen externen Akteur (»die Mure«), der über die Gesellschaft hereinbricht und dort, in der Sphäre des Kulturellen, Schäden anrichtet: »Wenn mehrere Menschen betroffen sind durch ein Schadensereignis, dann sehe ich das als Katastrophe« (Herr Reiter, Praxisexperte). Es ist diesem Situationsmodell also eine implizite Unterscheidung zwischen dem Ereignis – der Katastrophe – und seinen Folgen inhärent. Dabei ist das Schadensspektrum zwar breit aufgespannt, allerdings liegt der Fokus tendenziell auf unmittelbar wahrnehmbaren, objektiven Schadensdimensionen (Gefahr für Leib und Leben, Personen- und Tierschäden, Zerstörung von Gebäuden und Sachgütern, land- und forstwirtschaftliche Schäden, Zerstörung der Infrastruktur wie Strom- oder Gasversorgung, Straßen oder Brücken bis hin zum »Abgeschnittensein von der Außenwelt«). Latentere und mittelbare Folgewirkungen werden zwar im »Schadensspektrum« berücksichtigt, diese werden allerdings nicht als entscheidend für das Vorliegen der Katastrophe erachtet (z.B. die Beeinträchtigung der allgemeinen Lebensqualität, psychische oder gesundheitliche Folgewirkungen). Zudem wird nicht jedes Schadensereignis gleichermaßen als Katastrophe gesehen, sondern diese besteht erst ab einem gewissen, schwer festzustellenden Ausmaß an Schäden und Betroffenen, das einen außergewöhnlichen Aufwand erfordert: »Und Katastrophe ist es glaube ich (kurze Pause) wenn es irgendwie… (kurze Pause) Schwer zu sagen, wenn es irgendeine Grenze überschreitet. […] Ein gröberer Schaden mit Folgewirkungen, wo du lange daran nagst usw.« (Herr Wagner, Praxisexperte).
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
Dabei ist dieses Schadensausmaß unmittelbar mit negativen Emotionen behaftet: So werden Analogien zu Kriegsgebieten gezeichnet oder die Trostlosigkeit, Fürchterlichkeit oder der Schmerz auf Grund der emotionalen Bindung zum eigenen Hab und Gut betont, wie Frau Moser (Bewohnerin) im Hinblick auf den Verlust ihres Privateigentums erläutert: »Und dann schaust du einmal vorne hinaus, wie es da ausschaut. Ich habe mir gedacht, es ist nur da runtergekommen, gell? Da hat es mir einen Stich gegeben […] Das hat mir am meisten weh getan: Jetzt ist alles weg draußen.« Die Prioritäten liegen demnach (nach Beendigung der Akutgefährdung) in der raschen Bewältigung dieser Katastrophenschäden. So zieht Herr Winkler (Praxisexperte) eine Analogie zum Feuerwehrwesen: »Retten – Löschen – Bergen.« Angesichts der negativen affektiven Beladenheit der Schäden erscheint dies (auch) als emotionale Notwendigkeit. Die zugewiesene Relevanz und Bedeutung des »Status Quo« zwingt unmittelbar in eine optimistische Haltung des Nach-vorne-Schauens und des Wiederaufbaus: »Man denkt nur immer wieder, dass… Ja: Wiederaufbauen und herrichten, alles. Man weiß, dass es enorm viel Schaden gegeben hat und (kurze Pause) man ist froh, dass nicht mehr passiert ist […]. Du denkst nur, ja, dass du das halt wieder hinbringst, wie es einmal war oder so ungefähr, nicht?« (Frau Weber, Bewohnerin). Folglich geht mit dem allmählichen Verblassen der Schadensauswirkungen auch das Ende der Katastrophe einher: »Ja vorbei war sie, als die ganzen Aufräumarbeiten abgeschlossen waren. Und als das dann wieder so schön langsam angefangen hat, zu laufen… Unser Haus (kurze Pause) wiederhergerichtet worden ist« (Herr Müller, Bewohner). Allerdings verbirgt sich hinter dieser vermeintlich optimistischen Perspektive »nach vorne« bzw. der Aufbruchsstimmung in Richtung Schadensbewältigung und Wiederaufbau vielmehr eine normalisierende Perspektive »zurück«, wie sich auch in Herrn Schwarz‹ (Praxisexperte) Erläuterungen deutlich abzeichnet: »Es war auf jeden Fall damals (kurze Pause) eben sehr schnell diese Motivation da, St. Lorenzen in den Ursprung, seinen UR-Zustand wieder zurückzuversetzen.«
6.2.3.
Die Katastrophe als Überforderung von Handlungsressourcen
Das »objektive« Schadensausmaß ist nicht zwangsläufig der Kern dessen, was Individuen als Katastrophe kategorisieren. Vielmehr lässt sich anhand der Fallstudie auch ein Deutungsschema rekonstruieren, das die Katastrophe als fundamentale Unterbrechung des Routinehandelns im Sinne einer gravierenden Irritation fasst – als Übersteigung von Handlungsressourcen im Umgang mit einem jenseits der Normalerfahrung liegenden Ereignis: »Da ist man maßlos überfordert. Jung und Alt. Alle. Ja es hat ja glaube ich noch keiner von uns so etwas mitgemacht, so etwas Großes, im ganzen Dorf glaube ich noch nicht.« (Frau Schmid, Bewohnerin). Dabei ist es nicht nur ein Übersteigen der Handlungsressourcen, sondern auch die Verunmöglichung deren Aktivierung auf Grund situativer Charakteristika. So erläutert Geenen (2003), dass die Katastrophe als extrem rapider Wandel zunächst
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die Betroffenen in eine Situation versetzt, in der Handlungsoptionen extrem reduziert sind, sofern alles im Fluss erscheint und extremer Handlungs- und Zeitdruck besteht, was wohlüberlegtem Handeln bereits die Grundlage entzieht. Auf diesen massiven Zeitdruck verweist auch Herr Mayer (Bewohner): »Du hast keine Zeit, um Angst zu haben. Da hast du keine Zeit. Weil da hast du so einen ADRENALINspiegel, einmal. Da schaust du einmal. […] Weil da bist du aufgewirbelt, gell? Angst habe ich gar keine gehabt, weil du keine Zeit hast.« Diese unmittelbare Überforderung der Handlungsfähigkeit angesichts von Zeitdruck und Unsicherheit führt letztlich zu Improvisation und Kurzschlussreaktionen, eher zu einem Reagieren als zu wohlüberlegtem Handeln: »Aber in dem MOMENT, in dieser Nacht, denkst du nicht, gell?« (Herr Hofer, Bewohner). In einem kurzen Zeitraum verlaufen die Prozesse also nahezu deterministisch und der Handlungsspielraum und die Einwirkungsmöglichkeit auf die Prozesse erscheinen als minimal, was häufig auch als Hilflosigkeit erlebt wird.28 So erläutert Herr Schwarz (Praxisexperte) »Hilflos. Also du bist… In der Situation bist du total machtlos. […] Du schaust dir das eigentlich nur an und wartest, bis das Ganze irgendwann wieder eine Ruhe gibt. Das ist… Wenn du einmal Bäume STEHEND in einem Bachbett siehst, das ist einfach ein Bild, wo du sagst: Das hast du vorher nie gesehen und das wirst du auch nie wieder sehen. Also Hilflosigkeit, glaube ich, beschreibt es am besten.« Diese Hilflosigkeit erstreckt sich allerdings über die Akutsituation, d.h. den relativ kurzen Zeitraum, in dem sich die Prozesse überschlagen hinaus. So erinnert sich Herr Reiter (Praxisexperte) an sein Eintreffen in St. Lorenzen, nachdem sich die Dynamik des Murenabgang bereits gelegt hatte: »Und als das dann passiert ist… Da stehst du der Sache einmal völlig machtlos gegenüber, nicht? Ich meine, du hast eine Schockstarre.« An diesen regelrecht als »Stillstand« erlebbaren Moment, nach dem Verebben der Prozessdynamik, die eine massive Orientierungslosigkeit zurücklässt, erinnert sich auch Frau Huber (Bewohnerin): »Es war eine Totenstille. Überall hat man die Leute gesehen, dann… Also die unterwegs waren… Die sind dagestanden und haben, glaube ich, auch nicht gewusst, was sie tun sollen. […] Und… Ja, dann haben wir nur einmal geschaut und haben nicht gewusst, was wir tun sollen.« Gerade in dieser Handlungsunfähigkeit liegt nun der eigentliche »schreckliche« Charakter der Katastrophe: »Die Warterei, die ist scheußlich. Wo du sagst: Ich kann noch nichts machen. […] Das hat alles gebraucht. Und da stehst du so da… Du kommst jeden Tag… Da sitzt du da und weißt nicht, was du tun sollst. Das ist das Scheußliche gewesen« (Frau Moser, Bewohnerin). Es sind hier also weniger die Charakteristika eines konkreten Ereignisses oder Prozesses, welche die Katastrophe ausmachen, als vielmehr die angesichts der situativen Erfordernisse aufkeimende Handlungsohnmacht, die Überforderung der verfügbaren Handlungsoptionen. Auf diesen »Kern« der Katastrophe, wonach die Katastrophe eher auf der Handlungs- als auf der Ereignisebene anzusiedeln ist, verweist auch Macamo (2003). Am Beispiel des Hochwassers 28 Geenen 2003, S. 15.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
in Mosambik 2000, das weit ausufernde internationale Katastrophenhilfe mobilisierte, zeigt er, dass das Hochwasser an sich in der Perspektive der lokalen Bevölkerung weniger eine Katastrophe darstellte, als vielmehr etwas völlig »Normales«: »Überschwemmungen seien Gäste, die ein paar Tage bleiben.«29 Erst ex post, als die Ablagerungen die Bestellung der Felder verunmöglichten und die herkömmlichen Mittel zur Bewältigung nicht mehr reichten, wurde der Überschwemmung auch seitens der lokalen Bevölkerung der Status als normaler »Gast« entzogen und der Katastrophenstatus angehaftet. Erst die Folgen im sozialen Handeln zeitigen ein Ereignis als Katastrophe: »Erst nach der Katastrophe (für den Not- und Hilfeapparat) kam die Katastrophe.«30 Die Katastrophe wird damit weniger als ein schadbringendes Ereignis, als eine Krise des (individuellen und kollektiven) Handelns – und damit aber auch als Herausforderung – konzipiert: »Ich gehe immer so nach dem Motto: Es gibt keine absolut unlösbaren Probleme bzw. man muss sich jedem Problem stellen. Insofern ist das Wort KATASTROPHE rein begrifflich betrachtet auch ein sehr großes Wort, das ich selber ungern verwende« (Herr Eder, Praxisexperte). Sofern Krisen als Herausforderung des Handelns stets auch Ursprung von Wissen sind, besteht hier auch die Möglichkeit des Lernens. Die Katastrophe bietet als Unterbrechung der Handlungsressourcen wiederum die Chance, neue Ressourcen zu konstituieren: Individuen, Organisationen, Gesellschaften können also an der Katastrophe auch wachsen. Diesen Prozess des Zugewinns an neuen Handlungsressourcen durch Krisen- bzw. Katastrophenereignisse beschreibt Frau Berger (Bewohnerin): »Man lernt dann damit umzugehen, mit dem Ganzen. Weil, weißt du eh, wenn du das einmal, das erste Mal oder das zweite Mal, hast, dann bekommst du ein wenig Panik, das ist eh klar. Weil das hast du nicht immer. Aber wenn du das öfter hast, dann kannst du schon ein wenig (lachen)… Dann weißt du schon, wie du es angehst (lachen) […]. Da reagierst du sicher anders, wenn du es schon mal weißt, wie es funktioniert, als wenn du aus heiterem Himmel getroffen wirst.« Sofern über den Ansatz auf der Handlungsebene erkannt wird, dass die Katastrophe ein langfristig angelegtes Phänomen ist – weniger ein Ereignis als ein Gefälle zwischen Handlungsoptionen und situativen Handlungserfordernissen – wird hier auch ein möglicher Pfad des Wandels eröffnet. Denn nur indem auf (gesellschaftsinterne) blinde Flecke verwiesen wird, ist es überhaupt möglich, die Ursachen der Katastrophe in die Gesellschaft zu verorten und damit im Sinne Clausens als »normalen« sozialen Wandel zu denken und die Perspektive auf Veränderung zu öffnen: »Die Leute sind aufgewacht, haben gesehen: Mit Nichts-Tun geht es nicht mehr« (Herr Schwarz, Praxisexperte). 29 Macamo 2003, S. 167. 30 Ebd., S. 184.
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6.2.4.
Die Katastrophe als Unterbrechung der Normalität
Die Wahrnehmung der Katastrophe als Überforderung der Handlungsressourcen führt allerdings nicht zwangsläufig dazu, die Katastrophe auch als Handlungsproblem zu verstehen, sondern kann wiederum in eine Ereigniskonzeption münden und als wortwörtliche Unterbrechung der »Normalität« im Sinne eines Bruchs mit dem Alltag und der »Normalsituation< gedeutet werden: »Eine Katastrophe ist, was dir jegliche Alltagssituation nimmt« (Herr Winkler, Praxisexperte). Die Katastrophe scheint die Menschen regelrecht aus dem Leben zu reißen: »Für mich persönlich ist es eine Katastrophe, wenn ich sage, ich nehme eine WOCHE ZEIT aus dem Leben von den Menschen heraus. Weil etwas anderes ist es nicht. […] Und eben dieses ganze Ereignis, würde ich schon sagen, dazu braucht es eine Katastrophe, um wirklich die Leute eine Woche lang einmal konzentriert aus dem Leben herauszureißen« (Herr Schwarz, Praxisexperte). Die Katastrophe wird hier also wiederum als Ereignis gedacht, was der Möglichkeit, sie als langfristig angelegt zu erkennen, die Grundlage entzieht. Zwar wird auch hier an der Alltagswelt, an der Unterbrechung von Routinen, angeknüpft, allerdings wird diese Überforderung der routinemäßigen Handlungs- und Deutungsressourcen als Folge des Katastrophenereignisses gesehen. Die Katastrophe wird hier im Sinne einer Unterbrechung der Normalität verstanden, als ein Schnitt in den Fluss des Normalen: »Das sind so Sachen, wo du herausgerissen wirst. Du führst dein Leben ganz normal. Alles. Und auf einmal KOMMT etwas daher, mit dem du nicht gerechnet hast. Und du hast momentan einen Aufwand. So momentan, dass du nicht damit fertig wirst, oder so« (Frau Moser, Bewohnerin). Die Unterbrechung der Routine und Stabilität des Alltags, mithin: die Infragestellung des Selbstverständlichen, erscheint der Wahrnehmung als außeralltägliches Ereignis und lässt außer Acht, dass auch die »Normalität des Alltags« letztlich ein Resultat sozialer Prozesse ist: »Ein Ereignis [aber] wird zum Ereignis […] nur vor dem Hintergrund der Banalität und Routine des Alltags. Diese Normalität existiert nicht aus sich heraus, sondern ist Ergebnis einer permanenten Produktion.«31 Die Produktion des »Normalen«, des scheinbar Selbstverständlichen, ist dabei der fundamentale Modus der Alltagseinstellung, die »in weiten Bereichen durch die fraglos sich wiederholenden Abläufe und damit auch Erwartungen, dass es immer so weiter gehe, geprägt ist.«32 Dass aber auch diese Alltagsroutine, die als selbstverständlich erscheinende Ordnung, damit nichts »Normales« ist, sondern ebenso Ergebnis einer in einen weiteren Kontext, etwa in institutionelle und technische Infrastrukturen, eingebetteten dauerhaften (Re-)Produktion ist und damit ebenso »normal« oder »nicht normal« wie »die Katastrophe« ist, wird damit ausgeblendet. 31 Keller 2008b, S. 297; vgl. auch Keller 2003, S. 401. 32 Rost 2014, S. 40.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
Gerade aber vor dem Hintergrund der Wahrnehmung des Alltags als relativ stabilen Lauf der Dinge verleitet die Katastrophe als rapide Beschleunigung des sozialen Wandels33 dazu, sie als Bruch wahrzunehmen. Denn selbst wenn Gesellschaften an sich niemals stillstehen bzw. stationär zu verstehen sind, existiert sehr wohl eine »Vorstellung normaler Geschwindigkeit«34 – eine Erwartung, der die Katastrophe als extrem beschleunigter Wandel nicht entspricht: »Das Verhältnis der empirischen Geschwindigkeit zum normalen Zeitempfinden gerät in Unordnung. Wenn ›alles‹ auf einmal zu schnell für unsere Routinen passiert, ist (meistens) ›die Katastrophe‹ da.«35 So beschreibt Frau Maier (Bewohnerin) die Katastrophe als plötzlichen Eintritt eines Geschehens, welches das alltägliche Leben aus den »Fugen geraten« lässt: »Wenn du gar keinen Ausweg mehr siehst. Wenn irgendetwas passiert, wo du wirklich keinen Ausweg mehr siehst. Wo du in dem Moment… Dass du sagst, du musst dich aufraffen, damit irgendetwas noch geht. Aber du siehst eigentlich keinen Ausweg mehr. Am liebsten möchtest du dich hinlegen und weinen. Das ist für mich eine Katastrophe. (Kurze Pause) Wenn es Menschen betrifft, (kurze Pause) dein Leben, deine Routine betrifft, das ist für mich… Wenn das dann aus den Fugen gerät, das ist für mich eine Katastrophe.« Ähnlich dem Modell der Katastrophe als schadbringendes Ereignis, dessen Ende in der Bewältigung der Schäden liegt, impliziert auch die Konzeption der Katastrophe als Unterbrechung der Normalität, als ein »Menschen überwältigender plötzlicher Einbruch eines Fremden […] in die Alltagswelt des Menschen,«36 das Katastrophenende liege in der Wiederherstellung der gewohnten Ordnung und Stabilität des Alltags, mithin: in der Ausmerzung des über den Menschen hereinbrechenden »Fremden« und der Wiederherstellung des »Normalen.«37 Dabei sind diese Normalisierungsbestrebungen, die Sehnsucht nach der Wiederherstellung der gewohnten Ordnung, durchwegs nachvollziehbar. Denn die Katastrophe als radikaler und rapider Wandel unterbricht die Routinisiertheit und damit auch die Sicherheit des Alltags: »Das ewig aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geflochtene Band der Zeit wird ›plötzlich und unerwartet‹ zerrissen. ›Aus heiterem Himmel‹ bricht ›Etwas‹ herein in den Alltag und durchkreuzt das Gewollte und Geplante, das gemeinhin ›Normalität‹ geheißen wird, wie ein Donnerschlag.«38 Diese Irritation der Alltagssicherheit beschreibt auch Herr Müller (Bewohner): »Also das sind ja solche (kurze Pause) Momentaufnahmen, kann ich fast sagen. Du erwartest ja Nichts. Man glaubt immer, es ist eh alles abgesichert, es ist eh alles bestens, gell? Und aus heiterem Himmel passiert etwas, gell?« 33 34 35 36 37 38
Vgl. Clausen 1994, 2003. Clausen 1994, S. 23. Ebd., S. 23. Geenen 2003, S. 8. Vgl. ebd. Dombrowsky/Siedschlag 2014, S. 224.
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Wird das Individuum nun der stabilen Erwartungszusammenhänge und Sicherheiten des Alltags beraubt, folgt der Wunsch nach der Wiederherstellung dieser Sicherheit: »Nichts wünscht man sehnlicher, als alles ungeschehen machen und zurückkehren zu können zum vorherigen Zustand und seinem reibungslosen Funktionieren. Schnell aufräumen und so tun, als sei es nur ein Alb, erscheint daher so logisch wie psycho-logisch.«39 Die Priorität liegt folglich in der Rückkehr in die vertraute Normalität, in den vertrauten Alltag als Hort der Sicherheit, wodurch auch das Ende der Katastrophe (wenngleich nicht als deutlicher Schnitt) markiert wird: »Wenn die Normalität dann einsetzt, (kurze Pause) also wieder der normale Trott und alles, dann, ja, vergisst du das. Aber (kurze Pause) du kannst gar nicht sagen, wann der Schnitt wäre, dass du sagst, es ist jetzt wieder alles so, wie vor der Katastrophe« (Frau Maier, Bewohnerin).
6.2.5.
Zur »richtigen« Katastrophe
Die vorangehenden Erläuterungen illustrieren, dass »die Katastrophe« als Konzept der Weltwahrnehmung weder homogen in seiner Anwendung noch im Verständnis dessen, worin eine Katastrophe besteht, ist. Dementsprechend gilt es, die verschiedenen Perspektiven zu berücksichtigen.40 Doch die Wahrnehmung und Ausdeutung der »Katastrophe« erfolgt niemals in einem luftleeren Raum, sondern eingebettet in einen institutionellen und strukturellen Kontext, womit auch Machtdifferentiale in der Etablierung von Katastrophendeutungen zu berücksichtigen sind. Es gibt schlicht Grenzen einer legitimen Definition der Katastrophe, mithin Strukturen, die als »limitations of the legislative voice«41 die Zuweisung des Katastrophenstatus begrenzen und anleiten. Diese institutionell verankerte, symbolische Begrenzung der Katastrophensituation und die Verteilung von legitimer (Deutungs-)Macht findet ihren Niederschlag auch in den Deutungsmustern, auf die Befragte zurückgreifen. So werden im Rahmen der Interviews Überlegungen angestellt, ob das eigene Verständnis der Katastrophe nun das »richtige« sei. So verweist beispielsweise Herr Berger (Bewohner) zunächst auf ein seinerseits breites Katastrophenverständnis, in das er unter anderem die Dürreperiode des Vorjahres einordnet, um diesen Gedankengang mit dem Verweis darauf zu unterbrechen, dass diese ja keine (offizielle) Katastrophe gewesen sei, um schlussendlich Überlegungen über die »richtigen« Kriterien der Katastrophe anzustellen: »Wann es für mich eine Katastrophe ist? Für mich ist ALLES eine Katastrophe (lacht). Aber, ja, so wie voriges Jahr oder wann, als die Dürrekat… Wohl, das war auch noch… Nein, das war keine Katastrophe […] Das weiß ich nicht, was da passieren 39 Ebd. 40 Vgl. Bator 2012, S. 96. 41 Kroll-Smith/Gunter 1998, S. 164.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
muss, dass es zu einem Katastrophengebiet erklärt wird. So… (kurze Pause) Ich glaube, wenn du das Bundesheer brauchst, glaube ich, dann ist es eine Katastrophe.« Ein ähnliches Muster findet sich in den Erläuterungen von Herrn Reiter (Praxisexperte), der auf die Frage nach seinem Katastrophenverständnis explizit auf die von Gesetzes wegen verankerte Katastrophendefinition verweist, um sich anschließend über die »Richtigkeit« seines Verständnisses zu erkundigen: »Da gibt es einen genauen Gesetzestext. Frag mich nicht, wie der heißt. Ich glaube, da heißt es sogar: ›Eine Vielzahl‹. Aber ich sage halt: Mehrere Personen, die betroffen sind durch ein Schadensereignis. (Kurze Pause) So in etwa stimmt es, gell? (Lacht.)« In Herrn Reiters Rekurs auf die Betroffenheit von Personen durch ein Schadensereignis äußert sich ein starkes Näheverhältnis von den Situationsmodellen der »legitimen Katastrophe« und dem »schadbringenden Ereignis«, was vor allem daraus resultiert, dass sich die inhaltlichen Kriterien beider Modelle entsprechen, wie auch ein Verweis auf die gesetzlich verankerte Katastrophendefinition veranschaulicht. Und dennoch sind beide Modelle voneinander deutlich abzugrenzen, sofern sich die »richtige« Katastrophe vor allem über die Verteilung der Deutungsmacht entscheidet und weniger über eine inhaltliche Klassifikation. Dementsprechend gilt es hier auch zu fragen, welche Akteure an der Etablierung der legitimen Katastrophendeutung beteiligt sind und über Deutungsmacht und den Zugang zu den damit einhergehenden Ressourcen verfügen – und welche Perspektiven ausgeblendet werden.42 Dabei ist es, wie erläutert, in Österreich eben nicht nur landesgesetzlich geregelt, worin eine Katastrophe besteht, sondern auch, welchen Akteuren die Entscheidungsbefugnis über das Vorliegen der Katastrophe zukommt. Es offenbart sich hier eine gesetzlich verankerte Definitionsmacht der Katastrophenschutzbehörden – eine legitime Stimme, die darüber entscheidet, was eine »richtige« Katastrophe ist (und was nicht). Und gerade diese zugewiesene Entscheidungsbefugnis schlägt sich auch als ein Deutungselement der »richtigen Katastrophe« nieder. So erklärt Herr Berger (Bewohner), dass die Katastrophe eben nicht durch beliebige Akteure festgestellt werden kann: »Das, ja, hat die GEMEINDE gemacht, dass das zu einer Katastrophe erklärt worden ist. Auch klar. Kann ja auch nicht ich tun oder irgendwer.« Die Kehrseite der legitimen Katastrophendeutung liegt nun darin, dass damit zwangsläufig alternative Perspektiven ausgeblendet werden. Dabei ist diese Ungleichverteilung der Deutungsmacht insofern relevant, als dass hiermit nicht nur ein Unterschied auf symbolischer Ebene konstituiert wird, sondern vielmehr auch der Zugang zu Ressourcen der Katastrophenhilfe verknüpft ist. So konstatiert Herr Winkler (Praxisexperte) ein Auseinanderklaffen zwischen lebensweltlicher und behördlicher Katastrophe, was sich unmittelbar auf die Chancen der Katastrophenbewältigung auswirkt: »Ein wesentlicher Nachteil einer jeden Katastrophe ist der, dass sie 42 Vgl. Kroll-Smith/Gunter 1998, S. 165ff.
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einmal ein Ende hat. Nämlich dann, wenn das Geld knapp wird. Ich will ja nicht einmal sagen ›knapp‹, aber es gibt… Eine Katastrophe ist dann zu Ende, wenn ich wieder einen Alltag rein bekomme, wenn ich nicht mehr auf externe Versorgungsmöglichkeiten angewiesen bin, wenn ich sozusagen wieder eine gewisse Alltagsroutine leben und gewährleisten kann, ja? Und irgendwann ist das einmal aus. Aber wenn die Katastrophe behördlich aufgehoben wird, habe ich auch keinen Zugriff mehr auf den Topf.«
6.2.6.
Zwischenfazit
Es ist also festzuhalten, dass die Wahrnehmung der »Katastrophe« nicht als punktueller Deutungsakt zu verstehen ist, sondern vielmehr als eine sukzessive Verdichtung der Wahrnehmung hin zum »Katastrophenbild«: Beginnend mit einem irritierenden Moment, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird zunächst versucht, vorhandene Deutungsschemata anzulegen, bis letztlich erkannt wird, dass die Situation bekannte Schemata übersteigt und damit ein Eintritt in unbekanntes Terrain und Unsicherheit erfolgt. Sofern sich hier kein konkurrierender Wahrnehmungsablauf rekonstruieren lässt, dürfte hierin eine Universalie der Situationsmodelle der Katastrophe liegen. Im Hinblick auf die Kriterien, anhand derer die Situation als »Katastrophe« kategorisiert wird, konnten allerdings idealtypisch verschiedene Situationsmodelle unterschieden werden. Ein erstes Modell des »schadbringenden Ereignisses« besteht darin, die Katastrophe anhand von (unmittelbaren) Schadensauswirkungen und Betroffenen festzumachen. Das Modell der »Überforderung von Handlungsressourcen« löst die Katastrophe von ihrem scheinbaren Ereignischarakter und verortet sie auf der Handlungsebene. Die Katastrophe erscheint hier als Krise des Handelns und damit auch als Möglichkeit, an der Herausforderung zu wachsen. Das Modell der »Unterbrechung von Normalität« legt den Fokus zwar ebenfalls auf die Unterbrechung des Routinehandelns, doch erscheint die Katastrophe hier wiederum als Ereignis, welches das fließende Band des Alltags entzwei zu reißen scheint und womit die Routineunterbrechung nicht als der Kern der Katastrophe, sondern als deren Folge zu sehen ist. Trotz der Heterogenität an Perspektiven auf die Katastrophe findet sich überdies ein Modell der »richtigen« Katastrophe, das unmittelbar mit Vorstellungen einer institutionell verankerten Deutungsmacht und den damit verbundenen Zugangschancen zu Ressourcen der Katastrophenhilfe einhergeht. Abb. 4 bietet einen Überblick über die verschiedenen Situationsmodelle der Katastrophe. Zudem umfassen die Situationsmodelle der Katastrophe durchwegs auch affektive Komponenten: Einerseits geht die Katastrophe mit einem Bündel an negativen Emotionen einher, wie Angst und Furcht angesichts der extremen Unsicherheit, Leid und Trostlosigkeit angesichts des Schadensausmaßes oder Hilfsund Machtlosigkeit angesichts der erlebten Handlungsunfähigkeit. Andererseits
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ist die Katastrophe auch Ausgangspunkt »positiver« Emotionen, etwa einer optimistischen Perspektive des »Nach-vorne-Schauens« in Richtung der Wiederherstellung des Status Quo, der Bewältigung der objektiven Schäden, der Rückkehr in die Normalität oder der Möglichkeit, an der Herausforderung zu wachsen. Gerade die affektiven Komponenten dienen auch als impliziter Verweis auf die Werteordnung, auf der das »Problem« angesiedelt ist (z.B. die Rolle von Privateigentum, Stabilität und Sicherheit). Während die Verortung der Katastrophe auf die Handlungsebene nun die Möglichkeit offen lässt, die Katastrophe in ihrem langfristig angelegten Charakter, als Kumulation von blinden Flecken der alltäglichen Verflechtungsverhältnisse, zu denken, bleibt dieser Weg in den ereignishaften Konzeptionen versperrt. Hier liegt das Ende der Katastrophe im Aufräumen und Wiederherstellen des Status Quo oder der unterbrochenen »Normalität« – mithin in der Ausmerzung des »Fremden.« Die Katastrophe wird als Einbruch eines »Fremden« in die vertraute Sphäre der Kultur wahrgenommen und verursacht dort ein verheerendes Ausmaß an Schäden oder einen Bruch mit der Normalität – eine Paradoxie, sofern es eigentlich die Folgen sind, welche wir überhaupt erst als Katastrophe fassen: Katastrophen haben keine Folgen, sie sind die Folgen.43 Während sich die wissenschaftliche Katastrophenforschung nun vermehrt durch Bemühungen auszeichnet, das Konzept der Katastrophe als externer Akteur, der über die Gesellschaft hereinbricht und dort Schäden anrichtet, aufzubrechen (siehe Kap. 3), hält es sich im Alltagsverständnis hartnäckig – unter anderem, da es mit einfachen Kategorien und Schemata auskommt, die sich in der alltäglichen Denkweise verhältnismäßig einfach durchsetzen können. Es ist schlicht einfacher zu sagen, der Sturm habe das Schiff geentert, oder die Mure habe das Dorf überrollt, als: die blinden Flecke des gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhangs hätten sich überschlagen und als radikaler, bis aufs Äußerste beschleunigter Wandel die subjektive und objektive Kultur falsifiziert.44 Schließlich relativiert dies auch Kellers (2003) Annahme, der gerade in den abrupt erscheinenden Katastrophen-»Ereignissen« Potenzial für die Erschütterung der etablierten gesellschaftlichen Ordnung sieht, da sie mit Anerkennungskonflikten über langfristig angelegte Risiken einhergehen würden (anders als im Falle von schleichenden Katastrophen, die von kontinuierlichen Anerkennungskonflikten begleitet würden). Dieses Potenzial ist zwar prinzipiell gegeben, doch zeigt sich hier, dass es nicht zwangsläufig verwirklicht wird. Denn insbesondere abrupt erscheinende Katastrophen werden selbst, wenn sie an der Unterbrechung von Routinehandeln festgemacht werden, tendenziell noch als außergewöhnliche 43 Vgl. Dombrowsky 1998, S. 21. 44 Vgl. Gilbert 1998, S. 15.
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»Ereignisse« wahrgenommen und in Richtung Wiederherstellung des Status Quo gedrängt.
Abb. 4: Situationsmodelle der Katastrophe
6.3.
Zwischen Externalisierung und Internalisierung: Begründende Deutungsmuster der Katastrophe
Auf der Dimension der »begründenden Deutungsmuster« siedeln sich nun ursächliche Annahmen über die Katastrophe sowie damit korrespondierende Handlungsimplikationen an. Dabei ist es eine historische Konstante, dass Gesellschaften versuchen, sich Geschehnisse zu erklären, die Art dieser Erklärungen ist allerdings wandelbar. Auch wenn in der westlichen Welt die naturwissenschaftliche, säkularisierte Deutung als dominant erscheint, ist kausales Denken stets nur ein Konzept erklärenden Denkens.45 Gerade angesichts von Katastrophen als »Krisen der Maßstäbe des kausalen Denkens«46 sind dementsprechend auch andere erklärende Deutungen zu erwarten. In Anlehnung an Furedi (2007) und Wagner (2008) können zunächst drei thematische Cluster von (erklärenden) Katastrophendeutungen unterschieden werden: Deutungsmuster, welche die Ursachen der Katastrophe in eine höhere, umfassende Ordnung verorten, Deutungsmuster, die sie in die natürliche Sphäre verorten, und Deutungsmuster, die sie in die gesellschaftliche Sphäre verorten. Dabei sind Deutungsmuster von (»Natur«-)Katastrophen keine eigenständigen Ideengebilde, sondern immer schon vor dem Hintergrund allgemeinerer Naturund Weltbilder zu denken, die diese erst hervorbringen.47 Dementsprechend werden zunächst in einem kurzen Exkurs verschiedene Naturbilder dargestellt, die 45 Clausen 2008, S. 839. 46 Clausen 2003, S. 58. 47 Vgl. Kempe/Rohr 2003, S. 124; Gingrich/Mader 2002, S. 9ff; Gill 2004, S. 53; Groh et al. 2003, S. 24.
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gemeinsam mit den thematischen Clustern der Katastrophendeutungen als »sensitizing concepts« die inhaltliche Rekonstruktion der erklärenden Deutungsmuster der Katastrophe anleiten. Anschließend werden die anhand des empirischen Materials idealtypisch rekonstruierten Deutungsmuster dargestellt: So konnten das Deutungsmuster einer höheren Ordnung, das Deutungsmuster einer natürlichen Kausalität, das schuldzuweisende Deutungsmuster und das gesellschaftskritische Deutungsmuster unterschieden werden. Gerade indem die Pluralität von Natur- und Katastrophenbildern aufgezeigt wird, wird die Selbstverständlichkeit, mit der uns erscheint, was wir als Natur und als Katastrophe (zu) verstehen (glauben), aufgebrochen.48 Den Deutungsmustern der Katastrophe liegt daher jeweils eine spezifische, relativ stabile Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft zu Grunde, wodurch schließlich der Blick auf ein theoretisch gewonnenes, lebensweltlich »ausgeblendetes« Deutungsmuster der »False Division« rückt. Anschließend wird dargelegt, dass nicht alle Deutungsmuster, sofern sie nicht als isolierte Gebilde in einem »symbolischen Vakuum« bestehen, dieselbe Geltung und empirische Relevanz erlangen – wie schon am Beispiel des ausgeblendeten Deutungsmusters der »False Division« offensichtlich wird. Vielmehr sind sie eingebettet in Interessenskonstellationen und stehen dementsprechend (auch) in Konkurrenz um Geltung zueinander: Es bestehen Gefälle zwischen dominanten und marginalen Deutungsmustern sowie Konfliktlinien, entlang derer versucht wird, dieses Gefälle zu vermindern bzw. aufrechtzuerhalten. Abschließend wird in einem kurzen Résumé der Deutungsmuster eine ihnen zu Grunde liegende, innere Logik herausgearbeitet, wonach sich die erklärenden Deutungsmuster zwischen den Polen der Internalisierung und Externalisierung bewegen. Gerade diese Logik gibt auch Aufschluss über die gesellschaftliche Reaktion in Richtung Veränderung oder Restabilisierung der Ordnung.
6.3.1.
Exkurs: Naturbilder und erklärende Deutungsmuster
Deutungsmuster von (Natur-)Katastrophen sind (immer schon) vor dem Hintergrund allgemeinerer Natur- und Weltbilder zu denken, die diese erst als konstitutives Moment hervorbringen. Sie sind keine eigenständigen, losgelösten Ideengebilde, sondern eingebettet in einen allgemeineren Denkstil, in ein sinnvolles, logisch kohärentes Weltbild, das erlaubt, »Naturereignisse« in einen breiteren Bedeutungszusammenhang zu setzen.49 Natur- und Weltbilder durchsetzen die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, die Sphären der sozialen Welt, als eine 48 Vgl. Eder 2002, S. 56; Gingrich/Mader 2002, S. 9. 49 Vgl. Kempe/Rohr 2003, S. 124; Gingrich/Mader 2002, S. 9ff; Gill 2004, S. 53; Groh et al. 2003, S. 24.
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alles durchdringende Logik, als ein gemeinsames, inneres Prinzip. So zeigt etwa Hoffman (2002) in ihrer Analyse des »Oakland Firestorm« in Kalifornien 1991, dass die Symbolismen, die im Kontext der Katastrophe angewandt werden, häufig deckungsgleich mit den Symbolismen sind, die sich auf Natur im Allgemeinen beziehen (z.B. dualistische Schemata, wie die Gegenüberstellung von Mensch und Natur).50 Ist nun die Katastrophe vor dem Hintergrund allgemeinerer Welt- bzw. Naturbilder zu sehen, bietet sie im Umkehrschluss auch ein Fenster, durch das auf diese dahinterliegenden Welt- bzw. Naturbilder, den »views of nature that lay behind those,«51 geblickt werden kann. Jedenfalls erscheint es vielversprechend, Naturbilder als »sensitizing concepts« in der Analyse von Deutungsmustern der Katastrophe zu berücksichtigen. Dabei ist es eben nicht Ziel, die Deutungsmuster der Katastrophe in ein vorgefertigtes Schema von Naturbildern passgenau einzuordnen, sondern diese vielmehr als Hilfsinstrumente einzusetzen, um die inhaltliche Gestalt und Logik von Katastrophendeutungen zu erschließen. Eine einflussreiche Typologie von Naturbildern entstammt zunächst dem Denkgebäude der »Cultural Theory«, wie sie von Schwarz und Thompson (1990) und Thompson und anderen (1990) formuliert wurde. Diese gründet in Erkenntnissen aus der ökologischen Forschung, wonach verschiedene Institutionen im Kontext von »managed ecosystems«52 mit verschiedenen Interpretationen der Stabilität von Ökosystemen einhergehen, deren Logik sich mithilfe eines Balls und einer Linie versinnbildlichen lässt – wie in Abb. 5 dargestellt – und die sich wiederum mit spezifischen »ways of life« verbinden lassen. Im Naturbild der »nature capricious« erscheint die Welt und die Natur als eine launische Zufallswelt, die in der institutionellen Ordnung allenfalls durch die Überzeugung ihrer Unveränderlichkeit Ausdruck findet: »[N]ature capricious is a random world; institutions with this view of nature do not really manage, nor do they learn. They just cope with erratic events.«53 Dies entspricht der Weltsicht des schier handlungsohnmächtigen, fatalistischen Typs, wonach der Lauf der Dinge nicht beeinflusst werden kann, sondern als äußere Bedingung hingenommen werden muss: »The world does things to you while you do nothing to it. All you can do is try to cope, as best you can, with a situation over which you have no control.«54 Im Naturbild der »Nature benign« erscheint die Natur als eine wohlwollende Natur, die als belastbare und ausbeutbare Ressourcenquelle stets in ihr Gleichgewicht zurückfindet: »Nature benign gives us global equilibrium. Such a world is | 50 51 52 53 54
Vgl. Hoffman 2002, S. 114. Kempe/Rohr 2003, S. 124; vgl. auch Groh et al. 2003, S. 21. Schwarz/Thompson 1990, S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 10; vgl. auch Thompson et al. 1990, S. 27f.
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wonderfully forgiving: no matter what knocks we deliver the ball will always return to the bottom of the basin. The managing institutions can therefore have a laissez-faire attitude.«55 Dies entspricht der Weltsicht des (markt-)individualistischen Typs, wonach die Verfolgung individueller Interessen durch eine »unsichtbare Hand« zu einem bestmöglichen Ergebnis führt, weshalb auch ein Minimum an Interventionen und Regulierungen anzustreben ist: »Since restrictions on individual freedom, and therefore on experimentation, would impede the attainment of this outcome, the myth of a benign nature furnishes a powerful moral justification for these particular modes of acting and learning.«56 Im Naturbild der »Nature perverse/tolerant« erscheint die Natur als eine in Grenzen wohlwollende Natur, die bis zum Erreichen eines kritischen Schwellenwertes in ihr Gleichgewicht zurückfindet: »Its world is one that is forgiving of most events, but is vulnerable to an occasional knocking of the ball over the rim. The managing institutions must therefore regulate against unusual occurences.«57 Dementsprechend findet es sein Pendant im hierarchischen Typ: Zum einen bedarf es eines Stabs an ExpertInnen, um präzises Wissen über die Gleichgewichte und kritischen Schwellenwerte zu generieren, zum anderen zahlreicher Regulierungen und einer strikten Kontrolle, um die Wahrung der Grenzen zu garantieren.58 Schließlich findet sich im Naturbild der »Nature ephemeral« eine Welt am kritischen Punkt, eine sensible Natur am Rande der Zerbrechlichkeit, deren kleinste Irritation in einen Kollaps führen könnte, weshalb es auch gilt, sie zu behüten: »The world, it tells us, is a terribly unforgiving place and the least jolt may cause its catastrophic collapse. The managing institutions must treat the ecosystem with great care.«59 Das Naturbild der »Nature ephemeral« findet dementsprechend sein Pendant im egalitären Typ. Die Vorstellung einer strikten Zurechenbarkeit auf das menschliche Handeln führt zur Forderung einer minimalen Beeinflussung der Natur und eines bewahrenden Zugangs, einer »harmony with nature«:60 »Minimal perturbation becomes the overriding moral imperative, and small becomes beautiful.«61 Die »myths of nature«62 stimmen damit passgenau mit den Kosmologien der verschiedenen sozialen Kontexte, die im Rahmen des Group-Grid-Schemas unterschieden werden, überein und erscheinen damit als ein Aspekt der verschiedenen »ways of life.«63 Dabei ist die Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen 55 Schwarz/Thompson 1990, S. 4f. 56 Ebd., S. 8; vgl. auch Thompson et al. 1990, S. 26. 57 Schwarz/Thompson 1990, S. 5. 58 Vgl. ebd., S. 10; Thompson et al. 1990, S. 26. 59 Schwarz/Thompson 1990, S. 5. 60 Ebd., S. 10. 61 Ebd., S. 9; vgl. auch Thompson et al. 1990, S. 26. 62 Schwarz/Thompson 1990, S. 4. 63 Ebd., S. 6ff; Thompson et al. 1990, 26ff.
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den »myths of nature« bzw. Kosmologien einerseits und den Mustern sozialer Beziehungen bzw. den institutionellen Arrangements andererseits zunächst als eine Stärke des Ansatzes. Die AutorInnen zeigen damit auf, dass die Ideen und Weltbilder maßgeblich für handlungswirksame Politiken und deren Legitimation sind, »how each of the myths of nature […] legitimates and reproduces certain kinds of institutional relationships.«64 Gleichzeitig findet sich hier allerdings auch die zentrale Schwäche des Ansatzes, sofern ein stabiler Zusammenhang von »Ideen« und sozialer Lage bzw. Organisationsformen konstatiert wird. Damit würden beispielsweise »marginal members of society«65 mit einer fatalistischen Weltsicht und dem Naturbild der »nature capricious« gleichgesetzt werden. Damit geht aber die Wechselseitigkeit von Ideen und lebensweltlichen Bedingungen verloren und der Wandel von Ideen innerhalb von sozialen Lagen kann nicht mehr hinreichend erklärt werden.
Abb. 5: »Myths of Nature« (»Ways of Life«) in der Cultural Theory
Eigene Darstellung nach Schwarz/Thompson 1990, S. 5; Thompson et al. 1990, S. 27.
Die »myths of nature« weisen nun starke inhaltliche Berührungspunkte zu den Naturbildern auf, die nach Gill (2003) unterschieden werden können, der allerdings auch die den Naturbildern zu Grunde liegenden, spezifischen Grenzziehungen zwischen Natur und Gesellschaft stärker thematisiert. In der Logik des »identitätsorientierten Naturbildes« ist es eine allumfassende, alles erklärende Logik, welche die Ordnung der Welt anleitet und nicht hinterfragt werden muss: »Es ist dies das Festhalten am (scheinbar) fraglos Gegebenen – als festem Grund in der Brandung von Kontingenz und Konkurrenz des Lebens. ›Natur‹ ist hier der feste Boden, in dem die kollektive und personale Identität verankert und in dem die soziale Ordnung verwurzelt ist. Das jeweils Gegebene muss dabei keineswegs ursprünglich sein, entscheidend ist, dass es den Akteuren so erscheint […] dass das Gegebene selbstverständlich ist und daher von den Akteuren auch nicht weiter thematisiert 64 Schwarz/Thompson 1990, S. 8. 65 Ebd., S. 8.
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und begründet werden muss.«66 Es ist ein starres Festhalten am Althergebrachten, an bewährten Routinen, und zwar nicht nur zur Konstruktion von Identitäten, sondern auch zur Reduktion von Unsicherheiten, zur Stiftung von Sicherheit und Seinsgewissheit sowie zur Verankerung von Struktur und Ordnung. Der Status, die Bedeutung und das Handeln bzw. Verhalten von Dingen oder Menschen ergibt sich aus ihrer Natur, aus einer alles unterjochenden Ordnung, in der alle Objekte und Subjekte ihren Platz haben und der Kontingenz entzogen werden. Ihre Identität ist ihre Natur. Es ist eine beseelte Welt, die sich auf eine übernatürliche Wesenhaftigkeit, z.B. eine gottgegebene Ordnung, stützt. Natur ist dabei als Ausdruck einer höheren Ordnung immer schon normativ beladen und erscheint in ihrem »paradiesischen Urzustand« als Hort von Sicherheit und göttlicher Ordnung. Doch bedeutet das keineswegs, dass Natur zwangsläufig nur positive Aspekte für das menschliche Leben mit sich bringt. Die irdische Natur kann etwa als gefallene Natur, als Resultat des Sündenfalls, auch Not, Mühe, Risiko und Gefahr verbürgen. Überdies ist der Natur auf Grund ihres moralischen Impetus mit Ehrfurcht zu begegnen und menschliche Technologien, die sich gegen die kosmische Ordnung richten, abzulehnen. Technologien aber, die sich an der Natur als Vorbild orientieren und damit implizit die Ehrfurcht gegenüber der Natur ausdrücken, können durchaus in dieses Naturbild integriert werden.67 Hier lässt sich eine unmittelbare Nähe zum Naturbild der »Nature capricious« ausmachen. Denn wenngleich die höhere Ordnung nicht an und für sich mit einer »Zufallswelt« gleichzusetzen ist, ist es hier dennoch ein von außen bestimmendes Prinzip, das dem Menschen seine unmittelbare Interventionsmöglichkeit entzieht und ihm lediglich die Bedingungen setzt, derer er sich anzupassen hat. Im »utilitätsorientierten Naturbild« unterliegt Natur nun einer normativen Neutralisierung. Sie wird objektiviert und als mechanistischer Wirkungszusammenhang der Gesellschaft gegenübergestellt. Es ist ein Naturbild, das sich allmählich im Zuge der Aufklärung und der damit einhergehenden Säkularisierungstendenzen entfaltete. Vor dem Hintergrund einer breiteren philosophischen Debatte kristallisierte sich eine deutliche Trennung von gesellschaftlicher Sphäre als Hort des Politischen und Zivilisierten und natürlicher Sphäre als Hort des Unzivilisierten und Animalischen heraus. Natur wird damit der Gesellschaft implizit untergeordnet. In weiterer Folge wird sie der allgemeinen naturwissenschaftlichen Rationalität und damit einer fortschreitenden Entzauberung unterworfen. Natur erscheint nun nicht mehr als beseelte Natur, als Hort einer höheren Ordnung, sondern wird objektiviert und neutralisiert. Sie erscheint als ein mechanistischer Wirkungszusammenhang, wodurch sich eine Gegenüberstel66 Gill 2003, S. 56. 67 Vgl. ebd., S. 57-64.
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lung von Gesellschaft als Sphäre des Kulturellen und Natur als Sphäre objektiver, natürlicher Gesetzmäßigkeiten zuspitzt.68 Mit dem Niedergang ihres normativen Charakters fällt nicht nur ihr Vorbildcharakter für Technologien, sondern Natur und Technik werden nun gleichgestellt als »ein Kontinuum von instrumentellen Zusammenhängen,«69 das anzeigt, wie sich Natur unter welchen Bedingungen verändert und damit auch, wie sie durch welche Eingriffe verändert und für menschliche Zwecke nutzbar gemacht werden kann: »Die äußere Natur gilt nun als unbeseelt, moralisch neutral und bar jedes Eigenzwecks.«70 Natur wird menschlichen Zwecken unterworfen (im positiven Sinne als Steigerung des Nutzenniveaus oder im negativen Sinne als Vermeidung von Schäden) und Rationalität bestimmt den Weg zur Erfüllung dieser Zwecke. Natur wird zu einem Ressourcenpool degradiert, den Menschen nicht nur nutzen, sondern auch verändern, dominieren und zivilisieren können.71 Doch nicht nur, dass der Natur jeglicher normative Charakter abgesprochen wird und sie damit in die (schier grenzenlose) Nutzung für menschliche Zwecke entlassen wird, sondern sie wird mitunter sogar als Störfaktor aufgefasst: »Was man nun unter dem Naturbegriff fasst, sind seelenlose Dinge, die | nur noch mittels mechanischer Prinzipien aufeinander einwirken. Ohne technische und sozialtechnologische Kontrolle ist diese Natur tendenziell bedrohlich.«72 Es ist eine wilde, ungezähmte, unzivilisierte Natur, die der sozialen Ordnung, der zivilisierten Sphäre, gegenübersteht. Damit gilt es auch, Natur zu zähmen, sie zu unterwerfen und zu kontrollieren,73 womit hier auch immer das »Weltbild des Menschen als Beherrscher der Natur«74 mitschwingt. Plakativ für diese Bemühungen der »Zivilisierung« der Natur ist die Kultivierung der Forste im 18. Jhdt. als ein Paradebeispiel für die Aufoktroyierung kultureller Ordnungsvorstellungen, die Unterwerfung einer wilden, ungeordneten Natur unter die Maßstäbe menschlicher Rationalität.75 In Gills (2003) »utilitätsorientiertem Naturbild« findet sich im Prinzip eine Erweiterung der wohlwollenden »Nature benign« auf negativen Nutzen, wonach es nicht nur darum geht, positiven Nutzen zu generieren, sondern auch negativen abzuwenden. Damit erfolgt im Grunde eine Vermischung mit »Nature tolerant«, sofern eben gleichsam eine Regulierbarkeit und Kontrollierbarkeit der Naturgefah68 Vgl. Eder 2002, S. 44; Wagner 2008, S. 3616; Oliver-Smith 2002, S. 30; Keller 2003, S. 396; Hoffman 2002, S. 120. 69 Gill 2003, S. 67. 70 Ebd., S. 66. 71 Vgl. ebd., S. 66f; 73f. 72 Ebd., 74f; vgl. ebd., S. 66f. 73 Vgl. Wagner 2008, S. 3623. 74 Ebd., S. 3622. 75 Vgl. Oliver-Smith 2002, S. 30ff.
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ren angenommen wird und die wohlwollende Natur angesichts einer unterlassenen Kontrolle in eine gefährliche Natur umschlägt. Schließlich findet sich im »alteritätsorientierten Naturbild« eine kraftvolle, wilde Natur, die der Gesellschaft als außeralltägliche Sphäre gegenübersteht, ihrer spezifischen Eigenlogik folgt und sich der institutionellen und instrumentellen Beherrschbarkeit durch die menschliche Rationalität entzieht.76 Es findet sich hier also nach wie vor eine dualistische Gegenüberstellung von Mensch und Natur, doch letztere erscheint nicht mehr als gegenstandslose, moralisch neutrale Natur, die einfachen, mechanischen Prinzipien folgt, die durch Menschenhand erfasst und für deren Zwecke instrumentalisiert werden können, sondern als Hort einer spezifischen Eigenlogik. Das alteritätsorientierte Naturbild endet allerdings nicht mit der Einsicht, dass sich Natur als außeralltägliche Sphäre der menschlichen Rationalität und ihrer instrumentellen Beherrschbarkeit und Formbarkeit entzieht, sondern vielmehr geht sie auch mit einem moralischen Impetus einher: Natur wird hier nicht mehr als Mittel zum Zweck verstanden, sondern es gilt, sie um ihrer selbst willen zu schätzen und sie erlangt unmittelbar aus sich selbst heraus Geltungsberechtigung. Natur avanciert zum Selbstzweck. Daraus folgt nicht nur, dass Natur nicht durch die menschliche Logik unterworfen werden kann, sondern vielmehr auch, dass Natur der menschlichen Logik nicht unterworfen werden soll.77 Dementsprechend findet sich hier auch ein Pendant zur fragilen, zerbrechlichen »nature fragile«, die durch menschliche Eingriffe aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann und die es dementsprechend zu minimieren gilt. Die Ankerpunkte der spezifischen Naturvorstellungen – allen voran die Grenzziehungen zwischen Natur und Gesellschaft, die Vorstellungen eines ökologischen Gleichgewichts und die damit einhergehenden Vorstellungen über Naturgefahren und Stabilität – dienen in weiterer Folge als Hintergrundschablone, um die innere Struktur der jeweiligen Katastrophendeutungen zu beleuchten.
6.3.2.
»Das war unser Schicksal, das war unser Glück« Zum Deutungsmuster einer höheren Ordnung
Zunächst ließ sich anhand des Fallbeispiels das »Deutungsmuster einer höheren Ordnung« rekonstruieren, dem die Annahme zu Grunde liegt, es sei eine höhere, allumfassende Ordnung (z.B. eine göttliche Ordnung oder »das Schicksal«), die in die Katastrophe führt. Es ist ein magisiertes Denken, das sich im Gegensatz zum rational schlüssigen, säkularisierten Denken dadurch auszeichnet, dass möglichst alles, das Gesamtgeschehen der Welt, umfassend erklärt und ungeprüft im Sinne 76 Vgl. Gill 2003, S. 54. 77 Vgl. ebd., S. 77f.
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einer »Offenbarung« übernommen wird.78 Dabei nimmt das Deutungsmuster der höheren Ordnung unterschiedliche Gestalten an: Die Bandbreite an Deutungen reicht von religiösen Rhetoriken über abergläubische und volkstümliche Rituale bis hin zu einer schicksalhaften Bestimmung. Im Folgenden wird die innere Logik des Deutungsmusters einer höheren Ordnung exemplarisch anhand von drei semantischen Gestalten illustriert; dem theologischen, dem fatalistischen sowie dem animistischen Deutungsmuster mit dem Sonderfall der anthropomorphen Natur. Am Beispiel des theologischen Deutungsmusters zeigt sich, dass magisierte Katastrophendeutungen direkt auf aus den Religionen übernommene Deutungselemente zurückgreifen können:79 Die Katastrophe erscheint als Ausdruck einer göttlichen Ordnung, eines göttlichen Willens, der durch Menschenhand nicht unmittelbar beeinflusst werden kann – als »Acts of God, with the implication that nothing could be done about their occurence.«80 Ursprünglich trat das theologische Deutungsmuster (v.a. in der Frühmoderne) in Form einer straf theologischen Deutung auf, wonach die Katastrophe als Ausdruck des Zorns Gottes erscheint – als göttliches Strafgericht für die Sündhaftigkeit des Menschen, das sich im Sinne von Sodom und Gomorra gegen die Ungerechten und Gerechten richtet.81 Im Laufe der Zeit unterlag diese ursprüngliche Reinform des straf theologischen Deutungsmusters dann zahlreichen Modifikationen bzw. Ausdifferenzierungen. So wurde beispielsweise die unmittelbare Handlungsfähigkeit Gottes im irdischen Geschehen zurückgenommen, indem z.B. (von Gott geschaffene) Naturgesetze in das Deutungsmuster integriert wurden, die sich als »sekundäre« Ursachen zwischen Gott (in letzter Instanz) und das irdische Geschehen schieben.82 Gott erscheint in dieser Ausrichtung also nicht zwangsläufig als ein Gott, der willentlich in das irdische Geschehen eingreift oder es verursacht, sondern kann auch als Schöpfer in letzter Instanz auftreten, der die Menschen in ihre Handlungsfreiheit entlässt und sie nicht unmittelbar für ihr sündhaftes Leben bestraft. Die Menschen haben die Konsequenzen ihres Handelns schlicht selbst zu tragen, wie auch Herr Eder (Praxisexperte) betont: »Es hat der Mensch halt das Seinige dazu GETAN, dass es zu solchen Dingen kommt. […] Ich sage da immer: Das Kreuz der Freiheit des Menschen ist da und der Mensch bedenkt halt zu selten, dass er für Vieles, was er tut, auch selber verantwortlich ist und dann halt auch Konsequenzen tragen muss.« Gleichzeitig unterlag das ursprünglich straf theologische Deutungsmuster auch einer normativen Umdeutung. Es ist nun weniger der Zorn Gottes über das sündhafte Leben der Menschen, der in die Katastrophe mündet, sondern Gottes Gnade, die das Schadensausmaß mildert, der Gedanke der Erlösung oder die Naturgewalt 78 79 80 81 82
Vgl. Clausen 1993, S. 22f; Clausen 2003, S. 58. Vgl. Clausen 2008, S. 836. Furedi 2007, S. 483. Vgl. Wagner 2008, S. 3619; Groh 2003, S. 20. Wagner 2008, S. 3620.
6. Deutungsmuster der Katastrophe am Beispiel des Murenabgangs 2012
als ein Ausdruck der Größe und Macht Gottes.83 Im Fallbeispiel ist es vor allem das verhältnismäßig gering wahrgenommene Schadensausmaß – konkret das Faktum, dass keine Todesopfer zu beklagen waren – das magisierte Deutungselemente befördert und höhere Mächte wie Gott als Quelle von Schutz darstellt: »Es wird dir erst im Nachhinein bewusst, dass eigentlich WIR unser Leben geopfert hätten für die ganzen Leute und es hätte nichts gebracht. […] Die Vernunft hat zu uns gesprochen und gesagt: Geht einmal schlafen. Nein, das sind dann auch so Momente, in denen du zu glauben anfängst und sagst: Der da oben wollte das so, dass wir schlafen gehen, dass es 5 Uhr in der Früh ist, dass KEINER auf der Straße ist, dass niemandem etwas passiert (kurze Pause). Weil […] Menschenleben kann keiner ersetzen…« (Frau Schmid, Bewohnerin). Die Katastrophe kann damit auch als Katalysator eines religiösen Glaubens fungieren: Das Individuum findet zu einem vergessenen Gott, der seine Gnade illustriert hat, wieder zurück. Frau Schmid erläutert dieses Wiederentdecken des Glaubens wie folgt: »Man GLAUBT dann etwas. Man weiß zwar nicht, an was (schmunzelt) man glauben soll, aber es GIBT sicher WEN, der das wollte, DASS etwas passiert, und dass auch NIEMANDEM etwas passiert von den Leuten.« Gerade die Erfahrung des knapp wahrgenommenen »Entkommens« vor dem Tod befördert die Deutung eines göttlichen Willens. So erzählt Frau Fuchs (Bewohnerin), die sich ansonsten für ungläubig hält: »Das war vielleicht mein, irgendwo mein Schutzengel oder… Ja, die Eingebung von oben, kann man sagen. Ja, im Nachhinein denkt man sich: ›Es gibt doch irgendetwas‹. Obwohl ich nicht so ein gläubiger Mensch bin, weißt du? So direkt. (Kurze Pause) Aber da beginnt man dann schon ein bisschen nachzudenken, gell, was man für ein Glück hat, dass die Zeit doch noch nicht abgelaufen ist.« Weiteren Ausdruck findet die normative Umdeutung des ursprünglich straftheologischen Deutungsmusters auch in der Gestalt der Katastrophe als »Erlösung«. So bettet Herr Pichler (Bewohner) die Katastrophe und ihre Bewältigung in eine breitere Erzählung, der Aufbürdung einer Prüfung Gottes, ein und zieht eine Analogie zur Leidensgeschichte Jesus, der sein Kreuz geduldig zu tragen hatte: »Dann denke ich mir, in gewissen Situationen (tiefes Einatmen) könnte man sich an Jesus wenden oder ihm nahekommen. Weil die ganze Jesusgeschichte, wenn man sie einmal durchgelesen hat, ja… Das Hauptthema war, dass er eigentlich ohne zu denken, nichts unternommen hat. Und bis zur Kreuzigung eigentlich immer wieder demütig sein Los, das er zu tragen gehabt hat, getragen hat. Und das gibt Ruhe. Das gibt Gelassenheit.« Die Begründung der Katastrophe über eine göttliche Ordnung schlägt sich im Weiteren in Praktiken nieder, die sich auf die Besänftigung des Willen Gottes richten oder an die göttliche Gnade appellieren, wie Beichte, Buße oder Gebete. Herr Hofer (Bewohner) erinnert sich etwa, wie er im Antlitz des drohenden Weltuntergangs betete, um die endgültige Katastrophe abzuwehren: »Da ist SO ein Wolkenbruch gekommen… So einen Wolkenbruch, wie ich ihn trotz meines Alters noch nie erlebt 83 Vgl. ebd.
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habe. Noch nie erlebt habe, gell? Ich war da alleine draußen bei den Tieren und da habe ich mir gedacht: Herr im Himmel, das kann nicht der Weltuntergang sein. Lass das nicht zu. […] Und dann ist es WEITER gegangen und WEITER gegangen und nur gegossen und geschüttet und geblitzt und gedonnert und gekracht hat es […]. INSGEHEIM oder leise oder laut, das weiß ich nicht mehr, habe ich angefangen zu beten, gell?« Die wahrgenommene Schutzfunktion Gottes resultiert in weiterer Folge in einer tiefen Dankbarkeit, was Herr Eder (Praxisexperte) etwa an steigenden Opfergaben bemerkte: »Ich habe von Etlichen dann in späterer Folge […] Spenden für die Kirche bekommen: Ähm… Vergelte es für unsere Kirche, es ist ein kleines Dankeschön, dass damals nicht mehr passiert ist. Also war schon das Bedürfnis auch da, irgendwie, für viele Leute, nicht in Worte fassbar, aber irgendwie auch Dankeschön zu sagen.« Die »Vergeltung« kann dabei auch als Strategie positiver Honorierung der Gnade Gottes und der Hoffnung auf ihre Aufrechterhaltung gefasst werden. Ferner lässt sich die Relevanz dieser Deutung auch indirekt über die alltagssprachliche Anwendung des Ausdruckes »Gott sei Dank« erschließen: Allein in den 20 durchgeführten Interviews zum Katastrophenhergang tritt die Redewendung 64 Mal auf, zumeist im Kontext der Darstellung eines »glimpflichen« Schadensausmaßes. Obgleich diese konventionalisierte Sprachwendung relativ unhinterfragt angewandt wird, ihr ursprünglicher Sinngehalt also »abgestorben« ist und sie als leere Hülle fortdauert, gilt es dennoch, wie Döring (2003) am Beispiel der Kriegsmetapher im Kontext der Oderflut 1997 erläutert, »tote Metaphern« bzw. »Katachresen« in ihrer Struktur aufzubrechen, um zu ihrer Bedeutung vorzudringen. Die tote Metapher »Gott sei Dank« kann damit auch als Relikt einer ehemals dominanten Deutung interpretiert werden, einer Sinnwelt, in der positiv wahrgenommene Prozesse tendenziell auf die Gnade Gottes zurückgeführt wurden. Überdies können auch »säkularisierte« Praktiken des Katastrophenschutzes in diese Deutungswelt integriert werden. Während die inhaltliche Struktur des straftheologischen Deutungsmusters ursprünglich das Unterlassen von Maßnahmen, die in den Willen Gottes eingreifen (wie das Errichten technischer Schutzbauten), impliziert,84 schließt das Deutungsmuster der höheren Ordnung technische Schutzbauten keineswegs aus. Diese lassen sich durchaus in dieses Deutungsmuster integrieren, indem sie in einen angepassten Sinnzusammenhang gesetzt werden: Sie erscheinen dann nicht als Beherrschung oder Eingriff in die göttliche Schöpfung, sondern vielmehr als Nachahmung oder »Reparatur« eines verloren gegangenen, paradiesischen Zustandes. So erläutert Herr Eder (Praxisexperte), dass zwar die technischen, menschlichen Möglichkeiten begrenzt sind und damit niemals die Funktion der ursprünglichen Ordnung ersetzen können, sie aber durchaus die Lücken ausgleichen können, die durch das Abhandenkommen der göttlichen Ordnung bzw. der Natur als Hort des Schutzes entstanden sind: »Naja, wir versuchen 84 Vgl. ebd., S. 3619.
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natürlich durch die Schutzbauten, die Natur zu ersetzen, sage ich in Anführungszeichen. […] Wir versuchen die Sicherheit, die uns diese natürlichen Gegebenheiten gegeben hätten oder geben würden, eben dann durch diese technischen Schutzbauten zu ersetzen. Weil sie einfach nicht mehr da sind, muss ich etwas anderes machen.« Eine zweite Gestalt nimmt das Deutungsmuster der höheren Ordnung in einer fatalistischen Ausrichtung an. Es ist hier ein mystisches, schicksalhaft erscheinendes Zusammenspiel von – die Rationalität übersteigenden – Zufällen, das magisierte Deutungselemente hervorruft. Frau Moser (Bewohnerin) erläutert bezüglich des erlittenen Schadensausmaßes: »Unser Glück, musst du sagen, wo du klopfen musst: Wenn der G. ihr Stall, wenn der stehen geblieben wäre, haben sie eh gesagt, wäre unser Haus weggewesen. Weil dann wäre alles, die ganze Menge kerzengerade runtergekommen. […] Und das war unser Schicksal. Das war unser Glück. Weil da hätte es gröber ausgeschaut.« Insbesondere der Zeitpunkt des Geschehens wird hier als glücklicher Zufall gedeutet: Als Zufall, dass all jene zum, die sich für gewöhnlich im Ablagerungsgebiet befinden, zum Zeitpunkt des Geschehens in Sicherheit waren. So erläutert Herr Wagner (Praxisexperte): »Weil da kann man wirklich froh sein, dass da niemand (kurze Pause) zur falschen Zeit am falschen Ort war. Weil das sicher mehr Glück als sonst etwas war.« Das fatalistische Deutungsmuster findet sich auch in der Vorstellung einer Zyklizität bzw. »Planmäßigkeit« des natürlichen Geschehens wieder. Während das säkularisierte, westliche Denken an sich ein lineares, unendliches Zeitkonzept aufweist – »time is like a line stretching into infinity, and every event along that line is new«85 – reaktiviert die Katastrophe häufig zyklische Zeitvorstellungen. Die Katastrophe markiert die Vollendung eines Zyklus und zugleich den Beginn eines neuen und geht oftmals mit der Idee der Wiederholung bzw. Wiederkehr einher.86 Zudem können auch naturwissenschaftliche Konzepte im Sinne »pseudo-säkularer Kausalitäten«87 als Ankerpunkt zyklischer Vorstellungen dienen: So finden etwa die aus der Wiederkehrwahrscheinlichkeit berechneten Jährlichkeiten von Ereignissen (z.B. HQ100) im Alltagswissen als Vorstellung von regelmäßig wiederkehrenden Jahrhundertereignissen Einzug.88 Der Katastrophe wird ein regelrechtes Fälligkeitsdatum zugeschrieben.89 Herr Hofer (Bewohner) erzählt: »Und die Mami, meine Mami, die ist ein 8er Jahrgang gewesen, und die hat gesagt: Sie hat es erlebt im 12er Jahr, da hat der Lorenzerbach ausgeleert heraus […]. Und die hat schon gewusst, von ihren Leuten her: Alle 100 Jahre leert der Bach aus. Alle 100 Jahre. Und GENAU SO ist es gewesen. Wieder im 12er Jahr ist es passiert.« Diese unterstellte Regelmäßigkeit bzw. Planmäßigkeit ist für die Akteure angesichts der Ungewissheit auch als eine Strategie der 85 86 87 88 89
Hoffman 2002, S. 131. Vgl. ebd., S. 131ff. Clausen 2008, S. 836. Vgl. Rost 2014, S. 173. Vgl. Hoffman 2002, S. 133.
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Normalisierung und Kontingenzreduktion zu verstehen. Denn indem das Ereignis in eine Zeitfolge gebracht wird, erscheint es als vorhergesehen – und damit kognitiv bewältigbar: »What occurs unexpected is, in fact, expected.«90 Letztendlich geht mit dem Glauben an die Vorbestimmtheit des Geschehens auch die Vorstellung einher, menschliches Handeln sei mehr oder minder obsolet. Dem schicksalhaften Lauf der Dinge ist schlicht nichts entgegenzusetzen. So betont Herr Berger (Bewohner) diese Ausweglosigkeit: »Das ist überhaupt nicht zu vermeiden. Das kannst du nicht vermeiden, so etwas, weil es keiner vorhersehen kann. Und wenn so etwas… Das ist nicht aufzuhalten. Mit NICHTS!« »Gefahr« und »Sicherheit« erscheinen nicht als Resultat menschlichen Handelns, sondern als Vorsehung. Ausgehend von einem zyklischen Konzept spitzt etwa Frau Weber (Bewohnerin) die Widerkehrwahrscheinlichkeit zu einem regelrechten Determinismus zu: »Aber jetzt ist eh 100 Jahre eine Ruhe. (Interviewerin: Wieso?) Ja weil es das nur alle 100 Jahre einmal gibt. Es heißt ja beim Jahrhundert-Hochwasser auch, also, es kommt 100 Jahre nicht mehr.« Eine dritte Gestalt des Deutungsmusters höherer Ordnung findet sich in einer animistischen Ausrichtung. Hier werden unbelebte Objekte als belebte Sphären wahrgenommen. Die Natur erscheint als Sitz von Göttern, Geistern oder Dämonen, deren Handeln im Diesseits als (Natur-)Ereignisse wahrnehmbar sind. Der Umgang mit dem Katastrophenrisiko erschöpft sich darin, diese Wesen nicht zu »erzürnen« bzw. zu beschwören. So werden beispielsweise Gefahrenstellen als Sitz von Göttern oder Geistern gemieden, um diese nicht zu unterjochen.91 Während Wagner (2008) ein solches Deutungsmuster in traditionelle Gesellschaften verortet,92 findet es sich ansatzweise auch in unserem Fallbeispiel. Die Katastrophe und ihre Auswirkungen werden auf dämonische Kräfte zurückgeführt und abergläubische Rituale, die sich darauf richten, diese Kräfte zu beeinflussen, erscheinen als angemessener Umgang mit dem Risiko, wie sich am Beispiel von Frau Weber (Bewohnerin) zeigt: »Ich grabe jedes Jahr Karfreitagseier ein bei der Hausecke. […] Und ich denke mir: Es ist ein Aberglaube. Ich weiß, dass das ein Aberglaube ist. Aber das hat uns irgendwie geschützt, damit die Mure nicht bei den Fenstern hereingekommen ist. Ich sage eh: Aberglauben habe ich. Aber ich glaube halt an das fest, dass dadurch die Mure nicht bei den Fenstern hereingekommen ist.« Ein Sonderfall der animistischen Deutung findet sich nun in einer anthropomorphen Natur, wonach Natur nicht als Sitz von Wesen gesehen wird, sondern sie selbst als belebt wahrgenommen wird und ihr menschliche Aktivität und Handlungsfähigkeit zugeschrieben wird. Das Denkmodell der »humanization of nature«93 erscheint in der säkularisierten Welt als Ersatz für den Verlust von Gott 90 Ebd., S. 134. 91 Als magisiertes Pendant zu »modernen« Maßnahmen in der Fläche. 92 Vgl. Wagner 2008, S. 3619. 93 Hoffman 2002, S. 126. In westlichen Zivilisationen wurzelt dieses im christlichen Erbe mit Symbolisierungen wie »Mutter Natur«.
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und Religion und damit als Wiedergänger des theologischen Deutungsmusters: »Nach dem Tod Gottes ist es nun also die Natur selbst, die in einem solchen Ereignis ursächlich ›handelt‹, sich gegen den Menschen wendet, ihn in seine Schranken weist.«94 In unserem Fallbeispiel findet sich diese Denkweise nun in schwach ausgeprägter Form in metaphorischen Sprachwendungen und Symbolismen, die nicht-menschliche Sachverhalte in Begriffen menschlicher Aktivität beschreiben.95 Der unbelebten Natur, wie etwa Bergen oder Gewässern, werden Intentionen und Handlungen zugeschrieben. Frau Maier (Bewohnerin) erinnert sich: »›Ja, der Berg kommt,‹ Habe ich mir gedacht, ›Mhm,‹ und bin gut schlafen gegangen. Munter geworden bin ich, weil der Berg gekommen ist.« Oder Herr Schwarz (Praxisexperte): »Und wir waren eigentlich immer der Meinung: Wenn es etwas hat, eigentlich müsste dort drinnen… wird sich der Bach wahrscheinlich den alten Bachverlauf suchen.« Trotz der deutlichen inhaltlichen Unterscheidungspunkte zwischen den Ausprägungen des Deutungsmusters höherer Ordnung liegt ihnen doch eine gemeinsame Logik zu Grunde: Es ist die Logik der allumfassenden, alleserklärenden Ordnung, ein starres Festhalten am Althergebrachten und bewährten Routinen zur Reduktion von Unsicherheiten und zur Stiftung von Sicherheit und Seinsgewissheit: »Es ist dies das Festhalten am (scheinbar) fraglos Gegebenen […]. Das jeweils Gegebene muss dabei keineswegs ursprünglich sein, entscheidend ist, dass es den Akteuren so erscheint […] dass das Gegebene selbstverständlich ist und daher von den Akteuren auch nicht weiter thematisiert und begründet werden muss.«96 Ob es nun die gottgegebene natürliche Ordnung ist, die den Ausgangspunkt der Katastrophenerklärung bildet, oder andere in letzter Instanz gültige Prinzipien ist nebensächlich. Der Punkt ist, dass den Ausgangspunkt eine höhere Ordnung bildet, die nicht rational zu prüfen ist, in die Gesellschaft und Natur eingebettet sind und auf die menschliches Handeln nicht direkt Einfluss nehmen kann, sondern die Gesellschaft schlicht mit dem Lauf der Dinge konfrontiert. So stellen sich Katastrophen für Herrn Pichler (Bewohner) der Gesellschaft als unausweichliche, äußere Bedingungen, denen sie sich schlicht anzupassen hat: »Ja, aber das gehört zum Leben. Es hat immer Katastrophen gegeben. Und so, wie die Welt lebt… Ist ja nicht still… Die Welt dreht sich. Du hast immer leise Erdbeben. Die gibt es immer, weil die Welt ja lebt und so ergibt sich halt einmal dort etwas, einmal da etwas, und das muss einem logisch sein, dass man mit dem versucht zu leben und das Beste daraus zu machen.« 94 Keller 2008b, S. 293. 95 Vgl. Dombrowsky 1998, S. 21; Döring 2003, S. 312. 96 Gill 2003, S. 56.
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6.3.3.
»Schuld war die Natur, und nicht irgendwer anders« Zum Deutungsmuster einer natürlichen Kausalität
Im Deutungsmuster der natürlichen Kausalität werden die Gründe der Katastrophe in eine natürliche Sphäre verortet und gemäß einer kausalen UrsacheWirkungs-Beziehung erklärt. Die Katastrophe erscheint als ein physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgendes Naturphänomen, ein mehr oder weniger komplexes Zusammenspiel mechanischer Wirkprinzipien. Als solches ist sie zunächst moralisch neutral und zeitigt ihren Katastrophencharakter erst mit den Verwerfungen, die sie in der gesellschaftlichen Sphäre verursacht.97 So erläutert Frau Fuchs (Bewohnerin): »Naturgewalten sind für mich Katastrophen, ja. […] Was nicht durch Menschen verursacht wird, sondern von der Natur.« Folglich erscheint auch der Murenabgang in St. Lorenzen als ein komplexes Zusammenspiel natürlicher Prozesse: der langanhaltende Dauerregen gefolgt von intensiven Akutniederschlägen, die Schneeschmelze nach einem schneereichen Winter und die damit einhergehende Vorsättigung der Böden, der geologische Aufbau des Einzugsgebietes mit seinen labilen Schiefer- und Granitschichten, die Vegetationsdecke und vor allem der forstliche Bewuchs, die Wildholzbestände und der Verlauf sowie die hydraulische Geometrie des Wildbaches trugen allesamt dazu bei, dass sich massive Verklausungen bildeten, die schließlich in einem murartigen Schwall ausbrachen. So erläutert Herr Bauer (Praxisexperte): »Also in dem Fall war es eine sehr labile Wetterlage, die über Wochen dazu geführt hat, dass immer wieder im Paltental Gewitter aufgetreten sind, mit Starkregen. Und dem vorausgegangen ist ein starker Winter mit viel Schnee, sprich: große Vorbefeuchtung durch den Schnee im Winter. Und ein sehr, sehr niederschlagsreicher Juni oder Frühsommer. Das heißt, es war alles komplett gesättigt und ist laufend durch neue Gewitter… sind Probleme immer wieder aufgetaucht, einmal dort und einmal da. […] In dem Lorenzer Tal sind hektarweit, oder hektarweise, oder auf vielen Hektar waren da Rutschgebiete und es sind große Wälder davon betroffen. Und es ist nicht auszuschließen, dass der ein oder andere Baum oder das ein oder andere Waldstück auch beim nächsten feuchten Wetter, wenn sehr viel Niederschlag fällt, dass das wieder einmal in einem Bach landet und dann unten daherkommt. Und das Schlimmste sind natürlich dann so Verklausungen, die dann durchbrechen und eben zu diesen schwallartigen, murartigen Schäden und Abgängen führen.« Der Fokus liegt dementsprechend auf einem instrumentellen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, der sich allerdings als komplexes Zusammenspiel einer Vielzahl von Faktoren gestaltet: Nahezu lehrbuchmäßig erscheint die Mure als facettenreiche Verknüpfung von Grunddisposition (Hangneigung, geologische Aspekte usw.), variabler Disposition (Bodensättigung, Biosphäre, verfügbares Transportmaterial usw.) und Triggerfaktoren (Akutniederschläge, Erdbeben usw.). So erläutert Herr Bauer weiter: »Und es war ganz einfach auch eine 97 Vgl. Groh et al. 2003, S. 21; Wagner 2008, S. 3622; Oliver-Smith 2002, S. 31.
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Verkettung ungünstiger Umstände und auch eine Verklausungskette, die dann dazu geführt hat, offensichtlich, dass dann unten so ein großer Schwall daherkommt.« Dem liegt eine Vorstellung zu Grunde, die Natur als ein »Kontinuum von instrumentellen Zusammenhängen«98 begreift. Es ist eine moralisch neutrale, mechanischen Wirkprinzipien folgende Natur, die der menschlichen Rationalität unterworfen und kontrolliert werden kann. Damit ist sie nicht nur eine Quelle zivilisatorischen Nutzens, sondern – ohne hinreichende Kontrolle und Zivilisierung – gleichzeitig auch eine Quelle von Gefahr und möglichen Katastrophen, wie Herr Bauer (Praxisexperte) am Beispiel der Murenkatastrophe festhält: »Schuld war die Natur und nicht irgendwer anders.« Dies spiegelt sich in der Handlungslogik einer technisch-instrumentellen Kontrolle bzw. Überformung der natürlichen Sphäre wider: Es gilt, potenziell schadbringende Ereignisse durch einen Eingriff in die natürliche Sphäre abzuwenden. Denkt man diese Logik weiter, verleitet die Konzeption dazu, Katastrophenschutz als reine Abwehr »natürlicher« – im Sinne von außerhalb der gesellschaftlichen Sphäre liegenden – Gefährdungen zu denken.99 Jedenfalls wird auch im Fallbeispiel eine breite Palette an Maßnahmen entsprechend dieser Handlungslogik als Lösung gesehen: Risikoanalysen und -monitoring als Grundlage der Maßnahmenplanung, die Errichtung technischer Schutzbauten (v.a. Sperrbauwerke), forstlich-biologische Maßnahmen, wie die Verminderung des Forstbestandes oder die Anpassung dessen Zusammensetzung, Drainagen zur Hangentwässerung und Böschungspflege, die Veränderung der hydraulischen Geometrie des Baches, wie die Verbreiterung des Querschnitts, die Entfernung von Hindernissen oder Begradigung (»Kurven« als Ausbruchstellen des Murenabgangs), aber auch passive Maßnahmen der Schadensbegrenzung, wie raumplanerische oder bauliche Maßnahmen. Analog zur grundlegenden Überzeugung der technischen Beherrschbarkeit der Naturgefahren wird die Katastrophenursache – zwar in letzter Instanz im Naturereignis und damit in der natürlichen Sphäre liegend – nun auch im Fehlen diverser Maßnahmen gesehen, die eben das Naturereignis hätten abwenden können: »Allerdings war kein Murbrecher und kein Geschiebeauffangbecken und Dosierbauwerk dabei, das in der Lage gewesen wäre, ein derartiges Murereignis zu verhindern. Und das haben wir dann erst eigentlich… nach der Mure haben wir das eigentlich erst gemacht« (Herr Bauer, Praxisexperte). Angesichts der Kontrollierbarkeit der Natur ist es schlicht deren zu geringe Kontrolle – sei es auf Grund des Fehlens der Schutzbauten, ihrer zu geringen Dimensionierung oder eines zu geringen Wissensstandes. So erläutert Herr Schwarz (Praxisexperte): »JA, diese Mure hätte verhindert werden können. Eben mit diesen Bauwerken, die wir jetzt haben. KLAR, der Wissensstand ist jetzt gewachsen […]. Ob man 98 Gill 2003, S. 67. 99 Vgl. Voss 2006, S. 50f.
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das vor JAHRZEHNTEN so bauen hätte KÖNNEN, traue ich mich zu bezweifeln. Aber es hätte wahrscheinlich so nicht ausgehen müssen für St. Lorenzen.« Diese Logik, wonach Schadensereignisse als die unzureichende Beherrschung der Natur konzipiert werden, führt letztlich in ein »Paradox der sicheren Entwicklung«:100 Technische Schutzbauten erlauben einen Schutz bzw. eine Verminderung der Eintrittswahrscheinlichkeiten bis zu einem gewissen Ausmaß, was mitunter darin resultiert, dass es zwar in der Tat zu selteneren Ereignissen kommt, allerdings dann mit einem massiveren Ausmaß. Die darauffolgende Logik ist die Höherdimensionierung bzw. Aufbesserung der Schutzmaßnahmen, was letztlich den Zyklus von vorne beginnen lässt. So wurden auch nach dem Murenabgang in St. Lorenzen zahlreiche Verbauungsmaßnahmen am Lorenzerbach getätigt: Unter anderem wurden drei Sperrbauwerke (ein Dosierbauwerk und zwei Wildholzfilter) errichtet und das Bachbett angepasst. Dabei war der Murenabgang 2012 weder das erste zerstörerische Wildbachereignis in St. Lorenzen – so belegt die Ereignischronik der WLV bis zur Mitte des 19. Jhdt. zurück zahlreiche Ereignisse, im Zuge derer es zu Zerstörung von Infrastruktur, Anwesen, Uferausbrüchen und Ähnlichem kam – noch sind die Verbauungstätigkeiten am Lorenzerbach erstmalige, sondern reichen bis ins Jahr 1921 (lt. Wildbachaufnahmeblatt) zurück und wurden im Laufe der Zeit schrittweise ausgeweitet.101 Diese Abfolge von Schadensereignissen, Aufbesserung der Schutzbauten und Kollaps bestehender Schutzbauten im Zuge des Murenabgangs erscheint nun in diesem Deutungsmodell weniger als ein Indiz einer begrenzten Beherrschbarkeit der Natur, sondern als Ausdruck eines zu geringen Ausmaßes ihrer Beherrschung, was in den Zirkelschluss der Aufbesserung und Höherdimensionierung mündet. So stellt Herr Wagner (Praxisexperte) fest: »Und in Lorenzen ist halt nie… Waren sicher auch irgendwelche Mickey-Mouse-Maßnahmen bis jetzt. Und jetzt ist halt richtig etwas gebaut worden. Richtig etwas am Stand der Technik her gebaut worden und zack, mit dem wir jetzt wahrscheinlich lange eine Ruhe haben werden.« Gleichzeitig entpuppt sich dieser Zirkelschluss als eine Art Kunstgriff, der das Deutungsmuster der natürlichen Kausalität gegenüber einem bestehenden Restrisiko öffnet. Indem beispielsweise technische Schutzbauten immer auf einen spezifischen Grenzwert hin dimensioniert werden, erscheinen Restrisiken und Katastrophen nicht als Grenzen der Naturbeherrschung, sondern vielmehr als kalkuliertes Scheitern auf Grund einer pragmatisch gezogenen, rationalen Grenze der Maßnahmen. So erklärt Herr Bauer (Praxisexperte), dass eine vollständige Sicherheit ohnehin nicht garantiert werden kann, sofern die Schutzbauwerke auf Basis bestimmter Jährlichkeiten dimensioniert werden, jedoch ein Ereignis mit höherer Jährlichkeit nicht auszuschließen ist: »Grundsätzlich sind diese Schutzmaßnahmen absolut sinnvoll 100 Wagner 2008, S. 3626. 101 Vgl. BMLFUW 2012, S. 33f.
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und absolut in der Lage, dieses Risiko sehr stark zu vermindern. Es gibt natürlich keine hundertprozentige Sicherheit. Wir planen in der Regel auf ein hundertjährliches Ereignis. Es gibt vielleicht da auch ein tausendjährliches Ereignis, das darüber hinausgehen kann.« Darüber hinaus stellt das Katastrophenrisiko aus Murenabgängen nur eines innerhalb einer breiten, heterogenen Risikolandschaft dar, wodurch selbst im Falle dessen Kontrolle eine vollständige Sicherheit stets unerreichbar bleibt. Überdies weisen mathematische Modelle immer schon Freiheitsgrade auf, sowie die Dynamik und Komplexität der Natur schlicht nicht vollständig erfasst werden kann. Unberechenbarkeiten und Unsicherheiten sind damit immer schon in das Deutungsmuster eingelassen, wodurch der Raum sowohl für die Wiederkehr des Bekannten bzw. die Wiederholung von Ereignissen als auch den Eintritt von gänzlich Neuem und Unerwartetem geöffnet wird.102 Es ist eine äußerst dynamische und unüberschaubare Natur, die auch Pufferkapazitäten, Schwellenwerte und weitere Nichtlinearitäten beinhaltet und damit nicht vollständig kalkulierbar ist. Selbst bei vollem Bewusstsein über die Gefahr kann das konkrete Ereignis nicht vorhergesagt werden – die Prognosemöglichkeiten sind begrenzt und die Naturgefahr erscheint als eine Art Damoklesschwert, dessen man sich zwar bewusst ist, aber sein konkreter Fall nicht im Bereich des Vorhersehbaren liegt. Und selbst wenn, können Murenabgänge ohnehin nicht vollständig aufgehalten oder verhindert werden, sofern die Energie, die sie freisetzen, die bestehenden Möglichkeiten um ein Vielfaches übersteigen: »Man merkt, dass die Angst da ist, weil man weiß, da drinnen gibt es noch immer nach, der wird nie aufhören, zu arbeiten, der Berg […]. Da merkt man schon, dass immer wieder, wo du sagst, es KÖNNTE wieder etwas heraus kommen« (Frau Moser, Bewohnerin).
6.3.4.
»Dass man das so VERANTWORTEN kann…« Zum schuldzuweisenden Deutungsmuster
Im »schuldzuweisenden Deutungsmuster« wird die Katastrophe nun auf das Verhalten und Handeln konkreter Individuen und Gruppen zurückgeführt. Es sind Fehlentscheidungen, Misskalkulationen, Fehlhandeln – schlicht: menschliches Versagen – die in die Katastrophe führen: »Man’s role has slipped more and more from that of victim into that of perpetrator.«103 Dabei geht die Suche nach Schuldigen tendenziell mit einer moralischen Dichotomisierung einher – im Sinne einer Gegenüberstellung von schuldigen TäterInnen und unschuldigen Opfern, denen durch erstere unfreiwillig übernommene Risiken aufgebürdet werden.104 Die Suche nach den menschlichen Schwachstellen im System ufert schließlich in alle 102 Vgl. Rost 2014, S. 174. 103 Kempe/Rohr 2003, S. 123. 104 Vgl. Schetsche 2008, S. 115.
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Richtungen aus – ein regelrechtes »Blame Game«105 beginnt. Wie schon von Clausen (1994) beschrieben, sind es zunächst die Sündenböcke (vordefinierte Minderheiten), die in die Schusslinie geraten, gefolgt von den Betroffenen selbst, denen auf Grund der eigenen »Dummheit« oder des eigenen Verhaltens Schuld an der Katastrophe zugewiesen wird, sodann wird auch in den Reihen der Fachelite nach Schuldigen gesucht, um letztendlich an einem Punkt zu landen, an dem jeder jeden beschuldigt.106 Dementsprechend schlägt sich das schuldzuweisende Deutungsmuster auch am Beispiel von St. Lorenzen in unterschiedlichen Konstellationen nieder: So sind es sowohl Personen und Gruppen aus den Reihen der Bevölkerung als auch öffentliche Einrichtungen und Behörden, die als Projektionsfläche für Schuldzuweisungen dienen. Unterschiedliche inhaltliche Ausprägungen, denen doch die Logik gemeinsam ist, dass die Gründe der Katastrophe eben in einer Verantwortungslosigkeit diverser Instanzen gesehen werden. Zum einen wird also den konkreten Betroffenen ein Eigenverschulden der Katastrophe angelastet. Sie hätten etwa eigenverantwortlich und bewusst in den Gefahrenzonen gebaut, unzureichende Vorbereitungsmaßnahmen getätigt oder Instrumente des Naturgefahrenmanagements missachtet. So erklärt Herr Eder (Praxisexperte): »Manche haben Häuser gebaut, obwohl sie gewusst haben, dass das eine Gefahrenzone ist. Und dann zu erleben, dass die Entscheidung falsch war – muss man jetzt wirklich beinhart so sagen – und dass etwas passiert ist und dann trotzdem nicht einzusehen, dass die Gefahr nicht weg ist, sondern die Gefahr bestehen bleibt, und dass es vielleicht doch gescheiter wäre, irgendetwas anders zu machen… Ob das immer klug ist, ist eine andere Frage.« Dabei richten sich die Vorwürfe des Eigenverschuldens nicht zwangsläufig von außen auf die Betroffenen, sondern Kläger und Angeklagter können zu einer Person verschmelzen und das eigene Verhalten zum Gegenstand von Selbstvorwürfen werden: »Da ist nachher nur immer dieses: ›Hätte ich irgendetwas anders getan, wäre es anders geworden…‹« (Frau Maier, Bewohnerin). Dabei verlaufen die Beschuldigungen nicht einseitig, sondern sind vielmehr ein Wechselspiel aus Schuldzuweisungen und -abweisungen. So reagiert etwa Frau Moser (Bewohnerin) auf die Konfrontation mit Vorwürfen des Eigenverschuldens damit, die Schuld abzuweisen und auf eine andere Instanz zu projizieren: »Oder Arbeitskollegen dann gesagt haben: ›Irgendwie seid ihr eh selber schuld. Warum baut ihr auch da neben dem Bach?‹ […] Sage ich: ›Es wohnt jeder irgendwo neben dem Bach. Und außerdem‹, habe ich gesagt, ›fragt die Bürgermeister, die zuständig waren. Wenn die sagen, da wird angebaut, da wird gebaut, gebaut, gebaut!